Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt [1. ed.] 9783868546781, 9783868543049


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German Pages 329 [326] Year 2016

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Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt [1. ed.]
 9783868546781, 9783868543049

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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Stefanie Schüler-Springorum und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, als Jahrhundert von Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Auch Demokratien sind vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit. Darum sind sorgfältige Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts nötig, die Formen, Akteure, Situationen, Rechtfertigungen und Repräsentationen der Gewalt untersuchen. Der Blick darf dabei nicht auf Europa beschränkt bleiben, sondern muss auch jene Räume der Welt einbeziehen, die eng verflochten mit der von Europa aus verübten Gewalt sind. Ausgewählt von Jörg Baberowski, Stefanie Schüler-Springorum und Michael Wildt, präsentieren die Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren unterschiedliche Felder des Gewaltgeschehens, sie beschreiben aber auch die Folgen und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Stefan Wiese

Pogrome im Zarenreich Dynamiken kollektiver Gewalt

Hamburger Edition

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-678-1 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-304-9 Redaktion: Sigrid Weber Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Karten: Peter Palm, Berlin Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde Coverabbildung Bildausschnitt aus: »Chisinau [Kiˇsinev]. Olidort’s house, Reninskayastr. After the Pogrom. 1903.« Virtual Museum of Judaica in Moldova; Jewish library »Itzik Mangher« from Chisinau, Republic of Moldova

Für Carl-Otto, Carl-Frederik und Theodor

Inhalt

Einleitung Was ist ein Pogrom? Zur Pogromforschung Leitgedanken Historische Kontexte Schreibweisen

9 10 15 24 29 31

1

Pogrom als Improvisation Auftakt in Elisavetgrad Die Akteure Dynamik der Gewalt

35 36 55 77

2

Gewalt als Epidemie Russland und die Cholera Pogrome an der Wolga Ausbreitung von Gewalt

89 89 93 106

3

Gerüstet ins Pogrom Schauplatz Zˇitomir Die jüdische Selbstwehr Die Schwarzhunderter

115 115 148 185

4

Einberufungspogrome Pogrom in Astrachan’ Gewalt gegen wen? Rekruten als Täter

241 241 246 251

5

Vom Pogrom zum Massaker

259

Schluss

278

Anhang Dank Schlüssel zu in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen und Termini Archive Als Quellen verwendete Zeitschriften und Zeitungen Publizierte Quellen und Sekundärliteratur

292 292

Zum Autor

330

294 295 296 297

Einleitung

»Ein Pogrom kann man nach Belieben machen – mit zehn Opfern oder mit zehntausend, ganz nach Wunsch.«1 »Ein Knopfdruck hier, und schon gibt es ein Pogrom in Kiew, ein Knopfdruck dort – ein Pogrom in Odessa.«2

In den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs gab es Hunderte Pogrome, bei denen mehr als 1000 Menschen starben und viele Tausend verletzt wurden. Doch mehr noch als die Zahl der Opfer bedrückte es viele Zeitgenossen, wie leicht es offenbar war, die Gewalt gezielt hervorzurufen. Kaum jemand zweifelte daran, dass das so war. Das erste oben angeführte Zitat stammt aus einer Rede des liberalen Fürsten Sergej D. Urusov vor der Staatsduma, dem Parlament des Russischen Reiches. Ein hoher Mitarbeiter der Geheimpolizei habe ihm diese Information gegeben und Urusov konnte darauf vertrauen, dass die linken Abgeordneten, an die er sich vor allem richtete, keinen Zweifel an dieser Selbstentlarvung des Regimes hegen würden; tatsächlich erntete er tosenden Applaus.3 Das zweite Zitat stammt von der anderen Seite des ideologischen Spektrums, es wurde Alexander I. Dubrovin, dem Vorsitzenden des berüchtigten ultranationalistischen »Bundes des Russischen Volkes« (SRN) zugeschrieben. Ob es authentisch ist, lässt sich nicht belegen. Wichtiger ist, dass Anatolij A. Rejnbot, der frühere Stadthauptmann von Moskau, es im Salon der Bogdanoviˇcs, einer Hochburg der Petersburger Konservativen, vortragen konnte, ebenfalls ohne fürchten zu müssen, dass das dortige Publikum den zugrunde liegenden Gedanken, nämlich die Machbarkeit von Massengewalt, infrage stellen würde. Sehr viele Zeitgenossen, ob Gegner oder Befürworter der Autokratie, dachten in dieser Weise über Pogrome. Die Gewalt galt als das Werk 1 2 3

Gosudarstvennaja Duma, Pervyj sozyv, S. 1129. Bogdanoviˇc, Tri poslednich, S. 460. Auf die Hintergründe, insbesondere auf die Frage einer Verwicklung der Geheimpolizei in die Judenpogrome von 1905 bis 1906, wird später eingegangen.

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skrupelloser Hintermänner, und deshalb musste man sich, wo Juden, Armenier oder andere Bevölkerungsgruppen massenhaft verprügelt und ausgeraubt wurden, weder für die Details der Taten interessieren noch für die Täter. Denn diese führten nur aus, was ihnen die eigentlich Verantwortlichen eingeflüstert hatten. Weil dieses Denken zu den Gemeinplätzen der Zeit gehörte, findet es sich fast durchgängig in den heute zur Verfügung stehenden Quellen und hat folglich in einen erheblichen Teil der Forschungsliteratur Eingang gefunden. In diesem Buch geht es um eine andere Interpretation der Pogrome. Im Zentrum steht die Beobachtung, dass Täter, Opfer, Zuschauer und Staatsvertreter permanent auf das Handeln der jeweils anderen reagieren mussten. Daraus entstand eine Eigendynamik, die vorherige Absichten relativierte. Die Pläne der einen wurden von den anderen vereitelt oder wirkten sich in einer Weise aus, die man nicht vorhergesehen hatte. Deshalb war Pogromgewalt kaum zu kontrollieren. Nur wer die spezifischen Ressourcen und Ziele der anderen Parteien kannte, konnte versuchen, eine Situation herzustellen, in der sich die Schwächen der anderen zum eigenen Vorteil auswirkten. Es war also durchaus möglich, Pogrome willentlich zu beeinflussen, aber stets mit begrenzter Reichweite und ohne Erfolgsgarantie. Man kann verstehen, warum wohl alle Beteiligten wünschten, dass Pogromgewalt leicht zu steuern wäre: Die einen wollten sie auf »Knopfdruck« in Gang setzen, die anderen beenden. Doch tatsächlich waren Pogrome kontingent, komplex und dynamisch.

Was ist ein Pogrom? Was ist unter einem Pogrom zu verstehen? Schon das Wort ist problematisch. Im Russischen galt es bis ins späte 19. Jahrhundert als veraltet und bezeichnete nichts anderes als umfassende Zerstörung, unabhängig davon, gegen was oder wen sie sich richtete und ob ihre Ursachen in Naturgewalten oder menschlichem Handeln lagen. Dann kam die Welle antijüdischer Gewalt der 1880er Jahre – eine in diesen Ausmaßen neue Erscheinung, die nach einer Bezeichnung verlangte. Während die staatlichen Behörden meist an dem juristischen Terminus der besporjadki (»Unruhen«) festhielten, setzte sich in der Publizistik allmählich das Wort »Pogrom« durch, und zwar nicht zuletzt aufgrund seines archai10

schen Klangs.4 Denn eigentlich, so wurde argumentiert, sei die Zeit einer so »mittelalterlichen« Form von Gewalt längst vorbei.5 Dass sie dennoch existierte, musste, davon wurde von Anfang an ausgegangen, auf Inspiration, Anordnung oder Organisation »von oben« zurückzuführen sein. Über Russland hinaus verbreitete sich der Begriff erst nach dem Pogrom gegen die Juden von Kiˇsinev im Jahr 1903. »Pogrom« wurde (neben »Steppe«) zu einem der ganz wenigen Worte, die aus dem Russischen in praktisch alle europäischen Sprachen übernommen wurden und mit der Zeit ihre enge semantische Bindung an »Russland« verloren. Dabei verfügten alle Sprachen Mittel- und Westeuropas über Wörter, mit denen Massenausschreitungen gegen Juden hätten bezeichnet werden können (weil es diese Form der Gewalt ja nicht nur in Osteuropa gab). Im Deutschen hätte man etwa von »Exzessen« sprechen können und im Englischen von riots. Nun aber schien es, dass diese Begriffe nicht die (vermeintlichen) Besonderheiten der Ereignisse von Kiˇsinev erfassten. Einerseits, weil die Gewalt ja von hohen Staatsbeamten, wenn nicht vom Zaren selbst ausgegangen sein sollte. Andererseits, weil der Schauplatz das Russische Reich war, das ohnehin viele im »Westen« für essenziell andersartig hielten. Die Pogrome waren also letztlich eine Folge der Petersburger Despotie: der skrupellosen Herrscher und ihrer zu allen Grausamkeiten fähigen Untertanen. Pogrome waren fremd und exotisch. Damit sind drei Momente benannt, die den Pogrombegriff bis heute (in der anglofonen, deutschen und russischen Tradition jeweils in unterschiedlicher Weise) prägen: seine Fokussierung auf Gewalt gegen Juden, die Steuerung oder zumindest Duldung von »oben« und eine Tendenz zur Exotisierung.6 Für eine Untersuchung, die nach der Funktionsweise von Gewalthandeln fragt, sind diese Konnotationen aber hinderlich. Dass Gewalt gegen Juden im Russischen Reich eine besondere Qualität (und nicht nur Quantität) hatte, müsste erst gezeigt werden, und dasselbe gilt für die Rolle des Staates und seiner Führungsspitze. Was die Exotisierung betrifft, so wird nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts niemand mehr behaupten, dass Pogrome dem russischen Nationalcha4 5 6

Miljakova, K voprosu, S. 273; Dal’, Tolkovyj slovar’, Eintrag »pogremel«. Rogger, Conclusion, S. 318. Johnson, Uses; Engel, Pogrom, S. 19–20.

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rakter geschuldet sind. Sie scheint jedoch – nun ohne Betonung des Russischen – nach wie vor durch, wenn Pogrome explizit oder implizit auf besondere Eigenschaften der Täter zurückgeführt werden.7 Für einen analytischen Begriff des »Pogroms« sind solche impliziten Annahmen hinderlich. Er sollte möglichst präzise das erfassen, was gemeinhin unter einem Pogrom verstanden wird, ohne die Antworten auf so interessante Fragen wie die nach den Motiven und Ursachen definitorisch vorwegzunehmen.8 In dieser Arbeit wird unter einem Pogrom eine Form von Gewalt verstanden, bei der ein Täterkollektiv ein Opferkollektiv angreift. Was die Täter zu einem Kollektiv macht, ist vor allem das gemeinsame Gewalthandeln. Anders ist es bei den Opfern: Sie werden wegen einer von den Tätern zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit (»die Juden«, »die Aufrührer« usw.) und nicht aufgrund individueller Vorwürfe attackiert.9 Ob sich die Opfer selbst als einander zugehörig begreifen, spielt dabei keine Rolle. Die Definitionsmacht liegt primär bei den Tätern. Wie schon die Rede von Opfern und Tätern impliziert, ist Pogromgewalt im Wesentlichen einseitig. Zwar lässt sich nicht selten beobachten, dass die Opfer ebenfalls zu den Waffen greifen. Doch auch dann bleibt die Gewalt der Täter (zumindest in allen hier untersuchten Fällen) weitaus gravierender als diejenige der Opfer, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen beiden Gruppen steht nicht infrage. Dazu kommt noch eine dritte Gruppe von Akteuren, nämlich Vertreter der Staatsmacht mit ihrem Anspruch auf das Gewaltmonopol. Pogromtäter stellen diesen Anspruch infrage, weswegen sich in der Regel die staatliche Strafgewalt auf sie richtet. Doch geschähe das immer rasch und umfassend, würde kein Pogrom über seinen Beginn hinauskommen. Pogromgewalt kann sich nur entfalten, wenn die Vertreter des Staates langsam oder uneindeutig auf sie reagieren. Manchmal werden diese sogar selbst zu Tätern. Auch darum wird es in dieser Arbeit immer wie-

7 8 9

Vgl. zur riff-raff-Theorie von Pogromgewalt: Brass, Introduction, S. 16–21. Die folgenden Ausführungen verdanken sich zu einem großen Teil dem riot-Begriff von: Senechal de la Roche, Collective Violence. Horowitz, Deadly, S. 1. In der Senechal’schen Terminologie hätte man es im letzteren Fall mit dem Phänomen lynching zu tun. Senechal de la Roche, Collective, S. 103 f.

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der gehen. Entscheidend ist vorläufig die »dreistellige« Konstellation, die das Pogromgeschehen strukturiert.10 Ein letztes wichtiges Merkmal wird in der Abgrenzung von einer benachbarten Form kollektiver Gewalt deutlich, dem Massaker. Zwar kann die Grenze nicht sehr scharf gezogen werden, und manche Autoren behandeln vieles, was hier als Pogrom beschrieben wird, als Massaker.11 Doch spätestens dann, wenn ein militärischer Verband einem Befehl folgend versucht, an einem bestimmten Ort alle Angehörigen einer bestimmten Gruppe zu ermorden, befindet man sich sicherlich jenseits dessen, was gemeinhin als Pogrom bezeichnet werden kann.12 Die Differenz zwischen beiden Typen lässt sich am besten mit dem Gegensatz von Spontaneität und Planmäßigkeit beschreiben. Pogrome sind stark durch spontane Elemente geprägt, auch wenn man immer wieder auf planmäßiges Handeln stoßen wird. Was sich an einem Pogrom ändert, wenn bestimmte Akteure stärker organisiert sind, gehört zu den Fragen, die anhand der Fallstudien beantwortet werden sollen. Diese Arbeitsdefinition verzichtet auf viele Merkmale, die häufig mit Pogromen in Verbindung gebracht werden.13 Pogrome richten sich nicht in jedem Fall gegen Juden und auch nicht immer gegen eine ethnische Gruppe. Letzteres scheint zwar für Pogromgewalt in besonderem Maße charakteristisch zu sein, aber dass sie sich auch gegen soziale Gruppen wie Vertreter der »Intelligenzija« richten können, ist für niemanden ein Geheimnis, der beispielsweise die Geschichte der Ersten Russischen Revolution kennt.14 Deshalb werden in dieser Arbeit Beobachtungen, die sich aus naheliegenden Gründen auf antijüdische Gewalt konzentrieren, durch Verweise auf anders gelagerte Vergleichsfälle ergänzt. Für diese haben sich mitunter andere Termini etabliert, beispielsweise für die Choleraunruhen. Gleichwohl fügen sich diese Fälle von Gewalt in die Arbeitsdefinition ein. Der konventionelle Sprachge-

10 Bergmann, Pogrome 1998, S. 651; zu Problemen bei der Unterscheidung von staatlichen Akteuren und Tätern vgl. Davis, Rites, S. 52. 11 So die Pogrome in Russland seit Kiˇsinev 1903: Levene, Introduction, S. 14–15. 12 Bergmann, Pogrome 2002, S. 443; hingegen: Brass, Introduction, S. 26–33. 13 Vgl. Bergmann, Pogrome 1998; ders., Pogrome 2002; Horowitz, Deadly, S. 1; knapp und oft problematisch: Prusin, Nationalizing, S. xiii; Bohstedt, Dynamics, S. 261; Melson, Revolution, S. 25 f. 14 Vgl. auch Wimmer/Schetter, Ethnische Gewalt, S. 314.

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brauch ist zu uneinheitlich, als dass sich eine systematische Bestimmung an ihm orientieren könnte. Pogrome sind auch nicht automatisch Taten der Mehrheit gegen eine Minderheit. Täter mögen zwar oft vorgeben, im Namen einer Mehrheit zu handeln; auf der Ebene der Akteure sind Pogrome aber meist die Taten weniger gegen viele. Die Dominanz der Täter liegt (wenn sie überhaupt zustande kommt) in ihrer Fähigkeit, eine Übermacht situativ herzustellen. Oft sind Pogrome Angriffe auf »starke Ziele in schwachen Momenten«.15 Die vorgestellte Arbeitsdefinition verzichtet auch auf eine Aussage zur Motivation der Täter. Ob sie von Frustration, Judenhass, dem Wunsch nach Sozialkontrolle oder der Beseitigung ökonomischer Konkurrenten getrieben waren, wird hier zunächst offengelassen. Es bleibt die »Gewalt«, die letzte Komponente der Arbeitsdefinition. Es gibt eine Reihe einschlägiger Versuche, Gewalt zu definieren, und es ist nicht allzu schwierig, sie zu kritisieren. Eine zugleich umfassende und trennscharfe Begriffsbestimmung von »Gewalt« lässt sich nicht ohne Weiteres finden.16 Für diese Arbeit ist das insofern kein großes Problem, als sich die meisten Phänomene, um die es geht, in beinahe jeden Gewaltbegriff einfügen. Niemand bestreitet, dass es Gewalt ist, wenn Menschen absichtsvoll geschlagen oder ermordet werden, und deshalb könnte die Frage nach dem grundsätzlichen Charakter von Gewalt beinahe vernachlässigt werden. »Beinahe« deshalb, weil es falsch wäre, das Handeln der Täter ganz auf das Zufügen physischer Verletzungen zu reduzieren. Noch stärker als physische Verletzungen prägten Übergriffe auf Gegenstände die meisten Pogrome. Wenn auch dies in dieser Arbeit als »Gewalt« bezeichnet wird, geschieht das vor allem im Interesse der Lesbarkeit.17

15 Horowitz, Deadly, S. 148–150; Judenpogrome gab es auch in Ortschaften, in denen Juden bis zu drei Viertel der Bevölkerung ausmachten, z.B. in Belostok. Kobrin, Jewish Bialystok, S. 26. 16 Z.B. in seiner Kritik an gängigen Definitionsversuchen überzeugend, weniger aber im eigenen Entwurf: Lustick, Defining; Jackman, Violence. 17 Ähnlich entscheidet sich Senechal de la Roche, Collective, S. 97; eine systematische Begründung versucht Hugger, Elemente, S. 22.

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Zur Pogromforschung Diese Arbeit setzt sich vor allem mit Thesen zu den Judenpogromen im Russischen Reich auseinander, auch wenn sie nicht nur antijüdische Gewalt untersucht, denn Judenpogrome dominieren die Forschungslandschaft in quantitativer wie in konzeptioneller Hinsicht. Den Grundstein für die geschichtswissenschaftliche Reflexion der Judenpogrome im Russischen Reich legten engagierte Zeitgenossen. Meist handelte es sich dabei um Juden, die Wissenschaft mit politischem Engagement für die (oft illegale) Opposition verbanden. Man denke an Simon Dubnow, Leo Motzkin (alias A. Linden), Il’ja Ja. Cˇerikover oder Grigorij A. Krasnyj-Admoni, deren Arbeiten bis heute unverzichtbar sind.18 In ihrer Sicht waren die Pogrome ein Werk »von oben«: Der Zarismus, ob in Gestalt der »Heiligen Bruderschaft« oder des Innenministers Vjaˇceslav K. Plehwe, stiftete Pogrome an, um von den wahren Problemen des Landes abzulenken, die in der Regierungsform selbst begründet lagen. Ein im Todeskampf begriffenes Regime lenkte die destruktive Energie der Volksmassen auf einen Sündenbock, um den eigenen Untergang ein wenig hinauszuzögern. Die unmittelbaren Pogromtäter wurden in dieser Betrachtungsweise jedoch kaum berücksichtigt: Sie waren vielmehr Marionetten oder primitive, leicht manipulierbare Wesen ohne Fähigkeit zur selbstständigen Reflexion. Anstöße für einen Paradigmenwechsel kamen ab den 1960er Jahren aus theoretischen Reflexionen über kollektive Gewalt. Gewalttätiges Handeln wurde nicht länger als Ausbruch destruktiver Energien gesehen, sondern als Protest gegen tatsächliche oder empfundene Missstände. Menschen begehrten gewaltvoll auf, wenn sich ihre sozioökonomische Lage verschlechterte, weil sie den gesellschaftlichen Abstieg fürchteten oder wenn sie nicht im gleichen Maße aufstiegen wie ihre Nachbarn. Gewalt hatte deshalb einen rationalen Kern, sie war Ausdruck sozialer Spannungen, die sich an Makro-Indikatoren ablesen ließen.19 Dieser neue Blick spiegelte sich auch in Arbeiten zur Geschichte der Pogrome Russlands. Es schlug die Stunde der Sozialhistoriker, die nun 18 Dubnow, Neueste Geschichte; ders., History; ders., Buch; Linden, Judenpogrome; o. A. [Motzkin], Pogroms; Krasnyj-Admoni/Dubnov (Hg.), Materialy; KrasnyjAdmoni (Hg.), Materialy; Cˇerikover, Istorija. 19 Hobsbawm, Primitive Rebels; Thompson, Plebeische Kultur; Tilly, Mobilization.

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Trägerschichten der Gewalt und ihre sozioökonomischen Hintergründe identifizierten. Michael Aronson brachte die regionale Verteilung der Pogrome von 1881 mit den Routen der entwurzelten Wanderarbeiter in Verbindung.20 Stephen Berk betonte den Zusammenhang zwischen Pogrom und Wirtschaftskrise.21 Shlomo Lambroza suchte nach Korrelationen zwischen sozioökonomischen Strukturen und der Häufigkeit von Pogromgewalt.22 Zum allgemeinen Muster für die Erklärung kollektiver Gewalt trat noch ein für antijüdische Gewalt spezifisches, nämlich Eleonore Sterlings Figur des displaced social protest.23 Demnach waren zwar sozioökonomische Spannungen die Ursache der Unruhen, ihre Opfer aber nicht die eigentlich Verantwortlichen, sondern Ersatzziele, Sündenböcke. Dass sich die Gewalt so häufig gegen Juden richtete, lag einerseits an der Wirkmächtigkeit und Hartnäckigkeit antisemitischer Feindbilder, andererseits an der spezifischen sozioökonomischen Position der Juden als eine Art Mittelsleute, die sie besonders verwundbar machte. Auf das Russische Reich und seinen Ansiedlungsrayon bezogen bedeutete das, dass Juden nie Gutsherren waren und selten Großhändler, oft aber (als Gutsverwalter oder Ladeninhaber) deren Stellvertreter vor Ort und damit gewissermaßen die sicht- und angreifbaren Repräsentanten von Institutionen, die die meisten Angehörigen der Unterschichten als für sich nachteilig erlebten.24 Die Pogromtäter schlugen also insbesondere Juden, weil diese vor Ort unvorteilhafte ökonomische Strukturen verkörperten und weil die traditionelle Judenfeindlichkeit es nahelegte, sie zum Feind zu erklären; angetrieben wurde die Gewalt von sozioökonomischen Spannungen. Darüber hinaus haben detaillierte Forschungen ergeben, dass sich die These von den Pogromen als staatlich orchestrierter Kampagne für die 1880er Jahre nicht und für die Jahre von 1903 bis 1906 nur sehr einge-

20 Aronson, Troubled Waters. 21 Berk, Year, S. 51–55. 22 Allerdings ohne nennenswertes Ergebnis. Die Untersuchung findet sich ausschließlich in der unpublizierten Dissertation: Lambroza, Pogrom Movement, S. 146–155. Vgl. auch Judge, Urban Growth. 23 Sterling, Anti-Jewish Riots, S. 105–142. 24 Jüngere Arbeiten zu Gewalt gegen middlemen minorities: Slezkine, Jüdische Jahrhundert, S. 140; Sowell, Anti-Semitism; Stauter-Halsted, Jews; Kolsto, Competing; Esman, Ethnic Politics, S. 230–231.

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schränkt halten lässt.25 Wenn Verwaltung, Polizei und Militär nicht genügend taten, um Pogrome zu verhindern oder rasch zu beenden, lag das zum Teil an ihren beschränkten Möglichkeiten und an unklaren Anweisungen; manche Staatsvertreter ermutigten aber auch die Täter oder ließen sie absichtsvoll gewähren. Pogrome gab es vor allem dann, wenn Akteure hinzukamen, die bestehende sozioökonomische Konflikte und interreligiöse Spannungen schürten und zuspitzten. Das waren in erster Linie Journalisten und Vertreter der Staatsmacht. Erst unter ihrer ideellen Anleitung gerannen abstrakte Gegensätze zu konkreten Gewalttaten. Von einigen jüngeren Entwicklungen abgesehen, auf die ich gleich eingehen werde, ist das der Stand der Forschung zu den Pogromen im Russischen Reich. Die meisten dieser Arbeiten verstehen sich als Beitrag zu den Jewish Studies. Deshalb gilt ihr Interesse vor allem der Situation der jüdischen Opfer und weniger den darüber hinausgehenden Gegebenheiten des Landes oder den Tätern. Außerdem liegt es aus dieser Perspektive nahe, Quellen jüdischer Provenienz zu privilegieren, auch wenn viele von ihnen aus einem besonderen politischen Blickwinkel geschrieben sind. Schließlich legt die Perspektive der Jewish Studies auch nahe, die ideengeschichtliche Formation des Antisemitismus als Erklärung für die Gewalt heranzuziehen. Wie stark und welcher Art die Judenfeindlichkeit in Russland zu dieser Zeit war, ist aber eine Frage, über die man streiten kann.26 Wer im Antisemitismus die Ursache für die Pogrome sieht, interessiert sich nur selten für jenen »weiten Weg«, der nach Jacques Sémelin »zwischen der Idee und der Tat« liegt. Und auch das Pogromgeschehen selbst ist dann von nachrangigem Interesse.27 Diese Arbeit versucht hingegen zu zeigen, dass ein Verständnis der Pogromgewalt und auch ihrer Ursachen nur möglich ist, wenn die Gewalttaten beschrieben und gedeutet werden. Dabei helfen Methoden und Ansätze aus Soziologie, Politik- und Kulturwissenschaft. Die Vorstellung von Gewalt als ergebnisoffenem Prozess verdankt diese Arbeit der »neuen« Gewaltforschung mit Trutz von Trotha als zentraler Figur.28 Wie fruchtbar es sein kann, die Praktiken der Gewalt und ihren symbolischen 25 Aronson, Troubled Waters; Lambroza, Pogroms; Löwe, Antisemitismus. 26 Herbeck, Feindbild; Klier, Traditional. 27 Zitat: Sémelin, Säubern, S. 20; zu einer gewissen Missachtung der zu erklärenden Ereignisse mit Bezug auf Massenunruhen allgemein: McPhail, Dark Side, S. 16. 28 Trotha, Soziologie S. 18.

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Gehalt zu beschreiben, bevor man sozioökonomische Ursachen unterstellt, hat allerdings schon Natalie Zemon Davis gezeigt.29 Methodisch bedeutet dieses Vorhaben, mit Fallstudien zu arbeiten, um Ereignisse in einem begrenzten Rahmen so »dicht« zu beschreiben, wie das einem Historiker möglich ist.30 Freilich haftet Fallstudien stets das Problem der Generalisierbarkeit an. Ist der ausgewählte Einzelfall »Regel« oder »Ausnahme«? Warum sollte man aus dem Einzelfall etwas erfahren können, das sich auf übergreifende Zusammenhänge bezieht?31 Die Antworten fallen in verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit unterschiedlich aus. Recht unproblematisch ist die falsifizierende Fallstudie. Beispielsweise wird mit dem Pogrom von Zˇitomir im Jahr 1905 ein Ereignis behandelt, das in der Literatur, wie ich zeigen will, zu Unrecht, als Musterbeispiel für eine bestimmte Erzählung von der Pogromgewalt jener Zeit gilt. Indem das vermeintliche Paradebeispiel neu gedeutet wird, fällt Zweifel auf die These, die es in der Regel belegen soll. An anderen Stellen geht es darum, unterschiedliche Aspekte der Funktionsweise von Pogromgewalt zu verstehen. Der Blick für die Details hilft hier, neue Zusammenhänge zu erkennen. Wie »allgemein« und wie »speziell« die Erkenntnisse aus den Fallstudien sind, kann durch Vergleiche geprüft werden, aber ein Beweis ist aus methodischen Gründen nicht zu erbringen. Tatsächlich mag vieles anderswo ganz anders gewesen sein; warum das so war, wäre dann wiederum eine interessante Frage, die zu stellen überhaupt erst durch die am Einzelfall entwickelten Thesen möglich wird. Wie kann man erfahren, was die Pogromtäter und andere Akteure antrieb? Vorsicht ist angebracht, wenn historische Quellen die Motivlagen explizit benennen. Denn nach Pogromen brechen immer Deutungskämpfe aus, die man nicht mit dem Gewaltgeschehen selbst verwechseln

29 Davis, Rites; vgl. auch Thompson, Plebeische; Farge/Revel, Logik, S. 68. 30 Der klassische Text hierzu ist: Geertz, Dichte Beschreibung. Das Vorhaben dieser Arbeit ist allerdings nur lose mit dem verbunden, was Geertz unter dichter Beschreibung verstand. Wenn er den Hahnenkampf analysierte, interessierte ihn die Kultur, die dieser zu erkennen gab. Die hier unternommene Analyse von Gewalttaten will zunächst die »Oberfläche« der Ereignisse beschreibend verstehen. Vgl. Riekenberg, Gewaltsoziologie S. 285; Trotha, Soziologie, S. 20; Lindenberger/ Lüdke, Physische Gewalt, S. 28–30; Baberowski, Gewalt verstehen S. 13; Wolff, Anatomie, S. 343–350. 31 Zu diesem Problem zuletzt: Pohlig, Vom Besonderen.

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sollte.32 Im Nachhinein befragt, was sie angetrieben habe, werden Täter meist Antworten geben, die im jeweiligen Rahmen Vorteile versprechen: Im Gerichtssaal werden sie behaupten, nichts Böses getan oder wenigstens nur Gutes im Sinn gehabt zu haben. In einem anderen Bezugsrahmen, etwa am Abend nach dem Pogrom in der Schankwirtschaft, werden sie vielleicht mit ihren Taten prahlen.33 Weder das eine noch das andere gibt notwendigerweise Auskunft über die Gewaltsituation: An beiden Orten sind die Wahrhaftigkeitsanreize ähnlich schwach. Dennoch wird hier danach gefragt, was die Täter antrieb, und das bedeutet abzuwägen, welche Dokumente aussagekräftig sind und welche beispielsweise nachträgliche Rechtfertigungen wiedergeben. Dabei helfen, neben dem üblichen methodischen Repertoire der Quellenkritik, zwei Überlegungen: Häufig herrscht weniger Uneinigkeit darüber, was während eines Pogroms geschehen ist, als über seine Bedeutung. Wenn das so ist, können die Taten Auskunft über die Täter geben. Dann ist »der Schlüssel zur Gewalt in der Gewalt selbst zu finden«.34 Ein zweiter Ansatz ist, das Sprechen, Rufen und Flüstern während des Pogroms zu berücksichtigen, sofern es sich feststellen lässt – jedoch ohne jede Äußerung gleich als Ausdruck wahrer Motive zu verstehen.35 Der Gewaltsoziologie verdankt diese Arbeit auch einige letztlich anthropologische Annahmen. Ältere Forschungsarbeiten waren oft von der impliziten Annahme geleitet, Gewalthandeln sei dem Menschen grundsätzlich zuwider. Folglich mussten Pogromtäter erst durch Angehörige der Eliten überzeugt werden, die Hand gegen ihre Nachbarn zu erheben. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass Menschen in jedem Fall empfänglicher für den Schrecken der Gewalttat sind als für ihre Attraktivität.36 Physische Gewalt ist eine Machtaktion.37 Sie kann dabei helfen, 32 Auch sich auf die Analyse legitimatorischer Diskurse zu beschränken, wie es Paul Brass fordert, hilft nicht weiter, wenn man Gewaltprozesse verstehen will. Brass selbst unterlässt es ungeachtet seines Appells nicht, sich zu Letzteren zu äußern. Brass, Introduction, S. 2, 12; ebenfalls kritisch zu den »Motiven« der Täter: Collins, Dynamik, S. 507. 33 Mills, Situated, S. 907; Baberowski, Einleitung, S. 21; Beispiele: Delo Simferopol, S. 6–7, 47; Prokuror Saratovskoj SP: Liste von Angeklagten, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 111ob; Krever, Gomel’skij, S. 28. 34 Trotha, Soziologie, S. 20; Davis, Rites, S. 56, 62; Thompson, Plebeische, S. 98–108. 35 Bohstedt, Dynamics, S. 299. 36 Katz, Seductions, S. 137; Riekenberg, Gewaltsoziologie.

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alles Mögliche an sich zu reißen, und entfaltet oft auch jenseits des Instrumentellen gewisse Reize. Gewalt kann Vergnügen bereiten. Vermutlich enthebt das Vergnügen den Täter nicht von der Notwendigkeit, vor der Gewalttat eine Schwelle zu überwinden. Aber an das Überschreiten dieser Schwelle kann man sich gewöhnen, es kann gelernt werden.38 Mit Randall Collins könnte man argumentieren, dass dies nur wenigen Menschen gelingt und dass deshalb auch nur wenige in der Lage sind, zielgenau und in der beabsichtigten Dosierung Gewalt auszuüben.39 Ob das immer und überall gilt, ist eine offene Frage. Doch selbst wenn es so wäre, genügten doch möglicherweise wenige Gewaltwillige, um eine Situation zu schaffen, in der sich eben doch viele weitere anschließen. Damit ist ein weiterer Begriff genannt, der für diese Arbeit von großer Bedeutung ist: die Situation. Ihm liegt die Überlegung zugrunde, dass das Handeln unterschiedlicher an einem Pogrom beteiligter Gruppen als rational verstanden werden sollte, sofern es auf einer Einschätzung beruht, welches Agieren unter den gegebenen Umständen welche Folgen haben wird. Welches Handeln verspricht Profit, wann ist mit Gegenwehr, wann mit Strafen zu rechnen? Wie steht es um die »Gelegenheitsstruktur« für Angriffe, aber auch für Selbstverteidigung und staatliches Eingreifen?40 Entsteht ein »Gewaltraum«, also eine Situation, die gewaltsames Handeln privilegiert, weil üblicherweise geltende Sanktionsmechanismen außer Kraft gesetzt sind?41 Für die große Bedeutung der Situation bei Gewaltprozessen im Allgemeinen und bei Pogromgewalt im Besonderen sprechen auch die Arbeiten von Randall Collins und von Donald Horowitz, die wichtige Anstöße für diese Arbeit gegeben haben.42 Die Bedeutung situativer Faktoren zu betonen, muss nicht heißen, andere Faktoren, etwa sozioökonomische Gegensätze und ideologische Formationen, zu negieren. Beide beeinflussen die situativen Bedingungen unmittelbar. So bestimmen sozioökonomische Faktoren die Verteilung unterschiedlicher Ressourcen und ideologische Horizonte wirken auf die Wahrnehmung einer Situation ein. Solche strukturellen Faktoren

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Popitz, Phänomene, S. 43 f. Reemtsma, Vertrauen, S. 410 f. Collins, Dynamik, S. 106. Bergmann, Ethnic. Baberowski, Einleitung, S. 24–25; ders., Gewalt verstehen, S. 12, 17. Collins, Dynamik; Horowitz, Deadly.

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mögen notwendig dafür sein, dass es zu Pogromgewalt kommt. Sie können aber nicht erklären, warum das an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten der Fall ist, an anderen, strukturell ähnlichen, aber nicht. Situationen sind nicht einfach gegeben, sondern entstehen erst in der Interaktion unterschiedlicher Akteure. Wie diese aufeinander reagieren, hängt nicht nur von Ressourcen und Gelegenheiten ab, sondern auch von Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen, die die Möglichkeit von Missverständnissen beinhalten.43 Deshalb ist für Pogromgewalt eine »interaktive Dynamik […] von Kommunikation und Aktion« konstitutiv.44 Das bedeutet unter anderem, dass Pogrome in ihrem Ergebnis offen, kaum prognostizierbar und nicht primär durch vorgängige Intentionen gesteuert sind.45 In der älteren Pogromforschung blieb dies weitgehend unberücksichtigt. Dort wurde vielmehr freimütig aus dem, was geschehen war, auf die »offenbar« zugrunde liegenden Absichten geschlossen. In diesem Modell wurde Gewalt als planbar und die Reaktionen der übrigen Beteiligten als leicht einschätzbar betrachtet. Das Modell war statisch. Dass viele Akteure improvisieren mussten oder von der Situation überfordert waren, konnte nur am Rand, im Sinn einer kuriosen Abweichung vom Eigentlichen, Erwähnung finden. Dazu kam, dass sich vor diesem Hintergrund auch gar nicht die Notwendigkeit ergab, die unterschiedlichen Akteursgruppen genauer zu untersuchen. Von den Kuriosa abgesehen, wurden der »Mob« und »die Juden« als jeweils einheitlich behandelt (immerhin bei der Betrachtung der Staatsmacht wurde stärker differenziert). Großzügig ging man über die Facetten des Pogromgeschehens hinweg oder über die Trennlinien zwischen konservativen und die Revolution anstrebenden Juden, zwischen einfachen Soldaten und ihren Vorgesetzten, zwischen den Initiatoren der Pogromgewalt und bloßen Zuschauern. Dass die vielen zur Veröffentlichung gedachten Quellen ein in der Tat wenig komplexes Bild von den Pogromen zeichneten, ist dabei nicht unbedingt erstaunlich, denn meist

43 Nedelmann, Gewaltsoziologie S. 79. 44 Bohstedt, Dynamics, S. 258; Bergmann, Pogrome 2002, S. 457; Speitkamp, Einführung, S. 12; so letztlich auch schon Farge/Revel, Logik, S. 60. 45 Bohstedt, Dynamics, S. 258; Baberowski, Einleitung, S. 18. Trotha lehnt interaktionistische Modelle ab, betont aber, dass das Gewaltgeschehen selbst weitere Prozesse in Gang zu setzen vermag. Trotha, Soziologie, S. 14, 20.

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diente der Bericht über ein Pogrom als Argument in einer politischen Auseinandersetzung, in der allzu große Differenzierung nur hinderlich gewesen wäre. Aber auch die Forschungsliteratur unserer Zeit hat sich von diesen Ansichten zum großen Teil nicht emanzipiert. Als Kostprobe dafür, wie die Geschichte der Pogrome lange Zeit geschrieben wurde, mag ein Ausschnitt aus Edward H. Judges Standardwerk über das Pogrom von Kiˇsinev dienen, in dem erläutert wird, woran zu erkennen sei, dass es einem vorgefassten Plan folgte: »Tatsächlich lassen die Beweise darauf schließen, dass der Ausbruch nicht vollkommen spontan erfolgte. Allein die Tatsache, dass die Randalierer sich selbst in kleine Gruppen geteilt hatten und in verschiedene Richtungen ausgeschwärmt waren, scheint zumindest darauf hinzuweisen, dass es eine gewisse Planung gegeben hatte. Dafür spricht der Umstand, dass sich alle an ähnlichen Aktionen beteiligten: Sie warfen Steine, zerschlugen Fenster und plünderten. Wären die Zerstörungen lediglich die Antwort auf bestimmte Provokationen gewesen, wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass die Randalierer zusammengeblieben, in der Horde vorgegangen und viel vielfältiger in ihrem Vandalismus gewesen wären. […] Die Massen mögen betrunken oder verwirrt gewesen sein, doch sie kannten ihre Ziele genau. Die Gewalttaten wurden zum größten Teil nicht wahllos verübt, was typisch für einen spontanen, ungeplanten Ausbruch gewesen wäre.«46 Kein einziges dieser Argumente hält einer näheren Betrachtung stand. Dass Täter in Massenunruhen in kleinen Gruppen organisiert sind, ist ebenso wenig überraschend, wie dass sie (auch ohne sich untereinander abzustimmen) in ähnlichen Situationen auf dasselbe Repertoire von Handlungsweisen zurückgreifen.47 Dass die Täter nicht wahllos zuschlagen, sondern ihre Opfer mit Bedacht auswählen, lässt sich ohne Weiteres auf die Handlungslogik in einer riot-Situation zurückführen.48 Alles in allem stehen Judge, wenn er meint, Pogromtäter seien zu alldem nur unter Anleitung fähig gewesen, offenkundig seine eigenen Konzepte (»Horde«, »Massen«, »Vandalismus«) im Weg.

46 Judge, Ostern, S. 54. 47 McPhail, Crowd, S. 437–438; Davis, Rites, S. 53. 48 Horowitz, Deadly, S. 124–150.

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Gleichwohl soll nicht der Eindruck erweckt werden, es sei völlig neu, die genannten Überlegungen auf die Pogrome im Russischen Reich zu übertragen. Für die 1880er Jahre hat John Klier mit seinen späten Arbeiten Vorbildliches geleistet. Das vorliegende Buch verdankt ihm sehr viel.49 Die Arbeiten der »Revisionisten« zur ersten Welle der Judenpogrome unterzog Klier einer umfassenden Kritik. Für die Pogrome zwischen 1903 und 1906 ist das bisher jedoch unterblieben. Die umfassendste publizierte Studie zum Thema ist nach wie vor ein Aufsatz Shlomo Lambrozas von 1991.50 Seither ist eine große Zahl von Fallstudien zum Thema erschienen, eine neuere Synthese, die über wenige Seiten in einem Überblickswerk hinausgeht, fehlt jedoch.51 Gravierender ist, dass auch diese neuen Arbeiten mit Blick auf Fragestellung und zentrale Konzepte kaum über jene von Judge und Lambroza hinausgehen. Immer wieder wird die Frage nach Art und Grad der Beteiligung von Staatsvertretern aufgeworfen;52 und beständig wird das Muster von judenfeindlichen Zeitungsartikeln und Flugblättern, staatlich geförderten antisemitischen »Schwarzhunderter«-Organisationen als Anstiftern, ambivalenten Beamten und einer Selbstwehr, die wegen äußerer Widerstände nur geringe Wirkung entfalten konnte, wiederholt. Die dritte große Welle der Judenpogrome im Russischen Reich, diejenige während des Ersten Weltkriegs, hat zwar in quantitativer Hinsicht weitaus weniger Aufmerksamkeit erfahren. Doch haben sich die vergleichsweise wenigen Autoren besonders offen für neue Konzepte und Fragestellungen gezeigt. In ihren Studien findet eine lebhafte Debatte darüber statt, ob die Pogrome Symptom einer neuen Form des Nationalismus waren, einer neuartigen »Bevölkerungspolitik« des Staates oder

49 Insb. Klier, Russians; ders., Christians; ders., Why; ders., What; ders., Kazaki. 50 Lambroza, Pogroms; vgl. auch ders., Jewish Self-defence; ders., Jewish Responses und die erwähnte unpublizierte Dissertation: ders., Pogrom Movement. 51 Gerald Surh arbeitet derzeit an einem solchen Buch. Vergleichsweise umfassend und sehr lesenswert: Surh, Russia’s; Löwe, Antisemitismus; ders., Tsars; Fallstudien in Auswahl: Weinberg, Workers; ders., Revolution; Wynn, Workers; Friedgut, Jews; Judge, Ostern; Herlihy, Odessa; Hamm, Jews; ders., Kiev; Hillis, Between; Humphrey, Odessa; Staliunas, Dusetos; Surh, Russia; ders., Ekaterinoslav; ders., Role; ders., Jews; Blobaum, Rewolucija; Khiterer, October 1992; Bönker, Russland; Sˇilovskij, Tomskij. 52 Z.B. kontrovers: Hamm, Jews; Surh, Role.

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einer auch andere Täter und Opfer umfassenden Gewaltdynamik.53 Ein ähnlich breites Spektrum von Interpretationsansätzen gibt es für die antijüdische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg. Je nach Perspektive erscheinen hier antisemitische Ideologie, der militärische Kontext, »archaische« Ausbrüche einer nicht mehr gezügelten Unterschichtengewalt oder die Eigengesetzlichkeit gewaltoffener Situationen als vorrangig.54

Leitgedanken In diesem Buch geht es um Pogrome als Ergebnis eines Zusammenspiels unterschiedlicher Akteursgruppen, deren Agieren nur aus ihrer jeweiligen Perspektive verstanden werden kann.55 Verstehen heißt dabei nachvollziehen, nicht gutheißen; auch abstoßende Taten können einer Logik folgen. Oft liegt ihnen Rationalität zugrunde, wenn man darunter ein Handlungskalkül fasst, das auch begrenzte Wissenshorizonte und emotionale Bewertungen einschließt.56 Dazu gehört nicht zuletzt der Gefallen, den manche Täter an der Gewalttat selbst finden mögen.57 Es ist wichtig zu verstehen, mit welchen Ressourcen und mit welchen Absichten die Beteiligten in das Pogrom »hineingehen«, aber es ist nicht hinreichend. Denn nicht minder wichtig ist der situative Rahmen, in dem sie sich wiederfinden, und dieser ändert sich permanent. Das kann durch äußere Einflüsse geschehen – und sei es ein plötzlicher Regenguss. Noch wichtiger ist aber oft, dass alle Pogromakteure das Agieren ihrer Mitund Gegenspieler beobachten und ihr eigenes Handeln entsprechend

53 Lohr, 1915; ders., Russian; Sanborn, Unsettling; ders., Genesis; Holquist, Making; ders., Role; ders., Forms; ders., Count; Prusin, Nationalizing; Budnitskii, Shots. 54 In der oben genannten Reihenfolge: Herbeck, Feindbild sowie ausgewogener Kenez, Pogroms; Budnitskii, Shots, S. 188; Buldakov u.a., Vvedenie, Zitat S. iv; Baberowski, Verwüstetes Land; Schnell, Räume; ders., Sinn; Klier, Kazaki. 55 Collins, Dynamik, S. 507. 56 Bohstedt, Dynamics, S. 266; Fagan u.a., Social, S. 711. 57 Damit folge ich einer mittlerweile recht verbreiteten Kritik am angeblichen Gegensatz zwischen »instrumenteller« und »expressiver« Gewalt. Turner/Killian, Collective, S. 92; Goodwin u.a., Emotions, S. 15. Das schließt nicht aus, zwischen unterschiedlichen Arten der Rationalität von Gewalt zu unterscheiden, darauf kommt es aber an dieser Stelle nicht an. Für einen phänomenologischen Ansatz vgl. Reemtsma, Vertrauen, S. 104–123.

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anpassen.58 Dabei geht es auch um Wahrnehmung und Kommunikation, denn was die anderen tun, ist wichtig. Noch entscheidender ist aber, welchen Reim man sich darauf macht. Das führt zur vielleicht wichtigsten Frage, der Frage von Organisation und Spontaneität. Wenn Pogromgewalt ein interaktiver Prozess ist, dann dürfte es auch sehr schwierig sein, ihn zu steuern. Gewalttaten anzustreben ist das eine, Gewalt tatsächlich auszuüben, ist bereits etwas ganz anderes; und planmäßig und zielgenau zu prügeln, zu schießen und zu morden, gelingt nur den allerwenigsten. Viele Menschen werden von sich behaupten, zur Gewalttat fest entschlossen zu sein: Täter, Vertreter der Staatsmacht und auch zur Selbstverteidigung bereite Opfer. Die Beziehung zwischen dieser Absicht und den Ereignissen, die sich aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure ergeben, ist aber viel schwächer als häufig angenommen. Oft konnten die Akteure gar nicht absehen, welche Konsequenzen ihr Handeln haben würde. Das lag unter anderem daran, dass die allermeisten von ihnen in ihrem Leben nur sehr wenige Pogrome erlebt hatten.59 Umso wichtiger konnten Erfahrungen mit anderen Formen von Gewalt werden, da sie Orientierung auf unbekanntem Terrain boten. Dennoch gab es keine Gewissheit, keine Gruppe konnte wissen, »was ihr Tun tut«.60 Pogromakteure mussten improvisieren. Selbst wenn sie sich vorbereitet hatten und über Pläne verfügten, verlor dies in der dynamischen Situation vor Ort oft an Bedeutung.61 Es mag irritieren, wenn hier einerseits eine deutliche Trennlinie zwischen Opfern und Tätern gezogen wird, andererseits aber beide Gruppen (gemeinsam mit anderen) als »Akteure« des Pogroms behandelt werden. Liegt nicht das Wesen des Gewaltakts darin, so könnte man fragen, das Opfer in ein tendenziell passives Objekt von Aktionsmacht zu verwandeln?62 Und ist es nicht zynisch, von Opfern als Akteuren zu sprechen, obwohl ihre Handlungsspielräume doch alles andere als groß waren? Mit der ersten Frage begibt man sich implizit in die Perspektive der Täter und verabsolutiert sie. Für bestimmte Formen von Gewalt, etwa für den Akt des Tötens, mag das adäquat sein: Diesen kann man mög58 59 60 61 62

Baberowski, Einleitung, S. 19. Bergmann, Pogrome 2002, S. 448. Dreyfus/Rabinow, Michel, S. 187. Vgl. ähnlich Farge/Revel, Logik, S. 55. Trotha, Soziologie, S. 14.

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licherweise nicht als Interaktion auffassen. Bei vielen anderen Formen der Gewalt, um die es hier geht, ist das aber anders, und selbst dem Töten werden in der Regel Stadien vorausgehen, in denen das Opfer nicht völlig machtlos ist. Die zweite Frage setzt voraus, dass es nur in symmetrischen Konstellationen Akteure geben kann. Dass aber beispielsweise Juden nicht automatisch zu Passivität verdammt waren, auch wenn sie angegriffen wurden, ist das Argument zahlreicher Autoren, die sich vom »tränenreichen« Narrativ der jüdischen Geschichte distanzieren wollen.63 Die Handlungsspielräume der Opfer waren gewiss geringer als die anderer Beteiligter, aber es gab sie, und deshalb waren sie auch Teil der interaktiven Dynamik. Zu sagen, dass das Agieren der Opfer Einfluss auf den Verlauf und Ausgang eines Pogroms hat, ist aber auch etwas anderes, als die Opfer zu Mitschuldigen zu erklären. Moralische Verurteilungen sind nicht Zweck dieser Arbeit oder der Geschichtswissenschaft überhaupt: »›Wer ist schuld‹, ›wem gebührt das Verdienst‹? – so spricht der Richter. Der Wissenschaftler stellt nur die Frage ›Warum‹? und er rechnet damit, dass die Antwort nicht einfach ist.«64 Dieses Buch untersucht die Funktionsweise von Pogromgewalt anhand von Fallstudien. Sein Anspruch ist nicht, eine Geschichte der Pogrome im Zarenreich zu schreiben, sondern herauszufinden, wie sich Unterschiede in der Konstellation von Tätern, Opfern und Vertretern des Staates auf die Dynamik der Gewalt auswirkten. Im ersten Kapitel geht es um das Pogrom von Elisavetgrad im Jahr 1881 als Beispiel für ein Pogrom, das sich relativ unerwartet ereignete. Relativ deshalb, weil es Grund zu der Annahme gibt, dass Pogrome ohne die oft in Form von Gerüchten kommunizierte diffuse Erwartung schwerwiegender Ereignisse kaum in Gang gesetzt werden können. Aber vor den Ereignissen in Elisavetgrad hatte es im Russischen Reich nur in Odessa Pogrome gegeben, und das letzte lag bereits zehn Jahre zurück. Niemand in Elisavetgrad konnte wissen, was kommen würde, und deshalb konnte auch niemand adäquate Vorbereitungen treffen. Das Pogrom war Improvisation. Wie konnte es unter solchen Bedingungen überhaupt zu Gewalt kommen? Welche Logiken bestimmten das Agieren von Tätern, Zuschauern, Opfern, Administration, Polizei und Mili63 Klassisch: Baron, Ghetto; weiterhin exemplarisch: Nirenberg, Communities; Biale, Power. 64 Bloch, Apologie, S. 175.

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tär, und wie traten diese Gruppen miteinander in Interaktion? Dabei zeigen sich fundamentale Mechanismen von Pogromgewalt, die den Hintergrund für alle folgenden Kapitel bilden. Das zweite Kapitel untersucht die Gründe dafür, dass Pogrome oft in »Wellen«, also zeitlich und räumlich gehäuft, auftreten. Als Fallbeispiel dienen die sogenannten Choleraunruhen, die 1892 vor allem am Unterlauf der Wolga zu beobachten waren. Betrachtet man die Muster der Ausbreitung, gab es erhebliche Ähnlichkeiten zwischen der Cholera und der Gewalt. Und tatsächlich war es unter den Zeitgenossen üblich, Ballungen von Gewalttaten als Epidemie zu beschreiben. Das war keine bloße Metapher. Die junge Disziplin der Massenpsychologie rezipierte medizinisches Wissen und beobachtete Vorkommnisse wie die Choleraunruhen genau. Beides verband sie zu einer sehr expliziten Theorie von Gewalt als ansteckender Krankheit, die in die allgemeine Diskussion über die Pogrome Eingang fand. Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung unserer Zeit ist »Ansteckung« (neben »Diffusion«) der populärste Begriff für Gewalt, die sich im Raum ausbreitet. Allerdings lenkt diese Perspektive die Aufmerksamkeit allein auf die Täter. Bezieht man potenzielle Opfer und Vertreter des Staates mit ein, so werden die Grenzen der epidemiologischen Metapher deutlich. Zugleich gibt die Fallstudie Auskunft darüber, was ein Gewaltereignis zum Modell für Nachahmungstäter macht. Das dritte Kapitel fragt, was Pogrome auszeichnet, die nicht überraschend beginnen, sondern seit längerer Zeit erwartet werden.65 Alle Akteure haben unter diesen Umständen Gelegenheit, sich auf die Gewalt vorzubereiten. Anders als man erwarten könnte, trafen nicht die Täter, sondern die Opfer die umfangreichsten Vorkehrungen. Um der drohenden Gewalt nicht vollkommen ausgeliefert zu sein, suchten sie nach Schutz und nach möglichen Bündnispartnern. Letzteres bedeutete aber auch, das Schicksal der Gemeinschaft zu einem erheblichen Teil der Eigenlogik dieses Bündnispartners anzuvertrauen. Dies, aber auch die Entscheidung für eine rein defensive oder eine präventiv-abschreckende Strategie hatte Einfluss auf die Dynamik vor und während eines Pogroms. Das zeigt der Blick auf das Pogrom von Zˇitomir im Jahr 1905. In diesem Kapitel geht es aber auch um die Täter. Die Pogrome jener Zeit

65 Allgemein: Elwert u.a., Dynamics, S. 11–17.

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wurden oft wie selbstverständlich den »Schwarzhundertschaften« zugeschrieben, deren Existenz jedoch kaum nachgewiesen werden kann. Warum das so war und warum trotzdem so viel über diese ominösen Gruppen geschrieben wurde, wird ebenso untersucht wie jene sehr wenigen Fälle, in denen sich die Täter tatsächlich vor der Tat in einem nachweisbaren Verband zusammengeschlossen hatten. Das vierte Kapitel untersucht einen Sonderfall, nämlich Pogrome, die von Rekruten zum Zeitpunkt der Einberufung verübt werden. Am Beispiel eines Pogroms, das sich im Jahr 1915 in Astrachan’ ereignete, lassen sich Besonderheiten im Ablauf erkennen. Es fehlten die prognostischen Gerüchte, und es kam schnell und ohne Anlass zum Gewalthandeln. Eine weitere Besonderheit zeigte sich in Bezug auf die Opfer. Zwar wählten die Täter eine bestimmte erkennbare Gruppe als Opfer aus, doch sie waren in der Lage, von einem Tag auf den anderen von der einen (in diesem Fall Perser) zur anderen (in diesem Fall Deutsche) zu wechseln. Feindbilder, etwa die damals viel diskutierte Kampagne gegen die Deutschen, spielten eine sehr geringe Rolle. Diese Pogrome waren eine Weiterentwicklung des rituellen Aufruhrs, mit dem sich Rekruten üblicherweise aus dem zivilen Leben verabschiedeten. Der Antrieb zur Gewalt kam aus der spezifischen Situation der Täter; gegen wen sie sich richtete, war in erster Linie eine Frage der Gelegenheit. Im Russischen Bürgerkrieg erreichte die antijüdische Gewalt einen Höhepunkt. Aber handelte es sich im Sinn dieser Arbeit um Pogrome? Dieser Frage widmet sich das fünfte Kapitel. Die Täter waren maßgeblich Angehörige (para-)militärischer Verbände, die Opfer wurden massenhaft und oft auf besonders grausame Weise getötet. Die Gewalt geschah rasch und routiniert. Das Moment der Interaktion war auf ein Minimum reduziert, weil Staatsmacht und Zuschauer fast ohne Bedeutung waren und weil den Opfern kaum Handlungsspielräume blieben. Das alles unterschied die Ereignisse des Bürgerkriegs von klassischen Pogromen, und deshalb ist es sinnvoller, sie mit einem anderen Begriff zu bezeichnen. Es handelte sich um Massaker oder allenfalls um Taten in dem zwischen beiden Formen der Gewalt bestehenden Übergangsbereich. Um diesen auszuloten, wird die allmähliche Brutalisierung der vom Militär verübten antijüdischen Gewalt seit Beginn des Ersten Weltkriegs nachverfolgt. Als Beispiel für den Endpunkt dieser Entwicklung steht die letzte Fallstudie über das Massaker an den Juden von Fastov im Jahr 1919. 28

Historische Kontexte Die Pogrome im späten Zarenreich waren hauptsächlich ein Phänomen der Städte an der imperialen Peripherie. Diese Städte lagen in verschiedenen Regionen und Naturräumen, sie hatten unterschiedliche Bewohner und Geschichten, und doch gab es auch Gemeinsames. In den Zentren glichen sich die Prachtbauten, Parks und Denkmäler, weil dort der Staat die Einheit des Reiches zu inszenieren bemüht war und weil die städtischen Eliten überall ähnliche Ideen von Fortschrittlichkeit und Modernität verfolgten. Neue Technologien, neue Wirtschaftsweisen und neue Formen des Zusammenlebens zeigten sich hier von ihrer lichten Seite. Die dunkle Seite, auch darin glichen sich die Städte, war vor allem in den Randbezirken zu besichtigen. Hier befanden sich die Industriebetriebe und zwischen ihnen die Elendsviertel der Handwerker, Arbeiter und Deklassierten. Einst hatten sie ein von Traditionen und moralischen Ökonomien bestimmtes Leben geführt, doch die alten Gewissheiten verloren zunehmend an Bindekraft und neue Normen des Zusammenlebens waren noch nicht gefunden. Vielen Arbeitern, besonders den gering qualifizierten, war es aber auch gar nicht wichtig, sich in der Stadt einzurichten. Sie wollten ohnehin ins Dorf zurückkehren und blieben zur Hälfte Bauern. So kam es, dass die Kultur der Dörfer auch an den Rändern des urbanen Raums präsent war und dass sich die gesellschaftliche und kulturelle Kluft, die das Russische Reich so entscheidend prägte, quer durch die Städte zog.66 Weil »Russland« ein Vielvölkerreich war, hatten viele Konfliktlinien eine ethnische Dimension. Die hohen Vertreter der Staatsmacht, das heißt vor allem Beamte in Administration, Justiz und Militär, rekrutierten sich aus dem Adel, der sich zwar nicht in erster Linie national definierte, aber ein spezifisches ethnisches Profil aufwies (viele Russen, Polen und Deutsche). Unter den Kaufleuten, Unternehmern und in den freien Berufen waren überdurchschnittlich häufig mobile Diasporagruppen wie Juden, Deutsche, Armenier und Griechen anzutreffen. Und auch die Heere der unqualifizierten Arbeiter hatten ein besonderes ethnisches Gesicht: Im Kaukasus waren es oft Türken, im Südwesten oft Ju-

66 Brower, Russian; Rowland, Urban; Hamm, City; Burds, Peasant; Rolf, Metropolen; Klier, What.

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den und Russen. Bezog man die Umgebung der Städte mit ein, wurde das Bild noch komplizierter, weil sich die Bewohner der Städte in ethnischer Hinsicht häufig von denen der Dörfer unterschieden. Es gab eine »ethnische Arbeitsteilung« (Kappeler), die neben Möglichkeiten zur Kooperation auch reichlich Stoff für Konflikte hervorbrachte. Daneben existierten auch innerhalb der ethnischen Gruppen erhebliche Spannungen. Nicht nur bei den Russen, auch bei den drei untersuchten ethnischen Opfergruppen (Juden, Armenier, Deutsche) stand eine breite Unterschicht, deren Leben von Tradition, Religion und oft auch von Armut bestimmt wurde, einer europäisierten Elite gegenüber. Viele Angehörige dieser Eliten hatten erkannt, wie viel sie von ihren ethnischen »Brüdern und Schwestern« kulturell und ökonomisch trennte; einige wollten diese Spaltung mit den neuen Ideologien des Nationalismus oder Sozialismus überwinden. Für das Reagieren der Opfer auf die Pogromgefahr und besonders für die Deutungskämpfe nach den Gewalttaten spielte dieser Umstand eine nicht zu unterschätzende Rolle.67 Für die Staatsmacht waren solche Entwicklungen von größter Bedeutung. Etwa bis zum polnischen Aufstand von 1863 hatte in der Nationalitätenpolitik der Geist der Aufklärung überwogen, so dass Individuen, die ihre »Nützlichkeit« für den Staat unter Beweis stellten, der gesellschaftliche Aufstieg ermöglicht wurde. Alle Übrigen mussten mit erheblichen Einschränkungen rechnen. Die meisten Juden etwa durften sich nicht außerhalb des sogenannten »Ansiedlungsrayons« niederlassen. Nach dem Aufstand und zunehmend seit dem Amtsantritt Alexanders III. im Jahr 1881 aber wurden immer häufiger ethnische Gruppen insgesamt für illoyal oder feindselig erklärt. Polen und Juden galten pauschal als antirussisch, und auch Armenier wurden seit den 1880er Jahren dieser Kategorie zugeschlagen. Dahinter stand auch ein allgemeiner Trend zu Essenzialisierung nationaler Wesenszüge, der sich beispielsweise im Falle der Juden darin ausdrückte, dass eine Konversion zum orthodoxen Christentum nicht mehr ausreichte, um als gleichwertiger Untertan anerkannt zu werden. Dennoch blieb die Politik des Zarenreichs 67 Zitat: Kappeler, Kleine, S. 155; ders., Russland; Frankel, Prophecy; Nathans, Beyond; Meir, Kiev; Kolsto, Competing; Stadelbauer, Kaukasische; Auch, Muslim, S. 442–447; Bournoutian, Rise, S. 72–77; Panossian, Armenians, S. 196; Fleischhauer, Deutschen; Dönninghaus, Deutschen; Dahlmann/Tuchtenhagen (Hg.), Reform.

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gegenüber den Nationalitäten widersprüchlich. Die Folge war ein Mosaik aus teils diskriminierenden, teils aber auch privilegierenden Vorschriften, das sowohl Angehörige der Minderheiten als auch ethnische Russen in der Vorstellung bestärkte, sie gehörten zu den eigentlich Benachteiligten. Letztlich ging es aber gar nicht so sehr um Konflikte zwischen Völkern oder Religionen. Das Ressentiment konnte sich ebenso gegen Angehörige der »besseren Gesellschaft« richten.68 Der Nährboden für Massengewalt war bereitet.

Schreibweisen Viele Orte, um die es hier geht, könnten mit gleichem Recht in anderen Sprachen benannt werden. Im Interesse der Einheitlichkeit wurde die um 1900 gültige amtliche russische Schreibung verwendet, falls es nicht eine im Deutschen etablierte Alternative gibt. Dasselbe gilt für Personennamen. Transliterationen des Russischen wurden gemäß der nach 1917 reformierten Rechtschreibung vorgenommen, Datumsangaben nach dem im Russischen Reich gültigen julianischen Kalender. Fremdsprachige Zitate wurden vom Autor übersetzt. Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Bezeichnung ethnisch-religiöser Gruppen. Häufig werden Juden in den Quellen mit dem Schimpfwort ˇzidy bezeichnet, das in dieser Arbeit neutral mit »Juden« übersetzt wird, gefolgt vom russischen Begriff in Transliteration. Bei Judenpogromen stellt sich außerdem die Frage, wie die Täter zu bezeichnen sind. Ihre ethnische Zugehörigkeit ist nur in seltenen Fällen bekannt. In den Quellen wird das Problem durch die Religionszugehörigkeit gelöst. Die Pogrome sind dann eine Sache von Christen und Juden. Das ist nicht falsch, legt aber nahe, dass der Konflikt ein religiöser war, eine Auffassung, die diese Arbeit nicht teilt. Dennoch wird das Gegenüber der Juden hier gelegentlich als »Christen« bezeichnet, jedoch stets in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, dass es sich um einen Hilfsbegriff handelt. Das ist nicht unproblematisch, aber die Alternativen – Nichtjuden, Gojim, Slawen – wären nicht besser. 68 Baberowski, Feind; ders., Juden; ders., Nationalismus; Löwe, Nationalismus; Hosking, Russischer, S. 169–186; Miller, Romanov; Rogger, Nationalism; Geyer, Russische, S. 66.

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1 Pogrom als Improvisation

Die Geschichte der Pogrome im Russischen Reich beginnt in Neurussland, jenem im Laufe mehrerer Kriege dem Krim-Khanat und der Hohen Pforte abgerungenen Territorium an der Küste des Schwarzen und des Asowschen Meeres.1 In der bis dahin spärlich besiedelten Steppe wurden durch absolutistische Peuplierungspolitik russische und ukrainische Bauern heimisch gemacht. Privilegien für ausländische Siedler, die sogenannten Kolonisten, lockten vor allem Balkanchristen, Griechen aus dem Schwarzmeergebiet, Armenier und Deutsche in das neu zu erschließende Land.2 Ab 1764, zu einer Zeit also, als sich Juden eigentlich gar nicht in den Grenzen des Reiches niederlassen durften, wurden, um Fürst Grigorij A. Potemkin, den Günstling Katharinas II. und ersten Generalgouverneur Neurusslands, zu zitieren, »sogar« sie von staatlichen Stellen ermutigt, Neurussland zu ihrer Heimat zu machen.3 Neurussland war ein Ort rapider wirtschaftlicher Entwicklung. Innovative Anbaumethoden, günstige naturräumliche Gegebenheiten und die nahen Schwarzmeerhäfen verwandelten die Region in die Kornkammer des Reiches.4 Wenig später florierte zudem im Nordwesten die Zuckerindustrie, und im Osten wuchs ein neues Zentrum der Montanindustrie heran.5

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Welche Territorien »Neurussland« im 19. Jahrhundert umfasste, war schon damals nicht unumstritten. Verschiedene Auffassungen existierten nebeneinander. Als Großregion umfasste Neurussland (z.B. als Kategorie bei der Volkszählung 1897) ein Gebiet, das im Westen bis Bessarabien und im Osten bis zum DonGebiet reichte. Daneben gab es ein Verständnis von »Neurussland«, das sich auf die Gouvernements Cherson, Ekaterinoslav und Taurien beschränkte, wie z.B. beim Zuschnitt des »Generalgouvernements Neurussland und Bessarabien«, das 1828 geschaffen wurde und ab 1879 in das »Provisorische Generalgouvernement Odessa« umbenannt wurde. Wenn hier von Neurussland die Rede ist, dann im letztgenannten, engeren Sinn. Golczewski, Ukraine; Kabuzan, Zaselenie. Klier, Russia, S. 37. Lindner, Unternehmer, S. 107; Brandes, Ukrainische. Thiede, Industry, S. 125–138.

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Auftakt in Elisavetgrad Mit seinem bunten Bevölkerungsgemisch wurde Neurussland auch zum Schauplatz der ersten Judenpogrome im Russischen Reich, die auf die Jahre 1821, 1859 und 1871 datieren. Sie alle beschränkten sich auf die Stadt Odessa. Da die Täter bis 1871 vornehmlich Griechen waren, konnten die Pogrome als Besonderheit der exotischen Stadt am Schwarzen Meer gesehen werden.6 1871 gab es dann unter den Tätern auch viele Russen, und diese Unruhen waren die ersten, die im Reich überhaupt größere Beachtung fanden.7 Wenn die Zeitgenossen in der Folge Pogrome erwarteten, dachten sie an Odessa. Sie hatten vereinzelte Vorkommnisse vor Augen, bei denen mitunter Menschen zu Tode kommen konnten, die aber keine größere Bedeutung für das Reich und seine Juden hatten. So war es auch im Frühjahr 1881. Es gab keinen Grund, mit dem zu rechnen, was kommen würde. Im Jahr 1881 wurden Pogrome erstmals zu einer Massenerscheinung im Russischen Reich. Alles begann in Elisavetgrad, einer Kreisstadt, die ihrer Geschichte und ihrer sozioökonomischen Struktur nach beispielhaft für viele andere neurussische Städte stehen könnte. Sie ging aus einer im Jahr 1754 gegründeten, damals grenznahen Festung hervor, in deren Schutz allmählich ein regionales Zentrum für Handel und Gewerbe heranwuchs.8 Doch die Zeiten änderten sich. Mit Wehmut dachte man in den 1880er Jahren daran zurück, dass einst »selbst aus Moskau« Händler in die Stadt gekommen waren.9 Nun aber wurden die interessanten Geschäfte in Odessa abgewickelt; die einst florierenden Jahrmärkte von Elisavetgrad »überrasch[t]en durch ihre völlige Menschenleere«.10 Es waren keine guten Zeiten für Elisavetgrad, und das Jahr 1881 sollte sich als besonders schwierig erweisen. Die letzte Ernte war schlecht 6 Möglicherweise gab es noch ein weiteres Pogrom 1862 in der nahe Odessa gelegenen Kleinstadt Akkerman. Über die Ereignisse dort ist fast nichts bekannt. 7 Klier, Pogrom, S. 20–25; Zipperstein, Jews; Opisanie odesskich. 8 Kohl, Reisen, S. 27–29; Thiede, Town, S. 186–188. Industrie spielte hingegen keine Rolle. Semenova, Zˇivopisnaja, S. 171; allgemein zur Stadtgeschichte: Petrakov/ Maˇskovcev, Malen’kij. 9 Zitat: Glavnyj ukazatel’, S. 78. 10 Ebd., S. 78–80. Im Übrigen hatte der Niedergang Elisavetgrads bald nach dem Pogrom seinen Tiefpunkt erreicht. Ab 1890 war es wieder eine regional bedeutende Handelsstadt. Vgl. Muraˇskincev, Elisavetgrad, S. 614–616.

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ausgefallen – keine Kleinigkeit für eine Region, die fast ausschließlich vom Handel mit Getreide lebte. Ein Teil der Bevölkerung litt Hunger. Das galt auch für viele der ohnehin meist armen Juden, und Juden gab es viele in Elisavetgrad: 30 Prozent der 43300 Einwohner waren mosaischen Glaubens.11 Dass in der Stadt viele Juden lebten, war im Übrigen nichts Neues. Schon 1795 wurden unter den damals 2300 Einwohnern 400 Juden gezählt (17 Prozent), im Jahr 1816 lag ihr Anteil an der Bevölkerung bereits bei 22 Prozent, um 1835 knapp 30 Prozent zu erreichen.12 In den folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl der Juden in Elisavetgrad zwar weiter rapide zu, aber die übrige Bevölkerung wuchs im gleichen Tempo. Dennoch wurde 1881 die Zuwanderung von Juden von den Nichtjuden Elisavetgrads als Bedrohung wahrgenommen. So sah es jedenfalls Graf Pavel I. Kutajsov, von dem später noch die Rede sein wird: »In letzter Zeit überschwemmten [die Juden] die Stadt Elisavetgrad so sehr, dass es unmöglich war, unbeschwert die Straßen entlangzugehen.«13 Neben Juden lebten in Elisavetgrad hauptsächlich Russen und Ukrainer. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist erst durch die Volkszählung von 1897 verlässlich belegt, bei der in der Stadt 61448 Menschen registriert wurden, von denen 35 Prozent Russisch, 24 Prozent Ukrainisch, 38 Prozent Jiddisch und 2 Prozent Polnisch als ihre Muttersprache angaben. Außerdem gab es einige Deutsche, Tataren und Griechen.14 Das ethnische Profil der Einwohner von Elisavetgrad entsprach damit dem Durchschnitt der Städte des Gouvernements Cherson und in etwa dem der neurussischen Städte im Allgemeinen.15 Das gilt auch für die Berufe, die Juden ausübten: Unter den Betreibern von Schankwirtschaften und Suppenküchen waren sie deutlich überrepräsentiert (61 Prozent in der Stadt und sogar 81 Prozent im Gouvernement). 75 Prozent der Geschäfte in Elisavetgrad waren in jüdischer Hand. Traditionell dominierten Juden den Handel mit Getreide und Alkohol; sie besaßen 95 Prozent der Brotgeschäfte und alle sechs großen Schnapslager. Trotz der Dominanz in

11 Elisavetgradskij vestnik, No. 27, 8. 3. 1881, S. 3; Russkoe bogatstvo, No. 2, 1881, S. 93; Vedomost’ chersonskoj po evrejskomu voprosu kommissii o cˇ isle naselnija za 1881 g., o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 151, l. 57; Adres-kalendar’, S. 12–14. 12 Paˇsutin, Istoriˇceskij, S. 261; Poliˇscˇ uk, Evrei, S. 17, 27, 44. 13 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 247. 14 Pervaja vseobˇscˇ aja perepis’, S. 296–297. 15 Ebd., S. vii.

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einigen Branchen waren die Juden bei den Ständen der Kaufleute und Handwerker nur geringfügig überrepräsentiert (34 respektive 39 Prozent).16 Offensichtlich gab es zahlreiche Juden, die zwar ein Geschäft betrieben, sich aber den Aufstieg in die Kaufmannsgilden nicht leisten konnten – ein weiterer Hinweis auf die verbreitete Armut der jüdischen Bevölkerung.17 Als nach dem Pogrom in Elisavetgrad eine Kommission zusammenkam, um die Ursachen der Gewalt zu untersuchen, hob sie dennoch die Gefahr jüdischer Dominanz über die sogenannte »angestammte Bevölkerung« hervor. Neben der jüdischen Kontrolle über Brot und Schnaps, zwei zweifellos besonders sensiblen Gütern, wurde vor allem darauf verwiesen, dass in den Mittelschulen über zwei Drittel der Zöglinge Juden waren und dass es den jüdischen Abgeordneten der Stadtversammlung, der Duma, trotz der gesetzlichen Höchstquote von einem Drittel, oft gelinge, Entscheidungen durchzusetzen, indem sie Allianzen mit nichtjüdischen Abgeordneten schmiedeten und weit regelmäßiger als diese die Sitzungen besuchten. Der Chef der Garnison von Elisavetgrad, Andrej I. Kosiˇc, beklagte, dass die »apathische« christliche Oberschicht den Juden die Stadt überlasse; und selbst die nicht zu freundlichen Einschätzungen der Juden neigende Kommission zur Judenfrage fasste resigniert zusammen, die Juden seien »insgesamt weiter entwickelt als die Christen«.18 Diese Einschätzung weist auch darauf hin, dass die Juden von Elisavetgrad, wie die von Neurussland überhaupt, im Vergleich zu den Juden in den an Russland gefallenen polnischen Teilungsgebieten weniger auf Traditionen beharrten. Wo es keine über lange Zeit gewachsenen Strukturen gab, waren auch in dieser Hinsicht gute Bedingungen für einen Neubeginn gegeben. Wenn etwa die Autoren des Russkij evrej nach positiven Beispielen für die Assimilationsbereitschaft der Juden suchten, verwiesen sie auf das Progymnasium von Elisavetgrad, in dem mehrheitlich 16 Vedomost’ chersonskoj po evrejskomu voprosu kommissii o pitejnych zavedenijach za 1881 g., o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 151, l. 60–76. 17 Berk, Year, S. 24–26; V zaˇscˇ itu, S. 11. 18 Ob’’jasnitel’naja zapiska k protokolam chersonskoj gub. po evrejskomu voprosu komissii, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 151, l. 28ob–29ob; Kosiˇc, A.: O poloˇzenii Elisavetgrada i o priˇcinach proisˇsedˇsego v nem akta evrejskogo dviˇzenija i besporjadkov 15 i 16 Aprelja 1881 g., 21. 6. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 126, l. 68–68ob; zu dem oft geringen Engagement der lokalen Oberschichten für die städtische Selbstverwaltung vgl. Bönker, Jenseits.

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Juden nach weltlicher Bildung strebten.19 Wie richtig diese Einschätzung war, zeigte sich, als der 1880 eingeführte jüdische Religionsunterricht von den Schülern abgelehnt wurde.20 Elisavetgrad war auch Ausgangspunkt einer der wichtigsten Reformbewegungen des religiösen Judentums jener Zeit, der sogenannten »Spirituellen Bibelbruderschaft«, deren Anfänge bis ins Jahr 1877 zurückreichten und die wenige Wochen vor dem Pogrom von Elisavetgrad erstmals landesweit zur Kenntnis genommen wurde.21 Dem Gründer der Bruderschaft, Jakov Gordon, ging es darum, traditionell jüdische Elemente mit jenen der evangelischen Stundisten und sozialistischen Ideen zu verbinden. Unter anderem sollten sich Juden von Kommerz und Kreditwesen ab- und »produktiver Arbeit« zuwenden. Die Bruderschaft wurde nie zur Massenbewegung, aber sie war ein weiterer Hinweis darauf, dass die Juden in Elisavetgrad und der Region im Aufbruch begriffen waren.22 Sie nutzten Chancen zu Partizipation und Aufstieg, wo sie sich boten. Traditionelle Bindekräfte waren hier schwächer ausgeprägt als in vielen anderen Teilen des Ansiedlungsrayons.23 Aus der Geschichte der Judenfeindlichkeit ist bekannt, dass ein hoher Grad von Akkulturation nicht unbedingt zu einem Abbau feindseliger Vorurteile führt, man denke etwa an das Deutsche oder das Habsburgerreich. Deshalb ist es interessant nachzuvollziehen, wie jeweils vor Ort vor Pogromen Debatten über die »jüdische Frage« geführt wurden. Als landesweit wichtige Problemfelder galten neben der angeblichen ökonomischen Dominanz der Juden (die ja in Neurussland und in Elisavetgrad, wie geschildert, zumindest weniger stark war als in anderen Teilen des Ansiedlungsrayons) die Frage, ob sich Juden dem Militärdienst zu entziehen suchten, die Möglichkeit von Siedlungsbeschränkungen (ausgelöst durch die Ausweisung der Juden aus Helsingfors) und die Beteiligung von Juden an Studentenunruhen in Sankt Petersburg.24 In Elisavetgrad ging es offenbar nur um die Frage des Militärdienstes. Wenn man dem Korrespondenten der Zeitung Russkij evrej glauben darf, waren die ört-

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Russkij evrej, No. 5, 1. 10. 1879, S. 151; vgl. Berk, Year, S. 10–21. Rassvet, No. 3, 15. 1. 1881, S. 95. Kievljanin, No. 90, 24. 4. 1881, S. 3. Zhuk, Ukrainian; Klier, From. Allgemein zur Reform der jüdischen Religion in Neurussland: Polishchuk, Was. Rassvet, No. 5, 29. 1. 1881, S. 167; Golos, No. 44, 13. 2. 1881, S. 1.

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lichen Juden in dieser Hinsicht vorbildlich.25 Sucht man nach konkreten Ereignissen, spielte in Elisavetgrad nur ein Teilkomplex der »jüdischen Frage« eine nachweisbare Rolle, aber es war einer mit besonders großer Sprengkraft: die Ritualmordbeschuldigung. Vor einem knappen Jahr war der bis dahin bedeutendste Gerichtsprozess zu diesem Thema zu Ende gegangen – mit einem Freispruch. Dennoch war die nach dem Fundort der Leiche benannte »Kutaisi-Affäre« noch immer in aller Munde. Die tatsächlichen und vermeintlichen Hintergründe der Tat waren in der landesweiten Presse ausführlich debattiert worden. Antisemitische Pamphletisten wie Ippolit I. Ljutostanskij hatten große Aufmerksamkeit erfahren.26 Im Dezember 1880 hatte sich ein weiterer Ritualmordverdacht, ebenfalls im Gouvernement Kutaisi, zwar rasch aufgeklärt, doch das Thema lag noch immer in der Luft.27 Das zeigte sich in Elisavetgrad, als am Morgen des 6. April, in der Karwoche und kurz vor dem Pessach-Fest, in einem Fass beim Marktstand der jüdischen Pflaumenhändlerin Basja Fechtman sechs Konservengläser voller Blut und Innereien gefunden wurden. In kurzer Zeit kamen zweitausend Menschen zusammen, weil kolportiert wurde, es handle sich um nichts anderes als die Überreste eines traditionellen Pessachopfers. Überraschenderweise klärte sich alles umgehend auf: Die Innereien stammten tatsächlich von zwei christlichen Jungen. Sie waren mit Symptomen einer Vergiftung tot aufgefunden worden waren. Um die Todesursache sicher festzustellen, hatten die Justizbehörden die Organe entnehmen lassen. Ein Gerichtsdiener war damit beauftragt worden, die Konservengläser zu verschicken, doch der Händler, bei dem Kisten zum Versand bestellt worden waren, war nicht anzutreffen. Wohl aus Nachlässigkeit versteckte der Diener die Gläser in der Nähe – eben in dem besagten Fass beim Stand der Pflaumenhändlerin. Als er die Gläser wieder abholen wollte, traf er die erregte Menschenmenge an, gab sich Mühe, alles aufzuklären, und ließ sie zusehen, wie die Gläser nun ordnungsgemäß in Kisten verstaut wurden. Alle beruhigten sich und gingen ihrer Wege.28 25 26 27 28

Russkij evrej, No. 24, 11. 6. 1880, S. 941; Russkij evrej, No. 11, 14. 11. 1879, S. 389–390. Ljutostanskij, Ob upotreblenii; Berk, Year, S. 49–50. Rassvet, No. 6, 5. 2. 1881, S. 214–215. Die Ereignisse: Elisavetgradskij vestnik, No. 40, 10. 4. 1881, S. 2; Rassvet, No. 16, 16. 4. 1881, S. 614–615.

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Im Nachhinein kann man nur staunen: Warum regte sich kein Widerspruch gegen die Erklärungen des Gerichtsdieners? Warum ließen die vielen Menschen, von denen zumindest einige bereits Rache an den Juden gefordert hatten, so leicht wieder von dem Vorwurf ab? Nur anderthalb Wochen später ereignete sich dann in der Stadt ein Pogrom, aber an den angeblichen Ritualmord dachte dann offenbar niemand mehr. Jedenfalls stellen die Quellen diesen Zusammenhang nicht her. Warum realisierte sich das Potenzial nicht, das der schreckliche Fund am Marktstand der jüdischen Händlerin darstellte? Eine Antwort wäre, dass Pogrome ein komplexes Geschehen waren, bei dem vieles zusammenkommen musste. Offenbar fehlte »etwas« – aber was, darüber kann man angesichts der schmalen Quellenüberlieferung zu diesem Vorfall nur spekulieren. Eine Aussage lässt sich aber durchaus treffen. Der Zusammenhang zwischen dem Inbegriff der Judenfeindlichkeit, der Blutlegende, und Pogromgewalt war im Russischen Reich nicht besonders eng.29 Das oft als Musterbeispiel für diese Form von Gewalt behandelte Pogrom von Kiˇsinev war in dieser Hinsicht eine große Ausnahme. Nicht nur kamen fast alle Pogrome ohne jegliche Referenz auf einen Ritualmord aus, in Elisavetgrad folgte zudem auf vergleichsweise plausible Ritualmord-Indizien kein Pogrom, und das, obwohl die späteren Ereignisse zeigten, dass die Stadt ein gewaltiges Potenzial für antijüdische Gewalt barg. Die eigentliche Vorgeschichte des Pogroms von Elisavetgrad und damit der gesamten Pogromwelle von 1881/82 beginnt mit dem 1. März 1881, mit dem Attentat auf Zar Alexander II. Der Tod des Autokraten durch die Hand von Terroristen war eine Zäsur, denn er erschütterte all jene, die auf die Stabilität des Staatswesens vertrauten.30 Damit ist nicht nur die politische Elite gemeint; der »Zarenmythos« war keine Erfindung patriotischer Intellektueller. Für einen großen Teil zumindest der russischen Unterschichten war der Zar eine quasisakrale Figur voller Verständnis und gutem Willen für seine treuen Untertanen. Sein Tod war ein gravierendes Ereignis, das nach Erklärungen verlangte. 29 Das wird insbesondere von Autoren ohne nähere Kenntnis des Russischen Reiches gern übersehen. Helmut Walser Smith behauptet sogar, unbelegt, das Pogrom von Elisavetgrad sei Folge einer Ritualmordbeschuldigung gewesen. Smith, Continuities, S. 136. 30 Safronova, Smert’.

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In der älteren Forschung ist zu lesen, dass die antisemitische Presse den Zarenmord den Juden in die Schuhe geschoben habe. So schilderten es auch nach den Pogromen viele Vertreter der jüdischen Gemeinden in ihren Stellungnahmen zu den Ursachen der Gewalt. In der Tat widmeten Zeitungen wie Novoe vremja dem Umstand, dass unter den Verschwörern auch eine Jüdin war, große Aufmerksamkeit. Gessja Gel’fman, so ihr Name, war zwar an der eigentlichen Bluttat nur indirekt beteiligt: Ihre Rolle hatte darin bestanden, ein konspiratives Quartier anzumieten. Andererseits stach ihr Fall heraus, weil sie zwar wie die anderen Verschwörer zum Tode verurteilt, die Vollstreckung des Urteils jedoch aufgrund von Gel’fmans Schwangerschaft bis zu ihrer Niederkunft aufgeschoben wurde. Deshalb kursierten Gerüchte, »die Juden« hätten es so eingerichtet, dass man Gel’fman nicht hängen, sondern letztlich entkommen lassen werde.31 Darüber hinaus wurden in der Presse Hinweise gestreut, dass nicht nur eine Jüdin, sondern mehrere, wenn nicht »die Juden« insgesamt hinter dem Attentat steckten. Welche von beiden Varianten der kollektiven Täterschaft zutreffend war, ließen die Autoren oft absichtlich im Unklaren. So wurde das Attentat etwa als »Werk jüdischer Hände« bezeichnet oder es hieß, dass in Odessa zum Osterfest antijüdische Gewalt vorbereitet werde, um die Beteiligung »einiger« oder »der« Juden (das ließ die Formulierung offen) am Attentat zu rächen.32 Der letztgenannte Bericht stammte aus der in Odessa erscheinenden Zeitung Novorossijskij telegraf. Zwar distanzierte sich die Zeitung von dem Aufruf zur Gewalt, das von den Juden ausgehende Übel beschränke sich auf wirtschaftliche Ausbeutung. Doch die jüdische Presse, die Juden von Elisavetgrad und auch Graf Kutajsov schrieben diesem Zeitungsartikel später eine Schlüsselrolle für das Ausbrechen des Pogroms zu.33 Andererseits nahmen längst nicht alle Zeitungen die angeblich »jüdische Spur« auf. Das galt nicht nur für die liberalen und aus konservativer Sicht immer im Verdacht übermäßiger Judenfreundlichkeit stehenden Zeitungen, wie das einzige Lokalblatt Elisavetgradskij vestnik. Gerade auch konservative und kirchliche Autoren betonten die »Schuld«, die das 31 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 59ob–64ob. 32 Nach: Rassvet, No. 13, 26. 3. 1881, S. 494. 33 Rassvet, No. 16, 16. 4. 1881, S. 610–613; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 226–227, 241.

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russische Volk und besonders seine Oberschicht am Zarenmord treffe. Der prominente Journalist und Herausgeber des konservativen Blattes Graˇzdanin, Fürst Vladimir P. Meˇscˇ erskij, notierte etwa: »Schande, Schande, ewige Schande über uns, das russische Volk.«34 Als Beispiel aus Neurussland mag die konservativ-patriotische Zeitung des Bistums Cherson dienen, die betonte, dass »die Zarenmörder aus unseren Reihen kamen, aus der Mitte des russischen Volkes«.35 Für die Masse der Bevölkerung hatte der Zarenmord aber ohnehin eine ganz andere Bedeutung. Die Vorwürfe gegen die Juden, die in der Presse und auch in Teilen der Bevölkerung erhoben wurden, gewannen erst aus der Rückschau an Relevanz, weil sie den Zeitgenossen halfen, eine befriedigende Erklärung für die Judenpogrome zu finden. Vor den Pogromen zirkulierten ganz unterschiedliche Spekulationen über die Attentäter, und nur wenige schrieben die Verantwortung den Juden zu. Viel häufiger wurde vermutet, dass der Zar von Vertretern des Adelsstandes umgebracht worden war, weil er eine Umverteilung des Landes zugunsten der Bauern befürwortet oder weil er gegen angebliche Pläne des Adels für eine neue Leibeigenschaft Einspruch erhoben habe.36 Die Bauern brachten also ihre Hoffnungen und Ängste ins Spiel und verbanden sie mit dem Mythos vom wohlwollenden Zaren und den bösen »Bojaren«. Darüber hinaus entsprach die Vermutung, dass, wenn ein Zar ermordet wurde, ein Adelskomplott dahinterstecken müsse, ja durchaus der historischen Erfahrung – man denke nur an die Palastrevolten des 18. Jahrhunderts. Erst im Nachhinein trat die antijüdische Dimension in den Vordergrund.37 Der Mord an Alexander II. war also keineswegs das Motiv oder auch nur der Anlass für die Judenpogrome. Es gab überdies, wie schon John Klier gezeigt hat, keine antisemitische Pressekampagne, welche die Juden als Zarenmörder präsentierte.38 Trotzdem spielte das Attentat für das Ausbrechen der Gewalt in Elisavetgrad eine große, wenn

34 Safronova, Smert’, S. 175–176. 35 Chersonskie eparchial’nye vedomosti, No. 7, 1. 4. 1881, S. 193; vgl. auch Chersonskie eparchial’nye vedomosti, No. 8, 15. 4. 1881, S. 228. 36 Rassvet, No. 12, 19. 3. 1881, S. 454; Pristav goroda Ol’viopolja an Elisavetgradskij uezdnyj ispravnik, Kopie, o.D., GARF f. 102, op. 38 (2), d. 679 cˇ . 2, l. 519–520ob; Kurskij gubernator an g. MVD, 26. 5. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ .3, l. 12. 37 Valk, Posle, S. 151–157. 38 Klier, Christians, S. 159.

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auch indirekte Rolle: Es war der Grund, warum das Osterfest im Jahr 1881 anders begangen wurde als üblich. Selbstverständlich folgte auf den Tod des Zaren eine Zeit der Staatstrauer, die sich zunächst gut in den orthodoxen Festkalender einfügte, denn die »große Fastenzeit« vor Ostern war von jeher eine Zeit der inneren Einkehr und Trauer. Ostern selbst wurde jedoch als Fest der Freude begangen. Wenn der Ostergottesdienst vorüber und die Prozessionen mit Ikonen und Kirchenfahnen absolviert waren, wurde ausgelassen gefeiert. Das Osterfest läutete den Beginn des sommerlichen guljan’e ein, des gemeinsamen »Spazierens« der jungen Männer und Frauen. In den Städten und Dörfern wurden Riesenräder und große Schaukeln aufgebaut. Volkstheater, die sogenannten balagany, lockten die Besucher an, es gab Schnaps und Schlägereien.39 Im zentralrussischen Dorf prügelten sich meist die jungen Männer benachbarter Dörfer, in den Städten die Einheimischen mit den Auswärtigen (die oft eigens zu diesem Zweck in die Stadt kamen). Immer war die Differenz zwischen »uns« und den »Fremden« bestimmend. Die Gewalt folgte Regeln, deren Sinn offenbar darin bestand, einerseits den Männern eine Gelegenheit zu geben, durch Gewalttaten Prestige zu erwerben, andererseits aber ernsthafte Verletzungen und damit einen Verlust der Arbeitskraft zu vermeiden. Dazu gehörten vorgelagerte Droh- und Schmährituale sowie das Verbot bestimmter gefährlicher Formen der Gewalt. So galt es als unehrenhaft, am Boden Liegende oder Blutende zu schlagen.40 Es scheint, dass diese Tradition im Südwesten des Reiches eine gewisse Transformation erfuhr. Jedenfalls lassen sich die kleineren österlichen Ausschreitungen, die es namentlich in Neurussland in der Osterwoche praktisch alljährlich gab, so deuten. Es ist nicht viel darüber bekannt, was bei diesen Anlässen vor 1881 geschah. Oft blieb es bei bloßen Drohungen oder bei Handlungen wie dem Einschlagen von Fensterscheiben, die selbst primär als Drohung zu verstehen waren.41 Auch au-

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Sˇangina, Russkij, S. 94–102. Ebd., S. 67–69, 459–464. Für Odessa und Cherson: Poliˇscˇ uk, Evrei, S. 28, 352. Allgemein: Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 16ob. Es ist nicht bekannt, ob es auch in Elisavetgrad solche Vorfälle gegeben hat. Allgemein: Klier, Christians, S. 157.

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ßerhalb der Osterzeit kam es regelmäßig zu Schlägereien, bei denen Juden durchaus nicht nur Opfer waren. »Es ist unmöglich, über einen Basar zu gehen, ohne dass es eine Schlägerei zwischen Juden und Christen gibt, wobei mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewinnt.«42 Insofern gab es also limitierte Gewalt gegen eine nun ethnischreligiös konzipierte Gruppe der »Anderen«. Dass sich die Opfer manchmal nicht dem Kampf stellten, hinderte die Täter nicht, Wagemut und Körperkraft zur Schau zu stellen und so Prestige zu erringen. Diese Proto-Pogrome waren etwas anderes als die traditionellen Schlägereien in Zentralrussland, aber sie hatten sehr wahrscheinlich in ebendieser Form der Gewalt ihren Ursprung. Das Osterfest des Jahres 1881 verlief anders als sonst. Die Zeit der Staatstrauer war noch nicht vorbei, und deshalb wurden die Vergnügungen, die Schaukeln und Schaubuden abgesagt. Stattdessen patrouillierten Soldaten in den Straßen. Überwachung statt Ausgelassenheit, Bajonette statt Theater. Die Stimmung in der Stadt war schlecht, und bald verbreiteten sich Gerüchte, dies sei den Juden zu verdanken. Es hieß, die Juden hätten die Behörden bestochen, ihnen die Vergnügungen »abgekauft«. Für »500 Rubel« hätten sie die Polizei auf ihre Seite gebracht. Diese Gerüchte wurden als so gefährlich eingestuft, dass der Polizeimeister von Elisavetgrad Bogdanoviˇc ein Dementi drucken und in der Stadt plakatieren ließ.43 Normalerweise wurden im späten Zarenreich Gerüchte von den Behörden nicht so ernst genommen. Bogdanoviˇc und den anderen Staatsvertretern war jedoch bewusst, dass die öffentliche Ordnung gefährdet war, denn seit dem Attentat hatte sich die Lage in Elisavetgrad immer weiter zugespitzt. Nach dem Zarenmord verfestigte sich bei den Einwohnern von Elisavetgrad allmählich die Auffassung, dass etwas bevorstehe, das weit gravierender war als die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Die Gerüchte, im Folgenden werden sie auch als »Ankündigungsgerüchte« bezeichnet, hatten ihren Ursprung in Odessa. An keinem anderen Ort lag es nahe, mit einem Ausbruch antijüdischer Gewalt zu rechnen, denn die Ausschreitungen von 1871 waren noch präsent. Schon bald hieß es aber auch in Elisavetgrad, »das Volk beabsichtige, das

42 Odesskij pogrom, S. 69. 43 Dokumenty i materialy, S. 11.

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zehnjährige Jubiläum des Judenschlagens in Odessa zu feiern«.44 Dies war zunächst nicht mehr als Gerede, wie es auch in anderen Jahren zu hören gewesen war. Doch indem sich verschiedene Bevölkerungsgruppen aus jeweils sehr unterschiedlichen Motiven und auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf die möglicherweise bevorstehenden Ereignisse einstellten, verstärkten sie sich gegenseitig in ihren Erwartungen. So trugen selbst Akteure, die die Gewalt zu verhindern suchten, dazu bei, dass die Erwartung eines Pogroms in Elisavetgrad immer plausibler wurde. Als in Elisavetgrad in den Wochen nach dem 1. März Gerüchte aufkamen, zu Ostern würden die Juden geschlagen, wurden sie zunächst nicht allzu ernst genommen. Man hatte Erfahrungen mit handgreiflichen Auseinandersetzungen, sie waren beinahe alltäglich und überdies nicht völlig einseitig.45 Doch auch Gewalt geringeren Ausmaßes fürchten jene zu Recht, die ihr zum Opfer fallen können. Deshalb ist es möglicherweise zutreffend, wenn nach dem Pogrom Vertreter der Behörden behaupteten, das Gerücht über die bevorstehenden Ausschreitungen sei anfangs nur von den Juden Elisavetgrads ernst genommen worden, wenn auch nicht von allen.46 Es ist plausibel, dass das Gerücht die voraussichtlichen Opfer mehr bewegte als die potenziellen Täter. Doch auch diese begannen, über die bevorstehenden Ereignisse zu sprechen. Im Nachhinein interpretierten die Opfer solches Gerede oft im Sinn einer langfristigen Vorbereitung der Täter. Doch der Ablauf des Pogroms von Elisavetgrad weist keine Anzeichen einer gezielten vorausgegangenen Planung auf. Es gab »Christen«, die Juden gegenüber Andeutungen über die angeblich kommende Gewalt machten. Das heißt jedoch nicht, dass sie über die Zukunft besser informiert waren als andere; es bedeutete nur, dass sie es als »profitabel« erachteten, mit der Furcht ihres Gegenübers zu spielen. So konnte es Befriedigung verschaffen, Menschen »Angst einzujagen«, mit denen man vielleicht einmal in Konflikt geraten war. Anderen war klar, dass die Juden in der aktuellen Situation jeder Konfrontation aus dem Weg gehen würden, und sie nutzten die Gelegen44 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 268; vgl. auch Juˇznyj kraj, No. 111, 29. 4. 1881, S. 2. 45 Malorossija, S. 249. 46 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 307–307ob.

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heit, um sie grob zu beschimpfen und zu erniedrigen.47 Auch Neid mag eine Rolle gespielt haben, wenn etwa der Elisavetgrader Kaufmann Vaˇscˇ enko, dem Namen nach wohl Ukrainer, drei Tage vor Ostern einen Juden beim Kauf eines teuren Gemäldes beobachtete und mit den Worten ansprach: »Wozu brauchen Sie das, in drei Tagen werdet ihr doch ohnehin alle niedergemacht?«48 Es gab aber auch Fälle, in denen materieller Profit aus der Pogromangst geschlagen wurde, indem »Christen« Schutzgeld erpressten oder Handelspartner unter Druck setzten.49 Je näher Ostern kam, umso mehr häuften sich in Elisavetgrad solche und ähnliche Fälle.50 Gleichzeitig veränderte die wachsende Angst vor einem Pogrom auch die Wahrnehmung der prospektiven Opfer. Einem russischen Sprichwort zufolge hat »die Angst große Augen«: Was man unter anderen Umständen als ärgerlich, aber nicht weiter beachtenswert abgehakt hätte, erschien nun als weiteres Indiz für die kommende Gewalt. So war nach dem Pogrom in einem Zeitungsartikel zu lesen: »Die Juden hatten schon seit Langem aufgrund einer Vielzahl winziger Hinweise eine Eruption des Hasses erwartet. Ein Beispiel: ein jüdisches Kind verletzt sich leicht, und die russische Kinderfrau sagt, anstelle des üblichen geheuchelten Klagegeschreis: ›Das geschieht dir ganz recht.‹«51 Bald zirkulierten verschiedene Varianten des Gerüchts über die bevorstehenden Unruhen, weil jeder, der es weitererzählte, Details hinzufügte oder ausließ, je nachdem, was ihm selbst in Bezug auf seine Zuhörer plausibler erschien.52 Das Gerücht war schließlich so weit verbreitet, dass es hinterher hieß, es müsse von »böswilligen Personen« und mit Kalkül in Umlauf gebracht worden sein – ohne dass die Autoren freilich jemanden hätten be-

47 Rassvet, No. 19, 9. 5. 1881, S. 758; Ben-Ami, Odesskij, S. 29. 48 Juˇznyj kraj, No. 111, 29. 4. 1881, S. 2. 49 Elisavetgradskij vestnik, No. 112, 28. 10. 1881, S. 2; Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 703–704; Rassvet, No. 20, 16. 5. 1881, S. 781; Tiflisskij listok, No. 58, 24. 3. 1905, S. 3; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 367; Delo o vospreˇscˇ enii prebyvanija v g. Kieve i v Kievskom uezde Varfolomeju Osipovu Kalabuchinu, CDIAU f. 442, op. 856, d. 228, l. 1–19; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 597, 602. 50 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 701. 51 Zit. n.: Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2. 52 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 241; Selbin, Gerücht, S. 85, 107; Kapferer, Gerüchte, S. 54.

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nennen können, dem das nachzuweisen oder auch nur zuzutrauen gewesen wäre.53 Allerdings wirkten Details, die etwa den Ort benannten, an dem die Gewalt angeblich beginnen würde (beim Haus reicher Elisavetgrader Juden, etwa bei den Kogans, den Slobodskijs oder den Reznikovs), oder den Zeitpunkt (meist der Ostersonntag), auf die jüdische Bevölkerung selbstverständlich überaus beunruhigend.54 Auch lokale Varianten des Gerüchts vom Zarenmord, wie etwa, dass die Juden je drei Kopeken gezahlt hätten, um den Anschlag vorzufinanzieren, trugen nicht zur Entspannung der Lage bei.55 Graf Kutajsov scheint recht zu haben, wenn er resümierte, dass die immer weiter verbreiteten und immer konkreteren Gerüchte »das gemeine Volk allmählich zur Überzeugung gelangen ließen, dass die Zusammenstöße nicht nur möglich, sondern unausweichlich seien«.56 Je mehr die Gewissheit kommender Gewalt wuchs und je näher der angekündigte Termin rückte, desto mehr gingen Juden dazu über, Vorkehrungen zu treffen. Wer viel besaß, brachte einen Teil seiner Habe zu vertrauenswürdigen Christen oder ließ ihn aus der Stadt transportieren. Manche Juden flohen auch selbst, während sich andere auf aktive Selbstverteidigung vorbereiteten und eine (Schuss-)Waffe erwarben.57 So nachvollziehbar diese Maßnahmen auch waren, trugen sie doch zur weiteren Zuspitzung der Lage in der Stadt bei, denn bald wurden auch sie zum Gegenstand von Gerüchten. Eifrig diskutiert wurde insbesondere, dass »die Juden« alle Revolver des örtlichen Waffengeschäfts aufgekauft hätten. Dies fügte sich in Vorstellungen über die angeblich von Juden ausgehende Bedrohung ein, verlieh ihnen zugleich aber eine neue Facette, denn bisher waren Juden eher mit vormodernen Gewaltpraktiken (Ritualmord, Gift) als mit Handfeuerwaffen in Verbindung gebracht worden. Dass sich nun einige Juden aktiv auf das Pogrom vorbereiteten, wurde als weitere Bestätigung seiner Erwartbarkeit aufgefasst.

53 Elisavetgradskij uezdnyj ispravnik an Kutajsov, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 366–367; Elisavetgradskij vestnik, No. 42, 19. 4. 1881, S. 2. 54 Juˇznyj kraj, No. 111, 29. 4. 1881, S. 2. 55 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 307–307ob. 56 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 241. 57 Juˇznyj kraj, No. 103, 21. 4. 1881, S. 2; Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 647.

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Für die Juden von Elisavetgrad gab es noch eine weitere Strategie, nämlich die Behörden um Schutz zu ersuchen. Sie war bewährt, erforderte jedoch großes Geschick und Kenntnis der formellen wie informellen Machtverhältnisse, denn je nach Situation konnte es vielversprechender sein, die lokalen Schutzleute durch Zuwendungen gewogen zu stimmen oder vermittels eines Repräsentanten, des shtadlan, beim Minister an Gemeinwohl und Gesetzlichkeit zu appellieren. Als im Frühjahr 1881 in Elisavetgrad und anderen Städten die Angst vor einem Pogrom umging, wurde eine Variante dazwischen gewählt. Abram M. Brodskij, der jüdische Kaufmann und Bruder des berühmten Zuckerbarons Izrail’ M. Brodskij, wandte sich gemeinsam mit anderen jüdischen Honoratioren an den Generalgouverneur von Odessa, der zusicherte, er werde jegliche Ausschreitungen verhindern. Auch die Juden von Elisavetgrad erwogen, eine Delegation nach Odessa zu entsenden, doch sie sahen davon ab, nachdem Brodskij telegrafiert hatte: »Beruhigt euch, die gebotenen Maßnahmen sind ergriffen worden.«58 Wohl wandten sie sich aber an den Gouverneur sowie an den örtlichen Militärchef und den Polizeimeister als höchste Repräsentanten der Exekutive. Letzterer soll den Juden versichert haben, »er wisse von allem und mit den ergriffenen Maßnahmen könne er drei solcher Städte wie Elisavetgrad verteidigen«.59 Tatsächlich ordnete er für die Ostertage verstärkte Sicherheitsmaßnahmen an. Zusätzlich zur Polizei patrouillierten 20 Fußsoldaten und zwölf berittene Husaren in der Stadt. Darüber hinaus wurden zwei Geschwader Husaren vor Ort kampfbereit gehalten.60 Doch die Ausschreitungen, die allgemein für den Ostersonntag oder Ostermontag erwartet worden waren, blieben aus. Wirkte der Anblick der Soldaten so abschreckend? Lag es daran, dass auch die Schankstuben der Stadt per Verordnung geschlossen worden waren – auch wenn sich nicht alle Wirte daran hielten?61 Einige der Juden von Elisavetgrad fühlten sich jedenfalls so sicher, dass sie nun diejenigen verspotteten, die zu-

58 Juˇznyj kraj, No. 111, 29. 4. 1881, S. 2. 59 Russkij evrej, No. 19, 8. 5. 1881, S. 743. 60 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 265; die übrigen Teile des in Elisavetgrad stationierten Husarenregimentes befanden sich bereits im Sommerlager außerhalb der Stadt. 61 Russkij evrej, No. 19, 8. 5. 1881, S. 743.

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vor ihr Spiel mit der Angst der Juden getrieben hatten. Vermutlich sind ihre angeblichen Äußerungen, sie hätten »den russischen Feiertag in ihre Tasche gesteckt«, entstellt und so nie gefallen.62 Dass sich manche offen darüber freuten, dass die österlichen Vergnügungen abgesagt und damit auch ein Umschlagen der Ausgelassenheit in Gewalt abgewendet schien, ist hingegen durchaus plausibel.63 Die Juden waren zufrieden, und auch der Polizeichef sah seine Aufgabe als erfüllt an, nachdem die ersten drei Tage der Osterwoche friedlich verlaufen waren, und ließ am 15. April das Militär abziehen.64 Dabei ließ er jedoch zwei Dinge außer Acht, nämlich einerseits den Umstand, dass dieser Schritt in Teilen der Bevölkerung als Botschaft, als Ermutigung zu Gewalttaten aufgefasst werden könnte. Zum anderen übersah er, dass ein anderer Faktor das Auftreten von Massenunruhen bisher erschwert hatte, der sich jedoch jederzeit ändern konnte, nämlich Regen und Kälte.65 Pogrom in Elisavetgrad Damit ein Pogrom beginnen kann, müssen mehrere Faktoren gegeben sein. Zunächst muss die Grenze zwischen Tätern und Opfern gezogen sein.66 Dies war in Elisavetgrad durch die Gerüchte über bevorstehende Angriffe von »den Christen« auf »die Juden« geschehen. Zweitens braucht es einen emotional aufgeladenen, aus Sicht der Täter empörenden Anlass, der das Konfliktarrangement auf dramatische Weise ausdrückt (oder so gedeutet werden kann). Ein Anlass kann jedoch nur dann große Wirkung entfalten, wenn es drittens eine Menschenmenge gibt, die ihn diskutiert, ihn dabei in der oben beschriebenen Weise

62 Privater Brief aus Elisavetgrad nach Odessa, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 319. 63 Juˇznyj kraj, No. 103, 21. 4. 1881, S. 2; Klier, Christians, S. 164–165. 64 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 243. Auch der Generalgouverneur von Odessa, A. R. Drentel’n, meinte wohl, die Gefahr sei vorüber, denn er telegrafierte am 15. April nach Petersburg, die befürchteten Unruhen seien dank der ergriffenen Maßnahmen ausgeblieben. Odesskij general-gubernator an g. MVD, Telegramm, Kopie, 15. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 2. Aber auch die Zeitschrift Russkij evrej meldete am 15. April, die Pogromgefahr sei nun vorüber. Russkij evrej, No. 17, 24. 4. 1881, S. 641. 65 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 647. 66 Tilly, Social, S. 223.

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deutet und seinen emotionalen Gehalt in Appelle zum Handeln übersetzt.67 Doch welche Ereignisse letztlich zum Anlass für Größeres werden und welche bedeutungslos bleiben, ist nur selten eindeutig nachzuvollziehen. Zum Beispiel ist es angesichts der späteren Ereignisse in Elisavetgrad fraglich, ob die vermehrten Patrouillen zur Osterzeit in der Lage gewesen wären, ein Pogrom aufzuhalten. Vielleicht war tatsächlich der einsetzende Sonnenschein von Bedeutung, der die Bewohner Elisavetgrads auf die Straßen trieb und so das Zusammenkommen von Menschenmengen erleichterte. Eine wichtige Rolle spielte sicherlich, dass die Schankwirtschaften der Stadt wieder öffnen durften. In einer von ihnen, dem Weinkeller des Juden Sˇulim Griˇcevskij, versammelten sich sogleich einige Männer zum Trinken. Unter ihnen war auch ein gewisser Ivan Sidorenko, der in den offiziellen Berichten als Gottesnarr (jurodivyj), in Zeitungsberichten jedoch als »Halbidiot« oder »kleiner Dummkopf« bezeichnet wird. Oft firmiert er auch unter den Koseformen seines Vornamens, als Van’ka oder Ivanuˇska. Die jurodivye waren Personen, die in der Bevölkerung besondere Verehrung erfuhren, weil ihre körperlichen Gebrechen und ihr normwidriges Verhalten als Zeichen einer besonderen Nähe zu Gott verstanden wurden.68 Ob Sidorenko in Elisavetgrad tatsächlich solche Verehrung zuteilwurde, ist angesichts der Spott- und Kosenamen eher fraglich. Jedenfalls stimmte er, wohl angestiftet von einem Stadtbürger (meˇsˇcanin) namens Medvedev, in der Schenke den Ostergesang »Christus ist auferstanden« an.69 Mit einem orthodoxen liturgischen Gesang inmitten eines Trinkgelages in einer jüdischen Schenke handelte Sidorenko äußerlich gerade so provozierend gegen die kulturellen Normen, wie man es von einem jurodivyj erwarten konnte.70 Andererseits war es nicht typisch für einen »Gottesnarren«, Aufträge auszu-

67 Horowitz, Deadly, S. 91; Blom/Jaoul, Moral, S. 10; Bergmann, Pogrome 2002, S. 454; Knopf, Rumors, S. 150–151; den Aspekt der vereindeutigenden Interpretation betont: Brass, Theft, S. 6. 68 Jurkov, Pod, S. 58–59. 69 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 243; Pristav 2. cˇ asti g. Elisavetgrada, Protokoll, 26. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 322ob; Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 296–296ob. 70 Jurkov, Pod, S. 58–59.

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führen. Es hat den Anschein, als wollte der Anstifter Medvedev, der übrigens aus seiner Rolle kein Geheimnis machte, die besondere Rolle eines jurodivyj dazu nutzen, um den jüdischen Wirt auf eine Weise zu provozieren, die auf Russen nicht anstößig wirkte. Mit Sicherheit ging es ihm darum, die Andersartigkeit von Juden und Nichtjuden hervorzuheben, die Grenze zwischen beiden zu »aktivieren«, wenn er die Religion als den vielleicht deutlichsten, Übergänge am wenigsten zulassenden Alteritätsmarker ins Spiel brachte. Und die Rechnung ging auf: Der Wirt ließ Sidorenko von seinem christlichen Dienstburschen aus der Schenke werfen. Sidorenko seinerseits schrie, man habe ihn geschlagen. Selbst dies wäre vielleicht folgenlos geblieben, wäre nicht am Morgen jenes Tages das Wetter aufgeklart. Die Menschen waren auf die Straßen geströmt, um sich für die bisher ausgebliebene Feierstimmung zu entschädigen. Griˇcevskijs Weinkeller lag in der Nähe der Hauptstraße Elisavetgrads, der Bol’ˇsaja Perspektivnaja, und so kam es, dass zahlreiche Männer und Frauen sahen, wie Sidorenko aus der Schenke geworfen wurde. »Diese Nachricht erreichte wie im Fluge alle, die näher oder ferner auf der Straße standen, insgesamt vielleicht über tausend Personen.«71 Die Umstehenden versuchten, sich einen Reim auf das Geschehen zu machen, man tauschte Beobachtungen und Interpretationen aus und die Gerüchteküche kam ins Brodeln. Die später in der Presse kolportierten verschiedenen Versionen darüber, was in Griˇcevskijs Weinkeller vorgefallen war, hatten vermutlich hier ihren Ursprung. So war zu lesen, Sidorenko sei deshalb des Lokals verwiesen worden, weil er seine Zeche prellen wollte oder weil er sich weigerte, ein von ihm zerschlagenes Glas zu ersetzen.72 Einem anderen Bericht zufolge habe Sidorenko auf die kommende Gewalt verwiesen, um zu rechtfertigen, dass er nicht zahlen wollte, denn »die Juden (ˇzidam) haben ohnehin nicht mehr lang zu leben«.73 Je weiter sich das Gerücht in der Stadt ausbreitete, desto prägnanter wurde sein Inhalt: Scheinbar unwichtige Details fielen weg, der Kern der Nachricht wurde zugespitzt. Deshalb hieß es bald: »Dort auf dem Markt haben sie einen Mann erschlagen. Ist in den Keller gegangen, um auf den Feiertag zu trinken – und gleich haben sie ihm das Licht ausge-

71 Dokumenty i materialy, S. 4. 72 Ebd., S. 2; Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 701. 73 Juˇznyj kraj, No. 111, 29. 4. 1881, S. 3.

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blasen …«74 Aus einer Seitenstraße war der Marktplatz, aus einer leichten Verletzung ein Mord geworden. Dass in dem zuletzt genannten Zitat weder Opfer noch Täter ethnisch oder religiös identifiziert werden, heißt wahrscheinlich nicht, dass dies gleichgültig, sondern in der Situation vielmehr selbstverständlich war. Die meisten Schankwirtschaften waren ja in jüdischer Hand, und auch auf welchen Feiertag getrunken wurde, erklärte sich von selbst. Interessanterweise ging die religiöse Konnotation des Vorfalls in den Gerüchten meist verloren. Ostern war bestenfalls als Anlass zum Trinken präsent. Hinweise auf den Inhalt des Osterfestes, beispielsweise auf »die Juden« als »Gottesmörder«, fehlten ganz. Religion war zwar das eindeutigste Anzeichen der vermeintlichen Andersartigkeit der Juden, aber offenbar nicht das relevanteste. Vielleicht erschien den Anwesenden der tatsächliche Vorfall auch nicht plausibel. Jedenfalls verbreiteten sie ein Narrativ, das Geld und Schnaps in den Mittelpunkt stellte. Es schuf eine Verbindung zu dem in jener Zeit zentralen Vorwurf gegen Juden, nämlich dass sie das »Volk« ausbeuteten, indem sie ungerechte Geschäfte abschlossen und den »einfachen Mann« zum Alkohol verführten.75 Ein Zeitungsbericht charakterisierte den Wirt Griˇcevskij als besonders skrupellosen Unternehmer, der mit allen Mitteln Reichtum anzuhäufen trachte und so bereits die Missbilligung der Bauern (muˇziki) auf sich gezogen habe.76 Sidorenkos angebliche Weigerung, für das Trinkglas oder den Schnaps zu bezahlen, stand also exemplarisch für die Weigerung der »Christen«, sich weiter von jüdischen Schankwirten »ausbeuten« zu lassen. Die Menge beließ es aber nicht bei Diskussionen. Rasch wurden Rufe laut: »Die Juden schlagen die Unsrigen [ˇzidy naˇsich b’jut]!« »Schlagt die Juden!« Ein Polizeihauptmann kam hinzu, konnte die Menge jedoch nicht beruhigen. Es kam zu ersten Angriffen. Jüdische Passanten wurden umgestoßen und mit Nackenschlägen malträtiert. Selbst Kinder stießen Juden in den Schmutz; Hohn begleitete die Taten.77 Als ein Jude davonlaufen wollte, »rannte ihm die Menge mit Pfiffen hinterher, brachte ihn

74 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 698. 75 »Ausbeutung« war seit den Unruhen von 1871 ein gut etablierter Topos und laut John Klier die Grundlage praktisch aller Bewertungen der Pogrome von 1881, insofern sie nicht aus der Feder eines Juden stammten. Klier, Russians, S. 122. 76 Dokumenty i materialy, S. 4. 77 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699.

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zu Fall und brach in Gelächter aus«.78 Diese Form der Gewalt zielte eher auf die Ehre als auf den Körper der Opfer. Es ging um Demütigung und um den Spaß, den die johlende und pfeifende Menge dabei empfand.79 Zu schwerer Gewalt kam es hingegen vor allem dann, wenn Juden den Pogromtätern Widerstand entgegensetzten.80 Später, in der Nacht, wurde sogar ein Jude unter unbekannten Umständen umgebracht.81 Verglichen mit späteren Pogromen lief das in Elisavetgrad aber weit weniger blutig ab. Die Gewalttat diente im Kern nicht dazu, die Opfer zu töten oder schwer zu verletzen, sondern sie zu demütigen. Doch zurück zum Beginn des Pogroms. Nach den ersten Schlägen erfolgten immer großflächigere Angriffe auf jüdisches Eigentum. Zuerst schlugen einige Männer die Fensterscheiben von jüdischen Geschäften ein. Dann kam auf dem Marktplatz eine große Menschenmenge zusammen, und das Pogrom erreichte einen ersten Höhepunkt.82 Die Täter stürzten sich zunächst auf das einfachste Ziel: die Auslagen jüdischer Obsthändler; die meisten anderen Händler hatten ihre Läden rechtzeitig verschlossen. Bald waren auch deren Türen aufgebrochen, die Waren wurden nach draußen geworfen, bis das Militär, ein Geschwader Husaren in Begleitung einiger Fußsoldaten, auf dem Marktplatz eintraf. Unter Beteuerungen, keinerlei böse Absichten zu verfolgen, und unter Anklagen gegen die Juden – »Die Juden sind an allem schuld. Sie haben Russen geschlagen, darf man das etwa dem Gesetz nach?« – wich die Menge zurück. Zwanzig Unruhestifter wurden ohne Widerstand festgenommen.83 Bald war auch die Staatsanwaltschaft vor Ort und dokumentierte den entstandenen Schaden.84 Doch wer meinte, damit sei das

78 Elisavetgradskij policejmejstr an Prokuror Odesskoj SP, 6. 5. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 317ob–318. 79 Ben-Ami, Odesskij, S. 43; Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 698. 80 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 227; Russkij evrej, No. 17, 24. 4. 1881, S. 658. 81 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 297ob–298. 82 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 698. 83 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 243; Elisavetgradskij policejmejstr an Prokuror Odesskoj SP, 6. 5. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 317ob–318; Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 18–18ob. 84 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 296ob–297.

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Pogrom zu Ende, irrte. Es verlagerte sich nur. Anderswo hatten die Täter noch immer freie Hand fortzusetzen, was sie auf dem Marktplatz begonnen hatten. Die Husaren konnten nicht an ihren spektakulären Erfolg auf dem Marktplatz anknüpfen. Sie wurden an wichtigen Punkten der Stadt postiert, schritten aber aus Gründen, um die es später gehen soll, entweder gar nicht mehr oder nicht mehr wirksam gegen die Pogromtäter ein.

Die Akteure Das Pogrom von Elisavetgrad war ein Fest des Raubes und der Zerstörung. Es war das Werk einer Menschenmenge, was aber nicht heißt, dass die Täter uniform und gleichsam zu einer Einheit verschmolzen gewesen wären. Viele zeitgenössische Autoren nahmen jedoch keine Differenzierungen vor, weil es ihnen vor allem um die moralischen Qualitäten der Täter ging. Das zeigte sich in Diskussionen über den angerichteten Sachschaden: Raub galt den Kommentatoren als illegitim, Zerstörung jedoch gewissermaßen als Notwehr gegen die »Ausbeuter«. Wer die Täter exkulpieren wollte, betonte deshalb, dass sie noch die wertvollsten Gegenstände, selbst Geld, in Stücke gerissen hätten, statt sie sich anzueignen. Wer hingegen mit den Opfern sympathisierte, schrieb ausschließlich von eigennützigen Tätern, denen das Pogrom eine Gelegenheit zur Bereicherung war. Auch besonders gut informierte Autoren, wie Graf P. I. Kutajsov, beschrieben zwar, dass es sowohl Zerstörung als auch Plünderung gegeben habe. Sie beharrten jedoch darauf, dass die beiden Tätergruppen deutlich unterschieden und nur durch zeitlich-räumliche Koinzidenz verbunden gewesen seien, um die moralische Rechtfertigung derer, die sich auf das Zerstören beschränkten, nicht infrage zu stellen. Man muss sich jedoch klarmachen, dass die unterschiedlichen Fraktionen der Täter in einer Art Arbeitsteilung miteinander verbunden waren. Erst im Zusammenspiel von zerstörenden Anführern, Plünderern und Zuschauern ergab sich die spezifische Dynamik, die für das Pogrom von Elisavetgrad und für viele andere Pogrome charakteristisch war. Es ist gut dokumentiert, dass sich einige der Täter zumindest vorübergehend nicht oder nur in geringem Maße an den Plünderungen beteiligten, obwohl sie an der vordersten Front des Pogroms zu finden waren. Oft führten sie die Menge an, brachen Türen auf und waren unter 55

den Ersten, die nach draußen warfen, was immer in einem Haus zu finden war. Randall Collins nennt sie die »altruistischen« Gewalttäter, weil sie Risiken in Kauf nehmen, (scheinbar) ohne an materiellem Profit interessiert zu sein.85 Charakteristisch für diese Täter war, dass sie offenbar eine ausgesprochene Freude daran hatten, wertvolle Gegenstände auf spektakuläre Art und Weise zu zerschlagen. Mehrfach wurde das Pogrom als »Spektakel« beschrieben, als sinnliches Erlebnis, das schon als solches attraktiv war.86 So war immer wieder davon die Rede, welche Freude es den Tätern bereitet habe, Bettdecken und Kissen zu zerreißen: Die »wie Schnee herumwirbelnden Federn bereiteten ihnen sichtliches Vergnügen; [und] nicht geringer war das Vergnügen am Klang des [zerbrechenden] Glases«.87 Klaviere wurden aus dem Fenster geworfen, »Samoware flogen wie Bälle durch die Luft und wurden fallen gelassen, bis sie einer formlosen Masse Metall glichen. Bei den Möbelgeschäften erheben sich Berge von Splittern und Bruchstücken, von all diesen Möbeln wird man kaum ein Stück wiederherstellen können.«88 Mit solchen spektakulären Akten der Zerstörung konnten die Männer Stärke und Wagemut demonstrieren. Auch der Umstand, dass viele von ihnen mehr oder weniger betrunken waren, mag dazu beigetragen haben, dass sie dem aktuellen Spektakel den Vorzug gegenüber der auf die Zukunft gerichteten Bereicherung gaben. Viele mögen auch an einem Ort als Zerstörer und an einem anderen als Plünderer aufgetreten sein. Manchmal beschränkte sich die Zerstörung auch auf wertlose oder schlecht zu transportierende Gegenstände, während zielsicher alles Übrige geraubt wurde.89 Diese Aktionen hatten aber darüber hinaus eine sehr wichtige Funktion für das Zustandekommen und Aufrechterhalten des Pogroms. Vermutlich gab es Täter, die das wussten und sich deshalb an die Spitze der Menschenmenge stellten. Sie mochten ähnliche Erfahrungen bei den erwähnten rituellen Schlägereien oder bei Gewalttaten kleinerer Di-

85 Collins, Dynamik, S. 366. 86 Vgl. Katz, Epiphanie, S. 83 f. 87 Juˇznyj kraj, No. 103, 21. 4. 1881, S. 2; vgl. z.B. auch Dönninghaus, Deutschen, S. 407; Ben-Ami, Odesskij, S. 37. 88 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 647; vgl. Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 83–86. 89 Anklageschrift zum Pogrom im Schtetl Kroˇsnja, 21. 9. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 661, l. 3.

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mension gesammelt haben. Jedenfalls sprach aus ihrem Handeln ein Verständnis für die Funktionsweise arbeitsteiliger Gewalt, und sie selbst nahmen dabei eine Schlüsselposition ein.90 Die Anführer stießen im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinn Türen auf, durch die weniger risikobereite Täter nachfolgen konnten. Bereits bei den frühen Eskalationsschritten – erst Lärm und Drohungen, dann bei der sporadischen und mehr auf die Ehre als auf den Körper zielenden Gewalt gegen zufällige Passanten, dann beim Einschlagen und Einwerfen der Fensterscheiben – hatten sie demonstriert, was möglich war, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Kleine Gruppen, so berichtete die Lokalzeitung, »machten sich zuerst daran, die Glasscheiben in jüdischen Häusern zu zerschlagen, und wagten dann, ermutigt durch den schwachen Widerstand, in die Häuser selbst einzudringen«.91 Jedem Schritt, den die wenigen Haupttäter machten, folgten zahlreiche Trittbrettfahrer, die das Risiko anderenfalls gescheut hätten.92 Nachdem die Anführer klargestellt hatten, dass man auch straflos in jüdische Häuser eindringen und ihre Einrichtung zerstören konnte, schlug die Stunde der Plünderer. Das Plündern ist ein weniger einfaches Phänomen, als es vielleicht scheinen mag.93 Ganz offensichtlich war es eine Form der Bereicherung, und den Berichten zufolge taten sich in dieser Hinsicht besonders Frauen mit ihren Kindern hervor.94 (Dass gerade Frauen nach Hause trugen, was nützlich erschien, ist insofern plausibel, als dass sie traditionell den Haushalt bewirtschafteten.95) Auch beim Plündern mieden die Täter Risiken. Erst waren sie vorsichtig, »doch dann, als sie auf keinen Widerstand stießen, schleppten sie säckeweise alles davon, was sie fassen konnten«.96 Das bedeutet auch, dass sie immer weniger darauf achteten, was nützlich und was überflüssig war. Viele Plünderer brachten das Ge90 Zum Lernen und Transfer von Techniken der Gewalt: Eckert/Willems, Eskalation, S. 1466. 91 Elisavetgradskij vestnik, No. 42, 19. 4. 1881, S. 2. 92 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 298–298ob; vgl. Horowitz, Deadly, S. 73; Katz, Epiphanie, S. 70–74. 93 Nach Horowitz spielt das Plündern bei den deadly ethnic riots nur eine geringe Rolle. Auf die Pogrome im Russischen Reich trifft das nicht zu. Ebd., S. 534. 94 Vgl. Wynn, Workers, S. 213–219. 95 Engel, Women, S. 38. 96 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 647.

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raubte in mehreren Ladungen nach Hause. Immer weniger ging es um Bereicherung – und immer mehr um die Partizipation an einem aufregenden Ereignis, an einer »moralischen Auszeit«.97 Vollends zum Karneval wurde das Pogrom, als die Täter erbeutete Kleidung nicht mehr zerrissen oder davontrugen, sondern sich damit verkleideten. Anfangs mag dies noch dazu gedient haben, mehr mit einem Mal abtransportieren zu können. Aber bald sah man, wie ein »junger Handwerker in einem abgetragenen Kaftan einen Damenmantel aus Samt anzog und wichtigtuerisch in einer Kutsche durch die Hauptstraßen von Elisavetgrad fuhr«.98 Eine eben noch ärmlich bekleidete Frau verließ das Haus eines Juden in einem »Seidenkleid mit Schleife und einer samtenen Weste«. Barfuß soll sie auf der Straße getanzt und gesungen haben: »Nur einmal will ich Sabbat haben, nur einmal will ich eine Schleife tragen.«99 Einem anderen Zeitungsbericht zufolge nahm ein Mann in Damenmantel und Damenhut an einem Flügel Platz, der aus dem Obergeschoss eines Hauses geworfen worden war, und »schlug wild mit den Fäusten auf die Tasten«.100 Solche Schilderungen liest der Historiker mit Misstrauen. Wollten hier Journalisten ihre Berichte durch farbige Details unterhaltsamer gestalten?101 Beschrieben sie solche Vorfälle, weil das in das exotisierende Bild der Intelligenzija von der »wilden« Menschenmenge passte? Erfindungen können bei journalistischen Texten nie ausgeschlossen werden, und die beschriebenen Episoden mögen sich so nie zugetragen haben. Gleichwohl vermitteln die Quellen ein deutliches Bild von der Stimmung unter den Pogromtätern. Sie war ausgesprochen gelöst. Immer wieder war von »erregten Gesichtern, Ausgelassenheit, Gelächter« die Rede.102 Es mag irritierend klingen, aber für die Täter war das Pogrom ein Fest,

97 Auch dieses Phänomen wurde für Unruhen in den USA beschrieben. Collins, Dynamik, S. 371–375. Vgl. Bachtin, Rabelais, S. 55–58. 98 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700. Für ein Beispiel, bei dem offenbar der Raub und nicht das Verkleiden im Vordergrund stand: Dokumenty i materialy, S. 16; ähnlich für andere Zeiten: Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3; Schnell, Räume, S. 194. 99 Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 717–719. 100 Elisavetgradskij vestnik, No. 44, 24. 4. 1881, S. 2; ähnlich: Dokumenty i materialy, S. 21. 101 Kritisch z.B. Klier, Russians, S. 29. 102 Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2; Ben-Ami, Odesskij, S. 35.

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und das Leid der Opfer stand dem nicht entgegen, es war sogar Teil des grausamen Vergnügens.103 Das hatte auch damit zu tun, dass der schon zu Beginn der Unruhen nicht nüchternen Menge durch das Plündern erhebliche Mengen Alkohol in die Hände fielen. An der städtischen Peripherie, in den jüdischen Armenvierteln Bykovka und Permskoe, wo es sonst nicht viel zu holen gab, beschränkte sich das Pogrom sogar weitgehend darauf, jüdische Schenken aufzubrechen und den vorgefundenen Schnaps zu konsumieren.104 Im Stadtzentrum soll so viel Alkohol in den Schnapslagern, Weinkellern und Schenken vergossen worden sein, dass der Gestank weithin die Straßen durchzog.105 In einem Weinkeller seien einige Plünderer fast in dem Schnaps und Wein ertrunken, den sie aus den Fässern gelassen hatten. Zwei der drei Toten des Pogroms starben an einer Alkoholvergiftung.106 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Täter im Laufe der Nacht ermüdeten, sodass das Pogrom am 15. April von selbst endete und erst gegen Mittag des folgenden Tages von Neuem begann.107 Unterdessen hatte sich die Nachricht von den Unruhen in Elisavetgrad in den umliegenden Dörfern verbreitet, sodass nun eine neue Tätergruppe in der Stadt erschien: die Bauern. Viele kamen auf Pferdewagen, mit denen sie die erhoffte Beute fortschaffen wollten. Ihnen ging es vor allem darum, sich am Pogrom zu bereichern.108 Als das Pogrom am zweiten Tag von Plünderern dominiert wurde, gab es fast keine körperliche Gewalt gegen Juden mehr.109 Diese waren nun gewarnt und entzogen sich dem Zugriff der Täter. Bevor die Reaktionen der Opfer auf die Gewalt diskutiert werden, verdient jedoch noch eine andere Gruppe von Pogromakteuren Aufmerksamkeit: die Zuschauer. 103 Vgl. Dönninghaus, Deutschen, S. 426; Verkaaik, Fun; McPhail, Dark, S. 2; Knopf, Rumors, S. 108; Narskij/Chmelevskaja, »Upoenie«; allgemeiner: Borch, Politics. 104 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 244. 105 Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2; Dokumenty i materialy, S. 7. 106 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 244. Dies war bei den Pogromen vor 1903 kein Einzelfall. Beim Pogrom in Odessa starben 1871 sechs von acht Todesopfern an übermäßigem Alkoholkonsum. Klier, Imperial, S. 358, 488, Fn. 8. 107 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 298ob; Dokumenty i materialy, S. 5. 108 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 280; Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 648. 109 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 227.

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Zuschauer und Beschützer Aus Sicht der Täter war das Pogrom ein Spektakel, und für ein Spektakel braucht es Zuschauer. Die Habe von Juden zu zerstören, mag schon befriedigend gewesen sein, weil es ein außeralltägliches Körper- und Machterleben ermöglichte. Noch attraktiver wurden die Taten jedoch, wenn sie vor einem jubelnden Publikum ausgeführt wurden. Ähnlich wie bei den rituellen Kämpfen konnte man bei einem Pogrom Prestige erringen, sich einen Namen machen.110 Wer über längere Zeit bewundert werden wollte, musste die Aufmerksamkeit der Beobachter jedoch durch immer dramatischere Handlungen an sich binden. So leisteten selbst jene, die die Täter nicht mit Rufen anfeuerten, sondern einfach nur zuschauten, ihren Beitrag zur Eskalation.111 Im Übrigen ist die Unterscheidung von Zuschauern und Tätern nur teilweise zutreffend. Viele der Gaffer dürften sich unter günstigen Bedingungen den Plünderern angeschlossen haben.112 Dass die aktivsten Täter Gegenstände aus den Häusern der Juden warfen, kann auch als Versuch gedeutet werden, die Umstehenden zur weiteren Partizipation zu ermuntern.113 Wer die Zuschauer waren und wie viele, lässt sich nicht genau sagen, denn in den Quellen ist meist nur unbestimmt von »gewaltigen Mengen Publikums« und »einigen Tausend Menschen« die Rede.114 Der einzige Bericht, der präzisere Schätzungen wagt, gibt nur allgemein die Anzahl der Anwesenden an: etwa 1000 Menschen auf dem Marktplatz sowie einige Gruppen von jeweils ca. 100 Menschen auf der Nevskaja- und der Uspenskaja-Straße.115 Einen indirekten Hinweis gibt die hohe Zahl der festgenommenen Pogromtäter: 601 Personen. Die Gesamtzahl der Täter dürfte um einiges höher liegen und nochmals höher die der Zuschauer.116

110 Zu den Faustkämpfen: Brower, Labor, S. 425 f. Allgemein: Sofsky, Traktat, S. 107. 111 Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 83–86; Ben-Ami, Odesskij; Krasnyj-Admoni/ Dubnov, Materialy 1919, S. 277; Sofsky, Traktat, S. 116. 112 Vgl. Dönninghaus, Deutschen, S. 416. 113 Collins, Dynamik, S. 371. 114 Juˇznyj kraj, No. 103, 21. 4. 1881, S. 2; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 267; Dokumenty i materialy, S. 9. 115 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 284. 116 Dass es mehr Zuschauer als Täter gab, bestätigte der Erzpriester von Elisavetgrad. Scholz, Juden, S. 77–79; allgemein: Horowitz, Deadly, S. 14.

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Bemerkenswert ist die soziale Zusammensetzung des Publikums. Während die Täter einhellig den Unter- und unteren Mittelschichten zugeordnet wurden, bestanden die Zuschauer zu einem erheblichen Teil, einem Bericht zufolge sogar zur Hälfte, aus Angehörigen der städtischen Oberschicht: »Stattliche Kavaliere, Damen, Offiziere und Offiziersgattinnen plauderten fröhlich miteinander«, während vor ihren Augen das Haus eines Juden zerstört wurde.117 Der Korrespondent berichtete auch von »feinen, oder wenn nicht feinen, so doch adretten Damen, die sich wohl eher nicht an der Schlacht beteiligten – obwohl eine zu mir sagte, sie würde so gerne die Juden (ˇzidy) schlagen, sie schäme sich nur, an einer ›Schlägerei‹ teilzunehmen«.118 Kinder und Frauen sollen etwa die Hälfte der Pogrommenge ausgemacht haben, selbst Mütter mit Säuglingen wurden gesehen.119 Die Zuschauer fühlten sich nicht nur völlig sicher, sie waren sich auch einig in ihrer Sympathie für die Täter und ihrer Gleichgültigkeit den Opfern gegenüber.120 Manche der nichtjüdischen Einwohner Elisavetgrads beobachteten das Pogrom jedoch mit Unbehagen. Sie empfanden die Gewalt der Massen als zügellos und unkontrollierbar, manche meinten, gehört zu haben, wie »einige Gruppen [der Täter] erzählten, dass sie, wenn sie mit den Juden fertig seien, vor lauter Langeweile auch mit den Russen beginnen müssten«.121 Wer etwas Bildung genossen hatte, dem mochte Puschkins viel zitiertes Wort vom »russischen Aufruhr ohne Sinn und ohne Erbarmen« in den Sinn gekommen sein. Beamte fürchteten, dass die Unruhen auf ihre Institutionen übergreifen könnten, und auch einfache Einwohner gaben sich Mühe, die Menge von ihren Häusern fernzuhalten.122 Da offenkundig war, dass sich die Gewalt gegen Juden richtete, musste, wer sich schützen wollte, eine Antwort auf die Frage finden, 117 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700. Vgl. die Illustrationen zum Pogrom von 1871 in Odessa: Weinberg, Visualizing. 118 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699. 119 Dokumenty i materialy, S. 9; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 283. 120 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 298–298ob; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 247. 121 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 648. 122 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 297ob–298. Das Puschkin-Zitat stammt aus seinem Roman Die Hauptmannstochter.

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worin die jüdische Andersartigkeit bestand und wie sie am prägnantesten zu symbolisieren war. Dialekt, Kleidung, Physiognomie, Beruf – das alles wurde von den Zeitgenossen zur Identifizierung eines Juden herangezogen, doch das prägnanteste Unterscheidungsmerkmal war, wie erwähnt, die Religionszugehörigkeit. Deshalb (und nicht weil der Konflikt im Kern ein religiöser war) wurden Ikonen und die gerade geweihten Osterkuchen gut sichtbar in die Fenster gestellt, außerdem sollen auch Kreuze an Türen gemalt worden sein, um die Pogromtäter fernzuhalten.123 Insgesamt sind kaum Fälle überliefert, in denen die Täter Schwierigkeiten hatten, festzustellen, wer der Gruppe der Opfer angehörte.124 Wer Jude war und wer nicht, wo Juden lebten und wo Christen, war für die Täter offenbar leicht herauszufinden. Nur ein Bericht erwähnt überhaupt, dass die Täter auch das Haus eines Russen oder Deutschen angegriffen hätten. Der Irrtum habe sich jedoch sofort aufgeklärt und die Täter seien, nachdem sie sich entschuldigt hätten, weitergezogen. Behelligt wurden demselben Bericht zufolge weder die lokalen Karaiten noch Juden, deren Wohnhäuser Russen gehörten.125 Umgekehrt wurden Gasthäuser in jüdischem Besitz nicht verschont, auch wenn in ihnen Russen lebten.126 Viele Juden versuchten auch, ihr Haus durch das Ausstellen von Ikonen und Osterkuchen zu tarnen, hatten damit aber nur selten Erfolg, denn die Stadt war zwar groß, aber doch so überschaubar, dass sich unter den Tätern Personen fanden, die Bescheid wussten.127 Es gab jedoch auch Personen, die sich für Juden einsetzten. Die Presse betonte, es habe sich dabei keineswegs um Einzelfälle gehandelt. In den meisten Fällen, über die Näheres bekannt ist, waren die beschützten Juden zugleich Arbeitgeber der sie beschützenden »Christen«. Indem Letztere die Menge davon abhielten, ein jüdisches Haus oder Unternehmen zu überfallen, sicherten sie zugleich ihren eigenen Arbeitsplatz.128 So z.B. der polnische Mechaniker der Mühle des Juden Kogan. Er for-

123 Dokumenty i materialy, S. 8–9. 124 Vgl. allgemein zum selective targeting von Pogromtätern Horowitz, Deadly, S. 124–131. 125 Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 80; vgl. Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700. 126 Ebd., S. 699. 127 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 648; zu vereinzelten Ausnahmen: Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 689. 128 Dokumenty i materialy, S. 16; Elisavetgradskij vestnik, No. 44, 24. 4. 1881, S. 2.

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derte die Menge auf, »hier nichts anzurühren, da er hier angestellt sei und sein Brot verdiene«. Die Menge verlangte von ihm, offenbar, um sich zu überzeugen, dass sie es tatsächlich mit einem Christen zu tun hatte, dass er sich bekreuzige und den traditionellen Ostergruß spreche, dann zog sie weiter.129 Ähnlich verhielt es sich bei einem Offizier, der die Menschenmenge von einem »jüdischen« Hotel vertrieb, in dem er selbst sein Zimmer hatte.130 Manche Juden hatten auch eigens wegen des Pogroms Wachen angestellt.131 Es gab jedoch durchaus auch Personen, die sich für Juden einsetzten, ohne dass sie dabei ein unmittelbares Eigeninteresse verfolgten, und selbst bei den weniger selbstlosen Beschützern muss anerkannt werden, dass sie sich in Gefahr begaben.132 Einer der eigens für das Pogrom angeworbenen Wächter etwa wurde von einem der Täter als »Juden-Beschützer« beschimpft und wäre wohl auch geschlagen worden, hätte sich wiederum nicht auch für ihn jemand eingesetzt.133 Den Nichtjuden stand also ein breites Spektrum möglicher Verhaltensweisen offen. Die Opfer Die Handlungsoptionen der Pogromopfer waren hingegen sehr begrenzt. Sie konnten fliehen, sich zur Wehr setzen oder verhandeln. Die allermeisten ergriffen die Flucht. Die Vorsichtigeren hatten sich, wie bereits erwähnt, schon vor dem Ausbruch der Gewalt anderenorts in Sicherheit gebracht. Während des Pogroms nahmen dann die Kutscher Sonderpreise von Juden, die unbemerkt zum Bahnhof gelangen wollten.134 Wem dafür die Mittel fehlten, konnte sich nur in Kellern und auf Dachböden, teils auch in den Häusern hilfsbereiter Nichtjuden verstecken. Einige Scheunen sollen »bis zum Dach voller Juden« gewesen sein.135 Einige Juden versuchten auch, sich durch Verhandlungen mit 129 Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 80. 130 Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 717–719. 131 Levˇcuk, Ivan Michajloviˇc: Aussage, 26. 5. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 284–285; Cygankov, Grigorij Nikolaev: Aussage, 26. 5. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 284–285. 132 Russkij evrej, No. 20, 12. 5. 1881, S. 780–782; Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 717–719; m.E. auch Dokumenty i materialy, S. 21. 133 Levˇcuk, Ivan Michajloviˇc: Aussage, 26. 5. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 284–285. 134 Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 690. 135 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 648.

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den Tätern vor der Gewalt zu schützen. Konkret bedeutete das in der Regel, ein Schutzgeld anzubieten. Die Reaktionen der Täter waren unterschiedlich. Manche nahmen das Geld, manche sollen es vor den Augen der Menge zerrissen haben. Auch wer sich einmal erfolgreich freigekauft hatte, konnte nicht sicher sein, dass nicht schon die nächste Gruppe von Tätern vor seiner Tür stand. Trotzdem gab es einige Juden, die auf diese Weise von der Zerstörung verschont blieben.136 Die Juden von Elisavetgrad setzten sich jedoch auch aktiv zur Wehr. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Zu Beginn des Pogroms antworteten einige Juden auf die Gewalt. Das war z.B. der Fall, als die Täter auf dem Marktplatz Obstkörbe umstießen. Sogleich waren einige Juden zur Stelle, die mit Beilen und Brechstangen den ihrerseits mit Knüppeln bewaffneten Tätern Einhalt gebieten wollten.137 Sie betrachteten das Geschehen als eine weitere Episode des alltäglichen »Dialogs der Gewalt«, bei dem auf Gewalttaten auf Augenhöhe reagiert wurde. Nachdem die weitere Eskalation auf dem Marktplatz gezeigt hatte, dass die Gewalt diesmal einen ernsthafteren Charakter hatte, wurde diese Form der Gegenwehr jedoch beendet. Es ist auch kein weiterer Fall bekannt, in dem sich Juden den Angreifern mit einer Kontaktwaffe entgegengestellt hätten. Einige hofften allerdings, ihre geringe Anzahl durch überlegene Waffen kompensieren zu können: Sie feuerten aus Fenstern und von Dächern. In der Liste der Festgenommenen ist bei drei Juden vermerkt, sie hätten Feuerwaffen benutzt, und bei einem, er habe einen Revolver bei sich getragen.138 Als einigermaßen gesichert kann nur gelten, dass aus dem Bromberg’schen Haus geschossen wurde, und zwar, um es mit dem Grafen P. I. Kutajsov zu sagen, »wahrscheinlich von Juden«.139 Das Haus befand sich unmittelbar am Marktplatz an der Hauptstraße, der Bol’ˇsaja Perspektivnaja, und zugleich an der bedeutendsten Brücke über den örtlichen Fluss. Die Schüsse sollen in dem Moment abgefeuert worden sein, als sich eine Menschenmenge aufmachte, die Brücke zu überqueren, um das außer-

136 Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 689. 137 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 243; unter den während des Pogroms festgenommenen Personen waren auch vier Juden, die mit einem Beil bzw. einer Brechstange aufgegriffen worden waren. Übersicht über Festgenommene beim Pogrom von Elisavetgrad, 20. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 679 cˇ . 2, l. 333–361. 138 Solche Vermerke fehlen bei den nichtjüdischen Festgenommenen ganz. Ebd. 139 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 245–246.

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halb gelegene und hauptsächlich von Juden bewohnte Viertel Bykovka zu erreichen.140 Die Täter ließen sich jedoch davon nicht abschrecken, sondern nahmen sie vielmehr zum Anlass, das Bromberg’sche Haus zu überfallen und seine Einrichtung so gründlich zu zerstören, dass danach selbst die Rahmen von Eisenbetten nicht mehr zu verwenden waren.141 Wahrscheinlich hatten die Schüsse auch deshalb keinen Effekt, weil sie niemanden trafen. Nur ein Mensch trug während des gesamten Pogroms eine Schussverletzung davon, eine leichtere Wunde am Arm.142 Da sich die Angreifer nicht einschüchtern ließen, brach die Gegenwehr zusammen. So soll ein namentlich nicht bekannter Jude über den Kopf eines ihn bedrängenden Russen geschossen haben, um sich dann ohne weiteren Widerstand von diesem ergreifen und zur Polizei bringen zu lassen.143 Ein anderer hatte ein Gewehr bei sich, als er von zwei Bauern überfallen wurde. Er bedrohte sie mit der Waffe, doch die Bauern ließen sich nicht einschüchtern, verprügelten ihn und plünderten seine Habe. Wie sich herausstellte, war das Gewehr nicht funktionstüchtig.144 Nicht nur, dass die Waffen den Opfern nicht halfen, sie lösten sogar eine gegenteilige Dynamik aus. Die Schüsse empörten und erzürnten die Menge nur noch mehr, und »mit großem Eifer« ging die Menge zu jenen Häusern, aus denen sie kamen.145 Der Widerstand der Opfer hatte auf sie keine abschreckende Wirkung, sondern bot vielmehr den Anlass für schwere körperliche Gewalt.146 Vermutlich hatte das auch etwas mit dem kulturellen Hintergrund der meisten Täter zu tun. Ihre moral economy war noch die des Dorfes, und deshalb trug das Pogrom Züge eines dörflichen Demütigungsrituals. Im Dorf wurden Ehebrecher oder Diebe, die zur Gemeinde gehörten, unter Schmährufen durch die Straße geführt. Zerstörungspraktiken wie das Zerreißen von Federbetten und Zerschlagen von Fensterscheiben der Delinquenten gehörten ebenfalls dazu.147 In 140 141 142 143 144 145

Dokumenty i materialy, S. 4, 8. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 15. Elisavetgradskij vestnik, No. 121, 18. 11. 1881, S. 1–2. Privater Brief aus Elisavetgrad nach Odessa, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 319; Dokumenty i materialy, S. 2, 8; Korrespondenz aus Golos, nach: Kievljanin, No. 90, 24. 4. 1881, S. 3; Juˇznyj kraj, No. 103, 21. 4. 1881, S. 2. 146 Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 70; Russkij evrej, No. 17, 24. 4. 1881, S. 654–658. 147 Frank, Popular; Malorossija, S. 189.

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der Regel gab es aber keine körperliche Gewalt, es sei denn, der oder die zu Bestrafende leistete Widerstand, anstatt die auferlegte Strafe hinzunehmen. Nun kann man ein Judenpogrom wie das von Elisavetgrad nicht mit einem dörflichen Demütigungsritual gleichsetzen. Im Dorf ging es um einzelne Abweichler, nicht um eine ganze Bevölkerungsgruppe, und es gehörte weder zum Ritual, die Habe der Devianten zu plündern, noch, sie umfassend zu zerstören. Gleichwohl liegt es nahe, dass sich die Täter von Elisavetgrad, als sie sich während des Pogroms in dieser neuen Form der Gewalt orientieren mussten, auf bereits bekannte normative Vorstellungen zurückgriffen. Deshalb reagierten sie auch besonders hart, wenn sie mit Schusswaffen konfrontiert waren. Sich mit Fäusten, Knüppeln oder Messern zu verteidigen, galt als legitim. Doch indem einige der Juden von Elisavetgrad von ihren Revolvern Gebrauch machten oder auch nur vorgaben, dazu bereit zu sein, überschritten sie eine wichtige kulturelle Grenze. Darauf reagierten die Täter ihrerseits mit der Gewalt, die bei Grenzüberschreitungen als angebracht galt.148 Dennoch verwundert die Diskrepanz zwischen den offenbar wenigen Schüssen, die nachweislich abgegeben wurden, und der großen Wirkung.149 Ursache hierfür war das Vergrößerungsglas des Gerüchts. Das Pogrom führte zu einer äußerst unübersichtlichen Situation. Wegen der Menschenmassen und der Berge von Unrat waren die Straßen nur schwer passierbar, der Lärm erschwerte die akustische Orientierung. Deshalb war es nicht möglich, Berichte über Schießereien zu überprüfen. Den Beteiligten blieb nichts anderes übrig, als die Situation in kurzer Zeit aus Informationsfetzen zu rekonstruieren. Es waren ideale Bedingungen für das Entstehen von Gerüchten. So berichtete der Korrespondent der Zeitung Trud: »In der Menge kursieren die allerunsinnigsten Gerüchte: ›Sie haben eine Russin ermordet!‹, sagt der eine, ›die Juden haben dreißig Revolver gekauft‹ – unterbricht ihn der andere, und die Schüsse, die man aus der Ferne hört, bestätigen dieses Gerücht scheinbar.«150 Ein anderer Reporter berichtete, einem Gerücht nach seien es 75 Revolver gewesen, die die Juden vor dem Pogrom gekauft hätten.151 Außerdem sei »erzählt worden«, dass am Morgen des 16. April die 148 149 150 151

Klier, Christians. Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699. Zit. n.: Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2. Dokumenty i materialy, S. 8.

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Juden einen Mann und eine Frau erschlagen hätten.152 Am deutlichsten entfaltete sich die Macht der Gerüchte aber schon kurz nach Beginn des Pogroms. Während die Zerstörung auf dem Marktplatz noch im Gange war, sammelte sich eine Menschenmenge vor der Synagoge Elisavetgrads. Von dort sei nämlich, so hieß es, geschossen worden, was »die Menge endgültig verbitterte«.153 Die Geschehnisse bei der Synagoge stellte der Korrespondent des Rassvet folgendermaßen dar: »Aus der Synagoge, so heißt es, wurden einige Schüsse abgefeuert, und dies brachte das Fass zum Überlaufen. Die Menge stürzte sich mit aller Kraft auf die Synagoge und nahm sie im Sturm. ›Plewen ist eingenommen‹ – wie sich die Arbeiter ausdrückten.«154 Der Autor war schlecht informiert, sonst hätte er wohl kaum für den Rassvet, das »Organ der russischen Juden«, so leichtfertig über den Angriff auf eine Synagoge geschrieben. In Wahrheit hatte ein Unteroffizier die Lage geistesgegenwärtig entschärft, indem er die Synagoge rasch umstellen ließ und sodann in Begleitung des zu Hilfe gerufenen Staatsanwalts und eines Polizisten die Synagoge inspizierte, um festzustellen, dass sich darin zwar Juden aufhielten, sich die Fenster aber zu weit oben befanden, als dass aus ihnen hätte geschossen werden können.155 Polizei und Militär Wenn bisher von Soldaten, Polizisten und Offizieren kaum die Rede war, liegt das daran, dass sie für das Pogrom über weite Strecken hinweg von keiner großen Bedeutung waren. Sie beschützten zwar bestimmte Orte in der Stadt, vertrieben hier und da die Menge, nahmen auch eine erhebliche Zahl von Pogromtätern fest – und doch waren sie bis zum Abend des 16. April nicht in der Lage, dem Aufruhr ein Ende zu setzen. Weil dies

152 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700. 153 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 244. 154 Gemeint war die bulgarische Stadt Plewen, Schauplatz einer bedeutenden Schlacht im russisch-türkischen Krieg von 1877–1878. Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 647. 155 Auf welchem Wege die Beamten der Menge verdeutlichten, dass es keine Schüsse aus der Synagoge gegeben hatte, ist leider nicht überliefert. In ähnlichen Situationen scheiterten solche Dementis oftmals, in diesem Fall aber ging die Menge davon und setzte das Pogrom andernorts fort. Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 282; Besporjadki v g. Elisavetgrade, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 476ob.

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nicht nur in Elisavetgrad der Fall war, kam bald die Vorstellung auf, die Behörden ständen mit den Pogromtätern im Bunde, hätten Gewalt und Zerstörung absichtlich geduldet oder die Pogrome sogar selbst »organisiert«. Um dies zu überprüfen, sei im Folgenden ein genauer Blick darauf geworfen, wie sich die Soldaten und Schutzleute während des Pogroms verhielten. Anfangs bemühte sich die städtische Polizei relativ entschlossen, dem Pogrom ein Ende zu setzen. Gleich nachdem der Vorfall in der Schenke die ersten Unruhen ausgelöst hatte, war ein Polizeihauptmann zur Stelle. Als sie dann auf dem Marktplatz einen ersten Höhepunkt erreichten, schritten einige Polizisten unter Leitung des Polizeichefs Bogdanoviˇc »mit Hingabe« ein, wie es nicht etwa in einem Polizeibericht, sondern in den Papieren der Staatsanwaltschaft hieß.156 Die Ordnungshüter flößten der Menge jedoch keinerlei Respekt ein und konnten höchstens vereinzelt einen Laden vor der Zerstörung bewahren. Die Täter wünschten keine Einmischung der Polizei – aber auch keine Konfrontation mit ihr. So berichtete Graf Kutajsov: »Ein Polizeihauptmann wollte sich in die Menge stürzen, doch jemand von den Betrunkenen packte ihn an den Aufschlägen seines Mantels, dann hoben ihn einige Leute auf die Arme und trugen ihn aus der Menschenmenge heraus, wobei sie ihm erklärten, er solle sich nicht unnötig der Gefahr aussetzen, die ihm von jedem Betrunkenen in der Menge drohe.«157 Die Drohung wirkte. So wie die Juden auf dem Markt einsehen mussten, dass es sich um keine der alltäglichen Schlägereien handelte, so erkannte auch die Polizei, dass das Ausmaß der Ausschreitungen ihre Kräfte überschritt. Folglich verschwand sie für die restliche Dauer des Pogroms fast vollständig von den Straßen. »Die Polizei […] war in keiner Weise in der Stadt zu bemerken – ganz so, als hätte sie, sobald in den Straßen das Militär auftauchte, ihre Aufgabe als erledigt angesehen.«158 Zur Ehrenrettung der Polizei führte die Lokalzeitung an, diese sei ganz damit beschäftigt gewesen, Festgenommene zu eskortieren.159 Das machten jedoch in den allermeisten Fällen Soldaten. Die Polizisten hin156 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 296ob–297. 157 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 243. 158 Ebd., S. 262, 283; Dokumenty i materialy, S. 19–20. 159 Elisavetgradskij vestnik, No. 42, 19. 4. 1881, S. 2.

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gegen waren offenbar ganz damit beschäftigt, auf den Polizeiwachen für Ordnung zu sorgen, denn niemand war darauf vorbereitet gewesen, über 600 Personen unter Arrest zu stellen und sie in irgendeiner Weise sicher unterzubringen.160 Inoffiziellen Berichten zufolge sollen viele der ergriffenen Pogromtäter unmittelbar wieder auf freien Fuß gesetzt worden sein, vermutlich gab es einfach keinen Ort, wo man sie hätte festsetzen können. Unter den Tätern verbreitete sich daraufhin sogleich die Nachricht, die Festnahmen erfolgten ohnehin nur »zum Schein«.161 Mittelfristig noch gravierender war jedoch der Umstand, dass weder über die Entlassenen noch über die Festgehaltenen ordentliche Protokolle aufgesetzt wurden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Polizei auch in dieser Hinsicht mit dem Pogrom überfordert war. Konsterniert berichtete der örtliche Staatsanwalt seinem Vorgesetzten, die Polizisten hätten Protokolle nur dann verfasst, wenn er ihnen dabei persönlich über die Schulter geschaut habe.162 Auf der Grundlage von nicht mehr als allgemeinen Beschuldigungen oder mit einem Aktenvermerk wie »Grund der Festnahme unbekannt« konnte aber kein Gericht Schuldsprüche erteilen. Somit versagte die Polizei nicht nur bei ihrer Hauptaufgabe, die öffentliche Ordnung zu wahren, sondern verhinderte zusätzlich noch ein effektives Agieren der Justiz. Es blieb das Militär. Zwar waren die Husaren des örtlichen Belorusskij-Regiments mehrheitlich ins Sommerlager abgezogen, aber vor Ort waren noch die sogenannten Ortstruppen, die üblicherweise das Gefängnis und andere wichtige Gebäude bewachten. Ihnen war es maßgeblich zu verdanken, dass das Pogrom auf dem Marktplatz relativ rasch beendet und einige der Täter festgenommen wurden.163 Die Husaren hingegen, deren größerer Teil von Kosiˇc gegen 17 Uhr wieder aus dem Lager in die Stadt gerufen worden war, ritten in kleinen Trupps durch die Stadt und besetzten allein mit zwei Kompanien, das heißt der Hälfte ihrer Truppenstärke, die Hauptstraße. Dort hatten die reichsten Juden ihre Häuser und Geschäfte, und dank der Husaren waren sie so sicher wie nur

160 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 297–297ob. 161 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699. 162 Revuckij, P., an Vladimir Antonoviˇc, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 280. 163 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 266.

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wenige jüdische Häuser sonst.164 Wurde dennoch eines angegriffen, wie das Bromberg’sche, so erschien Generalmajor Kosiˇc persönlich. Offenbar genügten seine strengen Worte und die Anwesenheit einiger Husaren, um die Menge von dort zu vertreiben. Sie setzten das Pogrom dann an Orten fort, wo »ihnen das Militär weniger Hindernisse in den Weg räumte«.165 Manchmal konnte der örtliche Gendarmerie-Offizier verhindern, dass den reichen Juden Elisavetgrads großer Schaden zugefügt wurde. Beispielsweise entwand er der Menge die Geldschatulle des Kaufmanns Reznikov mit den Worten, das Geld gehöre dem Staat, und postierte sich im Haus des Bankiers Kogan, um die Menge nicht in die zweite Etage vordringen zu lassen.166 Insgesamt kann man sagen, dass sich die Behörden (mit Ausnahme der Polizei) völlig darauf konzentrierten, die wohlhabenden Juden im Stadtzentrum zu schützen. Damit bewirkten sie indirekt, dass die Täter ihr Augenmerk auf den ärmeren Teil der jüdischen Bevölkerung richteten.167 Anfangs hatte es Versuche des Militärs gegeben, auch die ärmeren Juden an der städtischen Peripherie nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Doch wo die Truppen nicht in großer Anzahl auftraten, erwiesen sie sich als machtlos, denn die Täter gingen ihnen einfach aus dem Weg. Oft »verschwanden« die Menschenmengen »wie Rauch«, sobald sich ein Trupp Husaren mit Entschiedenheit näherte; wenig später setzten sie das Plündern und Zerstören an anderer Stelle fort.168 Andere Gruppen verzichteten auch auf den Ortswechsel, sie verhielten sich ruhig und warteten einfach ab, bis die Soldaten weitergezogen waren.169 Auch als am zweiten Tag des Pogroms den Husaren der Befehl erteilt wurde, die stumpfen Enden ihrer Piken einzusetzen, endete das Katz-undMaus-Spiel nicht. Mit einer Gruppe von »Abschaum und Habenichtsen« konfrontiert, die gerade das Haus eines Juden demolierten, warnte ein

164 Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 70. 165 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 245–246. 166 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 70ob–73; Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 304. 167 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 247. 168 Elisavetgradskij vestnik, No. 42, 19. 4. 1881, S. 2; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 284. 169 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699.

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Offizier die Menge zuerst mit dem vorgeschriebenen dreifachen Signal und gab sodann den Befehl zur Attacke. Die Pogromtäter konnten ohne Schwierigkeit ausweichen und nach einem weiteren erfolglosen Angriff der Husaren warfen sie sogar mit Steinen und liefen ihnen mit Stöcken bewaffnet hinterher. Der Trupp wartete zunächst in einiger Entfernung auf militärische Verstärkung und konnte später, durch eine Einheit von Junkern verstärkt, einige Unruhestifter festnehmen.170 In manchen Fällen musste sich das Militär jedoch auch ganz zurückziehen, und zwar meist, weil die Pferde wegen des Lärms und der herumfliegenden Steine scheuten.171 Pfiffe und Gelächter ertönten aus der Menge, wenn sie einen solchen Sieg errungen hatte.172 Die Einzigen, die der Menge mit einigem Erfolg begegneten, waren die am 16. April zu Hilfe gerufenen Zöglinge der örtlichen Junkerschule. Sie waren auch die Einzigen, die Waffengewalt gegen die Pogromtäter einsetzten, indem sie ihre Säbel zogen und einige verletzten.173 Feuerwaffen wurden hingegen nur für Warnschüsse genutzt, und selbst das sehr selten.174 Die Husaren und Soldaten erkannten im Laufe des Pogroms, dass sie wenig ausrichten konnten, und verwandelten sich vielerorts in uniformierte Zuschauer.175 Manche beriefen sich später darauf, dass ihnen der Einsatz in kleinen Gruppen keine andere Wahl gelassen habe, andere betonten, man könne schließlich »nicht alle festnehmen«.Wenn jedoch die Kavalleristen zuerst tatenlos zusahen, wie die Menge ein Haus zerstörte, und dann gemeinsam mit ihr zum nächsten Haus zogen, schien es, »als würden sie einen Konvoi stellen«, und die Täter fühlten sich vollends sicher.176 Die Soldaten gingen jedoch in ihrem Verhalten nicht über die

170 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 279; für einen weiteren Fall, in dem die Menge der Kavallerie geschickt auswich: Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2. 171 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 245–246. 172 Revuckij, P. an Vladimir Antonoviˇc, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 279–279ob. 173 Besporjadki v gor. Elisavetgrade, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 480; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 284–285. 174 Besporjadki v gor. Elisavetgrade, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 476ob–478. 175 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 19–19ob. 176 Revuckij, P. an Vladimir Antonoviˇc, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 279–279ob.

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Rolle von Zuschauern hinaus. Sie beteiligten sich weder am Plündern noch am Zerstören. Nachdem militärische Verstärkung eingetroffen war und die Husaren aus den Straßen abgezogen worden waren, ließ der Kommandeur des Bataillons sie durchsuchen; gefunden wurde fast nichts.177 Dieser Befund wird dadurch glaubhafter, dass einige Fälle der »Vorteilsnahme« durch die Truppen dokumentiert sind, die jedoch allesamt durch ihre Geringfügigkeit auffallen: Als etwa eine jüdische Bonbonfabrik ausgeplündert und Süßigkeiten von den Tätern in den Rockschößen fortgetragen wurden, nahmen einige Soldaten von ihnen Bonbons an.178 Bei einem der Husaren wurde außerdem ein Kissen gefunden, das aus dem Haus eines Juden stammte.179 Darüber hinaus ist nicht bekannt, dass die Behörden auf der Seite der Täter in das Pogrom eingegriffen hätten. Das Pogrom endete wie von selbst. Einige Aktionen der Behörden, wie das Entfernen der Bodenbretter von den meisten Brücken über den Fluss Ingul oder das Aufstellen von Wachen an den Ausfallstraßen, sorgten dafür, dass keine weiteren Bauern in die Stadt vordringen konnten.180 Das in der Nacht zum 17. April eingetroffene Militär und die von ihm durchgesetzte Ausgangssperre dürften ein neues Aufflammen der Gewalt maßgeblich verhindert haben, doch eigentlich hatte das Pogrom schon am frühen Abend des 16. April geendet.181 Die Täter waren müde, die Aussichten auf weiteren Profit gering, und schließlich vertrieben der wieder einsetzende Wind und Regen sie von den Straßen.182 Mit dem Ende der Gewalt begannen die Fragen: Wie konnte es sein, dass es in einer Stadt mit insgesamt fast 500 Polizisten und Soldaten nicht möglich war, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten? Wie gezeigt, hatten sich zumindest Teile von Polizei und Militär durchaus Mühe gegeben, die Gewalt zu unterbinden, doch knappe Ressourcen und unklare Vorschriften ließen ein effizientes Vorgehen nicht zu. Das Scheitern der Polizei war vorhersehbar, wenn man in Rechnung stellt, wie sich ihre Ar-

177 178 179 180 181 182

Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 284–285. Ebd., S. 279. Ebd., S. 245–246. Ebd., S. 267. Dokumenty i materialy, S. 5. Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 19–19ob.

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beit im späten Zarenreich abspielte.183 Polizisten verdienten oft nicht mehr als ein Hilfsarbeiter, genossen kein hohes Ansehen, und dennoch war der Polizeidienst mit vielfältigen Verpflichtungen verbunden. Eine Anstellung als einfacher Schutzmann war alles andere als attraktiv. Die Fluktuation des Personals war immens, die Diensterfahrung entsprechend gering, und wenn der Polizeichef einen Posten neu besetzen wollte, konnte er es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein.184 Deshalb kann es nicht erstaunen, dass die Polizisten es akzeptierten, als die Menschenmenge ihnen zu verstehen gab, sie möge sich in die Auseinandersetzung mit den Juden besser nicht einmischen. Sie verschwanden von den Straßen, weil ihnen der Dienst zu wenig bedeutete, um seinethalben ein Risiko einzugehen. Im besten Fall kümmerten sie sich auf den Polizeiwachen um die Festgenommenen. Vor diesem Hintergrund verfehlte es den Kern des Problems, wenn Kosiˇc oder auch der Generalgouverneur in ihren Kommentaren nach dem Pogrom die geringe Zahl der Polizisten (nach unterschiedlichen Angaben 50 oder 70 einfache Schutzleute mit entsprechendem Führungspersonal) hervorhoben.185 Gravierender waren qualitative Mängel, die dafür sorgten, dass »die Polizei durch [das Pogrom] überrumpelt wurde; alle verloren den Kopf und niemand wusste, was zu tun war«.186 Im Falle größerer Unruhen ruhten die Hoffnungen jedoch ohnehin nicht primär auf der Polizei, sondern auf der Armee, zumal in einer Stadt wie Elisavetgrad, die seit jeher vom Militär geprägt war. Immerhin gab es hier ein ganzes Regiment Husaren, die Junkerschule und eine Truppe von ca. 150 Mann, das sogenannte »Invalidenkommando«, die über das Gefängnis wachte.187 Vor diesem Hintergrund überrascht das Scheitern des Militärs bei der Beendigung der Unruhen mehr als das der Polizei. Nachvollziehbar wird es jedoch, wenn man die Bedingungen kennt, unter denen es aktiv werden sollte. Das erste Problem bestand in der An-

183 Allgemein: Abbott, Police; Brower, Russian, S. 188–201; Robbins, Tsar’s, S. 184–186. 184 Kosiˇc, A.: O poloˇzenii Elisavetgrada i o priˇcinach proisˇsedˇsego v nem akta evrejskogo dviˇzenija i besporjadkov 15 i 16 Aprelja 1881 g., 21. 6. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 126, l. 67ob. 185 Ebd.; Vremennyj Odesskij general-gubernator an g. MVD, 5. 11. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 710, l. 1–10; Dokumenty i materialy, S. 9. 186 Ebd., S. 19–20. 187 Ebd., S. 9.

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bzw. Abwesenheit der Truppen. In der warmen Jahreszeit hielten sich die meisten Soldaten nicht in Kasernen bzw. ihren sonstigen Quartieren auf, sondern in »Sommerlagern«, wo die Versorgung besser als in den Städten bewerkstelligt werden konnte. Die Sommerlager waren aber auch der Ort, an dem militärische Ausbildung hauptsächlich stattfand und damit letztlich die Kampfbereitschaft der Truppe gewährleistet werden sollte.188 Deshalb achteten die Generäle peinlich genau darauf, dass die Soldaten nicht zu viel Zeit mit Aufgaben verbrachten, die ihrer Ansicht nach eher ins Ressort der »inneren Angelegenheiten« fielen, zumal mit gutem Grund angenommen werden konnte, dass der Einsatz gegen die eigene Bevölkerung nicht nur eine Verbesserung der militärischen Fähigkeiten verhinderte, sondern auch die Kampfmoral untergrub.189 Aus diesem Grund waren die für die Ostertage in Elisavetgrad stationierten Husaren so rasch bzw. aus der Rückschau gesehen überstürzt abgezogen worden, und aus demselben Grund wurde auch das eigentlich verfügbare Militär nur sehr langsam wieder auf die Straßen gebracht. Freilich darf nicht vergessen werden, dass das Pogrom von Elisavetgrad für alle Beteiligten eine in seinen Ausmaßen unerwartete, weil präzedenzlose Erscheinung war. Dennoch ist es überraschend, dass am ersten Tag des Pogroms nicht das ganze Regiment, sondern nur zwei Geschwader Husaren in die Stadt gerufen wurden.190 Als General Kosiˇc zudem die Offiziersschüler zu Hilfe holen wollte, musste er zunächst den Leiter der Junkerschule, einen Oberst Rynkeviˇc, überzeugen, dass die Beendigung des Pogroms wichtiger sei als die Examen, die ursprünglich für diese Tage vorgesehen waren. Erst auf nachdrückliches Bitten hin sah Rynkeviˇc ein, dass es nicht angebracht war, eine entsprechende Erlaubnis von seinem Petersburger Vorgesetzten abzuwarten.191 Nicht früher als am zweiten Tag des Pogroms reifte bei den örtlichen Behörden die Einsicht, dass die örtlichen Kräfte nicht ausreichten, um der Gewalt ein Ende zu bereiten. Die nun aus Kremenˇcug angeforderte Verstärkung kam jedoch erst an, als das Pogrom bereits vorüber war.192 Ähnlich wie bei der Polizei bestand das Problem 188 189 190 191 192

Zajonˇckovskij, Samoderˇzavie, S. 249–251, 271. Fuller, Civil-Military S. 81–100. Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 285. Dokumenty i materialy, S. 9. Poltavskij gubernator an g. MVD, 20. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 37.

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gar nicht so sehr in der (später von den Verantwortlichen hervorgehobenen) zahlenmäßigen Schwäche der verfügbaren Kräfte, sondern vielmehr darin, dass sie nicht oder zu spät in vollem Umfang eingesetzt wurden. Zu ihrer Rechtfertigung verwiesen hohe Militärs im Nachhinein außerdem darauf, dass ihre Truppen für die Unterdrückung des Pogroms ungeeignet gewesen wären, weil sie hauptsächlich aus Kavallerie bestanden. Zwar erwiesen sich die Pferde mancherorts tatsächlich als Hindernis, dennoch war die Klage nicht stichhaltig. Das sieht man daran, dass in anderen Fällen gerade das Fehlen von Kavallerie als Grund für das Versagen der Staatsmacht verantwortlich gemacht wurde.193 Hinweise auf die Zahl und Art der verfügbaren Sicherheitskräfte dienten vor allem einem Zweck, nämlich von einem wichtigeren Problem abzulenken. Denn ganz offensichtlich hatte die örtliche Führung von Administration und Militär versagt. Das betraf zuallererst den Polizeimeister Bogdanoviˇc, dessen Aufgabe es als oberster Vertreter der Zivilbehörden vor Ort gewesen wäre, Polizei und Militär zu koordinieren. Zu Beginn des Pogroms hatte er noch einen Trupp Polizisten gegen die Täter geführt und sogar einen gewissen Erfolg erzielt. Als sich dann zeigte, dass immer mehr Polizisten vor den Tätern kapitulierten, verfiel auch Bogdanoviˇc in Untätigkeit und unterließ es sogar bis zum Morgen des zweiten Pogromtages, seinen Vorgesetzten, den Gouverneur, über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen.194 Die Reaktion erfolgte relativ schnell: Bogdanoviˇc wurde entmachtet (und wenig später förmlich entlassen) und stattdessen dem örtlichen Militärchef General A. Kosiˇc außerordentliche Kompetenzen zur Beendigung der Unruhen erteilt.195 Die in Kosiˇc gesetzten Hoffnungen erfüllten sich jedoch nur zum Teil. Er rief die noch im Lager verbliebenen Teile des Husarenregiments und, wie schon erwähnt, auch die Junker auf die Straßen, versäumte es aber, Routinevorkehrungen wie die Zuweisung von Truppenteilen und

193 Exemplarisch: Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 25. 194 Chersonskij gubernator an Odesskij general-gubernator, 25. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 309–314ob. 195 Odesskij general-gubernator an MVD, Telegramm, Kopie, 16. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 5.

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Kommandeuren zu bestimmten Stadtbezirken zu treffen.196 Offenbar aus Nachlässigkeit wurden die Junker ohne scharfe Munition auf die Straßen geschickt und konnten im Ernstfall nur mit ihren Säbeln eingreifen.197 Die Truppen waren ohne klare Befehle unterwegs und konnten deshalb auch nicht koordiniert eingesetzt werden. Kosiˇc war nicht in der Lage, eine Einheit an den einen oder anderen Ort in der Stadt zu entsenden, weil er nicht wusste, wo sich die Einheiten aufhielten und wie er sie erreichen sollte.198 Offenbar hatte weder der Polizeimeister noch der General eine Idee, wie auf großflächige urbane Unruhen zu reagieren war. Mit Blick auf das Militär überrascht seine geringe Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, denn im großen Narrativ der Geschichte des späten Zarenreiches findet sich solche Zurückhaltung eher selten. Man denke nur an Schlüsselereignisse wie den »Blutsonntag« 1905, die Massaker in Bezdna 1861 und an der Lena 1912 oder die blutige Niederschlagung der Agrarunruhen von 1905 bis 1907.199 Diese Ereignisse erregten zu Recht große Aufmerksamkeit und prägten die Vorstellungen von den Techniken der Macht im Russischen Reich. Tatsächlich waren sie jedoch exzeptionell. In der Regel kam tödliche Gewalt nur als Ultima Ratio zum Einsatz und auch nur dann, wenn hohe Hürden überwunden worden waren, weil die Offiziere aus gutem Grund befürchteten, dass die Loyalität der Soldaten ebenso in Mitleidenschaft gezogen werden würde wie das Ansehen der Autokratie in der Bevölkerung. Trotz aller Bemühungen, die Bedingungen für die Erteilung des Schießbefehls durch rechtliche Vorschriften zu klären, blieb immer eine Ambivalenz der Behörden bestehen.200 Einerseits herrschte Einigkeit dahin gehend, dass es in manchen Situationen notwendig war, mit Waffengewalt gegen Angreifer vorzugehen, andererseits wollte niemand verantwortlich sein, wenn dies im Nachhinein als exzessiv bewertet würde. In den Vorschriften wurde immer wieder der Ausnahmecharakter von Waffengewalt gegen die Zivilbevölkerung betont. Aber was war schon ein »äußerster Fall«

196 197 198 199 200

Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 266. Ebd., S. 285. Ebd., S. 283. Ascher, Revolution; Melanchon, Lena; Field, Rebels; Rawson, Death. Neben Fuller, Civil, jüngst: Bajandin, Ispol’zovanie.

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und wann ließ sich sicher sagen, dass alle Alternativen ausgeschöpft waren?201 Im Zweifelsfall zeigten nicht nur Pogromtäter eine gehörige Risikoaversion, sondern auch die Vertreter des Staates: Sie mussten so handeln, dass man ihnen später keine Untätigkeit vorwerfen konnte, aber ebenso wenig sollte es heißen, sie hätten ein Blutbad angeordnet. Der Militärchef von Elisavetgrad fand einen für ihn vorteilhaften Weg aus diesem Dilemma: Am Morgen des 16. April erteilte er seinen Truppen förmlich den Befehl, »Waffengewalt einzusetzen wenn nötig«, ohne zu erläutern, worin diese »Notwendigkeit« bestehen könnte; alle weiteren Entscheidungen delegierte er an seinen Stellvertreter General Sjunnenberg.202 Darüber hinaus ergingen von ihm noch einige Anweisungen, eine Einheit an den einen oder anderen Ort zu schicken, doch auf konkrete Befehle warteten die Offiziere vergeblich. Über das Agieren Sjunnenbergs geben die Quellen keinerlei Aufschluss. Allem Anschein nach nahm er sich ein Beispiel an seinem Vorgesetzten und wartete ab. Die subalternen Offiziere scheuten sich verständlicherweise ebenfalls, Waffengewalt anzuordnen, wenn dazu kein klarer Befehl ergangen war.203 Deshalb nutzten die Husaren, wenn sie Attacken ritten, bestenfalls die stumpfen Enden ihrer Piken, deshalb mussten selbst Personen, die die Truppen angriffen, keine Konsequenzen gewärtigen.204 Das Militär war aber auch deshalb so passiv, weil es Täter gab, die verstanden, wie man das Dilemma, in dem es sich befand, ausnutzen und verstärken konnte.

Dynamik der Gewalt In Elisavetgrad zeigte sich, dass die Gewaltressourcen der drei wichtigsten Akteure, der Täter, Opfer und Behördenvertreter, sehr ungleich verteilt waren. Über die wenigsten verfügten die Opfer, was nur scheinbar selbstverständlich ist. An anderer Stelle wird diskutiert, was passiert,

201 Dazu sehr instruktiv: Upotreblenie, S. 15–40. 202 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 282–283. 203 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 19–19ob. 204 Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 283.

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wenn sich auch die Opfer in größerem Ausmaß für Gewalt als Handlungsoption entscheiden. In Elisavetgrad konkurrierten zwei Kräfte, Staatsmacht und Täter, wobei Erstere das größere Gewaltpotenzial aufwies. Über 500 Männer in Waffen wären den Tätern in einer offenen Auseinandersetzung zweifellos überlegen gewesen. Doch den Tätern gelang es, sie handlungsunfähig zu machen. Zu diesem Zweck zogen sie die Zuschauer als weitere »Partei« hinzu, sodass, nachdem die Opfer aus dem Pogromgeschehen weitgehend verschwanden, weil sie sich versteckten und von den Tätern auch nicht gesucht wurden, wieder eine aus drei Gruppen bestehende Konstellation entstand. Zwischen Tätern und Zuschauern herrschte ein Geben und Nehmen. Erstere sorgten durch spektakuläre Handlungen dafür, dass das Pogrom ein attraktives sinnliches Erlebnis wurde, dass es »etwas zu sehen« gab. Die zahlreichen Zuschauer wiederum, insbesondere die Frauen und Kinder unter ihnen, waren ein wichtiger Grund oder zumindest eine akzeptable Rechtfertigung dafür, dass das Militär alle Strenge und Entschlossenheit vermissen ließ.205 Darüber hinaus versuchten die Täter, die Zuschauer zu Komplizen zu machen, indem sie Gegenstände nach draußen warfen. So senkten sie die Schwelle, sich am Plündern zu beteiligen, auf ein Minimum. »Schließlich liegt es ohnehin auf der Straße herum, nehme ich es nicht, nimmt es jemand anders«, oder »Es wird nur unnötig verderben«, antworteten die Plünderer auf Zurechtweisungen und Vorwürfe.206 Die Zuschauer stellten für die Haupttäter also einen Schutz vor militärischer Gewalt dar und die Plünderer bewahrten sie vor der Festnahme. Denn während die Haupttäter aus dem Schutz der Masse agierten und diese leicht zum Widerstand gegen Staatsvertreter anstacheln konnten, um eine Verhaftung zu verhindern, waren Plünderer leicht einzeln aufzugreifen und leisteten keinen Widerstand.207 Deshalb wurden zwar sehr viele Personen in Arrest genommen, aber nur eine »verschwin-

205 Ebd.; Dokumenty i materialy, S. 9; vgl. z.B. auch Schmemann, Dorf, S. 182–188. 206 Rassvet, No. 17, 23. 4. 1881, S. 648; Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 70. 207 Dass eine Menschenmenge Widerstand leistete, wenn ein Pogromtäter abgeführt werden sollte, kam zwar nicht in Elisavetgrad, sonst aber durchaus häufig vor. Zum Teil wurden sogar Polizeistationen überfallen, um inhaftierte Täter zu befreien. Volynskij gubernator an DP, 28. 12. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 22. Vgl. Katz, Epiphanie, S. 100.

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dend geringe Zahl« von ihnen gehörte zur Avantgarde des Pogroms, die etwa in verschlossene Häuser eingebrochen war.208 Das Zusammenspiel von Tätern und Zuschauern trug also maßgeblich dazu bei, die Polizei und besonders das Militär handlungsunfähig zu machen. Doch es kam noch ein weiterer Faktor hinzu: die Fremdwahrnehmung der Soldaten durch die Menschen auf den Straßen und ihre Eigenwahrnehmung. Die Pogromtäter waren nämlich anfangs noch im Ungewissen darüber, welche Reaktion sie vom Staat zu erwarten hatten. Sie wussten, dass Ausschreitungen von der Art eines Pogroms üblicherweise nicht geduldet wurden. Andererseits schien zumindest manchen die Gewalt durchaus gerechtfertigt, weil sie die Juden als »Andere« sahen, denen der Schutz der Staatsmacht nicht gebührte, oder weil »die Juden« vermeintlich den Zaren ermordet hatten. Außerdem wähnten sie sich selbst – als auf der Seite des Zaren Stehende – in großer Sicherheit und glaubten, dass allenfalls ein korruptes Militär gegen sie vorgehen konnte.209 Als die Täter jedoch beobachteten, dass etwa die Husaren am Basar ruhig stehen blieben, wenn in ihrer Nähe Häuser demoliert wurden, schien dieses Problem geklärt: »Dann darf man also die Juden schlagen – los, schlagt sie!«210 Es gab eine lange Tradition von Volksunruhen, bei denen die Täter sich nicht nur im Recht, sondern sogar durch den Zaren höchstselbst legitimiert sahen. Diese griffen die Täter nun auf, wenn sie verbreiteten, das »Judenschlagen« sei vom Herrscher selbst angeordnet worden.211 Immer fester wurde die Gewissheit, dass das Pogrom ganz im Sinne der Staatsmacht sei. Die neue Überzeugung fand Ausdruck in Gerüchten wie dem folgenden, von einem Zeitungsreporter kolportierten, das die neue Bedeutung des Pogroms prägnant auf den Punkt brachte: »Ein Herr sagte zu einem zweiten: ›Ich stehe da und lausche. Da reitet ein Offizier zu einem Soldaten heran und fragt: ,Weißt du, wozu du hier postiert bist?‘ – ,Das weiß ich, euer Wohlgeboren!‘ – ,Wozu denn?‘ – ,Um beim

208 Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 299–301; vgl. auch: Übersicht über Festgenommene beim Pogrom von Elisavetgrad, 20. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 679 cˇ . 2, l. 333–361. 209 Dokumenty i materialy, S. 11. 210 Ebd.; Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 244–246, Zitat auf S. 244. 211 Privater Brief aus Elisavetgrad nach Odessa, 21. 4. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 319–319ob.

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Judenschlagen zu helfen, euer Wohlgeboren!‘ – ,Prachtkerl!‘‹«212 Das Gespräch hat so gewiss nie stattgefunden, aber die Verbreitung von Gerüchten, die einen direkten Zusammenhang zwischen Gehorsam, Loyalität zum Zaren und aktiver Teilnahme am Pogrom herstellten, zeigt, dass die Täter die Gewalt zunehmend als legitim betrachteten.213 Deshalb war es in gewisser Weise folgerichtig, dass nun die Menge Rechenschaft von jenen wenigen Beamten verlangte, die es wagten, die Gewalt unterbinden zu wollen. Diese mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, aufseiten der Juden zu stehen, »die den Zaren ermordet haben und die unser Blut aussaugen«.214 Es lässt sich nicht sagen, ob die Soldaten tatsächlich vor der Frage standen, ob nun das Pogrom legitimer war als seine Beendigung. Unabhängig davon blieb es aber für die Selbstwahrnehmung der Soldaten nicht ohne Folge, wenn ihnen die Pogromtäter und -zuschauer mit solchem Selbstbewusstsein gegenübertraten. Die Gewissheit der Täter, dass der Staat ohnehin nicht einschreiten würde, erschwerte es den Soldaten, ebendies zu tun, weil es die Taktik der Einschüchterung wertlos machte. Einschüchterung war aber das einzige Machtinstrument eines Militärs, das nicht bereit war, Waffengewalt einzusetzen. Die Soldaten ließen sich in die Rolle von Zuschauern drängen, und je länger sie darin verharrten, desto schwieriger wurde es für sie, wieder aktiv zu werden. So erklärt sich denn, warum die Ordnungskräfte am zweiten Tag der Unruhen, obwohl sie im Vergleich zum Vortag verstärkt worden waren, viel weniger Präsenz zeigten. Das bemerkte auch der örtliche Staatsanwalt, wenn er feststellte: Polizei und Militär »ging die Kraft aus, alle waren niedergeschlagen und kamen zu der Überzeugung, dass es unmöglich sei, die Unruhen mit den vorhandenen Mitteln zu beenden«.215 Pogrome, bei denen die Opfer passiv blieben, entstanden aus einer Dynamik der Interaktion zwischen Tätern, Behörden und Zuschauern.

212 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 699. 213 Für weitere Beispiele vgl. eine Korrespondenz aus der Zeitung Trud zitierend, Kievljanin, No. 87, 21. 4. 1881, S. 2. 214 Dokumenty i materialy, S. 11; Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700. 215 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 19; vgl. auch für die Polizei: Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 245–246, sowie für das Militär: Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 700.

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Das Pogrom »gelang« dann, wenn Polizei und Militär gewissermaßen außer Gefecht gesetzt werden konnten. Daran hatte zögerliches und Verantwortung vermeidendes Handeln der staatlichen Entscheidungsträger ebenso Anteil wie ein geschicktes Agieren der Täter, die durch Anreize (Spektakel und Plündergut) die Zuschauer auf ihre Seite brachten und damit ein entschlossenes Vorgehen des Militärs weiter erschwerten. Vor die Wahl gestellt, entweder »Unbeteiligte«, zumal Frauen und Kinder, zu verletzen oder das Pogrom geschehen zu lassen, entschieden sich die meisten Offiziere für die zweite Option. Die Passivität der Staatsvertreter bestärkte dann die Täter in ihrer Auffassung, dass das Pogrom rechtmäßig war oder zumindest ungesühnt bleiben würde. Deshalb traten sie dominanter auf und erschwerten es wiederum dem Militär, die Oberhand zu gewinnen, selbst nachdem Verstärkung eingetroffen war. Identifikation der Opfer Das Pogrom von Elisavetgrad steht hier stellvertretend für eine ganze Reihe von Pogromen, die sich in den Jahrzehnten zwischen 1881 und 1917 ereigneten. Wo immer Gewalt aufgrund einer Alteritätszuschreibung von einem Täterkollektiv gegen ein Opferkollektiv verübt wurde, und wo immer die Gewalttaten relativ spontan geschahen, kam es zu ähnlichen Prozessen wie in Elisavetgrad. Allerdings gab es auch systematisch auftretende Unterschiede. Zwei von ihnen werden im Folgenden untersucht, sie haben beide mit dem Kollektiv der Pogromopfer zu tun. Es geht zum einen darum, welchen Einfluss es auf die Pogromdynamik hat, wie leicht bzw. schwer die Zugehörigkeit zur Gruppe der Opfer festzustellen ist. Zum anderen wird gefragt, was geschieht, wenn die Täter ihre Opfer attackieren, weil sie zu einem Kollektiv gehören, sie sie aber gleichzeitig als Individuen kennen. Pogromgewalt wurde von den Zeitgenossen oft als beliebig wahrgenommen, Pogromtäter galten als »blind geborene Wilde«.216 Dann hätten die Täter allerdings keine Zuschauer angezogen, denn nur wer sicher ist, nicht selbst das nächste Opfer zu sein, hat auch Freude am Pogromspektakel. Doch ohne Zuschauer hätte den Tätern ein wichtiger Schutz gefehlt. Schon aus Rücksicht auf die Zuschauer war es wichtig, dass sie 216 Zitat: Astrachanec, No. 373, 14. 9. 1915, S. 2; vgl. Volyn’, No. 88, 30. 4. 1905, S. 3; Prokuror Saratovskoj SP, Bericht über die Unruhen in Saratov, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 92ob–93.

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ihre Opfer mit einer gewissen Sorgfalt auswählten.217 Folglich mussten die Täter feststellen, ob eine Person »jüdisch« war, und das war nicht immer eine einfache Aufgabe. An ihrem Äußeren waren Juden in Elisavetgrad nicht leicht zu erkennen, denn, wie erwähnt, lebten hier sehr viele Juden, die nicht die traditionelle Kleidung oder Haartracht trugen. Ähnlich dürfte es bei den meisten Judenpogromen gewesen sein, denn die meisten fanden ja nicht an Orten statt, an denen das orthodoxe oder chassidische Judentum stark war. Viele Täter waren der Meinung, Juden anhand ihres Körperbaus oder ihrer Gesichtszüge identifizieren zu können – eine Auffassung aus heutiger Sicht ein Vorurteil, das zur damaligen Zeit kaum infrage gestellt wurde.218 Deshalb mussten Personen, die äußerlich dem Klischee der Opfergruppe entsprachen, sehr vorsichtig sein.219 Oft wussten die Täter, dass diese Merkmale nicht genügten, und zogen zusätzliche Indikatoren heran, um Sicherheit zu gewinnen. In Kiew sollen die Täter 1881 alle Personen in »europäischer Kleidung« verdächtigt haben – nur wer wusste, wie man sich bekreuzigte oder ein Gebet sprechen konnte, blieb unbehelligt.220 Religiöse Merkmale wurden auch bei den Armenierpogromen in Baku als Hilfsmittel zur Identifizierung genutzt.221 Das konnte so weit gehen, dass das Vorliegen einer Beschneidung (bei einem Armenierpogrom in Baku) oder ihr Fehlen (bei Judenpogromen im Donec-Becken) herangezogen wurden.222 Angehörige der Opfergruppe zu identifizieren, war umso schwerer, je unschärfer sie konzeptionalisiert war (z.B. bei den »Intelligenzijapogromen« 1905 oder

217 Horowitz, Deadly, S. 124–131. 218 Malorossija, S. 240; Avrutin, Jews, S. 6; Belova, E˙tnokul’turnye, S. 10–11. 219 Juˇznye zapiski, No. 46, 13. 11. 1905, S. 59–60; bei dem Armenierpogrom in Baku im Februar 1905 beispielsweise wurden einige Georgier aufgrund ihres »armenischen« Aussehens angegriffen, und von einem Türken ist bekannt, dass er die Straße nicht betreten wollte, weil er »aussah wie ein Armenier«. Oganes’janc, Martyn G.: Aussage, 16. 2. 1905, RGIA f. 857, op. 1, d. 1477, l. 95; Zuev, Ja I.: Aussage, o.D., RGIA f. 857, op. 1, d. 1477, l. 59; Nadˇzarov, Nikolaj: Ausage, o.D., RGIA f. 857, op. 1, d. 1477, l. 97. 220 Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 693; Poliakov, Assimilation, S. 111; Vsepoddannyj otˇcet, S. 232; Sˇukˇsina, Cˇernosotennye, S. 87 f. 221 Ter-Mika˙eljanc, Gerakles B.: Aussage, 16. 2. 1905, RGIA f. 857, op. 1, d. 1478, l. 1. 222 Bey, Öl, S. 235; Kuromiya, Freedom, S. 44–46. Vgl. für die Unruhen in Bombay, 1992–1993: Chatterji/Mehta, Living, S. 71.

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auch bei den Deutschenpogromen 1915) und je geringer die Unterschiede zu anderen Gruppen waren. Man denke nur an die Cholerapogrome des Jahres 1892, bei denen die Menge maßgeblich Personen aus dem medizinischen Bereich nach dem Leben trachtete. Ärzte und Krankenschwestern waren jedoch für die Täter aus den Unterschichten, die sich selbst keinen Arztbesuch leisten konnten, praktisch unauffindbar, es sei denn, man begegnete ihnen bei der Versorgung eines Kranken oder an einem einschlägigen Ort, z.B. einem Krankenhaus.223 Im Falle von Personen, die der Menge »verdächtig« erschienen, kam es manchmal zu regelrechten Aushandlungsprozessen, bei denen kollektiv Indizien (auch entlastender Natur) zusammengetragen und bewertet wurden.224 Ähnliches ließ sich auch bei anderen Pogromen beobachten. Selbst bei manchen Judenpogromen begannen die Täter, Verdächtige zu fragen, ob sie denn Juden seien.225 Bei den »Intelligenzijapogromen« wurden oft in Analogie zum religiösen Bekenntnis bei Judenpogromen politische Bekenntnisse eingefordert. Symbolen des Zaren musste die Ehre erwiesen werden, manchmal wurde ein Treueeid verlangt.226 In anderen Fällen war aber auch schon ein »furchtsamer Blick oder ein Versuch, sich vor der Menge zu verbergen«, Grund genug, um auf eine Person einzuschlagen.227 Möglicherweise bezog sich diese Beobachtung auf ein schon fortgeschrittenes Stadium des Pogroms, denn dann gingen Pogromtäter häufig immer weniger sorgfältig bei der Wahl ihrer Ziele vor.228 Das ist insofern plausibel, als sie, wenn sich Polizei und Militär bereits weitgehend auf die Rolle von Zuschauern beschränkt hatten, weniger Rücksicht auf das Publikum nehmen mussten.

223 Wiese, Sluchi. 224 Man denke etwa an den erwähnten polnischen Mühlenarbeiter in Elisavetgrad. Ein eindrückliches Beispiel aus dem Kontext der Cholerapogrome von 1892: B., Iz komandirovki, S. 729–731; vgl. auch Sahadeo, Russian, S. 173. 225 Poltavskij gubernator an g. MVD, 20. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 37–39; Meir, Sword, S. 122; vgl. zu Baku: Aussage, o.D., RGIA f. 857, op. 1, d. 1477, l. 51ob. 226 Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 576; Dubnow, Neueste, S. 447; Stepanov, Cˇernaja S. 85–88; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 25. 10. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 69ob. 227 Stepanov, Cˇernaja, S. 83. 228 Brass, Introduction, S. 21–23; Weinberg, Pogrom, S. 278; Surh, Jews, S. 231.

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Im frühen Stadium eines Pogroms waren die Aushandlungsprozesse beim Identifizieren der Opfer aber nicht nur etwas, worauf die Täter angewiesen waren, sondern auch eine Chance für Angehörige der Opfergruppe. Immer wieder konnten sie durch geschicktes Agieren der Gewalt entgehen.229 Hier öffneten sich auch Spielräume für Dritte, die mit Mut und Chuzpe einzelne Menschen vor der Gewalt bewahren konnten. Einem Augenzeugenbericht aus Baku zufolge rettete etwa ein Polizeihauptmann eine Gruppe Armenier vor den Türken, die bereits ihre Waffen auf sie gerichtet hatten, mit den Worten: »Warum seht ihr denn nicht, dass das keine Armenier sind. Seht doch nur, das sind Deutsche. Schließlich sind ihre Gesichter rasiert.«230 Die Beobachtung Donald Horowitz’, dass die Täter in zweifelhaften Fällen häufiger potenzielle Opfer entkommen lassen, als jemanden fälschlicherweise (im Sinne des Feindbildes) anzugreifen, trifft auch auf die Pogrome im späten Zarenreich zu.231 Deshalb war die Erkennbarkeit der Opfer auch ein wichtiger Faktor dafür, wie viele Personen während eines Pogroms angegriffen wurden.232 Ein extremes Beispiel sind auch hier die Cholerapogrome von 1892. Obwohl sie sich im Kern gegen Ärzte richteten, verlor während der gesamten Folge von Ausschreitungen nur ein einziger Arzt das Leben. Besonders grausam war die Gewalt in der Stadt Saratov.233 Dort praktizierten immerhin 74 Ärzte, aber es gelang der viele Hundert Menschen umfassenden Menge nicht, auch nur einen einzigen von ihnen aufzugreifen, obwohl die Straßen für die Dauer eines halben Tages unter ihrer Kontrolle standen.234 Zahlreiche Todesopfer forderte nur das Cholera-

229 Exemplarisch Bakinskie izvestija, No. 27, 19. 2. 1905, S. 3. 230 Tiflisskij listok, No. 23, 11. 2. 1905, S. 1; ein anderes Beispiel: Kublju, Zˇosefin: Aussage, 13. 2. 1905, RGIA f. 857, op. 1, d. 1477, l. 87. 231 Horowitz, Deadly, S. 131. 232 Es gab selbstverständlich auch andere Faktoren, wie ihre Anzahl am Ort des Pogroms oder dessen Dauer. 233 Wiese, Sluchi; Frieden, Russian, S. 145–148; Henze, Disease, S. 79–93. 234 Die Ärzte hatten rechtzeitig von den Unruhen erfahren und die Aushängeschilder abgenommen. Damit waren sie für die Täter offenbar unauffindbar. Druckfahne eines zensierten Artikels aus Novoe vremja, 28. 6. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 41v; Saratovskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet o sostojanii Saratovskoj gubernii za 1892 god, 29. 6. 1893, RGIA f. 1284, op. 223, 1893, d. 201, l. 56ob–57ob.

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pogrom von Taˇskent, das sich nicht gegen Mediziner, sondern gegen die zentralasiatischen Bewohner der Stadt richtete – sie waren leichter zu identifizieren.235 Wo die Opfer weitgehend segregiert lebten und wo sich deshalb ihre Zugehörigkeit recht einfach am Wohnort festmachen ließ, war großflächige Gewalt mit sehr hohen Opferzahlen besonders wahrscheinlich.236 Pogrome auf dem Dorf Die Judenpogrome im Russischen Reich waren im Kern ein urbanes Phänomen.237 Es gab zwar auch in Dörfern Pogrome, aber fast immer handelte es sich um von nahen Städten inspirierte Nachahmungstaten.238 Die ländlichen Pogrome wiesen darüber hinaus eine besondere Eigenschaft auf: Fast immer war die Gewalt weniger intensiv als bei städtischen Pogromen. In den 1880er Jahren, als die Pogrome in den Städten ein Fest von Raub und Zerstörung waren, wurden in den Dörfern oft »nur« Schenken ausgeraubt und Türen und Fenster eingeschlagen. Um 1905 wurde im Dorf mehr geplündert, aber Bluttaten, die für Pogrome jener Zeit typisch waren, blieben die Ausnahme.239 Das ist umso erstaunlicher, als der Gewalt auf dem Lande noch weniger äußere Grenzen gesetzt waren. Denn wenn schon die städtische Polizei zu schwach war, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, galt das umso mehr für das Land.

235 Es gab auch weitere Cholerapogrome, bei denen viele Menschen ums Leben kamen, beim Pogrom von Juzovo nach inoffiziellen Schätzungen sogar fast 200, doch »Täter« waren in diesem Fall die Soldaten, die mit Waffengewalt dem Pogrom ein Ende setzten. Auch bei den übrigen Cholerapogromen mit Todesfällen gingen die meisten Toten auf das Konto des Militärs. Einen Überblick gibt: Wiese, Gewalt; zu Juzovo: Friedgut, Labor. 236 So z.B. 1905 in Baku, besonders nachdem das Februarpogrom einen Segregierungsschub ausgelöst hatte. Wiese, Lalaevs, S. 136; allgemein: Sargent, ArmenoTatar. 237 Berk, Year, S. 39; Dekel-Chen u.a., Introduction, S. 4–5. 238 So z.B. für das Umland von Elisavetgrad: Prokuror Elisavetgradskogo OS an Prokuror Odesskoj SP, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 304ob–305. 239 Sˇukˇsina, Cˇernosotennye, S. 63; Khiterer, October 2015, S. 795. Exemplarisch: Naˇc. Kievskogo GZˇU an DP, 26. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 85; Amanzˇ olova, Evrejskie, S. 80; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 583; Volynskij gubernator an DP, 1. 12. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 18; Naˇc. Tavriˇceskogo GZˇU an DP, 8. 11. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 21, l. 89; Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 296–297.

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Im Landkreis Zˇitomir etwa waren ganze zwanzig Polizisten (urjadniki) für 645 Siedlungen verantwortlich.240 Theoretisch sollten sie von Kräften aus der Bauernschaft selbst, etwa den Dorfältesten und Hilfspolizisten (sotskie, desatskie), unterstützt werden, doch waren diese gerade im Fall von Pogromgewalt sehr unzuverlässig.241 Typischerweise endeten ländliche Pogrome auch nicht, weil die Staatsmacht dies erzwang, sondern weil sich die Täter mit dem angerichteten Schaden begnügten.242 Hinzu kam, dass Juden auf dem Dorf keine Möglichkeit hatten, der Gewalt durch Verstellung zu entgehen. Dörfer und auch kleinere Schtetl waren Face-to-Face-Gesellschaften.243 Jedermann wusste, wie die örtlichen Juden aussahen und wo sie lebten.244 Deshalb waren die Angehörigen der Opfergruppe auf dem Land oft anteilig mehr von Pogromgewalt betroffen, aber eben auch in geringerer Intensität. Vielleicht hilft ein Blick auf eine Ausnahme dabei zu verstehen, warum das so war. Eines der blutigsten ländlichen Judenpogrome fand 1905 im Schtetl Trojanov nahe Zˇitomir statt, einer Ortschaft mit etwa 7000 Einwohnern, von denen 20 Prozent Juden waren.245 Zehn Juden

240 Pamjatnaja, S. 83. 241 Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 43; Naˇc. Kievskogo GZˇU an MVD, Telegramm, 30. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 83–83ob; Elisavetgradskij vestnik, No. 55, 24. 5. 1881, S. 3; unbekannter Autor an Direktor DP, 28. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 101–102ob; Stepanov, Cˇernaja, S. 109; Elisavetgradskij uezdnyj ispravnik an Chersonskij gubernator, 10. 6. 1881, RGIA f. 821, op. 9, d. 125, l. 349–352ob. 242 Klier, Christians, S. 160. 243 Vielleicht überrascht die Zuordnung der Schtetl zum ländlichen Raum. Tatsächlich wiesen die meisten Schtetl Merkmale sowohl einer Stadt als auch eines Dorfes auf. Zum Teil lag gerade darin ihre Besonderheit. Eine eindeutige Zuordnung ist auch deshalb unmöglich, weil die administrative Bezeichnung mesteˇcko sehr unterschiedliche Ortschaften bezeichnen konnte. Zumindest für die kleineren lässt sich aber sagen, dass die dortigen Pogrome denen in Dörfern glichen. PetrovskyShtern, Golden; Klier, What, S. 24. 244 Streng genommen stellt sich dabei die Frage, inwiefern sie überhaupt als »Kollektiv« angegriffen wurden und ob man es in der Terminologie von Senechal de la Roche nicht eher mit »Lynching« zu tun hat. Senechal de la Roche, Collective. 245 Vgl. den Artikel zu Trojanov in: Evrejskaja enciklopedija. Andere Angaben sprechen von etwas über 5000 Einwohnern. Vgl. den Artikel zu Trojanov in: E˙nciklopediˇceskij slovar’.

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wurden dort ermordet, das Pogrom stand in direktem Zusammenhang mit demjenigen in Zˇitomir und erregte wegen seiner für damalige Verhältnisse hohen Opferzahl viel Aufsehen. Auch in Trojanov war schon einige Zeit davor ein Pogrom erwartet worden. Als dann zwei Pferdewagen mit insgesamt vierzehn Juden in dem Schtetl haltmachten und die Bauern erfuhren, dass sie bewaffnet waren, begannen sie, die Männer zu jagen und zu erschlagen. Alle zehn Todesopfer und vier von sechs verletzten Juden gehörten zur Gruppe der Auswärtigen. Die einheimischen Juden hingegen kamen vergleichsweise glimpflich davon. 21 ihrer Häuser wurden von außen beschädigt, einige zudem geplündert.246 Oft wurden sie deshalb attackiert, weil sie den auswärtigen Juden Unterschlupf gewährt hatten.247 Die Täter in Trojanov unterschieden sehr genau zwischen »ihren« und den anderen Juden. Liegt darin, dass die »christlichen« Bewohner eines Dorfes oder Schtetls die örtlichen Juden als »ihre« betrachteten, möglicherweise der Schlüssel zum besonderen Charakter der ländlichen Pogromgewalt?248 Auf dem Land waren die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden meist sehr eng. Häufig gab es zu jüdischen Wirtshäusern und Krämerläden einfach keine Alternative. Juden hatten in den alltäglichen Interaktionen zunächst die größere Macht, aber sie wussten, dass die Bauern ihre Methoden hatten, um Verstöße gegen die moral economy zu ahnden, ohne eine Strafe fürchten zu müssen.249 Juden und Nichtjuden hatten erkannt, dass sie aufeinander angewiesen waren, und deshalb arrangierte man sich. Wenn Pogrome anderenorts eine Gelegenheit für Nachahmungstaten auf dem Land schufen, blieben diese doch meist im Rahmen der bäuerlichen »Volksjustiz«, genau genommen jener Variante, in der es nicht um Vergehen von Fremden ging, die oft mit großer Brutalität geahndet wurden, sondern jener, die darauf zielte, Mitgliedern des Dorfes einen »Denkzettel« zu verpassen. Typische Praktiken dieses zweiten Typs waren »Katzenmusik«, das Zerschlagen von Fensterschei-

246 Volynskij gubernator an DP, 19. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 92ob; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 14ob; Protokolle zum Pogrom von Trojanov, o.D., CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 71. 247 Ebd., l. 15ob. 248 Klier, Russians, S. 77. 249 Frierson, Russia; Polonsky, Jews, S. 197.

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ben und der Verzehr von Schnaps auf Kosten der Delinquenten.250 Diese Elemente (wenn auch nicht alle Teile des bäuerlichen Strafrituals) fanden sich in den ländlichen Pogromen wieder.251 Damit erkannten die Täter an, dass die einheimischen Juden, trotz aller Unterschiede und Ressentiments, auf eine gewisse Art zu ihrer Gemeinschaft gehörten. Mit Roberta Senechal de la Roche könnte man sagen, dass viele Bedingungen für kollektive Gewalt gegeben waren, insbesondere auch kulturelle Distanz, dass jedoch die enge funktionale Verflechtung zwischen Juden und Bauern die Gewalt wirksam einhegte.252 Es sei denn, andere, fremde Juden kamen ins Spiel, wie es in Trojanov geschehen war.253 Und es gab noch eine Ausnahme. Die Gewalt im Dorf und im kleineren Schtetl war nur so lange begrenzt, wie sie auch von der lokalen Bevölkerung verübt wurde. Kam sie von außen, beschützten die örtlichen »Christen« manchmal sogar die Juden vor den Angreifern.254 Wenn es sich bei den Tätern um marodierende Banden (wie im Kaukasus 1905) oder militärische Truppenteile (wie bei den Judenpogromen im Ersten Weltkrieg und dann im Bürgerkrieg) handelte, so war die Gewalt nicht weniger brutal als anderswo – und ihr war noch schwerer zu entkommen, weil die Anonymität fehlte, die in Städten vereinzelt Schutz bieten konnte.255 Streng genommen waren das aber eher Massaker als Pogrome.

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Frank, Popular, S. 246–248; ders., Crime; Frierson, Crime, S. 55–66. Z.B. Amanˇzolova, Evrejskie, S. 82–83. Senechal de la Roche, Collective, S. 106. Klier, Christians, S. 166. Stepanov, Cˇernaja, S. 92; vgl. zu Galizien, wo die Beschützer offenbar vor allem ihr »Anrecht« verteidigten, die örtlichen Juden selbst auszurauben: Buchen, Antisemitismus, S. 187. 255 Zum Kaukasus: Baberowski, Feind, S. 79–80; Golovkov, Bunt, S. 363 f.; Swietochowski, Russia, S. 38–41.

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2 Gewalt als Epidemie

Kaum hatte das Pogrom von Elisavetgrad ein Ende gefunden, begannen ähnliche Gewalttätigkeiten in den nahe liegenden Dörfern und Städten. Schließlich erfassten sie weite Teile des südlichen Ansiedlungsrayons. Es war die erste »Welle« von Pogromen im Russischen Reich, eine Folge von etwa 260 Einzelereignissen in den Jahren 1881 und 1882.1 Warum das so war und wie sich die Zeitgenossen das erklärten, ist Gegenstand dieses Kapitels. Als Material bieten sich allerdings die großen Pogromwellen mit jeweils Dutzenden Einzelereignissen nicht an, denn Wirkungen und Wechselwirkungen lassen sich dort nur schwer identifizieren.2 Deshalb geht es hier um die Choleraunruhen von 1892, die in ihrer Zahl überschaubar waren, gleichwohl aber bedeutend genug, um eine Spur in der Geschichte Russlands zu hinterlassen.3

Russland und die Cholera Jede Zeit hat ihre Seuchen. So war die Cholera lange Zeit nur im mittleren Orient aufgetreten, bis im frühen 19. Jahrhundert die interkontinentalen Verflechtungen so dicht geworden waren, dass sie zur weltweiten Pandemie heranwuchs.4 Im Russischen Reich tauchte die Cholera erstmals 1823 auf, erreichte die Stadt Astrachan’ an der Wolgamündung, drang aber nicht weiter ins Landesinnere vor. Es folgten Ausbrüche in den Jahren 1829 bis 1837, 1847 bis 1861 und 1865 bis 1873, wobei die Krankheit vielfach nur regional auftrat und die Opferzahlen nur zeitweise hoch

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Innerhalb dieses Zeitraums lassen sich drei untergeordnete Wellen identifizieren, die jeweils etwa eine Woche dauerten. Klier, Russians, S. xxii–xxiii. Vgl. Lambroza, Pogrom, S. 140. In der Historiografie wurden sie bisher allerdings meist unter dem Gesichtspunkt des Gesundheits- und Sanitätswesens behandelt, nicht als Teil der Geschichte kollektiver Gewalt. Frieden, Russian 1977; Frieden, Russian 1981; Henze, Disease. Eine Ausnahme bilden Bensidoun, A propos, sowie Friedgut, Labor. Vasold, Grippe; Evans, Epidemics, S. 124.

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waren.5 Während der ersten Epidemie landesweiten Ausmaßes, derjenigen von 1829 bis 1837, kam es zu Unruhen in Sankt Petersburg, Sevastopol’, in den Militärkolonien um Staraja Russa und in geringerem Maße auch in Moskau und Tambov, insgesamt gab es etwa 200 Tote.6 Überall richtete sich die Gewalt vor allem gegen Personen, deren Aufgabe es war, die Krankheit zu bekämpfen, also gegen Ärzte, aber auch gegen Polizisten und Soldaten, die beispielsweise Kranke transportierten oder Isolationsmaßnahmen durchsetzten. Das lag daran, dass die Maßnahmen gegen die Cholera dem Großteil der Bevölkerung ebenso unverständlich und bedrohlich schienen wie die Seuche selbst – ein Umstand, der auch bei den Unruhen des Jahres 1892 von Bedeutung war. Nach der Gewalt der 1830er Jahre kamen und gingen die Cholerajahre. Sie fielen verheerend aus wie 1848, als eine Million an Todesfällen registriert wurde, oder so schwach, dass umstritten ist, ob man überhaupt von einer Epidemie sprechen sollte. Doch es gab keine weiteren Unruhen, vielmehr verlegten sich die Untertanen auf weniger direkte Formen des Widerstands. Kranke und Angehörige ignorierten oder umgingen, was man von ihnen verlangte.7 In vielen europäischen Ländern hatte es in den 1830er Jahren Choleraunruhen gegeben, die danach nicht wiedergekehrt waren.8 Es schien, als füge sich Russland in eine allgemeine Fortschrittsgeschichte ein. Dann kam das Jahr 1892. Schon seit einigen Jahren war bekannt, dass die Krankheit wieder in Persien grassierte, sodass eine Ausbreitung ins Russische Reich über das Kaspische Meer zu erwarten war. Das bedeutete nicht nur eine Bedrohung für das Leben der Bevölkerung. Es ging auch um Russlands Ansehen unter den europäischen Mächten, denn die Cholera galt als Inbegriff des Asiatischen und damit der Rückständigkeit.9 Wäre Russland nicht nur selbst befallen worden, sondern zudem (wie

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Die genauen Jahreszahlen sind umstritten, hier sind sie aber auch nicht weiter relevant. Vgl. Faddeeva, Cholera; Patterson, Cholera; McGrew, Russia, S. 3–5. McGrew, Russia, S. 50–112; zu den Ereignissen in Sankt Petersburg: Mörters, Hurra; zu Tambov: Pavlovskaja, Cholernye, S. 55. Zu Fällen von Nichtbefolgung der Vorschriften in den Jahren 1848 und 1871: Giljarovskij, Moi, S. 44; Patterson, Cholera, S. 1174. Kudlick, Cholera; Dettke, Asiatische; Briese, Angst, S. 168 f.; Evans, Epidemics, S. 131. Sahadeo, Epidemic, S. 121.

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bereits in den Jahren 1826 bis 1837 und 1841 bis 1859) zum »Überträger« der Krankheit auf ihrem Weg nach West- und Mitteleuropa geworden, so wäre dies ein weiteres Argument für jene gewesen, die dem Land einen niedrigen Platz in der imaginierten Hierarchie der Staaten und Zivilisationen zuweisen wollten.10 Es gab also einige Notwendigkeiten, die Krankheit zu besiegen. Aber es schien auch machbar, denn zugleich feierte die medizinische Wissenschaft Triumphe. Robert Koch und Louis Pasteur hatten die Bakteriologie begründet, die ein gänzlich neues Verständnis vieler Krankheiten, auch der Cholera, ermöglichte – Wissen, das russische Ärzte sehr bald in ihre Heimat brachten. Den Anhängern der älteren, Krankheiten wie die Cholera auf »miasmatische« Bodendämpfe zurückführenden Theorie machten sie recht erfolgreich Konkurrenz.11 Es gab Grund zur Hoffnung, dass die Wissenschaft über die Epidemie triumphieren würde, vorausgesetzt, man ergriff die richtigen Maßnahmen und setzte sie mit Entschiedenheit durch. Zuerst wollten die Verantwortlichen verhindern, dass die Krankheit überhaupt ins Russische Reich vordrang. Zu diesem Ziel waren bereits 1899, als die Cholera das nordpersische Täbris erreicht hatte, die Grenzposten verstärkt und mit Desinfektionseinrichtungen versehen worden. Zusätzliches Militär, Ärzte und Feldschere wurden an die Grenze verlegt. An die Gouverneure der grenznahen Gebiete erging die Weisung, Kranke umgehend zu isolieren.12 Tatsächlich blieb das Russische Reich für zwei Jahre frei von der Cholera. Ob das allerdings eine Folge der getroffenen Maßnahmen war, erscheint angesichts der folgenden Ereignisse zweifelhaft, denn dieselben Vorkehrungen erwiesen sich im Mai und Juni 1892 als unzureichend. Die Epidemie kannte keine staatlichen Grenzen. Nach dem ersten Fall von Cholera im Reich, am nahe der persischen Grenze gelegenen Bahnhof Kaachka Mitte Mai 1892 breitete sie

10 So z.B. in der britischen Presse: McGrew, Russia, S. 10; dass es so tatsächlich kam, zeigt beispielsweise das Titelbild der Zeitschrift Le Petit Journal vom 6. 8. 1892, das die Unruhen von Astrachan’ als Tat exotisch-archaischer Männer darstellte, deren Trachten wohl altrussisch und orientalisch wirken sollten. 11 Zu den Anfängen der Bakteriologie in Russland und den Auseinandersetzungen innerhalb der Ärzteschaft, die bei dem landesweiten Kongress der Ärztevereinigung, der »Pirogov-Gesellschaft«, von 1887 kulminierten, siehe Hutchinson, Tsarist, S. 422–428; Trudy, S. 669–672. 12 Henze, Disease, S. 114.

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sich entlang der Eisenbahnlinie nach Osten (Samarkand 31. Mai, Taˇskent 11. Juni) und nach Westen bis zur Hafenstadt Uzun Ada (25. Mai) aus.13 Binnen weniger Tage erreichte die Cholera auch Baku am gegenüberliegenden Ufer des Kaspischen Meeres (6. Juni), von wo sie auf dem Landweg nach Westen bis zur Schwarzmeerküste und von dort nach Südrussland gelangte. Zugleich breitete sich die Krankheit von Baku in nördlicher Richtung mit Schiffspassagieren nach Astrachan’(17. Juni) aus. Die an der Wolgamündung gelegene Stadt wurde zum Einfallstor der Cholera ins russische Kernland. Entlang des Flusses wurden in kurzer Zeit erst die Großstädte, dann kleinere Ortschaften infiziert, auch wenn Letztere näher am ursprünglichen Infektionsherd lagen.14 Bis Ende Juli 1892 waren alle zentralrussischen Gouvernements und im August fast das gesamte Reich von der Cholera erfasst. Nur im Norden und Westen blieben einige Gouvernements cholerafrei. Die Hoffnungen der Ärzte und Beamten, die Krankheit fernhalten zu können, erwiesen sich als trügerisch. Sie hatten auf den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt vertraut, ohne zu erkennen, dass auch die Cholera von ihm profitierte. Entscheidend waren die schnelleren und dichteren Verkehrsverbindungen. Das zeigt ein Vergleich mit der Epidemie Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch damals war die Cholera die Wolga hinaufgewandert und hatte, um ein Beispiel zu nennen, anderthalb Monate benötigt, um die gut 1000 km von Astrachan’ bis Kazan’ zurückzulegen. Nun genügten für dieselbe Strecke acht Tage.15 Eine solche Dynamik wäre vielleicht theoretisch durch Kontrollen und Quarantäne einzudämmen gewesen, doch dafür fehlten die notwendigen Ressourcen. Spätestens, als auf einer Quarantänestation im Meer vor der Wolgamündung bis zu 3000 Menschen festgehalten wurden, ohne dass für Ernährung oder medizinische Hilfe gesorgt war, und das, obwohl die Cholera bereits hinter dem Bollwerk, in Astrachan’, angelangt war, erkannten das auch die Verantwortlichen in Sankt Petersburg, und die Blockade von Verkehrswegen wurde fallen gelassen.16 Um Russlands Städte

13 Zum zeitlichen Ablauf der Epidemie: Clemow, Cholera; Vladykin, Materialy. 14 Z.B. Caricyn, von wo der erste Fall von Cholera vier Tage nach dem Ausbruch in Saratov gemeldet wurde. Clemow, Cholera, S. 35. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 70, Saratovskij dnevnik, No. 134, 26. 6. 1892, S. 3; Korolenko, Cholernyj; Arustamov, Cholera, S. 659.

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und Dörfer zu schützen, bedurfte es anderer Methoden. Doch auch für sie galt, was sich bereits auf der Quarantänestation gezeigt hatte: Die Rücksichtslosigkeit, mit der Vorschriften durchgesetzt wurden, stand oft nicht im Verhältnis zu ihrem Ertrag.

Pogrome an der Wolga Das unverhältnismäßige Vorgehen zeigte sich bald in Astrachan’, wo die weitergehenden Choleramaßnahmen erstmals auf die Probe gestellt wurden. Dass dies ausgerechnet an diesem Ort geschah, war insofern unglücklich, als die Stadt weder für Sauberkeit noch für eine leicht zu kontrollierende Bevölkerung bekannt war. Reisende beschrieben die Straßen als schmutzig und stickig, die meisten Einwohner bezogen ihr Trinkwasser direkt aus der Wolga, weil das Wasserwerk nicht funktionierte.17 Hinzu kam, dass die Stadt 1892 noch mehr Wanderarbeiter anzog als üblich. Doch weil der Fischfang, das Hauptgewerbe der Stadt, in diesem Jahr besonders schwach ausfiel, verteilten sich die Massen nicht wie üblich auf den auswärts gelegenen Fischereibetrieben, sondern hielten sich oft ohne Beschäftigung und Unterkunft in der Stadt auf.18 Unter solchen Bedingungen machte man sich in Astrachan’ daran, die vom Innenministerium vorgeschriebenen »Choleramaßnahmen« umzusetzen.19 Den Vorschriften gemäß wurde eine Baracke für die Cholerakranken errichtet und medizinisches Personal angeworben, die Stadt wurde in »Hygiene-Bezirke« aufgeteilt, in denen eigens ernannte Kommissionen dafür sorgen sollten, dass Höfe und Straßen gereinigt wurden. Doch schon beim Abtransport des Unrats waren die Grenzen des Umsetzbaren erreicht – möglicherweise auch deshalb, weil der Betreiber der lokalen privaten Müllabfuhr zugleich einen wichtigen Posten in der Stadtverwal-

17 Z.B. Turbin/Pavloviˇc, Volga, S. 86–94; Clemow, Cholera, S. 61; Frieden, Russian, S. 153. 18 Für einen besonders starken Zustrom von Arbeitern sorgten die Hungersnot von 1891 und eine Krise der vor allem in Baku konzentrierten Ölindustrie. Astrachanskij gubernator an MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 91–92; Robbins, Famine. 19 Es handelt sich um die Vorschriften des Medizinischen Rates des Innenministeriums vom 3. 6. 1892.

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tung innehatte und so verhindern konnte, dass die Stadt ein öffentliches Konkurrenzunternehmen einrichtete.20 Im Nachhinein sollte sich aber eine andere Entscheidung der Stadtväter als gravierender herausstellen. Vor die Aufgabe gestellt, den Transport der Cholerakranken und -toten so zu gewährleisten, dass auf dem Weg keine weitere Ansteckung drohte, ließ die Verwaltung große Kästen auf Fuhrwerke montieren, schwarz streichen und mit dem Schriftzug »Cholera« versehen. Das Ergebnis erinnerte die Zeitgenossen an die Wagen der Hundefänger oder der Müllabfuhr.21 Zudem sollten Cholerakranke in einer eigens zu errichtenden Baracke isoliert werden. Detaillierte Vorschriften regelten den Umgang mit den Leichnamen der Toten. War es sonst üblich und sogar gesetzlich vorgeschrieben, die Bestattung frühestens drei Tage nach Eintritt des Todes vorzunehmen, so mussten Opfer der Cholera umgehend, spätestens jedoch 24 Stunden nachdem sie gestorben waren, bestattet werden, und zwar auf einem gesonderten Friedhof. Zuvor mussten sie mit Desinfektionsmitteln bestreut und in einen fest zu vernagelnden Sarg gelegt werden. Abschiedsrituale wie Aussegnung, Leichenzug und Totenmahl hatten zu entfallen. Die Kleidung und sonstige Habe der Toten musste desinfiziert oder, besser, verbrannt werden.22 Die Cholera brach am 17. Juni in Astrachan’ aus, forderte aber zunächst wenige Opfer: In den ersten vier Tagen wurde sie nur bei 25 Personen diagnostiziert. Der Gouverneur Nikolaj N. Tevjaˇsev hoffte bereits, die Präventionsmaßnahmen könnten sich als Erfolg erweisen, während es in der Bevölkerung rumorte, die Cholera sei ein Hirngespinst und die

20 Diese Darstellung ist der Rechtfertigungsschrift des Astrachaner Gouverneurs entnommen, der alle Defizite bei den Choleramaßnahmen auf den fehlenden Gemeinsinn der Stadtduma und der städtischen Ämter zurückführen wollte. Ähnliches berichtete allerdings auch die Saratover Tagespresse. Saratovskij dnevnik, No. 123, 13. 6. 1892, S. 2. 21 Korolenko, Cholernyj, S. 60; Astrachanskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet o sostojanii Astrachanskoj gubernii za 1892 god, Kopie o.D., RGIA f. 1282, op. 223, d. 166, l. 9ob; Russkoe bogatstvo, No. 7, 1892, S. 61; Saratovskij dnevnik, No. 136, 28. 6. 1892, S. 3. Ähnlich war es übrigens schon bei der Choleraepidemie von 1830–1831: McGrew, Russia, S. 109. 22 Arme sollten für den Verlust der verbrannten Gegenstände entschädigt werden. Protivocholernye, S. 16–17.

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Vorkehrungen nur eine kostspielige Schikane der Behörden.23 Deshalb sahen viele Einwohner auch nicht ein, warum die Kranken zwangsweise in ein Hospital überführt werden sollten, und bereits am 20. Juni gab es den ersten Fall von gewaltsamem Protest: Eine Menschenmenge verhinderte, dass eine erkrankte Stadtbürgerin gegen ihren Willen abtransportiert wurde, bedrohte einen Arzt und verprügelte einen Polizisten, ohne dass jemand dafür belangt worden wäre.24 Ermutigt durch diesen Erfolg, kam am Morgen des folgenden Tages abermals eine Menschenmenge zusammen. Frauen und Kinder liefen pfeifend und Steine werfend hinter den Cholerawagen her. Wieder wurden Kranke vor dem Abtransport »bewahrt«. Wagen wurden zerschlagen und in Brand gesteckt. Die Menge zog zur Baustelle der Cholerabaracke und vertrieb die Zimmerleute, schließlich drang sie in das für Cholerakranke vorgesehene Hospital ein, zerschlug die Einrichtung und legte Feuer. Die Zerstörung nahm immer bedrohlichere Formen an. Auch die Gewalt gegen Personen wuchs. Anfangs waren Drohungen häufiger als Schläge und es gab keine tödlichen Angriffe. Möglicherweise hatte das damit zu tun, dass die Täter nicht in der Lage waren, »legitime« Opfer zu identifizieren. Unter Verdacht gerieten »alle sauber gekleideten Leute«, tatsächlich angegriffen wurden nur wenige.25 Erst am Cholerakrankenhaus glaubten sich die Täter sicherer, schlugen auf mehrere Pfleger, drei Ärzte und zwei Journalisten ein. Ein Feldscher wurde gar zu Tode geprügelt. Dies alles geschah in Anwesenheit des örtlichen Gouverneurs, des Staatsanwalts, der Feuerwehr (die von der Menge am Löschen gehindert wurde) sowie eines Trupps Kosaken. Auch in Astrachan’ wurde die Staatsmacht bei den Gewaltaktionen zum Zuschauer. Bei Einbruch der Dunkelheit zerstreute sich die Menge, und nur sporadisch wurden Gewalttaten geringeren Umfangs verübt. Doch alle Beteiligten wussten, dass das Ende noch nicht erreicht war. Allerdings stan-

23 Astrachanskij gubernator an MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 94–94ob. In der Tat waren schwere Magen-Darm-Erkrankungen in Astrachan’ an der Tagesordnung. Sie waren auch ohne Choleraepidemie für ein Drittel der Todesfälle verantwortlich. Clemow, Cholera, S. 61. 24 Astrachanskij gubernator an MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 95. 25 Saratovskij listok, No. 137, 1. 7. 1892, S. 2. Vgl. zu den Unruhen von 1831 in Sankt Petersburg Mörters, Hurra, S. 416.

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den die Täter am nächsten Morgen vor dem Problem, dass alle deutlich erkennbaren medizinischen Institutionen bereits zerstört waren. Deshalb richteten sich die ersten Gewalttaten des neuen Tages gegen den Leichnam des zuvor ermordeten Feldschers. Er wurde an das Ufer der Wolga geschleppt, mit Desinfektionsmitteln und Kerosin übergossen und angezündet.26 Darüber hinaus richteten sich die Unruhen nicht mehr gegen die Institutionen der Medizin, sondern gegen die Obrigkeit insgesamt. Eine große Menschenmenge versammelte sich vor dem von Soldaten geschützten Haus des Gouverneurs. Dort rächte sich das zurückhaltende Vorgehen der Behörden vom Vortag. Denn weil die Gewalt am Krankenhaus von den Kosaken in Anwesenheit des Gouverneurs toleriert worden war, glaubte sich die Masse sicher und machte kein Geheimnis aus ihrer »Überzeugung, dass man kein Recht habe, auf sie zu schießen«.27 Zuerst artikulierte sie ihren Protest mit Worten, doch bald gab es einen regelrechten Steinhagel auf die Residenz. Angeblich wurde aus der Menge auch geschossen – bis der Gouverneur seinerseits den Schießbefehl erteilte. Zwei Salven kosteten elf Menschen das Leben, zwei weitere Personen wurden schwer verletzt, alle übrigen flohen. Nun flößten die Militärpatrouillen der Bevölkerung wieder Respekt ein. Das Pogrom war zu Ende. Danach kamen die Fragen. Warum misstrauten so viele Menschen den Institutionen der Medizin? Warum waren sie zu grausamer Gewalt bereit? Warum hatte sich der Protest schließlich gegen den Gouverneur gewandt? Es scheint, dass hier Richard Evans’ Vermutung zutrifft, der zufolge es weniger die Cholera war, die Unruhen auslöste, als die gegen sie ergriffenen Maßnahmen.28 Die Krankheit wurde gefürchtet und stellte soziale Beziehungen auf die Probe. Dennoch gab es an den Orten, wo die Cholera die meisten Opfer forderte, etwa in Baku und im Dagestaner Gebiet keine Gewalt, obwohl, aber vielleicht auch gerade weil die Bevölkerung dort mit der Bewältigung der Krankheit alleingelassen

26 Astrachanskij gubernator an MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 100. 27 Ebd., l. 99ob–100. Der Gouverneur rechtfertigte sein Zögern beim Einsatz von Gewalt damit, dass Frauen und Kinder unter den Opfern sein würden. Die Staatselite in Petersburg war entsetzt. Filipov, Tagebuch 1892, RGIA f. 728, op. 1, d. 1, l. 26–26ob. 28 Evans, Epidemics, S. 136.

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war – es gab dort praktisch keine Choleramaßnahmen.29 Die traditionellen Kulturen der Völker Russlands kannten Krankheit und Tod und wussten damit umzugehen, selbst wenn das Sterben außeralltägliche Dimensionen annahm.30 Unverständlich und empörend war es jedoch für viele Menschen, wenn Kranke ohne ihre Zustimmung und in erniedrigender Weise in die Krankenhäuser eingewiesen wurden – zumal sie diese nur sehr selten lebendig wieder verließen. Die bahnbrechenden Erkenntnisse über die bakterielle Natur der Cholera schlugen sich nämlich – bis zur Entdeckung der Antibiotika – nicht in größeren Heilungschancen nieder.31 Zudem wurden mit den Vorschriften zur Bestattung der Choleratoten gleich mehrfach kulturelle Tabus gebrochen.32 Und schließlich war der Gedanke der präventiven Maßnahmen vielen rätselhaft. Wenn beispielsweise zuerst Brunnen und Wasserläufe inspiziert wurden und danach die Cholera ausbrach, so hielten viele Ersteres für die Ursache des Seuchenausbruchs.33 Deshalb kam in Astrachan’ ein Gerücht auf, das zum dominanten Deutungsschema der Unterschichten werden sollte und das sich fast überall, wo Unruhen stattfanden oder auch nur auszubrechen drohten, verbreitete: Die Cholera war gar keine ansteckende Krankheit, in Wahrheit starben die Menschen an Gift, das Ärzte ihnen böswillig verabreichten. In insgesamt 26 Gouvernements ist diese Auffassung dokumentiert.34 Hinzu kam in zwölf von ihnen das Gerücht, die Ärzte ließen ihre Patienten lebendig begraben. In der Tat fiel es den Medizinern jener Zeit oft schwer zu bestimmen, ob ein Cholerakranker noch lebte, denn einer-

29 Telegramm aus Baku, 25. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 153; S’’ezd vracˇ ej, S. 3–4; Bakinskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet za 1892 g., RGIA f. 1282, op. 223, d. 153, l. 86–86ob. 30 Merridale, Steinerne. 31 Vgl. dazu Wiese, Gewalt. 32 Zu den traditionellen Bestattungsriten und den Gefahren für das Seelenheil des Toten, wenn man von Ersteren abwich: Merridale, Steinerne, S. 56–59; zu den sonst geltenden Vorschriften zur Bestattung: Instrukcija, S. 303–349. 33 Z.B. Prokuror Tambovskogo OS an Prokuror Saratovskoj SP, Kopie, 20. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 57ob. 34 Summarisch sei hier auf verschiedene Dokumente in GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, cˇ . 1–8 sowie auf weitere in diesem Kapitel zitierten Quellen verwiesen. In den 1830er Jahren waren ähnliche Gerüchte in Europa weit verbreitet. Evans, Epidemics, S. 131.

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seits waren die Lebenszeichen bei fortgeschrittener Erkrankung schwach, andererseits musste nach dem Tod mit Muskelzuckungen gerechnet werden. Deshalb wurden wohl »bei keiner anderen Krankheit […] so häufig Lebende begraben«, wie in einer zeitgenössischen Aufklärungsbroschüre zu lesen war.35 Für die Pogromtäter von Astrachan’ und anderswo dürfte das aber weniger wichtig gewesen sein als der Umstand, dass in ihrer Vorstellung die Eingriffe in die Bestattungsriten das Seelenheil der Toten gefährdeten. Und wer nach dem Tod keinen Frieden fand, bedrohte das Wohlergehen der ganzen Gemeinschaft.36 Im Angesicht der Cholera ergriffen Tausende Menschen aus Astrachan’ die Flucht, und für fast alle bedeutete das, einen Wolgadampfer zu besteigen und sich auf den Weg in den noch sicheren Norden zu machen. So erreichten auch Täter und Augenzeugen der Gewalttaten von Astrachan’ in kurzer Zeit die nächstgelegene Gouvernementshauptstadt Saratov.37 Auch dort hatten die Choleramaßnahmen einen Ausbruch der Krankheit nicht verhindern können. Und am 28. Juni, sechs Tage nach Ende der Unruhen in Astrachan’, versammelte sich auch dort eine Menschenmenge, die zum Cholerahospital, zum städtischen Krankenhaus und zu einer Polizeiwache zog, die Gebäude verwüstete, ausraubte oder in Brand steckte und auf dem Weg drei Menschen, die sie irrtümlich für Mediziner oder deren Helfer hielt, erschlug. Weitere Personen wurden bedroht und verprügelt, einige Cholerawagen vernichtet. Allerdings wurde in Saratov noch am selben Tag der Schießbefehl erteilt, sodass die Unruhen nicht länger als einen Tag dauerten.38 Es war Gewalt nach dem Modell von Astrachan’. Allerdings hatte dieses Modell nicht nur die Täter

35 Vysockij, Cholera, S. 12; nachdem die Broschüre in Teilen der Bevölkerung als Bestätigung der Choleragerüchte gelesen worden war, erschien im Mitteilungsblatt der Regierung ein Dementi, das auch in der Fachpresse übernommen wurde: Vraˇc, No. 30, 23. 7. 1892, S. 762; Naˇc. Kazanskogo GZˇU an DP, 16. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 46. 36 Löwenstimm, Aberglaube, S. 95–101. 37 Als die Polizei einige der Täter der Saratover Unruhen durchsuchte, kamen Gegenstände zum Vorschein, die bei den Unruhen von Astrachan’ gestohlen worden waren. Saratovskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet o sostojanii Saratovskoj gubernii za 1892 god, 29. 6. 1893, RGIA f. 1284, op. 223, 1893, d. 201, l. 11ob–13. 38 Zu den Ereignissen: Prokuror Saratovskoj SP, Bericht über die Unruhen in Saratov, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 90–91ob; Saratovskij gubernator an g. MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 65ob–67; Wiese, Sluchi.

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ermutigt, sondern auch den Ärzten als Warnung gedient und dem örtlichen Gouverneur als Mahnung, die Unruhen unverzüglich zu unterbinden. Wenngleich die Gewalt in Saratov relativ rasch beendet worden war, breitete sie sich doch weiter aus, zunächst im Umland. Noch am Nachmittag des 28. Juni kamen zwei Bauern, die den Ereignissen in Saratov beigewohnt hatten, zurück in ihren unweit gelegenen Heimatort Podmonastyrskaja sloboda. Sogleich berichteten sie vom dortigen »Aufstand«, davon, dass dort Lebende aus Särgen befreit und dass Polizisten und Ärzte erschlagen worden seien. Eine Menschenmenge versammelte sich, hörte aufmerksam zu und zog auf Vorschlag der beiden Bauern zur Wohnung des Dorfpolizisten und des örtlichen Feldschers. Die Sache verlief glimpflich, weil Leute aus dem Dorf den beiden zur Flucht verhalfen. Der materielle Schaden beschränkte sich auf die Habe des Feldschers, die von den Angreifern verbrannt wurde – nicht ohne dass sie zuvor zweifelhafte Substanzen den Hunden vorgeworfen hätten, um zu überprüfen, ob es sich nicht um Gift handle. Nachdem alles medizinische und Polizeipersonal vertrieben war, endeten die Unruhen von selbst. Als später ein Polizist höheren Dienstranges in das Dorf kam, wurde er sogleich von Bauern umstellt. Sie drohten, jeden Feldscher oder Polizisten zu erschlagen, sobald er die Ortschaft betrete, und allem Anschein nach entsprach die Staatsmacht ihren Forderungen zumindest für eine gewisse Zeit. Es gab keine weitere Gewalt.39 Eine weitere Ortschaft, Pokrovskaja sloboda, war von Saratov nur durch die Wolga getrennt. Deshalb verbreitete sich dort mit jedem Boot, das über den Fluss kam, die Nachricht von den Unruhen. Es hieß, in Saratov seien Ärzte und Feldschere erschlagen, Krankenhäuser und Apotheken dem Erdboden gleichgemacht worden, denn die Ärzte vergifteten im Auftrag der Obrigkeit das »Volk«.40 Seit dem Morgen des 29. Juni sammelten sich die Menschen auf dem Marktplatz, diskutierten über die Cholera und die Gewalt in ihrer Nachbarstadt; Drohungen gegen Ärzte

39 Prokuror Saratovskoj SP, Adressat unbekannt, Telegramm, Kopie, 6. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 78; Prokuror Saratovskoj SP, Zapiska über Unruhen in Podgorodnaja Monastyrskaja slobodka, Saratovsk. u., 25. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 127–128ob. 40 B., Iz komandirovki, S. 725; Zapiska über Unruhen in Pokrovskaja sloboda 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 131–131ob.

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und Polizisten wurden laut, nachdem es hieß, auch vor Ort sei ein Treidler von einem Feldscher vergiftet worden.41 Ein vorüberfahrender Cholerawagen lieferte schließlich den Anlass, mit der Gewalt zu beginnen. Der Wagen sowie die Einrichtung des Hospitals und der Wohnung eines Feldschers wurden zerschlagen und teils geplündert. Ein Arzt konnte fliehen, während die Menge versuchte, einen Feldscher mit Gewalt zu einem Geständnis zu zwingen. Gegen Mitternacht endete der Aufruhr, ohne dass die Behörden eingeschritten wären. Am folgenden Morgen kam abermals eine Menschenmenge auf dem Marktplatz zusammen, doch sie konnte sich nicht zu weiterem Handeln entschließen. Einige Wanderarbeiter, die frisch aus Saratov angekommen waren und dort vermutlich Gefallen an der Gewalt gefunden hatten, riefen dazu auf, sich nun den »Häusern der Reichen« zuzuwenden, blieben aber ohne Unterstützung.42 Auch hier endete die Gewalt, weil die Täter nicht wussten, gegen wen sie sie noch richten sollten. Am selben Tag wurde knapp 200 km die Wolga aufwärts, in der Kreisstadt Chvalynsk, eine regelrechte Hetzjagd veranstaltet. Der Arzt Molˇcanov war in der Bevölkerung schon lange unbeliebt gewesen; er stand im Ruf, nur wohlhabenden Patienten die gebotene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dass er zudem angeordnet hatte, Höfe zu desinfizieren und ein öffentliches Wasserbecken zu schließen, »obwohl die Cholera Chvalynsk noch gar nicht erreicht hatte«, wurde als Schikane empfunden.43 Da passte es nur zu gut, dass sich mit den Wolgadampfern aus Saratov die Nachricht verbreitete, die Ärzte streuten Gift. Umgehend fand sich in einem Brunnen ein angeblicher Giftbeutel, dann »tauchten Gerüchte über weitere ähnliche Funde auf, und die in entstellter Form hinzukommenden Nachrichten über die Aufstände in Saratov und Astrachan’ verstärkten die allgemeine Erregung des Pöbels«.44 Am 30. Juni nun versammelte sich eine Menschenmenge und bedrohte Molcˇ anov sowie zwei Polizisten. Man müsse es machen wie in Astrachan’, am besten noch »sauberer« als dort, rief ein Mann, der vor Kurzem aus der

41 Ebd. 42 Ebd., l. 135. 43 Prokuror Saratovskoj SP, Zapiska über Unruhen in Chvalynsk, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 73–74. 44 Ebd.; vgl. Vladykin, Materialy, S. 33.

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Stadt an der Wolgamündung gekommen war.45 Bisher waren bei allen Choleraunruhen die Ärzte mit dem Leben davongekommen, Molˇcanov aber wurde, obwohl zwei Priester für ihn eintraten, bestialisch ermordet. Des Weiteren zerstörte die Menge die Einrichtung im Haus des Stadtoberhaupts und seines Sekretärs, in der Stadtverwaltung und bei den drei Hygienebevollmächtigten. Verschiedene Wertgegenstände und Kleidungsstücke wurden entwendet, und zu guter Letzt drangen einige Personen noch in einen Alkoholladen ein und stahlen Schnaps. Ungewöhnlich war, dass weder die halb fertige Cholerabaracke noch das örtliche Krankenhaus attackiert wurden.46 Die örtlichen Amtspersonen inklusive der Polizei waren aus der Stadt geflohen oder versteckten sich im Zuchthaus. Erst drei Tage später, nachdem Truppen aus Saratov angekommen waren, wagten sie sich wieder auf die Straßen.47 Chvalynsk war die letzte Stadt, in der 1892 Choleraunruhen auftraten.48 Zwar wurden in anderen Städten weiterhin Ärzte bedroht und Choleravorschriften unterlaufen, aber es wurden keine Menschen mehr physisch verletzt und auch kein größerer Sachschaden mehr angerichtet. Gerade in den weiter flussaufwärts gelegenen Wolgastädten wie Samara, Simbirsk, Kazan’ und Niˇznij Novgorod, aber auch in vielen kleineren Orten, unterschieden sich die Ausgangsbedingungen kaum von jenen in Saratov. Mit letzter Sicherheit kann deshalb nicht gesagt werden, warum es dort friedlich blieb. Gewiss spielte eine Rolle, dass das Innenministerium und die Gouverneure inzwischen den Ernst der Lage begriffen hatten. Weil ihnen Saratov und Astrachan’ als Warnung dienten, zögerten sie jetzt nicht mehr, das Militär schneller, zum Teil auch präventiv einzusetzen.49 Keiner hätte mehr eine Erklärung vorgebracht wie der Gouverneur

45 Zitat: Prokuror Saratovskoj SP, Zapiska über Unruhen in Chvalynsk, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 74–75; vgl. die detaillierte Schilderung der Unruhen in Saratov in: Saratovskij gubernator an g. MVD, 5. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 69–71. Auch: Naˇc. Saratovskogo GZˇU an DP, 10. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 92. 46 Saratovskij listok, No. 144, 9. 7. 1892, S. 3. 47 Prokuror Saratovskoj SP, Anklageschrift, o.D., RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 320. 48 Die Unruhen von Juzovka fanden zwar später statt, aber Juzovka war im rechtlichen Sinn keine Stadt, sondern ein poselok und hatte außer seiner Größe auch wenig mit einer Stadt gemein. 49 Komandujuˇscˇ ij vojskami Kazanskogo voennogo okruga, Telegramm an Voennyj ministr, 18. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 91–92; Naˇc. Vladimirskogo

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von Saratov, er habe die Soldaten nicht frühzeitiger in die Stadt gerufen, um in der Presse nicht als Feigling verspottet zu werden.50 Rigoros wurden fortan Personen, die Gerüchte über die Cholera verbreiteten oder gar Ärzte bedrohten, für bis zu drei Monate eingesperrt oder mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Rubel belegt, und zwar »administrativ«, das heißt unter Umgehung der Justiz.51 Dies brachte manchem Beamten Ärger mit der Staatsanwaltschaft ein, doch der Erfolg der Maßnahme, potenzielle Unruhestifter unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen, gab ihnen recht.52 Die Vertreter der Zarenmacht beschränkten sich jedoch nicht auf Zwangsmaßnahmen, sondern erfüllten auch einige Forderungen der Täter von Astrachan’ und Saratov. So wies der Innenminister I. N. Durnovo die Gouverneure jener Gebiete, in denen am ehesten mit weiterer Gewalt zu rechnen war, an, auf Zwangseinweisungen zu verzichten und zum Transport von Cholerakranken nur noch Wagen zu verwenden, die »von außen wie normale Kutschen aussehen«.53 Zuvor hatten bereits verschiedene Gouverneure, etwa in Saratov und Niˇznij Novgorod, die heikelsten Punkte der Choleravorschriften eigenmächtig außer Kraft gesetzt.54 Im Gouvernement Samara waren sie ohnehin nicht zur Anwendung gekom-

GZˇU an DP, 18. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 52. Die Wirksamkeit

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dieser Maßnahme wurde nicht nur von Militärs und Angehörigen der Administration hervorgehoben (die auf diesem Wege ihre eigene Effizienz hervorkehren konnten), sondern auch von der in dieser Hinsicht weniger voreingenommenen Staatsanwaltschaft. Z.B. für die Kreisstadt Vol’sk: Prokuror Saratovskoj SP an MJu, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 70. Saratovskij gubernator an MVD, 18. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 109. Z.B. im Gouvernement Simbirsk in den Kreisstädten Cˇistopol’ und Syzran: Simbirskij gubernator an MVD, 18. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 229ob–230ob; Kazanskij gubernator an g. MVD, 5. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 213; Simbirskij gubernator an g. MVD, 29. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 77–78. Penzenskij gubernator an g. MVD, 22. 9. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 6, l. 76–76ob. Ministr Vnutrennych Del, Telegramm an die Gouverneure von Astrachan’, Samara, Simbirsk, Voroneˇz, Orenburg, Penza, Kazan’, Tambov, Vjatka, 7. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 64–64ob. Auch hier gibt es eine Parallele zu 1830. Nach den damaligen Choleraunruhen wurden in Sankt Petersburg die Choleravorschriften abgemildert. McGrew, Russia, S. 114–115. Naˇc. Saratovskogo GZˇU an DP, 4. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 50.

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men.55 In der Stadt Balaˇsov schließlich ließen besorgte Stadtväter die gerade erst eingeweihte Cholerabaracke kurzerhand wieder abreißen.56 Insgesamt ist es also falsch, wenn Nancy Frieden, die Verfasserin der maßgeblichen Monografie zum Thema, erklärte, es seien in erster Linie Ärzte gewesen, die die unverständlichen und empörenden Aspekte des Kampfes gegen die Cholera weise und unter Umgehung der Behörden abgemildert hätten.57 Zeitgenossen, selbst solche, die der Regierung kritisch gegenüberstanden, erkannten auch den Beitrag staatlicher Akteure wie etwa des Gouverneurs von Niˇznij Novgorod an.58 Waren die Städte durch Zwang und Zugeständnisse befriedet, so galt dies nicht für die Dörfer an der Wolga und in den angrenzenden Regionen. Hier fiel den Ärzten, Medizinstudenten und Feldscheren eine besonders schwierige Aufgabe zu, denn wenn sie in Dörfer kamen, um den Kranken Medizin zu verordnen oder sie in die Cholerabaracken einzuweisen, wurden sie von den Bauern in aller Regel als Vertreter der »Obrigkeit« wahrgenommen, und zwar oft als die Einzigen weit und breit. Die Dorfunruhen folgten meist demselben Muster wie in den Städten, und dabei war es nicht unbedingt wichtig, ob die Cholera in dem betreffenden Ort überhaupt ausgebrochen war oder nicht.59 Die Bauern murrten bereits, wenn sie gezwungen wurden, aus eigenen Mitteln eine Cholerabaracke zu errichten. Zu kollektiven Protestaktionen entschlossen sie sich aber erst, wenn einer der Ihren aus der Stadt heimkehrte und von dort Nachrichten über die Unruhen und die vermeintliche Ärzteverschwörung mitbrachte. Sehr oft fiel diese Rolle Wanderarbeitern zu, die tatsächlich in Astrachan’ oder Saratov gewesen waren und so Augenzeugenschaft beanspruchen konnten. Hatte die Reise nur in die nächste

55 Orlov, Dannye, S. 22–25. 56 Saratovskij gubernator an g. MVD, August 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 238–238ob. 57 Frieden, Russian, S. 150–153. 58 Roˇzanskij, Iz, S. 162–166; Fedorˇcenko, Imperatorskij, Band 1, S. 94–95. Zur Angst vor Unruhen in Niˇznij Novogorod: Naˇc. Niˇzegorodskogo GZˇU an DP, 7. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 124ob; Artikel aus Moskovskie vedomosti, No. 179, 2. 7. 1892, S. 26; Mickeviˇc, Na, S. 111–112; Elpat’evskij, Vospominanija, S. 208. 59 Unruhen ohne Cholera gab es z.B. in der volost’ Abakumovka im Gouvernement Tambov. Tambovskij gubernator an MVD, 19. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 30–31.

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Kreisstadt geführt, so behaupteten die Bauern manchmal, dort verbrecherisches Handeln der Ärzte, etwa eine Lebendbestattung, beobachtet zu haben. Der Protest richtete sich dann beispielsweise gegen die Cholerabaracke, die oft in Brand gesteckt oder anderweitig zerstört wurde. Häufiger noch wandte man sich gegen die Ärzte, und zwar besonders dann, wenn ein aktueller Vorfall den Verdacht gegen sie zu erhärten schien. Anlässe dieser Art gab es genug, denn die Methoden, mit denen die Cholerakranken geheilt werden sollten, waren nicht nur weitgehend wirkungslos, sondern auch schmerzhaft, fremdartig und verletzten Tabus.60 Besonderes Aufsehen erregte die damals dem Stand der Wissenschaft entsprechende Verwendung von heißen Einläufen und Injektionen verschiedener Lösungen wie »Kampfer und Äther«.61 Die Krankenschwester Serebrovskaja, die freiwillig im Gouvernement Samara arbeitete, berichtete von einer Cholerakranken, die sie trotz der Behandlung mit Injektionen nicht vor dem Tod retten konnte. Die Bauern meinten daraufhin, die Frau sei nicht an der Cholera, sondern an den Spritzen gestorben.62 Auch die heißen Einläufe galten bei den Bauern als mögliche Todesursache.63 Manche fürchteten sogar, mit dem Klistier könne man »die ganze Seele aussaugen« – ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr die Behandlung offenbar kulturelle Tabus verletzte.64 Im Dorf Selit’ba im Gouvernement Saratov brachen Unruhen aus, weil ein Feldscher einem erkrankten Bauern mit einem heißen Einlauf zur Genesung verhelfen wollte. Der Bruder des Kranken war entsetzt, verprügelte den Feldscher und zwang ihn, die verschüttete Flüssigkeit aus dem Klistier vom Boden zu trinken – offenbar auch um zu prüfen, ob sie giftig war.65

60 Die Cholera war im 19. Jahrhundert noch nicht heilbar, und manche der Heilmethoden waren sogar kontraproduktiv. Nicht zufällig war die Sterblichkeitsrate der Cholerakranken über das 19. Jahrhundert hinweg auffallend stabil. Faddeeva, Cholera, S. 12; Patterson, Cholera, S. 1171; vgl. auch die Resolution des Ärztekongresses vom Dezember 1892: S’’ezd, S. 10. 61 Sbornik, S. 87, 63. 62 Serebrovskaja, Vospominanija, S. 959 f. 63 Sbornik, S. 12; Saratovskij sanitarnyj listok, No. 21–24, 20. 12. 1892, S. 103; zur Aktualität dieser Behandlungsmethode vgl. Mery, S. 27. 64 Posse, Moj, S. 95. 65 Über andere Fälle, in denen Bauern Medikamente auf ihre Giftigkeit hin überprüften, z. B. an Tieren: Prokuror Saratovskoj SP, Zapiska über Unruhen in Podgorodnaja Monastyrskaja slobodka, Saratovsk. u., 25. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93,

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Der Vorfall rief im Dorf offenen Aufruhr hervor, bei dem auch die bekannten Vergiftungsvorwürfe artikuliert wurden. Der Feldscher wurde geschlagen, doch ein entschlossen auftretender Dorfpolizist verhinderte weitere Gewalt.66 Dieser Ablauf war charakteristisch für die Unruhen in den Dörfern. Oft blieb es bei bloßen Drohungen, besonders dann, wenn dies genügte, um sich der Ärzte, Feldschere und Studenten zu entledigen.67 Häufig kam die Dorfversammlung zusammen und fasste den förmlichen Beschluss, vorerst kein medizinisches Personal, oft auch keine Polizei und sonstige Vertreter der Obrigkeit im Dorf zu dulden. Auch die Antwort der Staatsmacht war meist dieselbe: Der Gouverneur schickte einen Trupp Kosaken; die Bauern, die diese Form der Wiederherstellung von Ordnung gut kannten, führten ein Schauspiel der Unterwerfung auf, einige Bauern wurden als Anstifter identifiziert und öffentlich mit Rutenhieben gezüchtigt. Nicht jeder dieser Fälle wurde in den hier verwendeten Akten des Innenministeriums dokumentiert. Eine Aufstellung derjenigen Dorfunruhen, bei denen Personen oder Sachen Schaden nahmen, ergibt 15 Fälle. Weitaus häufiger blieb es bei Drohungen, weil die Mediziner rechtzeitig flohen. Die Gouvernements Saratov und Samara sowie die Landkreise Syzran und Spassk (Gouvernements Simbirsk bzw. Kazan’) waren davon fast flächendeckend betroffen.68 Dörfliche Unruhen häuften sich außerdem nahe dem Dorf Abakumovka im Kreis Tambov des gleichnamigen Gouvernements und im Kreis Novo-Chopersk im Gouvernement Voroneˇz. Die Brennpunkte befanden sich also allesamt nahe der Wolga oder aber an Eisenbahnlinien, die zu wichtigen Wolgastädten führten. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es ein weiteres Indiz dafür bildet, wie wichtig mündliche Nachrichten über bisherige Unruhen für weitere Gewalttaten waren. Ganz sicher lässt es sich nicht belegen, weil viele d. 7492, l. 127ob–128; Simbirskij gubernator an MVD, 18. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 229ob–230ob; Naˇc. Orenburgskogo GZˇU an DP, 21. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 325–329. McGrew, Russia, S. 110. 66 Prokuror Saratovskoj SP, Bericht zu Unruhen im Dorf Selit’ba, o.D., RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 170–170ob. 67 So war es in weiten Teilen des Gouvernements Saratov: Saratovskij gubernator an MVD, 11. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 79–81ob. 68 Zu Saratov: Saratovskij gubernator, unbekannter Adressat, Telegramm, 6. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 74.

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Dorfunruhen nur sehr spärlich dokumentiert sind. Dort, wo die Ereignisse genauer beschrieben werden, ist jedoch fast immer von Personen die Rede, die aus Saratov oder Astrachan’ ins Dorf gekommen waren (oder dies vorgaben) und Gerüchte über die dortigen Ereignisse verbreiteten.69 Allem Anschein nach brauchte die Gewalt »Überträger«.

Ausbreitung von Gewalt Die Cholerapogrome zeigten bei ihrer Ausbreitung ein charakteristisches Muster. Sie pflanzten sich sprunghaft von einer großen Stadt zur nächsten fort und zudem kontinuierlich von den Städten aus in ihr Umland. Der Weg von den Zentren in ihre Peripherien erfolgte meist rasch, binnen weniger Tage, während es bei der sprunghaften Ausbreitung von Stadt zu Stadt erhebliche Unterschiede gab.70 Diese Muster zeigten sich in ähnlicher Form bei den Judenpogromen von 1881/82, den kaukasischen Pogromen von 1905 oder den sogenannten Suffpogromen von 1914, aber auch bei vergleichbaren Fällen anderer Zeiten und Regionen.71 Exemplarisch seien hier die Hep-Hep-Unruhen von 1819, verschiedene Wellen von communal riots in Südasien oder die städtischen Unruhen in Großbritannien 2011 genannt.72

69 So für die Dörfer Archangel’skoe und Balakovo im Gouvernement Samara: Prokuror Samarskogo OS, Predstavlenie, 25. 11. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 274–274ob; Samarskij gubernator an g. MVD, 4. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 150–151; Alovo im Gouvernement Simbirsk: Simbirskij gubernator an g. MVD, 5. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 229–229ob; Spasskij zaton im Gouvernement Kazan’: Kazanskij gubernator an g. MVD, 3. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 188; Makarovo im Gouvernement Voroneˇz: Naˇc. Voroneˇzskogo GZˇU an DP, 17. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 10; für einen isolierten Fall im Gouvernement Char’kov: Svod zasluˇzivajuˇscˇ ich vnimanija svedenij, poluˇcennye departamentom Policii 27. 7.–3. 8. 1892, 3. 8. 1892, l. 33–33ob. Vereinzelt spielten private Briefe eine ähnliche Rolle. Simbirskij gubernator an MVD, 4. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 105–105ob. 70 Vgl. dazu auch: Midlarsky, Analyzing, S. 1004–1006; ähnlich: Braun, Diffusion. 71 Vgl. für die Pogrome von 1881: Aronson, Geographical, S. 120–122; zu den Ereignissen im Kaukasus: Swietochowski, Russia, S. 38–41; Auch, Muslim, S. 448; zu 1914: Posadskij, Krest’janstvo, S. 109. 72 Rohrbacher, Hep; Horowitz, Deadly, S. 395–401; Reicher/Stott, Mad.

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Die Regelmäßigkeit entging auch den Zeitgenossen nicht. Sie erinnerte sie an Krankheiten wie die Cholera. Die Pogrome von 1881, die Choleraunruhen von 1892, die Pogrome von 1905, aber auch Selbstmorde, Raubüberfälle usw. wurden als »Epidemie« der Gewalt beschrieben.73 Das war mehr als eine sprachliche Modeerscheinung. Die Epidemie-Metapher transportierte eine Vorstellung davon, auf welche Art und Weise die Gewalt um sich griff, wenn auch nicht, wie es das sprachliche Bild nahelegt, durch physische Ansteckung, sondern durch »Suggestion«. So erklärte das Innenministerium im Mai 1881, beim Pogrom von Elisavetgrad seien eigentlich loyale Untertanen den »Suggestionen Böswilliger« erlegen.74 Die Personen, von denen die Suggestion ausging, wurden nur unscharf beschrieben, und das war typisch. »Gewisse gut gekleidete Übeltäter« sollen es 1892 in Kazan’ gewesen sein; in anderen Fällen, etwa bei den Juden- und Armenierpogromen von 1905, behalf man sich mit passiven Wendungen.75 Nur selten wurde eine konkrete Person als »Suggesteur« benannt.76 Nimmt man hinzu, was zugleich über die »Unterdrückung der Vernunft«, die zutage tretenden »urtümlichen Instinkte« und die Verwandlung von Menschen in eine »Herde« von »Psychopathen« geschrieben wurde, so dürfte klar sein, dass diesen Erklärungen der Pogromgewalt eine populäre Form von Massenpsychologie zugrunde lag.77 Das mag insofern überraschen, als die Massenpsychologie als akademische Disziplin zu dieser Zeit erst im Entstehen begriffen war. Gustave 73 Dubnow, Neueste, S. 120; Jewish Chronicle, No. 647, 19. 8. 1881, S. 3; Russkij evrej, No. 31, 29. 7. 1881, S. 1202 f.; Saratovskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet o sostojanii Saratovskoj gubernii za 1892 god, 29. 6. 1893, RGIA f. 1284, op. 223, 1893, d. 201, l. 11ob–13; Malinovskij, Krovavaja; Vestnik evropy, No. 10, 1894, S. 898; Linden, Judenpogrome, S. 54; Schnell, Räume, S. 73. 74 Elisavetgradskij vestnik, No. 53, 17. 5. 1881, S. 1; mit »Ansteckung« argumentierten Chersonskie eparchial’nye vedomosti, No. 8, 15. 4. 1881, S. 223 sowie Saratovskij gubernator, Vsepoddannejˇsij otˇcet o sostojanii Saratovskoj gubernii za 1892 god, 29. 6. 1893, RGIA f. 1284, op. 223, 1893, d. 201, l. 11ob–13. 75 I.d. prokurora Kazanskoj sudebnoj palaty, Telegramm an MJu, Kopie, 8. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 83; Odesskij pogrom, S. 70; Kaspij, No. 26, 18. 2. 1905, S. 3. 76 So z.B. in Zˇitomir der Polizeihauptmann Kujarov, um den es im folgenden Kapitel geht: Reˇci, Vyp. 1, S. 98. 77 Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 689–690; Elisavetgradskij vestnik, No. 44, 24. 4. 1881, S. 2; Kaspij, No. 26, 18. 2. 1905.

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Le Bons großes Werk zum Thema enthielt zwar alle genannten Ideen – die Ausbreitung von Gewalttaten durch Ansteckung bzw. Suggestion und die Transformation mehr oder weniger vernunftgeleiteter Menschen zu Barbaren, die ihrer »bewussten« Persönlichkeit beraubt waren –, erschien aber erst im Jahr 1895.78 Freilich hatte es schon vor Le Bon Autoren gegeben, die Ähnliches beobachtet hatten. In den wachsenden Städten sammelten sich Menschen, die mit den Kategorien der Ständegesellschaft kaum noch zu fassen waren, die aber in entscheidenden Momenten, etwa bei der Französischen Revolution, geschichtsmächtig wurden. Die Massenpsychologie entsprang dem Bedürfnis, das Verhalten dieser Menschen zu beschreiben und zu erklären. Die bedrohlichen Massen sollten wissenschaftlich domestiziert werden. Und weil sich dieses Problem auch in Russland stellte, war auch dort eine eigenständige Schule akademischer Reflexion entstanden. Ursprünglich wohnte ihr ein optimistischer Ton inne: Die Menschenmassen waren zwar für viel Unheil verantwortlich, doch die Wurzel des Übels wurde in fehlender Bildung gesehen. Wenn erst das Licht der Aufklärung in die Massen vorgedrungen sei, dann verschwänden die düsteren Seiten des Massenzeitalters von selbst. Diese Haltung änderte sich jedoch in den frühen 1890er Jahren aus drei Gründen.79 Ein Grund waren die Choleraunruhen von 1892. Mit Entsetzen hatten die Zeitungsleser des Reiches zur Kenntnis genommen, dass Hospitäler überfallen worden waren, um die Kranken zu befreien, und dass Ärzte vor jenen Menschen fliehen mussten, deren Leben sie hatten retten wollen. Der Pöbel erhob sich gegen Wissenschaft, Fortschritt und Zivilisation, und deshalb erschien das Problem destruktiver Menschenmassen nun dringlicher als zuvor. Es wäre auch eine andere Perspektive möglich gewesen, die die Täter nicht von vornherein als irrational denunziert hätte, zumal deren Furcht und Empörung auch nachvollziehbare Gründe hatte.80 Doch anders als bei den Judenpogromen, die vielen Zeitgenossen als berechtigter Protest erschienen, nahm bei den Choleraunruhen niemand eine solche Perspektive ein. Ein zweiter Grund für die zunehmend pessimistische Ausrichtung der russischen Massenpsycho-

78 Le Bon, Psychologie, S. 15 f. 79 Beer, Microbes, S. 534–536. 80 Wiese, Gewalt.

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logie war die vermehrte Rezeption heute klassischer französischer Arbeiten zum Thema (Tarde, Sigele, Le Bon). In den Jahren 1892 und 1893 wurden auffällig viele dieser Werke erstmalig ins Russische übersetzt.81 Drittens wurden Anstöße aus der gleichfalls jungen Disziplin der Bakteriologie übernommen, jenes Zweiges der medizinischen Wissenschaft, dem es in dieser Zeit gelang, die Verbreitungsmechanismen unterschiedlicher, bis dahin rätselhafter Krankheiten zu entschlüsseln. Aus naheliegenden Gründen wurde in den Cholerajahren 1892 bis 1893 viel über die Bakteriologie geschrieben und gesprochen, und die diese Lehre vertretenden Petersburger Lehrstühle an der Universität und der Militärakademie konnten jegliche Kritik an den neuen Erkenntnissen als gestrig zurückweisen (auch wenn es letztlich die älteren Methoden der Hygieniker und nicht die der Bakteriologen waren, mit denen die Cholera zurückgedrängt wurde). Die Erklärungsmodelle der Bakteriologie schienen so vielversprechend und einleuchtend, dass sie von den Massenpsychologen übernommen wurden. Sprach etwa Le Bon eher vage von »Ansteckung« (contagion), so wurde Vladimir M. Bechterev, einer der Väter der russischen Psychiatrie, in einer Rede vor der Militärmedizinischen Akademie in Sankt Petersburg im Jahr 1897 ausgesprochen deutlich: »Zu den Gebieten, die gegenwärtig in der medizinischen Welt sehr viel Aufsehen erregen, gehört bekanntlich das der physischen Infektion durch parasitische Mikroorganismen. Dass es auch ein Contagium psychicum gibt, wird dabei häufig genug ganz übersehen oder wenig beachtet. Und doch führt auch dieses, gleich dem Contagium vivum, zu einer unmittelbaren, zwar nicht physikalisch greifbaren, aber psychischen Infektion des Organismus. Nicht gerade um mikroskopisch sichtbare Lebewesen handelt es sich dabei. Aber das psychische Gift, wie jene überall und allzeit wirksam, wird durch Worte und Gesten übertragen, durch Bücher und Zeitungen weiter verbreitet, und wo immer wir uns befinden mögen, überall sehen wir uns umgeben von psychischen Mikroben, überall droht die Gefahr psychischer Infektion.«82

81 Tard, [Tarde], Zakony; ders., Prestuplenija; Sigele, Prestupnaja. Auch Le Bon wurde umgehend übersetzt: Le Bon, Psichologija. Ebenfalls zur russischen Rezeption: Obolenskij, Novejˇsaja; Sluˇcevskij, Tolpa. 82 Bechterew, Suggestion, S. 1; vgl. Bechterev, Vnuˇsenie, S. 1.

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Aus dieser Perspektive war es nicht weiter erstaunlich, dass Pogromgewalt um sich griff. Es war nur ein spezieller Fall der allgemeinen Anfälligkeit des Menschen für das Irrationale. Freilich waren in Sachen Ansteckung nicht alle Menschen gleich: Es gab die »Infizierten«, aber auch Anführer und Propagandisten, die die »psychischen Mikroben« absichtsvoll und planmäßig verbreiteten; darum wird es im folgenden Kapitel gehen. Für die Frage der Ausbreitung ist festzuhalten, dass es sehr ernst gemeint war, wenn Zeitgenossen die Gewalt als ansteckende Erkrankung beschrieben. Dass sich hinter den oft brutalen Handlungen der Täter durchaus eine eigene Art von Rationalität und Kalkül verbergen konnte, zog bei den Choleraunruhen kaum jemand und bei den Judenpogromen nur ein spezifisches Segment der Beobachter in Betracht. Aus heutiger Sicht erscheint die Vorstellung von Gewalt als Epidemie exotisch. Tatsächlich gehört jedoch in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur die epidemiologische Metaphorik zum Standard. In der maßgeblichen englischsprachigen Literatur wird die Ausbreitung von Gewalt typischerweise als diffusion oder, häufiger, eben als contagion bezeichnet.83 Nun muss man nicht der kulturwissenschaftlichen Auffassung zustimmen, dass sprachliche Bilder in entscheidender Weise »theoriekonstitutiv« sind.84 Dagegen spricht, dass sich der Mainstream der sozialwissenschaftlichen Literatur durch die Metaphern keineswegs in medizinische (contagion) oder physikalische (diffusion) Denkmuster drängen lässt. Allerdings gibt es gerade in jüngerer Zeit vermehrt Versuche, epidemiologische Modelle auf die Ausbreitung von Gewalt zu übertragen.85 Meist wird dabei die kategoriale Differenz anerkannt, die zwischen einer Infektion und einer Handlungsweise besteht. Es gibt aber auch Stimmen wie die des Epidemiologen Gary Slutkin, der keinen solchen Unterschied erkennen will: »Gewalt ist eine ansteckende Krank-

83 Es ist versucht worden, beide Termini klar voneinander zu unterscheiden, z.B. Fox, Ethnoreligious, S. 90. Ein einheitlicher Gebrauch hat sich aber bisher nicht durchgesetzt. Midlarsky, Analyzing; Gurr, Why, S. 175. 84 Briese, Angst, S. 56; vgl. Sarasin, Visualisierung, S. 435–438; skeptisch mit Blick auf die Epidemie-Metapher für um sich greifende Gewalt auch: Bohstedt, Dynamics, S. 258; Horowitz, Deadly, S. 398; Warren/Power, Contagious. 85 Patel u.a., Contagion; Fagan/Davies, Natural; Fagan u.a., Social, S. 710; Patten/Arboleda-Florez, Epidemic; Patten, Epidemics.

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heit.« Folglich lasse sie sich auch ähnlich wie eine Seuche bekämpfen.86 Zwar geht Slutkin nicht so weit, »psychische Mikroben« ins Feld zu führen, verweist aber auf »biologische Mechanismen« (Spiegelneurone, hormonelle Belohnungssysteme, Fehlregulation bestimmter Hirnstrukturen), die für die Ansteckung verantwortlich seien.87 Bei ihm ist Gewalt kein begriffliches Konstrukt, sondern eine geheimnisvolle Entität, die sich durch das Erleben von Gewalttaten von Mensch zu Mensch überträgt. Diese Taten wiederum sind bloße »Symptome«, eigentlich ist es »die Gewalt« selbst, die tötet.88 Zumindest in der Auffassung, Gewalttäter seien nicht handelnde Subjekte, sondern Träger einer psychischen Deformation, lassen sich Vorstellungen der klassischen Massenpsychologie also durchaus noch im heutigen wissenschaftlichen Denken finden. Slutkin ist ein prominenter Extremfall. Zwar sieht die große Mehrheit der Autoren, die sich mit der Ausbreitung von Gewalt befassen, eine Ähnlichkeit zwischen der Ausbreitung von Gewalt und ansteckenden Krankheiten darin, dass in beiden Fällen personale Netzwerke des Austauschs zugrunde liegen. Deshalb führt eine hohe Interaktionsdichte auch zu einer stärkeren Ausbreitung.89 Davon abgesehen gibt es aber gravierende Unterschiede. Gewalttaten können sich erstens auch durch mediale Berichterstattung ausbreiten, ein materieller Kontakt ist nicht unbedingt notwendig (eine Möglichkeit, die allerdings bei den Choleraunruhen, wie dargelegt, keine große Rolle spielte, weil hier Augenzeugen wichtiger waren als Zeitungsberichte).90 Zweitens können sich Maßnahmen gegen Gewalt in ähnlicher Weise verbreiten wie die Gewalt selbst.91 Aus den Choleraunruhen in Astrachan’ und Saratov zogen nicht nur potenzielle Täter eine Lehre, sondern auch Staatsbeamte und potenzielle Opfer. Und schließlich gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Gewalt, auch wenn sie im Raum um sich greift, durch eine krankhafte Veränderung der Täter hervorgerufen wird. Sie gehört zum Repertoire

86 Slutkin, Violence, S. 94. 87 Ebd., S. 107; vgl. S. 19. 88 »The great infectious diseases and violence have each killed tens to hundreds of millions of persons throughout history.« Ebd., S. 94; vgl. Patel u.a., Violence, S. 8. 89 Bergmann, Pogrome 2002, S. 455; Bohstedt, Dynamics, S. 269; McAdam, Initiator, S. 234, 237. 90 Myers, Diffusion, S. 173–175; Warren/Power, Contagious; Nacos, Revisiting. 91 Olzak, Dynamics, S. 46; Bandura, Psychological, S. 9.

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menschlichen Handelns und ist nicht per se abwegiger und irrationaler als andere Handlungsweisen auch.92 Bisher ging es um die Frage, wie sich Gewalt ausbreitet. Aber warum tut sie das? Genauer formuliert, warum bewegen Ausschreitungen an dem einen Ort Menschen an einem anderen zu ähnlichen Taten? Wodurch wird ein Pogrom zum Handlungsmodell und damit zum Ausgangspunkt einer Welle der Gewalt? Die sozialwissenschaftliche Literatur gibt mehrere Antworten. Offenkundig ist, dass gravierende Ereignisse tendenziell einen stärkeren Nachhall entwickeln als geringfügige.93 Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Das Pogrom von Kiˇsinev 1903 beispielsweise war mit 43 Toten und über 500 Verletzten ohne Zweifel ein schlimmeres Ereignis als das von Elisavetgrad 1881, löste aber im Unterschied zu diesem nur eine kleine Welle unmittelbarer Nachahmungstaten aus.94 Möglicherweise kam hier die zweite Bedingung für die Ausbreitung von Gewalt ins Spiel: Potenzielle Täter müssen zu der Auffassung kommen, dass ihre Lage jener der Täter beim vorherigen Ereignis gleicht.95 Die meisten Täter von Kiˇsinev waren aber Moldawier, nicht Russen, und tatsächlich konzentrierten sich die Nachahmungstaten auf das maßgeblich von Moldawiern bewohnte Bessarabien.96 Ob Russen, Ukrainer oder Polen in anderen Gebieten des Ansiedlungsrayons das Pogrom von Kiˇsinev zunächst nicht als ihre Sache ansahen, weil es von einer anderen Volksgruppe verübt worden war, oder deshalb, weil sich sympathisierende Berichte vom Pogrom vornehmlich über moldawische oder schriftliche Kanäle verbreiteten und deshalb potenzielle Nachahmer in anderen Teilen des Reiches erst spät erreichten, lässt sich nicht klären. Gewiss ist jedoch, dass die langfristigen Folgen von »Kiˇsinev« ausgesprochen gravierend waren; davon wird im folgenden Kapitel noch die Rede sein. Schließlich gibt es noch einen dritten Faktor, der über die Ausbreitung von Gewalt bestimmt: ihr Erfolg.97

92 Bohstedt, Dynamics, S. 258. 93 McAdam, Initiator, S. 237; Myers, Diffusion, S. 173. 94 Die Opferzahlen in Kiˇsinev: Materialy 1919, S. 210; unmittelbar nach dem Pogrom von Kiˇsinev gab es einige Dorfpogrome in Bessarabien und Wolhynien: Materialy 1919, S. 296–303; Amanˇzolova, Evrejskie, S. 80–83. 95 McAdam, Initiator, S. 233. 96 Lambroza, Pogroms, S. 204; Materialy 1919, S. 204–210. 97 Bandura, Psychological, S. 8; Collins, Invention, S. 5 f.; McAdam, Initiator, S. 237.

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Diese Erkenntnisse lassen sich leicht auf die Choleraunruhen von 1892 übertragen. Nur an einer Stelle bedarf es der Differenzierung, nämlich inwiefern die Unruhen in den beiden Epizentren Astrachan’ und Saratov tatsächlich erfolgreich genannt werden konnten. Das Elend der Cholera wurde durch sie verschärft, weil die Unruhen selbst zu einer Vielzahl neuer Infektionen führten.98 Freilich lässt sich argumentieren, dass es den Tätern weniger um ein Ende der Cholera ging als darum, die Mediziner für die Zwangsmaßnahmen zu bestrafen. In der Tat wurden bei den Unruhen einige Ärzte verprügelt und viele vertrieben. Getötet wurden sie allerdings fast nie (die beiden Ausnahmen, der Arzt in Chvalynsk und der Feldscher in Astrachan’, wurden erwähnt). Analysiert man die Anzahl der Toten und Verletzten, so handelte es sich zum großen Teil um Passanten oder Täter. In den Berichten, die sich über die Unruhen verbreiteten, war hingegen nur von den zahlreichen Ärzten die Rede, die man erschlagen habe.99 Dass das so war, lag nicht zuletzt an der Form, über die sich die Nachrichten verbreiteten, nämlich über das Gerücht. Denn Gerüchte, jene Kommunikationsform, die entsteht, wenn ein Sachverhalt mehrfach und meist mündlich weitergegeben wird, verändern ihren Inhalt regelmäßig hin zu gesteigerter Prägnanz.100 Deshalb wurden im Gerücht aus Verletzten Tote und aus grundlos massakrierten Passanten Ärzte, die man ihrer gerechten Strafe zugeführt habe. Die russischen Beamten, die sich über die »entstellten Erzählungen« über die vorherigen Unruhen beklagten, hatten also recht.101 Entscheidend dafür, 98 Clemow, Cholera, S. 62–63; Naˇc. Saratovskogo GZˇU an DP, 4. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 50–51. 99 Kievskij gubernator an g. MVD, 27. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 63–65; Naˇc. Kazanskogo GZˇU an Kazanskij gubernator, Kopie, 30. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 98–98a; Zapiska über Unruhen in Pokrovskaja sloboda, 24. 7. 1892, l. 131–131ob; Prokuror Saratovskoj SP, Zapiska über Unruhen in Podgorodnaja Monastyrskaja slobodka, Saratovsk. u., 25. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 127; Mamadyˇsskij uezdnyj ipravnik Kazansk. gubernii an Naˇc. Kazansk. GZˇU , Kopie, 20. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 302. Dasselbe ließ sich oft bei Judenpogromen beobachten: Bal’ˇsin, Ch. M.: Aussage, 30. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 163; Protokolle zum Pogrom von Trojanov o.D., CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 16; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 23. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 24ob. 100 Bühl, Kollektive, S. 251; Knopf, Rumors, S. 35; Kapferer, Gerüchte, S. 54. 101 Samarskij gubernator an g. MVD, 4. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 150–151.

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ob Gewalttaten an einem anderen Ort nachgeahmt wurden, war, ob sie als erfolgreich wahrgenommen wurden. Doch diese Einschätzung beruhte oft auf einer systematisch verzerrten »Nachrichtenlage«. Das ist keine Überraschung für jeden, der sich mit Pogromen oder ähnlichen Formen der Gewalt beschäftigt.102 Doch je mehr Wissenschaftler von konkreten Ereignissen abstrahieren, desto mehr vernachlässigen sie die Rolle von Wahrnehmung und Kommunikation bei der Verbreitung eines Gewaltmodells.103 Waren Pogrome eine Epidemie? Diese Vorstellung gehörte zum Repertoire vieler Zeitgenossen, und auch im heutigen Denken über kollektive Gewalt hat sie einen festen Platz. Alles hängt davon ab, wie sehr man die Metapher strapaziert. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Phänomenen erschöpfte sich nicht in der Tatsache der Ausbreitung im Raum. Die Muster der »Ansteckung« glichen sich tatsächlich, denn sie beruhten teilweise auf denselben Strukturen: Bedeutsam waren Verkehrswege und soziale Netzwerke, seien es solche der Verwandtschaft, Freundschaft oder der gemeinsamen Herkunft. So war es leicht möglich, dass Wanderarbeiter, die aus Astrachan’ in ihre Heimatdörfer zurückkehrten, die Cholera übertrugen oder einen Aufstand gegen die Mediziner hervorriefen. Damit endet die Ähnlichkeit jedoch. Gewalt ist kein pathologischer Zustand, der von Menschen Besitz ergreift, sondern eine Handlung. Cholerapogrome gab es, weil die Täter in der Gewalt eine attraktive Option sahen. Sie endeten, weil sich auch hier die unterschiedlichen Akteursgruppen beobachteten und weil sich schließlich Opfer und Vertreter des Staates an das Muster der Gewalt anpassten und entsprechend reagierten. In den Städten entschärften sie die Choleramaßnahmen und beseitigten so die wichtigsten Gründe zur Empörung. Aus vielen Dörfern zogen sich Polizisten und Mediziner zeitweise ganz zurück. Als die Cholera nicht mehr mit Zwang bekämpft wurde, endete die »Epidemie« der Gewalt.

102 Horowitz, Deadly, S. 402; Brass, Theft, S. 19; auch Selbin, Gerücht, S. 85–88. 103 McAdam, Initiator, S. 237; Collins, Invention, S. 8; Bandura, Psychological, S. 8. Eine Zwischenstellung nimmt Myers ein, wenn er einerseits einräumt, dass die Zuschreibung von Erfolg »illusorisch« sein kann, diese Möglichkeit aber in seinem Text keine Rolle spielt. Myers, Diffusion, S. 176.

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3 Gerüstet ins Pogrom

Viele Pogrome treffen die verschiedenen Beteiligten ungeachtet aller Anzeichen unvorbereitet. Es gibt aber auch solche, die lange vor ihrem tatsächlichen Eintreten von allen erwartet werden. Diese Erwartung, ob furcht- oder freudvoller Natur, kann zur Handlungsressource werden. Dann versuchen die einen, die Gewalt zu verhindern, oder bereiten sich darauf vor, sich zu verteidigen. Die anderen sehen sich als zukünftige Täter, rüsten sich ebenfalls und versuchen, das Pogrom wahrscheinlicher zu machen. Potenzielle Opfer und Täter beobachten sich gegenseitig und reagieren aufeinander. Daraus kann eine besondere Dynamik von Pogromgewalt entstehen. Sie ist Gegenstand dieses Kapitels.

ˇitomir Schauplatz Z »Mit Zˇitomir fing es an«, schrieb die jüdische Zeitschrift Voschod, als sie auf das Jahr 1905 zurückblickte. Die Ereignisse von Zˇitomir waren der Beginn »jenes Schreckens, der die ganze russische Judenheit und die gesamte zivilisierte Welt bis in ihre Fundamente erschütterte«.1 Gemeint war das Judenpogrom im April 1905, das erste von einigen Hundert schweren Judenpogromen in diesem für das Russische Reich so schicksalshaften Jahr. Von heute aus betrachtet war, was in Zˇitomir geschah, kein epochales Ereignis. Seine Opferzahlen bleiben weit hinter denen der schlimmsten Pogrome der Zeit zurück, und es stellte auch, anders als jenes in Kiˇsinev 1903, keine Zäsur in der Geschichte der Juden Russlands dar. Und doch erreichte hier die Pogromgewalt eine neue Qualität, denn zum ersten Mal waren Täter und Opfer mehr als nur lose organisiert. So stellt es zumindest der beste Kenner der Pogrome jener Zeit, Shlomo Lambroza, dar: In Zˇitomir gelang der jüdischen Selbstwehr einer der ersten Erfolge und dort traten auch erstmals organisierte Formationen der Täter, die sogenannten Schwarzhundertschaften, prominent in Er-

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Voschod, H. 1, 1906, S. 6–7.

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scheinung.2 Dadurch wird Zˇitomir als Fallstudie interessant, denn dort machte man früher als anderswo im Reich Erfahrungen mit der neuen Gewaltdynamik und konnte deshalb auch Konsequenzen ziehen, bevor die Pogromgewalt im Land ihren Höhepunkt erreichte. Die Stadt war, anders als die in der Literatur häufig untersuchten Fälle (Odessa, Kiew, Ekaterinoslav), kein pulsierendes Zentrum der Wirtschaft, der revolutionären Bewegung oder der organisierten Rechten. Zˇitomir war provinziell. Auch das macht es für eine Fallstudie interessant. Zˇitomir war die Hauptstadt von Wolhynien. Nach den polnischen Teilungen sollte die Stadt ein Gegengewicht zum nahen Berdiˇcev bilden, einem Schtetl mit damals ungeheuer florierender, nur eben von Juden dominierter Wirtschaft, das sich zudem in polnischem Besitz befand. Staatliche Versuche, Zˇitomir ökonomisch aufzuwerten, waren aber nur mäßig erfolgreich.3 Zu der Zeit, die hier interessiert, wurde in der Region das große Geld mit Getreide und Zuckerrüben verdient. Im Jahr 1904 erwirtschafteten die fünf Zuckerfabriken im Kreis Zˇitomir fast doppelt so viel wie die gesamte Industrie der Stadt.4 Zˇitomir war eine vergessene Stadt in einem »vergessenen Landstrich«.5 Ihre Bevölkerung setzte sich ethnisch so zusammen, wie es für die polnischen Teilungsgebiete typisch war. Von den knapp 90000 Einwohnern waren 37,4 Prozent Orthodoxe oder Anhänger der unierten Kirche, also Russen oder Ukrainer. Über deren jeweiligen Anteil geben die Daten keinen Aufschluss; sicher ist jedoch, dass die Russen in Verwaltung, Militär und Kaufmannschaft, die Ukrainer hingegen in der städtischen Unterschicht stark vertreten waren. 13,5 Prozent der Einwohner waren Katholiken und damit zumeist Polen, die den örtlichen Adel und die städtischen Oberschichten dominierten. 3,1 Prozent entfielen auf russische Altgläubige, die für das spätere Pogrom eine wichtige Rolle spielen sollten. Die größte Gruppe jedoch, 44,7 Prozent der Einwohner, waren meist in Armut lebende Juden.6

2 3 4 5 6

Lambroza, Pogrom Movement, S. 244; Lambroza, Pogroms, S. 223–224. Petrovsky-Shtern, Golden, S. 111; Sˇul’man, Goroda, S. 82. Pamjatnaja, S. 6–36. Juˇznye zapiski, No. 28, 10. 7. 1905, S. 43–44. Pamjatnaja, S. 8; Arndt, Shitomirer, S. 87; vgl. zur Dominanz der Polen in der Stadtverwaltung: Naˇcal’nik Volynskogo ochrannogo otdelenija an Kievskij

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Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Zˇitomir lässt sich bis ins Jahr 1486 zurückverfolgen. Unter polnischer Herrschaft florierte sie, sodass sie vor der zweiten Teilung Polens, mit der Wolhynien an das Russische Reich fiel, schon fast ein Drittel der Einwohner stellte. Ähnlich wie in Elisavetgrad hatte sich ihr Anteil an der Bevölkerung in den Jahrzehnten vor dem Pogrom also moderat erhöht. Im 19. Jahrhundert nahm Zˇitomir eine besondere Stellung im jüdischen Leben des Ansiedlungsrayons ein. Seit 1804 gab es dort eine von reichsweit zwei jüdischen Druckereien mit eigenem Zensor. 1847 nahm in der Stadt eines der wiederum reichsweit zwei Seminare für Kronrabbiner seine Arbeit auf, und 1862 wurde die erste jüdische Handwerks-Fachschule Russlands gegründet.7 Es war, nicht nur in Zˇitomir, eine Zeit des Aufbruchs der jüdischen Eliten. Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Aufstieg schienen greifbar nah zu sein – doch bekanntermaßen endete die Zeit der relativ judenfreundlichen Politik jäh. Für Zˇitomir bedeutete dies unter anderem, dass das Rabbinerseminar zunächst in ein Lehrerseminar umgewandelt und 1885 ganz geschlossen wurde. Ein Jahr zuvor hatte bereits die Handwerks-Fachschule ihren Betrieb einstellen müssen. Es hieß nun, sie habe nur dazu gedient, die ökonomische »Übermacht« der Juden zu zementieren.8 In der Tat waren, wie überall im Ansiedlungsrayon, die meisten städtischen Handwerker und Händler Juden, doch nur wenige gehörten zur Elite der Stadt.9 In der städtischen Selbstverwaltung und bei den Kaufleuten waren nicht sie, sondern Polen die bestimmende Kraft.10 Auch wenn die ethnisch-soziale Struktur der Stadt reichlich Stoff für Konflikte bot, war das Zusammenleben nicht nur von Feindseligkeit geprägt. Vielleicht war es übertrieben, wenn nach dem Pogrom ein Zeuge meinte, die interethnischen Beziehungen seien »stets die allerbesten gewesen, friedlich und sogar freundschaftlich«, gleichwohl hatten im All-

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Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 30. 3. 1904, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 2ob. Polonsky, Jews, S. 183. Sˇul’man, Goroda, S. 79–82. In den 1860er Jahren lag ihr Anteil bei 70 % der Handwerker und 90 % der Händler. Lukin, Zhytomir, S. 2122–2123. Lindner, Unternehmer, S. 136.

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tag sowohl Konflikt als auch Kooperation ihren Platz.11 Juden und Christen begegneten sich im Wirtschaftsleben und in Vereinen wie der freiwilligen Feuerwehr, ihre Mittelschichten lebten gemischt im Stadtzentrum (während die jeweiligen Armenviertel eher ethnisch segregiert waren), und auch die städtische Selbstverwaltung agierte nicht besonders judenfeindlich.12 Zu den lokalen interethnischen Beziehungen gehört schließlich auch, dass es bis 1905 in der neueren Geschichte der Stadt kein Pogrom gegeben hatte.13 Zwar herrschte im Frühjahr 1881, nach dem Pogrom von Elisavetgrad, »überall Panik« unter den örtlichen Juden, zur allgemeinen Überraschung blieb die Gewalt aber aus.14 Zˇitomir war ein beschaulicher Ort und wäre es vielleicht geblieben, wäre nicht ganz Russland von einem verlustreichen Krieg und inneren Unruhen erschüttert worden. Der Russisch-Japanische Krieg, der mit dem Überfall Japans auf Port Arthur am 8./9. Februar 1904 begann, schien anfangs konsolidierend auf die Situation im Landesinneren zu wirken. Die moderat oppositionellen Kreise der »Gesellschaft« schlossen mit der Regierung einen »Burgfrieden«.15 In weiten Teilen der Bevölkerung aber stimulierte der Krieg auch Fantasien über die Konfrontation mit dem Fremden. Für die Vorgeschichte des Pogroms von Zˇitomir ist das insofern interessant, als Geschichten über den angeblichen Verrat (unter anderem) der russischen Juden zu zirkulieren begannen. Juden, so hieß es, entzögen sich dem Militärdienst und unterstützten in Gestalt internationaler Bankiers die gegnerische Kriegsökonomie.16 Die Juden Russlands sahen sich verstärkten Anfeindungen ausgesetzt,

11 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 34–34ob; vgl. auch Volynskaja ˇzizn’, No. 203, 24. 6. 1907, S. 2; Galas, InterReligious. 12 Lindner, Unternehmer, S. 161–162, 377. Ein 1851 erlassenes Verbot für Juden, sich im besten Stadtviertel anzusiedeln, hatte nur bis 1858 Bestand. Sˇul’man, Goroda, S. 81. 13 Hingegen zu einem angeblichen Pogrom im Jahr 1904: Lindner, Unternehmer, S. 305. 14 Vertreter der jüdischen Gemeinde von Zˇitomir an Ministr Finansov, Telegramm, Kopie, 30. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 76; Rassvet, No. 28, 10. 7. 1881, S. 1103; vgl. Russkij evrej, No. 19, 8. 5. 1881, S. 747. 15 Grüner, Russisch-Japanische, S. 189–200. 16 Voschod, H. 1, 1906, S. 6–7; Petrovsky-Shtern, Jews; Klier, Imperial; Lindemann, Esau, S. 302–304.

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und bei der Einberufung von Rekruten und Reservisten kam es zunehmend zu antijüdischer Gewalt. Die Mehrzahl der 43 Pogrome des Jahres 1904 fallen in diese Kategorie.17 Der Burgfrieden zwischen Staat und »Gesellschaft« währte nicht lange. Zu Beginn des Jahres 1905 wandte sich sogar die große Mehrheit der konservativen Zeitungen gegen den Krieg und gegen die Art, wie Russland ihn führte.18 Wie in den meisten großen Städten des Reiches kam auch in Zˇitomir die oppositionelle Intelligenzija bei als Bankett getarnten Protestveranstaltungen zusammen; in den Gymnasien und im Priesterseminar gärte es.19 Noch mehr Unruhe verursachte jedoch die Arbeiter- und Revolutionsbewegung. Eine große Wirkung hatte der sogenannte Blutsonntag am 9. Januar 1905, als das Militär in Sankt Petersburg das Feuer auf Zehntausende friedlich demonstrierende Arbeiter eröffnete. Eine Welle des Protests war die Folge, an dessen Spitze sich illegale radikale Parteien stellten. So war es auch in Zˇitomir. Zwar war die Stadt kein Zentrum der revolutionären Bewegung. Es gab kaum Industriearbeiter, die Politisierung der Handwerker und Handlungsgehilfen kam nur schleppend voran und der Druck vonseiten der Geheimpolizei war stark.20 Selbst Bolschewiki, die sich in den 1920er und 1930er Jahren an ihre Zeit in Zˇitomir erinnerten (und die in der Regel Erfolge der Opposition hervorhoben, wo sie nur konnten), räumten ein, dass bis zum Jahreswechsel 1904/05 nicht einmal Ansätze einer revolutionären Massenbewegung zu erkennen waren.21 Bei Protestdemonstrationen gegen den »Blutsonntag« kamen nicht mehr als 50 bis 100 Personen zusammen, und auch ein Versuch, am 25. und 26. Januar Anschluss an die landesweite Streikbewe-

17 Dubnow, Neueste, S. 431, 443; Lambroza, Jewish Responses, S. 267; Lambroza, Pogroms, S. 213. 18 Grüner, Russisch, S. 189–200. 19 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 13. 12. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 1 cˇ 13 l. B, l. 20–21ob; Volynskij gubernator an DP, 7. 12. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 1 cˇ 13 l. B, l. 17–18; Volyn’, No. 65, 25. 3. 1905, S. 3; Tobias, Jewish, S. 242 f.; vgl. zu Schülern in dieser Zeit: Kassow, Students. 20 Naˇc. Volynskogo Ochrannogo Otdelenija, 3. 2. 1904, GARF f. 102, op. 232 (OO), d. 5 cˇ . 38, l. 11; Poslednie izvestija, No. 154, 10. 11. 1903, S. 2; Jur’ev-Byk, 1905, S. 77–78. 21 Gackeviˇc, Iz, S. 169–170; Zafran, 1905, S. 149.

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gung zu finden, verlief wenig erfolgreich.22 Das lag unter anderem daran, dass es den Streik-Aktivisten oft nicht gelang, ethnische Grenzen zu überwinden. Als es zu Handgreiflichkeiten zwischen der Polizei und Streikenden kam, unter denen sich eine unbekannte, aber sicher nicht geringe Zahl von Juden befand, ergriffen »christliche Kutscher und Passanten aus dem einfachen Volk« für die Polizei Partei »und verjagten die Juden mit Knuten und Fäusten«.23 Die Polizei verhinderte weitere Gewalt auf der Straße, doch später wurde auf den Polizeiwachen eine unbestimmte Zahl Festgenommener misshandelt.24 Verantwortlich war dem Vernehmen nach ein Polizeihauptmann namens Kujarov, der spätestens damit zur zentralen Hassfigur der örtlichen Linken wurde. Ein späterer Racheakt an Kujarov sollte wichtige Folgen für das Judenpogrom haben.25 In Erwartung kommender Gewalt Weder mit Streiks noch mit sozialistischer Agitation konnten die Revolutionäre von Zˇitomir die Massen auf ihre Seite bringen. Doch viele Juden folgten ihnen, wenn sie sich Selbstwehr, also den bewaffneten Kampf gegen Pogrome, auf die Fahnen schrieben. Welche Parteien dabei in Zˇitomir führend waren, lässt sich nicht eindeutig sagen. Parteipublikationen unterschiedlicher Provenienz betonten den jeweils eigenen Anteil; es scheint aber, dass die Selbstwehr im Wesentlichen von Bund und Sozialrevolutionären getragen wurde.26 Dafür sprechen auch Doppelmitgliedschaften in den Ortsgruppen beider Parteien, vor allem die des lokal bedeutenden Selbstwehr-Aktivisten Isser Isaakov Binˇstok.27 Um die Jahreswende 1904/1905 trat die Selbstwehr von Zˇitomir erstmals in Erscheinung, und von Anfang an erkannte man ihre Herkunft aus der revolutio22 Ebd., S. 149–150; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 15. 1. 1905, GARF f. 102, op. 232 (OO), d. 5 cˇ . 38, l. 118; Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 17. 1. 1905, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 15. 23 Zafran, 1905, S. 150–152; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, Kopie, 28. 1. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 4–4ob. 24 Zur Untersuchung, die der Gouverneur deshalb einleitete: Volynskij gubernator an DP, 29. 1. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 4 cˇ . 28, l. 7. 25 Zafran, 1905, S. 155. 26 Ebd., S. 150–152; Lambroza, Pogrom Movement, S. 244. 27 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 29. 8. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1800 cˇ . 22, l. 1–1ob.

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nären Bewegung. Ihre Zusammenkünfte, bei denen die Kämpfer exerzierten und den Umgang mit Waffen übten, waren in die etablierte Form der konspirativen sozialistischen Massenversammlung (massovka) eingebettet.28 Man traf sich in den Wäldern vor der Stadt, man sang, hörte politische Reden an und bekräftigte symbolisch die Bereitschaft zur politischen Gewalt: Ein Porträt des Zaren diente als Zielscheibe.29 Der Kampf gegen die Autokratie wurde zum integralen Bestandteil der jüdischen Selbstwehr – auch für jene, die ursprünglich nichts anderes als Selbstverteidigung im Sinn gehabt hatten. Die Revolutionäre beließen es nicht bei symbolischen Akten, wie sich beim nächsten Streik vom 9. bis 16. März 1905 zeigte, bei dem stärker als vorher bewaffnete Formationen auftraten.30 Unter Androhung von Waffengewalt zwangen sie Kleinunternehmer, ihre Werkstätten und Geschäfte zu schließen. Mit vorgehaltener Waffe verlangten sie Geld und schlugen Scheiben ein, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.31 Dass diese Gewalttäter identisch mit Mitgliedern der Selbstwehr waren, lässt sich nicht belegen. Dafür spricht, dass auch hier Isser Binˇstok eine führende Rolle spielte und dass die Selbstwehr auch sonst in ähnlicher Weise finanzielle Mittel akquirierte.32 Die Selbstwehr versteckte sich nicht und scheute auch keine Auseinandersetzungen. Es schien ihr um ostentative Selbstbehauptung zu gehen. Das musste nicht auf spektakuläre Art und Weise geschehen, es genügte, einen öffentlichen Raum zu besetzen, den auch andere in Anspruch nehmen wollten, z.B. die Trottoirs der Innenstadt.33 Ein Offizier berichtete, jüdische Jugendliche seien in Reihen die Bürgersteige entlanggegangen und hätten die anderen Passanten genötigt, auf die Straße auszuweichen. Er selbst habe jedoch zu denen gehört, die es auf 28 Zu den frühen massovki im Umland von Zˇitomir: Jur’ev-Byk, 1905, S. 77–78. 29 Volynskij gubernator an DP, 16. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 6. 30 Vgl. zum Januar die enthusiastischen Erinnerungen von: Zafran, 1905, S. 150–152. 31 Pristav 1. cˇ asti g. Zˇitomira an naˇc. Volynskogo GZˇU, Kopie, 15. 3. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 69–69ob; vgl. ähnlich: Protokoll der Aussage von Karant, B. N., 3. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 65–66 und Protokoll der Aussage von G. I. Solov’ev, 30. 4. 1905, CDIAU f. 1335, op. 1, d. 343, l. 11. 32 Shtakser, Structure, S. 207–208, 219. 33 Vgl. Collins, Interaction, S. 281–282.

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eine Konfrontation ankommen ließen, sodass die Juden letztlich mit grimmiger Miene zurückgewichen seien.34 Zu Beginn des Jahres 1905 wurden die Bürgersteige im Stadtzentrum zum Schauplatz regelrechter Versammlungen der sogenannten Börse, bei denen Juden eine große, wenn nicht beherrschende Rolle spielten. Ursprünglich wurden als »Börse« Orte der Arbeitsvermittlung bezeichnet, an denen sich sozialistische Agitatoren tummelten, um Anhänger unter den Armen und Unzufriedenen zu gewinnen. Sukzessive trat ihre ursprüngliche Funktion in den Hintergrund; sie wurden stattdessen zum Mobilisierungsplatz der radikalen Opposition.35 Dass solche Versammlungen nun nicht mehr in geschützten Räumen, sondern auf den Trottoirs stattfanden, war ein deutlicher Hinweis darauf, wie sicher sich die revolutionären Kreise fühlten.36 Wer nicht mit der radikalen Opposition sympathisierte, empfand diese Versammlungen als Ärgernis. Verschiedentlich waren aus der anonymen Menge heraus Beleidigungen und Drohungen zu hören – besonders wenn Personen aus der Oberschicht verlangten, »die Juden« mögen zur Seite treten.37 Bezeichnend ist folgende Episode: »Es kam oft vor, dass abends, wenn ein Bauer vorüberging, einer der [auf dem Bürgersteig] Stehenden ihn von hinten mit einem Stock schlug und dann davonlief, während die übrige Menschenmenge lachte und [dem Bauern] riet, kein Geschrei zu machen und sich zu trollen.«38 Dies sind die Worte des Gendarmeriechefs, eines der entschiedensten Judenfeinde im örtlichen Be34 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 34–34ob; vgl. zu Kiev: Hillis, Between, S. 412. 35 Shtakser, Structure, S. 17; vgl. zu Warschau – einschließlich des Problems der blockierten Bürgersteige: Ury, Barricades, S. 99–101; Simferopol: Liprandi, Ravnopravie, S. 64; Dubno: Volynskij gubernator an DP, 18. 12. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 21; Lodz: Frankel, Prophecy, S. 148. 36 Ury, Barricades, S. 99; Frankel, »Youth«, S. 76; Shohet, Jews, S. 112; für Zˇitomir: Jur’ev-Byk, 1905, S. 83; noch 1902 konnten die Bürgersteige nur für kurze Zeit »besetzt« werden: Poslednie izvestija, No. 77, 10. 7. 1902, S. 1. 37 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 13. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 1; vgl. zu Berdiˇcev, wo ein Konflikt um die Besetzung der Bürgersteige in Gewalttaten mündete, bei denen zwei Polizisten, ein »Christ« und ein Jude verletzt wurden: Naˇc. Kievskogo GZˇU an DP, 16. 7. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 832, l. 51. 38 Naˇc. Volynskogo GZˇU an MVD, 4. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 58ob.

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hördenapparat, der über »die Juden« selten Gutes zu berichten hatte. Man muss ihm nicht glauben, dass das, was er beschrieb, so (und insbesondere so einseitig) vorgefallen ist. Plausibel ist jedoch, dass er, ohne die Wahrhaftigkeit allzu genau zu prüfen, das wiedergab, was »man« sich in der Stadt erzählte. Der Bericht enthält eine interessante Botschaft. Denn die dem Bauern angeblich angetane Gewalt war ein Spiegelbild des auf Demütigung abzielenden Typs von Pogromgewalt, der im Kapitel über Elisavetgrad vorgestellt wurde: Entscheidend war nicht das Verletzen des Körpers, sondern das anschließende Verlachen. Über Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte hinweg war das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden davon geprägt, dass Letztere in alltäglichen Interaktionen den niedrigen Status der jüdischen Bevölkerung immer wieder neu bekräftigten. Dass nun plötzlich einige Juden ihr Gegenüber öffentlich verlachten und es zwangen, in den Straßenstaub zu steigen, bedeutete nichts anderes, als dass sie die informelle Übereinkunft aufkündigten, der zufolge sie Christen gegenüber Demut zu zeigen hatten.39 Diese Entwicklung wirkte sich auch darauf aus, wie Juden auf die Gefahr, Opfer eines Pogroms zu werden, reagierten. Die bisherige Methode war der Weg des shtadlanut. Das heißt, durch Verhandlungen und nicht zuletzt durch Bestechung wurde versucht, das Wohlwollen der Behörden zu erlangen (oder sie zumindest zur Ausübung ihrer Pflichten zu bewegen). Mit dem neuen Selbstbewusstsein eröffnete sich nun eine Alternative, nämlich Abschreckung. Vielleicht genügte es ja, Stärke zu zeigen, um die Angreifer von ihren Pogromplänen abzubringen. Vielleicht war Abschreckung ein nicht nur neuer, sondern endlich auch ein zuverlässiger Weg, um der Herausforderung der Pogrome zu begegnen. Ein Teil der Juden von Zˇitomir war davon überzeugt; sie erklärten selbstbewusst: »Wir werden euch zeigen, dass Zˇitomir nicht Kiˇsinev ist.«40 Die Botschaft jüdischer Wehrhaftigkeit musste aber, wenn sie glaubhaft sein sollte, auch performativ überbracht werden. Das geschah etwa am 8. April, dem zweiten Tag des Pessach-Festes, als eine Gruppe von Juden auf Landpartie in Konflikt mit Bauern aus dem nahen Dorf Psyˇscˇ e geriet. Man be39 Vgl. Clark, Misery; Blom/Jaoul, Moral, S. 42; das soll nicht heißen, dass die »Übereinkunft« in der Vergangenheit nie gebrochen worden wäre. Vgl. Klier, Christians. 40 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Ministr Justicii, 14. 7. 1907, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 70ob. Die Bedeutung von »Kiˇsinev« als Symbol jüdischer Wehrlosigkeit wird später näher erläutert.

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schimpfte einander, die Bauern wurden handgreiflich, verletzten einen jungen Juden und raubten mehrere junge Frauen aus. Zusammenstöße wie diese gehörten in Zˇitomir beinahe zum Alltag. Sie waren Teil des von John Klier so benannten »Dialogs der Gewalt«, und wie diese Formulierung nahelegt, war die Gewalt dabei in der Regel nicht einseitig.41 Ungewöhnlich war, was unmittelbar danach geschah. Binnen kurzer Zeit marschierten 3000 bis 4000 Personen, meist Jüdinnen und Juden, auf, um ein mögliches Pogrom zu verhindern. Weitere Gewalttaten gab es nicht, und als dann auch das Militär anrückte, zog die Selbstwehr friedlich davon.42 Aber ihr Handeln hatte eine Botschaft der Stärke hinterlassen. Die Selbstwehr hatte unter Beweis gestellt, dass sie im Falle eines Konflikts Tausende Menschen mobilisieren konnte. Potenzielle Täter waren nun gewarnt. Unter anderem war die Selbstwehr mit einigen Schusswaffen gerüstet – ein Bestandteil der Inszenierung ihres Gewaltpotenzials. Pogromtäter hatten in aller Regel nur Knüppel und Steine, mehr brauchten sie nicht. Zudem galten, wie bereits erwähnt, in der »moralischen Ökonomie« der Unterschichten Schusswaffen als nicht adäquates, unehrenhaftes Mittel. Insofern boten Waffen für die Selbstwehr eine Chance, die Pogromtäter zu besiegen oder ganz von der Gewalt abzuhalten. Mit der Beschaffung solcher Waffen hatten die revolutionären Parteien genügend Erfahrung. Es war aber auch klar, dass es nicht genügte, ein gewisses Arsenal von Pistolen und Revolvern zu besitzen. Diese mussten auch präsentiert werden, und zwar so, dass sie trotz ihrer eher geringen Zahl deutlich wahrgenommen wurden und dennoch dem Zugriff des Staates entzogen blieben. Dies war die Logik, die unterstellt werden kann, wenn die Selbstwehr nach nächtlichen Treffen im Wald mit Schüssen und lauten Hurrarufen durch die Stadt zog.43 Auch demonstrative Schüsse aus dem Schutz einer Menschenmenge bei Demonstrationen gehören in die-

41 Klier, Christians. Vgl. für einige entsprechende Vorfälle: Protokoll der Aussage von Chmara, 30. 4. 1905, CDIAU f. 1335, op. 1, d. 343, l. 11ob; Protokoll der Aussage von Raboˇsajka, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 67; Volyn’, No. 76, 8. 4. 1905, S. 3. 42 Volyn’, No. 82, 15. 4. 1905, S. 3. 43 Zametka o manifestacijach byvˇsich v 1905 godu v g. Zˇitomire, o.D., GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l.103.

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sen Kontext.44 All das waren Warnungen, und als solche wurden sie auch wahrgenommen. Selbstverständlich machte die Selbstwehr auch von ihren Revolvern Gebrauch, wenn sie in handgreifliche Auseinandersetzungen verwickelt wurde. So war es am Abend des 13. April, dem Mittwoch der Karwoche, als eine Versammlung von Selbstwehr und Sozialisten (die Unterscheidung fällt schwer) im Wald in der Nähe des Dorfes Psyˇscˇ e zu Ende ging. Es hatte wie üblich politische Reden und Schießübungen gegeben. Nun gingen die Teilnehmer, insgesamt mehrere Hundert, auseinander, teilten sich aber, um nicht die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen, in kleine Gruppen auf. Was dann geschah, lässt sich aus den Quellen nur annähernd rekonstruieren. Sicher ist, dass die Versammlung den Bauern des Dorfes nicht verborgen geblieben war. Viele hatten die Schüsse gehört; einige hatten sich nah genug herangewagt, um das Geschehen zu beobachten und sogar mit einigen der Versammelten zu sprechen. Sie hatten auch gesehen, dass ein Porträt des Zaren als Zielscheibe verwendet worden war.45 Berichte darüber verbreiteten sich rasch im ganzen Dorf. Manche der Bauern brachten eilig ihre Familien in Sicherheit. Als nun die Versammlung beendet war, liefen einige der Selbstwehrleute

44 Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 17. 1. 1905, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 15. 45 Ob das tatsächlich zutraf, war unter den Zeitgenossen umstritten. Auch der örtliche Gouverneur meinte, von offizieller Stelle solle dies nicht als Tatsache angesehen werden, solange der Vorgang nicht untersucht worden sei. Warum er nicht selbst eine entsprechende Untersuchung einleitete, blieb unklar. Schließlich entsandte das Petersburger Polizeidepartement eine hochkarätig besetzte Kommission, die feststellte, dass Schießübungen auf ein Porträt stattgefunden hatten. Die Zeugenaussagen, die behaupten, es habe sich um ein Bildnis des Zaren gehandelt, sind nicht unplausibel. Reˇci, Vyp. 1, S. 97; Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 2. 5. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 42; Protokoll der Besichtigung des Staatswaldes nahe Psyˇscˇ e, 15. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 86–86ob. Plausibel ist dieser Umstand auch deshalb, weil die führenden Kräfte bei der Versammlung Bundisten und Sozialrevolutionäre waren, also Leute, die im Allgemeinen kein Geheimnis daraus machten, dass sie im Zaren ihren Erzfeind sahen. Übergriffe auf Abbilder des Zaren durch Revolutionäre waren keine Seltenheit. Geifman, Thou, S. 179; Rasstreljali, S. 38; Pribaltijskij kraj, S. 270. Deshalb ist unverständlich, warum gelegentlich der Eindruck erweckt wird, der Vorwurf der Schüsse auf das Zarenporträt sei haltlos. Polonsky, Jews, S. 54.

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achtlos über ein eingesätes Feld, was die Bauern nicht hinnehmen wollten. Später hieß es, die Juden hätten ohne Anlass in Richtung des Dorfes geschossen und eine Gruppe von Kindern aus dem Dorf bedroht (wobei sich freilich die Frage stellte, warum die Kinder sich einer Gruppe derart bedrohlicher Fremder überhaupt genähert haben sollten). Vermutlich handelte es sich um nachträglich erfundene Rechtfertigungsgeschichten. Jedenfalls stürmten einige mit Knüppeln bewaffnete Bauern auf die Juden zu, worauf diese in Richtung der Angreifer schossen. Doch keiner der Schüsse traf, und die Selbstwehrleute flohen, so schnell sie konnten – bis auf einen, der ein Steilufer hinabstürzte und tags darauf tot aufgefunden wurde. Vermutlich wurden einige der davongekommenen Juden verletzt; überliefert ist das nicht. Sicher ist, dass von den Bauern keiner eine Verletzung davontrug, trotz der Schüsse aus geringer Entfernung. Ein Bauer zeigte später ein Loch in seiner Hose vor, um zu beweisen, wie knapp ein Schuss ihn verfehlt habe, was man glauben mag oder nicht. Die Revolver waren aber auch keine bloße Erfindung der Bauern. Mindestens einen nahmen die Bauern einem Selbstwehrmann ab, und insgesamt drei Stück wurden als Beweismittel im nachfolgenden Gerichtsprozess geführt.46 Auf die Frage, warum die Selbstwehr offenkundig jeden Schuss verfehlte, wird später zurückzukommen sein. Immer sicherer glaubten die Juden von Zˇitomir zu wissen, dass ihnen ein Pogrom bevorstand. Viele meinten sogar, schon den Termin zu kennen: den 17. oder 18. April, Ostersonntag und Ostermontag. Anfang April waren Flugblätter aufgetaucht, in denen ein angeblicher »Jarema« die Juden gemeinsam mit Polen, Japanern, Engländern und Amerikanern zu Feinden Russlands erklärte, und manche Juden, darunter Isser Binˇstok, bekamen anonyme Drohbriefe.47 Außerdem hieß es, Angehörige der Polizei, namentlich Hauptmann Kujarov, würden die Bewohner der Au46 Die Beweismittel: Übersicht über Beweisstücke in der Ermittlungsakte zur antizarischen Demonstration in Psyˇscˇ e, o.D., CDIAU f. 1335, op. 1, d. 344, l. 2v; allgemein zu den Vorfällen vom 13. April: Volynskij gubernator an DP, 16. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 6–6ob; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, Kopie, 18. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 5–5ob; vgl. zahlreiche protokollierte Aussagen in GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 74–83ob; Zafran, 1905, S. 158. Bei Zafran sind es freilich nicht Bauern, die die Selbstwehrleute verjagen, sondern Gendarmen. 47 Flugblatt »Jarema«, 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 6, l. 35; Volynskaja ˇzizn’, No. 199, 20. 6. 1907, S. 2.

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ßenbezirke gegen die Juden aufhetzen und ihnen versprechen, Pogromtäter hätten keine Strafen zu fürchten.48 Viele Einwohner Zˇitomirs, nicht nur die Selbstwehr, von der bisher die Rede war, und auch nicht nur Juden, wollten das nahende Pogrom abwenden. Je nach Perspektive schienen unterschiedliche Wege vielversprechend. Die jüdische Elite, angeführt von dem Industriellen Kuliˇser, ging den Weg der Einflussnahme über die Institutionen der städtischen Selbstverwaltung.49 Spätestens seit dem 7. April debattierte die Stadtduma darüber, wie die Gewalt zu verhindern sei, und entsandte schließlich eine Delegation zum Gouverneur, Petr I. Katalej. Auch dieser nahm die Bedrohung durchaus ernst. Nach den Erinnerungen des Kommunisten Zafran hatte er bereits im Januar das Militär in Alarmbereitschaft versetzt, um ein mögliches Pogrom zu verhindern, und für die Ostertage ordnete er ebenfalls bereitwillig zusätzlichen Schutz an.50 In der Öffentlichkeit gab er sich betont gelassen, erklärte, es gebe »keinerlei Anlass«, mit Ausschreitungen zu rechnen, und die bisherigen Zusammenstöße seien bloße »Einzelfälle« ohne weitere Bedeutung.51 Das war der wohl gut gemeinte, letztlich aber recht hilflose Versuch, die ambivalente Wirkung seiner Anordnung einzuhegen, in der Stadt die Patrouillen zu verstärken. Denn diese mochten vielleicht potenzielle Unruhestifter entmutigen, sie konnten aber ebenso gut als Bestätigung gedeutet werden, dass tatsächlich außerordentliche Ereignisse zu erwarten waren. Auch die Lokalzeitung Volyn’ wurde nicht müde, »kategorisch zu erklären«, dass die Furcht vor einem Pogrom in Zˇitomir gänzlich unbegründet sei.52 Das Pfeifen im Walde war nicht zu überhören. Kurz vor dem Osterfest bemühte sich im Auftrag des Gouverneurs zudem der Kronrabbiner in der größten Synagoge, die Angst der Juden zu zerstreuen, und der orthodoxe Bischof Antonij erinnerte im Karfreitagsgottesdienst seine Gemeinde an die Sündhaftigkeit jeglicher Volksunruhen.53 Die örtlichen Sozialisten

48 Volyn’, No. 76, 8. 4. 1905, S. 3; Kievskij, Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 21. 4. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 4. 49 Bemerkenswerterweise wurde nicht der klassische Weg des shtadlanut, nämlich die Entsendung einer jüdischen Delegation zu wichtigen Beamten, beschritten. 50 Zafran, 1905, S. 155; Volyn’, No. 83, 17. 4. 1905, S. 4. 51 Ebd. 52 Exemplarisch: Volyn’, No. 75, 7. 4. 1905, S. 3. 53 Volyn’, No. 83, 17. 4. 1905, S. 4; Volyn’, No. 84, 21. 4. 1905, S. 3.

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ihrerseits beschlossen, die eigentlich für Ostermontag geplante Maidemonstration abzusagen, um einen möglichen Anlass für eine Zuspitzung auszuschließen.54 Während also verschiedene Gruppen und Institutionen versuchten, ein Judenpogrom abzuwenden, fürchtete ein Teil der »christlichen« Bevölkerung, selbst Opfer von Gewalt zu werden, die angeblich von Juden ausgehen würde. Nun war es ohnehin eine Zeit, in der vieles für möglich gehalten wurde – im Guten wie im Schlechten. Die Lokalzeitung berichtete von Gerüchten, der Zar beabsichtige, zum Osterfest umfassende Rechte und Erleichterungen zu gewähren, selbst eine Verfassung schien möglich.55 Nicht weniger verbreitet waren jedoch Gerüchte, denen zufolge eine neue Leibeigenschaft bevorstand, die in Wolhynien als Herrschaft des polnischen Adels über die ukrainischen Bauern (panˇsˇcina) zudem einen starken antipolnischen Klang hatte.56 Nicht zufällig hieß es deshalb auch, es sei »befohlen, die [polnischen] Gutsbesitzer [pany] zu schlagen«.57 Mit Blick auf die Juden war das deshalb brisant, weil spätestens seit dem polnischen Januaraufstand 1863 Polen- und Judenfeindlichkeit meist Hand in Hand gingen.58 Noch bedeutsamer war aber, dass den Juden nachgesagt wurde, sie strebten nach politischer und sozialer Dominanz. So wurde jenen Juden, die am Abend des 13. April von den Bauern bei Psyˇscˇ e verjagt worden waren, in den Mund gelegt: »In zwei Wochen wird alles unser sein und ihr sollt genau so werden wie wir.«59 Gegenüber einem Förster des Staatswaldes bei Psyˇscˇ e sollen sie erklärt haben, der Wald »gehöre heute [noch] dem Staat, aber morgen wird er unser sein«.60 54 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 13. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 4; Zafran, 1905, S. 158. Die Bundisten folgten damit einer mit Rücksicht auf die Pogromgefahr ausgesprochenen Empfehlung ihres Zentralkomitees. Tobias, Jewish, S. 308. Der »Erste Mai« wurde in Russland meist nach dem gregorianischen Kalender gefeiert. Daher fiel der 1. Mai neuen Stils auf den 18. April alten Stils. Mancherorts wurde auch später, nach »altem Stil«, gefeiert. Allgemeine, S. 860. 55 Volyn’, No. 76, 8. 4. 1905, S. 3; Dinur, Mir, S. 228. 56 Volyn’, No. 65, 25. 3. 1905, S. 2. 57 Volyn’, No. 54, 10. 3. 1905, S. 3. 58 Klier, Why. 59 Volynskij gubernator an DP, 16. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, S. 6. 60 Protokoll v. Aussage des Bauern Kaminskij aus Psyˇscˇ e, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 75ob.

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Spätere Pogromtäter sollen sich bei der Polizei über die Juden beschwert haben, die »sagen, dass alles ihnen gehören wird, und uns werden sie nichts geben, und sie wollen uns das Land wegnehmen« – oder: »dass [in Zukunft] nicht der Zar das Land regieren wird, sondern sie – die Juden«.61 Diese Äußerungen sind so gewiss nie gefallen, aber genau betrachtet sind sie auch nur wenige Missverständnisse von dem entfernt, was sozialistisch engagierte Juden tatsächlich von sich gegeben haben mochten. Es ist plausibel, dass sie erklärten, bald würden »alle gleich« sein und das Staatseigentum und die Macht im Lande »uns« gehören. Nur schlossen sie vermutlich die Bauern in ihr »Wir« ein. Letztere jedoch hörten ein »Wir« der Juden, das die Bauern ausschloss. Die Bauern vernahmen eine Botschaft ethnischer Konfrontation, wo soziale Emanzipation gemeint war. Tatsächlich wollten viele Juden in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen, aber nicht notwendigerweise durch Herabsetzung der »Christen«. Indem die Bauern jedoch ihre Erlebnisse in dieser Weise weitererzählten, verwischten sie die Absichten der Juden. In Analogie zum lange etablierten Motiv ökonomischer Ausbeutung wurden »die Juden« nun auch in politischer Hinsicht beschuldigt, eine beherrschende Stellung im Land usurpieren zu wollen. Man muss den Bauern nicht mehr als Bereitschaft zur Zuspitzung und ein gewisses Unverständnis für ihr Gegenüber unterstellen, um zu verstehen, woher das Narrativ der drohenden jüdischen Dominanz kam. Es blieb jedoch nicht bei verzerrten Wahrnehmungen. Auch das Fantastische beanspruchte in den Ängsten der nichtjüdischen Bevölkerung seinen Platz. Sowohl städtische Unterschichten als auch Bauern fürchteten, zum Opfer groß angelegter jüdischer Gewalttaten zu werden. In der Stadt konzentrierte sich die Angst auf ein angeblich für den Ostergottesdienst geplantes Bombenattentat auf die orthodoxe, katholische oder gar beide Kathedralen Zˇitomirs.62 Es ist unmöglich zu sagen, wie ernst solche Ankündigungen in der Bevölkerung genommen wurden.63 So gibt es

61 Der ungelenke Ausdruck ist dem Original nachempfunden. Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 34. 62 Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3; Reˇci, Vyp. 1, S. 102. 63 Mancherorts wurde die Bedrohung als ernsthaft eingeschätzt: In Minsk wurde infolge ähnlicher Gerüchte die orthodoxe Kathedrale zur Osterzeit von Militär umstellt; nur wer über eine Sondererlaubnis verfügte, wurde zum Gottesdienst in die

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z.B. keine Berichte darüber, dass die Ostergottesdienste von weniger Gläubigen besucht wurden. Doch immerhin hielt der Gouverneur die Gerüchte für plausibel genug, um sich bei der Gendarmerie zu erkundigen, ob »die Juden« tatsächlich über ein ausreichendes Arsenal an Bomben und sonstigen Waffen verfügten, um zur Osterzeit »Überfälle auf die Christen durchzuführen«.64 Dabei ging es ihm offensichtlich auch um die Gerüchte, die neben den Städtern ebenso die Bauern des Umlands beschäftigten, nämlich dass »die Juden« beabsichtigten, ganze Dörfer in Brand zu stecken und die »Christen« zu »massakrieren«.65 »Bald werden sie uns alle über den Haufen schießen«, klagten einige in der Zeit vor dem Pogrom.66 Zumindest für die Dörfer lässt sich auch zeigen, dass diese Gerüchte mehr waren als wohlfeiles Gerede. Die Bauern organisierten Nachtwachen und machten sich auf die Suche nach angeblichen Waffenlagern der Juden.67 In Trojanov, dem bereits erwähnten Schtetl, fragten einige Bauern den ansässigen Juden Gerˇsman, »ob es denn wahr sei, dass die Juden kommen werden, um uns zu schlagen«, und drohten: »Sollen uns die Juden nur anrühren, dann werden wir es ihnen zeigen.«68 Die Versuchung ist groß, solche Äußerungen ganz dem Bereich des Irrationalen zuzuordnen. Für die gebildeten Zeitgenossen war es fast selbstverständlich, jegliche Gerüchte als »unsinnig« zu bezeichnen, zumal wenn sie in den unteren Schichten der Bevölkerung zirkulierten. Auch die Bedrohungsgerüchte von Zˇitomir wurden pauschal so einge-

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Kirche eingelassen. Dazu und zu demselben Gerücht in weiteren Städten des Ansiedlungsrayons: Odesskie novosti, No. 6629, 26. 4. 1905, S. 3. Volynskij gubernator an Naˇcal’nik Volynskogo GZˇU, 8. 4. 1905, CDIAU f. 1335, op. 1, d. 343, l. 34. Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 19–19ob. In Pinsk erwogen Juden tatsächlich, im Fall eines Pogroms in umliegenden Dörfern Brände zu legen, damit die Bauern nicht in die Städte und Schtetl kommen konnten. Umgesetzt wurde dieser Plan nicht. Shohet, Jews, S. 103. Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 31ob. Volynskij gubernator an DP, 16. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 6ob; Zajavlenie von Barnberg, A., und Lutanskij, A., 4. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 85. Protokoll der Aussage von Gerˇsman, I. A., 18. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 109ob.

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schätzt.69 Es lohnt sich aber, nach dem Sinn dieser wilden Fantasien über bevorstehende Angriffe durch die Juden zu fragen, da sie für die späteren Pogromtäter nicht ohne Relevanz gewesen sein dürften. Warum also, um damit zu beginnen, »Bomben« und warum die Kirchen? Dieses Gerücht war relativ weit verbreitet und auch schon während der Pogromwelle von 1881/82 aufgetreten.70 Das ist umso erstaunlicher, da es noch nie Sprengstoffanschläge auf Kirchen gegeben hatte.71 Insofern muss in dem Gerücht eine hohe symbolische Aussagekraft gesteckt haben. Vermutlich spielten religiöse Symbole eine Rolle, weil sie so prägnant wie sonst nichts den Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden versinnbildlichten. Eine annähernd vergleichbare nationale Symbolik gab es, zumal in der ethnischen Gemengelage Wolhyniens, nicht. Auch das Mittel der Gewalt, die »Bombe«, ist von Belang. Mit ihr hatten Terroristen in den vergangenen Jahren eine Reihe spektakulärer Morde verübt, zuletzt im Februar 1905 am Onkel des Zaren und Generalgouverneur von Moskau, Großfürst Sergej Aleksandroviˇc.72 Die »Bombe« stand sinnbildlich für verheerende, unvorhersehbare und kulturell fremde Gewalt, und deshalb faszinierte sie die Bevölkerung.73 Weil es wenig Erfahrung mit Sprengstoffanschlägen gab, waren den Vorstellungen über ihr Vernichtungspotenzial auch keine Grenzen gesetzt. Dasselbe gilt übrigens für chemische Waffen wie jene »gewisse Säure«, von der es nach dem Pogrom in Zˇitomir hieß, »die Juden« verfügten über eine ausreichende Menge, um »die Russen im gegebenen Fall binnen einer Stunde sterben

69 Reˇci, Vyp. 1, S. 97; Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 19. 70 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 31–31ob; Shohet, Jews, S. 102. 71 Was es gab, waren Anschläge auf Ikonen, wobei unklar ist, ob es eher um die Beschädigung eines Heiligtums ging oder um Bereicherung. Geifman, Thou, S. 145, 179, 197; Rasstreljali, S. 39. Stepanov weist auf einen Fall von Brandstiftung in einer Kirche hin, deutet ihn jedoch als provokativen Akt jener, die ein Pogrom hervorrufen wollten. Stepanov, Cˇernaja, S. 80. 72 McReynolds, News, S. 206; Ascher, Revolution, S. 112. 73 Vgl. die Berichterstattung zum Attentat auf Alexander II.: Elisavetgradskij vestnik, No. 27, 8. 3. 1881, S. 1–2, aber auch z.B. Odesskie novosti, No. 6629, 26. 4. 1905, S. 3; Ohanian, Tänzerin, S. 62–63.

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zu lassen«.74 Bei solchen Gerüchten ging es nicht nur um Gewalttaten, sie spiegelten auch die Ängste jener, die sich durch den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel bedroht fühlten. Wer über Juden sprach, die Bomben in Kirchen platzierten, meinte auch die Erschütterung der althergebrachten Ordnung durch die vermeintlich zerstörerischen Kräfte des Wandels. Woher rührte jedoch die vor allem, aber nicht nur in den Dörfern verbreitete Vorstellung von einer mordenden Judenhorde? In der Literatur wird vorgeschlagen, darin eine letztlich tiefenpsychologisch motivierte Projektion zu sehen: Zukünftige Täter schrieben ihren Opfern dieselben Impulse zu, die sie selbst ihnen gegenüber hegten.75 Diese Argumentationsfigur mag intellektuell reizvoll sein, aber das macht sie nicht weniger problematisch. Die Gerüchte über die bevorstehende Aggression entbehrten nämlich nicht jeglicher Grundlage. Sie waren auch eine unbeabsichtigte Folge der Abschreckungsstrategie der Selbstwehr. Zwar war die Angst vor einem Massaker der Juden an den »Christen« aus heutiger Sicht absurd. Sie ist jedoch nachvollziehbar, wenn man in Betracht zieht, dass die Bauern erstmals mit einer jüdischen Selbstwehrgruppe konfrontiert waren, die sich Abschreckung und damit die Inszenierung von Bedrohlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte. Selbst wenn die Nichtjuden anerkannten, dass die Selbstwehr eine Antwort auf die Pogrome war, so konstruierten sie den Zusammenhang zwischen beidem doch auf unvorhergesehene Weise. Demzufolge bewaffneten sich die Juden nicht, um zukünftige Gewalt zu verhindern, sondern um für vergangene Pogrome Vergeltung zu üben.76 Verbündete wider Willen Ähnlich wie in Elisavetgrad blieb die Gewalt, die so viele für die Ostertage erwartet hatten, zunächst aus. Keine Bomben, kein Pogrom, die Feiertage verstrichen ruhig. Die Lokalzeitung fühlte sich in ihrer Prognose bestätigt: »Die Furcht, der Alarm, die Aufregung und die Vorkehrungen haben sich als ungerechtfertigt erwiesen. Es war sogar ein wenig 74 Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 26. 5. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 109, l. 53ob. 75 Horowitz, Deadly, S. 75. 76 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Ministr Justicii, 14. 7. 1907, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 70–70ob.

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lächerlich anzusehen, wie die verstärkten Trupps von Polizei und Militär über menschenleere Straßen wachten.«77 Doch wer meinte, mit dem Osterfest sei auch die Zeit der Pogrome vorübergegangen, irrte. Ostern war immer eine Zeit gehäufter Pogrome gewesen, vor allem deshalb, weil die Feiertage ein Täterpotenzial freisetzten (und nicht aufgrund österlich-religiöser Exaltation).78 Andere Feiertage waren jedoch nicht per se weniger gefährlich, und in der Tat spitzte sich die Situation bereits beim nächsten Höhepunkt im Festkalender, dem Georgstag (23. April), erneut zu. Alles begann damit, dass zwei Gruppen von Menschen in Feierlaune aufeinandertrafen. Wieder fand die Auseinandersetzung in der Nähe des Dorfes Psyˇscˇ e und der Vorortsiedlung Pavlikovka statt. Dort hielten örtliche Bauern ein Festessen und trafen auf eine Gruppe junger Juden aus der Stadt. Zuerst flogen Beleidigungen hin und her, dann warfen die Bauern Steine. Einige Juden begannen zu schießen, ergriffen dann aber die Flucht. Manche suchten Unterschlupf bei einem der wenigen in Pavlikovka ansässigen Juden, doch die Bauern verfolgten sie und versuchten, in die »jüdischen« Häuser Pavlikovkas einzudringen. Rufe, »dass die Juden sie schlagen«, lockten etwa 100 Unterstützer herbei.79 Es fehlte nicht mehr viel zu einem vollen Pogrom, als unerwartet über 2000 Juden aus der Stadt in den Vorort kamen.80 Kurz danach traf auch das Militär ein

77 Volyn’, No. 85, 22. 4. 1905, S. 3. 78 Dass die Osterzeit allgemein nicht mehr als einen Höhepunkt der Pogromaktivität neben anderen darstellte, zeigt für die Jahre 1903 bis 1906: Lambroza, Pogroms, S. 227. Zur relativen Schwäche der religiösen Komponente der Judenfeindlichkeit in Russland: Klier, Traditional. Man könnte argumentieren, dass dieses Argument auf Zˇitomir wegen seiner polnischen Geschichte nicht zutrifft. Beispielsweise gab es 1753 in der Stadt einen Ritualmordprozess. Die Pogromtäter, um die es hier geht, waren aber mehrheitlich russische Altgläubige, für die eher die russische als die polnische Traditionslinie der Judenfeindlichkeit von Bedeutung war. Zum Ritualmordprozess: Gol’dˇstejn, Zˇitomirskoe; zur »strukturellen Verfügbarkeit« von Tätern als wichtigem Faktor für das Zustandekommen von Massenunruhen: McPhail, Dark, S. 8–9. 79 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 25. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 10. 80 Die Zahl wird in den Quellen als »bis 3000« resp. »einige Tausend« angegeben, sodass 2000 eine vorsichtige Schätzung darstellen sollte. Prokuror Zˇitomirskogo OS an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 25. 4. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 13–13ob; Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3.

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und postierte sich zwischen den etwa 100 Angreifern und den zahlenmäßig weit überlegenen Juden. Weil die Angreifer auf einer Anhöhe standen, konnten sie bequem Steine in die Gruppe der Juden werfen. Da diese nicht in gleicher Weise antworten konnten, schossen sie stattdessen, wobei sie jedoch Schwierigkeiten hatten, nicht die Soldaten zu treffen. Etwa eine Stunde dauerte die Pattsituation an. Auftrag des Militärs war es, beide Gruppen voneinander zu trennen, doch damit erlaubten sie letztlich den Unruhestiftern auf der Anhöhe, die Gruppe der Juden weiter zu provozieren. Zugleich erklangen aus dieser neben Schüssen auch Rufe wie »Nieder mit der Regierung!« und »Nieder mit der Autokratie!«, was die Bereitschaft der Staatsmacht, für die Juden Partei zu ergreifen, vermutlich nicht förderte.81 Es wäre die Aufgabe eines hohen Beamten gewesen, die bedrohliche Situation in Pavlikovka zu entschärfen, doch kaum war der Vizegouverneur am Ort des Geschehens eingetroffen, da suchte er schon wieder das Weite, »da er seine Anwesenheit nicht nur für nutzlos, sondern sogar für gefährlich erachtete«.82 Die Verantwortung schob er kurzerhand dem Polizeimeister Janovickij zu, doch auch dieser fand keine Lösung für die vertrackte Lage. Schließlich ergriffen zwei Studenten von der Selbstwehr die Initiative. Sie unterbreiteten Janovickij das Angebot, dass die gewaltige jüdische Menge ohne Widerstand abziehen würde, wenn die Polizei im Gegenzug die Führung ihrer Gegner festnehme. Janovickij ging darauf ein, und tatsächlich zeigte die Selbstwehr, dass sie nicht nur große Menschenmengen mobilisieren, sondern sie auch wieder zurückziehen konnte, während unter den etwa 100 »Christen« auf der Anhöhe 25 Anführer identifiziert und in Gewahrsam genommen wurden.83 Obwohl die jüdische Selbstwehr kein Geheimnis daraus machte, dass sie in der Staatsmacht ihren Gegner sah, konnten die beiden Parteien effizient kooperieren, wenn sie sich auf ihr gemeinsames Ziel, das Ver-

81 Vorherige »Ermahnungen« des Polizeimeisters waren ohne Wirkung geblieben. Auch ein Versuch der Behörden, die »Christen« auf dem Berg festzunehmen, war erfolglos. Ebd. 82 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 33ob; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 25. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 10ob. 83 Ebd.

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hindern von Pogromgewalt, besannen und alles Übrige beiseiteließen. Allerdings hatte solcher Pragmatismus bei allem Erfolg zumindest für die Polizei auch einen unangenehmen Beigeschmack. Dass man genötigt war, sich auf die Bedingungen der Regimegegner einzulassen, empfand sie als diskreditierend, vermutlich sogar als beschämend. Deshalb war das weitere Handeln der Polizei voller Widersprüche: Die 25 in Pavlikovka Festgenommenen wurden noch am selben Abend wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Polizei betrachtete sie einerseits als Täter, indem sie von ihnen das »Versprechen« abverlangte, an keinen weiteren Unruhen mehr teilzunehmen. Zugleich ließ sie sich aber auch auf ihre Klagen ein, sie hätten sich bloß gegen die aggressiven Juden zur Wehr setzen wollen, und gewährte den Männern eine Militäreskorte zum Schutz vor jüdischen Angriffen. Alles in allem, hieß es später scheinheilig, sei die Entlassung »aufgrund von Befürchtungen, dass die ausschließliche Festnahme von Russen die Bevölkerung noch mehr aufbringen werde«, erfolgt.84 Welche Folgen es haben konnte, Pogromtäter ohne Strafe laufen zu lassen, war aus der jüngeren Geschichte bekannt.85 Dennoch wollten sich die Kräfte des Staates nicht mit dem Gedanken anfreunden, Pogromgewalt um den Preis einer Allianz mit der revolutionären Selbstwehr zu verhindern. Vorerst war das Pogrom verhindert worden, aber der Konflikt schwelte weiter. Am folgenden Tag, einem Sonntag, bahnte sich eine Wiederholung des Szenarios von Pavlikovka an, diesmal jedoch auf dem Kathedralenplatz im Herzen der Stadt. Alles begann damit, dass sich dort eine Gruppe »christlicher« Arbeiter sammelte. Die Männer unternahmen zunächst nichts Außergewöhnliches, doch eingedenk der vorherigen Ereignisse genügte ihre bloße Anwesenheit, um die Juden der Stadt in Alarm zu versetzen. Rasch wurde die Selbstwehr mobilisiert, die sich am Rand des Platzes in Reihen postierte, wobei sie die Revolverläufe deutlich sichtbar aus den Taschen ragen ließ.86 Wenig später bezog das

84 Eine Rechtfertigung seitens der Polizei selbst liegt nicht vor. Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 20ob; Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3; Kievljanin, No. 120, 2. 5. 1905, S. 2. 85 So z.B. bei dem Pogrom von Balta 1882. Klier, Balta, S. 118. 86 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 31ob.

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Militär zwischen beiden Parteien Stellung, hohe Beamte erschienen auf dem Platz und riefen, erfolglos, die Versammelten dazu auf, nach Hause zu gehen. Ansonsten geschah lange Zeit nichts.87 Gegen 15 Uhr entschied der diensthabende Offizier, dass die Lage ruhig genug sei, um die Soldaten am Rand des Platzes rasten zu lassen. Aus beiden Lagern lösten sich nun kleine Gruppen, um ihre jeweiligen Gegner aus der Nähe zu betrachten. Manchen wurde es wohl langweilig; zwischenzeitlich waren von den einst 200 »Christen« nicht mehr als 25 übrig geblieben. Doch drei von ihnen, angetrunken, genügten, um der scheinbaren Ruhe ein Ende zu setzen. Sie schlenderten über den Platz, fragten erst einen Offizier nach 20 Kopeken für Schnaps und erklärten ihm, wie gern sie im Krieg gegen Japan kämpfen würden. Danach gingen sie zu einer Gruppe jüdischer Jungen, fragten, was sie hier wollten, bewegten sich bedrohlich auf sie zu – und schon fielen aus der »jüdischen« Menge Schüsse. Die übrigen »Christen« eilten hinzu, es gab eine Schlägerei, Steine flogen. Nur

87 Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3.

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mit Mühe konnte das Militär die beiden Gruppen trennen.88 Sobald die Kette der Soldaten stand, nahm die Spannung wieder ab – bis die Nachricht vom Tod des Polizeihauptmanns Kujarov den Kathedralenplatz erreichte. Der Zˇitomirer Sozialrevolutionär und »Kampfgruppen«-Aktivist Petr K. Sidorˇcuk hatte dem verhassten Kujarov aufgelauert und ihn erschossen.89 Vor dem Hintergrund der Zeit ist die Tatsache des Attentats kaum erklärungsbedürftig: Wo immer in Russland (unter anderem) die Sozialrevolutionäre Partei aktiv war, mussten Polizeibeamte, zumal solche, die für exzessive Gewalt gegen Personen aus der »Befreiungsbewegung« verantwortlich gemacht wurden, in jener Zeit Anschläge fürchten. Aber warum wählte Sidorˇcuk gerade diesen besonderen Zeitpunkt? Man kann davon ausgehen, dass er (nicht zuletzt wegen der Verflechtungen von Sozialrevolutionärer Partei und Selbstwehr) über die Zuspitzungen der vorangegangenen Tage und über die Konfrontation auf dem Kathedralenplatz informiert war, und deshalb kann ein Zusammenhang zwischen dem Mord und dem drohenden Pogrom angenommen werden.90 Zum einen mochte die Hoffnung, mit Kujarov die maßgebliche treibende Kraft hinter dem Pogrom auszuschalten, eine Rolle gespielt haben.91 Zum anderen dominierte in den revolutionären Kreisen die Auffassung, dass neben Kujarov noch zahlreiche weitere lokale Staatsvertreter auf das Pogrom hinwirkten. Deshalb hatte man schon Wochen vor dem Pogrom erklärt, sie alle im Fall eines Pogroms »zur Rechenschaft [zu] ziehen«.92 Anonyme Flugblätter verkündeten »Todesurteile« gegen Kujarov, aber auch gegen den Polizeichef und den Gouverneur Katalej.93 Vor diesem Hintergrund spricht einiges für die Annahme, dass der Mord an Polizeihauptmann Kujarov auch als letzte, ultimative Warnung an die übrigen »Hintermänner« des Pogroms gedacht war und damit als ein weiterer Versuch der Abschreckung. 88 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 31ob–32; vgl. zu ähnlichen Pattsituationen: Collins, Dynamik, S. 625–630. 89 A. E˙pˇstejn: Brief aus Zˇitomir an M. Rabinoviˇc in Odessa, 8. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 4. 90 Von einer aktiven Rolle Sidorˇcuks auf dem Platz berichtet: ebd. 91 Roˇzanskij, N. A.: privater Brief, 29. 4. 1905, CDIAU f. 274, op. 4, d. 123, l. 47. 92 Dinur, Mir, S. 246. Das war kein ungewöhnlicher Vorgang: Tobias, Jewish, S. 328. 93 Zafran, 1905, S. 155; Naˇc. Volynskogo GZˇU an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 26. 5. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 125.

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In der Stadt breitete sich die Nachricht vom Mord an Kujarov in Windeseile aus. Kaum jemand wusste genau, was geschehen war, einmal mehr brodelte es in der Gerüchteküche. Deshalb war die Information, die auf dem Kathedralenplatz ankam, auch auf charakteristische Weise verzerrt. Obgleich der Attentäter Sidorˇcuk in den Akten als »Christ« geführt wurde und seinem Namen nach wohl Ukrainer war, hieß es nun: »Die Juden [ˇzidy] haben den Polizeihauptmann erschlagen – schlagt die Juden!«94 Manche verallgemeinerten die Ereignisse noch mehr (und hatten dabei wohl auch die Schießübungen der Selbstwehr im Sinn): »Sie schießen auf den Zaren und ermorden zarische Beamte!«95 Wer »sie« waren, bedurfte hier offenbar keiner Erklärung. Gleichwohl kam es zunächst nicht zur Eskalation, denn es wiederholte sich das am Vortag in Pavlikovka erprobte Szenario. Eine Kette von Soldaten trennte beide Menschenmengen, die einander aus der Distanz bekämpften. Steine flogen hin und her, in »jüdischen« Häusern gingen die Scheiben zu Bruch; einige bewaffnete Juden schossen aus Fenstern und von Dächern. Ganze »Salven« sollen sie Angaben der Prokuratur zufolge von dort gefeuert haben, doch überraschenderweise ist nichts darüber vermerkt, dass irgendjemand durch die Schüsse zu Schaden kam.96 Wie schon am Vortag lief alles auf Verhandlungen zwischen Selbstwehr und Staatsmacht hinaus. Die Initiative übernahm diesmal ein Offizier namens Pinˇcuk, der, als die Selbstwehr vorrückte und die Soldatenkette hätte durchbrechen können, zunächst befahl, die Gewehre anzulegen und die vorgeschriebenen Trommelsignale, jene ultimative Warnung des Staates vor dem Gebrauch tödlicher Gewalt, schlagen ließ. Dies genügte, um die allermeisten zum Zurückweichen zu veranlassen. Der Offizier rief einen Mann, den er als Anführer ausmachte, zu sich, um 94 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 32ob; vgl. hingegen die auch sonst leider wenig zuverlässige Darstellung in: Linden, Judenpogrome, S. 50. Zu Sidorˇcuk als »Christ«: Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 24ob. Übrigens war es ein Jude, der die Flucht Sidorˇcuks maßgeblich vereitelte. Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3. 95 Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 20ob–21. 96 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 12ob; Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 25.

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zu verhandeln, und der Mann, seiner Uniform nach ein Student und, wie der Offizier berichtete, »dem Aussehen und der Sprache nach ein Russe (Christ) [sic]«, ließ sich darauf ein. Während der Offizier verlangte, dass ein Mindestabstand von seinen Truppen eingehalten werde, brachte der Selbstwehrmann seinerseits vor, dass die Juden sich nicht beruhigen könnten, solange ihre Häuser mit Steinen beworfen würden. Rasch fanden beide zu einer Lösung: Der Student sprach zu den Juden, worauf diese sich merklich beruhigten. Der Offizier ließ die »Christen« ermahnen, worauf diese tatsächlich die Steinwürfe einstellten.97 Die unwahrscheinliche Allianz hatte abermals für eine Atempause gesorgt. Einen wichtigen Unterschied gab es zur Situation in Pavlikovka am Vortag. Die Verhandlungen führte hier nicht mehr der Polizeichef, sondern ein Offizier. Das ist deshalb bemerkenswert, weil das Militär beim Einsatz im Inneren eigentlich klar den Zivilbehörden untergeordnet war, solange diese nicht einen Schießbefehl erteilt hatten. Hätte Hauptmann Pinˇcuk auf dem Kathedralenplatz tatsächlich auf die Juden schießen lassen, obwohl diese weder die Soldaten angegriffen noch das Leben der Beteiligten bedroht hatten, so hätte er seine Kompetenzen überschritten. Auch das Führen von Verhandlungen oblag der Polizei oder dem Gouverneur. Doch von den Zivilbehörden ließ sich niemand auf dem Kathedralenplatz blicken, nachdem sich die Nachricht vom Mord an Kujarov verbreitet hatte. Pinˇcuk selbst erklärte, er habe, als sich die Lage zuspitzte, vergebens nach dem zuvor noch anwesenden Polizeimeister Janovickij gerufen, doch nicht einmal einfache Schutzleute seien vor Ort gewesen. Erst nach einiger Zeit näherten sich zwei Polizeibeamte, um Pinˇcuk mitzuteilen, dass »[Janovickij] sich weigert, die Unruhen zu beenden, und [Pinˇcuk] die Macht überträgt«.98 Hatte tags zuvor der Vizegouverneur die Verantwortung auf den Polizeimeister abgewälzt, befand sich nun dieser für nicht zuständig. Das Militär war aber unter der Maßgabe auf den Kathedralenplatz beordert worden, jegliche Anwendung von Gewalt zu vermeiden, und deshalb war es nachvollziehbar, dass Hauptmann Pinˇcuk die unklar formulierte und nur indirekt überbrachte mündliche Vollmacht zurückwies und eine schriftliche Order

97 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 32ob–33. 98 Ebd.

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verlangte.99 Schließlich erschien Janovickij doch persönlich. Er war umringt von einer ungewöhnlich starken Eskorte und erklärte »aufs Äußerste erregt und außer Fassung«: »Sie haben Kujarov getötet, was werden wir nun tun?« Von Pinˇcuk darauf hingewiesen, dass man »wahrscheinlich« das Feuer werde eröffnen müssen, erwiderte er: »Nein, nein, nicht schießen.«100 Wie das Militär stattdessen auf eine mögliche Eskalation reagieren sollte, ließ er offen. Auch wenn mit der Zeit immer mehr Truppen auf dem Platz eintrafen, war eine Entspannung nicht in Sicht. Bis etwa neun Uhr am Abend hielten sich die beiden Menschenmengen, vom Militär getrennt, auf dem Platz, bis einmal mehr die Selbstwehr die Initiative ergriff. Ein Jude, der bereits erwähnte Isser Binˇstok, und ein junger Russe namens Nikolaj Blinov, beide führende Figuren der örtlichen Sozialrevolutionäre, boten dem Polizeimeister im Namen der Selbstwehr Verhandlungen an. Rasch kam man überein, wie in Pavlikovka zu verfahren: Aus Sicht der Polizei musste die missliche Lage auf dem Kathedralenplatz beendet werden, Juden und »Christen« hatten zu verschwinden, und weil die Kräfte der Staatsmacht nicht ausreichten, dies zu erzwingen, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein weiteres Mal mit der Selbstwehr und ihrer revolutionären Führung zu paktieren. So schien es zumindest. Blinov und Binˇstok gingen zurück zur Selbstwehr, um die erzielte Einigung zu verkünden, und das Militär begann, die »Christen« zu umstellen, damit sie abgeführt werden konnten. Doch als die Emissäre wieder die Soldatenkette passierten, um mit dem Polizeichef über das weitere Vorgehen zu verhandeln, war dieser unauffindbar. Stattdessen befanden sich dort die gerade festgesetzten »Christen«, und sie fielen augenblicklich über die beiden Männer her.101 Binˇstok kam mit dem Leben davon, weil sich ein Offizier buchstäblich auf ihn warf.102 Schlechter erging es Blinov, und das, ob99 Ebd.; vgl. zum rechtlichen Hintergrund: Pravila o prizyve vojsk dlja sodejstvija graˇzdanskim vlastjam, Abs. 12, PSZ, 1877, No. 57748. 100 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 33; Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3. 101 Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 21. 102 Vgl. Binˇstoks Aussage bei dem späteren Gerichtsprozess zum Pogrom: Volynskaja ˇzizn’, No. 199, 20. 6. 1907, S. 2. Die Gerichtsakten im Lokalarchiv von Zˇitomir sind weitgehend zerstört. Das Geschehen im Gerichtssaal wurde aber auch in der Lokalpresse dokumentiert.

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wohl er Russe war und folglich nicht umstandslos in das Feindschema der Täter passte. Wie so oft, wenn sich Pogromtäter über die Zugehörigkeit einer Person zur Gruppe der Opfer im Unklaren waren, fand ein Aushandeln statt. Unterschiedlichen Berichten zufolge erkannten die Täter an, dass Blinov kein Jude war, attackierten ihn aber trotzdem, weil er sich mit ihnen gemeinmache: »Das ist ein Sozialist, der die Juden verteidigt, er ist schlimmer als ein Jude, haut ihn!«103 Wohl in Panik zog Blinov seinen Revolver und feuerte einen Schuss ab, der aber niemanden traf. Daraufhin schlugen und traten mehrere Männer auf ihn ein:104 »Die Menge brachte ihn zu Fall und zerschmetterte ihm mit Steinen Beine und Schädel«, heißt es im nicht zu Übertreibungen neigenden Bericht der Staatsanwaltschaft.105 Das alles geschah im Beisein zahlreicher Soldaten und Beamter. Waren sie überrumpelt, überfordert oder vielleicht gleichgültig? Sympathisierten sie mit den Tätern und ließen ihnen deshalb freien Lauf? Zumindest lässt sich sagen, dass manche Vertreter der Staatsmacht nicht vorrangig von Judenfeindlichkeit angetrieben waren. Immerhin war es ein Offizier, der Binˇstok gerettet hatte, und auch nach der Eskalation fühlte sich das Militär offenbar weiter an die Vereinbarung mit der Selbstwehr gebunden und führte etwa 50 »Christen« ab. Allerdings verhinderte es nicht, dass diese zwei weitere Morde verübten. Ein Jude war auf eine Straßenbahn aufgesprungen, um rasch an der »christlichen« Menge vorbeizukommen, wurde aber heruntergezerrt und auf der Stelle erschlagen.106 Auch beim zweiten Fall spielte die Straßenbahn eine Rolle: Sie unterbrach den Konvoi und gab zwei Männern die Gelegenheit, auszubrechen und einen in der Nähe stehenden jüdischen Kaufmann niederzustechen.107

103 Linden, Judenpogrome, S. 51; Kievskaja gazeta, No. 123, 5. 5. 1905, S. 2; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 34ob. 104 Ebd.; Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 25. 105 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 12ob–13; vgl. auch Volyn’, No. 87, 29. 4. 1905, S. 3. 106 Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 2; Kievskaja gazeta, No. 123, 5. 5. 1905, S. 2. 107 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13.

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Auch hier ist denkbar, dass die Soldaten von den sich rasch entwickelnden Ereignissen überrumpelt waren. Eindeutig lässt sich ihr Verhalten allerdings nicht einordnen. Sicher ist jedoch, dass die Ereignisse auf dem Kathedralenplatz einen Wendepunkt für das Pogrom darstellten. Ein letztes Mal war es der Selbstwehr gelungen, eine sehr gefährliche Situation zeitweilig unter Kontrolle zu halten, indem sie das unwahrscheinliche Zweckbündnis mit der Staatsmacht einging. Was geschah, wenn die Selbstwehr auf sich gestellt war, sollte sich im jüdischen Armenviertel, dem »Podol«, zeigen, am eigentlichen Schauplatz des Pogroms. ˇitomir Pogrom in Z Während die Aufmerksamkeit von Militär, Polizei und der Führung der Selbstwehr auf den Kathedralenplatz fokussiert war, spitzte sich auch an der städtischen Peripherie die Lage merklich zu. Das Zentrum Zˇitomirs befand sich auf einer Anhöhe, von der das als »Podol« bekannte jüdische Armenviertel recht steil bis zum Ufer eines Flusses, der Kamenka, abfiel.108 Eine Brücke verband den Podol mit der Vorortsiedlung Malevanka, einem jener Orte, in die sich selten ein Polizist verirrte, obwohl oder gerade weil die dort lebenden »Christen«, meist arme Altgläubige, als besonders kriminell galten.109 Die wenigen Juden, die in Malevanka lebten, hatten sich schon am Vortag vorsorglich in Sicherheit gebracht, was in den Augen der übrigen Bewohner wiederum dafür sprach, dass der Zenit der Gewalt noch nicht erreicht war.110 Auch die Juden im Podol spürten, dass sie sich in Gefahr befanden, und nicht zu Unrecht vermuteten sie die größte Bedrohung in Malevanka. Nur eine Brücke verband die beiden Stadtviertel. Wer dieses Einfallstor kontrollierte, durfte hoffen, mögliche Angreifer zurückzuschlagen, und darauf konzentrierte sich die Selbstwehr, die auf der »jüdischen« Seite der Brücke in Stellung ging. Tatsächlich ging der Plan

108 Zeitungsartikel aus Volyn’, No. 57, 11. 6. 1904, CDIAU f. 442, op. 657, d. 66, l. 94. 109 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 30; Arndt, Shitomirer, S. 87. Vgl. allgemein zu städtischen Außenbezirken im Zarenreich als »de facto staatsfernen Räumen«: Schnell, Räume, S. 48; Galeotti, World, S. 98–101. 110 Blatt aus Novosti. Birˇzevaja gazeta, No. 112, 5. (18) 5. 1905, S. 3–4, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 94a.

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auf. Eine Gruppe von Leuten aus Malevanka, die Knüppel schwingend versuchte, die Brücke zu überqueren, wich zurück, sobald die Selbstwehr das Feuer eröffnete. Der Anführer der Angreifer, ein Mann namens Sen’ka Emec, um den es später noch einmal gehen wird, mochte sich noch so viel Mühe geben, zusätzliche Unterstützer zu gewinnen – »He, hierher, hierher, die Unsrigen werden geschlagen« –, jeder Versuch, über die schmale Brücke zu stürmen, fand angesichts der Schüsse der Selbstwehr ein jähes Ende.111 Was wie ein Erfolg der Selbstwehr aussah, hatte aber ambivalente Folgen. Die Angreifer um Sen’ka Emec hatten die Selbstwehr in gewisser Weise gezwungen, von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen, was bis dahin nur eine diffuse Drohung gewesen war. Dadurch änderte sich die Stimmung in Malevanka. Die Angreifer konnten nun behaupten, es handle sich keineswegs um einen einseitigen Angriff, sondern um einen »Kampf«, eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen auf Augenhöhe, was sich wesentlich legitimer darstellte als ein einfaches Pogrom. Weil »die Unsrigen geschlagen« wurden, konnten die, die ein Pogrom wollten, nun behaupten, sie verteidigten sich nur, und das machte es viel leichter, Unterstützung zu gewinnen. So kamen zu einem in dem Vorort lebenden ehemaligen Offizier zwei Männer und verlangten von ihm Feuerwaffen, da »die Juden nach Malevanka kommen und alle niedermetzeln werden«. Der Offizier selbst war offenbar nicht überzeugt, doch seine Frau händigte den Männern ein Gewehr aus.112 Obwohl die vermeintlich von den Juden ausgehende Gefahr konstruiert und von den Männern um Emec regelrecht heraufbeschworen worden war, schenkten ihr doch viele in Malevanka Glauben. Zahlreiche Frauen und Kinder flohen aus Angst vor einem Angriff in den Wald oder in eines der umliegenden Dörfer.113 Den Juden im Podol wurde schließlich zum Verhängnis, dass sie sich zu sehr auf die Brücke konzentrierten. Es gab nämlich noch eine weitere Möglichkeit, den durch Steilufer schwer zugänglichen Fluss zu überqueren, nämlich bei einer nahe gelegenen Furt. Diese passierten einige An111 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 28–31. 112 Ebd., S. 29. Es ist nicht bekannt, dass die Pogromtäter von dieser oder anderen Schusswaffen auch Gebrauch machten. 113 Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 2; Kievljanin, No. 120, 2. 5. 1905, S. 2.

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greifer und fielen so den Selbstwehrleuten in den Rücken.114 Augenblicklich kollabierte deren Verteidigung, Panik brach aus. Nun hielt die Männer aus Malevanka nichts mehr. Sie stürmten herbei und schlugen auf alle Juden ein, derer sie habhaft werden konnten, sechs wurden auf der Stelle ermordet.115 Die Fliehenden wurden durch die Straßen gehetzt. Dann drang die Menge in die Häuser und Läden ein, das Plündern und Zerstören begann. Die Täter wollten sich nicht nur bereichern, sie wollten die Häuser der Juden unbewohnbar machen und zerschlugen deshalb auch Öfen und Fensterläden. Vom Mobiliar hinterließen sie teils nicht mehr als »winzige Splitter«.116 Es war geradezu ein Fest der Zerstörung und der Gewalt. Erst vier Stunden später kamen Soldaten in den Podol, und das Pogrom kam zum Erliegen. Die späteren Ereignisse lassen aber vermuten, dass der Grund dafür weniger die Soldaten waren als die Ermüdung der Täter.117 Am folgenden Tag nämlich, dem 25. April, ging das Plündern und Zerstören weiter, obwohl Militär vor Ort war. Doch etwas war neu: Nun waren auch Bauern aus dem Umland zur Stelle. In den Dörfern hatte es zuvor ebenfalls Gerüchte über ein angeblich bevorstehendes Massaker der Juden an den Christen gegeben, nur waren sie für die Bauern nicht weiter von Belang gewesen. »Irgendetwas wurde gesagt, aber niemand maß dem große Bedeutung bei«, erklärte ein Dorfpriester vor Gericht. Das änderte sich, als am 24. April die ersten aus Zˇitomir geflohenen Familien die Dörfer erreichten und berichteten, dass die Juden in der Stadt ein Massaker verübten und bald auch ins Umland kämen.118 Vielleicht noch wichtiger war ein gewisser Babiˇc, der am folgenden Tag auf einem weißen Ross von Dorf zu Dorf ritt und die Bauern um Unterstützung gegen die vermeintlich in der Stadt marodierenden Juden bat. Nun bewaff114 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 28ob; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 16ob. 115 Ebd. 116 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 17. 117 Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 21. 118 Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 3.

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neten sich tatsächlich zahlreiche Bauern und folgten dem Hilferuf. Später vor Gericht gestand Babiˇc (nach einigem Abstreiten), die Bauern absichtlich mit Schauergeschichten in die Irre geführt zu haben.119 Unter anderem seinetwegen kamen also mehrere Hundert Bauern aus verschiedenen Dörfern am Morgen des 25. April nach Zˇitomir, Gewehre, Heugabeln, Sensen und Beile geschultert. Unter eine Gruppe hatte sich abermals Sen’ka Emec gemischt, nun jedoch allem Anschein nach nicht in der Rolle eines Anführers.120 Auch etwa 100 Frauen und Kinder aus Malevanka schlossen sich dem Zug auf dem Weg zu der besagten Brücke über die Kamenka an. Doch dort, wo zuvor die Selbstwehr gestanden hatte, blockierten nun Soldaten den Weg, und die Menge zog sich wieder zum stadtauswärts gelegenen Ufer zurück.121 Freilich gehörte nach den Ereignissen des Vortags nicht viel Einfallsreichtum dazu, über die Furt in den Podol vorzudringen.122 Der Großteil der Bauern jedoch schien gar kein Pogrom im Sinn zu haben, sondern ließ sich, vielleicht immer noch in Erwartung eines möglichen Angriffs der Juden, auf ihrer Seite der Brücke nieder und harrte aus. Die Soldaten taten es ihnen gleich und verweigerten auch weiteren Gruppen den Zutritt zum anderen Flussufer.123 Leistete das Militär hier also durchaus einen Beitrag zur Eindämmung des Pogroms, so verhinderte es doch nicht, dass im Podol weiterhin geplündert wurde. Wenigstens wurden nur noch wenige Juden geschlagen – die meisten hatten längst die Flucht ergriffen. Unter unklaren Umständen kamen an diesem zweiten Pogromtag weitere drei Juden ums Leben (am ersten Tag waren es elf gewesen).124 Insgesamt jedoch hatte die Gewalt nun eher den Charakter, wie er bereits für Elisavetgrad dargestellt wurde. Sie diente, wo sie ein Opfer fand, vorrangig seiner Demütigung. So beschrieb einer der Zeugen beim Gerichtsprozess, wie ein halbes Dutzend junger Bauern eine dreimal so 119 Ebd. 120 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 29–29ob. 121 Ebd. 122 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 15. 123 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 30. 124 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 34ob. Weitere drei Juden erlagen später ihren Verletzungen.

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große Gruppe Juden vor sich hertrieb, indem sie ihnen mit Stöcken auf die Rücken schlugen: »Das war eine Art Scherz: Die Starken trieben Spott mit den Schwachen.«125 An diesem Tag leisteten die Juden auch keinen Widerstand mehr; es war also nicht mehr riskant zu plündern und zu zerstören, und deshalb taten sich nun auch Frauen und Kinder besonders hervor.126 Bemerkenswert ist außerdem, dass die Bauern an der Brücke nach Malevanka intervenierten, als aus der Stadt Leute kamen, die schwer mit Geplündertem beladen waren. Die Bauern verlangten von ihnen, die Sachen zurückzubringen, und wer nicht gehorchte, musste damit rechnen, kurzerhand in den Fluss geworfen zu werden. Voller Entrüstung sollen einige der Bauern gerufen haben: »Man hat uns nicht gerufen, um zu stehlen und Häuser zu zerschlagen, damit machen wir uns nicht die Hände schmutzig.«127 Warum endete das Pogrom am 26. April und warum nicht schon früher? Für den Korrespondenten des Novoe vremja lag die Antwort auf der Hand: »Letztendlich wurden die Pogromtäter natürlich müde und das Gemetzel kam allmählich zum Ende. Nur hier und da (hieß es gerüchteweise) schlagen sie noch einen herumirrenden Juden und rauben ein leeres Haus aus [sic].«128 Tatsächlich spielte eine gewisse Ermüdung der Täter sicherlich eine Rolle, doch man kann nicht sagen, dass es an materiellen Anreizen für ein Fortsetzen der Gewalt gefehlt hätte, den Plünderern also nichts als »leere Häuser« geblieben wären. Der Sachschaden war groß, aber nicht total. In Zˇitomir lebten, wie bereits erwähnt, 33000 Juden, aber nicht mehr als 153 Gebäude wurden während des Pogroms beschädigt. Selbst im Podol, dem am stärksten betroffenen Stadtteil, hatte weniger als ein Drittel der Häuser »starken« Schaden genommen.129 Die besseren Viertel, wo die wohlhabenden Juden lebten, blieben fast völlig unversehrt. Gewiss spielte es eine Rolle, dass am Mor125 Volynskaja ˇzizn’, No. 203, 24. 6. 1907, S. 2. 126 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 17; Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 29ob. 127 Ebd. 128 Blatt aus Novosti. Birˇzevaja gazeta, No. 112, 5. (18) 5. 1905, S. 3–4, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l.94a ob. 129 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj sudebnoj palaty, 23. 4. 1906, CDIAU f. 317, op. 1, d. 3579, l. 3; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 17.

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gen des 26. April, also ähnlich spät wie in Elisavetgrad, ein Schießbefehl erlassen wurde, was man in der Bevölkerung verbreiten ließ. Er musste nicht mehr umgesetzt werden, mochte aber dennoch eine abschreckende Wirkung entfaltet haben. Hinzu kam, dass das Pogrom bereits am Vortag schwächer geworden war.130 Am 26. April also endete die Gewalt in Zˇitomir, doch viele Einwohner trauten dem Frieden nicht. »Hier fürchtet man sich, nach draußen zu gehen, und man fürchtet sich, zu Hause zu bleiben. Voller Furcht betrachtet man jeden [Passanten] und es ist, als könne sich dein Bruder im Handumdrehen in deinen Mörder verwandeln«, schrieb ein Augenzeuge.131 Ein lautes Geräusch genügte, und man wähnte sich wieder mitten im Pogrom. Für die Vertreter des Staates in Zˇitomir war das äußerst lästig, da immer wieder Militär durch die Stadt geschickt werden musste, aus nichtigem Anlass, wie sich dann jeweils herausstellte. Der Anblick der durch die Straßen eilenden Trupps trug wiederum nicht zur Beruhigung der Bevölkerung bei.132 Schon vor dem Pogrom war das Vertrauen vieler Einwohner in die Fähigkeit und Bereitwilligkeit des Staates zu ihrem Schutz brüchig gewesen, sonst hätte es keine Selbstwehr gegeben. Nach dem Pogrom war es vollends erschüttert. Das bedeutete aber nicht, dass gewissermaßen komplementär der Selbstwehrgedanke gestärkt wurde. Die Juden Zˇitomirs, genauer gesagt eine bestimmte Gruppe, zog aus den Ereignissen des April 1905 eine andere Schlussfolgerung, und sie wurde ein halbes Jahr später, als sich in Russland binnen weniger Wochen Hunderte Pogrome ereigneten, relevant. Warum das so war, hat damit zu tun, wie die Zeitgenossen das Pogrom von Zˇitomir erklärten und deuteten. »Selbstwehr« und »Schwarzhunderter« waren dabei die zentralen Begriffe, und zentral waren sie auch für die größeren Debatten über die Pogromgewalt um 1905 überhaupt.

130 Volynskij gubernator: Telegramm an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 27. 4. 1905, 4 Uhr morgens, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 21. 131 Blatt aus Novosti. Birˇzevaja gazeta, No. 112, 5. (18) 5. 1905, S. 3–4, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 94a ob. 132 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 34ob–35.

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Die jüdische Selbstwehr Zˇitomir gilt in der Forschung als Musterbeispiel einer erfolgreichen Selbstwehrgruppe.133 Shlomo Lambroza schrieb vom »überwältigenden Erfolg« der Selbstwehr, die unter Bundisten den Status einer »Legende« erlangte. Abraham Aschers Einschätzung des Pogroms von Zˇitomir liest sich wie folgt: »Mit Unterstützung von Polizei und Militär wüteten die Pogromtäter drei Tage lang, aber sie stießen auf heftigen Widerstand durch junge bewaffnete Juden. Ein Zeitgenosse erklärte, dass es ›in Zˇitomir kein Pogrom gab, sondern einen Krieg‹, in dem offenkundig mehr Christen als Juden zu Tode kamen.«134 Insgesamt ist die Auffassung, es habe sich eher um einen »Kampf« oder »Krieg« denn um ein Pogrom gehandelt, in der Literatur recht weit verbreitet, was insofern nicht verwundert, als nicht wenige Quellen diese Ansicht stützen.135 Warum sie das tun und was das Spezifische dieser Quellen ist, wird hingegen nur selten gefragt. Die Rhetorik von Kampf und Krieg der Selbstwehr lässt sich einerseits bei Autoren aus dem revolutionären Spektrum finden. Für sie war die Selbstwehr Teil des allgemeinen Klassenkampfes. Was die Juden getan hatten, sollte auf das gesamte Land ausstrahlen und musste deshalb als heroisch präsentiert werden. Mit Übertreibungen wurde dabei nicht gespart. »Fast drei Tage lang«, hieß es über Zˇitomir, hätten die »wahrhaftigen Gefechte« zwischen dem Proletariat und seinen Unterdrückern gedauert.136 Dazu passte die Behauptung, die Selbstwehr wäre leicht mit den Angreifern fertiggeworden, hätte sie nicht auch noch das Militär gegen sich gehabt.137 Das entsprach, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, nicht der Wirklichkeit. Es wurde sogar behauptet, der Schießbefehl sei nur deshalb erteilt worden, weil die Juden von Zˇitomir dem Gouverneur anderenfalls mit blutiger Vergeltung gedroht hätten. So heißt es

133 So z.B. auch Surh, Russia, S. 282. 134 Ascher, Revolution, S. 130. Der erwähnte »Zeitgenosse« war der bekannte Bundist Litvak. Frankel, Prophecy, S. 147. 135 Literatur: ebd.; vgl. Levin, Preventing, S. 99; für die Quellen prominent: From Kishineff, S. 44 f. 136 Kirˇznic, Raboˇce-krest’janskie, S. 8 f. 137 Zafran, 1905, S. 160.

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in einem Augenzeugenbericht, der in Motzkins weit rezipierten Enthüllungsbüchern von 1910 erschien, über den zweiten Tag des Pogroms: »Eine tausendköpfige Menge, darunter viele Weiber und Kinder, machte sich zum Hause des Gouverneurs auf. […] Eine Gruppe von 20 Menschen schied sich aus der Masse aus und betrat das Haus des Gouverneurs mit der Forderung, er solle vor ihnen erscheinen. Als der Gouverneur heraustrat, sagte einer der Juden: ›Wir sind gekommen, um Ihnen unseren folgenden Beschluss mitzuteilen: Wenn Sie im Laufe einer Stunde nicht dem Blutbad in Schitomir ein Ende machen, und Sie können es mit einem Worte tun, so beginnen wir ein allgemeines Gemetzel. Es werden Ströme von Blut vergossen werden. Wir werden alle Christen ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Stand umbringen, und ich werde als Ersten Sie töten.‹ ›Und ich bin bereit, Sie als zweiten umzubringen‹, wandte sich ein anderer Jude an den dabeistehenden Divisionschef. Dies wirkte. Der Gouverneur erbleichte, wurde verlegen und sagte sofort hastig zum Divisionschef: ›Ich bevollmächtige sie, die allerentschiedensten Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung zu ergreifen. Sie können beim ersten Zeichen von Ungehorsam und wo sich mehr als fünf Menschen versammeln, schießen lassen.‹ […] Die Judenhetze endete mit einem Schlage.«138 Das war nicht weniger als frei erfunden. Etwas vorsichtiger waren etwa die Autoren des American Jewish Yearbook von 1907, einer noch immer oft zitierten Quelle, wenn es um die Pogrome zwischen 1903 und 1906 geht, und offenbar Grundlage der Darstellung Abraham Aschers. Dort wurde berichtet, in Zˇitomir seien mehr »Christen« durch Juden umgebracht worden als umgekehrt, was natürlich falsch war. Die Autoren räumten aber immerhin ein, nur über ungenaue Quellen zu verfügen.139 Spätere Historiker konnten also gewarnt sein, doch die Warnung fand weniger Beachtung als die sensationellen Pogromberichte. Die Vorstellung, die Selbstwehr hätte erfolgreich viele Gewalttaten verübt, fand bei

138 Die Diktion und Orthografie der deutschsprachigen Quelle wurde beibehalten. Linden, Judenpogrome, S. 55–56. Dieser Bericht bezieht sich explizit nicht auf die Delegation der Stadtduma. Mit dieser geht der Autor sehr kritisch ins Gericht (S. 57). 139 From Kishineff, S. 35 f., 44 f.

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den Zeitgenossen großen Anklang – und ein Teil dieser Behauptungen ging ungeprüft in die wissenschaftliche Literatur ein. Die Rede vom »Kampf« anstelle von »Pogrom« kam auch noch einer anderen Gruppe von Beobachtern sehr gelegen, nämlich jenen, die der Selbstwehr die Schuld am Pogrom zuweisen wollten. In der Darstellung des Innenministeriums waren die Ereignisse in Zˇitomir »ein Zusammenstoß eines Teils der christlichen Bevölkerung mit Juden, wobei es sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite Verletzte und sogar Tote gab«.140 Dass siebzehn toten Juden nur zwei oder drei tote »Christen« gegenüberstanden, einer von ihnen der Selbstwehrmann Nikolaj Blinov, war im Ministerium bekannt, wurde aber geflissentlich übersehen.141 Das gab Autoren Rückenwind, die die Welle antijüdischer Gewalt insgesamt relativieren wollten, indem sie den Pogromen an Juden eine vermeintlich beträchtliche Zahl von Pogromen durch Juden gegenüberstellten – eine später unter anderem von Alexander Solschenizyn vertretene Position.142 Auch wenn sie unterschiedliche Schlüsse zogen, waren sich also Protagonisten entgegengesetzter politischer Lager einig in der Auffassung, dass die Selbstwehr ein maßgeblicher und, neutral gesprochen, ein »effizienter« Gewaltakteur war, also einer, der Gewalt absichtsvoll, zielgenau und wenn nötig in großer Intensität einzusetzen vermochte.143 Dass diese Beschreibung auf die Selbstwehr von Zˇitomir zutrifft, ist angesichts der Rekonstruktion der Ereignisse im ersten Teil dieses Kapitels zu bezweifeln. Deshalb soll genauer gefragt werden, worin die Stärken und Schwächen der Selbstwehr lagen. Dafür lohnt ein kurzer Blick auf die Meilensteine der Entwicklung der jüdischen Selbstwehr im Zarenreich. Selbstverteidigung ist eine der grundlegenden Möglichkeiten, auf einen Angriff zu reagieren. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich, seit es Pogrome gibt, zumindest einige der Opfer zur Wehr setzten. Erstaunlich ist eher, dass manche zeitgenössischen Beobachter 140 MVD: Mitteilung an die Gouverneure (Entwurf), o.D., GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 18. 141 Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 25ob; Kievskie otkliki, No. 117, 29. 4. 1905, S. 3. 142 Solˇzenicyn, Dvesti, S. 342. So schon Zeitgenossen: Bogojavlenska, Revolution, S. 282; Novoe vremja, No. 10421, 10. 3. 1905, S. 3; allgemein betonen den vermeintlich symmetrischen Charakter der Pogromgewalt: Ol’denburg, Carstvovanie, S. 208; Koˇzinov, Cˇernosotency, S. 176 f.; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2000, S. 161. 143 Vgl. zu »kompetenter« Gewalt: Collins, Dynamik, S. 106, passim.

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das nicht sehen oder wissen wollten. Die Vorstellung, die Juden seien sämtlich dem Prinzip des »passiven Heroismus« gefolgt und hätten sich wie »Schafe zur Schlachtbank« führen lassen, war, wie schon am Beispiel Elisavetgrads gezeigt, von Anfang an falsch.144 Vielmehr trat während der Pogrome von 1881/82 an verschiedenen Orten eine Form der Selbstwehr in Aktion, die hier als nachbarschaftlich bezeichnet werden soll, weil (neben dem Selbstverständnis als Juden) meist der gemeinsame Wohnort das wichtigste Bindeglied dieser Gruppen war. In größeren Städten war es ein Viertel, Straßenzug oder manchmal auch nur ein einzelnes Haus, in kleinen überschaubaren Ortschaften konnte die Aufgabe von einer einzigen Gruppe abgedeckt werden. Die nachbarschaftliche Selbstwehr rekrutierte sich in der Regel aus dem ganzen sozialen Spektrum der jüdischen Bevölkerung, hatte eine schwach ausgeprägte Organisationsstruktur und wurde nur dann aktiv, wenn akute Pogromgefahr herrschte. Als besonders wehrhaft waren im Jahr 1881 ausgerechnet die Juden von Kiˇsinev bekannt. Sie galten als »Vorbild«, weil sie »sich damit brüsten können, wie sie den Unruhestiftern nicht durch die Polizei, sondern mithilfe von Knüppeln eine Lehre erteilt haben«.145 Die Vorstellung, dass Juden die Pogromtäter mit Gewalt besiegen konnten, war unter den Zeitgenossen verbreitet, und Kiˇsinev war nicht das einzige Beispiel, das ihr Plausibilität verlieh. Die wenigen Fälle, die einigermaßen zuverlässig dokumentiert sind, lassen im Übrigen den Schluss zu, dass die Selbstwehr insbesondere dann effizient agieren konnte, wenn sie im Einvernehmen mit den Behörden auftrat. So war es in Fastov, wo der örtliche Polizeihauptmann gemeinsam mit einer Gruppe von Juden mit »ehrfurchtgebietenden Knüppeln« eine zum Pogrom bereite Menge verjagte. So war es auch in Ol’viopol’, wo der Polizeihauptmann des benachbarten Schtetls Golta mit einem Trupp vermutlich jüdischer Männer erschien, um dem Pogrom ein Ende 144 Zur Tradition des »passiven Heroismus« und ihren Wurzeln in religiösen Geboten: Harshav, Hebräisch, S. 91. 145 Rassvet, No. 20, 16. 5. 1881, S. 781. Tatsächlich gab es 1881 kein Pogrom in Kiˇsinev, sondern eine Schlägerei zwischen Juden und »Christen«. Dass sich aus dieser kein Pogrom entwickelte, hing auch mit dem entschlossenen Agieren der Lokalbehörden zusammen, das von der jüdischen Presse gelobt wurde. Krasnyj-Admoni, Materialy 1923, S. 183; Rassvet, No. 18, 2. 5. 1881, S. 693; Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 82; vgl. Bessarabskij gubernator an MVD, Telegramm, Kopie, 20. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 20–20ob.

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zu bereiten.146 In Berdiˇcev wurde die jüdische Selbstwehr vom Polizeichef zumindest geduldet; möglicherweise ließ er sich dafür bestechen, vielleicht hielt er sie aber auch für eine adäquate Antwort auf die Pogromgefahr, wobei das eine das andere nicht ausgeschlossen haben muss.147 Die frühen Selbstwehrgruppen hatten kein politisches Programm und verfügten auch nicht über Schusswaffen.148 Vermutlich fehlte es ihnen schlicht an Vorbereitungszeit, um für stärkere Organisationsstrukturen und bessere Waffen zu sorgen, denn so verheerend die Pogromwelle von 1881/82 auch war – nach weniger als einem Jahr war sie wieder vorüber (das letzte Pogrom war das von Balta im März 1882). Auch wenn in den folgenden Jahren immer wieder einzelne Pogrome stattfanden, gingen die Juden im Russischen Reich doch davon aus, dass die »Stürme des Südens« von 1881/82 eine einmalige Erscheinung waren. Die Furcht vor Pogromen gehörte noch nicht zum Alltag.149 Aus diesem Grund mussten diejenigen, die die Judenverfolgung als kontinuierlich darstellen wollten, in der folgenden Zeit mit rhetorischen Konstrukten wie »Verwaltungspogromen«, »kalten Pogromen« oder »stillen Pogromen« operieren.150 Der Alltag der Juden Russlands war weiterhin reich an Konflikten und Benachteiligungen, doch für organisierte Selbstverteidigung gab es zwischen 1882 und 1903 keine Notwendigkeit. Die zwei Dekaden zwischen der ersten und der zweiten Pogromwelle waren für das Russische Reich eine außerordentlich dynamische Zeit. Die Industrialisierung nahm Fahrt auf, und die Arbeiterschaft in den Städten wuchs. Doch der staatliche Ordnungsrahmen blieb hinter den 146 Elisavetgradskij vestnik, No. 50, 8. 5. 1881, S. 3; Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 81. 147 Dubnow, Neueste, S. 116. 148 Eine stärker politisierte Selbstwehr gab es möglicherweise 1881 in Odessa. Die einzige Quelle, die das ausführlich thematisiert, ist zwar brillant geschrieben, lässt aber nicht nur wegen ihres Publikationsjahres (1909) an eine mögliche Rückprojektion denken. Ben-Ami, Odesskij. Zu Rückprojektionen bei Pogromdeutungen: Klier, Pogrom, S. 411. Vereinzelt wird eine studentische Selbstwehr in Odessa schon für das Jahr 1871 (unbelegt) behauptet. Prajsman, Pogromy, S. 173; Samooborona, S. 645 f. Ohne nähere Angaben zu Selbstwehr beim Pogrom von Kiev 1881: Hamm, Kiev, S. 126. 149 Meir, Sword, S. 112. 150 Gemeint waren die Ausweisungen der Juden aus einigen zentralrussischen Städten im Jahr 1881, die Maigesetze von 1882 und die Beschränkungen des Hochschulzugangs für Juden. Dubnow, Neueste, S. 122; Berk, Year, S. 180; Nathans, Beyond, S. 257.

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Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend zurück.151 Das betraf niemanden mehr als die Juden, die ein überproportionales Bevölkerungswachstum verzeichneten, zugleich aber per Gesetz weitgehend auf ein Leben in den Städten des Ansiedlungsrayons beschränkt waren.152 Die Zahl der »Luftmenschen«, die ohne Wohltätigkeit ihr Leben kaum fristen konnten, wuchs ebenso wie die der politisch Unzufriedenen.153 Dasselbe galt auch für die schmale Schicht der Gebildeten, für die im alten ständischen System kein Platz war. Viele von ihnen politisierten und radikalisierten sich und gründeten schließlich im Geheimen politische Parteien, die den Sturz der Autokratie anstrebten. Weil Juden eine diskriminierte, überdurchschnittlich gebildete und fast vollständig urbane Bevölkerungsgruppe waren, schlossen sie sich besonders früh und zahlreich den oppositionellen Parteien an.154 In erster Linie ist dabei an den »Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Polen, Litauen und Russland«, kurz »Bund«, zu denken, der 1897 gegründet wurde und bis 1906 die mitgliederstärkste Partei des Russischen Reiches war.155 Der Bund hatte für die weitere Entwicklung der jüdischen Selbstwehr eine große Bedeutung. Das lag unter anderem daran, dass die Partei, schon bevor die neue Welle von Pogromen begann, Erfahrungen mit kollektiver Mobilisierung gesammelt hatte. Als marxistische Arbeiterpartei organisierte der Bund Streiks und Demonstrationen, traf aber auch Vorkehrungen für den bewaffneten Aufstand. Um die Partei vor dem Zugriff der Polizei zu schützen, aber auch zum Kampf gegen Streikbrecher stellte der Bund eigene bewaffnete Verbände, die »Kampfgruppen«, auf, und seine ohnehin bestehenden konspirativen Netzwerke halfen bei der Beschaffung von Feuerwaffen.156 Kurz vor den neuen Pogromen, im Jahr 1902, ließen sich außerdem verschiedene Ortsgruppen des Bundes von dem Attentat inspirieren, das der Vil’naer Schuster Hirsch Lekert auf den Gouverneur fon Val’ verübt hatte. Nachdem Le151 152 153 154 155

Rogger, Russia, S. 100–131. Petrovsky-Shtern, Marketplace, S. 291. Berk, Year, S. 24–26. Haberer, Jews; Frankel, Prophecy; Beyrau, Subalternität, S. 66. Zur Geschichte des Bundes: Tobias, Jewish, S. 248; Lokshin, Bund. Allgemein zur Rolle von Juden in der revolutionären Bewegung: Budnitskii, Jews; Haberer, Jews; Slezkine, Jüdische. 156 Löwe, Tsars, S. 172. Ähnlich war es mit den Kampfverbänden der Bolschewiki. Van Ree, Reluctant, S. 134.

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kert eilig zum Tode verurteilt worden war, begann ein regelrechter Märtyrerkult. Lekert wurde zur »Symbolfigur bewaffneten Widerstands«, und einige regionale Verbände des Bundes bekannten sich zur »organisierten Vergeltung«, was nichts anderes als eine Form des Terrorismus meinte.157 Auch wenn dies nie zur offiziellen Linie der Partei wurde, blieben Attentate für die Ortsgruppen eine attraktive Handlungsoption.158 Nachdem nun am 19. August 1902 in Cˇenstochova ein Pogrom stattgefunden hatte, lag es nahe, die neuen Erfahrungen mit der organisierten Gewalttat zu übertragen: »In solchen Fällen [beginnenden Pogromen] müssen wir mit Waffen in den Händen nach draußen treten, uns organisieren und bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Nur wenn wir unsere Stärke zeigen, werden wir jedermann zwingen, unsere Ehre zu respektieren«, schrieb eine Parteizeitung im Oktober 1902.159 Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurde ein Appell zur Selbstwehrorganisation formuliert, und schon damals war er mit dem Gedanken der Ehrenrettung verbunden, worauf später einzugehen sein wird. Dann, im Jahr 1903, kamen die Ostertage von Kiˇsinev, die eine neue Ära in der Geschichte der Juden Russlands einläuteten. Auch dort gab es Selbstverteidigung nach dem nachbarschaftlichen Muster. Wie viel sie bewirken konnte, ist nicht klar: Einerseits beschützte sie erfolgreich Teile der Stadt, andererseits begann die schwere körperliche Gewalt der Täter erst in Reaktion auf den Widerstand.160 Offenbar gab es auch eine gesonderte, von Jugendlichen organisierte Selbstwehrgruppe, die allerdings gleich zu Beginn des Pogroms von den Behörden ausgeschaltet wurde.161 In der national wie international außerordentlich intensiven Berichterstattung über das Pogrom wurde trotz dieser Tatsachen neben dem Ausmaß der antijüdischen Gewalt vor allem die Passivität der Opfer hervorgehoben.162 Besonders dramatisch drückten es die Autoren einer 1903 erschienenen sozialistisch-zionistischen Broschüre aus: »Das Übel ist 157 Zitat: Schmidt, Entheiligte, S. 132; vgl. ein im Juni 1902 in Gomel’ verbreitetes Flugblatt des Bundes: Buchbinder, Evrejskoe, S. 79 f.; Lindemann, Esau, S. 290. 158 Tobias, Jewish, S. 153 f.; Geifman, Thou, S. 102. 159 Di Arbeter Shtime, No. 19, 30. 10. 1902, zit. n.: Lambroza, Jewish Responses, S. 269–273; vgl. dazu Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 14–16. 160 Lambroza, Pogroms, S. 199; Judge, Ostern, S. 56, 60; Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 203. 161 Samooborona 1996, S. 647. 162 Lindemann, Esau, S. 291 f.

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nicht, dass einige Dutzend Juden starben und einige Tausend jüdische Familien ausgeraubt wurden, sondern dass im Lager der Feinde nur zwei starben, und das bei einem Unfall! […] Das ist schmählich, schändlich!«163 Die Wahrnehmung, »Kiˇsinev« sei nicht nur eine Katastrophe, sondern auch eine »Schmach« für die Juden, fand große Resonanz. Das entsprechende Gegenmittel war schnell bestimmt, nämlich bewaffnete Gegenwehr. Eine Gruppe einflussreicher jüdischer Schriftsteller und Publizisten, darunter Simon Dubnow, Ben-Ami und Chaim Bialik, veröffentlichte einen Aufruf an die Juden Russlands: »Überall wo wir leben, brauchen wir eine dauerhafte Organisation, die stets bereit sein muss, dem Feind von der ersten Minute an entgegenzutreten und rasch jeden, der Kraft in sich spürt, zum Ort des Pogroms zu rufen und sich der Bedrohung entgegenzustellen.«164 Eine parallele Initiative ging vom Kronrabbiner der Stadt Kremenˇcug aus, der Vertreter der jüdischen Gemeinden im ganzen Land zur Gründung »geheimer Selbstwehrgruppen« aufrief, und ein »Vil’naer jüdisches Selbstwehrkomitee« forderte gar die Gründung eines »jüdischen Heeres«.165 Wo solche Gruppen aufgestellt wurden, kamen ihr Kern und ihre Führung meist aus der revolutionären Bewegung, weil deren Ressourcen (Organisationsstrukturen, Zugang zu Waffen und Erfahrungen mit konspirativer Arbeit) von großem Nutzen waren. Ganz uneigennützig war das Engagement der illegalen Parteien allerdings nicht. Sie durften hoffen, dass der Kampf gegen die Pogrome ihnen große Teile der jüdischen Bevölkerung in die Arme treiben würde, auch jene, die mit ihren Programmen nur wenig im Sinn hatten. Führende Bundisten gingen davon aus, wenn die Partei diesen »Moment ausnutze«, werde das »ihre materiellen Mittel stärken und ihr moralisches Prestige in weiten Gesellschaftskreisen heben«.166 Auf ihrem 5. Parteitag im Juni 1903 forderte die Partei deshalb die Proletarier aller Nationalitäten zum Kampf gegen die Pogrome auf.167

Cˇemu, S. 7 f. Zit. n.: Samooborona 1996, S. 647 f. Khiterer, Evrejskie; Amanˇzolova, Evrejskie, S. 86 f.; ein weiterer ähnlicher Aufruf: Surh, Jewish, S. 60. 166 Amanˇzolova, Evrejskie, S. 77 f. Dieses Kalkül bestätigte sich auch zunächst: Nojkch: Pis’mo zagraniˇcnomu komitetu Bunda, Okt./ Nov. 1903, RGASPI f. 271, op. 1, d. 165, l. 8–9. 167 Tobias, Jewish, S. 224.

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Infolge solcher Appelle kam es an vielen Orten im Ansiedlungsrayon zur Gründung einer besonderen, politisierten Form von Selbstwehrgruppen: »Sie waren von den Aktivitäten des revolutionären Untergrunds kaum zu unterscheiden – oft ging beides unmerklich ineinander über.«168 Bereits beim Pogrom in Gomel’ am 1. September 1903 trat eine solche Gruppe in Aktion, weshalb es auch als Gegenstück zu Kiˇsinev galt und gilt.169 Was war in Gomel’ geschehen? Am 29. August 1903 eskalierte ein alltäglicher Marktstreit und wuchs sich zu einer Schlägerei zwischen zahlreichen Juden und Nichtjuden aus. Ein Mann kam dabei zu Tode, ein russischer Arbeiter.170 Dies, aber auch die Tatsache, dass in den vorangegangenen Wochen eine Selbstwehrgruppe des Bundes mit Schießübungen von sich reden gemacht hatte, befeuerte an den folgenden zwei Tagen die Gerüchteküche: »Aus einem getöteten Christen machten diese Gerüchte zwölf. Außerdem hieß es, die Juden hätten einen Geistlichen ermordet, ein Kloster demoliert, einen Offizier getötet usw.«171 Wohl angetrieben durch solche Berichte, zog am 1. September ein großer Trupp Eisenbahnarbeiter vom Bahnhof in die Stadt, um ein Pogrom zu beginnen. Doch das Militär versperrte den Angreifern den Weg ins Zentrum, sodass diese in die ungeschützten Vorstädte ausweichen mussten. Dort stießen Pogromtäter und Selbstwehrleute aufeinander. Bald darauf kam das Militär hinzu und ging zunächst mit größerer Härte gegen die Selbstwehr als vermeintliche Aggressoren vor. Der Polizeimeister erteilte den Befehl, die Unruhen mit Waffengewalt niederzuschlagen, und tatsächlich endete das Pogrom noch am selben Abend. Folgt man den Gerichtsakten, so waren fünf Juden und drei »Christen« zu Tode gekommen, davon jeweils zwei durch Kugeln des Militärs. Dutzende Verletzte auf beiden Seiten kamen hinzu.172 168 Frankel, Jewish, S. 60 f. 169 Z.B. Lambroza, Pogrom Movement, S. 101 f. 170 Flugblatt des Bundes »Cˇto takoe pogrom«, Gomel, o.D., in: Krasnaja letopis’, No. 2–3, 1922, S. 406, dort auch das Zitat. An der Gewalt am 29. 8. 1903 hatte die Selbstwehr praktisch keinen Anteil. Bis sie mobilisiert war, war die Schlägerei schon beendet. Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 16–18. 171 Linden, Judenpogrome, S. 38; zur Selbstwehr: Krever, Gomel’skij, S. 5–6; dass an der Schlägerei die Selbstwehr maßgeblich beteiligt war: Pravda o Gomel’skom, S. 3. 172 Krever, Gomel’skij, S. 13. Leicht abweichende Zahlen meldete der Gouverneur: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 102 f. Lambroza gibt erheblich höhere Opferzahlen an, stützt sich aber auf notorisch unzuverlässige Presseberichte. Lambroza, Pogroms,

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Dass erstmals eine organisierte Selbstwehrgruppe in Erscheinung getreten war, kommentierten jüdische Publizisten als Ende einer Erniedrigung. Hatte zuvor Chaim Bialik über Kiˇsinev geklagt: »Gewaltig ist das Leid, doch gewaltig ist auch die Schmach [ogromnaja skorb’, no i ogromnen sram]«, so schrieb nun V. I. Zˇabotinskij: »Die jüdische Straße vor Kiˇsinev und nach Kiˇsinev – das ist bei Weitem nicht dasselbe […] Die Schande [pozor] von Kiˇsinev war die letzte Schande. Dann kam Gomel’ […] Das Leid [skorb’] kehrte wieder, noch erbarmungsloser als zuvor, doch die Schmach [sram] wiederholte sich nicht.«173 Und eine Zeitschrift des Bundes gab voller Befriedigung die angeblichen Worte eines russischen Arbeiters wieder, der das Pogrom in Gomel’ miterlebt hatte: »Früher hast du einen Juden geschlagen und der hat sich vor dir verbeugt – jetzt zeigst du ihm nur von fern die Faust und schon schießt er dir […] in die Seite.« »Möge sich dieser neue Blick auf die Juden im russischen Volk ausbreiten«, kommentierte der Autor.174 Gomel’ machte die politisierte, von illegalen Parteien geführte Selbstwehr zum Erfolgsmodell. In Zˇitomir entwickelte sich die Selbstwehr noch einen Schritt weiter. Hier wollte sie nicht nur verteidigen, sondern den Angriff ihrer Gegner ganz und gar abwenden, indem sie auf Abschreckung setzte, auf die gezielte Inszenierung von Vergeltungsfähigkeit und -entschlossenheit. Auch diese Entwicklung hatte viel mit der revolutionären Herkunft der Selbstwehrgruppen zu tun. Während nachbarschaftliche Gruppen meist erst zusammenkamen, wenn die Gefahr unmittelbar bevorzustehen schien, sodass sie zu präventivem Handeln kaum in der Lage waren, agierten politisierte Gruppen auch in Zeiten ohne Pogromgefahr und konnten deshalb früh aktiv werden. Außerdem hatten Gruppen mit revolutionärem Hintergrund einen besseren Zugang zu »Medien« der Abschreckung, wie Flugblättern oder den bereits erwähnten Schusswaffen. Drittens hatte sich der Bund bereits mit Abschreckung als Konzept beschäftigt, um Streiks und Demonstrationen zu schützen. Einige seiner S. 208 f. Zu bedenken ist auch, dass etwa 30 Mitglieder der Selbstwehr keine Juden waren. Möglicherweise waren auch sie unter den »christlichen« Pogromopfern. Tobias, Jewish, S. 229. 173 Kandel’, Kniga, S. 683. 174 Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 14–16.

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bewaffneten Einheiten, die sogenannten shrek-otriaden, trugen sie sogar im Namen.175 Das zeigte sich auch auf der Ebene von Praktiken: Es gehörte bereits vor den Pogromen zum Repertoire der Revolutionäre, »geladene Revolver, gezückte Dolche und andere Waffen« demonstrativ zu tragen und Salven in die Luft zu feuern, um die Polizei und andere Gegner einzuschüchtern.176 Weil also revolutionäre Selbstwehrgruppen besonders gut auf Abschreckungshandeln vorbereitet waren, kann es nicht überraschen, dass der vermutlich erste Aufruf der Selbstwehr, der Abschreckung explizit als Ziel benannte, vom Zentralkomitee des Bundes von 1903 stammte. In Abgrenzung von quietistischen Appellen eines Teils der jüdischen Presse hieß es in einem Flugblatt: »So können nur Sklaven sprechen, Menschen, die gewohnt sind, alle Gewalttaten demütig zu ertragen, die nicht an ihre eigenen Kräfte glauben und die die Erlösung immer nur von anderen erwarten – von Gott, von Freunden, von der Regierung. So denken wir, die jüdischen Arbeiter, nicht. Der Kampf, den wir schon seit so vielen Jahren führen, hat uns davon überzeugt, dass wir uns selbst helfen müssen. Unsere Einigkeit hat unsere Macht vermehrt; unsere Solidarität und Bereitschaft, unsere Interessen jederzeit zu schützen, haben unseren Gegnern Furcht eingeflößt. […] Wir müssen Gewalt mit Gewalt beantworten.«177 Der Aufruf zeigt auch, dass organisierte Selbstwehr von Anfang an mehr war als nur eine naheliegende Antwort auf die Pogromgefahr. Sie war auch ein Instrument, um im Kampf ein neues, von Stolz und Würde geprägtes Selbstbewusstsein zu erlangen. Die Zeit, in der man sich in die Rolle des »unterwürfigen« »Sklaven« hatte drängen lassen, sollte ein für alle Mal vorüber sein. Auch diese Motive verdankte die Selbstwehr ihrer Herkunft aus der revolutionären Bewegung. Welche besonderen Entwicklungen sie in Gang setzen sollten, wird noch untersucht. Vorläufig ist nur festzuhalten, dass die Selbstwehr nicht nur als Methode gesehen wurde, um die Pogromgefahr zu bannen, sondern zugleich der morali-

175 Mendelsohn, Class, S. 103. 176 Allgemeine, S. 854 f. 177 Hervorhebung: der Autor. Flugblatt des ZK des Bundes, April 1903, in: Roskies (Hg.), Literature, S. 154–156; ein weiteres Beispiel dafür, dass Abschreckung schon 1903 von einer politisierten Selbstwehrgruppe explizit formuliert wurde: Odesskij pogrom, S. 49 f.

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schen Verbesserung ihrer Mitglieder dienen sollte.178 Manchmal wurden dabei Degenerationsängste und -diagnosen, die Teil des Zeitgeistes waren, speziell auf Juden bezogen. Die Gewalttat war dann ein Weg zur kollektiven Gesundung, und die Selbstwehr wurde zur Geburtshelferin des neuen Menschen, wie ein Augenzeuge des Pogroms von Gomel’ feststellte: »Den bisherigen verängstigten, feigen Juden gibt es nicht mehr. Ein neu geborener, bisher nie da gewesener Typus hat die Bühne des Lebens betreten – der seine eigene Würde verteidigende Mensch.«179 Abschreckung Die Zeitgenossen konnten vielleicht ahnen, aber nicht wissen, wie schwierig es ist, Gewalt durch Abschreckung zu verhindern. Im Handeln der Selbstwehrgruppen offenbarte sich die Vorstellung, es werde ausreichen, die eigene Stärke eindrucksvoll zu inszenieren. Tatsächlich aber beruht erfolgreiche Abschreckung auf mehreren Elementen: Wer einen Angreifer abschrecken will, muss diesen zunächst präzise identifizieren (1), um ihm dann zu verdeutlichen, dass man über ein großes Gewaltpotenzial verfügt (2), das man bei einem Angriff in jedem Fall zum Einsatz bringt (3), aber auch nur in diesem Fall (4). Viel mehr als um Waffen und Vergeltungsmacht geht es also bei Abschreckung um Kommunikation, und deshalb ist sie anfällig für Irrtum und Missverständnis.180 Als Strategie ist sie »riskant und unzuverlässig«.181 Im schlimmsten Fall kann sich Abschreckung als ganz und gar kontraproduktiv erweisen. »Sie kann gerade das Verhalten hervorrufen, das sie abwenden wollte.«182 Genau diesen Effekt hatte die Selbstwehr in Zˇitomir und an anderen Orten. Die Probleme begannen damit, den richtigen Adressaten für die Abschreckungsbotschaft zu identifizieren. Stets wurden nicht nur die eigentlichen Pogromtäter als Gegner gesehen, sondern auch die Vertreter der Staatsmacht, obwohl sich diese in kritischen Situationen ebenso als

178 Biale, Power, S. 128–137. 179 Zitat: Gluˇsakov, Otrjady, S. 64; vgl. auch eindrücklich: Cˇemu, S. 6; zum ideengeschichtlichen Kontext: Beer, Microbes, S. 538–552; Gay, Kult, insb. S. 120–143; Baberowski, Einleitung, S. 15. 180 Zagare/Kilgour, Asymmetric, S. 2–5; Jervis, Perceiving, S. 15–33. 181 Lebow/Gross Stein, Beyond, S. 121. 182 Lebow, Conclusions, S. 203–205; vgl. Lebow/Gross Stein, Beyond, S. 129; Wimmer/Schetter, Ethnische, S. 323; Waldmann, Asymmetrie, S. 248; Posen, Security.

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wertvolle Partner erweisen konnten. Nicht selten ging es auch ihnen in erster Linie darum, Gewalt zu verhindern. Ein solches Zweckbündnis bereitete aber nicht nur, wie gezeigt, Staatsvertretern Unbehagen, sondern auch der Selbstwehr selbst. Ihre revolutionäre Führung musste fürchten, sich zu diskreditieren, wenn sie mit der Staatsmacht als ihrem erklärten Feind gemeinsame Sache machte. Die Lösung war scheinbar einfach: Da die Pogrome ohnehin nichts anderes als der vergebliche Versuch des Staates seien, den unaufhaltsamen Siegeszug der Revolution aufzuhalten, also ein »konterrevolutionärer Akt«, da die eigentlichen Pogromtäter ohnehin in den Amtsstuben und nicht auf den Straßen anzutreffen seien, fiele der Kampf gegen die Autokratie und der gegen die Pogrome ohnehin in eins.183 Oder, wie in der Bund-Zeitschrift Poslednie izvestija ein Mitglied der Selbstwehr von Zˇitomir kommentierte: »Allen Genossen« sei klar gewesen, dass ihr Handeln auf einen »revolutionären Akt, auf den Kampf mit der Regierung« hinauslief.184 Mehr noch, die Männer, Frauen und Kinder, die Juden schlugen und ausraubten, waren eigentlich nur von mächtigen Männern in Uniform irregeleitete nützliche Trottel. So wurde unablässig behauptet, auch wenn die Erfahrung, wie etwa in Zˇitomir, eher dafür sprach, dass es möglich und Erfolg versprechend war, mit der Staatsmacht zu kooperieren, jedenfalls wenn man unter Erfolg verstand, dass ein Pogrom abgewendet wurde. Aber für die Führung der Selbstwehrgruppen erfüllte die Gleichsetzung von Staatsvertretern und Pogromtätern eine sehr wichtige Funktion. Nur sie konnte davon ablenken, dass die Verbindung von Selbstwehr und revolutionärer Bewegung neben vielen praktischen Vorteilen auch einen fundamentalen Zielkonflikt mit sich brachte. Denn die Verhinderung von Pogromen und der Kampf gegen die Staatsmacht zielten mitnichten in dieselbe Richtung. Recht erfolgreich war die Selbstwehr in Bezug auf das zweite Element der Abschreckung: Sie konnte zeigen, dass sie über ein erhebliches Gewaltpotenzial verfügte. Die Hoffnungen ruhten dabei vor allem auf der Mobilisierung vieler Unterstützer und auf überlegenen, tödlichen Waffen, vor allem Revolvern und Pistolen. Zwar hatte sich in der Vergangenheit gezeigt, dass der Einsatz von Schusswaffen Pogromtäter oft zu noch schwererer Gewalt anstachelte, anstatt sie abzuschrecken. Bei der ers-

183 Odesskij pogrom, S. 80. 184 Zit. n.: Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 93.

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ten Pogromwelle hatten, fast immer, wenn Juden zu Tode gekommen waren, diese tatsächlich oder zumindest vermeintlich Schusswaffen eingesetzt.185 Täter, die sich mit in dieser Weise bewaffneten Gegnern konfrontiert sahen, beließen es nicht bei demütigenden Handlungen, sondern wechselten ins Repertoire der letalen Selbstverteidigungsgewalt. Allerdings konnten Selbstwehraktivisten annehmen, dass diese frühen Versuche von Gegengewalt zu unentschlossen und zu schlecht organisiert waren. Hatten früher nur vereinzelte Juden die Täter mit Pistolen bedroht und konnten diese dann außer Gefecht gesetzt werden, so stellte man nun größere bewaffnete Trupps auf. Das Beispiel Zˇitomirs zeigte, dass weite Teile der nichtjüdischen Bevölkerung die Selbstwehr als Gewaltakteur durchaus ernst nahmen, zumindest solange sie sie nicht auf die Probe gestellt hatten.186 Schwierigkeiten gab es beim dritten Element der Abschreckung. Die Drohung mit Gegengewalt durfte sich nicht als leer erweisen. Doch tatsächlich setzten Selbstwehrgruppen ihr beträchtliches Gewaltpotenzial selbst in äußersten Notfällen oft nicht in die Tat um, um tatsächlich eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Die Versuche bewaffneter Gegenwehr waren zahlreich, aber die Effekte gering. In Zˇitomir etwa hatten die Selbstwehrleute zwar viel geschossen, aber vermutlich keinen der Täter nennenswert verletzt. Auch die Selbstwehr von Gomel’ verletzte bei dem Pogrom im Jahr 1903 niemanden.187 Die vermutlich größte und am besten organisierte politische Selbstwehrgruppe gab es in Odessa, aber selbst in einer Darstellung, die deren Stärke hervorhebt, wird nicht einer der zahlreichen Toten ihrem Wirken zugeschrieben.188 Die Selbstwehrgruppen waren in der Regel sehr »ineffiziente« Gewalttäter. Meist wird das darauf zurückgeführt, dass sie zu wenig hochwertige Schusswaffen besaßen, dass es den Organisatoren an Erfahrung fehlte oder dass Zwistigkeiten zwischen konkurrierenden Selbstwehrgruppen einem Erfolg im Weg standen.189 Das mag in vielen Fällen zu-

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Klier, Christians, S. 165–166. Vgl. zum »rituellen Akt« des Zurschaustellens von Waffen: Collins, Dynamik, S. 272. Löwe, Tsars, S. 156; Amanˇzolova, Evrejskie, S. 107–113. Immer wenn beschrieben wird, dass eine Selbstwehrgruppe einen Menschen tötete oder auch nur schwer verletzte, handelte es sich um Mitglieder einer nachbarschaftlichen, nicht der politisierten Selbstwehr. Odesskij pogrom, S. 54–60. 189 Zeitgenössisch: ebd., S. 55; neuer: Shtakser, Structure, S. 210–213.

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treffend sein. Dennoch ist es erstaunlich, wie selten Selbstwehrgruppen den Schritt von drohender, auf Abschreckung zielender Gewalt zu verletzender und tödlicher Gewalt tatsächlich unternahmen, und das, obwohl zumindest Publikationen des Bundes ein Verständnis dafür einräumten, dass Abschreckung nur erfolgreich sein konnte, wenn sie mit der Bereitschaft zur Gewalttat einherging.190 Trotzdem begnügten sich Selbstwehrgruppen selbst während eines Pogroms meist mit Warnschüssen. So war es beim Pogrom in Zˇitomir und bei den Oktoberpogromen von Kiew und Odessa (auf einige Ausnahmen wird noch einzugehen sein).191 Für die Selbstwehr von Gomel’ ist überliefert, dass sie es zu ihrem Prinzip machte, »die Täter nach Möglichkeit zu verjagen, aber nicht umzubringen«, und für Minsk, dass Waffengewalt »ausschließlich gegen die Polizei« gerichtet werden sollte.192 Lag diese Zurückhaltung daran, dass die Selbstwehrleute in den Tätern ihre Klassengenossen sahen und deshalb Gewalt gegen sie für besonders rechtfertigungsbedürftig hielten?193 Oder war sie, wie die Zeitung Der Frajnd lobte, ein Zeichen jüdischer Großherzigkeit und Humanität? Der anonyme Autor eines von der jüdisch-sozialistischen Partei Poale Zion herausgegebenen Pamphlets widersprach dieser Ansicht, nicht aber der Behauptung, dass viele Selbstwehrgruppen tatsächlich erst dann in eine Menge von Pogromtätern hineinschossen, wenn vorher alle Versuche, sie mit guten Worten und Warnschüssen von ihrem Tun abzuhalten, gescheitert waren – und selbst dann nur »mit großer Vorsicht«.194 Sogar noch in Situationen, in denen sie unmittelbar gewaltbereiten Pogromtätern gegenüberstanden, es also um nichts anderes ging, als das eigene Leben zu retten, hielten sich die Selbstwehrgruppen

190 Tobias, Jewish, S. 229. 191 Dinur, Mir, S. 248; Khiterer, Evrejskie. Vgl. für Minsk, 15. 4. 1905: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 123–124. Als »Oktoberprogrome« wurden die besonders zahlreichen Gewalttaten unmittelbar nach dem Erlass des »Oktobermanifests« (17. Oktober 1905) und damit auf dem Höhepunkt der Revolution bezeichnet. 192 Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 16–18;Amanˇzolova, Evrejskie, S. 120. 193 Vgl. den Augenzeugenbericht eines Selbstwehrmitglieds aus Odessa, das nicht nur eines der wenigen Zeugnisse darüber lieferte, dass eine Selbstwehr tatsächlich gezielt auf die Pogromtäter schoss, sondern sogleich entschuldigend hinzufügte: »Wir wurden selbst zu Bestien [ozvereli]. Anders ging es nicht, wir sind ja keine Engel.« Odesskij pogrom, S. 56. 194 Ebd., S. 73. Ähnliches lässt sich offenbar für die Selbstwehrgruppen des Bundes im Polen der Zwischenkriegszeit sagen: Rowe, Jewish, S. 137.

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zurück. Die mit Revolvern bewaffneten Juden, die die Angreifer aus Malevanka zuerst zurückgedrängt hatten und schließlich doch überrumpelt wurden, namentlich bekannt ist nur ihr Anführer L. Vajnˇstejn (Abbildung 1), fügten den Männern, die sie überfielen und zum Teil erschlugen, keinen Schaden zu. Nikolaj Blinov, um ein weiteres Beispiel zu nennen, schoss kurz vor seinem Tod in die Luft und nicht auf die Angreifer. Der Anführer der Selbstwehr von Gomel’ im Jahr 1903 wurde während des Pogroms schwer verprügelt. Den geladenen Revolver in seiner Tasche setzte er nicht ein.195 In Char’kov griffen Pogromtäter einen Juden mit einem Gewehr auf. Er wurde entwaffnet und erschlagen, ohne Widerstand geleistet zu haben.196 Die Selbstwehrleute, die auf dem Weg nach Zˇitomir im Schtetl Trojanov umgebracht wurden (Abbildung 3), hatten Revolver bei sich und schossen auch, aber im Gegensatz zu den sie angreifenden Bauern waren sie weit davon entfernt, einen Menschen zu töten oder auch nur ernstlich zu verletzen. Bei einem Pogrom in Reˇcica wurde eine Gruppe von 20 bis 25 Selbstwehrleuten aufgerieben. Sie schossen um sich, verletzten aber niemanden. Stattdessen ließen acht von ihnen ihr Leben und zwölf wurden verletzt.197 Ähnlich war es in Orˇsa und in Simferopol’.198 Die Pistolen und Revolver nutzten den Selbstwehrleuten nur wenig, weil sie augenscheinlich keine routinierten Gewalttäter waren. Ihre Anführer, und diese waren es, die in erster Linie die wenigen Schusswaffen in den Händen hielten, gehörten meist im weiten Sinn des Wortes zur Intelligenzija (wie beispielsweise Blinov und vier der fünf in Trojanov getöteten Selbstwehrleute) und waren zum Teil noch Schüler und Studenten (wie der 21-jährige Vajnˇstejn).199 Während Bauern und Leute aus den städtischen Unterschichten, Juden wie Nichtjuden, bei regelmäßigen Schlägereien gelernt hatten, Gewalt anzuwenden, verstanden sich die jüdischen Intelligenzler besser darauf, sie zu romantisieren: »Wie viel 195 196 197 198 199

Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 16–18. Reˇci, Vyp. 2, S. 54. Smilovitskii, Rechitsa, S. 71–74. Surh, Russia, S. 275; Delo Simferopol, S. 1–13; Stepanov, Cˇernaja, S. 91. Poslednie izvestija, No. 236, 16. (3) 6. 1905, S. 7; Poslednie izvestija, No. 233, 18. (31) 5. 1905, S. 8. Lambroza meinte, die meisten Selbstwehrmitglieder hätten in ihren Berufen körperlich hart gearbeitet, z.B. als Schreiner, Kutscher oder Metzger. Lambroza, Pogrom Movement, S. 237. Zumindest für die Führung der Selbstwehrgruppen kann das mit einiger Sicherheit verneint werden.

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würde ich doch dafür geben, nur einen Moment auf einer Barrikade zu erleben. So könnte man sterben«, sagte der Selbstwehrkämpfer Jakov Brodskij (siehe Abbildung 3, Mitte).200 Viele sehnten in der Selbstwehr die Erfahrung heroischer Gewalt herbei, schreckten aber vor der Tat selbst zurück. Sicherlich spielten dabei moralische Skrupel eine Rolle. Aus der Perspektive der Gewaltsoziologie wäre es aber auch eher überraschend gewesen, wenn diese Akteure die Schwelle zur Gewalttat mühelos überschritten hätten, zumal sie nicht darin geübt waren.201 Die Selbstwehrleute hatten unterschätzt, wie schwierig es ist, Gewalt nicht nur zu wollen, sondern sie auch tatsächlich zu praktizieren. Deshalb erwies sich die Abschreckung oft als ein bloßer Bluff.202 Sobald die Pogromtäter das erkannt hatten, wie auf der Brücke in Zˇitomir, kannte die Gewalt kein Halten mehr. Das vierte Element der Abschreckung, den Gegner vom rein defensiven Charakter des eigenen Handelns zu überzeugen, gelang, wie bereits gezeigt, in Zˇitomir nicht. Zumindest ein Teil der Bevölkerung von Stadt und Umland fürchtete einen Angriff bewaffneter jüdischer Banden, ergriff die Flucht oder bereitete sich darauf vor, die vermeintliche Aggression zurückzuschlagen, und so war es nicht nur in Zˇitomir.203 Das er-

200 Das Zitat: Poslednie izvestija, No. 243, 2. 8. (20. 7.) 1905, S. 8; vgl. z.B. auch Tobias, Jewish, S. 313. Zur Erfahrung von Gewalt als Teil der russischen Unterschichtenkultur: Sˇangina, Russkij, S. 461–463; Gorbunov, Voinskaja. Zu Gewalt als Teil des Alltags in Teilen der jüdischen Bevölkerung: Klier, Christians, S. 169; Burroughs, Tale, S. 24; Weinberg, Pogrom, S. 251. Der entgegengesetzte Befund von Schwara ist möglicherweise eine Folge ihrer spezifischen Quellenbasis. Sie stützt sich maßgeblich auf Briefe und Tagebücher. Es ist nicht auszuschließen, dass Gewalterfahrung und Affinität zur schriftlichen Selbstreflexion negativ korrelierten. Schwara, Oifn, S. 321–322. 201 Collins, Invention, S. 5 f. 202 Es scheint, dass zumindest manche Bundisten dieses Problem erkannten, wenn sie betonten, die Selbstwehr sei dann erfolgreich gewesen, wenn die Täter die Erfahrung gemacht hatten, dass die Juden sich tatsächlich verteidigten. Tobias, Jewish, S. 229. 203 Weitere Belege für Ängste vor Gewalt durch jüdische bewaffnete Gruppen: Amanzˇ olova, Evrejskie, S. 125–126; Dinur, Mir, S. 245; Dvinsk: Ko vsem graˇzdanam gor. Dvinska. Flugblatt des Bundes, April 1905, in: Krasnaja letopis’ 1.1923, No. 7, S. 15–16; Gomel’: Flugblatt in: Buchbinder, S. 406–409; Riga: Bogojavlenska, Revolution, S. 277–285; mit Bezug auf angeblich marodierende »Studenten«, nicht Juden: Belokonskij, Cˇernosotennoe, S. 57.

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Abb. 1 Porträt des während des ˇitomir erschlagenen Pogroms von Z Selbstwehranführers L. Vajnˇstejn, aus: Poslednie izvestija, 1905, No. 233, S. 8 © Universitätsbibliothek der HumboldtUniversität zu Berlin, PB 9455:F4.

Abb. 2 Nikolaj Blinov, aus: Poslednie izvestija, 1905, No. 232, S. 8 © Universitätsbibliothek der HumboldtUniversität zu Berlin, PB 9455:F4.

ˇ udnov, aus: Abb. 3 Beim Pogrom von Trojanov erschlagene Selbstwehrleute aus C Poslednie izvestija, 1905, No. 243, S. 1 © Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, PB 9455:F4.

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leichterte den Tätern wiederum den schon im Zusammenhang mit den Schusswaffen erwähnten Wechsel in das Repertoire der Selbstverteidigungsgewalt. Wo die Täter das Recht der Notwehr für sich reklamierten, fielen die Schranken zum absichtsvollen, manchmal massenhaften Töten. Zusammengenommen erklärt das, warum sich die Handlungen der Selbstverteidigungsgruppen oft in einer Weise auswirkten, die ihrer Intention entgegenstand. Wenn also ein Verfechter der Selbstwehr nach 1905 schrieb, dass »überall, wo sich die blutigsten Pogrome abspielten, gut organisierte Selbstwehreinheiten existierten«, hing vielleicht das eine mit dem anderen in einer Weise zusammen, die der Autor nicht im Sinn gehabt hatte.204 Zumindest für ein Pogrom des Jahres 1881 bestätigte das auch der Selbstwehr-Freund Simon Dubnow: dort »bewirkte die jüdische Selbstwehr […] dass die Pogromisten von Plünderung zum Massaker übergingen«.205 Shlomo Lambroza fand in seiner unpublizierten Dissertation deutliche Worte zu diesem Thema (nicht jedoch in seinen publizierten Arbeiten). In einem Abschnitt, der eigentlich die besondere Gewalttätigkeit einiger Pogrome der zweiten Welle durch sozioökonomische Indikatoren erklären sollte, räumte Lambroza ein, wie mager die Ergebnisse dieses Ansatzes ausfielen, und konstatierte stattdessen: »Stärker als mit allen anderen Variablen korreliert die Verletzung von Personen scheinbar mit der Bereitschaft mindestens einer Seite, das Pogrom einen Schritt näher zum bewaffneten Konflikt zu bringen.« Und später: »Die Bereitschaft, ›Gewalt mit Gewalt zu beantworten‹, erzeugte eine Situation, in der eine größere Zahl von Menschen verletzt oder getötet wurde.«206 Tatsächlich,

204 Lavrinoviˇc, Kto, S. 44. 205 In der russischen Ausgabe heißt es statt »Massaker« neutraler »Morde«. Dubnow, Neueste, S. 118. Vielleicht aufgrund einer Verwechslung führt Dubnow als Beispiel das Pogrom von Konotop an, das aber Primärquellen zufolge weder durch eine aktive Selbstwehr noch durch einen außerordentlich blutigen Verlauf auffiel. Ein Jude kam dort ums Leben. Russkij evrej, No. 20, 12. 5. 1881, S. 783–785; Char’kovskij general-gubernator an MVD, Telegramm, 30. 4. 1881, GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 103. Auch bei John Klier ist zwar vom Pogrom von Konotop, nicht aber von der dortigen Selbstwehr die Rede. Klier, Russians, S. 37 und mehrfach im Appendix. 206 Lambroza, Pogrom Movement, S. 141 f., 260. Noch wenige Seiten vor dem ersten Zitat (S. 137) allerdings argumentiert Lambroza, die geringe Zahl von Todesopfern

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die Ausführungen mögen das gezeigt haben, bestand ein Problem der Selbstwehr jedoch darin, dass sie den Eindruck erweckte, Gewalt mit Gewalt beantworten zu wollen, obwohl sie dazu in der konkreten Situation gar nicht in der Lage war. Die Selbstwehrgruppen hatten unterschätzt, wie kompliziert es war, ihre Gegner abzuschrecken, und wie schwierig, von Gewalt nicht nur zu sprechen, sondern sie auch auszuführen. Erfolgsbilanz Freilich gab es auch Gegenbeispiele, aber sie waren selten.207 So trafen manche Schüsse der Selbstwehr durchaus. Wie häufig das der Fall war, ist schwer zu sagen, weil Verletzungen nicht immer erfasst wurden und weil nicht auszuschließen ist, dass manche Schüsse tatsächlich in provokativer Absicht von Judenfeinden auf ihresgleichen abgefeuert wurden. Vertraut man Quellen, die erkennen lassen, dass sie sich mit den genauen Umständen der jeweiligen Taten auseinandergesetzt haben, so stößt man auf zwei Schussverletzungen beim Pogrom von Melitopol’ und zwei bei dem Pogrom von Kerˇc’, die auf das Konto der Selbstwehr gingen.208 Beim Oktoberpogrom in Odessa erschoss ein Selbstwehrmann einen Polizisten.209 Das prominenteste Beispiel ist Grigorij Brodskij, Spross des Kiewer Zuckerbarons, der, als er während des Oktoberpogroms sah, wie ein Dutzend Schläger den damals vielleicht einflussreichsten Juden des gesamten Reiches, Baron Vladimir Gincburg, auf die Straße zerrten und verprügelten, mit Browning und Mauser bewaffnet auf die Straße trat. Der erste Schuss ging in die Luft, der zweite in die Menge, die nächsten töteten zwei Angreifer und (wohl irrtümlich) einen Diener des Barons. Brodskij hatte vor kurzer Zeit seinen Militärdienst abgeschlossen und dort offenbar gelernt, mit Waffen umzugehen.210 Seine Tat war zweifellos Selbstwehr, aber er gehörte keiner zu diesem Zweck gegründeten Gruppe an.

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im Gouvernement Cˇernigov sei als Beleg für eine funktionierende Selbstwehr zu verstehen. Der Widerspruch bleibt unaufgelöst. So allgemein: Horowitz, Deadly, S. 496. Amanˇzolova, Evrejskie, S. 127; anonymes Flugblatt, Kerˇc’, August 1905, GARF f. 102, op. 232 (OO), d. 5 cˇ . 32 t. 3, l. 86–87ob. Odesskij pogrom, S. 57. Khiterer, Evrejskie; Hillis, Between, S. 394; eine leicht abweichende Darstellung der Ereignisse: Vsepoddannyj, S. 234–235.

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Die große Mehrheit der Berichte über Schussverletzungen durch Mitglieder solcher Gruppen sind hingegen von zweifelhafter Glaubwürdigkeit: Sehr oft war davon die Rede, »die Juden« hätten etwa auf eine »patriotische Manifestation« gefeuert und jemanden, meist einen Knaben, erschossen. Doch diese Behauptungen erwiesen sich, ebenso wie die meisten Berichte über Schüsse auf Porträts des Zaren, als Erfindung.211 Auch wenn die Selbstwehr nur in sehr wenigen Fällen das Gewaltpotenzial ihrer Schusswaffen realisierte, so genügten manchmal Warnschüsse, um die Täter zu vertreiben. Die Abschreckung konnte also, trotz aller Probleme, durchaus funktionieren. So war es offenbar bei den Pogromen in Derenˇcin (Jahr unbekannt), in Melitopol’ 1905 und Ekaterinoslav 1901, die die Selbstwehr beenden konnte, bevor sie sich ausweiteten.212 Gut möglich ist auch, dass in einigen Fällen Pogrome aufgrund der Selbstwehr gar nicht erst ausbrachen, auch wenn dies schwer nachzuweisen ist. Michael Hamm hat hierfür das Beispiel Char’kovs angeführt, räumt aber selbst ein, dass die unkonventionell agierenden Lokalbehörden möglicherweise bedeutsamer waren (dazu später mehr).213 Häufiger gelang es Selbstwehrgruppen, Pogromtäter punktuell zurückzuschlagen oder sogar ganze Stadtviertel zu schützen. Doch auch hier ist Vorsicht angebracht. Wenn es etwa heißt, die Selbstwehr habe 1906 in Belostok das Arbeiterviertel erfolgreich beschützt, stellt sich die Frage, ob es die Täter nicht ohnehin auf die wohlhabenderen Stadtteile abgesehen hatten. Manche Behauptung erweist sich auch schlechterdings als unzutreffend, wie z.B. die, dass die Selbstwehr von Zˇitomir es verhindert habe, dass die Täter ins Stadtzentrum vordringen konnten.214 Letzteres

211 Z.B. Simferopol: Juˇznye zapiski, No. 46, 13. 11. 1905, S. 59 f.; Delo Simferopol, S. 62. 212 Zu Derenˇcin ist keine Jahreszahl bekannt. Dawidowicz, Golden, S. 388. Melitopol’: Juˇznye zapiski, No. 18, 1. 5. 1905, S. 71; Lambroza, Pogrom Movement, S. 214; hingegen: Kirˇznic, Raboˇce-krest’janskie, S. 8; zu Ekaterinoslav: Prajsman, Pogromy, S. 176. 213 Hamm, Jews, S. 160–162; für eine weitere, allerdings widersprüchliche Behauptung, eine Selbstwehrgruppe habe dafür gesorgt, dass ein Pogrom ausblieb: Dinur, Mir, S. 264. Auf Seite 263 schreibt derselbe Autor, ausschlaggebend sei gewesen, dass die örtliche Polizei kein Interesse an einem Pogrom gehabt habe. Allgemein: Allgemeine, S. 855–857. 214 Lambroza, Pogrom Movement, S. 260; Samooborona 1996; Lavrinoviˇc, Kto, S. 50.

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gelang den Gruppen aber augenscheinlich in Ekaterinoslav und in Rovno.215 Ein bescheidener, an den Umständen gemessen aber nicht gering zu schätzender Erfolg war es auch, wenn die Selbstwehr aus einzelnen Konfrontationen als Sieger hervorging, wenn sie etwa in Odessa eine Gruppe von Angreifern mit einer Salve von Warnschüssen in die Flucht schlug.216 Aus dieser Perspektive wäre auch das immerhin stundenlange Standhalten auf der Brücke von Zˇitomir in die Liste der – wenn auch vorübergehenden – Erfolge der Selbstwehr einzureihen. Es gab also lichte Momente in der Geschichte der politisierten Selbstwehr, aber strukturelle Probleme sorgten dafür, dass sie die Ausnahme blieben. Die revolutionäre Prägung der Gruppen legte es nahe, auf die abschreckende Wirkung überlegener Waffen zu vertrauen. Sie unterschätzten jedoch, wie schwierig es war, die Kommunikationsprozesse, die den Kern von Abschreckung ausmachen, unter Kontrolle zu halten. Nur unter besonders glücklichen Umständen konnte die politisierte Selbstwehr Erfolge verzeichnen. Wahrscheinlicher war, dass sie die Mordlust der Pogromtäter anfachte und in den Augen mancher sogar rechtfertigte, dass sie Polizei und Militär als potenzielle Verbündete gegen sich aufbrachte und dass die mühsam errichtete Drohkulisse in sich zusammenbrach, sobald sie ernsthaft auf die Probe gestellt wurde. Das bedeutet nicht, dass die Juden des Ansiedlungsrayons besser beraten gewesen wären, die Gewalt über sich ergehen zu lassen. Es gab jedoch auch Alternativen zur politisierten Selbstwehr. Bevor es um diese gehen soll, ist aber die Frage zu stellen, warum Letztere, wenn ihre Erfolgsbilanz so schlecht ausfiel, nicht einfach frühzeitig verworfen wurde. Die Fallstudie kann darauf Antworten geben. Legendenbildung Kaum war das Pogrom von Zˇitomir vorüber, begannen Versuche, einen Märtyrerkult um die gefallenen Selbstwehrmänner aufzubauen. Während die einen planten, ihnen ein Denkmal zu errichten, druckten die anderen Ansichtskarten mit ihren Porträts (auch die in Abbildung 3 wiedergegebene Fotografie wurde als Postkarte gedruckt und ist in dieser

215 Wynn, Workers, S. 205–207; Lambroza, Jewish Self-defence, S. 1249. 216 Kriˇstofoviˇc, Universitet, S. 31.

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Form im YIVO-Archiv überliefert).217 Manche machten sich die Botschaft der Fotografien zu eigen, wie eine handschriftliche Notiz auf der Rückseite einer ähnlichen Karte bezeugt: »Mögen diese Helden und Märtyrer Sie an die mit mir verbrachten Tage, an die gemeinsamen Wünsche und Hoffnungen erinnern. Sonja.«218 Besondere Aufmerksamkeit wurde Nikolaj Blinov zuteil, dem im Namen der jüdischen Selbstwehr gefallenen Russen (Abbildung 2). Nicht nur Blinovs Bestattung sowie die traditionellen Treffen zum Totengedenken (pominki, panichida) boten einen Anlass zu revolutionären Versammlungen, bei denen einschlägige Reden gehalten, Lieder gesungen und Flugblätter verteilt wurden.219 Es gab auch (vermutlich unrealisiert gebliebene) Pläne, ein Blinov-Stipendium zu stiften und eine Biografie des im Alter von 25 Jahren erschlagenen Mannes zu publizieren.220 Der bekannte Schriftsteller und Publizist An-skij (Solomon A. Rapoport) sakralisierte Blinov, indem er seinen Tod als »Abendopfer« (Psalm 141,2) bezeichnete, und den gleichen Ton schlug auch Leo Motzkin an: »Blinow war ein historisches Sühnopfer für Tausende herabgesunkene, zu Mördern gewordene Brüder, ein Wahrzeichen für höhere Menschlichkeit.«221 Die »heiligen jüdischen Männer« der Selbstwehr von Zˇitomir wurden verherrlicht, damit andere ihrem Beispiel folgten, und tatsächlich waren sie für viele andere Gruppen ein Vorbild.222 Auch wenn es galt, im In- und Ausland dafür zu werben, dass es moralisch geboten und keinesfalls vergebens sei, die Selbstwehrgruppen durch eine Spende zu unterstützen, verwies man gern auf die Tapferkeit und den Erfolg der Selbstwehrleute von Zˇitomir.223 Die Frage nach möglicherweise ambivalenten

217 Odesskie novosti, No. 6643, 12. 5. 1905, S. 3. 218 Fotopostkarte »Den Opfern des Pogroms von Zˇitomir«, vor 28. 2. 1908, CDIAU f. 336, op. 1, d. 3321, l. 14. 219 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 4. 6. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 5; o. A., CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 77; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 35. 220 Zeitungsausschnitt aus Volyn’, No. 96, 19. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 93b. 221 An-skij, Zˇertva; Linden, Judenpogrome, S. 58. 222 Das Zitat: Dubnow, Geschichte, S. 70; Dinur, Mir, S. 244; Lambroza, Jewish Responses, S. 270. 223 Exemplarisch: Comité zur Unterstützung der von den Krawallen in Shitomir betroffenen Juden an AIU, 19. 5. 1905, AIU URSS I C 1, unpaginiert; Jewish Chronicle,

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Folgen einer revolutionär geführten Selbstverteidigungsgruppe war hier fehl am Platz. An erster Stelle musste ihr Erfolg gepriesen werden – bis hin zu Behauptungen, nur die Einmischung des Militärs habe dem völligen Triumph der Selbstwehr im Weg gestanden bzw. allein die Selbstwehr habe den Podol vor den Angreifern gerettet.224 Dass manche Zeitgenossen in dieser Weise die tatsächlichen Ereignisse interpretierten, ist weitaus nachvollziehbarer, als dass viel später Teile der Geschichtsschreibung solche Behauptungen ohne jede kritische Distanz aufgriffen.225 Shlomo Lambroza hatte zweifellos recht, als er schrieb, die Selbstwehr von Zˇitomir sei zur »Legende« geworden.226 Nur war diese Legende vom Bund und von anderen Selbstwehr-Begeisterten zielgerichtet in die Welt gesetzt worden, weil das half, Unterstützer zu gewinnen. Die Selbstwehr und die Rede von ihr waren auch Instrumente im Ringen um Einfluss auf die jüdische und teils auch nichtjüdische Bevölkerung. Innerjüdische Konflikte Es wurde viel über Erfolge der Selbstwehr geschrieben, nachweisen ließen sie sich nur in Einzelfällen. »In Wirklichkeit endete die heldenhafte Geschichte der Selbstwehr oft in bitterer Enttäuschung.«227 Wer den Grund dafür aber ausschließlich in schlechten Waffen und Parteienzwist sieht, wiederholt nur, was die Fürsprecher der Selbstwehr schon vor hundert Jahren behaupteten.228 Tatsächlich gab es von Anfang an auch Teile der jüdischen Bevölkerung, die nicht ohne Weiteres unter dem Banner der Revolution gegen die Pogrome kämpfen wollten. Das waren vor allem die konservativen oder auch nur politisch gemäßigten Juden in Russland, über die wir so wenig wie sonst vielleicht über kein anderes Segment der jüdischen Bevölkerung wissen. Gleichwohl lässt sich, wenn man die Zeugnisse ihrer ideologischen Gegner sorgsam liest, doch etwas über die eher konservativen Juden sagen.

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No. 1890, 23. 6. 1905, S. 17; Schreiben eines unbekannten Autors aus Zˇitomir an Ju. I. Gessen, vor 4. 5. 1905, RGIA f. 1565, op. 1, d. 42, l. 12. Zafran, 1905, S. 160; Allgemeine, S. 857. Greenberg, Jews, S. 54; Samooborona 1996. Lambroza, Jewish Self-defence, S. 1250. Shtakser, Structure, S. 210; vgl. Tobias, Jewish, S. 314. Shtakser, Structure, S. 210; Voschod, No. 1, 1906, S. 6–7.

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Gelegentlich ist in der Literatur zu lesen, die Pogrome hätten alle Juden im Ansiedlungsrayon gewissermaßen zusammenrücken lassen. Die Bedrohung von außen habe sie einhellig die organisierte Selbstwehr unterstützen lassen.229 Ganz falsch ist das nicht. In der Tat konnten Bundisten und andere in der Zeit der Pogrome Sympathisanten auch in jenen Lagern gewinnen, die dazu nicht unbedingt prädisponiert waren.230 Häufig wird in diesem Zusammenhang der bekannte jüdische Rechtsanwalt und liberale Aktivist Maksim M. Vinaver zitiert, der, indem er einen Blankoscheck für die Selbstwehr unterschrieb, erklärte: »Letztlich sind wir doch alle Bundisten.«231 Auch in Zˇitomir spendeten die Beteiligten der Bankett-Kampagne, im Wesentlichen Liberale, für die örtliche Selbstwehr.232 Zum Teil erfolgte die Unterstützung jedoch nur unfreiwillig. Mitunter sperrten Selbstwehrleute Wohlhabende so lange in der Synagoge ein, bis sie zahlten.233 Nicht ohne Befriedigung sahen die Selbstwehraktivisten zu, wie sich in den Respekt vor ihren Gruppen Furcht mischte, und zwar auch bei Juden.234 Offene Drohungen der Selbstwehrführer trugen dazu bei. »Glaubt ihr denn, die für Bürokraten vorgesehenen Bomben können nicht ebenso gut gegen Plutokraten verwendet werden?«, so die rhetorische Frage eines Selbstwehrführers an die versammelte jüdische Oberschicht einer Kleinstadt.235 Am Beispiel Zˇitomirs wurde bereits gezeigt, dass die Selbstwehrführer es nicht bei Drohungen beließen, sondern handgreiflich wurden, wenn die wohlhabenderen Juden die ihnen auferlegten Abgaben nicht leisteten. Der Bundist Mendel Daiˇc erklärte im Ton der Befriedigung, die wohlhabenden Juden hätten die revolutionären Kampfgruppen »mehr gefürchtet als die Polizei«, und diese Feststellung kann getrost auf das Verhältnis zur Führung der Selbstwehr übertragen werden, denn personell fielen beide Gruppen oft zusammen.236

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Lambroza, Pogrom Movement, S. 253; Levin, Preventing, S. 100. Buchbinder, Evrejskoe, S. 69. Tobias, Jewish, S. 242. Ebd. Shtakser, Structure, S. 208, 219; vgl. Ury, Barricades, S. 109–110. An-skij hat solche Szenen belletristisch verarbeitet. Frankel, Youth, S. 78. 234 Lambroza, Pogrom Movement, S. 239. 235 Dinur, Mir, S. 260. 236 Tobias, Jewish, S. 314–315.

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Die innerjüdischen Konflikte um die Selbstwehr speisten sich aus drei Gegensätzen: einem politischen, einem generationellen und einem emotionalen. Der politische Gegensatz ist der offensichtlichste: Nicht alle Teile der jüdischen Gemeinde waren gleichermaßen davon überzeugt, dass die Pogrome ihren Ursprung im Klassencharakter der Autokratie hatten und dass »die Selbstwehr, da das Pogrom ein konterrevolutionärer Akt ist, nolens volens ein Akt blutiger Revolution, also eine Art des bewaffneten Aufstands« sein müsse.237 Vor allem aber fragten sich einige, ob es nicht mehr Probleme schaffen als lösen würde, wenn zahlreiche Juden der Regierung offen den Kampf ansagten, und verweigerten deshalb der Selbstwehr ihre Unterstützung.238 Als die Geheimpolizei von Zˇitomir einen der Hauptorganisatoren der Selbstwehr, einen jungen Bundisten namens Chaim-Bencion Rochlin, festnahm, kamen einige ältere Juden zum Gendarmeriechef, um ihm ihren Dank auszusprechen. Keinesfalls sollte Rochlin bald wieder in die Freiheit entlassen werden, denn er habe »die ganze jüdische Jugend in die revolutionäre Bewegung hineingezogen«.239 Dieser Bericht stammt, das sei eingeräumt, vom örtlichen Gendarmeriechef, der auch ansonsten weder mit Judenschelte noch mit Eigenlob sparte. Ähnliche Ereignisse in anderen Städten verleihen seinen Schilderungen jedoch eine gewisse Glaubwürdigkeit.240 Bei der Festnahme Rochlins trat auch die zweite Konfliktlinie zutage, die für Spannungen zwischen den Juden sorgte: Die Selbstwehr war ein Projekt der Jugend in Abgrenzung von den Älteren. Dass die Selbstwehrleute jung waren, und zwar noch weit mehr, als die aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstums ohnehin junge jüdische Bevölkerung vermuten ließe, ist gut belegt. Von den 55 beim Oktoberpogrom in Odessa getöteten Selbstwehrleuten war keiner älter als 33, der jüngste gerade einmal 13 Jahre.241 Das 30. Lebensjahr hatten allenfalls die Anfüh237 Odesskij pogrom, S. 80. 238 Buchbinder, Evrejskoe, S. 68; vgl. die Einschätzung von Frankel, dass vermutlich nichts so sehr zur Gleichsetzung der Juden mit der Revolutionsbewegung beigetragen habe wie die revolutionär geführte und inspirierte Selbstwehr: Frankel, Jewish, S. 60–61. 239 Naˇc. Volynskogo GZˇU, 30. 6. 1905, CDIAU f. 1350, op. 1, d. 354, l. 60. 240 Shtakser, Structure, S. 201. 241 Odesskij pogrom, S. 63; vgl. Lavrinoviˇc, Kto, S. 44; ähnlich für die toten Selbstwehrleute in Trojanov: Poslednie izvestija, No. 236, 16. 6. 1905, S. 7; Char’kov: Hamm, Jews, S. 160.

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rer überschritten; das durchschnittliche Alter der einfachen Mitglieder lag bei 20 oder darunter.242 Auch darin zeigte sich, dass die Selbstwehr ein Produkt der revolutionären Bewegung war, denn auch diese wurde von jungen Männern dominiert.243 Generationskonflikte waren bei den Juden im Ansiedlungsrayon keine Seltenheit und verliehen dem politischen Engagement der Jungen zusätzliche Energie.244 »Der Generationenkonflikt wurde durch Weltanschauungen und Identitäten ausgetragen.«245 Mit der Waffe in der Hand und mit dem Gefühl, Sachwalter der Interessen aller Juden oder des Proletariats (wenn nicht der Menschheit insgesamt) zu sein, konnten junge Juden die traditionellen SenioratsStrukturen durchbrechen und wurden von ihren Gemeinden manchmal tatsächlich als Autoritäten anerkannt, indem man sie beispielsweise als Vermittler bei innergemeindlichen Konflikten anrief.246 Andere aber sahen in ihnen weiterhin die kinderlekh.247 Der vielleicht am wenigsten offensichtliche Gegensatz zwischen den Selbstwehraktivisten und anderen Juden war ein emotionaler. Für Erstere war es eine Frage der »Ehre«, »auf Schläge mit Schlägen und auf Blutvergießen mit Blutvergießen zu antworten«.248 Deshalb spielten Stolz, Würde und Selbstbehauptung, wie schon mehrfach erwähnt, in den Selbstbeschreibungen der Selbstwehr eine eminente Rolle und gelten bei Shlomo Lambroza sogar als ihr größtes Verdienst.249 Mit Blick auf die Pogrome lässt sich feststellen, dass das emotionale »Programm« der Selbstwehr eine Reihe von Vorteilen mit sich brachte. Es konnte als Bindeglied zwischen nationalistischen und sozialistischen Selbstwehrakteuren dienen, denn die Bedeutung von Stolz betonten beide Gruppen, und dass dieser sich bei den einen auf die nationale, bei den anderen auf

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Gerasimov, My, S. 232. Frankel, Jewish, S. 67; Schwara, Oifn, S. 386. Slezkine, Jüdische, S. 160; Frankel, Youth. Shtakser, Structure, S. 203. Frankel, Jewish, S. 67; vgl. Katz, Generation, S. 75. Lambroza, Pogrom Movement, S. 253. So ein Flugblatt, das 1903 in Warschau für die jüdische Selbstwehr warb. Amanˇzolova, Evrejskie, S. 113–115. 249 Lambroza, Jewish Self-defence, S. 1255–1256, passim; Shtakser, Structure, S. 190; klassisch: Greenberg, Jews, S. 53; vgl. parallel zu den Selbstwehren im Polen der Zwischenkriegszeit: Rowe, Jewish, S. 149.

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die Klassenzugehörigkeit bezog, konnte mitunter in einem unscharfen »Wir« aufgehoben werden.250 Es konnte auch bei der Mobilisierung von Mitgliedern und Unterstützern helfen, denn eine Neubestimmung und Affirmation jüdischer Identität durch die Betonung von Männlichkeit und Gewalt lag ohnehin im Zeitgeist.251 Man wird auch vermuten dürfen, dass die Option, durch Selbstwehr »Mannhaftigkeit« zu erlangen, gerade auf heranwachsende Männer besonders attraktiv wirkte.252 Der Appell an Emotionen war aber auch deshalb wichtig, weil sich die revolutionäre Selbstwehr auf diese Weise gewissermaßen gegen Misserfolge immunisierte: Wo sie wenig auszurichten vermochte, konnten ihr doch wenigstens emotionale Verdienste zugutegehalten werden. Die Selbstwehr ließ sich also auch »unabhängig von ihren unmittelbaren praktischen Resultaten« glorifizieren.253 »Wenn die Selbstwehr gegenwärtig auch nicht in der Lage ist, das jüdische Volk vom Elend der Pogrome zu erlösen […], so doch wenigstens von den Erniedrigungen, die bisher deren untrennbare Begleiter waren«, hieß es in einem BundFlugblatt von 1903,254 und Yosef Chaim Brenner legte in einer Erzählung, die im Sommer 1905 in London erschien und deren Erlös den Selbstwehrgruppen zugutekommen sollte, einem jungen Juden die folgenden Worte über die Selbstwehr in den Mund: »Wird es helfen? Nein? Aber die ganze Existenz einer Nation beruht auf ihrer Trauer, ihrer Vergeltung und ihrer Ehre.«255 Wer solchermaßen für die Ehre der Juden insgesamt eintrat, stellte zugleich alle ins Abseits, die Vorbehalte gegen die politisierte Selbstwehr hatten. Der emotionale Appell war deshalb ein wichtiges Instrument, um die innerjüdischen Fronten zu klären und den Gegner zu diskreditieren. Juden, die sich nicht mit der Selbstwehr identifizierten, galten als verachtenswert und mussten sich eine »Sklavenmentalität«, »Selbsterniedrigung«, den »engen Horizont des Gettos« und »Speichellecke-

250 Vgl. für den Bund: Tobias, Jewish, S. 225; für den Aufruf der hebräischsprachigen Schriftsteller nach Kiˇsinev: Khiterer, Evrejskie. 251 Horowitz, They. 252 Z.B. From Kishineff, S. 35. 253 Vestnik Bunda, No. 4–5, Nov. 1904, S. 4–5. 254 Buchbinder, Evrejskoe, S. 99. 255 Frankel, Yosef, S. 115.

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rei« vorwerfen lassen.256 Die jüdische Oberschicht sollte generell auf die Rolle als Geldgeber beschränkt, ansonsten aber marginalisiert werden. Denn mit ihren Bedenken, ob eine radikal aufgestellte Selbstwehr nicht zusätzlichen Unwillen auf die Juden ziehen würde, mit dieser »philisterhaften Dummheit«, stand sie entschlossenem Handeln nur im Weg.257 Bemerkenswert hierbei ist, wie unkritisch solche Tendenzen in der Forschungsliteratur fortgeschrieben wurden.258 War es denn so, dass den Juden zur Selbstwehr nur zwei Alternativen blieben, nämlich die (kurzfristig kaum zu bewerkstelligende) Emigration und das Erdulden?259 Mussten die Juden entweder unter Leitung von Sozialisten und Zionisten zu den Waffen greifen oder im Angesicht der Gewalt »stiller als das Wasser und niedriger als das Gras« verharren?260 Alternativen zur politisierten Selbstwehr Es gab zahlreiche Juden, die sich gegen Angriffe zur Wehr setzen wollten, ohne sich mit einer radikalen Partei zu identifizieren. Doch die Aussichten auf eine erfolgreiche Gegenwehr hingen ganz offensichtlich davon ab, ob sie sich auf eine bereits bestehende Gruppe stützen konnte.261 Vor allem dieser organisatorische Vorsprung war der Trumpf der Revolutionäre. In einigen, wenn auch wenigen Fällen boten sich aber Alternativen. Die Bürgerwehren und Milizen, die 1905 in vielen Städten ins Leben gerufen wurden und deren politische Ausrichtung eine große Spannbreite aufwies, kamen dafür in der Regel nicht infrage, weil sie meist erst nach großen Ausschreitungen, etwa den Oktoberpogromen, einsatzbereit waren.262 Es gab aber ein paar wenige Gruppierungen, die diese

256 Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 14–16; Levin, Preventing, S. 96–98; Buchbinder, Evrejskoe, S. 99; Shtakser, Structure, S. 206–207; Weizmann, My, S. 380. 257 Odesskij pogrom, S. 80–81, 90. 258 Eine Ausnahme: Levin, Preventing. 259 Lambroza, Jewish Responses, S. 269–273. 260 Zu dieser oft aufgegriffenen Formulierung, einem russischen Idiom, exemplarisch: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 72–74. 261 Zur Bedeutung präexistenter Organisation: Bergmann, Pogrome 2002, S. 446. 262 Ascher, Revolution, S. 131–134; Schnell, Räume; exemplarisch: Juˇznye zapiski, No. 13, 27. 3. 1905, S. 76; Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 26; Volyn’, No. 54, 10. 3. 1905, S. 4.

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Voraussetzungen erfüllten und zugleich fähig waren, wirksam in Gewaltprozesse einzugreifen. Eine solche Gruppe war die Feuerwehr, die z.B. beim Pogrom von Kiˇsinev 1903 und bei dem von Gomel’ 1906 zum Einsatz kam.263 Ihre Möglichkeiten waren begrenzt, aber Erfolge waren möglich. So wurden auch beim Pogrom in Rovno im Jahr 1904 die Täter maßgeblich mit Feuerwehrschläuchen vertrieben.264 Eine ungewöhnliche, aber in ihrer Wirkmächtigkeit bemerkenswerte Alternative waren ethnische Bürgerwehrgruppen, wie es sie beispielsweise im nördlichen Landkreis Zˇitomir gab.265 Dort lebten zahlreiche deutsche Kolonisten, die, um dem in Wolhynien mehr noch als anderswo überhandnehmenden Pferdediebstahl etwas entgegenzusetzen, in großen Verbänden Razzien in den Dörfern der Umgebung veranstalteten.266 Einen Monat vor dem Pogrom von Zˇitomir hatten 800 Kolonisten nördlich der Stadt mehrere Dörfer überfallen und neun Männer erschlagen, in denen sie Pferdediebe zu erkennen glaubten.267 Als nun nach dem Pogrom auf dem Land Gerüchte umgingen, eine Horde Russen ziehe mordend von Dorf zu Dorf, griffen Hunderte Deutsche zu den Waffen und patrouillierten in ihren Kolonien und den angrenzenden Schtetln,

263 The [London] Times, 27. 5. 1903, S. 6; Voschod, No. 6, 1906, S. 31; vgl. hingegen Raab, der die Freiwilligen Feuerwehren als fast ausschließlich zarentreue Einrichtung sieht: Raab, Democracy, S. 18, 123. Allgemein zur Freiwilligen Feuerwehr in dieser Zeit auch: Sedunov, Gubernskij, S. 133. 264 Volynskij gubernator an DP, 28. 8. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 1 cˇ 13 l. B, l. 10–11ob; Lambroza, Pogrom Movement, S. 221. Lambroza irrt, wenn er meint, die Selbstwehr sei hier auf Weisung und zur Hilfe der Polizei eingesetzt worden, wie aus der Darstellung des Gouverneurs in der o.g. Quelle deutlich hervorgeht. Die Feuerwehr war auch die Basis der revolutionären Miliz in Tomsk: Delo Tomsk, S. 7. 265 Vgl. zum Folgenden: Wiese, Große. 266 Zum Problem des Pferdediebstahls und des gegen ihn gerichteten Vigilantismus: Kosiˇc, Putevye, S. 5; Frierson, Crime; Worobec, Horse, S. 285; Frank, Popular; ders., Crime, S. 124–132; Neutatz, Deutsche, S. 421 f.; Galeotti, World, S. 94–95. Neben Bürgerwehren wurden auch Versicherungen eigens gegen den Pferdediebstahl eingerichtet. Krukones, To, S. 94. 267 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, 25. 3. 1905, Kopie, RGIA f. 1405, op. 108, d. 9776, l. 1–2;Volyn’, No. 75, 7. 4. 1905, S. 3; Kopie des Berichts des Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, 25. 3. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, d. 9976, l. 1–2; vgl. die Akten des Bezirksgerichts von Zˇitomir in: DAZO f. 24, op. 17, d. 12.

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während Kinder und Frauen in Sicherheit gebracht wurden.268 500 Kolonisten rückten mit Schusswaffen im Schtetl Goroˇski ein und warteten »voller Ungeduld auf das Erscheinen der Russen […], um sich mit ihnen zu schlagen«.269 Das Warten war vergeblich – fast enttäuscht zogen die Deutschen am folgenden Tag wieder ab. Man darf aber vermuten, dass sie sehr wohl etwas bewirkt hatten, denn anders als im südlichen Landkreis kam es zu keiner antijüdischen Gewalt, obwohl es auch im Norden Gerüchte über marodierende Judenbanden gegeben hatte und sich Bauern alle Mühe gaben, ihre Nachbarn zum Judenschlagen zu bewegen.270 Selbst wenn es sich nicht präzise nachweisen lässt, so kann man doch annehmen, dass es auch wegen der Bürgerwehr friedlich blieb. Sie betrieb, ebenso wie die Selbstwehr in der Stadt, Abschreckung, hatte eine genaue Vorstellung von den potenziellen Tätern und konnte ein großes Gewaltpotenzial mobilisieren. Den Bauern der Gegend war klar, dass die Kolonisten das Handwerk der Gewalt beherrschten und dass von ihnen dennoch keine Gefahr für die Masse der Bevölkerung ausging. So konnte die Abschreckung gelingen. Auch ein vergleichender Blick zeigt, wie wichtig es war, mit wem jene Personen, die sich von einem Pogrom bedroht fühlten, ein Bündnis eingingen. So spielten bei den Pogromen gegen Angehörige der Intelligenzija ebenfalls häufig bewaffnete »Milizen« eine Rolle, die auf Initiative der örtlichen oppositionellen Intelligenzija ins Leben gerufen worden waren. Oft lag ein offizieller Beschluss der jeweiligen Stadtduma zugrunde, mit dem diese zugleich die Finanzierung der regulären Polizei einstellte. In dieser Verbindung mit der politischen Opposition glichen die Milizen der politisierten Selbstwehr. Sie unterschieden sich zwar darin, dass sie in der Regel erst sehr kurz vor dem Ausbruch von Pogromen, meist in den Oktobertagen 1905, entstanden und deshalb weniger Zeit hatten, sich als Organisation zu konsolidieren. Aus diesem Grund kursierten auch kaum Gerüchte über angeblich von ihnen geplante Übeltaten. Als sie bei Pogromen schließlich aktiv wurden, glich ihr Handeln aber dem der politisierten Selbstwehrgruppen. Auch sie verließen sich auf die Macht von Schusswaffen, die sie aber in der Regel nur zur Ab268 Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 20. 5. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 73; Volyn’, No. 88, 30. 4. 1905, S. 3. 269 Ebd. 270 Arndt, Shitomirer, S. 103–104; Odesskie novosti, No. 6612, 19. 5. 1905, S. 2.

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schreckung einsetzten, und ihre Erfolgsbilanz war ebenfalls gemischt, nicht zuletzt, weil sie sich offen gegen Polizei und Militär stellten.271 Anders war es im Kaukasus, wo (anfänglich) Armenier von Türken und anderen Muslimen attackiert wurden. Es ist hier nicht der Platz, die Hintergründe und Ereignisse ausführlich zu schildern.272 Nach einem blutigen Pogrom in Baku im Februar 1905 beschlossen Armenier im gesamten Kaukasus, sich für kommende Angriffe zu rüsten. Ähnlich wie sich die Juden des Ansiedlungsrayons auf den Bund bezogen, gab es auch für sie einen naheliegenden Bündnispartner, die Daˇsnakcutjun-Partei, die in ihrem Programm Sozialismus und armenischen Nationalismus verband. Bei aller Ähnlichkeit zum Bund gab es jedoch einen wichtigen Unterschied: die Gewalterfahrung. Im Osmanischen Reich, vor allem im östlichen Anatolien, wurden seit den späten 1870er Jahren, verstärkt aber seit 1890, Armenier verfolgt, vertrieben und massakriert.273 Auf die Angriffe meist kurdischer Verbände reagierten die Armenier, indem sie ihrerseits bewaffnete Truppen aufstellten. Diese fedai genannten Kämpfer sind bis heute wichtige Figuren der armenischen Nationalmythologie.274 Die 1890 gegründete Daˇsnakcutjun-Partei unterstützte die Kämpfer organisatorisch, versuchte aber auch, den Kampf ideologisch zu unterfüttern.275 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlegte die Partei den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten ins Russische Reich, doch die seit 1903 von ihr ins Leben gerufenen »Selbstverteidigungs-Komitees« standen weiterhin mit den fedai in Verbindung.276 Als dann das Februarpogrom von Baku (ähnlich wie das von Kiˇsinev für die Juden) weite Teile der armenischen Bevölkerung von der Notwendigkeit aktiver Selbstverteidigung überzeugte, übernahmen die Komitees überall, wo im Kaukasus Armenier lebten, die Führung. An ihrer Spitze wiederum standen oft fedai, die teils eigens aus dem osmanisch-russischen Grenzland gekom-

271 Ascher, Revolution, S. 131; Schnell, Räume, S. 65; Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 26; Schmemann, Dorf, S. 182–188; Odesskij pogrom, S. 74; Michajlova, Cˇernosotennye, S. 95 f.; Jones, Socialism, S. 190–194; Delo Tomsk, S. 5 f., 14–16. 272 Dafür Sargent, Armeno-Tatar, und weitere in diesem Abschnitt zitierte Arbeiten. 273 Nalbandian, Armenian, S. 161–176. 274 Mouradian, Armenische, S. 89–91; Panossian, Armenians, S. 209. 275 Nalbandian, Armenian, S. 151–168. 276 Hovannisian, Armenia, S. 18; Ter Minassian, Histoires, S. 155; Minassian, Nationalism, S. 167, 176.

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men waren.277 Die erfahrenen Kämpfer prägten die armenische Gegenwehr, und als 1906 die Massaker im Kaukasus (vorläufig) zu Ende gingen, gab es zwar mehr armenische als muslimische Opfer. Aber wo sich die armenischen Gruppen in der Übermacht gefühlt hatten, ging die Gewalt auch von ihnen aus.278 Einmal mehr zeigte sich: Wo die Masse der Bevölkerung ihre Sicherheit einer kleinen Gruppe anvertraute, diktierte diese, was »Selbstverteidigung« bedeutete und wie sie zu erreichen war. Die Beispiele machen deutlich, dass der Ansatz, Selbstwehreinheiten mithilfe bereits bestehender Organisationen aufzubauen, vielversprechend war, aber auch erhebliche Probleme mit sich bringen konnte. Eine weitere Form der »präexistenten Organisierung« wurde noch nicht erwähnt, obwohl es sie fast überall gab, wo Juden lebten, nämlich diejenige innerhalb von Nachbarschaften, religiösen Gemeinden und Berufsvereinigungen.279 Sie bildete schon bei den Pogromen von 1881/82 die Grundlage der Selbstwehr, und vermutlich spielte sie auch während der zweiten Pogromwelle eine weit größere Rolle, als die von der politisierten Selbstwehr bestimmte Quellenüberlieferung vermuten lässt. Die Protagonisten der nachbarschaftlichen Selbstwehr veröffentlichten weder Streitschriften noch sorgten sie für Skandalmeldungen in der Presse und sie zogen auch in viel geringerem Maß die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Hinzu kommt, dass die Revolutionäre manchmal versuchten, nachbarschaftliche Selbstverteidigungsinitiativen zu vereinnahmen, und das mit gutem Grund, denn Letztere hatten nicht selten Erfolge zu verbuchen. Das galt besonders für die jüdischen Metzger, die in ihren blutigen Schürzen, mit Messern und Schlachterbeilen bewaffnet, nicht nur Furcht einflößend aussahen, sondern die Angreifer auch mit Gewalt in die Schranken wiesen.280 Als beispielsweise 1903 in Gomel’ zwei Tage vor dem Pogrom eine große Marktschlägerei mit einem »Sieg« der Juden endete, war das nicht das Verdienst der Selbstwehr, sondern von spontan zusammengekommenen Metzgern und Händlern.281 Beim Oktoberpogrom in Odessa löste sich die politisierte Selbstwehr einen Tag nach Beginn der Gewalt selbst auf, nachdem sie hatte erkennen müs277 278 279 280 281

Ebd.; Bor’ba, S. 208–209; Mathossentz, Black, S. 19–22. Zalevskij, Nacional’nye, S. 309–310. Zitat: Bergmann, Pogrome 2002, S. 446; vgl. Schnell, Räume, S. 92. Burroughs, Tale, S. 254 f., 286 f.; Odesskij pogrom, S. 55; Tobias, Jewish, S. 227. Vestnik Bunda, 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 16–18.

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sen, dass sie mit ihren Revolvern nichts ausrichten konnte. Die Metzger, aber auch andere Gruppen, die sich aus den Bewohnern eines Straßenzugs oder auch nur eines einzelnen Hauses rekrutierten, leisteten den Pogromtätern hingegen erbitterten Widerstand und waren oft erfolgreich.282 In Mogilev, Slonim oder dem Schtetl Ryˇskanovka begannen Pogrome, aber eilig zusammengerufene Juden sorgten dafür, dass letztlich nicht mehr geschah als eine überschaubare Schlägerei.283 Ein Jude aus Kiˇsinev, der sich im Oktober 1905 gemeinsam mit anderen den Pogromtätern entgegengestellt hatte, erklärte rückblickend: »Wer braucht schon eine ›Selbstwehr‹, wenn man, Gott sei Dank, ein wenig Kraft hat und sie zu nutzen weiß?«284 Für die Selbstwehraktivisten der Partei Poale Zion lag die Schlussfolgerung auf der Hand: »Alle verstehen, dass die parteigebundene Selbstwehr unzureichend ist und dass etwas Neues organisiert werden muss.« Dieses Neue war die »straßen- und hofweise Selbstverteidigung«, die sich bereits in Odessa als mächtig erwiesen hatte.285 Aus Sicht der Aktivisten sollten die zahlreichen Graswurzel-Selbstwehren freilich zentral angeleitet werden, und zwar, wen sollte es überraschen, von ihrer Partei. Damit offenbarte sie aber, dass sie nicht verstanden hatte, worin das Geheimnis des Erfolgs der nachbarschaftlichen Selbstwehrgruppen bestand. Diese konnten auf eine breite soziale Basis zurückgreifen, weil sie weder in politischer noch in generationeller oder emotionaler Hinsicht für Konfliktstoff in der jüdischen Gemeinschaft sorgten. Weil die nachbarschaftlichen Gruppen keine weiter gehenden politischen Ziele hatten, waren sie frei von den Zielkonflikten der politisierten Gruppen, brachten Polizei und Militär nicht gegen sich auf, hatten aber auch keine Schwierigkeiten damit, sich ihnen, wenn nötig, zu entziehen: »Kam die Armee, verschwanden sie in den Häusern, um wieder herauszukommen und sich zu vereinen, sobald das Militär abzog.«286 Darin glichen sie übrigens 282 Burroughs, Tale, S. 254–287; Odesskij pogrom, S. 54 f., 59 f. 283 Naˇc. Grodenskogo GZˇU an DP, 25. 9. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 832, l. 60–60ob; Komandir 73go pechotnogo Krymskogo Ego Imperatorskogo Vysocˇ estva Velikogo knjazja Aleksandra Michailoviˇca polka: Raport, 13. 9. 1904, GARF f. 102, op. 102 (3), d. 832, l. 59; Oficial’noe soobˇscˇ enie o pogrome v m. Ryˇskanovke, CDIAU f. 419, op. 1, d. 4195, l. 0. 284 Katz, Generation, S. 145. 285 Odesskij pogrom, S. 82–84. 286 Ebd., S. 54.

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den Pogromtätern – und nicht nur darin: Während die politisierte Selbstwehr versuchte, sich vor allem durch Schusswaffen in eine qualitativ überlegene Position zu bringen, kamen die Akteure der nachbarschaftlichen Selbstwehr wie die Pogromtäter ad hoc zusammen, suchten den Nahkampf, griffen zu solchen Waffen, die gerade verfügbar waren – oft Arbeitsgeräte oder Zaunpfähle –, und waren auch in der Lage, sie kompetent einzusetzen.287 »Sie verteidigten sich mit ebenjener Entschlossenheit und Härte, mit der sie überfallen wurden, und verteidigten ihre Straßen fast vollständig.«288 Manchmal trugen die Juden am Ende mehr Opfer davon als ihre Gegner, doch gleichzeitig änderten sie die Regeln der Auseinandersetzung: Nachbarschaftliche Selbstwehr verwandelte die Gewaltsituation. Sie machte aus einem Pogrom eine Schlägerei, aus einseitiger Gewalt einen symmetrischen Konflikt. Auch die Schlägerei verlief oft blutig, aber sie war kalkulierbar im Vergleich zum Versuch der politisierten Selbstwehr, die Asymmetrie zu eigenen Gunsten umzukehren. Viele Juden hatten geglaubt, die politisierte Selbstwehr sei der nachbarschaftlichen strukturell überlegen, weil sie über eine stabile Organisation und Zugang zu knappen Ressourcen verfügte. Tatsächlich versprach die nachbarschaftliche Selbstwehr weit mehr Erfolg. Neben der nachbarschaftlichen gab es noch eine weitere Alternative zur politisierten Selbstwehr, nämlich die Fürsprache bei den Behörden. Seit Jahrhunderten hatten jüdische Gemeinden auf diesem Weg versucht, sich zu schützen, und auch im späten Zarenreich war Fürsprache nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. In Elisavetgrad etwa waren verstärkte Sicherheitsvorkehrungen ergriffen worden, nachdem die örtlichen Juden um Schutz gebeten hatten (auch wenn sich spekulieren ließe, dass das auch ohne ihre Bitte geschehen wäre). In Zˇitomir hatte der Gouverneur zur Osterzeit, als die Pogromgefahr am größten schien, viel unternommen, um Gewalt zu verhindern, und damit einer Bitte jüdischer Abgesandter entsprochen. Gleichzeitig ergriffen aber auch Behördenvertreter die Initiative, um einflussreiche Juden zu warnen, wenn sich Gefahr abzeichnete.289 Man könnte argumentieren, Aufgabe des Staates 287 Exemplarisch: Mendel, Erinnerungen, S. 29; Shohet, Jews, S. 102; Zel’cer, Pogrom. 288 Odesskij pogrom, S. 54. 289 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 36ob; Naˇc. Tavriˇceskogo GZˇU , 18. 1. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 5 cˇ . 32 t. 1, l. 10.

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sei es nicht gewesen, seine jüdischen Untertanen zu warnen, sondern sie effizient zu schützen. Das trifft zu, lässt aber außer Acht, dass es im Zarenreich normal war, dass Lokalbehörden die ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nur teilweise erfüllten und erfüllen konnten.290 Deshalb ist es ein Zeichen sich überschneidender Interessen, dass Juden und Staatsvertreter darüber sprachen, wie ein Pogrom abgewehrt werden könnte. Am Tag vor dem Pogrom von Zˇitomir trat zudem der Polizeimeister und tags darauf der Offizier auf dem Kathedralenplatz mit der Selbstwehr in Verhandlungen. Beide gingen auf ihre Forderungen ein, und das, obwohl die Selbstwehr aus ihrer radikal oppositionellen Einstellung kein Geheimnis machte. Es gab also eine Kooperationsbereitschaft aufseiten des Staates, auch wenn sie nicht das Pogrom von Zˇitomir verhinderte. Fürsprache war nicht aussichtslos.291 Allerdings scheint es, dass sich diese Situation seit 1903 zum Schlechten veränderte. Das könnte damit zu tun haben, dass die zu dieser Zeit aufkommenden politisierten Selbstwehrgruppen alles taten, um Fürsprache als legitimen Weg der Verhinderung von Pogromen zu diskreditieren. Das geschah einerseits rhetorisch: Bei Polizei, Gouverneuren oder Ministern »um Almosen zu betteln«, galt als schwere Demütigung:292 Die »Speichellecker« machten sich mit den vermeintlichen Hintermännern der Gewalt gemein und beschmutzten die Ehre des jüdischen Volkes.293 Tatsächlich hatten Demütigungsrituale wie das Weinen und Wehklagen vor dem Machthaber einst zum klassischen Verhaltensrepertoire des jüdischen Unterhändlers, des shtadlan, gehört.294 Aber diese Zeiten waren vorbei. Im Umgang mit einzelnen Polizisten oder Angehörigen des Militärs floss meist Geld.295 Beim Verhandeln mit Gouver-

290 Brower, Russian; Robbins, Tsar. 291 Izmail 1905: Lambroza, Pogrom Movement, S. 249; Sˇeta 1903: Richter, Kiˇsinev, S. 124; Kiev, Kalisz und Rostov n. D. 1903: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 63, 76–77, 81–82. 292 Poslednie izvestija, No. 160, 24. (11) 12. 1903, S. 4. 293 Weizmann, My, S. 380; Vital, People, S. 521. 294 Guesnet, Politik, S. 70–71. 295 Levin, Preventing, S. 96–98. Dabei ist zu bedenken, dass es zum Modus Vivendi vieler Juden im Zarenreich gehörte, Polizisten zu bestechen, was einerseits Schutz vor Behördenwillkür, andererseits aber auch gerade willkürliche Nichtbeachtung der Gesetze zugunsten der Zahlenden bedeuten konnte. Lindemann, Esau, S. 289.

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neuren und höheren Beamten wurden eher rationale Argumente vorgetragen, wobei die entscheidende Frage war, an wen man sie adressierte.296 Wirtschaftlich starke Akteure wandten sich z.B. an den Finanzminister, weil dieser für ökonomische Argumente empfänglich war und seinerseits Druck auf seinen für die innere Sicherheit zuständigen Amtskollegen ausüben konnte.297 Eine Delegation unter Führung David G. Gincburgs sprach im Januar 1906 beim Premierminister Sergej Ju. Witte vor und überreichte ihm ein Schreiben, das dieser, so die Erinnerungen Maksim M. Vinavers, der ebenfalls an dem Treffen teilnahm, zur Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates machte.298 Das Argument der Würdelosigkeit entsprach also weniger der Realität der Fürsprache jener Zeit als dem Selbstbild der Selbstwehrakteure. Obwohl die Selbstwehrgruppen als Verband junger Radikaler im Vergleich zur breiten jüdischen Bevölkerung immer nur einen zahlenmäßig kleinen und ihrem Profil nach untypischen Ausschnitt darstellten, wollten sie als Repräsentanten und Wortführer »der Juden« insgesamt gesehen werden und waren damit oft erfolgreich. Das schränkte den Spielraum bei Verhandlungen mit den Behörden selbstverständlich ein. Mehrfach mussten sich jüdische Delegationen Vorhaltungen wegen der großen Rolle der jüdischen Jugend in der revolutionären Bewegung anhören, wenn sie nicht gleich auf ihre Hilfegesuche hin die zynische Antwort bekamen, sie sollten sich doch an die Selbstwehr wenden.299 Fürsprache als Methode, ein Pogrom abzuwenden, war damit nicht nur diskreditiert, sondern auch unwahrscheinlich. Wenn sie dennoch gelang, konnte sie allerdings die Selbstwehr überflüssig machen: »Wir, die jungen Leute, organisierten eine Kampfgruppe. Einige Polen traten bei. Alles Arbeiter. Wir hatten ein paar Waffen, also Holzstöcke mit Klingen drin [sticks with knives inside]. Wir hatten

296 Levin, Preventing, S. 96–98. 297 Bittschrift einiger Juden von Berdjansk an Ministr Finansov, Kopie, o.D. [vor 7. 4. 1881], GARF f. 102, op. 38 (2), d. 681 cˇ . 1, l. 57–57ob; vgl. Otˇcet Bakinskogo Birˇzevogo komiteta za 1905 g., Baku 1906, l. 31–32. 298 Ob das zutraf, ist zweifelhaft. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber die Überzeugung, dass Fürsprache ein wirksames Mittel war, um Einfluss auf die politische Spitze zu nehmen. Mindlin, Politika, S. 130 f. 299 Mogilev 1904: Tobias, Jewish, S. 230.

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›Bulldog-Revolver‹. Junge Leute bewachten jede Ecke. Und in Gegenden, wo Juden lebten, wurden alle möglichen brennbaren Flüssigkeiten vorbereitet. Aber dann spendete die Bourgeoisie eine große Summe an das dreizehnte Dragonerregiment, damit es im Fall eines Pogroms heimlich eine Einheit Soldaten schickt. Als dann die Polen die Kirche verließen und jemand schrie ›Lasst uns die Juden holen‹, schossen Soldaten direkt in die Menge, mehrere Leute wurden verletzt, und damit endete das Pogrom. [Besser gesagt], das Pogrom fand nicht statt.«300 Es gab also Alternativen zur politisierten Selbstwehr, aber sie standen in deren Schatten. Fürsprache wurde dort, wo revolutionäre Gruppen die jüdische Bevölkerung nach außen dominierten, praktisch unmöglich. Die andere Alternative, nachbarschaftliche Selbstwehr, trat hinter der politisierten zurück, weil deren Vorzüge auf der Hand zu liegen schienen. Dass die politisierte Selbstwehr auch Nachteile hatte, zeigte sich oft erst, wenn es bereits zu spät war. Diese Nachteile bestanden in einem Zielkonflikt (Revolution – Pogromabwehr), darin, dass sie selbst als Bedrohung wahrgenommen wurde und dass sich die Drohung, die sie sorgsam inszenierte, im Ernstfall meist als leer erwies. Die Tragik der jüdischen Selbstwehr jener Zeit war, dass sich von den vielen Juden, die der Pogromgefahr aktiv begegnen wollten, die meisten einer radikalen Minderheit unterordneten, die ihr Versprechen nur selten halten konnte. Die Juden von Zˇitomir mussten das früher erkennen als die meisten anderen im Reich und zogen daraus ihre Konsequenzen. Bevor es darum geht, muss aber die Gegenseite untersucht werden.

Die Schwarzhunderter Wo es Pogromgewalt gab, so dachten sehr viele Zeitgenossen, müsse es auch eine sie leitende Hand im Hintergrund geben. Gerade mit Blick auf die Pogrome der zweiten Welle ist diese Vermutung durchaus nachvollziehbar. Wenn die Pogromgefahr die Opfer dazu brachte, sich in mehr oder weniger festen Gruppen zu organisieren, warum sollten das nicht auch die Täter tun? Als Sammelbegriff für jene Kräfte, die Pogrome vor-

300 Zit. n.: Shtakser, Structure, S. 208.

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bereiteten und dann planmäßig ins Werk setzten, prägten Zeitgenossen den Begriff »Schwarzhunderter«, ohne den auch heute nur wenige Darstellungen der Pogrome auskommen.301 Gemeint sind damit sehr unterschiedliche Akteure: Autoren von Zeitungen und Flugschriften, die potenziell Pogromwillige aufhetzten, skrupellose Staatsbeamte, die sie anleiteten und protegierten, politische Parteien und Vereine, die sie organisierten – und schließlich schlicht das Kollektiv der Pogromtäter. Weil so unklar war, wer sich hinter den »Schwarzhundertern« verbarg, war es so einfach, ihnen die Urheberschaft an den Pogromen anzulasten. Kritisch überprüfen lässt sich das nur, wenn man die verschiedenen Ebenen gesondert untersucht. Hetzschriften Pogrome werden von Zeitungsredakteuren gemacht – diese Schlussfolgerung könnte man aus einem Großteil der Literatur über die Pogrome ziehen.302 Viele Zeitgenossen waren überzeugt, dass die Pogrome von 1881 mit einer Artikelserie im Novorossijskij telegraf begannen303 und die Berichte der in Kiˇsinev erscheinenden Zeitung Bessarabec über einen angeblichen Ritualmord den Auftakt zur zweiten Pogromwelle bildeten. Darstellungen des Pogroms von Kiˇsinev hingegen beginnen noch immer mit dem Bessarabec. Pavel Kruˇsevan, der unter anderem als Erster die »Protokolle der Weisen von Zion« drucken ließ und dessen Zeitungen auch für das Pogrom von Zˇitomir ausschlaggebend gewesen sein sollen, wird mit Schönerer, Drumont und Hitler in eine Reihe gestellt.304 So gesehen folgten die Ereignisse in Russland vertrauten Mustern. Es soll hier nicht bestritten werden, dass Kruˇsevan und sein Bessarabec einen wichtigen Platz in der Ideengeschichte des russischen Antisemitismus haben. Aber der Zusammenhang zwischen der Zeitung und dem Pogrom ist weniger eng, als oft behauptet wurde. So betonen die

301 Die wichtigste Ausnahme sind die jüngeren Arbeiten von Gerald Surh. 302 Exemplarisch: Lambroza, Pogrom Movement, S. 206; Hamm, Jews, S. 163; Vital, People, S. 510; Stricker, Russische, S. 542; Smith, Continuities, S. 153; Richter, Kiˇsinev, S. 128; Engelstein, Slavophile, S. 194. 303 Seit den Arbeiten von Michael Aronson und John Klier kann dies als widerlegt gelten. Vgl. Aronson, Troubled Waters, S. 69–80; Klier, Russians; Klier, Christians, S. 159; hingegen Zel’cer, Pogrom. 304 Lindemann, Esau, S. 26; From Kishineff, S. 44 f.

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Abb. 4 Der zeitgenössische »Schwarzhunderter«-Diskurs in einem Bild: Ein Flugblatt stellt die Verbindung zum »Bund des Russischen Volkes« her, das andere (»Schlag zu«) ruft den Mann zu Gewalt auf; die Staatsmacht lässt ihn gewähren. Karikatur aus der Satirezeitschrift Vampir, No. 7, 1906, Titelblatt © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, 2“ Ue 6783/28–4 R.

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zahlreichen Quellen, die Krasnyj-Admoni und Dubnow zum Pogrom von Kiˇsinev zusammenstellten, immer wieder die Bedeutung der Zeitung. Nimmt man Äußerungen der Täter als Maßstab, bleibt die Bezeichnung der Juden als »Blutsauger«, was in der Sprache der Zeit jedoch eine übliche Metapher für ökonomische Ausbeutung war, die mit der Ritualmordlegende nicht unmittelbar in Zusammenhang stand. Noch wichtiger, das legen jedenfalls die Schilderungen zum Ablauf des Pogroms nahe, war aber offensichtlich die Auffassung der Täter, mit Erlaubnis des Zaren zu handeln und einen jüdischen Angriff auf die örtliche Kathedrale und einen orthodoxen Priester zu rächen. Dass für die Täter die angeblichen Ritualmorde in Dubossary und Kiˇsinev eine Rolle spielten, wird in diesen Quellen hingegen nicht erwähnt.305 Die große Bedeutung der Lokalzeitung war damit wenig mehr als eine Unterstellung, die auf der Idee von der fundamentalen Beeinflussbarkeit des »einfachen Volkes« fußte. Das Stadtoberhaupt von Kiˇsinev etwa erklärte: »Die dunkle, unwissende Masse, die sich in Schankstuben versammelt, ist selbstverständlich nicht in der Lage, ein eigenes Urteil zu fällen, und glaubt deshalb allem Gedruckten bedingungslos.« Daher trage Bessarabec die »Hauptverantwortung als intellektueller Schuldiger«.306 Diese Schlussfolgerung mag insofern überraschen, als der Bessarabec, ebenso wie andere ihm politisch nahestehende Zeitungen, keine Aufrufe zur Gewalt gegen Juden druckte. Es gab Zeitungen (und andere Publikationen), die Judenfeindlichkeit gewissermaßen zu ihrem Markenzeichen gemacht hatten. Sie warfen den Juden vor allem ihre angebliche ökonomische Dominanz (»Ausbeutung des Volkes«) und politische Illoyalität (»die jüdische Revolution«) vor, und es fehlte auch nicht an Aufforderungen, den Kampf gegen diese Übel aufzunehmen. Das Mittel der Wahl war aber nicht Massengewalt. Selbst indirekte Appelle wie derjenige, dass das »Volk« die »inneren Feinde« gewiss »in Stücke reißen« würde, wenn es sie nur besser kennen würde, waren eine große Ausnahme.307 Der Grund war einfach: Auch antisemitischen Journalisten war unwohl beim Gedanken an Massengewalt. Denn sosehr sie auch die 305 Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 136, 143, 205 f.; anders war es scheinbar im nahen Dorf Boˇcoe, das wenig später zum Schauplatz eines kleineren Pogroms wurde: ebd., S. 298. 306 Ebd., S. 217. 307 Juˇznye zapiski, No. 16, 17. 4. 1905, S. 49; Balmuth, Novoe, S. 35.

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unverbrüchliche Zarentreue des »Volkes« beschworen, mussten sie doch mit Sorge daran denken, welchen Zielen sich das »Volk« zuwenden würde, wenn es erst seine Kräfte an den Juden erprobt hatte. Zu zahlreich waren in der russischen Geschichte die »Rebellen im Namen des Zaren«, die sich auf einen angeblichen Willen des Herrschers beriefen, tatsächlich aber den Maßgaben des Ancien Régime eklatant zuwiderhandelten. Hinzu kamen Zweifel an der Zweckdienlichkeit von Pogromen. Die rechte Presse wurde nicht müde zu behaupten, es seien letztlich Juden, die von ihnen profitierten, da sie angeblich überhöhte Hilfsgelder erhielten und mit dem Vorwurf der Gewalt nur von ihren eigenen angeblichen Missetaten ablenkten.308 Das noch stärkere Argument gegen die Behauptung, dass die Presse maßgeblichen Einfluss auf das Entstehen von Pogromen hatte, hat mit ihrer Rezeption zu tun. In den Unterschichten genoss das gedruckte Wort eine besondere Autorität. Insofern wäre dem oben zitierten Stadtoberhaupt von Kiˇsinev zuzustimmen.309 Dass es so war, behaupteten nicht nur Angehörige der gebildeten Schichten, sondern war auch verschiedentlich am Handeln des »Volkes« abzulesen. Zugleich legten die Leser aber einen bemerkenswerten Eigensinn beim Auslegen der gedruckten Worte an den Tag. Womöglich folgte das eine logisch aus dem anderen: Wer fest vom Wahrheitsgehalt eines Textes überzeugt war, mag sich bestärkt gesehen haben, den Inhalt eigenen Vorstellungen anzupassen. Die Gruppen, aus denen sich die Pogromtäter mehrheitlich speisten, waren Meister darin, Interpretationsspielräume selbst dort zu finden, wo die Autoren sie explizit hatten vermeiden wollen. Verstärkt wurde dies sicherlich dadurch, dass Texte oft kollektiv gelesen und sogleich in »die eigenen Worte« übersetzt wurden.310 Ein Zeitgenosse kommentierte das kollektive Zeitungslesen folgendermaßen: »Sooft ich gehört habe, wie auf dem Marktplatz vorgelesen wurde, ich habe nie ein korrektes Lesen gehört, ohne Verdrehung von Worten und Ideen. Die Sprache der Zei-

308 Z.B. Engelstein, Slavophile, S. 218; Weeks, Assimilation, S. 86; Balmuth, Novoe, S. 36, 39, 46; Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 200–203; auch heute noch bestätigend: Razmolodin, Voprosu, S. 86. 309 Ruud, Fighting, S. 229. 310 Zitat: Juˇznye zapiski, No. 11, 13. 3. 1905, S. 57; Brooks, Russia, S. 22; Edelman, Proletarian, S. 109–110; so zu Kiˇsinev und dem Bessarabec: Juˇznye zapiski 1905, No. 3, 16. 1. 1905, S. 56.

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tungen ist für die Leser ausnahmslos unverständlich. Der Hauptgedanke wird nie erfasst.«311 Dem Autor entging freilich, dass bei den Missverständnissen neben Einfalt auch Bauernschläue eine Rolle gespielt haben mag. Den Vertretern der Staatsmacht jedenfalls bereiteten solche Aneignungsprozesse schon seit langer Zeit gehörige Kopfschmerzen, denn gerade die Bauern erwiesen sich immer wieder als resistent gegen Anordnungen, die ihren eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit widersprachen. »Alles legen sie auf ihre Art und Weise aus«, klagte ein Gouverneur, und die nicht abreißende Kette von Fällen, in denen Bauern aus anders gemeinten Botschaften Belege entweder für die baldige Umverteilung des Landes oder für eine neue Leibeigenschaft herauslasen, gab ihm recht.312 Dass es auch Vertretern der radikalen Opposition nicht leichter fiel, mit ihren Botschaften durchzudringen, zeigt, dass es letztlich um ein Verständigungsproblem zwischen den gebildeten und den ungebildeten Bewohnern des Reiches ging, und damit um ein Symptom jener fundamentalen »Kluft zwischen Oben und Unten, die die russische Sozialgeschichte durchzieht«.313 Für die Pogrome bedeutete das, dass eigensinnige Leser auch dort Aufrufe zum Pogrom finden konnten, wo es sie nicht gab. So erregte ein Bauer im Schtetl Sokolec im März 1905 großes Aufsehen, als er vor großem Publikum erklärte, in der Zeitung stehe, dass »der Herr Kaiser allen danken wird, die die Juden schlagen«. Als er sich vor der Polizei rechtfertigen musste, stellte sich heraus, dass er sich tatsächlich auf einen Zeitungsbericht bezog, nur dass dieser den Inhalt einer in Riga zirkulieren-

311 Heretz, Russia, S. 202. 312 Zitat: Rjazanskij gubernator an MVD, 19. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 3, l. 187. Zu entsprechenden Deutungen des Oktobermanifestes: Pravo, No. 2, 15. 1. 1906, S. 94; Schmemann, Dorf, S. 188; zu einem kaiserlichen Erlass von 1823: Turbin/Pavloviˇc, Volga, S. 66–67; zu Landverteilungsgerüchten infolge von Zeitungsmeldungen im Juni 1905: Juˇznye zapiski, No. 27, 3. 7. 1905, S. 42–43; vgl. Kaspij, No. 60, 2. 4. 1905, S. 3; Juˇznye zapiski, No. 15, 10. 4. 1905, S. 66; Pravo, No. 10, 13. 3. 1905, S. 730 f.; Perrie, Popular, S. 159. Die Parallele zwischen den Gerüchten über eine neue Verteilung des Bodens und den Pogromgerüchten entging auch manchen zeitgenössischen Beobachtern nicht: Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 64. 313 Zitat: Geyer, Russische, S. 66; Kir’janov, Mentalitet, S. 92–109; Schnell, Räume, S. 70.

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den Flugschrift wiedergab, ohne sich deren Inhalt selbst zu eigen zu machen.314 Manchmal wurden auch Presseberichte über Pogrome, die sich andernorts ereignet hatten, als Aufruf zu Gewalt umgedeutet. Auch dann, wenn solche Berichte mit ausdrücklichen Warnungen an mögliche Nachahmer versehen waren, konnten sie doch weiteren Tätern als Inspiration dienen.315 Während der ersten Pogromwelle wurde sogar eine Broschüre, deren Autor in populärer Form das Unrecht der Pogrome hatte erklären wollen, von einem Mann im Schtetl Novomirgorod vorgelesen und in dem Sinn ausgelegt, dass der Zar das Judenschlagen befohlen habe – wer sich weigere, habe eine Strafe zu gewärtigen.316 Wenn vieles als Pogromaufruf verstanden wurde, was ganz anders gemeint gewesen war, stellt sich die Frage, welche Bedeutung die antijüdische Presse überhaupt haben konnte. Weil die kulturelle Kluft zwischen Publizisten und ihren Rezipienten aus den Unterschichten so groß war, passten Letztere alles, was sie lasen oder was ihnen vorgelesen wurde, an ihre Sicht der Dinge an. Meist bestärkten die so interpretierten Druckerzeugnisse deshalb nur das, was Bauern und städtische Unterschichten ohnehin glaubten oder zu glauben behaupteten. Dass beispielsweise der Zar die Pogrome billigte, war in bestimmten Kreisen allgemeines Wissen, das einer schriftlichen Bestätigung letztlich gar nicht bedurfte. Wenn Pogrome wie das von Zˇitomir dennoch auf das Wirken Kruˇsevans oder des seinerzeit berüchtigten antisemitischen Journalisten und Mönches Iliodor zurückgeführt wurden, sagte das mehr über den Glauben der Beobachter an die Macht des gedruckten Wortes als über die Gründe der Gewalt.317

314 Naˇc. Podol’skogo GZˇU an DP, 15. 4. 1905, GARF f. 102, op. 103 (3), d. 1 cˇ . 46 l. B, l. 11. 315 Volynskij gubernator an MVD, 31. 3. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2550 cˇ . 56, l. 1–3; Klier, Christians, S. 160. 316 Zapiska ob antievrejskich besporjadkach v okruge Odesskoj sudebnoj palaty v 1881–1883 godach, April 1885, RGIA f. 821, op. 9, d. 204, l. 61–62. Das war keine russische Besonderheit. Auch bei den Pogromen von 1881 in Preußen wurden Äußerungen Bismarcks von der Bevölkerung völlig falsch interpretiert. Smith, Continuities, S. 138. 317 Das Pogrom von Zˇitomir als »Ergebnis der offenen Agitation des neuen Organs Kruˇsevans und der geheimen Agitation unbekannter Agitatoren« in: Juˇznye zapiski, No. 18, 1. 5. 1905, S. 71; Lindens Schilderung des Pogroms von Zˇitomir beginnt damit, dass er den großen Einfluss Iliodors und seiner Poˇcaevskie listy auf die lokale Bevölkerung betont.

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Ein besonderer und komplizierter Fall waren Flugblätter: besonders aus dem Grund, weil sie im Unterschied zu Zeitungen oft deutlich zu Gewalt aufriefen, und kompliziert, weil meist sehr wenig über sie, ihre Urheber und ihre Verbreitung bekannt ist und weil ihre Vielfalt kaum verallgemeinernde Aussagen zulässt. Das Zusammenkommen von deutlicher, teils drastischer Botschaft und unklarer Urheberschaft machte den besonderen Reiz des Mediums aus. Beispielsweise versuchten manche Autoren, ihren Texten einen amtlichen Anschein zu verleihen, indem sie Wendungen wie »von der Zensur erlaubt« oder »Druck genehmigt« einfügten.318 Manche Täter sahen das als willkommenen Beleg dafür, dass der Staat ihr Handeln billigte. Andererseits nahmen auch oppositionelle Kreise solche »Hinweise« auf die Verstrickung der Behörden in die Gewalt gern zur Kenntnis.319 In der Tat wurden im Polizeidepartement auch heimlich Flugblätter gedruckt, die zu Hass und Gewalt gegen Juden aufriefen – ein zweifellos skandalöser Vorgang, der seit seiner Enthüllung, unter anderem in der zu Beginn dieser Arbeit zitierten Rede Sergej D. Urusovs vor der Staatsduma, als schlagender Beweis für die Täterschaft des Staates bei Pogromen galt. Die Bedeutung dieses Vorgangs war in Wirklichkeit jedoch weitaus geringer, denn die Flugblätter konnten, weil eine relativ primitive Rotationsdruckmaschine verwendet wurde, in keiner großen Auflage hergestellt werden. Sie richteten sich, soweit bekannt (denn nie wurde eines der genannten Flugblätter gefunden oder identifiziert), hauptsächlich gegen meuternde lettische Soldaten und nur in zweiter Linie gegen Juden. Gedruckt wurden sie erst nach dem Oktobermanifest, wahrscheinlich sogar erst im Dezember 1905, und nur bis Ende Januar oder Anfang Februar 1906. Den Vertretern der »Anklage« zufolge wurden die Flugschriften in Sankt Petersburg, Moskau, Vil’na, Kursk und Aleksandrovsk verteilt. Nur in den beiden letztgenannten Orten fanden Pogrome statt, und nur im Fall Aleksandrovsk wäre es chronologisch vorstellbar, dass eines der Flugblätter eine Rolle spielte (das dortige Pogrom endete am 14. Dezember 1905). Ihre Verbreitung stimmt insofern mit derjenigen der Pogrome weder zeitlich noch örtlich auch nur annähernd überein. Deshalb besteht in der neueren For318 Pravo, No. 13, 1. 4. 1906, S. 1250; Flugblatt, o.D., GARF f. 102, op. 38 (2), d. 679 cˇ . 2, l. 498g; Pravo, No. 14, 9. 4. 1906, S. 1306. 319 Pravo, No. 13, 1. 4. 1906, S. 1250; Pravo, No. 9, 5. 3. 1906, S. 816; Zeitungsausschnitt aus Krym, No. 188, GARF f. 102, op. 233 (2), d. 2425 cˇ . 312, l. 3.

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schungsliteratur weitgehend Einigkeit darin, dass die eigentliche Bedeutung dieser Pogromaufrufe in einer Intrige innerhalb des Innenministeriums bestand.320 Die meisten Pogromaufrufe stammten nicht vom Staat, sondern von Personen, die aus eigenen Interessen heraus Pogrome herbeiführen wollten.321 In anderen Fällen wurde aber auch behauptet, Juden hätten die Flugblätter selbst in Umlauf gebracht oder erfunden, um ein schlechtes Licht auf die christliche Bevölkerung und, im Fall eines Pogroms, auch auf die Behörden zu werfen.322 In Neˇzin griff die Polizei 1905 offenbar tatsächlich drei Juden auf, die ein Flugblatt verteilten, in dem es hieß: »Volk, rette Russland und dich selbst, schlag die Juden, sonst machen sie dich zu ihrem Sklaven.«323 Es ist, wie gesagt, schwierig, über die Pogromaufrufe verallgemeinernd zu sprechen. Deshalb lohnt es, zur Fallstudie zurückzukommen, denn auch für das Pogrom von Zˇitomir spielte ein Flugblatt eine Rolle, das »Sendschreiben an die russischen Bauern«, dessen Autor sich Jarema nannte.324 Einem Teil der Presse, den jüdischen Anwälten im Gerichtsprozess zum Pogrom und auch der für die Forschung so wichtigen Pogromgeschichte Leo Motzkins galt dieses Flugblatt als eine der Haupt-

320 Die wichtigsten Quellen: Gosudarstvennaja Duma, 1906, S. 1129–1131; Vitte, Vospominanija, S. 67–70; Lopuchin, Pis’mo; ders., Otryvki, S. 81–91; Padenie, S. 158; Literatur vor allem: Ruud/Stepanov, Fontanka, S. 297 f.; Lauchlan, Russian, S. 270–274; Daly, Watchful, S. 30 f.; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 588 f. Hingegen Ascher, Revolution, S. 259; Mindlin, Politika, S. 130 f. Lambroza behauptet, aus einem der Pogromaufrufe zu zitieren, die durch Mitarbeiter der Geheimpolizei erstellt wurden, und beruft sich auf Semenoff. Dieser benennt den Urheber des Textes aber nicht. Semenoff, Russian, S. 98–109; Lambroza, Pogroms, S. 235. 321 Flugblätter »von rechts«: z.B. Wynn, Workers, S. 243; Svedenija, izvleˇcennye iz narjadov Kamery Prokurora Kievskoj SP, RGIA f. 1392, op. 1, d. 12; dem Inhalt nach plausibel: Flugblatt, handgeschrieben, o.D. [gefunden 21. 10. 1905], GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 4 cˇ . 28, l. 38. 322 Kievljanin, No. 124, 6. 5. 1905, S. 1–2; Pomoˇscˇ nik Tavriˇceskogo Naˇc. GZˇU v Berdjanskom i Melitopol’skom uezdach, 1. 3. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 5 cˇ . 32 t. 1, l. 80–81; Richter, Kiˇsinev, S. 121. 323 Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 80. 324 Ein Original des Flugblattes: CDIAU f. 442, op. 855, d. 6, l. 34–35. Eine Kopie: RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 53–54. Der Text wurde in verschiedenen zeitgenössischen Periodika auszugsweise veröffentlicht, z.B. Russkoe bogatstvo, No. 4, 1905, S. 137–140.

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ursachen des Pogroms.325 Im Archiv ist ein Exemplar überliefert, das mit seiner ungelenken Handschrift, der sonderbaren Mischung aus Ukrainisch und fehlerhaftem Russisch sowie der sprunghaften Anordnung der Gedanken den Eindruck erweckt, dass der Autor wenig Erfahrung damit hatte, seine Überlegungen schriftlich niederzulegen. Inhaltlich überrascht das Flugblatt. Der Vorwurf der »Ausbeutung«, eines der großen antijüdischen Narrative, kommt nur am Rande vor. Auch die Juden als »mit Revolver und Dolch« bewehrte Gegner des Zaren werden nur erwähnt, um zu illustrieren, wie verwerflich es sei, dass sie sich dem Kriegsdienst entzögen. In einer Passage wird die vermeintliche Amoralität der Juden geschildert, aber als Beispiele werden Mord und Pferdediebstahl angeführt und keine »kanonischen« Vorwürfe wie Wucher und Schnapshandel. Zwei Punkte stehen im Zentrum des Textes. Zum einen werden die Juden an drei verschiedenen Stellen aufgefordert, das Weite zu suchen, wenn es ihnen in Russland nicht gefalle. Nach »Asien, wo sie einst ein eigenes Reich hatten«, nach »China, Japan oder Palästina«. Zum anderen wird betont, »dass die Juden [ˇzydy (sic!)] es nicht wagen würden, so [verwerflich] zu handeln, wären sie nicht von anderen Feinden des russischen Volkes angestachelt worden«, nämlich »den Japanern«, die die Juden mit Geld auf ihre Seite gebracht hätten (ein in der Zeit verbreiteter Topos326), des Weiteren aber auch von »den Engländern« und »den Amerikanern«. In erster Linie aber standen die Juden mit den Polen im Bunde, die eine neue Leibeigenschaft anstrebten. Wenn es so weit käme, würden Juden wieder »Kirchen und Gastwirtschaften pachten, Geld für hohe Prozente verleihen, faktorieren, Schläfenlocken und Kippas […] tragen«. Vor dem pan, dem polnischen Gutsherrn, werde man wieder den Hut ziehen und ihm Treue schwören müssen. Die Maßnahmen, die Jarema vorschlug, blieben hinter diesem Schreckensszenario zurück. Nicht zu Gewalt forderte er seine Leser auf, sondern zu wirtschaftlichen Strafmaßnahmen: »Schlagt sie auf den Geldbeutel!«327 Mit seinen Anwürfen gegen eine vermeintliche polnisch-jüdische Allianz mochte das sperrige Flugblatt manchen in Zˇitomir aus der Seele sprechen. Dass die Juden der Stadt äußerst beunruhigt waren, als es in 325 Linden, Judenpogrome, S. 45; Semenoff, Russian, S. 87 f. 326 Ascher, Revolution, S. 95; Odesskie novosti, No. 6631, 28. 6. 1905, S. 2. 327 Alles nach: Flugblatt »Jarema«, 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 6, l. 34–35. Das letzte Zitat ist die Abwandlung eines Sprichworts. Frank, Crime, S. 209.

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den Wochen vor Ostern 1905 zu zirkulieren begann, ist nachvollziehbar.328 Es war aber kein Pogromaufruf. Nicht nur, dass der explizite Appell fehlte. Die Lösung des jüdischen Problems wurde explizit in der Emigration gesehen. Und ob wirklich von den Juden und nicht eher von den Polen die größere Gefahr ausging, ließ Jarema offen. Schließlich ist zweifelhaft, ob das Flugblatt überhaupt in nennenswerter Zahl und unter den potenziellen Pogromtätern verbreitet wurde. Später vor Gericht gab nämlich ein Angestellter der Gouvernementsverwaltung namens Samˇseviˇc zu Protokoll, er habe im Auftrag eines Freundes sechs Kopien des Flugblattes auf einer Schreibmaschine erstellt.329 Angaben der Staatsanwaltschaft und der Polizei legen nahe, dass nie bedeutend mehr Exemplare existierten.330 Man könnte argumentieren, dass wenige Exemplare des Flugblattes ausreichten, um Pogromwillige anzustiften, wenn sie beispielsweise im großen Kreis laut verlesen wurden. Betrachtet man aber die Äußerungen der Täter in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Pogrom, so findet man keine Hinweise darauf, dass das Flugblatt für sie von großer Bedeutung war. Dessen Themen – dass die Juden mit den Polen und mit Japan im Bunde stünden, dass sie sich dem Militärdienst entzögen und dass sie emigrieren sollten – wurden von den Tätern nicht aufgegriffen, von den historischen Anspielungen Jaremas (das frühere Reich der Juden, die Kirchenpacht, ein Hinweis auf polnisch-litauische Zeiten) ganz zu schweigen.331 Die Täter interessierten sich vielmehr für die Schüsse auf das Porträt des Zaren, die vermeintlich von der Selbstwehr ausgehende Gefahr, den Mord an Polizeihauptmann Kujarov. Und – so war es nicht nur in Zˇitomir – was die Pogromtäter antrieb, waren in aller Regel aktuelle Konflikte mit lokalem Hintergrund. Nur wenn Flugblätter und 328 Volynskaja ˇzizn’, No. 200, 21. 6. 1907, S. 3; Schreiben zu Hintergründen des Pogroms von Zˇitomir, o. D., RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 37. 329 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, Kopie, 8. 7. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 51–51ob; vgl. Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 3. In manchen Quellen gibt es die Schreibvariante Sauseviˇc. 330 Die Polizei brachte die Existenz von fünf Exemplaren in Erfahrung. Naˇc. Volynskogo GZˇU an Volynskij gubernator, Kopie, 21. 3. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 38–38ob; die Staatsanwaltschaft sprach von einer »sehr geringen Anzahl«. Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, Kopie, 8. 7. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 51–51ob. 331 Zur Kirchenpacht vgl. Sysyn, Khmel’nyts’kyi; Stampfer, What.

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Zeitungen diese thematisierten, waren sie für das Pogrom von Bedeutung.332 Dennoch war das »Sendschreiben« nicht ohne Wirkung. Nur kam sein Widerhall aus einer anderen Richtung, als viele Zeitzeugen annahmen. Bei Juden und erklärten Gegnern der Pogrome erzeugte es ein gewaltiges, durch die Presse noch verstärktes Echo. Es schürte die Furcht vor weiterer Gewalt, bestärkte die entsprechenden Gerüchte und leistete damit vermutlich auch einen Beitrag dazu, dass tatsächlich ein Pogrom in Gang kam. Vielleicht war es auch gar nicht aufgesetzt worden, um Täter zu mobilisieren, sondern um mögliche Opfer zu verschrecken. Als Samˇseviˇc, der »Kopist« des Flugblattes, vor Gericht aussagte, hatte er natürlich ein Interesse daran, nicht als Pogromagitator dazustehen. Allerdings war er selbst gar nicht angeklagt und wollte diesbezüglich sicher nichts riskieren. Insofern ist es überraschend, welche Deutung des Flugblattes er dem Gericht präsentierte. Demnach richtete es sich nicht an potenzielle Täter. Seine Absicht sei vielmehr gewesen, »die Juden zu verspotten«. Freimütig erklärte Samˇseviˇc, selbst dafür gesorgt zu haben, dass das Flugblatt unter den Juden Zˇitomirs bekannt wurde, indem er ein Exemplar der Tochter seiner jüdischen Mieterin zusteckte.333 Wenn das zutrifft, dann war das »Sendschreiben« kein Pogromaufruf, sondern eher ein kollektiver Drohbrief, vergleichbar jenen individuellen Drohbriefen, die einige bedeutende Juden der Stadt zeitgleich erhielten.334 Das würde auch erklären, warum das »Sendschreiben« so kurios formuliert war: nicht weil der Autor es nicht besser wusste, sondern weil er es als Erzeugnis der Unterschichten inszenieren wollte. Genau lässt sich das na-

332 Ein Beispiel wäre das Oktoberpogrom von Kiev mit der offenbar durch Flugblätter verbreiteten Nachricht über angebliche Gräueltaten von Juden gegen die Mönche des Kiever Höhlenklosters. Ascher, Revolution, S. 254 f.; Hamm, Kiev, S. 196; zu Warschau: Ury, Barricades, S. 122. 333 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, Kopie, 8. 7. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 51–51ob. Auch diese Aussage traf Samˇseviˇc als Geschädigter vor Gericht, sodass er zumindest nicht unmittelbar unter dem Zwang stand, sich zu rechtfertigen. Gleichwohl mochte er im Sinn haben, dass es strafbar war, Schriften zu verbreiten, die die soziale Ordnung, also z.B. die Privilegien der Gutsbesitzer, infrage stellten. Vgl. Artikel 252 des Uloˇzenie o nakazanijach ugolovnych i ispravitel’nych, in: Spravoˇcnaja kniˇzka, S. 262. 334 Flugblatt »Jarema«, 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 6, l. 35; Volynskaja ˇzizn’, No. 199, 20. 6. 1907, S. 2.

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türlich unmöglich eruieren. Exemplarisch zeigt die Geschichte des Jarema-Flugblattes aber, dass selbst die Relevanz antijüdischer Flugblätter nicht immer eindeutig war. Schriftliche Aufrufe zur Gewalt konnten Pogrome fördern. Sie waren nicht notwendig und nicht hinreichend, aber immer Gegenstand teils sehr eigensinniger Interpretationen.335 Die größte Aufmerksamkeit erfuhren sie, wenn nach einem Pogrom um Erklärungen gerungen wurde. Dass die Täter Propagandaschriften brauchten, um ihren Opfern Böses zu wollen, darf man bezweifeln.336 Ressentiments, wachgehalten durch sozioökonomische Spannungen und mit Dringlichkeit versehen durch aktuelle lokale Ereignisse, waren ihnen Antrieb genug, besonders wenn der Zerrspiegel des Gerüchts ins Spiel kam. Manchmal genügte vielleicht auch die Aussicht, straflos rauben und prügeln zu können. Beamte Aber warum konnten die Täter damit rechnen, ohne Strafe davonzukommen? Warum versagten die Vertreter des Staates so oft bei ihrer obersten Aufgabe, dem Bewahren der »öffentlichen Ordnung«? Eine mögliche Erklärung ist, dass sie gegen die Pogrome nichts einzuwenden hatten. Dafür spricht, dass sich unter all jenen, die Verantwortung trugen – vom Zaren bis zum einfachen Schutzmann –, vermutlich sehr viele als Judenfeinde einstufen ließen. Nicht jeder war ein radikaler Antisemit, aber insbesondere bei den Mitarbeitern des Innenministeriums waren antijüdische Ressentiments gang und gäbe. So erklärte etwa der Militärchef von Odessa, Alexander V. Kaul’bars, während des dortigen Oktoberpogroms vor Polizisten, »dass wir alle in unserer Seele mit diesem Pogrom sympathisieren«. Nikolaus II. empfing im Dezember 1905 eine Delegation der Ultrarechten und dankte ausgerechnet ihnen für ihren Beitrag zum Kampf gegen die Feinde Russlands. Beides sind klassische Belege für die tiefe Verstrickung höchster Staatsvertreter in die Pogromgewalt. Manchmal wird dabei aber vergessen zu erwähnen, dass Nikolaus den Ultrarechten nicht nur dankte, sondern sie auch zur Ordnung rief, und dass Kaul’bars unmittelbar nach seiner Sympathiebekundung eine ganz andere Note anschlug, indem er hinzufügte: »Wir dürfen aber nicht 335 Selbst Aufrufe zu Gewaltlosigkeit konnten dabei ins Gegenteil verkehrt werden: Wynn, Workers, S. 199. 336 Vgl. Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 378.

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den Missmut, den wir vielleicht gegenüber den Juden hegen, auf unsere dienstliche Tätigkeit übertragen. Wir haben kraft unseres Eides die Pflicht, vor Pogromen, Morden u.Ä. zu schützen und die Ordnung zu bewahren.«337 Antijüdische Ressentiments zu haben bedeutete noch nicht, Gewalttaten zu befürworten. Es gab andere Gründe dafür, dass Beamte nicht wirksam gegen Pogrome vorgingen. Meist spielten dabei zum einen strukturelle Defizite und Konflikte eine Rolle und zum anderen Probleme, die sich aus der revolutionären Situation von 1905 ergaben. Was bedeutete das für die unterschiedlichen Verantwortungsträger: die hohen Beamten, Polizei und Militär? Das Versagen der Behörden beim Beenden des Pogroms von Zˇitomir, um zunächst bei der Fallstudie zu bleiben, begann im Büro des Gouverneurs Katalej. Dort saß der oberste Vertreter des Zaren und versuchte, die Kontrolle über das Geschehen in seiner Stadt zu behalten. Verglichen mit seinen Amtskollegen in den 1880er Jahren verfügte er über ein zusätzliches, mächtiges Instrument zu diesem Zweck, das städtische Telefonnetz. Und tatsächlich stand der Apparat des Gouverneurs während des gesamten Pogroms nicht still. Aus allen Stadtteilen wurden Schreckensmeldungen übermittelt, und bereitwillig sandte Katalej Soldaten dorthin, wo sie vermeintlich gebraucht wurden. Im Nachhinein musste er eingestehen, dass nur ein geringer Teil der Anrufe gerechtfertigt gewesen war und er die Sicherheitskräfte sehr ungeschickt über die Stadt verteilt hatte.338 Ein schwacher Trost war, dass Katalej mit diesem Problem bei Weitem nicht allein dastand. Unberechtigte, genauer gesagt, sich nachträglich als unberechtigt herausstellende Rufe nach dem Militär kamen in vergleichbaren Situationen immer wieder vor. Doch wer wollte es Menschen, die sich bedroht fühlten, verübeln, dass sie um Schutz ersuchten, und wer wollte umgekehrt die entsendenden Stellen dafür kritisieren, dass sie, nach einigen frustrierenden Erfahrungen mit unnötigerweise entsandten Truppen, sehr zurückhaltend auf die Gesuche rea-

337 Materialy 1908, S. 123. Polonsky, Khiterer und Omel’janˇcuk zitieren nur die erste Hälfte des Kaul’bars-Ausspruchs. Polonsky, Jews, S. 58; Khiterer, October 2015, S. 796, Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 584. Nikolaus’ Appell, Recht und Ordnung zu wahren: Podbolotov, Entire, S. 197–200. Keine Beachtung findet er z.B. bei Wortmann, Scenarios, S. 400. 338 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13ob.

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gierten?339 So erreichte die von Katalej beim Generalgouverneur angeforderte Kavallerie Zˇitomir erst nach dem Ende des Pogroms.340 Letztlich konkurrierten unterschiedliche Stellen um die militärischen Kräfte wie um eine knappe Ressource. Fehlallokationen waren dabei unvermeidlich – zumal nicht einmal im Nachhinein sicher zu sagen war, an welchen Stellen Soldaten tatsächlich überflüssig gewesen waren bzw. ob es auch ohne ihre Anwesenheit friedlich geblieben wäre.341 Das erklärt allerdings höchstens zum Teil, warum in Zˇitomir das Militär ausgerechnet dort, wo es am dringendsten benötigt wurde, im Podol, mit so großer Verspätung in Erscheinung trat.342 Katalej war gemeldet worden, dass dort ein »fürchterliches Gemetzel« stattfinde und es an Soldaten fehle.343 Die Einheit Infanterie, die der Gouverneur dorthin beorderte, kam aber aus Gründen, die in den Quellen nicht erklärt werden, erst mit großer Verzögerung an, obwohl sich die Kasernen nah an dem jüdischen Armenviertel befanden.344 Möglicherweise erwies sich eine spontane Entscheidung des Polizeimeisters als verhängnisvoll: Etwa zu der Zeit, als die Pogromtäter heimlich die Kamenka-Furt überquerten, befahl dieser, dass zwei Kompanien Soldaten, die gerade auf dem Weg in den Podol waren, dringender auf dem Kathedralenplatz benötigt würden. An ihrer statt sollten sich später zwei Einheiten ins jüdische Viertel begeben. Doch dazu kam es, möglicherweise aufgrund der Eskalation auf dem Kathedralenplatz, erst etwa vier Stunden später.345 Dass der Gouverneur bei seiner höchsten Aufgabe, dem Bewahren der öffentlichen Ordnung, versagt hatte, war also strukturellen Proble-

339 Bushnell, Mutiny, S. 53, 106. 340 Volynskij gubernator an MVD, 30. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 25ob. 341 Z.B. Amanˇzolova, Evrejskie, S. 142. 342 Etwa zur selben Zeit, als im Podol zahlreiche Menschen totgeschlagen wurden, wurde anderenorts in der Stadt Christen, die offenbar verängstigt waren, militärischer Geleitschutz gewährt. Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 33ob–34. 343 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13ob. 344 Tovariˇscˇ Prokurora Kievskoj SP: Bericht über Reise nach Zˇitomir, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 21. 345 Pinˇcuk, Aleksandr Stepanoviˇc: Aussage, 10. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 33–33ob.

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men und wohl auch unglücklichen Umständen geschuldet. Aber es kam noch etwas hinzu: Von einem Gouverneur wurde erwartet, dass er bei Volksunruhen auf den Straßen seiner Stadt präsent war und seine persönliche Autorität zur Befriedung der Menge einsetzte. Während des Pogroms von Kiˇsinev 1903 war der Gouverneur Rudol’f S. von Raaben dieser Aufgabe nicht nachgekommen und unter anderem deshalb beim Innenministerium in Ungnade gefallen. Innenminister Pleve sah in von Raabens Verhalten einen Beleg für dessen »fehlenden Mut« und stellte deshalb seine Eignung für eine Führungsposition infrage. Nur dank der persönlichen Protektion des Zaren wurde er nach fast einjähriger Pause überhaupt wieder in den Staatsdienst übernommen.346 Es ist davon auszugehen, dass andere Gouverneure von dem Konflikt um von Raaben wussten.347 Aus diesem Grund und weil Katalej klar gewesen sein muss, dass sein Telefonanschluss ein zweifelhafter Verbündeter war, ist es erstaunlich, dass er sich nicht selbst einen Eindruck davon verschaffte, was auf den Straßen Zˇitomirs geschah. Es wäre im Grunde nicht sehr schwierig gewesen festzustellen, wo in der Stadt tatsächlich ein Pogrom stattfand und wo nicht. Doch Katalej verließ seine Residenz nicht, und zwar nicht nur während des Pogroms, sondern noch Wochen später.348 Alles spricht dafür, dass er fürchtete, die Sozialrevolutionäre würden das über ihn verhängte »Todesurteil« vollstrecken.349 So versteckte sich der Gouverneur aus Angst um sein eigenes Leben, statt sich für das der Juden seiner Stadt einzusetzen. Zˇitomir stellte diesbezüglich keine Ausnahme dar, nur erlebte es die Kalamität einige Monate früher als die meisten anderen Städte im Reich. Viele Gouverneure hatten in jener Zeit Grund, um ihr Leben zu fürchten,

346 Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 281–282; 335–339. 347 M. A. Nakaˇsidze, Gouverneur von Baku während des dortigen Februarpogroms 1905, verwies beispielsweise auf das Negativbeispiel von Raabens, um sein eigenes Vorgehen zu rechtfertigen. Dopolnenie k dokladu Bakinskogo gubernatora Tajnogo sovetnoka knjazja Nakaˇsidze, 28 fevralja 1905 goda po povodu stolknovenija tatar s armjanami, imevˇsim mesto v g. Baku 6–9 fevralja 1905 goda (K stranice 4 doklada), o.D. [nach 1. 4. 1905], GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 90, l. 79. 348 Kievskaja gazeta, No. 123, 5. 5. 1905, S. 2; Naˇc. Volynskogo GZˇU an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 26. 5. 1905, CDIAU f. 442, op. 855, d. 117, l. 125. 349 Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 13. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 4.

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und viele stellten deshalb ihre Amtspflichten hintenan, wenn sie ihre Position nicht sogar ganz aufgaben.350 Die Folge war eine enorme Fluktuation in den Monaten um den Jahreswechsel 1905/06, also zur Hochzeit der Pogromwelle: Mehr als die Hälfte der Gouverneursposten musste in jener Zeit neu besetzt werden.351 In einigen Fällen traten die Gouverneure genau zu der Zeit ab, als sie am meisten gefordert gewesen wären, etwas gegen Unruhen zu unternehmen.352 Wenn Katalej also versuchte, seinen Amtspflichten nachzugehen, ohne seine Residenz zu verlassen, war das noch nicht die schlechteste Wahl, die ein Gouverneur in jener Zeit treffen konnte. Das erklärt aber nicht, warum er es unterließ, frühzeitig den Schießbefehl zu erteilen, sondern es mit einem Bluff versuchte: Gleich am ersten Tag des Pogroms gab er bekannt, jegliche Unruhen würden mit Waffengewalt im Keim erstickt. Aber er stattete das Militär nicht mit der entsprechenden Vollmacht aus.353 So einfach ließen sich die Pogromtäter jedoch nicht täuschen. Sie stellten die Interventionsschwelle der Behörden durch schrittweise Eskalation auf die Probe und erkannten deshalb auch bald, dass es sich um eine leere Drohung des Gouverneurs handelte.354 Dass sich dieser schließlich doch noch zu einem Schießbefehl durchrang, ist vermutlich auf ein Telegramm des Innenministers zurückzuführen, das am 25. April die »allerentschiedensten Maßnahmen

350 Robbins, Tsar, S. 230–232; Surh, Russia, S. 283; Belov/Belova, Gubernator, S. 43; z.B. Gomel’: Juˇznye zapiski, No. 33, 14. 8. 1905, S. 73; vgl. auch zum Polizeichef von Gomel’ 1905: Gluˇsakov, Otrjady, S. 68. 351 Belov/Belova, Gubernator, S. 38. Allein im Kaukasus wurden von 1905 bis 1907 fünfzehn Gouverneure ausgetauscht. Bor’ba, S. 146; vgl. zum Polizeimeister von Uman’: Katz, Generation, S. 98. 352 Kursk, Jarolslavl’: Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 16, 39; Tomsk: Spravka o byvsˇem Tomskom Gubernatore Azanˇcevskom-Azanˇceeve, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 2, l. 153–154; Simferopol’: Russkoe slovo, 1. 11. 1905, S. 5. Freilich verließen nicht alle Gouverneure freiwillig ihr Amt. Einige wurden entlassen oder versetzt, weil sie nicht adäquat mit Unruhen, insbesondere auch mit Pogromen umgegangen waren, z.B. in Odessa: Langer, Corruption, S. 190; Kaluga: Daly, Watchful, S. 32; Minsk: Pravo, No. 12, 25. 3. 1906, S. 1156. 353 Volynskij gubernator an DP: Aufruf an die Bevölkerung von Zˇitomir, 24. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 27. 354 Vgl. allgemein: Katz, Epiphanie, S. 70–74.

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zur Verhinderung eines großen Pogroms in Zˇitomir« verlangte.355 Vermutlich hatte Katalej die Entscheidung so lange hinausgezögert, weil er die Verantwortung scheute. Auch damit stand er durchaus nicht allein. Es gehörte zum strukturellen Dilemma der Behördenorganisation, dass alle um die Notwendigkeit militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in vergleichbaren Situationen wussten, aber niemand sie anordnen wollte.356 Wenn das für den Gouverneur galt, so galt es erst recht für diejenigen, die in der Hierarchie unter ihm standen. Der Polizeimeister Janovickij zog sich, ähnlich wie Katalej, von den Straßen der Stadt zurück, weil er nach dem Mord an Polizeihauptmann Kujarov ein weiteres Attentat fürchtete. Von den einfachen Schutzleuten schließlich war erst recht nicht viel zu erwarten. Einige der Gründe wurden bereits genannt. Auch in Zˇitomir war die Polizei unterfinanziert und als Arbeitgeber unattraktiv. Die Kriterien für eine Einstellung waren so niedrig angesetzt, dass man selbst Personen, die anderenorts wegen Fehlverhaltens aus der Polizei entlassen worden waren, in den Dienst übernahm. Doch nicht einmal so konnten alle Stellen besetzt werden.357 Nach dem Urteil des Chefs der örtlichen Schutzabteilung war die Polizei ein Sammelbecken von Personen »von äußerst zweifelhaften moralischen Qualitäten, die sich durch völlige Unkenntnis des Polizeidienstes und ihrer unmittelbaren Verpflichtungen auszeichnen«.358 Der Gouverneur konnte, als er sich vor dem Generalgouverneur für diese Zustände rechtfertigen musste, nur darauf verweisen, »dass schließlich bekannt ist, dass es in keiner Provinzstadt eine mustergültig aufgestellte Polizei gibt und dass die Polizei von Zˇitomir in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellt«.359 Das war ebenso bedauerlich wie zutreffend, und in der Tat verhielten sich die Polizisten während des Pogroms in etwa so wie in anderen Städten auch.

355 MVD, Telegramm an Volynskij gubernator, 25. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 14. 356 Robbins, Tsar, S. 197. Ein weiteres prominentes Beispiel ist das Oktoberpogrom von Odessa. Weinberg, Pogrom, S. 264–265. 357 Naˇcal’nik Volynskogo ochrannogo otdelenija an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 30. 3. 1904, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 1ob–2. 358 Ebd. 359 Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 30. 12. 1904, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 6ob–7.

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Das heißt, sie verschwanden von den Straßen.360 In Malevanka etwa, wo sich die Pogromtäter am 24. April sammelten, war den ganzen Tag lang kein einziger Polizist zu sehen.361 Verwunderlich ist das nur, wenn man erwartet, dass Polizisten im Zarenreich treue Staatsdiener waren. Tatsächlich leisteten sie auch im normalen Alltag ihren Dienst vor allem dann, wenn er ihnen zu einem privaten Nebenverdienst verhalf.362 Während eines Pogroms war es insofern eher ungewöhnlich, dass überhaupt einige Polizisten versuchten, ihre Pflichten zu erfüllen, denn damit begaben sie sich in Gefahr. Meist ließen sich die Täter nicht einschüchtern, sondern beschimpften diejenigen, die ihnen entgegentraten, als Judenknechte, bedrohten sie und bewarfen sie mit Steinen.363 Dasselbe galt übrigens auch für höhere Beamte bis hin zu Gouverneuren: Wenn sie die Täter konfrontierten, mussten sie damit rechnen, beleidigt, bedroht und angegriffen zu werden.364 Einen Unterschied gab es jedoch: Während die höheren Beamten angesichts des Pogroms ihre Amtspflichten oft »ruhen ließen«, gingen die einfachen Polizisten manchmal noch einen Schritt weiter, legten mit ihren Verpflichtungen auch die Uniform ab und schlossen sich, nun in Zivil, den

360 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13ob. 361 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 29. 362 Schnell, Ordnungshüter, S. 187 f., 286, passim; Robbins, Tsar, S. 184 f.; Abbott, Police, S. 302. 363 Z.B. Kiˇsinev 1903: Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 129; Gomel’ 1903: Krever, Gomel’skij, S. 11; Orˇsa 1905: Surh, Russia, S. 276; Ryˇskanovka 1905: Oficial’noe soobˇscˇ enie o pogrome v m. Ryˇskanovke, CDIAU f. 419, op. 1, d. 4195, l. 2; Niˇznij Novgorod 1905: Naˇc. niˇzegorodskogo GZˇU an DP, 22. 7. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 18, l. 94–97; Amanˇzolova, Evrejskie, S. 119; Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 43. 364 Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 299, 347; Surh, Russia, S. 276; Komandujuˇscˇ ij vojskami Kazanskogo voennogo okruga an Naˇcal’nik General’nogo Sˇtaba, Kopie, 25. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 51–52ob; Volynskij gubernator an DP, 14. 12. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 20; Volynskij gubernator an DP, 28. 12. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 22; Naˇc. niˇzegorodskogo GZˇU an DP, 13. 7. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 18, l. 54; Naˇc. niˇzegorodskogo GZˇU an DP, 22. 7. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 18, l. 96 f.; Naˇc. Tavriˇceskogo GZˇU, 25. 4. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 21, l. 13.

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Pogromtätern an.365 Ob sie in diesem Moment noch als »verkleidete« Vertreter der Staatsmacht gelten konnten, wie viele Zeitgenossen behaupteten, darf wohl bezweifelt werden. Jedenfalls unterstanden sie faktisch nicht mehr der Kontrolle Petersburgs, wie auch Premierminister Witte einräumen musste.366 Zudem spielte auch hier der revolutionäre Kontext eine Rolle: Die Zeit der Pogrome war zugleich eine Hochzeit der Terroranschläge, von denen sich viele gegen Polizisten richteten. Oft genügte allein das, damit sich die Ordnungshüter ihrer Uniformen entledigten.367 Begann ein Pogrom, drohten sie vollends zwischen Hammer und Amboss zu geraten. Als Polizist jetzt noch seine Arbeit pflichtgemäß zu verrichten, grenzte an Selbstaufopferung. Das entschuldigt nicht, dass einige Polizisten offenbar zu besonders aktiven Pogromtätern wurden. Andererseits wäre es vor dem beschriebenen Hintergrund überraschend gewesen, hätten sich die Polizisten besser verhalten als andere Nichtjuden.368 Die Verantwortung wurde, so könnte man sagen, von oben nach unten weitergereicht. Ganz unten, auf den Straßen der zu befriedenden Stadt, war der Staatsapparat dann oft nur noch durch das Militär vertreten, und an diesem lag es folglich, ob er vollauf versagte oder nicht. In Zˇitomir standen für diese Aufgabe immerhin drei Bataillone Infanterie und vier Batterien Artillerie zur Verfügung.369 Sie verhinderten, dass sich das Pogrom über den Podol hinaus ausbreitete, und dämmten es am zweiten Tag der Unruhen auch dort ein, indem sie, wie geschildert, die Brücke über die Kamenka sperrten. Auch dass es am ersten Tag auf dem Kathedralenplatz zu keinem Zusammenstoß der beiden Menschenmengen kam, war maßgeblich den Soldaten unter der Führung von Hauptmann Pinˇcuk zuzuschreiben. Es gab aber auch eine andere Seite. Auf dem Platz wurden vor den Augen zahlreicher Soldaten drei grausame Morde verübt, einige sogar durch Personen, die das Militär gerade abzuführen im Begriff war. Und am zweiten Tag limitierten die Soldaten zwar den Zustrom von Tätern in

365 Z.B. Materialy 1908, S. 123; Herlihy, Odessa, S. 304; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 100. 366 Voschod, No. 9, 1906, S. 4; vgl. zu Odessa: Weinberg, Pogrom, S. 270. 367 Izgoev, Politiˇceskaja, S. 140. 368 Wynn, Workers, S. 213–219; Odesskij pogrom, S. 60. 369 Volyn’, No. 88, 30. 4. 1905, S. 3.

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den Podol, unternahmen aber nichts gegen jene, die das Viertel dennoch erreichten. Woher rührte diese Untätigkeit? Mit Blick auf den ersten Fall, die Morde auf dem Kathedralenplatz, war der fehlende Schießbefehl kein starkes Argument, denn wo Menschenleben bedroht waren, durfte das Militär auch ohne Anordnung der Zivilbehörden, sogar ohne Warnsignal das Feuer eröffnen.370 Im konkreten Fall hatte der Polizeimeister mit seiner Anordnung »Nicht schießen« die Lage allerdings erschwert, zumal der Gebrauch von Schusswaffen ohnehin nur dann als legitim galt, wenn es keinerlei Alternative gab. Dennoch wäre das Militär befugt gewesen, dem Töten und Rauben mit Waffengewalt ein Ende zu bereiten, aber es war dazu nicht verpflichtet. Es trotzdem zu tun, verlangte Mut, denn vielleicht würde man sich doch dafür verantworten müssen, den Anordnungen der Zivilbehörden zuwidergehandelt zu haben? Hinzu kam, dass sich die drei Morde auf dem Kathedralenplatz alle in Situationen scheinbarer Entspannung ereigneten: Gerade war eine Verhandlungslösung für die Konfrontation auf dem Kathedralenplatz gefunden, da wurde Blinov erschlagen. Gerade führte das Militär eine Gruppe von Unruhestiftern ab, da brachte die Straßenbahn Unordnung in die Reihen und erlaubte es Letzteren, zwei Juden zu töten. Um solche Vorkommnisse zu verhindern, brauchte es nicht nur Mut, sondern auch Geistesgegenwart. Manchmal kamen beide Qualitäten zusammen, etwa bei dem Offizier, der sich im entscheidenden Moment auf dem Kathedralenplatz schützend vor I. I. Binˇstok warf. Doch das institutionelle Gefüge und die schwer zu beherrschende Situation trugen dazu bei, dass auch das Militär den Pogromtätern das Feld überließ. Dass das Militär die Pogromtäter auch am zweiten Tag, im Podol, gewähren ließ, hatte andere Gründe. Hier wurden die Truppen nicht überrumpelt. Sie sahen über einen längeren Zeitraum, vielleicht sogar den ganzen Tag buchstäblich zu, wie jüdische Habe geraubt und zerschlagen wurde.371 In diesem Fall war das Militär nicht befugt, mit Waffengewalt einzuschreiten, solange kein expliziter Befehl dazu ergangen war.372

370 Pravila o prizyve vojsk dlja sodejstvija graˇzdanskim vlastjam, Abs. 18, PSZ 1877, No. 57748. 371 Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 29ob. 372 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 13ob.

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Dass ihnen »nichts befohlen« worden sei, war ja auch außerhalb von ˇZitomir die stereotype Antwort von Soldaten und Kosaken, wenn sie darauf angesprochen wurden, ob sie nichts gegen das Treiben von Pogromtätern unternehmen wollten. Verständlicherweise empörte das viele Beobachter, aber aus der Perspektive des Militärs war die Antwort nachvollziehbar: Ohne ausdrücklichen Befehl hatten sie zwar das Recht, Blutvergießen zu verhindern, aber nicht die Pflicht. Hinzu kam noch eine Besonderheit der Zeit der Ersten Russischen Revolution: Die Offiziere mussten nun zunehmend besorgt sein, den Gehorsam ihrer Truppe nicht überzustrapazieren. Das Militär gegen die eigene Bevölkerung aufmarschieren zu lassen, war schon immer heikel, weil nicht auszuschließen war, dass sich die Soldaten in den Menschen wiedererkennen würden, auf die sie ihre Waffen richten sollten. Doch nun häuften sich die Fälle offener Gehorsamsverweigerung.373 Gleichzeitig verengte sich das taktische Repertoire der Offiziere, denn Interventionen unterhalb der Schwelle tödlicher Gewalt erwiesen sich zunehmend als unzureichend. Früher hatte oft der Trommelschlag anrückender Truppen, manchmal sogar das bloße Gerücht ihres Herannahens gereicht, um Pogromtäter in die Flucht zu schlagen.374 Nun ließen sie sich selbst dann nicht beeindrucken, wenn das Militär zur Warnung Salven über ihre Köpfe abfeuerte oder mit unscharfer Munition schoss. Die Täter fühlten sich davon manchmal sogar ermutigt, antworteten mit Gewalt und erzwangen in Einzelfällen sogar einen Rückzug des Militärs.375 (Nicht nur die jüdische Selbstwehr machte zu dieser Zeit Bekanntschaft mit den Risiken von Abschreckungshandeln.) Damit blieb den Offizieren zwischen den beiden Optionen, entweder potenziell tödliche Gewalt anzuordnen oder in Passivität zu verharren, immer weniger Spielraum.376 Die zweite Möglichkeit war weniger riskant und beschwerlich und wurde deshalb auch sehr oft gewählt. Wie lässt sich dann aber erklären, dass es Pogrome gab, bei denen Angehörige des Militärs unter den Tätern oder sogar die hauptsächlichen Täter waren? Wenn das einzelne Soldaten oder Kosaken betraf, hatte es vermutlich vor allem mit den in dieser Zeit großen Disziplinpro373 Bushnell, Mutiny, S. 54–77; Fuller, Civil, S. 146. 374 Zapiska über Unruhen in Pokrovskaja sloboda, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 139ob; Rassvet, No. 20, 16. 5. 1881, S. 788. 375 Krever, Gomel’skij, S. 11; Fuller, Civil, S. 90–91, 138; Edelman, Proletarian, S. 139. 376 Vgl. Schnell, Räume, S. 64; Robbins, Tsar, S. 224, 231.

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blemen zu tun, die im Übrigen nicht nur bei Pogromen und nicht nur gegenüber Juden zutage traten.377 Es gab aber auch regelrechte Militärpogrome, bei denen Soldaten die Hauptrolle spielten. Meist geschah das, wenn die Soldaten mit einer besonderen Situation konfrontiert waren, wie z.B. einer Einberufung. 24 bis 34 solcher Pogrome (nach unterschiedlichen Zählungen) fanden allein bei den Mobilisierungen zum Russisch-Japanischen Krieg im Jahr 1904 statt.378 Auf die Charakteristika dieser besonderen Form von Gewalt wird im folgenden Kapitel noch näher einzugehen sein. Hier sei nur erwähnt, dass die Militärpogrome ebenfalls ein Symptom fehlender Disziplin waren, das sich auch zu anderen Zeiten beobachten ließ. Es gab aber noch eine weitere Variante militärischer Pogromgewalt. Das bekannteste Beispiel ist das Pogrom in Belostok im Juni 1906, bei dem das Militär für die meisten der 83 bis 200 jüdischen Toten verantwortlich war.379 Die Pogromwelle war zu diesem Zeitpunkt schon fast zu ihrem Ende gekommen. Doch in der Endphase der Revolution von 1905/06 kam es nicht selten zu drastischer militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.380 Dies war unter anderem Ergebnis einer längeren Eskalation, denn auch die Gegner der Autokratie verübten immer häufiger Terroranschläge und suchten teils sogar die offene Konfrontation mit Polizei und Militär.381 Im Fall von Belostok war wenige Wochen vor dem Pogrom der örtliche Polizeichef einem Attentat zum Opfer gefallen, und während des Pogroms wurde das Militär mehrfach beschossen und mit mindestens einer Bombe beworfen. Zwar wurden dabei nur wenige Soldaten verletzt und kein einziger getötet (eine Untersuchungskommission der Staatsduma vermutete sogar, die wenigen Verletzungen seien auf Friendly Fire zurückzuführen). Dennoch ging das Militär mit extremer Härte vor, sobald etwa berichtet wurde, dass aus einem bestimmten Haus geschossen worden sei.382 Das machten sich Akteure zunutze, die

377 Bushnell, Mutiny, S. 84–88; Pravo, No. 16, 23. 4. 1906, S. 1501 und zahlreiche weitere Berichte; Gumb, Festung, S. 288. 378 Lambroza, Pogrom Movement, S. 94; Kirˇznic, Raboˇce-krest’janskie, S. 5. 379 Die unterschiedlichen Opferzahlen: Lambroza, Pogrom Movement, S. 246 f., sowie Ascher, Anti-Jewish, S. 137. 380 Rawson, Death, S. 50; Gumb, Festung, S. 287–300. 381 Gerasimov, My, S. 234. 382 From Kishineff, S. 71–88.

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Interesse an einem blutigen Pogrom hatten, indem sie z.B. behaupteten, beschossen worden zu sein.383 Die Offiziere fragten nicht lange nach, sondern eröffneten das Feuer. In der Staatsduma wurde Belostok später als Musterbeispiel für ein von der Staatsmacht provoziertes und inszeniertes Pogrom dargestellt.384 Tatsächlich befanden sich die Soldaten dort in einer Auseinandersetzung mit nach den Maßstäben der Zeit besonders radikalen und gewaltbereiten anarchistischen, sozialrevolutionären und bundistischen Gruppierungen, die aus dem Hinterhalt agierten. Die Gewalt des Militärs war unverhältnismäßig, aber sie muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.385 Sie hatte nichts mit einer antisemitischen Kampagne der Regierung oder irgendwelcher »geheimnisvoller Mächte« zu tun, aber viel damit, dass die Staatsmacht oft kein besseres Mittel gegen die revolutionäre und terroristische Herausforderung kannte als rücksichtslose Gewalt.386 In diesem Zusammenhang steht auch der zweite Vorwurf, der dem Militär immer wieder gemacht wurde: dass es oft (längst nicht immer) früher und entschlossener gegen jüdische Verteidigungsgruppen vorging als gegen die Pogromtäter.387 Gerald Surh hat argumentiert, es seien die Schusswaffen der Selbstwehrgruppen gewesen, die diese zum vorrangigen Ziel gemacht hätten, weil die Strategie der Behörden darin bestand, sich zuerst der Gruppe zuzuwenden, die »bewaffnet war und zurückschießen konnte«.388 Die unterschiedliche Bewaffnung von Tätern und Selbstwehrleuten hätte eine »Allianz« zwischen Tätern und Militär erzeugt. Damit lässt Surh aber die revolutionären Motive der Selbstwehrgruppen außer Acht.389 Die Selbstwehr stand, oft zu Recht, im Ruf der Staatsfeindlichkeit, während sich die Pogromtäter als Vorkämpfer 383 Ebd., S. 74; ein solcher Provokateur gestand später. Pravo, No. 25, 25. 6. 1906, S. 2250. 384 From Kishineff, S. 71–88. 385 Vgl. Gumb, Festung, S. 288–290; Rolf, Metropolen, S. 40–43; zur Besonderheit der revolutionären Gruppen in Belostok: Tobias, Jewish, S. 328–329. 386 Das Zitat bezieht sich auf eine Duma-Debatte zum Pogrom von Belostok. Gosudarstvennaja Duma. Stenografiˇceskij otˇcet. Pervyj sozyv. Sessija 1, Sankt Petersburg 1907, S. 1596. 387 Z.B. für Odessa: Weinberg, Pogrom, S. 266. 388 Surh, Russia, S. 286 f. 389 Ebd., S. 279–282.

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der Zarenmacht inszenierten. Mehr noch, es gibt Hinweise darauf, dass manche Selbstwehrgruppen sogar aktiv darauf hinwirkten, dass sich das Militär gegen sie stellte. So erklärte die Delegation des Bundes auf einem Internationalen Sozialistischen Kongress 1907 im Rahmen einer Erfolgsbilanz der Selbstwehrgruppen: »Die Wirkungen des Selbstschutzes zwangen ferner die Polizei und das Militär, die Rolle der einfachen Aneiferer zu verlassen und selbst zum Schutze der Ausschreiter überzugehen, um auf diese Weise den wahren Urheber und Organisator der Judenhetze zu offenbaren.«390 Wenn gesagt wird, dass Pogrome nur aufgrund der Duldung der Behörden stattfinden konnten, ist das zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig, denn man muss auch fragen, welche Alternativen es gab.391 Mit Michael Hamm könnte man auf Char’kov als positives Beispiel verweisen, wo die Pogromgewalt rasch eingedämmt wurde, weil die Behörden der Selbstwehr freie Hand ließen.392 Aber wie berechtigt ist es, von eingedämmter Gewalt zu sprechen? Immerhin gab es bei diesen Ausschreitungen 156 Tote und zahlreiche Verletzte, eine weit überdurchschnittliche Opferzahl. Für Hamm scheint der Hinweis, dass sich unter den Toten nur wenige Juden befanden, zu belegen, dass das Pogrom erfolgreich bekämpft wurde. Aber in Städten außerhalb des Ansiedlungsrayons (wie Char’kov) richteten sich die Oktoberpogrome eben nicht vorrangig gegen Juden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, welchen Preis die Behörden dafür zahlten, dass sie die Selbstwehr, die sich aus revolutionär gesinnten Arbeitern rekrutierte, gewähren ließen. Nach Hamm ging der Gouverneur auf deren Forderung ein, kein Militär in die Stadt zu rufen. Die Arbeitermiliz durchkämmte daraufhin die Straßen auf der Suche nach »Verdächtigen« und bedrohte sie mit dem Tod. Später ging sie zu »standgerichtlichen« Erschießungen angeblicher »Schwarzhunderter« über. Wenige Wochen später musste der Gouverneur dann doch Artillerie aufmarschieren lassen, weil dieselbe Arbeitermiliz buchstäblich auf die Barrikaden gegangen war.393 Man darf bezweifeln, dass 390 391 392 393

Die Quelle ist in deutscher Sprache verfasst. Allgemeine, S. 850. Schnell, Räume, S. 84. Hamm, Jews. Ebd.; Nevskij, Chronika, S. 167; zum Ausmaß der revolutionären Gewalt in Char’kov: Iz istorii, S. 90–95.

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dem Gouverneur seine Entscheidung, die Arbeitermiliz gewähren zu lassen, auch im Nachhinein noch klug erschien. Ähnlich ging es vermutlich Graf Iliaron I. Voroncov-Daˇskov, der, da er im Herbst 1905 ein gegen die Armenier von Tiflis gerichtetes Pogrom befürchtete und sich nicht auf das Militär verlassen wollte, kurzerhand 500 Gewehre an die lokalen Sozialdemokraten »leihweise« ausgeben ließ. Ein Pogrom gab es in Tiflis tatsächlich nicht, wohl aber einen Aufstand der Sozialisten, der wiederum militärisch niedergeschlagen werden musste. Als Nikolaus II. von Voroncov-Daˇskovs Leihgabe erfuhr, ließ er ihn telegrafisch wissen, dass er »sich weigere, dieser unwahrscheinlichen Nachricht Glauben zu schenken«.394 In verschiedenen Fällen sahen sich Gouverneure, die mit revolutionären Milizen kooperierten, von diesen in die Rolle von Befehlsempfängern gedrängt.395 Verhandlungen zwischen Behörden und Selbstverteidigungsgruppen konnten sehr hilfreich sein, um Pogromgewalt zu verhindern, wie unter anderem das Beispiel Zˇitomirs zeigt. Es ist aber auch nachvollziehbar, dass sich Gouverneure und andere Vertreter des Staates nur selten dazu entschlossen, weil sie die örtlichen Revolutionäre nicht stärken wollten. Die Staatsvertreter hatten Entscheidungsspielräume, und wenn eine günstige Ressourcenverteilung mit einer umsichtigen und entschlossenen Führungsperson zusammenkam, konnten Pogrome effizient beendet werden. Im Schtetl Fastov vermochte ein einzelner Polizist ein Pogrom zu verhindern, indem er die bereits versammelten Täter listig glauben machte, der Zar habe erst für den folgenden Tag ein Pogrom angeordnet, weil er wusste, dass bis dahin genügend Kosaken vor Ort sein würden.396 Viele Polizisten, Offiziere und weitere Staatsbeamte dämmten die Gewalt im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein.397 Petr A. Stolypin beendete das Pogrom in Saratov rasch und effizient, kaum dass er in der Stadt angekommen war.398 Das war jedoch aus vielen Gründen, vor 394 Jones, Socialism, S. 190–194; Reisner, Zwischen, S. 134 f.; das Telegramm Nikolaus’: Arutjunjan, Revoljucionnoe, S. 184. 395 Pribaltijskij; Tobias, Jewish, S. 336; Schmemann, Dorf, S. 185 f. 396 Sˇigirin: Zametka, o.D., RGIA f. 821, op. 9, d. 126, l. 44ob–45. 397 Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 204–210; Surh, Russia, S. 285. 398 Ascher, Revolution, S. 260; ders., Stolypin, S. 78; Fallows, Governor, S. 79–81. Ascher nennt als weitere Positivbeispiele die Gouverneure von Astrachan’ und Taganrog. Ascher, Revolution, S. 260. Der Gouverneur von Astrachan’ selbst gab an, die Stärke der patriotischen »Manifestation« habe die Revolutionäre von den

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allem wegen struktureller Schwächen der Behördenorganisation und wegen der revolutionären Krise um 1905, eher die Ausnahme als die Regel. Man könnte auch sagen: Die Schwäche des Staates war der maßgebliche Grund dafür, dass so viele Pogrome geschehen konnten.399 Es ist ein Irrtum, in diesem eine einheitlich antisemitische Organisation zu sehen, »die so bürokratisch organisiert war, so sehr unter der Kontrolle der Polizei und so sehr von ihren Beamten gestützt«, dass den Juden keine Luft zum Atmen blieb.400 Das Zarenreich war kein Polizeistaat mit, so Salo W. Baron, »unbegrenzter Macht«.401 Dass es im Nachhinein so scheinen konnte, lag daran, dass zwei wichtige Gruppen, die den Historikern zudem zahlreiche Quellen hinterließen, ein Interesse daran hatten, den Staat als mächtig erscheinen zu lassen: Das waren natürlich zum einen die staatlichen Akteure selbst in ihrer Inszenierung nach außen (weniger in ihrer internen Kommunikation) und zum anderen die Gegner der Autokratie. Letztere betonten die Stärke des Staates, um ihn zu diskreditieren (weil er z.B. Pogrome zuließ) und im Nachhinein ihr eigenes Scheitern zu erklären. Ein naheliegendes Gegenargument ist der Hinweis auf die zahlreichen Judenfeinde im Behördenapparat. Sollte es etwa Zufall sein, dass ausgerechnet beim Kampf gegen Judenpogrome die Schwächen der Staatsmacht in vollem Umfang zutage traten?402 In Wirklichkeit versagten die Behörden ebenso, wenn sich die Gewalt gegen Armenier, Deutsche oder gegen Angehörige der Intelligenzija richtete. Nun waren dort zwar auch Ressentiments gegen Armenier, gegen oppositionelle Intelligenzler und zur Zeit der Deutschenpogrome auch gegen Deutsche verbreitet. Aber man denke an die Cholerapogrome: Hier gab es ebenfalls schwere Ausschreitungen, obwohl sich im Staatsapparat der Hass auf Ärzte und Polizisten in Grenzen gehalten haben dürfte. Auch wenn sich

399 400 401 402

Straßen vertrieben. Langer, Corruption, S. 86. Damit in Übereinstimmung: Naˇc. Astrachanskogo GZˇU an DP, 26. 10. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 31, S. 10–11. Allerdings gehörten beide Städte eher nicht zu den Orten, an denen man zuerst ein Pogrom erwarten würde. Es gab dort weder besonders viele Juden noch eine besonders aktive politische Opposition. Rogger, Conclusion, S. 327; hingegen Brass, Introduction, S. 21–46. Vital, People, S. 533. Baron, Russian, S. xiii. Hingegen Hamm, Kiev, S. 198.

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Massengewalt gegen die Polizei richtete, trat die Schwäche des Repressionsapparates offen zutage.403 Noch aufschlussreicher ist es, zum Vergleich die Reaktion auf revolutionäre Unruhen zu betrachten. Wenn Sympathie für die Täter ausschlaggebend für eine schwache Reaktion der Staatsmacht auf die Pogrome war, hätte die Reaktion auf revolutionäre Unruhen sehr viel stärker ausfallen müssen. Tatsächlich dauerte es aber in vielen Fällen ähnlich lange wie bei den Pogromen, bis die Behörden effektiv reagierten. Als im Dezember 1905 die Bolschewiki in Moskau den bewaffneten Aufstand probten, dauerte es ebenfalls zwei Tage, bis das Militär zum Gegenschlag ausholte, und bis zu ihrer Kapitulation verging sogar mehr als eine Woche.404 Gewiss ist Moskau ein besonderer Fall, aber eben auch in der Hinsicht, dass die Autokratie gerade hier darauf bedacht sein musste, Ausschreitungen, und noch dazu explizit gegen die Regierung gerichtete, zu verhindern oder zu unterbinden. Im Jahr 1905 gab es nicht wenige Orte, an denen revolutionäre Gruppen zeitweise die Macht übernahmen. Ein rasches und effizientes Einschreiten dagegen war die Ausnahme – genau wie bei den Pogromen.405 Während des Höhepunkts der Pogromgewalt Ende Oktober bis Mitte November 1905 kapitulierte in den meisten Städten die Staatsmacht zuerst vor der revolutionären Bewegung und danach vor den Pogromtätern. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Stadt Odessa. Während der »Tage der Freiheit« machten die Behörden den Demonstranten alle möglichen Zugeständnisse. Demonstrationszügen mit roten Flaggen und revolutionären Parolen erwiesen Nejdgart und Kaul’bars, die obersten Vertreter der Zarenmacht vor Ort, öffentlich Respekt. Als die Angriffe auf Soldaten und Polizisten zunahmen und diese immer häufiger von der Menge entwaffnet wurden, zog man sie ab und überließ die Straßen faktisch der revolutionären Miliz und der jüdischen Selbstwehr.406 Im Umgang mit den revolutionären Unruhen des Jahres 1905 zeigte sich, zu-

403 Juˇznye zapiski, No. 13, 27. 3. 1905, S. 76; Novoe vremja, No. 10431, 20. 3. 1905, S. 5. 404 Engelstein, Moscow, S. 220–222. 405 Ascher, Revolution, S. 275–330; Williams, 1905, S. 50; Nevskij, Chronika, S. 171–176; Schnell, Räume, S. 60–131. Auch die Reaktion des Staates auf Agrarunruhen und Soldatenaufstände erfolgte meist mit einiger Verzögerung. 406 Weinberg, Revolution, S. 161–165; Langer, Corruption, S. 187; Kriˇstofoviˇc, Universitet, S. 29.

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mindest kurzfristig, die Ohnmacht der Regierung.407 Es bedarf deshalb keiner besonderen Erklärung, dass sie auch angesichts der Pogrome versagte.408 Shlomo Lambroza hat argumentiert, dass es zwar keine von Petersburg aus gesteuerte »Politik der Pogrome« gegeben habe, wohl aber »eine sorgsame Manipulation von Ereignissen, deren Endergebnis, absichtlich oder nicht, die Pogrome waren«. Nicht die Regierung als Ganzes, sondern »örtliche Bürokraten verschworen sich aktiv, um Pogrome zu inszenieren«. Das Wohlwollen Petersburgs habe erst mit dem Pogrom von Belostok 1906 geendet: »Die Regierung hatte [nun] die schmerzhafte Lektion gelernt, dass die Herrschaft des Pöbels, selbst in Form von Pogromen, eine potenzielle Gefahr für die Autokratie darstellte. Hätte die Regierung den Fortgang der Pogrome gestattet, so wäre das Ausdruck ihrer Unfähigkeit gewesen, die Ordnung aufrechtzuerhalten.«409 Tatsächlich war es anders. Die Autokratie hatte schon viel früher, spätestens im Oktober 1905, feststellen müssen, dass sie im Kampf gegen Massenunruhen versagte, und sie hatte durchaus Konsequenzen gezogen. Das »Witte-System« und neue Einsatzregeln milderten die strukturellen Widersprüche in diesem Bereich ab; eine Mischung aus Konzessionen und Repressionen machte der revolutionären Situation ein Ende.410 Danach war das Zarenreich immer noch kein omnipotenter Polizeistaat, aber doch handlungsfähig. Die Pogrome endeten nicht, weil sie dem Staat nicht mehr nützlich schienen, sondern weil sie ihn nicht mehr überforderten.411 Erst im nächsten Moment der Überforderung, im Ersten Weltkrieg, kehrten sie zurück.

407 Ascher, P.A. Stolypin, S. 78. 408 Hingegen Greenberg, Jews, S. 24; Lambroza, Pogrom Movement, S. 27. 409 Die Zitate: Lambroza, Pogroms, S. 241, 239, 238; auch Frankel betont die Verantwortung staatlicher Behörden für die Pogrome: Frankel, Jewish, S. 60. 410 Zum Witte-System Fuller, Civil, S. 138; entsprechend dann die neuen Einsatzregeln: Pravila o prizyve vojsk dlja sodejstvija graˇzdanskim vlastjam, PSZ 1906, No. 27371. Beides erleichterte vor allem die Anforderung von Militär und den Einsatz von Waffengewalt. 411 Beispiele: Russkie vedomosti, No. 48, 1. 3. 1907, S. 4; Russkie vedomosti, No. 49, 2. 3. 1907, S. 2; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 589–591; Langer, Corruption, S. 87. Allgemein: Bergmann, Ethnic.

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Parteien und Verbände Ist von »Schwarzhundertern« die Rede, so sind oft Parteien und Verbände wie der »Bund des Russischen Volkes« (SRN) gemeint. Sie stehen im Mittelpunkt des Narrativs vom organisierten Charakter der Pogromgewalt um 1905, und zwar von den oppositionellen Zeitgenossen bis hin zur »revisionistischen« Forschung.412 Die These, die Pogrome seien entstanden, weil organisierte Gruppen sie planvoll herbeigeführt hätten, wird in jüngerer Zeit durch die Arbeiten von Paul Brass zur vergleichenden Untersuchung von Volksunruhen bekräftigt. Auf der Basis empirischer Arbeiten zu interethnischer Massengewalt (»communal riots«) auf dem indischen Subkontinent hat Brass das Modell der »institutionalized riot systems« entwickelt, eines Netzwerks von »riot specialists«, die in der Lage sind, durch geschicktes Zusammenspiel kollektive Gewalt in Gang zu setzen. Demnach sorgen die einen dafür, dass latente Konflikte nicht in Vergessenheit geraten, andere wandeln unspezifische Ereignisse in Anlässe für Massengewalt um, wieder andere bringen bösartige Gerüchte in Umlauf oder sorgen dafür, dass aus kleinen Ausschreitungen große Unruhen hervorgehen, auch Fachleute für Mord und Plünderung fehlen nicht. Die daraus resultierenden Unruhen mögen vielleicht spontan erscheinen, tatsächlich ist aber auch das auf eine raffinierte Inszenierung der Anstifter zurückzuführen.413 Dass es sich so auch mit den Judenpogromen der ersten und zweiten Welle im Zarenreich verhielt, hält Brass für ausgemacht.414 Michael Hamm versucht, dies empirisch zu belegen.415

412 Hier nur exemplarische Belege zur Forschungsgeschichte: Greenberg, Jews, S. 15, 76; Rogger, Formation, S. 198 f.; Laqueur, Schoß, S. 46 (Titel der Originalausgabe: »Black Hundred«). In dieser Hinsicht identisch ist das klassische sowjetische Narrativ: Izmozik, Jews, S. 65–68; Lambroza, Pogrom Movement, S. 26. Auch wenn gelegentlich anerkannt wird, wie unscharf der Begriff ist, wird er doch weiterhin mit großer Selbstverständlichkeit verwendet. Surh, Jews, S. 237; Golczewski/Pickhan, Russischer, S. 63, 67; Herbeck, Feindbild, S. 60 f.; Laqueur, Schoß, S. 42–44; Ascher, Revolution, S. 130; Lindner, Unternehmer, S. 302, 305; Bönker, Jenseits, S. 326–329; Vital, People, S. 582. 413 Brass, Introduction, S. 12–15, 33; ders., Theft, S. 14–18; ders., Study. 414 So in expliziter Abgrenzung von Hans Roggers »Conclusion and Overwiew«: Brass, Introduction, S. 30–33; zur ersten Pogromwelle: ders., Theft, S. 16. 415 Unter den Russlandhistorikern hat bisher nur er diesen Weg beschritten. Hamm, Jews, S. 164 f.

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Auch im Hinblick auf diese Behauptung ist die Fallstudie dieses Kapitels aussagekräftig. Shlomo Lambroza schrieb: »Das Pogrom von Zˇitomir wurde von vigilantistischen, pro-monarchistischen Raufbolden geplant und ausgeführt. In Zˇitomir traten die Schwarzhundertschaften, der terroristische Zweig der russischen Rechten, erstmals prominent als Anstifter von Pogromen in Erscheinung.«416 Das wäre insofern plausibel, als Wolhynien tatsächlich zu den Hochburgen der rechten Bewegung gehörte. Hier befand sich das Poˇcaev-Kloster, dessen Abt die mitgliederstärkste Sektion des SRN im gesamten Reich leitete, zwei Millionen Menschen sollen ihr angehört haben.417 Hier wirkte der fanatische Mönch Iliodor, und hier wurde die Wochenzeitschrift Poˇcaevskij listok herausgegeben. Beide, der Mönch und die Zeitschrift, waren Inbegriffe des radikalen klerikalen Antisemitismus jener Zeit. Insofern wundert es nicht, dass Motzkins Darstellung des Pogroms von Zˇitomir mit Hinweisen auf den Poˇcaever SRN, auf Iliodor und auf die Zeitschrift beginnt.418 Aber die Sektion des SRN in Poˇcaev wurde erst 1906 gegründet, und erst in diesem Jahr kam Iliodor nach Wolhynien, vorher war er in Zentralrussland, in Jaroslavl’, aktiv.419 Zum Zeitpunkt des Pogroms von Zˇitomir existierte bereits der Poˇcaevskij listok, aber keine der Quellen, die in zeitlicher Nähe zum Pogrom entstanden sind, erwähnen ihn auch nur – möglicherweise ein weiterer Beleg für die obigen Überlegungen zum Thema Pogrome und Presse. Der Mann, der im Oktober zur Leitfigur der rechten Bewegung in der Stadt wurde, Alexander M. Krasil’nikov, spielt in den Quellen der Zeit keine Rolle. Erst Jahrzehnte später wurde »entdeckt«, dass er offenbar für das Pogrom von Bedeutung war.420 Aufschlussreich sind die Äußerungen von Antonij, dem Bischof von Zˇitomir

416 Lambroza, Pogroms, S. 223 f.; vgl. Voschod, No. 1, 1906, S. 6 f. 417 Omel’janˇcuk, Poˇcaevskij, S. 411; zum Hintergrund des Klosters: Adelsgruber u.a., Getrennt, S. 159, 181–183. Bemerkenswert ist übrigens, wie so hohe Zahlen zustande kamen. Offenbar erklärte die Poˇcaev-Sektion kurzerhand »alle erwachsenen orthodoxen Einwohner von Wolhynien und Podolien« zu Mitgliedern. Omel’janˇcuk, Poˇcaevskij, S. 411. 418 Linden, Judenpogrome, S. 44. 419 Omel’janˇcuk, Poˇcaevskij; Ivanov/Michajlova, Iliodor; Rawson, Russian, S. 95; zu Iliodor auch: Mad Monk. 420 Zafran, 1905, S. 168; zu Krasil’nikov als Chef der Zˇitomirer Sektion des SRN und als führendem Mitglied des reichsweiten Verbandes: Volynskaja ˇzizn’, No. 187, 5. 6. 1907, S. 2; Stepanov, Krasil’nikov, S. 264.

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und Wolhynien und späteren Nestor des Poˇcaever SRN, zum Organisationsgrad der »Schwarzhunderter« in der Region: Im Oktober 1905 beschrieb er in einem privaten Brief die Pogrome als begrüßenswerte Antwort des russischen Volkes auf die Revolution und fügte bedauernd hinzu: »Aber Führer gibt es noch nicht.«421 Im November forderte er in einem weiteren Brief, die loyale Bevölkerung müsse sich bewaffnen, um »die oberste Riege der Revolutions-Artisten zu lynchen«, bedauerte jedoch abermals, dass die »Schwarzhunderter leider als organisierte Einrichtung nicht existieren«.422 Sollte dem stramm rechten Geistlichen entgangen sein, dass die »Schwarzhunderter« schon ein halbes Jahr zuvor ihr blutiges Debüt gefeiert hatten, und zwar in seiner Stadt? Welche Argumente wurden vorgebracht, um zu belegen, dass das Pogrom »glänzend organisiert« gewesen sei?423 Da gab es Behauptungen wie die, es seien eigens Täter aus Moskau gekommen, und bei der Vorbereitung des Pogroms habe Pavel Kruˇsevan persönlich seine Hände im Spiel gehabt.424 Außerdem hätten die Täter eine grüne Flagge mit sich geführt und Mützen mit grünem Rand getragen, da Kujarov Chef der »Partei des Grünen Banners« gewesen sei.425 Das alles war, soweit die Quellen ein Urteil zulassen, frei erfunden, korrespondierte aber perfekt mit Klischees, die im regierungskritischen Spektrum der Bevölkerung allgegenwärtig waren: Moskauer Arbeiter spielten schon in den Berichten über die Pogromwelle von 1881 eine zentrale Rolle, Kruˇsevan galt als Verkörperung gelenkter Pogromgewalt, und angebliche reaktionäre Parteien und Verbände waren in aller Munde. 421 Materialy 1923, S. 162–163; allgemein zu Antonij: Stepanov, Antonij, S. 34–37; Klibanov, Russkoe, S. 413; vgl. ähnlich mit Bezug auf den August 1905: Rogger, Formation, S. 196. 422 Materialy 1923, S. 167 f.; das Pogrom von Kiˇsinev hatte Antonij 1903 noch entschieden verurteilt und lobende Worte für die jüdische Bevölkerung gefunden. Krasnyj-Admoni/Dubnov, Materialy 1919, S. 348 f. Im April 1905, eine Woche vor dem Pogrom von Zˇitomir, hatte Antonij dort die Karfreitagspredigt gehalten und abermals Pogromgewalt für verwerflich erklärt. Volyn’, No. 83, 17. 4. 1905, S. 4. 423 Das Zitat: A. E˙pˇstejn: Brief aus Zˇitomir an M. Rabinoviˇc in Odessa, 8. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 4. 424 Linden, Judenpogrome, S. 49; Dubnow, Neueste, S. 441; Volynskaja ˇzizn’, No. 200, 21. 6. 1907, S. 3; Odesskie novosti, No. 6643, 12. 5. 1905, S. 3; Odesskie novosti, No. 6640, 8. 5. 1905, S. 5. 425 A. E˙pˇstejn: Brief aus Zˇitomir an M. Rabinoviˇc in Odessa, 8. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 4.

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Aber muss, was für Zˇitomir gilt, auch für die Pogromwelle insgesamt zutreffen? Immerhin erreichte die Gewalt landesweit erst ein halbes Jahr später ihren Höhepunkt – Zeit, die die »Schwarzhunderter« genutzt haben könnten, um sich zu organisieren. Allerdings gab es Hürden: Politische Parteien, auch monarchistische, waren im Zarenreich erst mit dem Oktobermanifest erlaubt. Deshalb war beispielsweise die älteste konservative Gruppierung, die 1901 gegründete Russische Versammlung (Russkoe Sobranie), als Kulturverein registriert. Auslöser für die Gründung explizit politischer Gruppen im ultrarechten bis monarchistischen Spektrum wurde das Zaren-Manifest vom 18. Februar 1905 mit seinem Aufruf: »Alle wohlgesinnten Leute, jeder in seinem Rang und an seinem Platz, sollen sich vereinen, um gemeinsam in Wort und Tat einer gewaltigen Heldentat Vorschub zu leisten, nämlich den äußeren Feind zu überwinden, die Revolte auszurotten und inneren Wirren mit Vernunft entgegenzuwirken.«426 Daraufhin gründeten sich im Frühjahr 1905 in den beiden Hauptstädten der Vaterländische Bund (Oteˇcestvennyj sojuz), der Verband Russischer Menschen (Sojuz russkich ljudej) sowie die Russische Monarchistische Partei (Russkaja Monarchiˇceskaja Partija). Damit wäre theoretisch ein institutionelles Gerüst für eine Bewegung der »Schwarzhunderter« gegeben gewesen, doch tatsächlich sind für die Zeit bis zum Oktober 1905 kaum Aktivitäten dieser Gruppen dokumentiert.427 Die meisten frühen Organisationen strebten auch gar keine Massengefolgschaft an, sondern verstanden sich als elitär.428 Auf dem Höhepunkt der Pogromwelle verfügte nur die Russische Versammlung über ein (überschaubares) Netz von Ortsgruppen.429 Zugleich war sie die Organisation, in der die konservative Furcht und Abscheu vor dem Plebs am stärksten verankert war.430 Die Planung von Pogromen war der Russischen Versammlung schwer zuzutrauen. 426 Juˇznye zapiski, No. 17, 24. 4. 1905, S. 27; zum Hintergrund: Rawson, Russian, S. 13 f. 427 Stepanov, Cˇernaja, S. 64. 428 Rawson, Russian, S. 26, 46–49, 110 f.; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 589–591; Rogger, Formation, S. 195–197; Kir’janov, Russkoe, S. 79. 429 Die Russische Monarchistische Partei behauptete zwar, schon im Oktober 1905 über ein größeres Netz von Filialen zu verfügen, das wird aber allgemein angezweifelt: Stepanov, Cˇernaja, S. 63 f., sowie Rogger, Formation, S. 199. 430 Rawson, Russian, S. 50. Der führende Kopf der Russkoe Sobranie, B. V. Nikol’skij, bezeichnete selbst einige Handwerker, die im Herbst 1905 kurzzeitig in den

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Schon eher in die Richtung, potenzielle Pogromtäter zu mobilisieren, zielte der Verband Russischer Menschen, der am 16. Oktober 1905 die Bevölkerung aufrief, »Ordnungstrupps« zu gründen, die »den persönlichen und unmittelbaren Kampf gegen den Aufruhr aufnehmen und ein normales öffentliches Leben wiederherstellen« sollten. Doch trotz Unterstützung durch die städtischen Behörden und den Moskauer Bischof blieb dieser Aufruf ebenso wie ein weiterer am 25. 11. 1905 ohne Resonanz.431 Als organisatorischer Kern der Pogrome käme möglicherweise die Gesellschaft der Kirchenbannerträger bzw. der mit ihr verbundene und schon seit 1881 unregelmäßig zusammengerufene Volksschutz in Betracht, der bei Besuchen der Zarenfamilie in Moskau für Ordnung sorgen sollte. Im November 1905 hatte der Liberale F. A. L’vov für gehöriges Aufsehen gesorgt, als er in der Presse »enthüllte«, die Pogrome seien das Werk der Kirchenbannerträger, geführt von Evgenij V. Bogdanoviˇc, einer Schlüsselfigur der Petersburger Konservativen. Doch auch wenn diese Behauptung noch heute aufgestellt wird, hält sie einer kritischen Überprüfung nicht stand.432 Aber es mochte ja auch in den Regionen selbstständige Initiativen gegeben haben. Schossen nicht in der ersten Jahreshälfte rechte Vereinigungen im Reich »wie Pilze aus dem Boden«?433 Was es tatsächlich gab, waren zahlreiche Berichte über Organisationen der »Schwarzhunderter«. Doch sieht man von Sektionen der Russischen Versammlung und Gruppen mit einem ähnlich elitären Profil ab, lässt sich kaum ein Beispiel für eine Organisation nennen, die mit mehr als einem oder zwei Flugblättern in Erscheinung trat.434 Diese Flugblätter erregten großes Aufsehen, zumal die Angst vor neuen Pogromen praktisch über dem

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Verband aufgenommen worden waren, als »Auswurf«. Kir’janov, Russkoe, S. 75. Stepanov, Cˇernaja, S. 65 f.; Rogger, Formation, S. 202. Stepanov hat sich durchaus wohlwollend mit dieser Theorie befasst, kommt aber zu dem oben genannten Ergebnis. Stepanov, Cˇernaja, S. 50, 93–96. Als Tatsache präsentieren sie: Khiterer, October 2015, S. 798; Gluˇsakov, Otrjady, S. 68; vgl. Rawson, Russian; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2000, S. 21. Rogger, Formation, S. 198 f. Ein Gegenbeispiel wäre ein Verband der »Patrioten« in Kiˇsinev in der ersten Hälfte des Jahres 1905, auch wenn sich dessen Gewalttaten offenbar weniger gegen Juden als gegen Sozialrevolutionäre richteten. Juˇznye zapiski, No. 20, 15. 5. 1905, S. 53–55; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 82.

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ganzen Land hing und einige der Schriften drastisch formuliert waren. So wurde im Juni 1905 in Tambov, außerhalb des Ansiedlungsrayons, ein handgeschriebenes Flugblatt mit folgendem Text gefunden: »Schlagt die Juden. Tod, Tod allen Juden! Hurra! Es lebe das russische Volk und die Autokratie. Die Schwarzhundertschaft.«435 Solche Flugschriften waren besorgniserregend, jedoch kein Beweis für die Existenz einer Organisation von Pogromtätern. Eher scheint es so, dass die Autoren der Flugschriften Gruppierungen erfanden, um mehr Angst zu verbreiten. Jedenfalls kam es auffallend häufig vor, dass Flugschriften von Vereinigungen herausgegeben wurden, deren wohlklingende Namen »Weiße Umverteilung«, »Orthodoxes Russisches Komitee« oder »Geheimbund der Kaiserin (Goldene Maske)« weder vor- noch nachher eine Rolle spielten.436 Interessant ist, wie Historiker, die am Konzept der »Schwarzhunderter« als Urheber der Pogrome festhalten, mit diesem Problem umgehen. Rogger geht von der Existenz der gerade diskutierten Organisationen aus, ergänzt jedoch, dass diese, nachdem sie im Frühjahr 1905 Pogrome »inszeniert« und Flugblätter verteilt hätten, »zerfallen [sind], um nach dem Oktobermanifest kurz und gewalttätig wiederaufzutauchen«.437 Lambroza beschreibt die»Schwarzhunderter« als »kleine rechte Gruppen«, die Pogrome anstifteten, über die sich aber aufgrund ihrer Natur als »amorphe Gebilde« wenig Konkretes sagen lasse.438 Jüngere Autoren räumen ein, dass man nicht sagen könne, ob die »Schwarzhunderter«-Organisationen tatsächlich existiert hätten. Kuznecov folgert, es habe sie »wahrscheinlich« gegeben, nur seien sie »durch nichts in Erscheinung getreten«.439 Und Faith Hillis schreibt mit Blick auf Kiew, dass

435 Ebd., S. 71. 436 Juˇznye zapiski, No. 18, 1. 5. 1905, S. 70; Pravo, No. 10, 13. 3. 1905, S. 730 f.; Omel’jancˇ uk, Cˇernosotennoe 2000, S. 23. Fälle, in denen von rechten Organisationen nicht mehr als ein bis zwei Flugblätter bekannt sind: Tambov: Rawson, Russian, S. 88; Melitopol’: Pomoˇscˇ nik Tavriˇceskogo Naˇc. GZˇU v Berdjanskom i Melitopol’skom uezdach, 1. 3. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 5 cˇ . 32 t. 1, l. 80–81; Kursk: Belokonskij, Cˇernosotennoe, S. 51; Odessa: Weinberg, Revolution, S. 138 f.; Reˇcica: Smilovitskii, Rechitsa, S. 69 (die Quelle ist hier kein Flugblatt, sondern ein Brief); Kiev: Hillis, Between, S. 342, 347; vgl. Belostok: Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 105. 437 Rogger, Formation, S. 198. 438 Lambroza, Pogroms, S. 225. 439 Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 82.

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sich in den Archiven keine Hinweise für rechte Organisationen finden, »aber wenn man in Betracht zieht, wie wichtig die jüdische Frage in den lokalen Debatten war und wie stark solche Gruppen in anderen großen Städten, ist es wahrscheinlich, dass sie sich [auch] in Kiew rasch verbreiteten«.440 Zumindest gegen das zweite Argument darf man getrost Einspruch erheben. Nachweisbare rechte Gruppierungen waren bis zum Oktobermanifest die Ausnahme, nicht die Regel. Wenn sich in den Archiven keine Spuren von ihnen finden lassen, muss man dann wirklich annehmen, dass sie kurzlebig, amorph oder aufgrund von Passivität unsichtbar waren? Ist es nicht plausibler, dass es sie schlechterdings nicht gab? Wer das Gegenteil behauptet, sollte mehr vorzuweisen haben als obskure Flugblätter und Meldungen in der oppositionellen Presse. Die Gruppierung, die am häufigsten mit den »Schwarzhundertern« und den Pogromen in Verbindung gebracht wurde, war der SRN. Doch so unsympathisch diese Partei mit ihrem antisemitischen Programm und ihrer korrupten Führung auch war – die allermeisten Pogrome geschahen ohne ihre Beteiligung. Der SRN wurde am 8. November 1905 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war mindestens die Hälfte der Pogrome der zweiten Welle vorüber. Erst wesentlich später, Mitte Januar 1906, kam die territoriale Expansion in Gang (nur in Jaroslavl’ und im Gouvernement Moskau waren schon vorher Sektionen gegründet worden). Der SRN rief »Kampfverbände« ins Leben, die in vielen Städten für Unruhe sorgen sollten. Der erste wurde in der zweiten Dezemberhälfte in Sankt Petersburg gegründet, in der Provinz erfolgte dies erheblich später. Damit kam der SRN für mindestens 90 Prozent der Pogrome zu spät.441 Im Grunde ist das hinlänglich bekannt; das Stereotyp vom SRN als einer maßgeblichen Kraft hinter Pogromen, die vor seiner Gründung stattfanden, ist dennoch immer wieder anzutreffen.442 Viele Zeitgenossen waren davon überzeugt, dass die Ausbreitung des SRN und vergleichbarer Organisationen in den Jahren 1906 und 1907

440 Hillis, Between, S. 348. 441 Stepanov, Cˇernaja, S. 192–194; Rogger, Formation, S. 204 f.; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2000, S. 24; zur zeitlichen Verteilung der Pogrome über die einzelnen Monate der Jahre 1903–1906: Lambroza, Pogroms, S. 227 f. 442 Vital, People, S. 576; Bönker, Jenseits, S. 326; Golczewski/Pickhan, Russischer, S. 63; Shohet, Jews, S. 109; klassisch: Greenberg, Jews, S. 76; kurzerhand die Gründung des SRN auf 1904 zurückdatierend: Baron, Russian, S. 67.

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zu einer neuen Welle landesweiter Pogrome führen würde, und das ist auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar.443 An einigen Orten genoss der SRN die Protektion der Behörden; in Odessa, Sankt Petersburg, Gomel’, Tula und vielleicht auch in Kiew erhielten ihre Kampfverbände sogar Schusswaffen aus staatlichen Beständen oder wurden bevorzugt mit Waffenscheinen versorgt.444 Es gab also ein erhebliches Gewaltpotenzial, und auch am Willen zum Pogrom fehlte es nicht. Letzteres bestritt der SRN offiziell: Pogrome trügen nur zur Anarchie im Lande bei; außerdem diskreditierten sie die russische Bevölkerung (und damit auch den Verband). Das gipfelte in der Behauptung, »die Juden« selbst hätten die Gewalt absichtlich provoziert, weil sie wussten, dass der größere Schaden auf die »russische« Bevölkerung fallen werde.445 Tatsächlich musste man aber nicht allzu sehr zwischen den Zeilen lesen, um, vor allem in Verlautbarungen provinzieller SRN-Sektionen, eine ganz andere Haltung zu den Pogromen zu erkennen: Hier drohten auch Parteiblätter offen mit Massengewalt gegen Juden, die, selbstverständlich, keinem anderen Zweck als kollektiver Selbstverteidigung dienen sollte.446 Auch dass der Vorsitzende des SRN, Alexander I. Dubrovin, es für angebracht hielt, damit zu prahlen, dass er nach Belieben Pogrome beginnen lassen könne, zeugt nicht von einer ablehnenden Haltung zur Gewalt.447 Dazu, was die einfachen Mitglieder der Kampfverbände dachten, gibt es naturgemäß kaum Quellen. Vereinzelte genüssliche Schilderungen (»erbarmungslos schlugen wir auf die Juden ein und zerrten Jüdinnen an den Haaren hinter uns her«) lassen es aber plausibel erscheinen, dass gerade die Gewaltbereitschaft des SRN einen nicht unwesentlichen Teil seiner

443 Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 358 f. 444 Allgemein: Stepanov, Cˇernaja, S. 198; Tula, Sankt Petersburg, Odessa: Rawson, Russian, S. 80, 129 f., 147; skeptisch, insbesondere zu Kiew: Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 598 f.; in Reˇcica wurden an Mitglieder des SRN offenbar aufgrund von Drohungen Waffen ausgegeben. Stepanov, Cˇernaja, S. 97. Es gab auch finanzielle Zuwendungen verschiedener staatlicher Strukturen an verschiedene ultrarechte Parteien, die aber im Wesentlichen der Finanzierung von Propagandaschriften dienten. 445 Kievljanin, No. 124, 6. 5. 1905, S. 1 f.; Engelstein, Slavophile, S. 218; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 618 f.; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 346; affirmativ dazu: Razmolodin, Cˇernosotennoe, S. 32, 39; ders., Voprosu, S. 86 f. 446 Langer, Corruption, S. 86; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 345, 359 f. 447 Bogdanoviˇc, Tri poslednych, S. 460.

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Anziehungskraft ausmachte.448 Ihm waren Pogrome durchaus zuzutrauen. Das zeigten auch Ereignisse wie in Elisavetgrad am 28. Februar 1907. Vier Tage zuvor war ein führendes Mitglied des örtlichen SRN-Kampfverbands bei einem Attentat gestorben. An seinem Sarg, in dem der Leichnam vier Tage lang aufgebahrt lag, agitierten SRN-Mitglieder die Besucher. Der lokale SRN organisierte die Begräbnisprozession, die auf dem Rückweg in ein Pogrom überging, nachdem ein mysteriöser Schuss eine Teilnehmerin am Arm verletzt hatte. Die Menge schlug bei Juden Fensterscheiben ein, plünderte ihre Läden und Quartiere, verprügelte insgesamt 23 Personen, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können, und tötete eine weitere.449 Hier darf man mit einigem Recht von einem Pogrom sprechen, das von rechten Gruppen gezielt herbeigeführt worden war. Bemerkenswert ist allerdings seine kurze Dauer und die im Vergleich zu den Oktoberpogromen geringe Zahl der Opfer. Der Unterschied lag nur zum Teil an einer besseren Reaktion der Behörden. Die Polizei konnte die Täter zwar relativ schnell aus dem Zentrum vertreiben, doch am Stadtrand hatten sie weitgehend freie Hand.450 Dass das Pogrom keine größeren Ausmaße annahm, lag offenbar auch daran, dass die »Schwarzhunderter« trotz ihrer Organisation in Partei und Kampfverband nicht besonders schlagkräftig waren.451 Und das Pogrom in Elisavetgrad von 1907 war eines von sehr, sehr wenigen, die nachweislich unter Mitwirkung organisierter »Schwarzhunderter« geschahen. In dieselbe Kategorie gehören ein fast zeitgleich stattfindendes und in seinem Charakter sehr ähnliches Pogrom in Cherson, und eventuell auch die Pogrome von Gomel’ und Vologda im Jahr 1906.

448 Das Zitat: Viktorov/Cˇernovskij (Hg.), Sojuz, S. 226; allgemein: Langer, Corruption, S. 173, 196. 449 Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 370–373; Russkie vedomosti, No. 48, 1. 3. 1907, S. 4; Rawson, Russian, S. 137. 450 Wie genau das Pogrom endete, ist nicht klar. Jedenfalls wurde Militär zu Hilfe gerufen. Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 370–373. 451 Das Pogrom in Elisavetgrad im Jahr 1881, bei dem eine Organisation der Täter ausgeschlossen werden kann, führte zu höherem Personen- und Sachschaden. Das ist bemerkenswert, weil allgemein angenommen wird, dass der Organisationsgrad der Täter mit der Intensität der verübten Gewalt korreliert. Bergmann, Pogrome 2002, S. 454.

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Nach allem, was die Quellen hergeben, existierten nicht mehr Ausschreitungen dieser Art.452 Die großen Pogrome der Zeit nach 1905, Belostok und Siedlce im Jahr 1906, erfolgten ohne Beteiligung ultrarechter Organisationen. Und ausgerechnet dort, wo seit Ende 1905 die Hochburgen der »Schwarzhunderter« entstanden (neben Moskau und Sankt Petersburg z.B. Odessa, Wolhynien oder Aleksandrovsk), fanden keine (weiteren) Pogrome statt. Dass es also eine starke negative Korrelation zwischen rechten Gruppierungen und Pogromgewalt gibt, wurde zum Teil in der der russischen Historiografie in dem Sinn gedeutet, dass es gerade die Verbandsstrukturen gewesen seien, die die Empörung der »patriotischen« Teile der Bevölkerung in geordnete Bahnen gelenkt hätten.453 Tatsächlich aber suchten die Kampfverbände des SRN durchaus die Gewalt. Sie drangsalierten, verspotteten und schlugen Passanten, sie trieben Schutzgeld ein und versetzten die jüdische Bevölkerung vieler Städte in Panik.454 Auf dem Höhepunkt der Gewalt wurden in Odessa binnen zwanzig Tagen 28 Personen »leicht« verletzt.455 Das war alles andere als harmlos – aber es war kein Pogrom. Oft stützte sich die Behauptung, Pogrome seien planvoll herbeigeführt und ausgeführt worden, auf Indizien. Belege für eine leitende Hand im Hintergrund waren, dass die Täter für die Teilnahme am Pogrom entlohnt wurden, dass man ihnen Waffen aushändigte, dass ihre Anführer auffällig gekleidet waren oder dass sie Hilfsmittel zur Identifizierung ihrer Opfer nutzten, wie z.B. vorbereitete Listen.456 Einwände lassen sich 452 Zu Cherson: Langer, Corruption, S. 86; im Fall Gomel’s sind sich Rawson und Kuznecov uneinig. Rawson, Russian, S. 95; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 25 f.; vgl. Materialy 1908, S. 392 f.; in Vologda existierte zum Zeitpunkt des Pogroms, am 1. 5. 1906, eine Sektion des SRN. Der Ablauf des Pogroms weist aber nicht auf dessen maßgebliche Beteiligung hin: Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 350–352. 453 Razmolodin, Voprosu, S. 86; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 589–591; so argumentierten schon zeitgenössische Akteure der Ultrarechten: Kir’janov, Pravye partii, S. 151. 454 Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 606–609; Langer, Corruption, S. 79, 82, 203–206; Kuznecov, Revoljucionnaja, S. 374. 455 Russkie vedomosti, No. 49, 2. 3. 1907, S. 2. 456 Auf die angebliche Bezahlung der Täter verweisen z.B.: Weinberg, Pogrom, S. 269; Lindner, Unternehmer, S. 304; Juˇznye zapiski, No. 16, 17. 4. 1905, S. 92; Bewaffnung: Löwe, Tsars, S. 156; Smilovitskii, Rechitsa, S. 69; zu auffälliger Kleidung siehe unten; Listen: Weinberg, Pogrom, S. 269; Hamm, Kiev, S. 198; Stepanov, Cˇernaja, S. 82; Vsepoddannyj, S. 262.

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leicht finden: An materiellem Profit orientierte Täter mussten nicht eigens bezahlt werden – das Pogrom selbst war »profitabel« genug. Die Waffen der Pogromtäter waren Knüppel, Steine, Arbeitsgeräte, manchmal Eisenstangen. Wenn die Täter einen Knüppel brauchten, bedienten sie sich am nächstbesten Zaun, aus dem Straßenpflaster brachen sie Steine, alles Übrige fiel ihnen spätestens dann in die Hände, wenn sie entsprechende Geschäfte plünderten.457 Es mag sein, dass es Personen gab, die den Tätern halfen, sich mit Waffen auszustatten, aber weil diese ohnehin verfügbar waren, hatte das keine große Bedeutung. Es mag ebenso sein, dass einige der Täter auffällig gekleidet waren. Aber ist es ein Beleg dafür, dass das Pogrom von Kiˇsinev »organisiert« war, wenn dort Männer in »roten Hemden« am Werk waren,458 zumal rote Hemden zur üblichen Kleidung der Bauern gehörten?459 Immer wieder hieß es, dass Pogromtäter ihre Opfer anhand mitgebrachter Listen identifizierten. Keine solche Liste ist in den Archiven überliefert.460 In Moskau hatten die Behörden 1905 eine Liste »jüdischer« Häuser angefertigt, um diese gegebenenfalls schützen zu können. Von Beobachtern wurde dies als Vorbereitung eines Pogroms interpretiert.461 Beim Moskauer Pogrom von 1915 spielte ein von einem nationalistischen Verein erstelltes Verzeichnis der »deutschen und österreichischen« Unternehmen eine gewisse Rolle.462 Denkbar wäre auch, dass Pogromtäter die als »Kalender« bezeichneten Nachschlagewerke benutzten, die in jeder größeren Stadt des Reiches herausgegeben wurden und unter anderem ein Adressenverzeichnis enthielten. Sie hätten nach »jüdischen« Namen suchen und so ihre Opfer identifizieren können. Tatsächlich aber kamen sie sehr gut ohne Schriftstücke aus: Sie wussten, in welchen Stadtvierteln die meisten Juden lebten, sie konnten sich an Aushängeschil457 Z.B. Oficial’noe soobˇscˇ enie o pogrome v m. Ryˇskanovke, CDIAU f. 419, op. 1, d. 4195; Prokuror Saratovskoj SP: Zapiska über Unruhen in Chvalynsk, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 76–76ob; Aussage von Lerman, E. Sˇ., 31. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 172ob; Krasnyj-Admoni, Materialy, S. 279; Astrachanskij gubernator an MVD, 2. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 2, l. 99ob–100; Kormina, Provody, S. 93. 458 Lambroza, Pogroms, S. 201; Hamm, Jews, S. 165. 459 Haberer, Jews, S. 218. 460 Vgl. für die Pogrome der 1880er Jahre: Klier, Russians, S. 386. 461 Engelstein, Moscow, S. 145. 462 Dönninghaus, Deutschen, S. 460.

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dern, den in die Fenster gestellten Ikonen und einfach an ihrem Wissen über die örtlichen Gegebenheiten orientieren. Nicht selten wurde vor Ort ausgehandelt, welches Haus oder welche Person ein legitimes Ziel darstellte. Die Vorstellung, die Täter hätten sich an Schriftstücken orientiert, sagt wieder einmal mehr über die Gedankenwelt zeitgenössischer Beobachter als über das Pogrom. Man könnte die Liste der vermeintlichen Indizien beliebig fortsetzen (einige weitere werden im folgenden Abschnitt eine Rolle spielen). Besonders aussagekräftig waren sie nie. Täter Im Grunde war vieles, was als Beleg für die Organisation der Pogrome ausgewiesen wurde, nichts anderes als eine Beschreibung der Dynamik kollektiver Gewalt. Das begann mit jenen Gerüchten, in denen die anvisierten Pogromopfer als aggressive Übeltäter gezeichnet wurden, die in die Schranken zu weisen seien. Regelmäßig wurden sie als Werk von Propagandisten gedeutet, die gezielt auf einen Gewaltausbruch hinarbeiteten. Als z.B. in Zˇitomir die Rede vom zerschossenen Zarenporträt und von angeblich bevorstehenden Gewalttaten »der Juden« umging, wurde daraus, wie viele Quellen dokumentieren, häufig der Schluss gezogen, die Gerüchte müssten planvoll in die Welt gesetzt worden sein – von Polizeihauptmann Kujarov, »verkleideten Gendarmen« oder ganz und gar mysteriösen »unbekannten Agitatoren«.463 Dass solche Gerüchte auch spontan als Antwort auf erklärungsbedürftige Ereignisse entstanden sein mochten, wurde nicht in Betracht gezogen. Und selbst wenn sich jemand das Ziel gesetzt hätte, ein bösartiges Gerücht zu »streuen«, hätte dessen Inhalt so stark auf die aktuelle Stimmung in der Zielgruppe abgestimmt sein müssen, dass es von spontan entstandenen nicht zu unterscheiden gewesen wäre.464

463 Lambroza, Pogrom Movement, S. 203; Reˇci, Vyp. 1, S. 98; Volyn’, No. 88, 30. 4. 1905, S. 3; Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 23. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 25; Juˇznye zapiski, No. 18, 1. 5. 1905, S. 71; Linden, Judenpogrome, S. 45. 464 Shibutani, Improvised, S. 196–199. Das Gerücht über das zerschossene Zarenporträt war vermutlich nicht einmal falsch, auch wenn dieser Eindruck erweckt wird. Lambroza, Pogroms, S. 223. Dasselbe gilt für das beim Oktoberpogrom von Simferopol relevante Gerücht, ein jüdischer Junge habe zwei Ikonen in den Abort ge-

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Pogromgerüchte konnten nicht beliebig in die Welt gesetzt werden, aber es war möglich, sie in konkreten Interaktionen ins Spiel zu bringen, und zwar nicht nur, um planmäßig auf Massengewalt hinzuarbeiten, sondern weil sich damit bereits vor dem Pogrom »Profit« erzielen ließ. Das konnte, wie gezeigt, emotionale Befriedigung sein, wenn sich »Christen« an der Furcht der Juden ergötzten, aber auch Profit im materiellen Sinn.465 All das bedeutet jedoch nicht, dass es bei den Tätern feste Pläne für ein Pogrom gegeben hätte. In den allermeisten Fällen waren die Drohungen schrecklich – aber auch leer. Gleichwohl machten sie es wahrscheinlicher, dass es wirklich zu einem Pogrom kam, weil sie die allgemeine Erwartung von Gewalt noch steigerten. Denjenigen, die die Drohungen aussprachen, ging es zunächst nicht um physische Gewalt, sondern darum, sich selbst als stark und ihr Gegenüber als schwach zu erleben. Von diesen Akteuren sind diejenigen zu unterscheiden, die gezielt versuchten, einen »Ausbruch« von Gewalt zu provozieren. Doch auch das war keine einfache Angelegenheit. Manche Versuche blieben folgenlos, und manche Akteure unternahmen eine ganze Folge von Provokationen, bis sie das gewünschte Ziel erreichten, wie der folgende Bericht über den Beginn des Pogroms von Gomel’ 1903 zeigt: »Am 29. August kamen Arbeiter in mehreren Gruppen auf den Markt und suchten einen Anlass, um eine Schlägerei zu beginnen. Sie versuchten, bei einer jüdischen Händlerin Lebensmittel zu stehlen. Sie schimpften über ein jüdisches Mädchen, das mit Wassermelonen handelte, und schnitten diese an. Als Nächstes fingen sie Streit mit einer Verkäuferin von Sonnenblumenkernen an, indem sie ein ganzes Fässchen für einen halben Rubel verlangten (das fünf Rubel kostet). Die Arbeiter fügten der Jüdin einen Schlag zu, doch selbst das hätte wohl keine Konsequenzen gehabt, wären nicht alsbald Rufe ›Schlagt die Juden‹ erklungen und wäre nicht eine Menge von Arbeitern hin-

worfen. Letzteres kann als Tatsache gelten. Dennoch meinten manche Kommentatoren, nur die »Schwarzhunderter« könnten dafür verantwortlich sein, dass sich das Gerücht verbreitete. Dubnow, Neueste, S. 440. 465 Zum Erpressen von Schutzgeld: Delo o vospreˇscˇ enii prebyvanija v g. Kieve i v Kievskom uezde Varfolomeju Osipovu Kalabuchinu, CDIAU f. 442, op. 856, d. 228, l. 1–19; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 597, 602.

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zugekommen, die dann begann, mit ›Hurra‹-Rufen Fässer mit Heringen umzustoßen.«466 Als Anlass zur Gewalt eigneten sich insbesondere empörende, soziale Normen verletzende Ereignisse. Wer diesen Mechanismus durchschaute, schickte beispielsweise Kinder vor, um in jüdischen Läden Tabak und Süßigkeiten zu stehlen, denn es war nicht unwahrscheinlich, dass sich so ein Grund zu der Behauptung ergab, »die Juden« schlügen »unsere Kinder«.467 Ähnlich ist die Situation 1881 in Elisavetgrad einzuschätzen, als – wie beschrieben – ein Stadtbürger den »Gottesnarren« Sidorenko anstachelte, einen jüdischen Schankwirt zu provozieren. Juden sollten verleitet werden, illegitime Gewalt gegen eine Person zu verüben, die unter allgemeinem Schutz stand.468 Und auch Sen’ka Emec, der bereits erwähnte Anführer einiger Pogromtäter in Zˇitomir, handelte in vergleichbarer Weise, wenn er, mit seinen Männern über die Brücke zum Podol stürmend, die Selbstwehr zwang, ihre Pistolen abzufeuern, denn nun konnte er behaupten, dass »die Juden uns massakrieren«.469 Es war aber nicht damit getan, ein geeignetes Ereignis herbeizuführen. Das Geschehen musste auch einer ausreichend großen Zahl von Menschen auf möglichst dramatische Weise zur Kenntnis gebracht werden. Bei Sen’ka Emec genügten hierfür die Schreie und der Lärm der Schüsse – das Geschehen war an sich schon dramatisch genug. Aber auch geringfügige Ereignisse konnten große Wirkung entfalten, wenn man sie gehörig aufblies: Dem Pogrom von Cˇenstochova im Jahr 1902 ging der Streit einer »christlichen« Käuferin mit einem jüdischen Händler voraus. Wegen angeblich verdorbener Pflaumen kam es zu einem Hand-

466 Dokladnaja zapiska predstavitelej evrejskogo naselenija g. Gomelja tovariˇscˇ u ministra vnutrennych del, 18. 9. 1903, Amanˇzolova, Evrejskie, S. 108. 467 Rassvet, No. 20, 16. 5. 1881, S. 788; ähnlich: Delo Tomsk, S. 39. 468 Das erinnert daran, wie russische Bauern oftmals in Konflikten mit der Staatsmacht agierten. In die vorderste Reihe des bäuerlichen Widerstands wurden oft Frauen und Kinder gestellt. Wurde diesen durch Soldaten oder Polizei auch nur geringfügige Gewalt angetan, so hatten die im Hintergrund stehenden Männer eine Rechtfertigung dafür, ihrerseits die Ordnungshüter gewaltsam zu vertreiben. Engel, Women. 469 Zitat: Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 16–16ob; Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 28–28ob.

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gemenge, bei dem die Käuferin leicht verletzt wurde. Die Polizei kam, und weiter wäre wohl nichts geschehen, hätte sich nicht der Ehemann der Käuferin, Andrej Kljuk, in den Kopf gesetzt, sich zu rächen, und zwar an den Juden insgesamt. Als die Mittagszeit viele Arbeiter auf die Straßen trieb, begann Kljuk, gemeinsam mit seinen Kindern an einem belebten Platz ein Spektakel zu inszenieren: »Er weinte und jammerte darüber, dass die Mutter dieser minderjährigen Kinder, seine Ehefrau, heute ermordet wurde. […] Das laute Schreien und Weinen Andrej Kljuks und seiner Kinder […] weckte die Aufmerksamkeit und großes Mitgefühl von Arbeitern […] und anderen Personen, und bald kam eine große Menschenmenge zusammen.« Das Gerücht, »die Juden« hätten fünf Kinder zu Halbwaisen gemacht, wurde zum Auslöser des Pogroms.470 Aber längst nicht jeder Versuch, einen Anlass für ein Pogrom zu inszenieren, gelang auch. Im April 1881 berichtete eine »Christin« in Vitebsk, ihr zehnjähriger Enkel sei von Juden entführt und ermordet worden. Als sie »die Juden« gebeten habe, ihr wenigstens »ein Knöchelchen« von der Leiche zu geben, hätten diese nur gelacht.471 Es kam weder zu einem Massenauflauf noch zu einem Pogrom. Wer den Juden Böses wollte, konnte versuchen, mit Erfindungsgabe und schauspielerischem Geschick möglichst viele Menschen gegen sie aufzubringen – einfach war das aber nicht. Die besten Aussichten hatte, wer sich auf gängige Vorstellungen bezog, wie z.B. die, der Zar habe einen geheim gehaltenen Befehl zum Judenschlagen erlassen. Dass es einen solchen Befehl gab, vermuteten ohnehin viele. Wenn dann, wie im Umland von Zˇitomir, ein Vorsteher der Stadtbürger ein Papier vorzeigte und behauptete, dies sei ein »von der Hand des Zaren unterzeichneter Befehl, die Juden zu massakrieren«, schwanden die letzten Zweifel.472 Je erklärungsbedürftiger die Vorwürfe gegen die Opfer waren, desto

470 Zitat: Petrokovskij gubernator an Varˇsavskij general-gubernator, 3. 9. 1902. Außerdem: Naˇcal’nik Petrokovskogo GZˇU an DP, 30. 8. 1902, beides publiziert in: Amanzˇ olova, Evrejskie, S. 36–46, Zitat S. 39. 471 Rassvet, No. 16, 16. 4. 1881, S. 613. 472 Zajavlenie von Barnberg, A., und Lutanskij, A., 4. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 85; Aussage von Lutanovskij, A. L., wohl 29. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 358ob–359.

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wichtiger wurden offenbar die Inszenierungen. Dass Juden gewisse bösartige Dinge taten, war für viele Nichtjuden selbstverständlich, und entsprechende Vorwürfe mussten kaum weiter plausibel gemacht werden. Anders war dies bei neu auftretenden Konflikten, wie etwa bei den Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung der Cholera 1892. Dass »die Ärzte« »das Volk« vergifteten und Menschen lebendig begruben, war eine relativ neue Vorstellung, die der Begründung bedurfte. Gemessen an der vergleichsweise relativ geringen Anzahl tatsächlicher Ausschreitungen kam es häufig zu regelrecht theatralischen Inszenierungen.473 Eine Form der Inszenierung verfehlte ihre Wirkung fast nie, nämlich wenn Personen, die ein Pogrom wünschten, versehrte Körper zur Schau stellten. Das konnten Leichname sein wie beim Februarpogrom 1905 in Baku oder beim bereits erwähnten Pogrom von 1907 in Elisavetgrad.474 Oder – was noch häufiger vorkam – angeblich von den Pogromopfern verletzte Menschen. Nichts eignete sich besser als fließendes Blut, um passive oder skeptische Umstehende davon zu überzeugen, dass von den Pogromopfern eine Gefahr ausging und das Pogrom folglich gerechtfertigt war.475 Manche Täter kalkulierten damit, dass angesichts der emotionalen Anspannung kaum jemand hinterfragen würde, woher die Verletzungen tatsächlich stammten. Einer der Pogromtäter von Kiew im Jahr 1881 wurde von einer aus dem Fenster geworfenen Nähmaschine am

473 Prokuror Saratovskoj SP: Liste der Angeklagten, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 109–109ob, 120ob; Prokuror Saratovskoj SP: Zapiska über Unruhen in Chvalynsk, 24. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 75–75ob; Prokuror Saratovskoj SP: Bericht über die Unruhen in Saratov, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 90–92; Poltavskij gubernator an g. MVD, 22. 9. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 6, l. 80–84; Simbirskij gubernator an g. MVD, 3. 8. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124 cˇ . 5, l. 197–197ob. 474 Bakinskij gubernator: Doklad Bakinskogo gubernatora Tajnogo Sovetnika Knjazja Nakaˇsidze o stolknovenii v gor. Baku dvuch nacional’nostej tatar i armjan, imejuˇscˇ ich mesto 6–9 fevralja 1905 g., o.D. [28. 2. 1905], GARF f. 102, op. 103 (3), d. 1 cˇ . 49 l. B, l. 8; Bakinskie izvestija, No. 22, 13. 2. 1905, S. 3; vgl. für zwei Pogrome im Jahr 1907: Langer, Corruption, S. 86–87; ein Judenpogrom im polnischen Przytyk 1936: Zyndul, Pogrom; allgemein: Canetti, Masse, S. 156. 475 Zeitgenössische Quellen sprachen von der »erregenden« Wirkung des Anblicks von Blut im Pogrom. Russkoe slovo, No. 51, 22. 2. 1905, S. 3; Prokuror Saratovskoj SP: Liste der Angeklagten, 27. 7. 1892, RGIA f. 1405, op. 93, d. 7492, l. 116ob–117.

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Kopf getroffen. Kaum war er provisorisch verbunden, stand er schon wieder inmitten der Pogrommenge und brüllte: »Seht her, Orthodoxe, diese Dreckskerle vergießen unser Christenblut!«476 Lüge und Verstellung waren mächtige Waffen, wenn sie sich mit einem Gespür für die Dynamik von Furcht und Gewalt verbanden. Nichts war jedoch so häufig Auslöser von Pogromgewalt wie (tatsächliche oder angebliche) Schüsse, die auf eine Versammlung von »Christen« abgegeben wurden. Der Vorwurf, »die Juden« haben »auf uns« geschossen, war ungeheuer potent, weil er ein hohes Erregungspotenzial mit einem äußerst ephemeren Ereignis zusammenbrachte.477 Denn ein aus dem Hinterhalt abgefeuerter Schuss hinterließ kaum Spuren. Ein vernehmbarer Knall reichte aus und schon war es ein Leichtes zu behaupten, aus dieser oder jener Richtung sei geschossen worden.478 Dann musste nur noch jemand überzeugend behaupten, den (»jüdisch aussehenden« oder in einem »jüdischen« Haus befindlichen) Schützen gesehen zu haben, und schon war eine Eskalation wahrscheinlich. Selbstverständlich war nicht jeder Schuss erfunden. Manchmal trugen Gegner des Pogroms durch einen abgefeuerten Schuss sicherlich unfreiwillig zur Eskalation bei, es kam aber wohl auch vor, dass Befürworter eines Pogroms in provokatorischer Absicht schossen. Aber – man denke an die Situation in der Synagoge in Elisavetgrad 1881 – manche Schüsse waren auch schlichtweg erfunden.479 Einmal mehr kam es auf die Inszenierung an, und vor allem darauf, ein Opfer zu präsentieren. Das konnten, wie gesagt, tote oder verletzte Personen sein. Oft hieß es aber auch, der Schuss habe Gegenstände von hohem symbolischen Wert getroffen, wie jene Zarenporträts und Ikonen, die bei den »patriotischen Manifestatio-

476 Das berichtete übrigens der Korrespondent des vermeintlich so pogromfreundlichen Novoe vremja. Zit. n.: Russkoe bogatstvo, No. 5, 1881, S. 83–86. Ähnliche Beispiele: Char’kov 1881: Rassvet, No. 28, 10. 7. 1881, S. 1100; Orˇsa 1905: Delo Orˇsa, S. 11; Simferopol 1905: Delo Simferopol, S. 4; und Astrachan’ 1915 (vgl. Kap. 4). 477 Zum Gebrauch von Schusswaffen als Bruch mit der moralischen Ökonomie der Unterschichten: Klier, Christians, S. 165–166. 478 Scheinbar eignen sich auditive Signale besonders gut als Auslöser, vgl. McPhail, Crowd, S. 435. 479 Z.B. Pravo, No. 25, 25. 6. 1906, S. 2250; Izgoev, Politiˇceskaja, S. 141; Juˇznye zapiski, No. 46, 13. 11. 1905, S. 59 f.; Lavrinoviˇc, Kto, S. 47; allgemein: Stepanov, Cˇernaja, S. 75.

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nen« im Oktober 1905 mitgeführt wurden. In vielen Fällen ist zweifelhaft, ob diese tatsächlich beschädigt wurden, und wenn ja, wie.480 Angesichts der ungeheuren Symbolkraft spielte das aber keine Rolle: Ein Angriff auf den Zaren war ein Angriff auf alle treuen Untertanen, ein Schuss auf eine Ikone verletzte alle Gläubigen. Das rechtfertigte es allemal, Vergeltung zu üben. Es schlug die Stunde der Anführer. Sie mobilisierten ein Gefolge von Pogromtätern, sei es qua Überzeugung oder auch Zwang. Sen’ka Emec mobilisierte die Männer für den ersten – misslungenen – Sturm auf die besagte Brücke mit »Bitten und Drohungen«. Auf einen Mann, der sich nicht anschließen wollte, schlug er mit einem Stock ein.481 Einem Stadtbürger namens Babiˇc gelang es später, bereits bestehende Gruppen für das Pogrom zu aktivieren: Er war es, der, zu Pferd über mehrere Dörfer reitend, mehr oder weniger vollständige Bauerngemeinden in die Stadt führte.482 Darüber hinaus gab es Akteure, die sich insofern an die Spitze anderer Täter stellten, als sie zu bestimmen versuchten, gegen wen oder was sich die Gewalttaten richten sollten. Das war nicht nur für machthungrige Personen attraktiv. Wer über die Gewalt gebot, konnte sich nämlich auch für die Verschonung von Gewalt fürstlich entlohnen lassen. Babiˇc etwa führte die Menge zu einer in Zˇitomir gelegenen Lederfabrik und trat mit deren Wächter in Verhandlung. Dieser bot fünfzig, einhundert, zweihundert Rubel an, um die Fabrik zu retten, aber Babiˇc verlangte fünfhundert – mehr als drei Jahresgehälter eines Schutzmannes. Das

480 Juˇznye zapiski, No. 45, 6. 11. 1905, S. 89; Juˇznye zapiski, No. 46, 13. 11. 1905, S. 61–63; Bogojavlenska, Revolution, S. 281; Delo Simferopol, S. 36; allgemein: Stepanov, Cˇernaja, S. 80–82; Sˇukˇsina, Cˇernosotennye, S. 113; es gibt aber auch nicht wenige Fälle, in denen die Zerstörung von Abbildern des Zaren oder von Ikonen durch Regimegegner relativ gut belegt ist: Rasstreljali, S. 39; Juˇznye zapiski, No. 45, 6. 11. 1905, S. 58–61. 481 Zitat: Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 4. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 16–16ob; Protokoll der Zeugenaussage von Svenickij, Pavel Petroviˇc, 6. 5. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 28–28ob. 482 Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 3; in ähnlicher Weise wurden manchmal auch Handwerkergemeinschaften, die sog. arteli, für Pogrome mobilisiert. Hillis, Between, S. 389.

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überstieg die Möglichkeiten des Wächters, und die Anlagen der Fabrik wurden zerschlagen.483 Manche Täter leisteten einen besonderen Beitrag zum Pogrom, indem sie die Eskalation schrittweise vorantrieben und damit die Interventionsschwelle von Polizei und Militär auf die Probe stellten; wenn ihnen nichts geschah, zogen andere nach.484 So war es etwa in dem Fall, als ein gewisser Alexander Tarabukin auf dem Kathedralenplatz in Zˇitomir den Juden Nuger, der gerade auf eine Straßenbahn aufgesprungen war, wieder herunterzerrte, mit einem Stein auf ihn einhieb und die Umstehenden aufforderte, es ihm gleichzutun. Nuger starb unter ihren Schlägen und Tritten.485 Anführer spielten für das Gelingen eines Pogroms zweifellos eine große Rolle. Die einen schufen Anlässe, die anderen mobilisierten Täter, wieder andere leiteten sie. Und doch berechtigt diese Beobachtung nicht dazu, von »Schwarzhundertern« oder mit Paul Brass von »institutionalized riot systems« zu sprechen. Nichts deutet darauf hin, dass Männer wie Emec, Babiˇc und Tarabukin miteinander in Verbindung standen. Ihr Handeln wirkt auch nicht so, als wären sie einem vorgefassten Plan gefolgt. Dafür war die Situation zu komplex und die tatsächliche Erfahrung mit Pogromen zu gering, denn »endemisch« war Pogromgewalt bestenfalls an sehr wenigen Orten im Russischen Reich. Odessa (1821, 1859, 1871, 1881, 1900, 1905) und Ekaterinoslav (1883, 1892, 1898, 1905) wären zwei

483 Volynskaja ˇzizn’, No. 202, 23. 6. 1907, S. 3; andere Beispiele von Schutzgelderpressung durch Pogromtäter: Furman, Z. Sˇ., Aussage, wohl 31. 5. 1905, CDIAU f. 318, op. 1, d. 657, l. 173ob–174; Saratovskij gubernator an g. MVD, 5. 7. 1892, GARF f. 102, op. 49 (2), d. 124, l. 69–71; Russkij evrej, No. 18, 1. 5. 1881, S. 689; Krever, Gomel’skij, S. 34 f.; Hamm, Kiev, S. 198. Ein Schutzmann verdiente zwölf Rubel im Monat. Nacˇ al’nik Volynskogo ochrannogo otdelenija an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 30. 3. 1904, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 1ob–2. 484 Horowitz, Deadly, S. 73; vgl. Katz, Epiphanie, S. 74. 485 Prokuror Zˇitomirskogo OS an Prokuror Kievskoj SP, predstavlenie, Kopie, 30. 4. 1905, RGIA f. 1405, op. 108 cˇ . 2, d. 6817, l. 12ob; Prokuror Kievskoj SP an Ministr Justicii, 20. 6. 1905, RGIA f. 1405, op. 108, cˇ . 2, d. 6817, l. 45; Linden, Judenpogrome, S. 51. Das geschah, nachdem Nikolaj Blinov ganz in der Nähe ermordet worden war. Das Tor zur tödlichen Gewalt war also schon vor Tarabukins Tat aufgestoßen. Das heißt aber nicht, dass es überflüssig war, wenn der zweite Mord die Botschaft des ersten wiederholte, nämlich dass die versammelte Staatsmacht nicht verhinderte, dass Unschuldige brutal ermordet wurden.

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Beispiele.486 Für fast alle anderen Orte im Reich galt, dass es vor der zweiten Pogromwelle entweder gar keinen lokalen Präzedenzfall gab oder nur einen, der bereits über zwanzig Jahre zurücklag. Die Pogrome von 1881/82 insgesamt lieferten ein Handlungsmodell für spätere Zeiten, das war wichtig. Dennoch waren bei den Pogromen kaum »Wiederholungstäter« am Werk.487 Am ehesten wäre das in Odessa oder Ekaterinoslav denkbar gewesen, aber die dortige Pogromdynamik unterschied sich nicht im Jahr 1905 maßgeblich von derjenigen an anderen Orten. Zwar gab es unzählige Pogrome im Russischen Reich, aber weil sie zeitlich stark konzentriert in Wellen auftraten, konnten keine »institutionalisierten« Täternetzwerke heranwachsen. Die Pogrome geschahen nicht zufällig. Sie geschahen, weil es Personen gab, die alles taten, um sie herbeizuführen, und dafür teils erhebliche Risiken in Kauf nahmen. Wenn es Urheber der Pogrome gab, dann waren es diese Akteure. Aber man sollte nicht vergessen: Auch sie waren nur erfolgreich, wenn die Interaktion mit den anderen Akteuren entsprechend lief. Viele, die ein Pogrom anstiften oder anführen wollten, setzten sich nicht durch. (Dass die Quellen darüber meist schweigen, ist maßgeblich auf die Logik der Quellenproduktion zurückzuführen und vermutlich nicht darauf, dass das selten vorkam.) Sie waren keine Einzeltäter, gehörten aber auch nicht zu Netzwerken von »Pogrom-Spezialisten«.488 Sie handelten zielgerichtet, kontrollierten die Situation aber nur, wenn andere Akteure es erlaubten. Ihre Ziele waren eher kurzals langfristig: Sie wollten ihre Opfer schlagen, um sie für vermeintliche Grenzüberschreitungen zu bestrafen, sie zu »zügeln«, wie es in den Quellen heißt. Aber sie wollten auch rauben und plündern, sie wollten sich in der Gewalt als mächtig erleben und später mit ihren Taten

486 Dabei unterschieden sich jeweils die Tätergruppen. Die frühen Pogrome in Odessa waren maßgeblich eine Sache der griechischen Minderheit, nicht aber die späten. In Ekaterinoslav standen die Pogrome meist im Zusammenhang mit Arbeiterunruhen. Deren Hauptträger, die wenig qualifizierten Arbeiter, blieben aber nicht für lange Zeit in der Stadt, sondern kehrten nach wenigen Jahren wieder in ihre Heimatdörfer zurück. Zu dem weniger bekannten und in seinen Ausmaßen recht begrenzten Pogrom in Odessa von 1900: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 31–34; Herlihy, Odessa, S. 304. 487 Bergmann, Pogrome 2002, S. 448. 488 Brass, Introduction, S. 12–14.

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prahlen.489 Insofern lagen die Zeitgenossen nicht ganz falsch, wenn sie die Pogrome auf »finstere Mächte« zurückführten.490 Nur waren diese Mächte keine Parteien oder Geheimgesellschaften, sondern Gier und Grausamkeit. Pogrome konnten nicht »fabriziert« werden.491 Da es sich um ein komplexes interaktives Geschehen handelte, war es nicht möglich, dass sie in der Hand einzelner Personen lagen. Man konnte sie aber fördern und wahrscheinlich machen. Dazu trugen z.B. Zeitungen und Flugblätter bei, wenn sie Vorstellungen, die über bestimmte Gruppen im Umlauf waren, verstärkten und konkretisierten. Vertreter des Staates hatten einen starken Einfluss darauf, ob es zu einem Pogrom kam. Wenn sie zu wenig dagegen unternahmen, lag das aber weniger daran, dass sie Massenunruhen wünschten. Gouverneure, Polizeichefs und Offiziere hatten mit Kapazitätsproblemen und institutionellen Widersprüchen zu kämpfen, und deshalb steckten sie in der revolutionären Situation des Jahres 1905 in einem Dilemma. Vielerorts erhob eine offen staatsfeindliche Selbstwehrgruppe den Anspruch, die Interessen der bedrohten Minderheit mit Gewalt zu schützen. Auf der anderen Seite gaben sich die Pogromtäter zwar zarentreu, waren aber nicht bereit, sich den Anordnungen der Behörden zu fügen, wenn diese den eigenen Vorstellungen widersprachen. Um beide Kräfte unter Kontrolle zu halten, reichten die Mittel der Administration nicht aus. Die Lösung bestand oft darin, dass die Verantwortlichen abseitsstanden und die Augen verschlossen. Genau so reagierten jedenfalls der Gouverneur und der Polizeimeister von Zˇitomir. Polizisten und Soldaten war es dann überlassen, ob sie den entstandenen Spielraum nutzten, um sich unter die Täter zu mischen oder um ihren Pflichten zu folgen. Wo der Staat seine Verantwortung nicht wahrnahm, wuchs der Einfluss der Einzelnen, und unter ihnen gab es nicht wenige, denen Pogrome eher eine Lust waren als ein Schrecken. Sie konnten versuchen, Furcht und Hass zu schüren, potenzielle Täter herbeizurufen und einen Anlass zur Gewalt zu inszenieren. Meist gingen sie dabei selbst ein Risiko ein, und längst nicht immer hatten sie auch Erfolg. Doch immer dann, 489 »Zügeln«: Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 33ob, 35. 490 Z.B. Kaspij, No. 23, 15. 2. 1905, S. 3; Klier, Russians, S. 390. 491 So Voschod, No. 9, 1906, S. 4–7; Vpered, No. 4, 16. 11. 1906, S. 3.

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wenn sich die Tore zur Gewalt öffneten, hatten sie daran einen großen Anteil. Wer ein Pogrom wünschte, konnte versuchen, es heraufzubeschwören. Dazu bedurfte es keiner Hintermänner aus den gebildeten oder wohlhabenderen Schichten und auch keiner Organisationsstruktur. In den unteren Gesellschaftsschichten gab es genügend Leute wie Sen’ka Emec, die aus Erfahrung wussten, wie Gewalt funktionierte. Und vermutlich wussten sie es weit besser als die meisten rechten Pamphletisten oder die Gymnasiasten in Fantasieuniformen, die später Odessas rechte Kampfverbände dominierten.492 Deshalb mag man von den seit November 1905 entstehenden ultrarechten Vereinigungen weiterhin als den »Schwarzhundertern« sprechen, nicht aber als Urheber der Pogrome. Denn sollte der Begriff eine organisatorische Struktur hinter den Pogromen bezeichnen, so wäre er falsch. Als bloßer Sammelbegriff für die Täter ist er nutzlos. Jüdische Schwarzhunderter? »Schwarzhunderter« war ein politischer Kampfbegriff, und schon deshalb ist bei seinem Gebrauch Vorsicht angebracht. Erst nachträglich eigneten sich ihn rechte Bewegungen an, zunächst war er ein abwertendes Etikett, das Autoren aus dem »progressiven« Spektrum ihren Gegnern anhefteten. Kleinlich war man dabei nicht, und so kam es, dass auch jüdische Gruppen, die der revolutionären Bewegung skeptisch gegenüberstanden, kurzerhand zu »jüdischen Schwarzhundertern« erklärt wurden.493 Dem lag zugrunde, dass sich unter immer größeren Teilen der jüdischen Bevölkerung Unmut über die politisierte Selbstwehr regte. Unumstritten waren die Gruppen ohnehin nie gewesen, und sie hatten sich auch kaum Mühe gegeben, die ganze Breite der jüdischen Bevölkerung (und nicht nur die junge und revolutionäre) zu integrieren. Gerade dass sie subalternen Gruppen eine Statusumkehr ermöglichten, machte sie ja auch so attraktiv: Die Armen forderten Geld von den Reichen; Marginalisierte erhoben sich über die Gemeindeelite, Junge über Alte.494 Teils bereitwillig, teils zähneknirschend wurden die auferlegten »Spenden« ge492 Langer, Corruption, S. 209. 493 Lambroza, Pogrom Movement, S. 255; ders., Jewish Self-defence, S. 1254; Mendelsohn, Class, S. 101. 494 Ebd., S. 105; Ury, Barricades, S. 109–110; Shtakser, Structure, S. 206–207.

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zahlt, auch wenn viele ahnten, dass die damit angeschafften Waffen mindestens ebenso sehr für den bewaffneten Aufstand wie für die Selbstverteidigung gedacht waren. Die Pogromgefahr, genauer, das Versprechen der Selbstwehr, vor ihr zu schützen, schien alles zu rechtfertigen. Doch als die Oktoberpogrome über das Land fegten, kam die Enttäuschung. Hier und dort hatte die politisierte Selbstwehr einen Straßenzug verteidigt oder die Täter für einige Zeit aufgehalten, aber insgesamt war die Erfolgsbilanz verheerend.495 Nun wurden Stimmen lauter, die grundsätzliche Zweifel an der politisierten Selbstwehr anmeldeten. Sie stellten die zentrale These der Revolutionäre infrage, dass die Pogrome letztlich Werk des Staates seien. Und sie zweifelten am Sinn der Angriffe auf Vertreter der Staatsmacht, zumal wenn dabei der Eindruck entstand, die Taten seien im Namen der Juden insgesamt verübt worden. Vielleicht kam manchen jene Passage aus den Sprüchen der Väter in den Sinn, wo es heißt: »Bete für das Wohl der Obrigkeit, denn gäbe es keine Furcht vor ihr, würde einer den anderen lebendig verschlingen.« (Avot 3:2)496 Dass die bewaffneten revolutionären Gruppen darüber hinaus immer mehr und immer wahlloser Gewalttaten verübten, gab vielen Juden einen zusätzlichen Anstoß, sich von den Radikalen abzuwenden.497 Aber wie, wenn nicht mit den Kampfgruppen der revolutionären Parteien, sollte man der Pogromgefahr begegnen? Eine Möglichkeit waren neue Selbstwehrgruppen, die nicht unter der Kontrolle der Revolutionäre standen. Weil sich Letztere aber oft weigerten, in Gruppen mitzuwirken, die sie nicht dominierten und die nicht als »Organ des politischen Kampfes gegen die aktuelle Regierung« taugten, verfügten solche neuen Selbstwehren nur über geringe Ressourcen.498 Wohl deshalb entstanden nur wenige, z.B. in Vil’na, Odessa oder in Riga, doch das genügte der bundistischen Zeitung Poslednie izvestija bereits, um den »Krieg an zwei Fronten«, gegen Autokratie und Bourgeoisie, für eröffnet 495 Frankel, Prophecy, S. 151–155. 496 Abramson, Prayer, S. 167. Eine ähnliche Schlussfolgerung zog jedenfalls M. O. Gersˇenson wenig später in den berühmten »Vechi«. Budnickij, Rossijskie, S. 59. 497 Selbst die Führung des Bundes suchte Wege, um die Gewalt der revolutionären Organisationen einzudämmen. Lambroza, Jewish Self-defence, S. 1252–1254; Jurenev, Rabota, S. 190; Tobias, Jewish, S. 248. 498 Pis’mo Viktora, ob otnoˇsenii Bunda k »Komitetu oborony«, 1906, RGASPI f. 271, op. 1, d. 274, l. 1; Doklad CK Bunda o samooborone na 7-m s’’ezde Bunda vo L’vove, September 1906, RGASPI f. 271, op. 1, d. 265, l. 1–2.

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zu erklären.499 Ein Erfolg der »konservativen« Selbstwehrorganisationen war damit noch unwahrscheinlicher.500 Eine Alternative gab es, nämlich die Kooperation mit den Behörden. Aus der Sicht von Kommentatoren aus dem linken Spektrum war das ein Tabubruch, der nur durch die Böswilligkeit oder geistige Beschränktheit der jüdischen Elite zu erklären war.501 Diese Empörung ist insofern verständlich, als sich die Interessen der eher konservativen Juden und der Staatsmacht nicht zuletzt beim Kampf gegen die revolutionäre Bewegung überschnitten. Deshalb kam es häufiger vor, dass Juden die Polizei bei der Festnahme jüdischer Revolutionäre unterstützten. Offenbar sahen sie in ihnen weniger Befreiungskämpfer als Störenfriede.502 Im Innenministerium wusste man, dass mitnichten alle Juden radikal gesinnt waren, und versuchte, die konservative Elite in die eigenen Versuche zur Bewahrung der Ordnung einzubeziehen. Nach dem Pogrom von Zˇitomir wurden die Gouverneure und Stadtkommandanten in einem Zirkular aufgefordert, nicht nur alles zu unternehmen, um Pogrome zu verhindern, sondern zu diesem Zweck auch mit den »vernünftigen« Teilen der jüdischen Bevölkerung in Kontakt zu treten. Gemeinsam sollten Wege gefunden werden, um die radikalen Juden davon abzuhalten, dass sie ihren Beitrag zur Gewaltdynamik leisteten.503 War das wirklich ein Versuch, die Juden zu »spalten«?504 Tatsächlich waren die Juden des Reiches nicht homogen, und vor allem begeisterten sich nicht alle gleichermaßen für den gewaltsamen Umsturz. Die (meist schweigende) Mehrheit der Juden im Reich war religiös-konservativ, sodass es einer künstlichen Spaltung gar nicht bedurfte.505 Nur für eine kurze Zeit, etwa von Anfang 1904 bis zu den Oktoberpogromen 1905, verdeckte das Versprechen der politisierten Selbstwehr die Risse, die durch die jüdische Bevölkerung verliefen. Man könnte auch sagen, dass sich die konserva499 Jurenev, Rabota, S. 187–191; Geifman, Thou, S. 42; Odesskij pogrom, S. 49 f.; vgl. auch Dinur, Mir, S. 247; Zitat: Tobias, Jewish, S. 320. 500 Ebd., S. 321. 501 Klier, Solzhenitsyn, S. 57; Vestnik Bunda, No. 1–2, Jan.–Feb. 1904, S. 14–16; Odesskij pogrom, S. 80. 502 Ury, Barricades, S. 109 f.; Lindemann, Esau, S. 286; Tobias, Jewish, S. 257; Shtakser, Structure, S. 201. 503 Amanˇzolova, Evrejskie, S. 122. 504 Tobias, Jewish, S. 230. 505 Vital, People, S. 577; Riga, Bolsheviks, S. 64.

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tive Mehrheit von einer radikalen Minderheit dominieren ließ. Solange das der Fall war, konnte die Initiative des Innenministeriums nicht besonders erfolgreich sein. Viele Beamte lasen das Zirkular auch gar nicht als Aufforderung zum Dialog, weil sie eben nicht die eigenständigen Interessen der »vernünftigen« Juden erkannten. Deshalb luden sie Gemeindevertreter vor, machten ihnen Vorhaltungen, drohten teils regelrecht mit Pogromen und erklärten, »die Juden« seien letztlich selbst für die Gewalt verantwortlich. Auch wo das nicht der Fall war, konnten Mahnungen der jüdischen Elite keine große Wirkung entfalten, solange sich die Revolutionäre mit der Auffassung durchsetzen konnten, dass jeder, der sich mit dem Staat gemeinmachte, ein »jüdischer Schwarzhunderter« sei.506 Doch die Macht der Revolutionäre basierte auf dem Versprechen der Selbstwehr, und wo dieses erschüttert war, öffneten sich neue Möglichkeiten. So war es in Zˇitomir. Während die dortige Selbstwehr anderenorts glorifiziert wurde, machte sich unter den örtlichen Juden Ernüchterung breit. Immer zahlreicher wurden die Stimmen, die öffentlich Kritik an der politisierten Selbstwehr äußerten, und im Sommer wurde die Gründung eines (jüdisch-)»nationalen« Pendants und einer liberalen jüdischen Partei diskutiert.507 Umgesetzt wurde beides nicht, aber man spürte, dass die Macht der Revolutionäre über die jüdische Gemeinde gebrochen war. Überdeutlich wurde das im Oktober 1905, als auch in Zˇitomir alle Wege in ein erneutes Pogrom zu führen schienen. Es gab einen Generalstreik, revolutionäre Demonstrationen, Attentate. Im Stadtzentrum lieferten sich über 150 Juden und Altgläubige eine große Schlägerei, die mit zahlreichen Verletzten und einem toten »Christen« endete (er hatte einen Offizier attackiert und war daraufhin vom Militär erschossen worden). Als darauf ein Flugblatt offen forderte, die Juden zu schlagen, und zu allem Überfluss die Polizei streikte, bezweifelte vermutlich niemand mehr, dass ein neues Pogrom bevorstand. Sogar das Datum meinte man zu kennen, den 21. Oktober, an dem eine »patriotische Ma-

506 In Melitopol’ scheinen Gemeindevertreter bereits im Januar 1905 auf eine Warnung des Polizeichefs hin eine oppositionelle Kundgebung verhindert zu haben. Naˇc. Tavriˇceskogo GZˇU, 18. 1. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 5 cˇ . 32 t. 1, l. 8–10. 507 Tobias, Jewish, S. 320; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 2. 5. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27 l. A, l. 36; Linden, Judenpogrome, S. 53.

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nifestation« die Thronbesteigung Nikolaus’ II. feiern würde.508 In Dutzenden, vielleicht Hunderten Städten führte genau diese Situation unmittelbar zum Pogrom. Doch in Zˇitomir kam es anders. Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzte, befanden sich unter den Teilnehmern Tausende Juden. Sie trugen Porträts des Zaren, sangen die Staatshymne und machten dem Gouverneur und dem Bischof ihre Aufwartung.509 Es gab heikle Situationen, wenn beispielsweise beim Wohnhaus Isser Binˇstoks einige Demonstranten forderten, man müsse seine Wohnung durchsuchen, da dieser ein Porträt des Zaren besitze, dessen er »nicht würdig« sei. Gut möglich, dass das ein Versuch der »Patrioten« war, ein Pogrom auszulösen. Aber es gelang, die Lage zu entschärfen: Drei Personen wurden bevollmächtigt, Binˇstoks Wohnung zu inspizieren, und als sie erklärten, dass es dort kein Abbild des Zaren gebe, zogen alle friedlich weiter.510 Es gab keine Gewalt, das war das Wichtigste. Es ist unmöglich zu sagen, ob alles anders verlaufen wäre, hätten nicht so viele Juden der Stadt demonstriert, dass sie weder Revolutionäre noch Staatsfeinde waren. In anderen Städten kam diese Art des Loyalitätsbeweises zu selten vor, um verallgemeinernde Aussagen zu treffen.511 Das Beispiel zeigt jedoch, was möglich war, wenn sich eine jüdische Gemeinde von der Dominanz re-

508 Jur’ev-Byk, 1905, S. 83–85; Volynskij gubernator an Kievskij Podol’skij i Volynskij general-gubernator, 12. 10. 1905, CDIAU f. 442, op. 854, d. 426, l. 18–18ob; Naˇc. Volynskogo GZˇU an DP, 25. 10. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 1350 cˇ . 27, l. 69–70; Volynskij gubernator an DP, 4. 11. 1905, GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 2000 cˇ . 1, l. 17–17ob; Flugblatt, handgeschrieben, o.D. [gefunden 21. 10. 1905], GARF f. 102, op. 233 (OO), d. 4 cˇ .28, l. 38; Naˇc. Volynskogo GZˇU: Telegramm an DP, 19. 10. 1905, GARF f. 102, op. 233, d. 1350 cˇ . 27, l. 60. 509 Voschod, No. 12, 24. 3. 1906, S. 35; Zafran, 1905, S. 168; Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 581; Volynskij gubernator an DP, 22. 10. 1905, GARF f. 102, op. 233, d. 1350 cˇ . 27, l. 65ob. 510 Ebd., S. 66. 511 Ähnlich wie in Zˇitomir war es in Novograd-Volynsk. Omel’janˇcuk, Cˇernosotennoe 2007, S. 581. Es gab aber auch das Gegenbeispiel Balta, wo Juden trotz oder sogar gerade wegen ihrer Beteiligung an einem patriotischen Umzug geschlagen wurden. Stepanov, Cˇernaja, S. 84. In Uman’ bat der Hauptrabbiner im Oktober 1905 die revolutionären Juden, die Stadt zu verlassen, weil ihre Anwesenheit die Gewalteskalation beschleunigen würde. Tatsächlich, so die Erinnerungen eines Selbstwehraktivisten, flohen sie zwar nicht, versteckten sich aber. Das Pogrom verlief unblutig. Katz, Generation, S. 88–91.

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volutionärer Parteien befreite. Solange die Revolutionäre auf die Selbstwehr als Erfolgsmodell verweisen konnten, waren sie immun gegen kritische Stimmen. Wer Kritik formulierte, musste ein »Schwarzhunderter« sein, gegebenenfalls eben ein »jüdischer Schwarzhunderter«. Aber auch wer die Revolutionäre kritisierte, wusste vielleicht etwas über Gewalt und Eskalationsprozesse und darüber, inwiefern es möglich und sinnvoll war, sich mit den Behörden zu arrangieren. Auch diese Personen dachten darüber nach, wie man Pogromen am besten entgegenwirkte. Leider wurden ihre Stimmen inmitten von Revolution und Aufruhr kaum gehört.

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4 Einberufungspogrome

Pogrome waren in der Regel nicht das Werk des Staates, das haben die vorangegangenen Kapitel gezeigt. Wie ist vor diesem Hintergrund zu erklären, dass gleichwohl nicht wenige Pogrome maßgeblich von Angehörigen des Militärs verübt wurden? Die Antwort muss in zwei Schritten erfolgen, denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die »Militärpogrome« in zwei unterschiedlichen Situationen auftraten. Das war einerseits die Situation des Krieges: Hier standen Pogrome unmittelbar mit Kampfhandlungen in Verbindung und nahmen oft Züge eines Massakers an. Darum wird es im nächsten Kapitel gehen. Die zweite Situation ist die der Einberufung, die in den Jahren 1904 bis 1905 und 1914 bis 1915 im Zarenreich zu Wellen einer spezifischen Form der Pogromgewalt führte. Was für diese charakteristisch war, zeigt das folgende Kapitel.

Pogrom in Astrachan’ Den Männern, die Anfang September 1915 nach Astrachan’ kamen, weil der Staat sie zu den Waffen gerufen hatte, stand der Sinn nach Aufruhr. Sie sollten die ratniki opolˇcenija 2-go razrjada (»Ersatztruppen zweiter Ordnung«) bilden, gewissermaßen das letzte Aufgebot der zarischen Armee, vergleichbar dem Landsturm im deutschen Kaiserreich. Der 8. September war der erste Tag, an dem sie sich bei den Militärbehörden einzufinden hatten. Aber die meisten zogen stattdessen in Gruppen durch die Straßen, betranken sich, sangen Lieder begleitet von der Ziehharmonika, sie schlugen sich mit Passanten und stifteten Unruhe. Das Bemerkenswerte daran war, dass sie als Opfer ausschließlich die örtlichen Perser aussuchten. Als eine Gruppe ratniki am Wolgaufer auf einen persischen Schuhputzer und einige persische Lastenträger traf, begann sie eine Schlägerei. Dieser erste Gewaltausbruch gab die Richtung für alle weiteren Ausschreitungen des Tages vor. Nach den Lastenträgern nahmen die ratniki nahe gelegene Marktstände ins Visier, wo Perser Obst verkauften. Eine Gruppe von etwa fünfzehn Männern verlangte von den Händlern Geld, warf Waren auf den Boden, kippte Körbe um. Frauen 241

und Kinder nutzten, ähnlich wie bei den Judenpogromen, die Gelegenheit, sich zu bereichern.1 Auch dass sich einzelne Täter an die Spitze der Menge stellten und die vermeintliche Rechtmäßigkeit ihres Tuns inszenierten, erinnert an Judenpogrome: Ivan Karbasov, einer der ratniki, reckte inmitten des Tumults beide Hände in die Höhe. Die eine hatte er sich schon am Vortag bei einem Unfall verletzt und verbunden, die andere blutete, nachdem er einen persischen Händler bedroht und dieser sich mit einem Dolch gewehrt hatte.2 Nun brüllte Karbasov, »die Perser« hätten ihn »massakrieren« wollen.3 Wie nicht anders zu erwarten, »verbreitete sich die Nachricht darüber rasch und mit Übertreibungen«.4 Im Gerücht wurden Ursache und Wirkung vertauscht, denn bald glaubte die ganze Stadt zu wissen, das Pogrom sei die Rache der ratniki für den persischen Angriff auf Karbasov gewesen.5 Als kaum 15 Minuten später Polizei und Kosaken auf den Marktplatz kamen, machten sich die Täter davon. Die meisten setzten mit der Fähre über die Wolga, um nun am anderen Ufer, in der dort gelegenen »Kosakensiedlung« Atamanskaja, Perser aufzuspüren. Diese waren in der kleinen Ortschaft aber schwerer aufzufinden und zu identifizieren, weil es, anders als in Astrachan’, keine typisch »persischen« Berufe wie jene der Obsthändler und Lastenträger gab.6 Doch trotz der Schwierigkeiten wählten die Täter ihre Opfer sorgfältig aus. Sie verprügelten einen Stiefelputzer, einen Waffelbäcker und mehrere Gemüsehändler, plünderten zwei Kolonialwarenläden, das Haus eines Ladenbesitzers und zerschlugen die Fensterscheiben einer Pension, alle Geschädigten waren Perser.7 Wer glaubhaft machen konnte, einer anderen ethnischen Gruppe anzu-

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Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3. Dazu, ob der Händler Karbasov absichtlich verletzt oder ob Karbasov auch dafür selbst verantwortlich war, gibt es unterschiedliche Angaben. Ebd.; Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 11. Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 115. Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3. Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 126ob. Krukovskaja, Rodnoj, S. 17, 31. Auch in Astrachan’ hatte es allerdings einen zweifelhaften Fall gegeben. Ein Händler wurde dort gerettet, weil Unbekannte erklärten, er sei gar kein Perser, sondern Russe. Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 114ob. Astrachanskij vestnik, No. 196, 11. 9. 1915, S. 3; Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 11ob.

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gehören, wie ein offenbar armenischer Händler und ein georgischer Schuster, wurde verschont.8 Kaum war die Polizei aufgetaucht, zogen die Täter wieder weiter, nun ins zweieinhalb Kilometer entfernte Archierejskij poselok, weil es dort zwei weitere Läden in persischem Besitz gab. Unterwegs richteten sie keinen Schaden an.9 Die Unruhen an diesem Tag endeten, als sich abermals Polizei und Kosaken der inzwischen auf etwa zweitausend Menschen angewachsenen Menge entgegenstellten. Die Polizei eröffnete das Feuer, schoss einen Pogromtäter an und verletzte einen weiteren mit dem Säbel. Daraufhin löste sich die Menge auf, der Anführer Ivan Karbasov wurde gemeinsam mit einem Mitstreiter, einem ratnik namens Karl Pracht, offenkundig einem Deutschen, festgenommen.10 Nun waren wieder Reiterpatrouillen die Herren über Astrachan’s Straßen.11 Bis dahin schien es ein Pogrom wie viele andere zu sein, doch am folgenden Tag gab es eine ungewöhnliche Wendung. Hatte sich die Gewalt am Vortag gegen Perser gerichtet, so fielen ihr am zweiten Tag Deutsche zum Opfer, und unter den Tätern befanden sich nun auch Perser.12 Ziel der Angriffe waren zuerst »deutsche« Mehlverkaufsbuden.13 Aus nichtigem Anlass drangen die ratniki in die Läden ein. Bald eilten Frauen und Kinder herbei und trugen Mehl in Säcken, Schürzen und Rockschößen davon.14 »Russische« Mehlläden verschonten die Täter, es sei denn, ihr Besitzer exponierte sich, indem er einem deutschen Kollegen Zuflucht

8 Koˇskin, Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde, 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 1ob–2; Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 123. 9 Ebd., S. 124–126. 10 Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 76. 11 Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 11–11ob. 12 Astrachanskij vestnik, No. 202, 19. 9. 1915, S. 3. 13 Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3. 14 Zur Verteidigung der Täter und als Beleg für ihre patriotischen Motive wurde hervorgebracht, viel Mehl sei auf den Boden geschüttet und folglich nicht gestohlen, sondern unbrauchbar gemacht worden. Allerdings waren die Mehlsäcke so schwer, dass man sie in vollem Zustand nicht ohne Weiteres hätte davontragen können. Möglicherweise wurde also Mehl verschüttet, damit man den Rest leichter wegschaffen konnte. Ein häufiges Maß waren fünf pud, also über 80 kg. Astrachanskij vestnik, No. 198, 13. 9. 1915, S. 4.

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gewährte. Insgesamt wurden sieben »deutsche« und zwei »russische« Mehlbuden verwüstet.15 Da niemand sie aufhielt, suchten die Täter nach weiteren Opfern. Ihre Wahl fiel zunächst auf die zahlreichen in deutschem Besitz befindlichen Geschäfte für Schuhe und Bekleidung sowie auf die große Süßwarenhandlung Sˇarlau. Schaufenster wurden zerschlagen, Schlösser aufgebrochen, und sobald sich die Menge Zutritt verschafft hatte, begann das für Pogrome charakteristische Nebeneinander von Raub und Zerstörung. Geraubt wurden zuerst das Geld sowie wertvolle und leicht transportable Gegenstände.16 Viele Hundert Mäntel, Kleider und Schuhe wechselten so den Besitzer.17 Im Süßwarenladen »beluden sich Jungen, Mädchen und Frauen mit Bonbons, […] stopften sich die Münder mit Schokolade voll, verfütterten Weißbrot an Pferde und zerschlugen, was immer ihnen in den Weg kam«.18 Minder wertvolle Waren wurden nach draußen geworfen, während einiges auch unmittelbar verkauft wurde.19 Das Pogrom hatte mit Angriffen gegen deutsche Läden begonnen (deren Inhaber im Übrigen meist russische Staatsangehörige waren), weitete sich aber allmählich aus. Das wichtigste Merkmal, an dem die Täter ihre Ziele zu erkennen glaubten, war ein fremd klingender Name auf dem Ladenschild. Der Konditor Sˇarlau etwa war seiner Staatsangehörigkeit nach Schweizer, aber das half ihm ebenso wenig wie dem jüdischen Juwelier (und russischen Untertan) Rapoport.20 Auch mehrere Filialen der in den USA ansässigen Nähmaschinenfirma Singer wurden angegrif-

15 Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde, 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 2–3; Astrachanskij gubernator an MVD, Telegramm, 9. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 1ob–2; Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 12–15; Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3; Astrachanskij birˇzevoj komitet, Doklad, o.D. [1915], GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 38–39. 16 Astrachanskij vestnik, No. 198, 13. 9. 1915, S. 4. 17 Astrachanskij vestnik, No. 197, 12. 9. 1915, S. 3; Astrachanskij listok, No. 197, 10. 9. 1915, S. 3. 18 Astrachanskij vestnik, No. 196, 11. 9. 1915, S. 3. 19 Bei Sˇarlau etwa sollen um die 1000 Zuschauer um weniger als zwei Dutzend Plünderer gestanden sein. Ebd. 20 Koˇskin, Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde, 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 4ob; Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 128–132.

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fen sowie die »englische« Werkzeughandlung Kern.21 Vor einer gleichnamigen Apotheke allerdings soll es eine Diskussion in der dort versammelten Menge gegeben haben, ob der Besitzer nun »Deutscher« oder »orthodoxer Russe« sei. Weil sich am Ende die zweite Fraktion durchsetzte, blieb die Apotheke unversehrt.22 In manchen Schaufenstern wurden Porträts des Großfürsten Nikolaj Nikolaeviˇc, Ikonen oder Schilder aufgestellt, die den Besitzer als Russen oder, noch besser, als »orthodoxen, an die Front gerufenen« Russen auswiesen.23 Sicher waren sie trotzdem nicht, denn besonders dort, wo die Plünderungen länger andauerten, gerieten nach einiger Zeit auch die benachbarten Geschäfte ins Visier, ohne dass sich die Täter noch dafür interessierten, wem sie gehörten.24 Am schlimmsten war es im Herzen der Stadt, rund um den Alexandrovskaja-Platz. Dort befand sich mit dem Amtssitz des Gouverneurs, der Stadtverwaltung, der Bibliothek und dem Museum nicht nur das administrative und kulturelle Herz der Stadt, sondern auch die besten Geschäfte. Nur sechs von siebzehn überstanden das Pogrom unbeschadet, und einige der zerstörten Läden trugen Namen ganz ohne deutschen Klang (Zˇarkov, Stepanov, Tavrizov, Ovanesov).25 Insgesamt wurden 41 Geschäfte und Marktstände zerstört oder beschädigt. Verletzt oder getötet wurde jedoch niemand. Das mochte daran liegen, dass sich die meisten Inhaber und Mitarbeiter der angegriffenen Läden auf keine Konfrontation mit den Tätern einließen. Doch auch die wenigen, die den Tätern entgegentraten, wurden nicht attackiert. Anders als noch am Vortag hatten es die Täter offenbar nicht auf diese Art von Gewalt abgesehen.26 Wo waren bei all diesen Geschehnissen Polizei, Militär und der Gouverneur? Wie konnten es die Ordnungshüter dulden, dass direkt gegen21 Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3. 22 Koˇskin, Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde, 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 4ob. 23 Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3; vgl. Astrachanskij vestnik, No. 197, 12. 9. 1915, S. 3. 24 Astrachanskij vestnik, No. 196, 11. 9. 1915, S. 3; Astrachanskij listok, No. 198, 11. 9. 1915, S. 3. 25 Annotierter Stadtplan von Astrachan’, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 7. 26 Nur ein Händler konnte die Täter mit Drohungen von seinem Laden fernhalten. Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 135ob.

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über vom Amtssitz des Gouverneurs ein Schwarzmarkt entstand, auf dem die Plünderer ihre Waren feilboten? Zum Teil war es ähnlich wie bei den Judenpogromen: Es stand eine vergleichsweise geringe Zahl von Sicherheitskräften zur Verfügung, und viele von ihnen wurden nicht dort eingesetzt, wo das Pogrom stattfand, sondern dort, wohin es nicht gelangen sollte. Das Kontingent, das die Banken und die städtischen Alkohollager schützte, fehlte am Ort der Unruhen.27 Außerdem ließen die Täter Polizei und Militär ins Leere laufen.28 Frauen und Kinder hoben die Schwelle für den Einsatz von Schusswaffen.29 Geschickt spielten die Täter ihre zahlenmäßige Stärke gegen die Handlungslogik der Sicherheitskräfte aus. Die Abläufe glichen denen bei einem klassischen Judenpogrom, das Zusammenspiel der Akteure funktionierte nach demselben Muster. Nur ein Aspekt war am Pogrom von Astrachan’ ungewöhnlich, nämlich die fast willkürliche Wahl der Opfer. Damit ist nicht gemeint, dass gegen Ende des zweiten Pogromtages auch Läden angegriffen wurden, die schwerlich für »deutsch« gehalten werden konnten. Dass die Zielgenauigkeit der Gewalt nachließ, wenn die Täter überzeugt waren, auch ohne den Schutz zustimmender Zuschauer ungestraft handeln zu können, war nicht ungewöhnlich. Aber warum hatten die Täter über Nacht das Feindbild gewechselt? Und warum griffen sie überhaupt Perser und Deutsche an?

Gewalt gegen wen? Was die Deutschen als Opfergruppe betrifft, liegt es nahe, eine Verbindung zu dem bekannteren und schwereren Deutschenpogrom zu sehen, das sich einige Monate zuvor, im Mai 1915, in Moskau ereignet hatte.30 Es 27 Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 13. 28 Astrachanskij birˇzevoj komitet: Doklad, o.D. [1915], GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 40; Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 85, 87ob. 29 Astrachanskij gubernator an MVD, Telegramm, 9. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 1ob. 30 Der Sachschaden in Moskau belief sich auf etwa 50 Millionen Rubel, in Astrachan’ waren es 750000 Rubel. Dönninghaus, Deutschen, S. 387; R. A. Astvacaturov an MVD, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 61.

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war seit über 80 Jahren das einzige größere Pogrom in einer der Hauptstädte des Russischen Reiches.31 Die Autoren, die sich mit diesem Ereignis beschäftigt haben, betrachten es als Folge der in dieser Zeit geführten Kampagne gegen die »Feinde im Inneren«, womit vor allem Juden und Russlanddeutsche gemeint waren.32 Schon seit den 1860er Jahren gab es Unmut angesichts der bedeutsamen Rolle vor allem der deutschstämmigen Eliten in den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.33 Nun nutzten verschiedene subalterne Gruppen den Diskurs über die inneren Feinde, indem sie es zum Ausdruck von Vaterlandsliebe erklärten, wenn sie Personen drangsalierten und beraubten, die in der funktionalen Hierarchie über ihnen standen. So lässt es sich jedenfalls erklären, dass beim Moskauer Pogrom Arbeiter gegen die Leitungen ihrer Betriebe aufbegehrten, danach Konsumenten gegen Händler, Gesetzesbrecher gegen Polizisten, Arme gegen Wohlhabende und schließlich Landbewohner gegen Gutsbesitzer. Immer belegten die Täter ihre Gegner mit dem inhaltlich unscharfen, aber ungeheuer diskreditierenden Attribut »deutsch«. Wenn man die Moskauer Ereignisse vor diesem Hintergrund betrachtet, stehen sie auch weniger isoliert da. Denn auch an anderen Orten gab es zeitgleich Arbeiterunruhen, Agrarunruhen, Gewalt gegen Vertreter der Staatsmacht und Preisunruhen in großer Zahl,

31 Für ein weiteres Beispiel muss man bis ins Jahr 1831, zu den Choleraunruhen in Sankt Petersburg, zurückgehen. Die übrigen Deutschenpogrome von 1914/15 in Moskau und Sankt Petersburg waren in ihrem Umfang sehr begrenzt. Zu 1831: Mörters, Hurra. 32 Im Einzelnen unterscheiden sich die Bewertungen erheblich. Grob lässt sich eine russische Deutung, die in dem Pogrom einen Ausdruck fehlgeleiteter patriotischer Gefühle sieht, von einer angloamerikanischen unterscheiden, die den neuen »ökonomischen Nationalismus« betont, also das Bestreben, der russischstämmigen Bevölkerung eine dominante Rolle im Wirtschaftsleben zu verschaffen. Kir’janov, Massovye, S. 6; Rjabiˇcenko, Tri; Savinova, Rossijskij, S. 90–97; Gatagowa, Chronik; Porˇsneva, Krest’jane, S. 138; nicht ganz entschieden: Dönninghaus, Deutschen, S. 369–467. Lohr, Nationalizing; ders., Patriotic, S. 607; ders., 1915, S. 41; ders., Politics; Gatrell, Russia’s, S. 177–187. Skeptisch zur Relevanz von antideutscher Kampagne und Ressentiment: Fedjuk, Kampf; eine Deutung als consumption riot: Ruane, Empire, S. 224–232. 33 Renner, Russischer; Weeks, Nation, S. 8–38; allgemein zur Entwicklung des russischen Nationalismus und zu seinem spannungsreichen Verhältnis zum imperialen Gedanken: Rogger, Nationalism; Miller, Romanov; Engelstein, Slavophile; Hosking, Russischer, S. 171–173; Löwe, Nationalismus.

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und nicht selten wiesen sie eine interethnische, oft antideutsche Komponente auf, weil damit die Chancen stiegen, Wohlwollen oder Duldung der Obrigkeit zu gewinnen.34 Fragt man nach dem Zusammenhang zwischen Pogromgewalt und antideutschem Diskurs, so sollte dieser Selbstermächtigungsaspekt im Vordergrund stehen. Das ist jedenfalls plausibler als das Argument, der Kampf gegen die inneren Feinde habe die Gewalt gefördert, indem er sie in einen »ideologisch kohärenteren« Kontext stellte.35 Denn ob den Pogromtätern wirklich daran gelegen war, ideologische Widersprüche zu vermeiden, darf bezweifelt werden. In Astrachan’, wo man zuerst die Perser und dann die Deutschen schlug, war dies gewiss nicht der Fall. Das Pogrom von Astrachan’, immerhin neben demjenigen in Moskau das einzige größere Deutschenpogrom jener Zeit, stellt den »ökonomischen Nationalismus« als Erklärungsmodell jedoch noch radikaler infrage. Denn in den Quellen, die die Gewalt deuteten, spielte er keine Rolle, obwohl die antideutsche Kampagne selbstverständlich auch in Astrachan’ rezipiert worden war. Nur ein einziges Dokument aus dem Polizeidepartement interpretierte das Pogrom als Ausdruck des Kampfes gegen die Übermacht der deutschen Händler. Die meisten Beobachter beschrieben

34 Fedjuk, Kampf, S. 104. Auf einen Lernprozess deutet z.B. hin, dass es in Moskau gut einen Monat vor dem Deutschenpogrom eine Preisrevolte ohne nationale Färbung gab, die relativ rasch von der Polizei beendet wurde. Kir’janov, Uliˇcnye, S. 65. Beispiele von Arbeiterunruhen: Naˇc. Char’kovsk. GZˇU an DP, 13. 2. 1915, GARF f. 102, op. 245 (OO), d. 247 l. 1–4; Char’kovskij gubernator an DP, 23. 6. 1915, GARF f. 102, op. 245 (OO), d. 247, l. 24; Vjatskij gubernator: Otˇcety o nastroenii naselenija, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 15, l. 7; Voroneˇzskij gubernator: Otˇcety o nastroenii naselenija, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 14, l. 11ob; Naˇc. Samarskogo GZˇU an DP, 4. 6. 1915, GARF f. 102, op. 245 (OO), d. 247, l. 15ob; vgl. auch Naˇc. Odesskogo GZˇU an Glavnyj naˇcal’nik Odesskogo Voennogo okruga und an Odesskij general-gubernator, 10. 6. 1915, GARF f. 102, op. 245 (OO), d. 247, l. 18; Kir’janov, Majskie, S. 142–143; vgl. Lohr, Nationalizing, S. 50–52. Agrarunruhen: Naˇcal’nik Ekaterinoslavskogo GZˇU an DP, 16. 6. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 18, l. 7–8; vgl. Saratovskij gubernator: Otˇcety o nastroenii naselenija, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 62, l. 3ob, 7, 8; Chersonskij gubernator: Otˇcety o nastroenii naselenija, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 84, S. 4ob; Naˇc. ZˇU g. Odessy an DP, 6. 3. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 84, l. 6–6ob. Zu Teuerungsunruhen: Kir’janov, Massovye, S. 6; Sahadeo, Russian, S. 171–174. 35 Lohr, 1915, S. 41 f.

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die Ereignisse im Sinne von Preisunruhen, als Ausdruck allgemeiner Unzufriedenheit oder bloßer irrationaler Gewalt.36 Die Stoßrichtung der Gewalt blieb auch in zwei Flugblättern, die in Astrachan’ nach den Unruhen gefunden wurden, merkwürdig uneindeutig. »Abschrift. Geht nicht, [Truppen der] Zweiten Ordnung, streikt, weg mit der Polizei, zerschlagt die Schneiderwerkstätten, sie ziehen uns die Haut ab, lass sie nicht arbeiten, schlag die Deutschen, Perser, alle Reichen.« »Abschrift. Geht nicht, [Truppen der] Zweiten Ordnung, streikt, erhebt euch gegen alle, für was schlagen sie sich, das hat keinen Sinn, zerstört die Schneiderwerkstätten, lasst sie nicht arbeiten, geht nicht in den Krieg.«37 Beide Texte waren gleichermaßen idiosynkratisch, beide wurden vermutlich von demselben Autor, zum selben Anlass und für dieselbe Zielgruppe verfasst. Zentrales Anliegen war, die Einberufenen zum Unge-

36 Otˇcet o sostojanii Astrachanskoj gub. za 1915 g., o.D., RGIA f. 1276, op. 17, d. 461, l. 9–15; das zweite Zitat: g. MVD, Vsepoddannejˇsij doklad, Kopie, 16. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 142, l. 77–78; Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 12ob; Bericht über die Unruhen in Astrachan’, 4. 10. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 54–57ob; Astrachanskij birzˇ evoj komitet, Doklad, o.D. [1915], GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 41; vgl. Astrachanec, No. 375, 28. 9. 1915, S. 3. Die Ausnahme: Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 4–6. Berichte über »deutsche Greuel« in der Astrachan’er Lokalpresse: Astrachanskij vestnik, No. 27, 5. 2. 1915, S. 5; Astrachanskij listok, No. 142, 1. 7. 1915, S. 5; Astrachanskij listok, No. 143, 2. 7. 1915, S. 3; Astrachanskij listok, No. 145, 4. 7. 1915, S. 2; Astrachanskij listok, No. 158, 19. 7. 1915, S. 6; Astrachanskij listok, No. 166, 30. 7. 1915, S. 3; Astrachanskij listok, No. 194, 5. 9. 1915, S. 3; Astrachanskie guberskie vedomosti, No. 110, 20. 9. 1915, S. 3; zum Diskurs über die »Deutschen Greuel«: Engelstein, Belgium, S. 13–38. Mit lokalem Bezug: Astrachanskie guberskie vedomosti, No. 104, 6. 9. 1915, S. 2–3; Astrachanskij vestnik, No. 194, 7. 9. 1915, S. 5; Naˇc. Astr. GZˇU an DP, 9. 3. 1915, GARF f. 102, op. 73 (2), d. 254, l. 1–6. 37 Flugschriften, Kopie, o.D. [Sept. 1915], GARF f. 102, op. 212 (7), d. 3150, l. 4–4ob. Beide Flugblätter wurden zur selben Zeit und am selben Ort gefunden. Die Diktion der Übersetzung folgt dem Originaltext, auch der schwankende Numerus im ersten Text entspricht dem Original. Beide Texte beginnen im Original mit dem Wort kopija. Offensichtlich sollte die Sprache der Amtsstuben imitiert werden.

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horsam und zur Zerstörung der Schneidereien zu bewegen. Die Stoßrichtung gegen Deutsche und Perser war aber offenbar so nachrangig, dass sie in der zweiten Variante entfallen konnte. Warum ausgerechnet sie schlagen? Der Autor konnte oder wollte es selbst nicht sagen. Noch rätselhafter als die antideutsche Ausrichtung des Pogroms ist die antipersische. Es ist nicht einmal klar, ob es bei der Bezeichnung der Opfer als »persisch« um deren ethnische Zugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit ging. Möglicherweise handelte es sich auch um turksprachige Menschen aus dem zu Persien gehörenden »Süd-Aserbaidschan«, die unter den Wanderarbeitern in der kaspischen Region stark vertreten waren.38 Fest steht jedoch, dass »Perser« das Bild der Stadt prägten. Zwar gab es unter ihnen reiche Kaufleute, aber auf den Straßen traf man sie, wie bereits erwähnt, meist als Lastenträger oder Obsthändler an.39 Perser waren eine der weniger bedeutenden Minderheiten in der Stadt, weit weniger wichtig als beispielsweise die armenische Händler-Diaspora oder die tatarischen Saisonarbeiter.40 Sie gehörten auch nicht zu den »Feinden im Inneren«.41 Es gab ferner keine bedeutende Tradition antipersischer Ressentiments, obwohl beispielsweise persische Lastenträger auf dem Arbeitsmarkt unmittelbar mit »Russen« konkurrierten. Die letzten größeren Schlägereien vor diesem Hintergrund lagen beinahe dreißig Jahre zurück.42 Im Unterschied zu den deutschen Kaufleuten war auch die Teuerung kein drängendes Thema, weil die Waren persischer Händler weder für die Ernährung noch die Bekleidung der Bevölkerung von größerer Bedeutung waren.43 Sucht man gezielt nach Äußerungen über die Perser von Astrachan’, stößt man mal auf Herablassung, mal auf Exotisierung, mal auf Anerkennung. Vorherrschend war aber Gleichgültigkeit. Warum gab es dann ausgerechnet Gewalt gegen Perser? In den Wor38 Die offizielle Statistik von 1913 fasste über 17000 »Tataren und andere Mohammedaner« ohne weitere Differenzierung. Statistiˇceskie svedenija o cˇ islennosti i sostav gorodskogo naselenija Astrachanskoj gub., o.D. [1913], RGIA f. 1288, op. 25, d. 4, l. 7. Die Volkszählung von 1897 erfasste eine dreistellige Zahl von Farsi-Sprechern in der Region. Bauer u.a., Nationalitäten; Sˇtyl’ko, Illjustrirovannyj, S. 9. 39 Krukovskaja, Po, S. 19, 23 f.; Astrachan’, S. 4. 40 Ebd. 41 Persien wurde eher als Schlachtfeld verstanden, denn als eigenständiger Akteur. Matin-Asgari, Impact, S. 23. 42 Dem’janov, Putevoditel’, S. 248. 43 Astrachanskij vestnik, No. 189, 2. 9. 1915, S. 3–4.

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ten des Gouverneurs handelte es sich um nichts anderes als eine »grundlose Schlägerei«,44 und eine Kommission des Innenministeriums stellte ratlos fest: »Die Menge […] überfiel deshalb ausschließlich Perser, weil sie Persjuki [beleidigend für Perser] waren.«45 Offenbar hatte diese Gewalt keinen Sinn, oder genauer: Ihr Sinn schien in den Gewalttaten selbst zu liegen.

Rekruten als Täter Einfacher als die Frage, wie die ratniki zur Wahl ihrer Opfergruppe kamen, ist diejenige zu beantworten, warum sie die Gewalt suchten. In der Kultur der Unterschichten galt die Einberufung nicht nur in Kriegszeiten schon fast als Schicksalsschlag. Angesichts dieses harten Loses verdienten die Betroffenen deshalb gewissermaßen eine Entschädigung. Diese bestand darin, dass sie eine Art Fest von »orgiastischen Ausmaßen« feiern durften. Dazu gehörte, gewaltige Mengen an Alkohol zu trinken und elementare Verhaltensnormen zu brechen: Sie durften sich gegen ihre Väter auflehnen, zogen betrunken durchs Dorf, sangen unflätige Lieder begleitet von der Ziehharmonika, schlugen Fensterscheiben ein, beleidigten und verprügelten Passanten.46 Gewalt gehörte zum Abschiedsritual. Im September 1915 kamen noch spezielle Umstände hinzu. Die ratniki hatten einige gute Gründe, besonders unwillig in den Krieg zu ziehen. Von der Front kamen nur noch schlechte Nachrichten, denn es war die Zeit des »Großen Rückzugs« der russischen Truppen.47 (Genau genommen stabilisierte sich zwar die militärische Lage zum Zeitpunkt des Pogroms bereits wieder, aber das konnte in Astrachan’ noch niemand wissen.48) Der Armee fehlte es am Nötigsten: an Waffen, Munition, Kleidung und zunehmend auch an Nahrungsmitteln, und zwar nicht nur an

44 Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 11–11ob. 45 Doklad po delu o besporjadkach v g. Astrachani i uezde, 10. 2. 1916, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 1ob, 4. 46 Benecke, Militär, S. 112–116; Krukones, To, S. 72, 150; Kormina, Provody, S. 48–118; Sˇangina, Russkij, S. 463 f.; Tuulikki, Konceptualizacija, S. 26. 47 Cherniavsky, Prologue, S. 76. 48 Van Hagen, Great, S. 46.

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der Front, sondern auch, das war stadtbekannt, bei den vor Astrachan’ stationierten Truppen.49 Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit der ratniki war, dass sie überhaupt zu den Waffen gerufen wurden. Sie alle waren in den Jahren 1912 bis 1914 gemustert, aber aus wichtigen Gründen von der Einberufung ausgenommen und eben der Kategorie der Ersatztruppen zugewiesen worden.50 Manche waren gesundheitlich beeinträchtigt, häufiger hatte man sie aber als alleinige Ernährer einer Familie zurückgestellt.51 Eigentlich waren die ratniki auch nur für den Dienst im Hinterland und nicht an der Front vorgesehen, doch diese Vorschriften waren für andere Zeiten gemacht.52 Die Aussichten waren düster. Mit der Prohibition war seit Kriegsbeginn den Einberufenen das Ritual des Besäufnisses genommen worden, das den Rollenübergang gerade in so schweren Zeiten hätte erleichtern können.53 Zwar herrschte in den Dörfern, aus denen die meisten Einberufenen kamen, an Selbstgebranntem kein Mangel. In der Stadt war das jedoch anders. Zudem versuchte der Gouverneur, erst gar keine ausgelassene Stimmung unter den ratniki aufkommen zu lassen, und untersagte ihnen Lieder, Ziehharmonikaspiel und dass sie in großen Gruppen durch die Stadt zogen. Verstärkte Patrouillen sollten die Polizei bei der Umsetzung des Verbots unterstützen.54 Aber die künftigen Soldaten beharrten darauf, den Ab-

49 Gatrell, Russia, S. 64, 66; Daniloff, Russland, S. 517, 546; ein Quellenbeispiel: Korowina, Munition, S. 245; Naˇc. Garnizona g. Astrachani an Naˇc. Sˇtaba Kazanskogo Voen. Okr., 6. 10. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 23; MJu an Upravl. MVD Chvostov, 28. 10. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 65–66ob. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Soldaten für den Mangel selbst verantwortlich waren. Häufig verkauften sie etwa vom Staat gestellte Mäntel und Schuhwerk, um sich anschließend über ihre schlechte Ausrüstung zu beklagen. Narskij, Ja, S. 494. 50 Die Bekanntmachung der Einberufungsbestimmungen: Telegrammy gazety »Astrachanec«, 28. 8. 1915, S. 1. 51 Benecke, Militär, S. 309. Vgl. zu entsprechenden Klagen: Astrachanskij gubernator an MVD, 11. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 12ob. 52 Dass auch die Ersatztruppen zweiter Ordnung für den unmittelbaren Kampf eingesetzt werden sollten, war unter anderem in der Lokalpresse zu lesen. Astrachanskij vestnik, No. 194, 7. 9. 1915, S. 2. 53 Diesen Aspekt betont stark: Bukalova, Suchoj. 54 Astrachanskij gubernator, Zirkular an Astranskij policejmejstr, uezdnye ispravniki, atamany otdelom astrachanskogo kazaˇc’ego vojska, 8. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 1, l. 18–18ob.

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schied vom zivilen Leben so zu begehen, wie sie es für angemessen hielten, und dazu gehörte, so sah es das Ritual vor, eben auch weitgehend willkürliche Gewalt und Zerstörung. Deshalb hätten die ratniki ebenso gut wie Perser auch Armenier, Tataren oder Juden attackieren können – oder Deutsche, wie sie es am folgenden Tag denn auch taten. Es musste jedoch eine bestimmte und unterscheidbare Gruppe sein, denn die ratniki konnten es sich nicht erlauben, die gesamte Stadtbevölkerung gegen sich aufzubringen. Nur wenn sich diese in nennenswerter Zahl anschloss, konnten Polizei und Militär relativ sicher ausgeschaltet werden. Für diesen Zusammenhang spricht auch der Verlauf der Einberufungsunruhen, die ratniki zeitgleich in der Stadt Samara verübten. Dort attackierten sie Geschäfte, die auf ihrem Weg lagen, ohne sich auf eine bestimmte Gruppe von Opfern zu beschränken. Wohl nicht zufällig fanden sie, anders als die Täter in Astrachan’, keine Sympathisanten in der lokalen Bevölkerung. Mit der vergleichsweise kleinen Zahl randalierender ratniki aber wurde die Polizei ohne große Schwierigkeiten fertig. Es entstand ein Sachschaden von 3000 Rubeln, ein halbes Prozent von demjenigen in Astrachan’.55 Was in Astrachan’ geschehen war, glich in vielem einem Pogrom, aber es gab auch markante Unterschiede. Abgesehen von der geringen Bedeutung von Feindbildern zeigte sich dies vor allem beim Beginn der Gewalt. Es gab keine der für Pogrome so typischen Ankündigungsgerüchte bzw. die Gerüchte wiesen in eine ganz andere Richtung. So hatte man Proteste gegen die hohen Preise für Schuhwerk und Bekleidung erwartet und nur jüdische Kaufleute rechneten mit Gewalttaten größeren Maßstabs. Im Nachhinein erwiesen sich ihre Sorgen auch als begründet: Obwohl sich das Pogrom nicht explizit gegen Juden richtete, wurden auch jüdische Geschäfte mit deutschen Namen angegriffen.56 Das Pogrom ereignete sich aber nicht nur unangekündigt, sondern auch ohne Anlass. Während bei den meisten Pogromen ein auslösendes Ereigniss dazu diente, Ressentiments in einer konkreten Situation zu aktualisieren, so war das in Astrachan’ überflüssig, denn um Ressentiments und Feindbilder ging es gar nicht. Nach allem, was die Quellen berichten, begannen die ratniki die Schlägerei mit den persi-

55 Naˇc. Samarskogo GZˇU an DP, 10. 9. 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 142, l. 12. 56 Protokolle, o.D., GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 3 t. 2, l. 74ob.

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schen Lastenträgern, ohne dass es auch nur den geringsten Vorwand gegeben hätte. Außerdem unterschied sich die Mobilisierung der Täter fundamental von der bei einem typischen Pogrom. Gewiss war es nicht ungewöhnlich, dass Umstände, die nichts mit der Gewalt zu tun hatten, dafür sorgten, dass eine große Zahl potenzieller Täter bereitstand. Nicht umsonst häuften sich Pogrome an Markt- und Feiertagen. Die Einberufung mehrerer Tausend Männer zum Militär hatte jedoch noch eine andere Qualität. Im Vergleich zu den Besuchern eines Marktes handelte es sich bei ihnen um eine sehr homogene Gruppe. Allesamt Männer in der ersten Hälfte des Erwachsenenalters, teilten sie dieselben trüben Zukunftsaussichten und denselben Impuls, sich eine Entschädigung für den Dienst am Vaterland zu verschaffen. Insofern stehen die Ereignisse von Astrachan’ exemplarisch für eine besondere Form der kollektiven Gewalt, die am treffendsten als Einberufungsunruhen bezeichnet werden kann. Von klassischen Pogromen unterschied sie der plötzliche, teils überfallartige Verlauf und die fast willkürliche Wahl der Opfer. Betrachtet man Astrachan’ unter diesen Vorzeichen und nicht als Pogrom an den Deutschen und Persern, so zeigt sich auch, dass es sich um kein isoliertes Geschehen handelte, sondern Teil einer ganzen Welle kollektiver Gewalt von ähnlichen Ausmaßen wie die großen Wellen der Judenpogrome war. Allein für die Zeit von Juli bis September 1914 erfasste die offizielle Statistik Hunderte von Unruhen, die sich über knapp die Hälfte der Gouvernements und Bezirke (oblasti) des Reiches verteilten.57 Im Rahmen der Einberufung der ratniki zweiter Ordnung im September 1915 registrierte das Innenministerium 120 Unruhen.58 Vermutlich lagen die Zahlen sogar noch höher. Eine Lokalstudie zählte allein für das Gouvernement Saratov im Juli 1914 70 Unruhen.59 Hinter den Zahlen verbargen sich sehr unterschiedliche Ereignisse. Das Spektrum reichte von »einfachem Radau«, der den Rahmen des rituell Gebotenen kaum verließ und in anderen Zeiten vermutlich gar nicht aktenkundig geworden wäre, bis hin zu den schweren Unruhen in 57 49 der insgesamt 101 Verwaltungseinheiten waren betroffen. Berkeviˇc, Krest’janstvo, S. 13–14. 58 Zur Zahl für den September 1915: Svodka o besporjadkach proizvedennych ratnikami opolˇcenija 2-go razrjada, GARF f. 102. op. 124 (4), d. 142. 59 Posadskij, Krest’janstvo, S. 98.

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Barnaul mit 112 Toten.60 In vielen Fällen lassen sich die Ausschreitungen, wie jene in Astrachan’, als Beharren auf den Privilegien des Einberufungsrituals verstehen. Auch anderenorts spielte es eine Rolle, dass Gesang und Ziehharmonikaspiel verboten waren. Oft ging es den Tätern um Schnaps, den sie sich wegen der Prohibition nur gewaltsam beschaffen konnten. An zweiter Stelle stand der Raub von Lebensmitteln und Tabak. An dritter Stelle kam der Protest gegen Gruppen, die von der Mobilisierung ausgenommen waren, also vor allem gegen Polizisten, seltener auch gegen Arbeiter in Betrieben, die als kriegswichtig eingestuft worden waren. Gegen Polizisten richtete sich auch der größte Teil der physischen Gewalt, und zwar immer dann, wenn diese versuchten, gegen die Unruhen vorzugehen.61 Die meisten Ausschreitungen verliefen unblutig. Wenn zahlreiche Menschen zu Tode kamen, wie in Barnaul, lag das nicht an der Brutalität der Täter, sondern daran, dass die Staatsmacht in die Menge schießen ließ.62 Das an den Orten der Einberufung etablierte Muster setzte sich fort, wenn die Einberufenen an ihre Einsatzorte gebracht wurden. Auf Wolgadampfern verprügelten sie Polizisten und Kosaken, randalierten in der ersten Klasse und stürmten die Buffets.63 Besonders brenzlig wurde die Lage an den jeweiligen Haltestationen. Das galt auch für den noch wichtigeren Transport mit der Eisenbahn. Lag ein Geschäft in der Nähe eines Hafens oder Bahnhofs, wurde es oft mehrmals ausgeraubt. Erst wenn die Truppen an ihren Einsatzorten ankamen und wieder effektiv der Kontrolle von Offizieren unterstanden, endete diese Form der Gewalt. Was an ihre Stelle trat, ist Thema des folgenden Kapitels. Hier ist noch der Frage nachzugehen, wie die Täter ihre Opfer auswählten. Ein ähnlich eklatanter Fall wechselnder Ziele wie Astrachan’ findet sich in den Quellen nicht noch einmal. Doch ein Muster lässt sich erken60 Zitat: O besporjadkach proizvedennych ratnikami opolˇcenija 2-go razrjada, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 142, l. 5; Svedenie o cˇ isle lic, postradavˇsich vo vremja byvˇsich v ijul’skuju mobilizaciju 1914 g. besporjadkov v nekotorych mestnostjach Imperii, o.D. [1914], RGIA f. 1292, op. 1, d. 1729, l. 129–130. 61 Sanborn, Mobilization, S. 266 f. 62 Ebd.; Naˇc. Tomskogo GZˇU an Dir. DP, 31. 7. 1914, RGIA f. 1292, op. 1, d. 1729, l. 92–94. 63 Amurskij gubernator, Otˇcet o nastroenii naselenija, September 1915, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 108 cˇ . 2; O besporjadkach proizvedennych ratnikami opolˇcenija 2-go razrjada, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 142, l. 52, 59 f.

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nen. Wo die Täter auf ihren Wegen Angehörigen einer ethnischen Minderheit begegneten, griffen sie diese bevorzugt an. Dabei waren sie nicht besonders wählerisch. Deshalb fielen den Einberufenen in den Jahren 1914/15 nicht nur, wie in Astrachan’, Deutsche, Juden, Briten, Schweizer und Perser zum Opfer, sondern auch Kalmücken, Dänen und Chinesen.64 In den meisten Fällen wurde die ethnische Zugehörigkeit der Geschädigten nicht quellenkundig, vermutlich verbirgt sich dahinter eine noch größere Vielfalt. Dass die zweitgrößte Gruppe der Geschädigten Juden waren, hatte vermutlich vor allem damit zu tun, dass die meisten Einberufenen an die osteuropäische Front gebracht wurden. Sie wurden direkt im Ansiedlungsrayon eingezogen oder mussten ihn durchqueren, und dort trafen sie sehr wahrscheinlich auf jüdische Händler. Die Vorstellungen der Täter über Juden als Andere und vielleicht auch als Feinde waren gewiss von Bedeutung dafür, dass die nichtjüdischen Händler, die es ja auch im Ansiedlungsrayon gab, vergleichsweise glimpflich davonkamen. Feindbilder konnten die Gewalt ein Stück weit lenken, aber sie waren nicht ihre Ursache. Insofern trifft hier Felix Schnells Beobachtung aus dem späteren Bürgerkrieg zu: »Oft ist die wichtigste Eigenschaft der Opfer von Gewalt ihre Markierbarkeit als Andere; Gewaltbereitschaft sucht sich Opfer. So sagt uns die Tatsache, wer Opfer von Gewalt wurde, unter Umständen nichts oder wenig über die Gründe dieser Gewalt.«65 Deshalb ist es sinnvoll, die Fälle pogromartiger Gewalt gegen Juden und gegen Deutsche in dieser Zeit nicht als Welle von Juden- und Deutschenpogromen zu beschreiben, sondern gemeinsam mit vielen anderen Ereignissen als Folge der massenhaften Einberufung. In der Geschichte des späten Zarenreiches gibt es nur eine Möglichkeit, diese Behauptung auf die Probe zu stellen, die Einberufungen zum Krieg gegen Japan 1904.66 Tatsächlich waren auch sie von zahlreichen Judenpogromen begleitet, die in der Meistererzählung gleichsam die Brücke zwischen dem Initialereignis von Kiˇsinev 1903 und dem Blutbad der Oktoberpogrome 1905 darstellen. Nach unterschiedlichen Zählungen gab es 1904 zwischen 24 und 32 Judenpogrome, die unmittelbar mit den 64 Astrachanskij gubernator an MVD, o.D. [Juli 1915], GARF f. 102, op. 124 (4), d. 4 cˇ . 10, l. 12ob. 65 Schnell, Sinn, S. 20. 66 Auch für die Jahre 1900 und 1883 ist vergleichbare Gewalt nur vereinzelt dokumentiert: Amanˇzolova, Evrejskie, S. 31–35; Freeze/Harris (Hg.), Everyday, S. 448–449.

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Einberufungen zusammenhingen.67 Auch sie erfolgten schnell, oft überfallartig, und verliefen meist unblutig, weil die Täter vor allem auf Raub aus waren.68 Wo Personen geschlagen wurden, waren es häufig Polizisten; im Übrigen sollen die Täter, in den Worten Simon Dubnows, teils »keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten« gemacht haben.69 Ein Zusammenhang, der in der Forschungsliteratur zu Judenpogromen nie hergestellt wurde, ist jedoch der, dass die Mobilisierungsunruhen von 1904 weit über den Ansiedlungsrayon und über Juden als Opfer hinausgingen. Die Truppen marodierten, wie auch 1914/15, an den Orten ihrer Einberufung und auf dem Weg an die Front, nur dass sich diese diesmal in Fernost befand und die Bahnhöfe in Sibirien besonders schwer betroffen waren.70 Es gibt also gute Gründe zu vermuten, dass die meisten Judenpogrome des Jahres 1904 mit demjenigen von Kiˇsinev nur wenig zu tun hatten. Sie waren eher eine Folge des Krieges als ein Symptom des landesweiten Anschwellens antijüdischer Gewalt. Die Einberufungen von 1904 und 1914/15 waren von Gewalttaten begleitet, die Pogromen weitgehend glichen. Was sie unterschied, war ihr plötzlicher Beginn und die Flexibilität der Täter bei der Wahl der Opfer. Einberufungspogrome verliefen in der Regel nicht tödlich. Wenn es Tote gab, waren es in allermeisten Fällen nicht Opfer der Ausschreitungen, sondern Täter, die bei der gewaltsamen Beendigung der Unruhen umgekommen waren. Das relativ niedrige Gewaltniveau der Täter überrascht insofern, als man bei ihnen mehr als bei den Judenpogromen der ersten und zweiten Welle von organisierten Tätern sprechen kann, nicht weil sie hierarchisch strukturiert gewesen wären (es handelte sich ja fast immer um einfache Soldaten ohne Offiziere), sondern weil die Einberufenen in Gruppen transportiert wurden und sich in diesem Rahmen immer wieder an Unruhen beteiligten. Insofern waren sie Täter mit Erfahrung, wie man sie in den 1880er Jahren oder in der Zeit um 1905 kaum fand. Das schlug sich jedoch, anders als theoretische Arbeiten erwarten ließen, weder qualitativ noch quantitativ in einem höheren Gewaltniveau nieder.71 Das mag auch insofern überraschen, als sich dieselben Täter, die sich bei 67 68 69 70 71

Lambroza, Pogrom Movement, S. 93–95; Kirˇznic, Raboˇce-krest’janskie, S. 5. Vgl. verschiedene Dokumente in: GARF f. 102, op. 102 (3), d. 832. Dubnow, Neueste, S. 431; vgl. dazu Vestnik Bunda, No. 4–5, Nov. 1904, S. 4–5. Derevjanko, Voennyj, S. 65. Horowitz, Deadly, S. 227; Bergmann, Pogrome 2002, S. 454.

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den Einberufungsunruhen weitgehend auf Raub und Zerstörung konzentriert hatten, nur wenig später, im Kriegsgeschehen, zu großer Grausamkeit fähig und bereit zeigten. Diese Form von Gewalt ist der Gegenstand des folgenden Kapitels.

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5 Vom Pogrom zum Massaker

Die Massengewalt gegen Juden im Russischen Bürgerkrieg wurde von den Zeitgenossen und wird häufig bis heute als Folge von Pogromen verstanden. Sie erscheint dann als Kulminationspunkt einer großen, teils bis zum Holocaust reichenden Eskalationsgeschichte antijüdischer Exzesse, in der die Jahre 1881/82 und 1903 bis 1906 Etappen darstellten.1 Im Rahmen dieser Entwicklung wuchs die Zahl der Todesopfer exorbitant, nämlich von etwa zwei Dutzend in der ersten auf ca. 1500 in der zweiten Etappe und schließlich im Bürgerkrieg, nach unterschiedlichen Schätzungen, auf 50000 bis 200000.2 So schlüssig die Erzählung der Eskalation antijüdischer Gewalt erscheint, gibt es doch auch Gründe, die gegen sie sprechen, genauer gesagt gegen die implizite Annahme, dass die höheren Stufen der Gewalt auf den vorangegangenen basierten. Denn zumindest für den Bürgerkrieg lässt sich kaum nachweisen, dass die Ereignisse eine Folge der ersten und zweiten Welle antijüdischer Gewalt waren. Die Zeitgenossen bezeichneten sie als Pogrome, weil sie damit ihre Erfahrungen einordnen konnten. Tatsächlich entsprang das massenhafte Töten aber den sehr spezifischen Umständen des Bürgerkriegs, und es unterschied sich in seinen Abläufen auch markant von den Pogromen der Vorkriegszeit.3 Aus der Perspektive der Gewaltforschung handelte es sich um Massaker. Es ist nicht ganz einfach, dem Begriff des Massakers klare Konturen zu geben. Einen wissenschaftlichen Konsens gibt es nicht, weil das systematische Nachdenken über diese Form von Gewalt vor relativ kurzer Zeit begonnen hat; bis dahin stand es im Schatten der nicht minder kontroversen Genozidforschung.4 Sowohl beim Genozid als auch beim Mas-

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Budnickij, Jews, S. 752; Pipes, Russische, S. 188; Smith, Continuities. Klier, Russians, S. 84; Stepanov, Cˇernaja, S. 79; Budnickij, Jews, S. 751; Klier, Pogroms, S. 1379–1380. Budnickij, Rossijskie, S. 285. Dwyer/ Ryan, Massacre; Levene/ Roberts, Massacre; Levene, Changing; El Kenez, Massacre; Klusemann, Massacres; Scherrer, Towards; und vor allem die im Folgenden zitierten Arbeiten von Jacques Sémelin.

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saker geht es um das massenhafte Töten von mehrheitlich wehrlosen Menschen, also um einseitige kollektive Gewalt.5 Doch während zum Genozid (zumindest nach einer geläufigen Auffassung) die Absicht gehört, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr oder weniger vollständig zu vernichten, muss ein Massaker kein so umfassendes Ziel verfolgen. Aber nicht nur in Bezug auf das beabsichtigte Ausmaß der Gewalt, auch in zeitlicher und räumlicher Hinsicht unterscheiden sich Genozid und Massaker in ihrer Dimension. Ein Massaker bezieht sich, wie auch ein Pogrom, auf das Geschehen weniger Tage an einem eng umgrenzten Ort, während sich ein Genozid über Jahre und auf das Territorium ganzer Staaten erstrecken kann. Ein genozidaler Prozess bildet einen umfassenden Komplex von Einzelereignissen, zu dem auch Massaker und Pogrome gehören können.6 Massaker und Pogrome haben also einiges gemeinsam, es gibt aber auch markante Unterschiede.7 Auf der Ebene der Phänomene gehört dazu die Intensität der verübten Gewalt. Massaker sind immer tödlich, gehen aber zusätzlich oft mit der Beschädigung von Sachen, Plünderung und Demütigung der Opfer einher. Bei Pogromen ist es umgekehrt: Letale Gewalt steht nicht im Mittelpunkt, die Zahl der Beraubten und Verletzten übertrifft die der Getöteten in der Regel um ein Vielfaches.8 Ob sich dieser Unterschied in erster Linie anderen Absichten oder anderen Möglichkeiten verdankt, ist eine interessante und kaum allgemein zu beantwortende Frage. Für beides gibt es Hinweise. Einerseits stehen Massaker häufig im Kontext eines Projekts zur gewaltsamen Transformation der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums, beispielsweise einer »ethnischen Säuberung«. Andererseits werden Massaker typischerweise von Angehörigen des Militärs oder paramilitärischen Formationen verübt, also von Gruppen, deren Bewaffnung und Organisationsgrad Gewalttaten großen Maßstabs ermöglicht.9 Damit hängt die Frage zusammen, wie das Verhältnis zwischen dem »zentralen Impuls« einer

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El Kenez, Massacre; Sémelin zieht auch gegenseitige Massaker in Betracht, sie stellen jedoch eine Ausnahme dar. Sémelin, Massacre, S. 435. Dwyer/ Ryan, Massacre, S. xv. Manche Autoren verwenden beide Begriffe hingegen synonym. Melson, Revolution, S. 27. Ähnlich: Brass, Forms, S. 19. Bergmann, Pogrome 2002, S. 443.

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Regierung und dem »improvisatorischen Element« lokaler Akteure und Situationen zu bewerten ist.10 Sind Massaker eher ein Symptom entstehender oder sich auflösender Staatlichkeit?11 Und, um zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung zurückzukommen, welche spezifische Dynamik kennzeichnete die Massaker im Russischen Bürgerkrieg?12 Die Vorgeschichte dieser Gewalttaten begann mit dem Ersten Weltkrieg, genauer gesagt mit der zunächst sehr erfolgreichen russischen Offensive in Galizien und der Bukowina im Herbst 1914. Während die Generalität des Russischen Reiches hoffte, die dort lebenden ruthenischen Bauern für die gemeinsame ostslawische Sache gewinnen zu können, galten die Juden als natürliche Verbündete des Gegners.13 Deshalb wurde der Einmarsch von einer antisemitischen Kampagne begleitet: Juden wurden aus den frontnahen Gebieten vertrieben, sie mussten Kontributionen und Zwangsarbeit leisten. Ganze Gemeinden wurden für das Fehlverhalten einzelner Juden bestraft – »selbstverständlich«, ohne dass zuvor eine unabhängige Untersuchung stattgefunden hätte.14 Solche Maßnahmen betrafen nicht nur die eroberten Gebiete, denn mit einem Erlass vom 16. Juli 1914 war auch ein breiter Streifen im Westen des Russischen Reiches, der von Archangel’sk im Norden bis zum Kaukasus im Süden reichte, unter Militärverwaltung gestellt worden, darunter fast der gesamte Ansiedlungsrayon.15 Dort und in den eroberten Gebieten lag die Macht formell in den Händen des Höchstkommandierenden, des Großfürsten Nikolaj Nikolaeviˇc, und seines Stabschefs, Nikolaj N. Januˇskeviˇc. Es hätte ein »militärisches Utopia« ähnlich dem von Vejas Liulevicius beschriebenen »Ober-Ost« entstehen können, wären nicht die Ressourcen, die der militärischen Führung zur Verfügung stan-

10 11 12 13

Die Zitate: Sémelin, Säubern, S. 183, 214. Levene, Introduction, S. 10 f. Klusemann, Massacres. In der Tat versuchte das Deutsche Reich, die Juden unter russischer Herrschaft zu instrumentalisieren: Gol’din, Russkoe, S. 33 f.; Stone, Eastern, S. 82. 14 Wenn die gegen die Juden erhobenen Vorwürfe doch ausnahmsweise ernsthaft untersucht wurden, stellte sich fast immer heraus, dass sie unbegründet waren. Budnitskij, Shots, S. 193. 15 Der Rechtsakt war das Poloˇzenie o polevom upravenii vojsk v voennoe vremja. Vgl. zu seinem Inhalt und seiner territorialen Ausdehnung: Lohr, Nationalizing, S. 17–18, 141.

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den, sehr begrenzt gewesen.16 Alles konzentrierte sich auf die akuten Notwendigkeiten des Krieges (zu denen aus der Perspektive des Militärs freilich auch die »Beseitigung« angeblich feindlicher Bevölkerungsgruppen gehörte), die Verwaltung und Versorgung des Heeres war angesichts der rapide sich bewegenden Front Aufgabe genug. Zudem waren die Beziehungen zur weiter bestehenden zivilen Verwaltung notorisch angespannt.17 Daran änderte sich auch nichts, nachdem der Großfürst am 25. August 1915 gemeinsam mit seinem Stabschef an die Kaukasusfront beordert wurde und der Zar höchstpersönlich (mit Michail V. Alekseev als Stabschef) den Posten des Höchstkommandierenden übernahm. Die Vertreibungen und Enteignungen im Grenzstreifen, die neben Juden vor allem Deutsche betrafen, sind zu Recht als Teil eines größeren Vorhabens zur Umgestaltung der Bevölkerung des Reiches verstanden worden. Die Bewohner wurden in Kategorien unterteilt und kollektiv für erwünscht oder unerwünscht erklärt. Gemäß dieser Zuschreibung sollten sie zu Opfern oder Profiteuren einer groß angelegten ökonomischen Umverteilung werden, durften ihren Wohnsitz behalten oder wurden vertrieben.18 An der Spitze der Hierarchie innerer Feinde standen die Deutschen. Deshalb wurden sie als Erste deportiert, und das bedeutete Zwang, Leid und Willkür. Im Vergleich mit dem, was später kam, liefen die Repressionsmaßnahmen aber geordnet ab. Sie wurden von den Zivilbehörden geplant und mit zivilen Methoden durchgeführt.19 Die Juden hingegen wurden nicht nur als nachrangige Feinde angesehen, sie waren auch viel zahlreicher, und schon deshalb musste ihre Deportation weit langsamer vonstattengehen.20 Doch dann, Mitte April 1915, brach die Front ein und der »Große Rückzug« des russischen Heeres begann. Im Ministerrat erklärte der Kriegsminister: »Die Armee zieht sich nicht mehr zurück, sie läuft einfach davon.«21 Nun musste alles in größter Eile 16 Liulevicius, Kriegsland, S. 34. 17 Dokumenty o presledovanii; Cherniavsky, Prologue, S. 120–123; Goldin, Deportation, S. 53. 18 Holquist, Count; Lohr, 1915. 19 Goldin, Deportation, S. 44, 53; Nelipoviˇc, Deportation, S. 244 f.; Trees, Russland. Das gilt nicht für einen Teil der wolhynischen deutschen Kolonisten. Ihre Deportation im Sommer 1915 verlief gewaltsam. Nelipov, Nemeckuju, S. 48–50. 20 Außerdem wurden anfangs noch elementare juristische Regeln beachtet, was die Quantität der Deportationen stark beschränkte. Prusin, Nationalizing, S. 49. 21 Cherniavsky, Prologue, S. 76.

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geschehen. Dem Feind wollte man verbrannte Erde hinterlassen, und das bedeutete auch, dass etwas mit den feindlichen Teilen der Zivilbevölkerung geschehen musste, nur was? Sollte man sie ins Landesinnere deportieren, damit sie den Gegner nicht stärken konnten? Genügte es, wenn die jüdischen Gemeinden dem Militär angesehene Mitglieder als Geiseln stellten? Oder war es klüger, ihnen die Lebensgrundlage zu nehmen und ihre weitere Versorgung den Mittelmächten zu überlassen, sie möglicherweise sogar in Hungerlagern zu internieren, bis sie von selbst zum Feind flohen?22 Auch die Möglichkeit, »es wie die Türken [mit den Armeniern] zu machen«, wurde unter Offizieren diskutiert.23 Ein klares Konzept gab es nicht. Doch es herrschte Einigkeit, dass man keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen durfte, zumal gegenüber einer Gruppe von angeblich so fragwürdiger Loyalität wie den Juden. Unter diesen Bedingungen fanden die Massenvertreibungen statt. Sie hatten wenig mit Bevölkerungspolitik zu tun, denn sie folgten keinem Plan und hatten kein klar formuliertes Ziel. Während Bevölkerungspolitik ein Mittel war, in einer unübersichtlichen multiethnischen Situation »Ordnung« zu schaffen, produzierten diese Deportationen nur Chaos in Form von Flüchtlingstrecks, die auch den militärischen Transport erschwerten, sie zerstörten die Versorgungsnetzwerke, auf die auch das Militär angewiesen war. Die Vertriebenen verschärften Verteilungskonflikte im Hinterland, ihre Berichte bestärkten die ohnehin grassierenden Zweifel an der Kompetenz und Eignung der Machthaber. Und nicht zuletzt hatten die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung in der Rückzugszone einen verheerenden Einfluss auf die Truppen selbst. Sie waren ein wichtiger Schritt für die Transformation einer regulären Armee in ein Konglomerat marodierender Banden.24 Denn was als Vertreibung und Enteignung von Juden geplant gewesen sein mag, war in der praktischen Umsetzung oft nichts anderes als ein Pogrom, ein Pogrom im Modus des Überfalls.25

22 Alle Ansätze wurden praktiziert. Schuster, Zwischen, S. 182–184, 202–204; zu den geplanten aber nicht errichteten Lagern: Prusin, Nationalizing, S. 52; Goldin, Deportation, S. 60–64. 23 Holquist, Role, S. 59. 24 Ausführlicher zu diesem Prozess: Sanborn, Genesis. 25 Dafür, die Pogrome als einen Aspekt des »ökonomischen Nationalismus« zu verstehen, argumentiert hingegen Lohr, 1915; ders., Russian.

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Eine militärische Einheit, oft handelte es sich um Kosaken, marschierte in eine Ortschaft ein. Fenster und Türen der jüdischen Häuser wurden eingeschlagen, Soldaten und Zivilisten plünderten oder zerstörten alles, was ihnen in die Hände fiel, zuletzt legten sie Feuer. Widerstand wurde mit großer Härte bestraft. Vergewaltigungen, Erpressung und willkürliche Gewalt häuften sich. Die Offiziere sahen zu, wie ihre Truppen marodierten. Vermutlich hielten viele von ihnen die Juden für Feinde, die nichts Besseres verdienten. Dennoch muss es die Kommandeure mit Sorge erfüllt haben, zu sehen, dass ihre Untergebenen Befehle missachteten und beispielsweise in Eigeninitiative Juden vertrieben. Ein Offizier soll resigniert erklärt haben, die Soldaten würden »ihm ohnehin nicht gehorchen«.26 Das mag übertrieben gewesen sein, denn anderenorts konnten Offiziere der Gewalt durchaus ein Ende setzen. Dennoch enthielt die Äußerung sicherlich einen wahren Kern, denn die Disziplin der Soldaten stand beinahe seit Kriegsbeginn ernsthaft infrage.27 Die militärische Führung befürchtete vor allem, dass russische Soldaten massenhaft desertieren oder sich in Gefangenschaft begeben würden, was auch zunehmend geschah. Nicht zufällig wurde gerade zu der Zeit, als die Pogrome ihren Höhepunkt erreichten, beschlossen, den Familien von Soldaten, die sich »freiwillig«, also ohne den gebotenen Widerstand, dem Feind ergaben, den Anspruch auf staatliche Hilfszahlungen zu entziehen. Die Deserteure selbst sollten nach ihrer Rückkehr zwangsweise nach Sibirien umgesiedelt werden.28 Auch die Pogrome selbst wurden im Generalstab mit Sorge beobachtet; wenn nicht aus Mitgefühl mit den Opfern, so doch, weil sie ein Ausdruck des Kontrollverlusts waren.29 Die Kommandeure mussten zunehmend abwägen, ob sie es sich erlauben konnten, das Plündern und Vergewaltigen zu verbieten, oder ob das den Gehorsam der Truppe 26 Iz cˇ ernoj, S. 275. 27 Senjavskaja, Psichologija, S. 62; vgl. dazu auch die folgende sowjetische Quellenedition, die mit der Auswahl der publizierten Dokumente zweifellos eine bestimmte Absicht verfolgte; für die Bereitschaft des Militärs zum Protest ist sie jedoch m.E. aussagekräftig: Sidorov, Revoljucionnoe. Für Disziplinierungsversuche: Memoirs of Polivanov; Sanborn, Family, S. 98. 28 Memoirs of Polivanov, S. 220–221; Sanborn, Family, S. 98; vgl. zur »anwachsenden Autoritätskrise in der russischen Armee«: Stone, Eastern, S. 165. 29 Lohr, 1915, S. 42; Sanborn, Drafting, S. 172; Narskij, Ja, S. 498. Vgl. ähnlich der Innenminister: Cherniavsky, Prologue, S. 122.

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zu sehr auf die Probe stellte. Manchmal wurden Soldaten und zivile Pogromtäter durchaus hart bestraft, aber es konnte den Offizieren auch nicht gleichgültig sein, dass strenge Disziplinarmaßnahmen ganz oben auf der Liste jener Faktoren standen, die Soldaten gegen ihre Vorgesetzten aufbrachten.30 Weil das Schicksal der Zivilbevölkerung aus Sicht der militärischen Führung zweitrangig war, tat sie wenig, um Pogrome zu verhindern.31 Pogrome waren aus dieser Perspektive kaum mehr als ein Problem militärischer Disziplin. Aber sie waren ein Problem, keine Lösung. Zweifellos erleichterten die Befehle zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung es den Truppen, zu plündern und zu morden. Andererseits geht Eric Lohr zu weit, wenn er behauptet: »In den Fällen, wenn Offiziere der Armee klarstellten, dass Gewalt gegen Juden und ihr Eigentum nicht geduldet wurde, gab es keine Pogrome.«32 Denn selbst wo die Vorgesetzten Pogrome bestrafen wollten, war es ihnen kaum möglich, die erfundenen Rechtfertigungen der Täter zu überprüfen. Noch schwerer wog, dass die formalisierten militärischen Hierarchien schon 1915 an Bedeutung verloren. Die Drohung des Höchstkommandierenden Großfürst Nikolaj Nikolaeviˇc vom 6. Juni 1915, alle Kommandeure, die Pogrome anordneten, vor ein Kriegsgericht zu stellen, tat der Gewalt keinen Abbruch.33 Die Vertreibungen entwickelten eine Eigendynamik, die auch durch strikte Anweisungen aus dem Hauptquartier nicht mehr aufzuhalten war.34 Was in den Dörfern und Städten der Rückzugszone geschah, hing weniger von Entscheidungen der militärischen Hierarchie ab als von der Eigeninitiative der gerade anwesenden niederen Offiziere oder auch einfacher Kosaken und Soldaten, die sich im Übrigen selbst in einer wenig komfortablen Situation befanden: Der Feind war nah, das eigene Wohlergehen, ja Überleben, zunehmend prekär.35 Maßvolles, an formalisierten Regeln orientiertes Handeln wurde unter diesen Bedingungen un30 Prusin, Nationalizing, S. 25, 28; Porˇsneva, Krest’jane, S. 190. Ähnlich für den Bürgerkrieg: Abramson, Prayer, S. 138; Katzer, Weiße, S. 292. 31 Holquist, Forms, S. 342; Sanborn, Unsettling, S. 301. 32 Lohr, Russian, S. 417. 33 Prusin, Nationalizing, S. 55 f.; vgl. zum ungeachtet seiner umfassenden formalen Kompetenzen geringen tatsächlichen Einfluss des Höchstkommandierenden und seines Stabs: Stone, Eastern, S. 51 f. 34 Dokumenty o presledovanii, S. 275; Prusin, Nationalizing, S. 55 f. 35 Prusin, Nationalizing, S. 60; Narskij, Ja, S. 492.

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wahrscheinlicher. Aber sie befanden sich für kurze Zeit in der Rolle lokaler Machthaber, die kaum fürchten mussten, für Grenzüberschreitungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Kriegspogrome entstanden aus einer Situation ephemerer Allmacht. Dass gerade Einheiten der Kavallerie wie die Kosaken überdurchschnittlich häufig unter den Pogromtätern vertreten waren, ist vor diesem Hintergrund leicht zu erklären. Wegen ihrer Mobilität wurden meist sie in kleinere und entlegene Ortschaften entsandt, um vor dem Rückzug die antijüdischen Maßnahmen durchzuführen. Kosaken verübten deshalb mehr Pogrome, weil ihnen die größeren Handlungsspielräume gewährt wurden.36 Der Innenminister hatte in einem Schreiben an den Stabschef Alekseev überfallartige Pogrome als »Versuchung« für durchreisende Truppen bezeichnet. Dass viele Kosaken ihr nicht widerstanden, überrascht vor dem beschriebenen Hintergrund kaum.37 Zu Situationen dieser Art kam es insbesondere während des »Großen Rückzugs«. Sie waren aber nicht auf diese Zeit beschränkt, sondern entstanden immer dann, wenn an der osteuropäischen Front die relative Ruhe des Stellungskrieges dem dynamischen Manöverkampf wich. Nicht nur das Sommerhalbjahr 1915, auch die russischen Offensiven von 1914 und 1916 und der abermalige Rückzug von 1917 waren Hochzeiten der Pogrome.38 Neben diesem Zusammenhang von Truppenbewegungen und Kontrollverlust förderte eine weitere Konstellation das Entstehen von Pogromen: Oft standen sie unmittelbar mit Kriegshandlungen in Verbindung. Ein typischer Anlass war, dass russische Truppen eine Ortschaft dem Feind überlassen mussten oder sie zurückerobern konnten. Dann hieß es oft, Juden hätten aus dem Hinterhalt auf Soldaten und Kosaken geschossen. Dieser Vorwurf taucht schon sehr früh auf, etwa bei den Pogromen von L’vov und Brody im Jahr 1914, und zog sich wie ein roter Faden durch die antijüdische Massengewalt – bis zum Ende des Bürgerkrieges.39 Die Besonderheit dieses Vorwurfs, höchste Gefahr ohne die geringsten Belege suggerieren zu können, wurde ja bereits im Zusammenhang mit den 36 Klier, Kazaki. 37 G. MVD an Naˇc. Sˇtaba Verchovnogo Glavnokomandujuˇscˇ ego, 20. 9. 1915, Telegramm, GARF f. 102, op. 124 (4), d. 142, l. 103–104. 38 Prusin, Nationalizing, S. 59, 61. 39 Holquist, Role, S. 55; Budnitskii, Shots, S. 196 f.

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Pogromen des Jahres 1905 beschrieben. Im Kontext des Krieges scheint er sich zunehmend verselbstständigt zu haben, sodass in Militärkreisen aus einer unbewiesenen Vermutung ein Allgemeinplatz wurde, der gar keiner Beweise mehr bedurfte. Und noch etwas verselbstständigte sich, nämlich die Schwere der verübten Gewalt. Raub war immer ein wichtiger Antrieb gewesen; die Täter mochten das mitunter damit gerechtfertigt haben, dass es um ihre Versorgung selbst mit den wichtigsten Waren ausgesprochen schlecht bestellt war. Mord und Vergewaltigung wurden hingegen erst allmählich immer häufiger.40 Hinzu kamen überdies Fälle scheinbar sinnloser Grausamkeit wie diejenigen, über die An-skij berichtete und auf die später zurückzukommen sein wird: »In einem russisch besetzten Schtetl nahe Wolkowisk trieben Soldaten die Juden auf dem Marktplatz zusammen und zwangen sie, sich zu entkleiden. Männern und Frauen wurde befohlen, miteinander zu tanzen und danach auf Schweinen zu reiten. Schließlich wurde jeder Zehnte der Nackten erschossen.«41 Wie viele solcher Ausschreitungen es in der Zeit des Ersten Weltkriegs gab, lässt sich nicht sagen. Sie entstanden im Chaos eines unter Militärverwaltung stehenden Gebiets und konnten deshalb nicht seriös dokumentiert werden. Das hätte erst nach dem Bürgerkrieg geschehen können, doch zu diesem Zeitpunkt wurden sie bereits von noch gravierenderen Gewalttaten überschattet. Nach Eric Lohr fanden im Jahr 1915 etwa 100 solcher Pogrome statt. Insgesamt waren es gewiss mehrere Hundert, die gewiss nicht weniger blutig verliefen als die Oktoberpogrome. Für genauere Schätzungen gibt es gegenwärtig keine Grundlage. Die antijüdischen Ausschreitungen im Ersten Weltkrieg wurden auf den zurückliegenden Seiten als »Pogrom« bezeichnet. Doch wichtige Merkmale klassischer Pogrome wie die Ankündigungsgerüchte, die Rolle der Zuschauer und die allmähliche Eskalation fehlten. Im Grunde handelte es sich bereits um eine Übergangsform von Pogromgewalt zu den Massakern des Russischen Bürgerkriegs.42 Hier ist nicht der Ort, zu

40 Hagen, Great, S. 46; Sanborn, Drafting, S. 174. 41 Ansky, Enemy, S. 272. 42 Dekel-Chen u.a., Introduction, S. 2.

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erzählen, wie das Russische Reich unterging, weil der Zar durch Krieg und ökonomische Not auch die letzten Unterstützer verlor. Am Ende des Revolutionsjahres 1917 griffen die Bolschewiki nach der Macht, doch auch sie waren weit davon entfernt, das zerfallende Imperium zu kontrollieren. Vorerst herrschte Bürgerkrieg. Er war kein Konflikt zweier Parteien um die Macht in einem Staat. Vielmehr konkurrierte in den von Staatszerfall geprägten Peripherien des ehemaligen Reiches eine Vielzahl von Machtzentren, die sich in Dauer und Reichweite ihres Herrschaftsanspruchs unterschieden und die mitunter wechselnde Bündnisse eingingen. Daraus entstand gerade im ehemaligen Ansiedlungsrayon, wo sich die antijüdische Massengewalt konzentrierte, eine Gemengelage, die weit komplizierter war, als die populäre farbliche Zuordnung der Konfliktparteien – »Rote« Kommunisten gegen »Weiße« Monarchisten und »Grüne« Vorkämpfer bäuerlicher Freiheit – nahelegt, selbst wenn man ukrainisch-nationalistische Kräfte wie die des von Simon Petljura geführten »Direktoriums« hinzuzieht. Die ideologischen Differenzen waren groß, gerade auch in der Haltung der unterschiedlichen Gruppierungen zu den Juden. Für die Weiße Bewegung wurde Antisemitismus zum wichtigsten Bindeglied, während die sozialistischen Gruppierungen in ihm ein bourgeoises Vorurteil sehen mussten.43 Nicht weniger bedeutsam waren Zwänge, die aus dem irregulären Krieg resultierten. Noch mehr als vor 1917 mussten lokale Kommandeure darauf bedacht sein, den Gehorsam ihrer Truppen nicht zu sehr strapazieren und nicht selten nahmen Täter keine Rücksicht darauf, dass ihre Oberbefehlshaber die Ausschreitungen verurteilten.44 Deshalb beteiligten sich auch alle Parteien, wenngleich in unterschiedlichem Maß, an der massenhaften Gewalt gegen die Juden.45 Letztere wurden oft binnen kurzer Zeit zum Opfer von Angriffen unterschiedlicher militärischer Formationen. Über den besonderen Charakter der dabei verübten Gewalt soll eine letzte Fallstudie Aufschluss geben. Fastov war ein Schtetl etwa sechzig Kilometer südwestlich von Kiew, dessen Geschichte bis ins 15. Jahrhundert zurückreichte. Um 1900 lebten dort etwa 10000 Menschen, die Hälfte von ihnen Juden. Die Stadt lag an

43 Rogger, Conclusion, S. 351. 44 Kenez, Pogroms, S. 295, 308; Smele, Historical, S. 877. 45 Budnickij, Rossijskie, S. 285.

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einem regional bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt und war Umschlagplatz für den Handel Richtung Westen.46 Seit dem 18. Jahrhundert hatte es keine Pogrome mehr gegeben. Ein beginnendes Pogrom konnte 1881 durch die gemeinsamen Anstrengungen einer nachbarschaftlichen Selbstwehrgruppe und geistesgegenwärtiger Polizisten im Keim erstickt werden; für das Jahr 1905 ist nichts über ein versuchtes Pogrom bekannt.47 Diese Situation änderte sich im Bürgerkrieg. Alles andere wäre auch überraschend gewesen. Da Fastov an der Eisenbahnstrecke nach Kiew lag, stand es im Fokus aller Kriegsparteien, und viel mehr brauchte es in dieser Zeit nicht, um das Leben der Zivilbevölkerung, besonders der Juden, aufs Äußerste zu gefährden.48 Das zeigte sich bereits zu Beginn des Jahres 1919, als die Truppen des Direktoriums Fastov kontrollierten: Juden wurden ausgeraubt, geschlagen und getötet, allerdings handelte es sich zunächst um Einzelfälle. Erst als die Petljura-Truppen den Ort im Februar 1919 aufgeben mussten, kam es zu einem Pogrom, das in der Rückschau allerdings fast geringfügig erschien. Am 20. Februar marschierten die Roten in Fastov ein. Auch sie beraubten die Einheimischen, erlegten den Juden Kontributionen auf, und wer mit Stiefeln oder einer Taschenuhr auf die Straße ging, musste damit rechnen, sie an die Soldaten zu verlieren. Verletzt und ermordet wurden aber weitaus weniger Menschen als zuvor unter der Herrschaft des Direktoriums. Fastov galt sogar als vergleichsweise sicherer Ort für Juden und zog zahlreiche Juden aus dem Umland an. Selbst als sich die Truppen der Sowjetmacht im August 1919 mit einer Welle erneuter Plünderungen verabschiedeten, wurde kaum jemand verletzt. Nun kam die »Galizische Armee«, also Truppen, die zuvor dem Befehl der unlängst untergegangenen »Westukrainischen Volksrepublik«

46 Vgl. die Einträge zu Fastov im E˙ncikolpediˇceskij slovar’ Brokgauza i E˙frona und in der Evrejskaja e˙ nciklopedija Brokgauza i E˙frona. 47 Sˇigirin, zametka, o. D., RGIA f. 821, op. 9, d. 126, l. 44ob–45; Elisavetgradskij vestnik, 8. 5. 1881, S. 3; Kniga pogromov, S. 241. 48 Die folgende Vorgeschichte des Massakers von Fastov stützt sich auf folgende Quellen: Kniga pogromov, S. 210 f., 241–244; Gusev-Orenburgskij, Bagrovaja, S. 208; Spisok gorodov, postradavˇsich ot pogromov, svedenija kotorych postupilo v C. E. K. pomoˇscˇ i postradavˇsim ot pogromov do 15-go ijulja 1919g., RGASPI f. 271, op. 2, d. 127, l. 32.

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unterstanden hatten und jetzt zu Petljuras Streitmacht zählten.49 Abermals war der Einmarsch von Gewalt gegen die Juden begleitet. Systematisch zog ein Trupp Soldaten von einem jüdischen Haus zum nächsten, in wenigen Stunden wurden vier Juden erschlagen und zahlreiche andere verletzt. Dann allerdings setzten Offiziere der Gewalt ein Ende. Die Soldaten durften ihre Quartiere nur noch unbewaffnet verlassen, zwei, die ein neues Pogrom beginnen wollten, wurden hingerichtet.50 In den beiden folgenden Wochen, in denen sich die Truppen des Direktoriums in Fastov halten konnten, blieb es vergleichsweise ruhig. Zwar wurden Juden drangsaliert und zu ungleichen Tauschgeschäften genötigt, doch solche Vorfälle erschienen geringfügig vor dem Hintergrund dessen, was sie bereits erlebt hatten – und was ihnen noch bevorstand. Ende August nahm dann die »Freiwilligenarmee« des Weißen Generals A. I. Denikin Fastov ein.51 Sofort wurde wieder geplündert und geraubt. Der örtliche Kommandant unternahm nichts, um die Täter zu zügeln, obgleich er von den Juden ein fürstliches Schutzgeld verlangte. Manche Offiziere legitimierten den Raubzug, indem sie dafür sorgten, dass die Beute gerecht aufgeteilt wurde. Nur wenn Juden einem Offizier horrende Summen bezahlten, damit er in ihrem Haus Quartier nahm, konnten sie vor den Marodeuren sicher sein. Die jüdische Bevölkerung von Fastov wurde gnadenlos ausgepresst. Es gab auch zahlreiche Vergewaltigungen. Was die Täter jedoch offenbar nicht im Sinn hatten, war tödliche Gewalt. Wenn in diesen Tagen Juden starben, geschah das meist nicht vorsätzlich, sondern weil ihr Tod in Kauf genommen wurde – etwa wenn die Soldaten blind in ein Haus schossen, dessen Tür versperrt war.52 Nach etwa einer Woche zog der Großteil der Weißen Truppen einschließlich der besonders berüchtigten Kosaken weiter, die Juden von Fastov atmeten auf.53

49 Die Westukrainische Volksrepublik hatte sich im Januar 1919 mit der Ukrainischen Volksrepublik vereinigt, sich aber bis zur militärischen Niederlage gegen Polen im Juli 1919 eine weitgehende faktische Unabhängigkeit bewahrt. 50 Kniga pogromov, S. 245. 51 Die genaue Bezeichnung der militärischen Formation lautete: »Streitkräfte Südrusslands«. 52 Kniga pogromov, S. 246. 53 Bei den Kosaken handelte es sich um die zweite Terek-Kosakeninfanteriebrigade (Vtoraja terskaja plastunskaja brigada).

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Dann, am 9. September 1919, gelang es einer Roten Einheit, die Freiwilligenarmee für einige Stunden aus Fastov zu vertreiben.54 Doch alsbald eilte eine Brigade Kosaken herbei und nahm das Schtetl wieder für Denikin in Besitz. Das unbedeutende Scharmützel läutete für die Juden von Fastov die schlimmste Welle der Verfolgung ein. Bei den Kosaken handelte es sich um die erst wenige Tage zuvor abgezogene Einheit, und sie begannen unmittelbar mit dem Marodieren. Zum Teil glichen die Gewalttaten den vorangegangenen. Die Kosaken zogen in kleinen Gruppen von Haus zu Haus, verlangten Geld, schlugen und vergewaltigten ihre Opfer. Niemand gebot ihnen Einhalt. Die Truppen waren auf sich gestellt, die militärische Führung war nicht in der Lage, ihnen Sold zu zahlen oder auch nur die Versorgung mit Nahrung und Munition sicherzustellen. So versorgten sich die Kosaken eben »nach dem Vorbild Wallensteins«.55 Doch die Täter beließen es nicht bei solchen Gewalttaten, die man mit dem Wunsch nach Bereicherung oder sexueller Befriedigung erklären könnte. So hatten die Kosaken u.a. eine besondere Technik entwickelt, um den Juden wirklich das Letzte abzupressen: Sie legten ihrem Opfer eine Schlinge um den Hals und hängten es auf, ließen es aber vor Eintreten des Todes wieder herab und brachten es mit Schlägen wieder zu Bewusstsein. Wer so gefoltert wurde, verriet vermutlich auch das am besten gehütete Versteck. Doch obwohl die Kosaken sehr gut wussten, dass ihr letzter Raubzug in diesem Schtetl erst zwei Wochen zurücklag und die Juden von Fastov in der Zwischenzeit unmöglich Reichtümer angehäuft haben konnten, trieben sie ihr grausames Spiel immer weiter. Nicht nur einmal, bis zu fünfmal wurde derselbe Unglückliche aufgehängt, meist vor den Augen der Angehörigen. Zum Schluss ließen sie viele Opfer dann doch durch den Strang sterben. Einen jungen Juden zwangen die Kosaken, seinem Vater die Schlinge eigenhändig umzulegen. Hinter Gewalttaten dieser Art steckte mehr als Raub. Sie waren im herkömmlichen Sinn nicht instrumentell. Ein weiteres Beispiel soll das verdeutlichen. Abgesehen von zwei Ausnahmen wurden in Fastov alle in 54 Die Schilderung des Massakers von Fastov folgt den folgenden Quellen: Kniga pogromov, S. 253–255; Sˇtif, Pogromy, S. 29; Gusev-Orenburgskij, Bagrovaja, S. 208 f.; Sˇechtman, Pogromy, S. 334–346; Fastoff. Extract of the evidence of different eyewitnesses, 17. 2. 1920, JDC Archives, NY AR 191921/4/36/3/260. 55 Sˇtif, Pogromy, S. 53 f.

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jüdischem Besitz befindlichen Häuser und Läden in Brand gesteckt. Beobachter rationalisierten diese Praxis als Versuch, Spuren der eigenen Verbrechen zu vernichten. Doch tatsächlich wüteten die Kosaken gar nicht heimlich, sondern zum großen Teil am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit. Ungezählte Leichname lagen in den Straßen. Die Gewalt geschah eher demonstrativ als klandestin. Wenn die Kosaken Häuser anzündeten, war das oftmals ein Mittel, um besonders grausam zu töten: Sie hatten zuvor Juden eingesperrt oder zwangen sie, in die Flammen zu gehen. Die Liste verstörender Grausamkeiten lässt sich fortführen: Ließen die Kosaken ihre Opfer am Leben, verstümmelten sie sie; Kleinkinder hieben sie mit dem Säbel entzwei; an einem religiösen Feiertag drangen sie in die Synagoge ein und vergewaltigten die Frauen in Anwesenheit der Männer. Doch vor allem töteten sie: mit dem Strick, mit Säbeln, mit Pistolen und Gewehren, mit Handgranaten, mit Feuer. Die Zahl der Ermordeten lag, vorsichtigen Schätzungen zufolge, zwischen 600 und 1500.56 Viele weitere Juden starben an den unmittelbaren Folgen, weil sie verwundet waren und nicht medizinisch versorgt werden konnten, weil sie Hunger litten oder weil sie gezwungen waren, in Notunterkünften zu leben, wo sich bald der Typhus ausbreitete.57 Beobachtern zufolge stieg dadurch die Zahl der Todesopfer um ein Vielfaches.58 Schon allein die Zahl der Toten würde genügen, um die Frage, ob es sich bei den Gewalttaten der Freiwilligenarmee in Fastov um ein Pogrom oder ein Massaker gehandelt hat, zu beantworten. In kurzer Zeit starben etwa so viele Menschen wie im Zarenreich bei allen Judenpogromen der ersten und zweiten Welle zusammen.59 Der Unterschied zwischen beiden

56 Von etwas geringeren Zahlen geht Nemirovskij aus, der einer Quelle aus dem Umfeld Denikins großes Vertrauen schenkt. Nemirovskij, Bezzakonnye; Nemirovskij, Cˇislu. 57 Kniga pogromov, S. 252. 58 Von 8000 Toten spricht beispielsweise: Kniga pogromov, S. 254; 6000 Tote: Report on Fastov, Kiev guberniia, o.D., JDC Archives, NY AR 192132/4/30/4/496, S. 1. 59 John Klier beziffert die getöteten Pogromopfer bei der ersten Welle mit 25. Auf Grundlage der Daten Stepanovs lässt sich die Zahl der jüdischen Todesopfer bei den Oktoberpogromen auf 1000 schätzen. Das stimmt mit den Angaben Löwes überein, der Motzkins Zahl von 876 jüdischen Toten »in den wichtigsten Provinzen« übernimmt. Die Gesamtzahl der Toten bei den übrigen Pogromen zwischen 1903 und 1906 dürfte bei etwa 500 liegen. Lambrozas Schätzwert von 3000 Toten

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Formen der Gewalt zeigte sich auch bei der Zahl der Verletzten. Während sie bei den Judenpogromen immer deutlich über der der Getöteten gelegen hatte, wurden in Fastov 315 gemeldet.60 Doch auch die Dynamik der Gewalt unterschied sich. Pogrome begannen mit einem Anlass und eskalierten allmählich. In Fastov brauchte es keinen Anlass, die Kosaken begannen unmittelbar nach dem erneuten Einmarsch mit dem Töten. Ausgelöst wurde das Massaker durch die Kriegshandlungen: Antijüdische Gewalt erreichte, wie schon im Weltkrieg, ihre Höhepunkte immer im Zusammenhang mit militärischen Gefechten, in diesem Fall mit dem zurückgeschlagenen Angriff der Roten. Das war aber kein »Anlass« im Sinn der Judenpogrome, denn er war nicht notwendig, um die Täter zusammenzubringen oder um sie auf eine bestimmte Form der Gewalt einzuschwören. Bemerkenswert war, dass sich die Täter auf Gewalt gegen Juden beschränkten. Das ermöglichte einigen Juden die Flucht, weil sie sich als Russen ausgeben konnten.61 Bei den Judenpogromen im Zarenreich hatten sich die Täter auf Angriffe gegen eine bestimmte Opfergruppe beschränkt, weil sie der Zustimmung von Zuschauern bedurften, um vor dem Zugriff der Staatsmacht geschützt zu sein. Bei den Massakern des Bürgerkriegs war das anders: Die Täter mussten praktisch nicht mehr befürchten, für ihr Tun bestraft zu werden. Dennoch befanden auch sie sich in einem Zwang. Um sich langfristig vor Ort zu halten, waren etwa die Kosaken in gewissem Maße auf die Kooperation der Zivilbevölkerung angewiesen und gut beraten, sie sich nicht komplett zum Feind zu machen. Wenn sie hingegen mit den Juden eine unterscheidbare und als »Andere« markierte Gruppe attackierten, konnten sie mit der Zustimmung vieler nicht jüdischer Einwohner rechnen.62 Tatsächlich versuchten viele »Christen«, aus dem Massaker Profit zu ziehen. Sie durchsuchten die verbliebenen Reste, Bauern transportierten ganze Wagenladungen Backsteine und verkohl-

für diesen Zeitraum einschließlich der Oktoberpogrome ist vermutlich zu hoch. Klier, Russians, S. 25; Stepanov, Cˇernaja, S. 79 f., Löwe, Tsars, S. 206; Lambroza, Pogrom Movement, S. 156. 60 Kniga pogromov, S. 250. 61 Sˇechtman, Pogromy, S. 339. 62 In anderen Fällen wurden nicht Juden, sondern andere Gruppen attackiert, z.B. deutsche Kolonisten. Schnell, Räume, S. 204.

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tes Holz von den Ruinen jüdischer Häuser ab, und bei den Kosaken konnte man günstig erstehen, worum man noch vor Kurzem die jüdischen Nachbarn beneidet hatte.63 Dennoch nahmen die Kosaken viel weniger Rücksicht auf die übrige Zivilbevölkerung, als es Pogromtäter taten (und tun mussten). Überhaupt war das Moment der Interaktion zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Akteuren, das Pogrome so stark prägte, fast inexistent. Nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Obrigkeit war als Akteur kaum von Bedeutung, denn wenn es in Fastov, aber auch an anderen Stätten von Massakern, Staatlichkeit gab, dann waren die Täter ihre Repräsentanten. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Spitze der Befehlshaber, in diesem Fall Denikin, die Gewalt angeordnet hat. Tatsächlich scheint es, dass der Kommandeur der Freiwilligenarmee sie ablehnte, weil sie ein Zeichen der Degeneration seiner Truppen war und das Ansehen der Weißen Bewegung in Westeuropa diskreditierte. Mehrmals wurden Tätern Strafen angedroht.64 Gleichzeitig hatte er aber keine Skrupel, antisemitische Propaganda im Kampf gegen die Bolschewiki einzusetzen, und er sorgte auch nicht dafür, dass diejenigen, die Massaker an der Bevölkerung verübt hatten, angemessen bestraft wurden.65 Das wäre vermutlich auch schwer umzusetzen gewesen, denn Offiziere, die exzessive Gewalttäter bremsen oder zur Rechenschaft ziehen wollten, mussten selbst um Leib und Leben fürchten.66 Das kam jedoch selten vor. In der Regel gehörten die lokalen Befehlshaber zu den Komplizen, wenn sie nicht sogar unmittelbar am Massaker teilnahmen. Bei den klassischen Pogromen konnte man auch von den Opfern als Akteuren sprechen. In den Gewalteskalationen des Bürgerkriegs waren sie hingegen weitgehend in eine passive Rolle gedrängt und besaßen nur einen minimalen Handlungsspielraum gegenüber ihren Peinigern.67 Bei den Judenpogromen im Zarenreich hatte prinzipiell Waffengleichheit zwischen Pogromtätern und -opfern geherrscht, über Schusswaffen verfügten sogar eher die Opfer als die Täter, und Letztere waren darauf an-

63 64 65 66 67

Ebd., S. 336 f., 341. Nemirovskij, Bezzakonnye. Katzer, Weiße, S. 288 f. Einige Fälle erfolgter Strafen: Nemirovskij, Bezzakonnye. Kniga pogromov, S. 249; allgemein: Katzer, Weiße, S. 292. Immer wieder gab es auch im Bürgerkrieg jüdische Selbstwehrgruppen. Ihre Geschichte ist noch nicht geschrieben. Rogger, Conclusion, S. 350.

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gewiesen, ihre Übermacht situativ herzustellen. Die Kosaken hatten diesbezüglich weitaus bessere Karten. Aufgrund ihrer Kriegserfahrung und materiellen Ausstattung waren sie den Juden von Fastov so haushoch überlegen, dass es nicht einmal Ansätze von Widerstand gab. Die gewalttätigen Kosaken schienen die Hilflosigkeit der Juden regelrecht zu zelebrieren, wenn sie diese zwangen, dem Leiden von Angehörigen beizuwohnen bzw. an deren oder dem eigenen Tod mitzuwirken. Man kann sich vorstellen, dass solche Situationen von den Tätern als »Rausch der Allmacht« erlebt wurden, was ihre Grausamkeit zum Teil erklären mag.68 Die extrem brutalen Formen der Gewalt von Fastov sind jedoch noch vor einem weiteren Hintergrund zu verstehen. Auch während der Pogrome im Zarenreich kam es zu Gräueltaten wie Vergewaltigungen, Leichenschändungen und Gewalt gegen Kinder, aber sie waren relativ selten und jedenfalls nicht systemisch.69 Ereignisse wie die von Fastov legen hingegen nahe, dass die scheinbar sinnlose Grausamkeit sehr wohl einen Sinn hatte. Sie trat zu häufig auf, als dass man sie zum Werk pathologischer Sadisten erklären könnte. Der Vergleich mit den Pogromtätern im Zarenreich ist erhellend. Bei deren Mobilisierung spielten zwar auch Netzwerke unterschiedlicher Art eine Rolle, familiäre, nachbarschaftliche, berufliche. Insgesamt kamen die Täter aber nur deshalb zusammen, weil es an ihrem Aufenthaltsort eben ein Pogrom gab; danach gingen sie wieder auseinander. Die Kosaken von Fastov hingegen hatten im Weltkrieg gemeinsam eine »Schule der Gewalt« durchlaufen.70 Sie hatten gelernt, was es bedeutete, zu töten und das eigene Leben in Gefahr zu sehen. Das Ergebnis war das, was man landläufig als Brutalisierung bezeichnet. Grausames Handeln wurde zur Routine, und zwar nicht nur deshalb, weil das Vorteile im Kampf mit dem Gegner versprach, sondern weil es zum Medium einer spezifischen Form der Vergemeinschaftung wurde. Auf den Schlachtfeldern des Bürgerkriegs gab es keine Alternative zur Gewalt, man konnte sich ihr nicht entziehen. Diese Situation privilegierte brutale Täter, und folglich genossen sie in ihrem sozialen Um68 Sémelin, Elemente, S. 39. 69 Die Vergewaltigungen während der Pogrome von 1881 bis 1882 hat John Klier untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die insbesondere in der Presse verbreiteten Vorwürfe weit übertrieben waren. Klier, Russians, S. 46 f. 70 Schnell, Räume, S. 147.

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feld auch besonderes Prestige.71 Mit Handlungen, die unter gewöhnlichen Umständen als obszöne Grausamkeit stigmatisiert worden wären, prahlten Offiziere der Weißen Armee, wenn sie gemütlich beisammensaßen.72 Insofern hatte die Gewalt einen auf die Gruppe der Täter selbst bezogenen Sinn. Und allen Berichten zufolge handelten sie auch nicht allein. Diese soziale Dimension mag auch mit erklären, warum die Kosaken regelrecht kreativ neue Formen der Gewalt entwickelten. Über die Jahre hinweg hatten sie eine enorme Erfahrung im Töten und Verletzen von Menschen erworben. Die Täter des Massakers von Fastov hatten allein in den zurückliegenden Monaten ähnliche Gewalttaten in Cˇerkassy, Smela, Rossava, Korusin, Grebenek und vermutlich auch in Gorodiˇscˇ e verübt.73 Angesichts solcher Routine waren nur besondere Untaten berichtenswert und damit prestigeträchtig. Die Entgrenzung der Gewalt entsprang hier also weniger der Interaktion mit den Opfern als der Gruppendynamik der Täter.74 Damit steht Fastov exemplarisch für einen Typ kollektiver Gewalt, das Massaker. Es unterschied sich nicht nur in seinen Ergebnissen, nämlich dem massenhaften Töten, von einem Pogrom, und auch nicht nur in seinem Kontext, dem von Krieg und Bürgerkrieg. Der Gewalt lag auch eine andere Dynamik zugrunde. Sie geschah plötzlich, während Pogrome allmählich eskalierten. Die Täter des Massakers waren routiniert, während die des Pogroms improvisierten. Pogrome entstanden durch die komplexe Interaktion von Tätern, Opfern, Zuschauern und Staatsmacht. Die Struktur des Massakers war einfacher, weil die Staatsmacht als eigenständiger Akteur entfiel und weil die Zuschauer keine notwendige Rolle spielten. Das interaktive Moment zwischen Tätern und Opfern war zudem auf ein Minimum beschränkt. Konstitutiv für das Massaker war die Dynamik der über längere Zeit bestehenden Täterkollektive. Auch wenn nicht jeder Fall von Massengewalt zur Zeit des Bürgerkriegs ein Massaker war und viele Ereignisse am ehesten zwischen dieser Form der Gewalt und Pogromen anzusiedeln sind, lässt sich doch sagen, dass Krieg und Bürgerkrieg ein Umfeld schufen, das klassische 71 72 73 74

Ebd., S. 353–361. Kniga pogromov, S. 283. Nemirovskij, Bezzakonnye. Vgl. dazu allgemein: Welzer, Krieg, S. 38 f.

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Pogrome in den Hintergrund treten ließ. Die Jahre von 1881 bis zum Ersten Weltkrieg waren Russlands Epoche der massenhaften Pogrome. Sie endete, weil ein größeres Übel an ihre Stelle trat.

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Schluss

Pogromgewalt als das Ergebnis der Interaktion unterschiedlicher Akteure mit ihren jeweiligen Handlungslogiken und Ressourcen zu beschreiben, das war das zentrale Anliegen dieser Arbeit. Dazu wurden ausgewählte Gewalttaten in ihrem lokalen Kontext detailliert untersucht. Worin die interaktive Dynamik von Pogromgewalt konkret bestand, zeigt sich am besten, wenn man bei jenen Akteuren beginnt, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, ein Pogrom zu initiieren und eskalieren zu lassen. Entschlossene Gewalttäter, also solche, die bereit waren, für die Tat ein erhebliches Risiko in Kauf zu nehmen, gab es bei Pogromen nicht viele. Ihre Zahl war in den allermeisten Fällen weit kleiner als die der potenziellen Opfer und oft auch kleiner als die der Soldaten und Polizisten vor Ort. Zu einem Pogrom kam es nur dann, wenn die Täter es vermochten, dieses Ungleichgewicht tatsächlich oder zumindest dem Anschein nach zu überwinden. Die Lösung für das erste Problem war vergleichsweise einfach, denn zumindest solange sich die Opfer nicht für eine organisierte Selbstverteidigung entschieden, war es für die Täter nicht schwer, eine lokal begrenzte Übermacht herzustellen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei das Ereignis, das in der Rückschau als der »Anlass« der Gewalt bezeichnet wurde, weil es dafür sorgte, dass viele Pogromwillige an einem Ort zusammenkamen. Dadurch entstand eine lokale Übermacht der Täter, die im Folgenden nur stabilisiert und auf andere Orte übertragen werden musste. Schwieriger war es, das in vielen Fällen überlegene Gewaltpotenzial von Polizei und Militär zu neutralisieren. Aber auch das war möglich, wenn die Täter durch aufsehenerregende Taten dafür sorgten, dass sich ein Schutzschild aus Zuschauern um sie versammelte. Beispielsweise zerrissen sie Bettwäsche, sodass die Federn »wie Schnee« umherflogen. Von zahlreichen Pogromen wird berichtet, dass dieser Anblick das Publikum faszinierte. Doch Gaffer fanden sich nur ein, wenn sich die Gewalt ausschließlich gegen eine einigermaßen klar bestimmte Gruppe richtete, denn sonst hätten potenzielle Zuschauer ja fürchten müssen, selbst Opfer zu werden. Außerdem schufen die Täter Anreize, damit möglichst viele der Anwesenden zu ihnen über278

liefen, typischerweise als Plünderer. Auf diese Weise senkten sie zum einen das Risiko, von der Polizei in Haft genommen zu werden. Zum anderen erweckten sie im gemeinsamen Gewalthandeln den Eindruck einer gewaltigen Pogrommenge, was die Interventionsbereitschaft der Behörden hemmte. Auch wenn die Täter ihr Möglichstes taten, um die Ordnungskräfte vom Pogromgeschehen fernzuhalten und ihr Eingreifen zu vereiteln, waren weder Polizei noch Militär der Situation ausgeliefert. Sie konnten die Entstehung einer Pogromdynamik verhindern oder sie in einem frühen Stadium unterbinden und taten das auch in vielen Fällen. Diese Arbeit konzentrierte sich jedoch auf die Fälle, in denen das nicht gelang. Ein wichtiger Grund für das Versagen der Staatsmacht waren natürlich die fehlenden Ressourcen, vor allem die zu geringe Anzahl von Soldaten und Polizisten. Als ebenso gravierend erwiesen sich aber die Probleme beim Einsatz der zur Verfügung stehenden Kräfte. So zogen sich die Polizisten regelmäßig von den Straßen zurück, sobald ein Pogrom etwas größere Ausmaße erreicht hatte, weil sie von Tätern bedroht wurden und weil sie von einem ordnungsgemäßen Dienst ohnehin wenig Positives zu erwarten hatten. Während einige wenige versuchten, die Gewalt einzudämmen, zogen sich andere auf die Polizeiwachen zurück oder mischten sich gar unter die Täter. Das Militär agierte insgesamt disziplinierter (auch wenn der Unterschied nur graduell war), vermutlich, weil die Verweigerung eines Befehls für einen Soldaten schwere Konsequenzen haben konnte als für einen Polizisten. Allerdings war das Militär beim Einsatz im Inneren auf die Polizei angewiesen, solange es keine umfassenden Vollmachten erhalten hatte. Die Zivilbehörden scheuten jedoch davor zurück, diese zu erteilen. Für die gesamte Hierarchie der Staatsvertreter war typisch, dass sie die Verantwortung nach Kräften von sich wiesen. Häufig begaben sich Polizei und Militär in die Rolle von Zuschauern und vergrößerten damit die Handlungsspielräume der Täter. Die grundlegende Dynamik des Pogroms bestand aus Techniken der Täter, Überlegenheit über die Opfer herzustellen und zugleich die Staatsmacht als Akteur auszuschalten. Diese Techniken fanden sich fast unabhängig davon, welcher Gruppe die Täter und die Opfer eines Pogroms angehörten. Es gab aber auch Unterschiede: Waren die Opfer schwer zu identifizieren, so wuchsen ihre Spielräume, der Gewalt zu entkommen. Im Dorf wirkten sich die engeren Verflechtungen zwischen Tätern und Opfern gewalthemmend aus; nicht selten unterschieden die 279

Täter bei ihren Opfern zwischen Einheimischen und Auswärtigen und behielten sich die schwerere Gewalt für Letztere vor, jedenfalls wenn sich die Täter aus der lokalen Bevölkerung rekrutierten und nicht beispielsweise als militärische Einheit von außen kamen. Einen Sonderfall stellen Pogrome dar, bei denen die Opfer genügend Zeit und Gelegenheit hatten, um sich mehr als nur provisorisch auf die Gewalt vorzubereiten. Im späten Zarenreich war das nur selten der Fall, wie etwa bei den Juden-, Armenier- und Intelligenzija-Pogromen von 1905/06. Bei den Judenpogromen von 1881/82 hingegen fehlte es an potenziellen »Bündnispartnern« wie zum Beispiel revolutionären Parteien, aber auch an Zeit: Bevor Bündnisse hätten geschmiedet werden können, war die Pogromwelle abgeebbt. Dasselbe gilt für die Cholerapogrome von 1892. Erschwerend kam hier noch hinzu, dass die beiden hauptsächlichen Opfergruppen, medizinisches Personal und Polizisten, nur aus Sicht der Täter zusammengehörten, sich selbst aber als disparat wahrnahmen, was koordiniertes Handeln nicht gerade beförderte. Die Deutschenpogrome von 1915 wiederum waren erstens so selten, dass man im Grunde gar nicht von einer Welle sprechen konnte. Außerdem war es unter den Bedingungen der Zeit sehr schwer vorstellbar, dass sich Deutsche zum Selbstschutz organisiert oder gar bewaffnet hätten. Dasselbe galt auch für die Juden, die im Ersten Weltkrieg unter Militärverwaltung standen. Eine jüdische Selbstwehr wäre hier kaum geduldet worden. Später, im Bürgerkrieg, als es gar keine Staatsmacht mehr gab, die hätte sanktionieren oder schützen können, wurde Selbstwehr wieder attraktiver. Wo es eine Selbstwehr gab, war von entscheidender Bedeutung, auf welche Kräfte sie sich stützte. Die eine Möglichkeit war, dass sie sich aus der Breite der lokalen Bevölkerung rekrutierte. Solche Gruppen wurden in dieser Arbeit als nachbarschaftliche Selbstwehr bezeichnet. Ihre Reichweite war begrenzt, und ihr Versprechen war nicht, die Gewalt zu verhindern, sondern sie einzudämmen. Die zweite Möglichkeit war, dass verteidigungswillige potenzielle Opfer mit bereits bestehenden Gruppen ein Bündnis eingingen, um von deren Ressourcen zu profitieren. Das bedeutete aber auch, dass die Bündnispartner das Agieren der Selbstwehr maßgeblich mitbestimmten. So war es z.B., als sich die Juden im Landkreis Zˇitomir unter den Schutz deutscher Vigilanten stellten oder als die Armenier Transkaukasiens die Unterstützung der in Ostanatolien erprobten fedai-Kämpfer suchten. Die Strategie entsprach stets den bevor280

zugten Gewaltpraktiken der jeweiligen Bündnispartner, im ersten Fall eine furchterregende Machtdemonstration, im zweiten Fall bürgerkriegsartige Kämpfe. Für die Juden des Reiches war die am häufigsten gewählte Option Selbstwehr unter der Führung oppositioneller, meist revolutionärer Parteien. Dass die Erfolge dieser Gruppen insgesamt sehr begrenzt waren, wenn man Verhinderung oder Eindämmung der Gewalt zum Maßstab nimmt, wird in der Forschung kaum bestritten. Als Gründe werden meist unzureichende Bewaffnung, innerer Zwist und die Gegnerschaft von Polizei und Militär genannt. Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Schwäche der politisierten Selbstwehr unmittelbar mit ihrer Verbindung zu den revolutionären Parteien zu tun hatte. Aufgrund dieser Verbindung steckte die Selbstwehr in einem Zielkonflikt zwischen Pogromabwehr und revolutionärem Kampf, der nur scheinbar durch die Ineinssetzung von Staatsmacht und Pogromtätern aufgelöst werden konnte. Eine flexible Kooperation mit Polizei und Militär wurde dadurch unwahrscheinlich. Zum revolutionären Erbe der Selbstwehr gehörte auch, dass Abschreckung zur bevorzugten Art des Umgangs mit der Pogromgefahr wurde. Die Abschreckung scheiterte jedoch in den meisten Fällen, weil die Selbstwehrgruppen selbst als Bedrohung wahrgenommen wurden und im Ernstfall oft nicht in der Lage waren, ihr Gewaltpotenzial zur Vergeltung einzusetzen. Effiziente Gegengewalt leisteten eher nachbarschaftliche Selbstwehrgruppen. Und auch auf anderen Wegen, etwa mittels Fürsprache bei den Behörden, konnten Pogrome verhindert werden. Die revolutionären Parteien marginalisierten diese Alternativen aber nach Kräften. Vor allem stellten sie ihr eigenes Selbstwehrmodell in der Öffentlichkeit als sehr erfolgreich dar. Wenn russische Juden dagegen Einspruch erhoben, wurden sie kurzerhand als »jüdische Schwarzhunderter« diffamiert. Die »Schwarzhunderter« aber waren, was ihre vermeintliche Rolle als Urheber der Pogrome angeht, weitgehend eine Fantasie oppositioneller Intellektueller, die meinten, die Gewalttäter könnten nicht aus eigenem Antrieb gehandelt haben, sondern müssten durch Presse, Staatsbeamte und Führer politischer Vereinigungen verführt worden sein. Tatsächlich hat es nicht den Anschein, als hätten die Täter jemanden gebraucht, der sie gegen Juden, Armenier oder die Intelligenzija aufstachelte. An Ressentiments mangelte es nicht, eher an der Aussicht, straflos zuschlagen zu können. Es gab durchaus Personen, die sich Pogrome wünschten, 281

aber ihre Wirkmächtigkeit war sehr begrenzt. Potente Organisationen Pogromwilliger, etwa die Kampfverbände des SRN, entstanden erst nach der Hochzeit der Pogrome, als die Krise der Staatsmacht bereits vorüber war. Diese Verbände konnten Schlägereien anzetteln und Juden drangsalieren, was alles andere als harmlos war. Massengewalt zu initiieren, stand aber nicht in ihrer Macht. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass die Pogromopfer oft einen organisatorischen Vorsprung vor den Tätern hatten. Das lag am asymmetrischen Charakter der Pogromerwartung in beiden Gruppen. Aus der Perspektive potenzieller Täter bedeutete ein Pogrom eine vage Aussicht auf Profit. Deshalb gab es nur wenige, die frühzeitig bereit waren, auf die Gewalt hinzuarbeiten: Die meisten schlossen sich einem Pogrom erst an, wenn das gefahrlos möglich war. Hingegen mussten alle Angehörigen jener Gruppe, die in den Gerüchten als Opfer markiert wurde, seien es Juden, Armenier oder – im Fall von Intelligenzija-Pogromen – die »Hutträger« einer Stadt, fürchten, bei einem Pogrom eine persönliche Katastrophe zu erleben.1 Deshalb konnte sich unter ihnen auch leichter ein organisatorischer Kern bilden, der sich dem Kampf gegen die Pogrome verschrieb. Hinzu kam, dass die Opfer sehr oft auf bereits bestehende organisatorische Strukturen zurückgreifen konnten, wie z.B. religiöse Gemeinden oder politische Parteien. Entsprechungen auf der Seite der Täter gab es kaum. In einigen Fällen waren berufsgenossenschaftliche Vereinigungen von Arbeitern von Bedeutung. Nicht infrage kamen die orthodoxen Gemeinden, weil sich nie alle Gemeindemitglieder in der Weise als potenzielle Täter angesprochen fühlten wie beispielsweise alle Juden als potenzielle Opfer. Die politischen Parteien wiederum, in denen sich Pogromtäter hätten wohlfühlen können, kamen schlechterdings zu spät. Dass die Pogromtäter dennoch regelmäßig als organisiert beschrieben wurden, war im Wesentlichen Folge eines intellektuellen Vorurteils, das dem »einfachen Volk« die Fähigkeit absprach, selbstständig und koordiniert zu handeln. Tatsächlich kalkulierten die Täter ihr Handeln durchaus und spielten geschickt die Schwächen ihrer Gegenspieler aus. Dabei halfen ihnen die Erfahrungen mit Gewalt, die sie von Kindesbeinen angesammelt hatten. Sie wussten, wie man Sympathisanten anlockte,

1

Die »Hutträger« als Opfergruppe z.B. Juˇznye zapiski, No. 46, 13. 11. 1905, S. 82.

282

wie man zuschlug und wann es Zeit war, zu fliehen, und darauf kam es bei einem Pogrom weit mehr an als auf Befehlsketten und detaillierte Planung. Einen Sonderfall bilden Pogrome im Zusammenhang mit Einberufungen zum Militär, wie sie in den Jahren 1904/05 und 1914/15 gehäuft auftraten. Von klassischen Pogromen unterschieden sie sich in ihrem Ablauf: Es fehlten die frühen Phasen des Pogromprozesses mit prognostischen Gerüchten, einem Anlass und allmählicher Eskalation. Stattdessen handelten die Rekruten rasch und unmittelbar, ohne dass die von ihnen verübte Gewalt besonders brutal ausfallen musste. Wenn es Todesfälle gab, dann meist aufseiten der Täter. Die zweite Besonderheit dieser Pogrome lag in der geringen Bedeutung von Feindbildern. Zwar zwang die interaktive Logik des Pogroms die Täter dazu, sich für eine bestimmte Kategorie von Opfern zu entscheiden; welche Gruppe es traf, spielte für die Täter aber offenbar eine untergeordnete Rolle. Oft waren es ethnische Minderheiten, die im Einzelhandel eine hervorgehobene Rolle spielten. Je nachdem, wo sich die Täter befanden, konnten das Deutsche, Perser oder Juden sein. Bestimmend war der Antrieb zur Gewalt, der mit den Opfern nichts zu tun hatte, aber viel mit der besonderen Situation der Einberufenen: Zum einen gehörten Grenzüberschreitungen und Gewalt zum informellen Teil des Rituals, das ihren Abschied aus dem zivilen Leben begleitete. Zum anderen waren die Rekruten oft nicht gut mit Nahrung, Kleidung usw. versorgt, sodass Raub und Plünderung fast legitim erschienen. Gegen wen sich die Ausschreitungen richteten, war bei dieser Art von Unruhen kaum mehr als eine Frage der Gelegenheit. Verbanden sich Pogrome mit Kriegshandlungen, änderte sich ihre Gestalt. Ähnlich wie die Einberufungspogrome ereigneten sie sich überfallartig und ohne spezifischen Anlass. Neu waren jedoch der Bedeutungsverlust des interaktiven Moments sowie die große und von einem Kriegsjahr zum nächsten anwachsende Brutalität. Diese Entwicklung erreichte in den Massakern während des Russischen Bürgerkriegs ihren Höhepunkt. Ermöglicht wurde diese Form der Gewalt durch situative Faktoren. Die Kampagne gegen die Feinde im Inneren ermächtigte Soldaten zu brutalen Vertreibungs- und Enteignungsaktionen. Dabei wurden Vorschriften zunehmend missachtet, weil die Gefahr, zur Rechenschaft gezogen zu werden, gering war. Das galt insbesondere in den unübersichtlichen Phasen des Manöverkampfes und für die Kosaken, 283

die oft in kleinen Einheiten relativ selbstständig agierten. Die Täter ließen die entstehenden Gelegenheiten zur Willkür nicht ungenutzt. Das erklärt aber noch nicht, warum sich die Schwere der Gewalt rapide steigerte, warum neben das Rauben und Plündern Massenmorde traten. Ausschlaggebend war hier, wie sich die Täter durch die jahrelange Erfahrung extremer Gewalt veränderten. Einerseits gewöhnten sie sich an das Töten. Zugleich wurden Gewalttaten zu einem konstitutiven Merkmal der Täterkollektive. Grausames Handeln versprach Prestige und stärkte den Zusammenhalt als Gruppe. Pogrome entstanden durch eine Interaktionsdynamik von Tätern, Opfern, Zuschauern und Behörden. Massaker hingegen wurden fast ausschließlich durch die Gruppendynamik der Täter bestimmt.

Unter den Zeitgenossen gab es hauptsächlich zwei Vorstellungen über den Ursprung der Pogrome. Die einen, vor allem die Akteure des linken politischen Spektrums, sahen die Verantwortung bei Hintermännern, Strippenziehern und »Organisatoren« der Gewalt. Die ultrarechten Zeitgenossen betrachteten die Pogrome hingegen als »elementaren Ausbruch« sozialer Spannungen, als gleichsam naturhaftes Geschehen, »so, wie sich im Gewitter übermäßige Elektrizität entlädt«.2 Dass die Urheber der gesellschaftlichen Konflikte, und damit auch der Gewalt, in dieser Lesart die Juden sein sollten, dürfte kaum überraschen. Beiden Erklärungen der Gewalt war gemeinsam, dass der genaue Zusammenhang zwischen unterstellter Ursache und Gewalttat im Ungefähren blieb. Abstrakt gesprochen war der Ansatz von »links« eher akteurszentriert, der von »rechts« eher strukturell. Betrachtet man hingegen die Gewalttaten selbst, so drängt sich eine Perspektive auf, die von beiden Sichtweisen ähnlich weit entfernt ist. Es gab keine geheimnisvollen masterminds, die Pogrome initiierten und im Verborgenen lenkten. Das heißt aber nicht, dass es deshalb keine Verantwortlichen gab, wie die Anführer der rechten Organisationen behaupteten. Zu Pogromen kam es, weil es Personen gab, denen Gewalt als vielversprechende Handlungsoption erschien,

2

Markov, Dumskie, S. 581; vgl. Bulacel’, Simferopol’skie; Liprandi, Ravnopravie, S. 16–23.

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und weil niemand diese Personen daran hinderte.3 Verantwortlich für die Gewalt waren zuallererst die Täter. Das klingt selbstverständlich, aber gerade sie wurden in den beiden dominanten Narrativen der Zeitgenossen und auch in einem großen Teil der Forschungsliteratur als marginal betrachtet. Diese Arbeit verfolgte einen anderen Ansatz. Es wurde versucht zu zeigen, dass die Täter gleichermaßen wie alle anderen am Pogrom Beteiligten nicht verführte oder irregeleitete Marionetten waren, sondern selbstständige Akteure mit eigenen Handlungslogiken und Zielen. Nur waren diese Ziele zum einen nicht immer dergestalt, dass sie gemeinhin mit rationalem Handeln in Verbindung gebracht werden konnten. Und zum anderen waren die Täter, wie alle übrigen Akteure auch, nie umfassend darüber informiert, was um sie herum geschah. Oft gab es keine verlässlichere Informationsquelle als Gerüchte. Unter anderem deshalb bewirkten manche Handlungen Reaktionen, die weder vorhergesehen noch intendiert waren. Pogrome waren das, was sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure mit ihren jeweiligen Handlungslogiken, Ressourcen und (Fehl-)Urteilen ergab. Auf einer abstrakteren Ebene lassen sich die Ergebnisse dieser Arbeit als Beitrag zur Frage von Ideologie und Situation als Erklärung für Gewalt verstehen. Wie weit reicht die Erklärungskraft beispielsweise des Antisemitismus? Ohne Zweifel hatten Juden-, Armenier- und andere Pogrome mit Ressentiments gegen die jeweilige Gruppe zu tun, aber sie lassen sich nicht allein darauf zurückführen. Pogrome beruhten auf einer Konzeption des Anderen als Feind, und zwar nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Feindseligkeit der primäre Antrieb der Täter war, sondern weil die Täter für ihr Handeln der Zustimmung eines nennenswerten Teils der Bevölkerung bedurften. Diese musste die Gewalt für gerecht oder zumindest für tolerierbar halten, und Voraussetzung dafür war, dass die Opfer als Übeltäter imaginiert werden konnten. Eine solche Vorstellung von den Opfern kann man als Ideologie bezeichnen. Ein Zusammenhang mit den jeweils zeitgenössischen intellektuellen Feinddiskursen konnte jedoch nicht belegt werden. Die Pogrommenge von Elisavetgrad bezog sich weder auf den Mord an Alexander II. noch

3

Vgl. McPhail, Dark, S. 25; Reemtsma, Vertrauen, S. 411, und, auch wenn andere Schlussfolgerungen gezogen werden als die hier präsentierten, Brass, Theft, S. 8.

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glaubte sie an einen Ritualmord, obwohl es dafür vermeintliche Anhaltspunkte gegeben hätte. In Zˇitomir schienen sich die Täter nicht dafür zu interessieren, dass sich die Juden angeblich dem Militärdienst entzogen, und den Tätern von Astrachan’ war es fast einerlei, ob sie Deutsche oder Perser überfielen. Die für die Pogrome relevanten Feindbilder waren meist relativ wenig elaboriert und hatten oft einen lokalen Bezug. »Ideologie« waren sie eher im weiteren als im engeren Sinn. Hinzu kommt, dass es zwar vielerlei Feindbilder gab, aber nur manche für Gewalttaten von Bedeutung waren. Zudem konnte man viele Feindbilder fast überall und immerzu antreffen, während es nur sporadisch zu Gewalt in größerem Ausmaß kam. Für Letzteres spielten offensichtlich situative Faktoren eine erhebliche Rolle. Die Forschungsliteratur hat diesen Umstand vor allem auf der Makroebene, auf der Ebene von Ereignissen landesweiter Bedeutung berücksichtigt. So wurde die These aufgestellt, dass ein staatlicher Kontrollverlust die Bedingungen für massenhafte Pogrome schuf.4 In der Tat wären die Pogromwellen um 1905 oder die zur Zeit des Ersten Weltkriegs kaum vorstellbar, hätten nicht Revolution und Krieg die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigt. Doch ist vor vorschneller Verallgemeinerung zu warnen, wie sich anhand der Pogrome von 1881/82 zeigen lässt. Gewiss, kurz zuvor war der Zar ermordet worden, aber so naheliegend es wäre, daraus eine vorübergehende Schwäche der Exekutive abzuleiten – die Quellen geben keinen Hinweis darauf. 1905 bewirkte das Oktobermanifest, dass einige hohe Beamte im Umgang mit Volksunruhen gleichsam die Orientierung verloren: Sie wussten nicht mehr, was fortan erlaubt, was verboten und was durch besondere Umstände zu rechtfertigen war. 1915 stellte sich die Lage an der Front so dar, dass Angehörige des Militärs sich außer einer Desertion fast alles erlauben konnten; Abstriche bei der inneren Ordnung schienen den Verantwortlichen tolerierbar, wenn die Alternative war, Russlands Kampfkraft zu schwächen. 1881 hingegen gab es keine vergleichbare Schwächung der Staatsmacht. Die Reaktion auf die Pogrome von 1881 war weder besonders kopflos noch ineffizient, sondern fiel so aus, wie man es von einem schwachen Staat erwarten musste. Ob es an einem bestimmten Ort zu einem Pogrom kam oder nicht, hing überdies weniger von den Ereignissen in Sankt Petersburg ab als

4

Bergmann, Ethnic.

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von lokalen Entwicklungen. Pogrome entstanden dann, wenn die Täter mithilfe von Sympathisanten eine lokale Übermacht mobilisieren konnten, die Kräfte der Staatsmacht in Passivität verharrten und die Opfer keine effektive Gegenwehr zu organisieren vermochten. Ausschlaggebend waren dabei Strategien, die darauf abzielten, die Situation zu manipulieren und damit das Agieren möglichst vieler anderer Akteure in einer bestimmten Art und Weise zu beeinflussen. Ein Beispiel dafür sind jene Täter, die in Häuser eindrangen und Einrichtungsgegenstände nach draußen warfen oder ein Spektakel der Zerstörung inszenierten. Sie schufen Anreize, damit Zuschauer und Plünderer am Pogrom partizipierten, und erhöhten auf diese Weise indirekt die Interventionshemmung von Polizei und Militär. Umgekehrt konnte ein einzelner Offizier, der sich dazu durchrang, eine Handvoll Soldaten gegen die Pogromtäter zu führen, dafür sorgen, dass die Teilnahme am Pogrom nicht mehr als nahezu risikofreies Unterfangen wahrgenommen wurde, sodass das Zusammenspiel aus Tätern und Zuschauern in sich zusammenbrach.5 Wenn es so etwas gab wie spezifische Techniken der Pogromgewalt, dann bestanden diese nicht aus Steinewerfen, Schlagen oder Schießen. Vielmehr gebot derjenige, der es verstand, Situationen, genauer gesagt: wahrgenommene Situationen, zu manipulieren und möglichst viele andere Akteure zu beeinflussen, in einem gewissen Maß über Anfang, Ausmaß und Ende der Pogrome. Diese Arbeit versteht sich nicht als Geschichte der russischen Pogrome. Es ging nicht um Vollständigkeit, sondern darum, die Funktionsweise von Pogromgewalt anhand von aussagekräftigen Beispielen zu untersuchen. Zugleich ist diese Arbeit aber eine historische Erzählung, und aus dem Zusammentreffen von systematischem Interesse und narrativer Form ergaben sich Probleme. So wäre es in systematischer Hinsicht sinnvoll gewesen, anhand einiger Beispiele zu zeigen, dass Pogrome gegen Juden in ihrer »Funktionsweise« Pogromen gegen andere Gruppen sehr ähnlich sind. Erzähltechnisch wäre das jedoch problematisch, denn wer will schon mehrmals hintereinander die gleiche Geschichte nur jeweils vor unterschiedlichen Kulissen lesen? Man könnte auch argumentieren, dass es gar nicht nötig ist, detailliert nachzuweisen, dass beispielsweise Pogrome gegen Juden kein Son-

5

Z.B. Wiese, Lalaevs, S. 129.

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derfall sind, denn explizit behauptet das kaum jemand. Wichtige Stimmen wie Donald Horowitz oder Paul Brass sprechen sich für die Deutung von Pogromgewalt als einer sozialen Form mit prinzipiell austauschbaren Akteuren aus. Doch allein dieser Sicht zu folgen, wäre wiederum zu einfach, denn gerade in den historischen Arbeiten zu diesem Thema spielt die These vom Sonderfall durchaus eine zumindest implizite Rolle. Das liegt zum einen meist schon in der Anlage dieser Texte, die in der Regel nur eine Konfliktkonstellation behandeln, wobei Untersuchungen zu antijüdischer Gewalt deutlich überwiegen. Zum anderen resultiert dies aber auch aus den Argumenten, die die Bedeutung historisch tief verwurzelter Judenfeindlichkeit hervorheben, für die es bei vielen anderen Opfern von Pogromen keine Entsprechung gibt. Es wäre also falsch gewesen, die Ähnlichkeit von Juden- und anderen Pogromen einfach vorauszusetzen, und überdies für die Gestalt des Textes auch schwierig, sie ausführlich zu erläutern. Wem die beiden Fallstudien zu den Pogromen von 1892 und 1915 nicht als Beleg der Vergleichbarkeit genügen, sei auf das Vergleichsmaterial in den Fußnoten der übrigen Kapitel verwiesen.6 Im Fließtext hingegen wurde die Ähnlichkeit einerseits weitgehend vorausgesetzt, andererseits aber auf ihre Grenzen hin untersucht. Denn für die Fragestellung war es wichtig, wie sich Unterschiede, beispielsweise in der Erkennbarkeit der Opfer oder in den potenziellen Selbstwehrpartnern, auf die Gewalt auswirkten. Darüber hinaus folgt aus dem Bestreben, der Arbeit so etwas wie einen erzählerischen Spannungsbogen zu verleihen, möglicherweise ein Missverständnis, das vorsorglich ausgeräumt werden soll. Es könnte nämlich so scheinen, und der Aufbau dieser Arbeit legt es in gewisser Weise nahe, als sei ihr Gegenstand eine Eskalationsgeschichte, die mit den sich hauptsächlich gegen Sachen richtenden Pogromen von 1881/82 beginnt und mit dem Blutbad des Bürgerkriegs endet (und die dazu einlüde, den Holocaust als Endpunkt einzubeziehen). Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass hier etwas anderes gemeint ist. Zum einen hätten die Fallbeispiele durchaus auch in einer anderen Chronologie gewählt werden können, denn Einberufungspogrome wie die von 1914 oder 1915 gab es beispielsweise auch schon 1883, Pogrome ähnlich dem 6

Der Autor hat außerdem bereits in kleineren Arbeiten erprobt, wie sich der hier vorgestellte Ansatz auf andere Konfliktkonstellationen übertragen lässt. Wiese, Sluchi; ders., Lalaevs.

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von Elisavetgrad im Jahr 1881 finden sich auch in späteren Zeiten, und der Übergang von Pogromen zu Massakern ließe sich durchaus auch am Beispiel der Gewalt zwischen Armeniern und »Muslimen« im Kaukasus untersuchen. Schwerer als das empirische Argument wiegt aber ein systematisches. Wenn grundlegende Hypothesen dieser Arbeit zutreffen, sind situative Faktoren für das Entstehen, aber auch für die Schwere der Gewalt von entscheidender Bedeutung. Nun ließe sich mit einigem Recht argumentieren, dass auch das Wissen um vorherige Ereignisse zu diesen situativen Faktoren zu zählen ist, doch dies war nur ein Faktor neben anderen. Wichtiger waren die Grenzen, die andere Akteure setzten. Deshalb gab es keine Entwicklungsgeschichte der Pogromgewalt. Es ist keine Selbstverständlichkeit, in einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit zu Pogromgewalt Ansätze der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung zu rezipieren. Oft stehen beide Forschungsrichtungen unverbunden nebeneinander: hier die historischen Arbeiten zu den europäischen Judenpogromen, dort die systematischen Ansätze, deren prominenteste Vertreter, Donald Horowitz und Paul Brass, Spezialisten für Süd- und Südostasien sind und deshalb die europäischen Judenpogrome nur aus der Sekundärliteratur kennen. Selbst historische Studien, die den Vergleich von antijüdischer und anderer »ethnischer« Gewalt wagen, sind selten, für das Russische Reich gibt es nicht mehr als einen einzigen Aufsatz.7 Wichtig scheint mir, dass sich Historiker stärker mit sozialwissenschaftlichen Angeboten auseinandersetzen, und zwar kritisch, auf einer möglichst breiten Grundlage von Quellen und anhand möglichst unterschiedlicher Vergleichsfälle.8 Vielleicht kann dieses Buch einen Beitrag zum Dialog zwischen beiden Forschungsfeldern, der historischen Analyse antijüdischer Gewalt und der sozialwissenschaftlichen Modellbildung, leisten. Das Ziel, kollektive Gewalt besser zu verstehen und dadurch vielleicht eines Tages wirksamer bekämpfen zu können, wäre die Mühe wert.

7 8

Leider weitgehend ereignisgeschichtlich: Amanˇzolova, Iz. Wichtige Schritte in diese Richtung: Hoffmann u.a., Introduction; Klier, Russians.

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In der Geschichte Russlands war die Zeit massenhafter Pogrome relativ klar begrenzt, sie fiel in etwa mit den Regierungszeiten der beiden letzten Zaren zusammen. Das Ende der Pogrome in Krieg und Bürgerkrieg kam nicht, weil ihre Ursachen beseitigt wurden, sondern weil der Staat als notwendiger Akteur schrittweise zerfiel. Der Krieg änderte die Regeln der Gewalt, Massaker traten an die Stelle von Pogromen, das eine Übel wurde durch ein noch größeres abgelöst. Doch auch nach dem Ende des Bürgerkriegs kehrten die Pogrome, zumindest als Massenerscheinung, nicht wieder. Dabei war die Lage, verglichen mit der im Zarenreich, gerade umgekehrt: Damals hatte die Regierung ethnische Gewalt abgelehnt, aber Pogrome hatte es trotzdem gegeben. Die sowjetische Führung hingegen war für ihren Terror gegen die Nationalitäten des neuen Imperiums berüchtigt, aber die Pogrome verschwanden. Denn in einer Hinsicht glichen sich beide Regime: Sie misstrauten der Masse ihrer Untertanen.9 Puschkins Warnung vor dem »russischen Aufruhr ohne Sinn und ohne Erbarmen« hallte bis weit ins 20. Jahrhundert nach. Der Staat der Bolschewiki war, ebenso wie die zarische Autokratie, nicht stark in dem Sinn, dass er die Ausübung von Gewalt tatsächlich hätte monopolisieren können, aber die Bevölkerung lernte schnell, dass, wer der neuen Staatsmacht in die Quere kam, nicht wie im Zarenreich mit einem geordneten Gerichtsprozess und einer maßvollen Strafe rechnen konnte. Deshalb gab es auch, wo die Bolschewiki herrschten, fast keine Judenpogrome mehr.10 Dass dasselbe Regime einerseits eine gezielte antisemitische Kampagne gegen die »kosmopolitische« jüdische Bevölkerung durchführte und diese andererseits vor neuen Pogromen bewahrte, gehört zu den vielen Widersprüchen, die die Geschichte der Juden in der Sowjetunion prägten.11 Die Bolschewiki beendeten anarchische durch institutionalisierte Gewalt. Erst als ihre Macht ins Wanken geriet, zur Zeit der Perestroika, schien eine neue Welle von Judenpogromen bevorzustehen,

9 Für die Sowjetunion: Baberowski, Verbrannte, S. 171, passim; Beyrau, Brutalization, S. 17. 10 Ausnahmen z.B.: Einberufungspogrome in den Gouvernements Vitebsk und Smolensk 1924: Zel’cer, Evrei, S. 211; ein Judenpogrom in Mogilev 1928: Basin, Bol’ˇsevizm; zu einigen Pogromen in der durch die Rote Armee rückeroberten Ukraine in den Jahren 1944 und 1945: Grüner, Did, S. 361–363; Salomoni, Statesponsored. 11 Grüner, Patrioten, S. 489–507.

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doch diesmal erfüllten sich die schlimmsten Erwartungen nicht.12 Erweitert man den Blick jedoch auf andere Gruppen, so begann in jener Zeit tatsächlich eine neue Explosion der Gewalt mit Krieg und Pogromen an den Rändern des zerfallenden Imperiums. So war es 1988 in Sumgait, 1989 im Ferghana-Tal und 1990 in Baku, um nur einige zu nennen. In Russland selbst richtete sich die Gewalt vornehmlich gegen Menschen aus dem Nordkaukasus und Zentralasien, zuletzt mit Pogromen in Kondopoga 2006 und Stavropol 2007.13 Offenkundig bleibt Gewalt, auch Pogromgewalt, eine in manchen Situationen attraktive Handlungsoption. Sollte einmal eine Geschichte der Pogrome in Russland geschrieben werden, ihr Ende müsste offen sein.

12 Gitelman, Glasnost; Guisburg, Pogrom am 5. Mai? 13 Diese Unruhen sind kaum erforscht. Vorläufig sei verwiesen auf: Arnold, Russian; ders., Thugs.

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Anhang Dank Dieses Buch, das auf meiner 2015 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation basiert, gäbe es nicht, hätte ich nicht von vielen Menschen Unterstützung erfahren. An erster Stelle ist hier mein Doktorvater Jörg Baberowski zu nennen, der mir über viele Jahre Vertrauen entgegengebracht hat. Der Austausch mit ihm war voller Herausforderung und Inspiration, die Zeit an seinem Lehrstuhl ungeheuer lehrreich. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er sie mir ermöglicht hat. Werner Bergmann war nicht nur Zweitgutachter der Dissertation, seine Texte haben auch entscheidende Anstöße für ihre inhaltliche Ausrichtung gegeben. Ich bewundere seine Grenzgänge zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften. Der Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin war für viele Jahre meine wissenschaftliche Heimat. Gemeinsam mit Ulrike Huhn und Tadzio Schilling habe ich im Projekt »Gerüchte und Gewalt in Russland« schöne, ereignisreiche Jahre verbracht. Mit Bota Kassymbekova, Benjamin Beuerle und wiederum Ulrike Huhn haben wir eigene Texte und Thesen diskutiert. Diese Treffen bleiben für mich Maßstab für gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Robert Kindler und Felix Schnell standen mir in guten und schlechten Zeiten zur Seite. Ihr Rat und ihr Zuspruch haben mir nicht nur fachlich über unzählige Schwierigkeiten hinweggeholfen. Christian Teichmann hat mich durch sein präzises Urteil vorangebracht. Wie sehr er recht hatte, habe ich manchmal erst Jahre später verstanden. Vielen weiteren ehemaligen Kollegen sei summarisch gedankt. Ihr habt dafür gesorgt, dass der Lehrstuhl immer ein anregender und aufregender Ort war. Christian Kietzmann hat die Dissertation von vorn bis hinten gelesen und profund kommentiert. Bei dieser Gelegenheit haben mich seine Klugheit, Bildung und sein Einfühlungsvermögen einmal mehr beeindruckt. Natalija Nikolaevna Sidorova hat mir geholfen, Russland zu verstehen und trotz allem auch zu lieben. Stefanie Schüler-Springorum verfasste nicht nur ein drittes Gutachten für meine Dissertation, sondern stimmte gemeinsam mit Michael 292

Wildt und Jörg Baberowski dafür, das Buch in die Reihe Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bei der Hamburger Edition aufzunehmen. Mit ihrem Lektorat hat Sigrid Weber mir die Augen für gedankliche Kurzschlüsse und sprachliche Marotten geöffnet. Deshalb hat nicht nur mein Text von ihrem Ratschlag profitiert, sondern auch ich selbst. Finanziell wurde meine Arbeit von der DFG und dem »SchroubekFonds östliches Europa« gefördert. Beiden sei dafür herzlich gedankt. Meine Mutter Ingrid Wiese hat mich in einer Weise unterstützt und bestärkt, wie es vielleicht nur Eltern können. Mit einem Dank allein ist es da nicht getan. Vielleicht gelingt es mir, etwas von dem, was sie mir gab und gibt, weiterzutragen zu Julia, Karl Moritz und Jonathan. HansJürgen Schaefer half uns, wann immer es ihm möglich war. Meine Großeltern Gerda und Günter Rahm haben mir auf jeweils ganz eigene Weise gedankliche Welten aufgeschlossen. Von ihren Anregungen zehre ich bis heute. Auch ohne Evelyn Schuster-Prasuhn und Reinhard Schuster gäbe es dieses Buch vermutlich nicht, denn sie haben mir in den entscheidenden Situationen Freiräume geschaffen, ohne die ich es nicht hätte zu Ende bringen können. Mit ihrer Offenheit und Tatkraft sind sie mir zu Vorbildern geworden. Meine Frau Anne hat mit mir Schaffenskrisen, Frustrationen und den einen oder anderen Höhenflug geteilt. Sie hat mich bestärkt oder zu Mäßigung geraten, mir Ruhe gegeben oder mich angetrieben, und zwar stets im richtigen Augenblick. Dieses Buch ist drei Menschen gewidmet, die wir gemeinsam vermissen.

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Schlüssel zu in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen und Termini cˇ . – cˇ ast’ – Abschnitt d. – delo – Akte Dir. – Direktor DP – Departament policii – Polizeidepartement f. – fond – Bestand g. – Gorod – Stadt general-gubernator – Generalgouverneur gub. – Gubernija – Gouvernement gubernator – Gouverneur GZˇU – Gubernskoe zˇ andarmskoe upravlenie – Gouvernements-Gendarmerieverwaltung l. – als Teil einer delo-Angabe: liter – Buchstabe; am Ende eines Belegs: list – Blatt MJu – Ministerstvo Justicii – Justizministerium MVD – Ministerstvo vnutrennych del – Innenministerium aber: g. MVD – Gospodin ministr vnutrennych del – Innenminister Naˇc. – Naˇcal’nik – Leiter ob – obratnaja storona – Rückseite OO – osobyj otdel – Sonderabteilung (des Polizeidepartements) op. – opis’ – Findbuch OS – Okruˇznoj sud – Bezirksgericht Pristav – Polizeihauptmann Prokuror – Staatsanwalt PSZ – Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii – Vollständige Gesetzessammlung des Russischen Reiches SP – Sudebnaja palata – Gerichtskammer t. – tom – Band u. – Uezd – Landkreis

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Archive AIU – Archives du Alliance Israelite Universelle, Paris URSS I C 1 CDIAU – Central’nij derˇzavnij istoriˇcnij archiv Ukraini, Kyiv (Zentrales staatliches historisches Archiv der Ukraine) f. 274 Kievskoe gubernskoe zˇ andarmskoe upravlenie f. 317 Prokuror Kievskoj sudebnoj palaty f. 318 Kievskaja sudebnaja palata f. 336 Char’kovskoe gubernskoe zˇ andarmskoe upravlenie f. 419 Prokuror Odesskoj sudebnoj palaty f. 442 Kanceljarija Kievskogo, Podol’skogo i Volynskogo general-gubernatora f. 1335 Volynskoe gubernskoe zˇ andarmskoe upravlenie DAZO – Derˇzavnij archiv Zˇitomirs’koi oblasti, Zˇitomir

(Staatsarchiv des Gebiets Zˇitomir) f. 24 Zˇitomirskij okruˇznyj sud

GARF – Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj federacii, Moskau

(Staatsarchiv der Russischen Föderation) f. 102 – Departament Policii MVD JDC – American Joint Distribution Committee Archives NY AR 191921/4/36 Records of the American Jewish Joint Distribution Committee of

the years 1919–1921, Russia NY AR 192132/4/30 Records of the American Jewish Joint Distribution Committee, 1921–1932, USSR

RGASPI – Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-politiˇceskoj istorii, Moskau

(Russisches staatliches Archiv für sozial politische Geschichte) (verwendet wurden die Verfilmungen von IDC Publishers) f. 271 Archiv Bunda RGIA – Rossijskij gosudarstvennyj istoriˇceskij archiv, Sankt Petersburg

(Russisches staatliches historisches Archiv) f. 821 Departament duchovnych del inostrannych ispovedanij MVD f. 857 Zarudnyj, Aleksandr Sergeeviˇc f. 1276 Sovet Ministrov f. 1284 Departament obˇscˇ ich del MVD f. 1288 Glavnoe Upravlenie po delam mestnogo chozjajstva MVD f. 1292 Upravlenie po delam o vojskoj povinnosti MVD f. 1392 Revizija senatora E. F. Turau g. Kieva

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f. 1405 Ministerstvo justicii f. 1565 Central’nyj komitet obˇscˇ estva dlja dostiˇzenija polnopravija evrejskogo naroda v Rossii

Als Quellen verwendete Zeitschriften und Zeitungen Astrachanec Astrachanskij listok Astrachanskij vestnik Astrachanskie guberskie vedomosti Bakinskie izvestija Chersonskie eparchial’nye vedomosti Elisavetgradskij vestnik Golos Jewish Chronicle Juˇznyj kraj Juˇznye zapiski Kaspij Kievljanin Kievskaja gazeta Kievskie otkliki Novoe vremja Odesskie novosti Poslednie izvestija

296

Pravo Rassvet Russkij evrej Russkie vedomosti Russkoe bogatstvo Russkoe slovo Saratovskij dnevnik Saratovskij listok Saratovskij sanitarnyj listok Tiflisskij listok The [London] Times Vestnik Bunda Vestnik evropy Volyn’ Volynskaja zˇ izn’ Voschod Vpered Vraˇc

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Zum Autor

Stefan Wiese, Dr. phil., studierte Geschichte, Psychologie und Musikwissenschaft in Leipzig und Sankt Petersburg. Von 2008 bis 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2011 Redakteur bei H-SozKult.

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