Platons sämmtliche Werke: Band 1 Vertheidigung des Sokrates. Kriton. Phaidon. Das Gastmahl [Reprint 2020 ed.] 9783111695334, 9783111307435


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German Pages 522 [504] Year 1848

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Platons sämmtliche Werke: Band 1 Vertheidigung des Sokrates. Kriton. Phaidon. Das Gastmahl [Reprint 2020 ed.]
 9783111695334, 9783111307435

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P l a t oils sämmtliche

Wer

übersetzt von

Dr. Gottlieb Friedrich Drescher.

Erster Band. Vertheidigung des Sokrates. Kriton. Phaidon. Das Gastmahl.

G iefsen. J.

Ricke r'sehe

Buchhandlung.

1 8 4 8.

torrede. Die vorliegende Uebersetzung von vier Schriften P i a t o n s , welche ich hier dem gelehrten Publicum als ersten Band der sämmtlichen Werke des grofsen hellenischen Philosophen übergebe, ist bei allen ihren Mängeln und etwaigen Vorzügen keine übereilte Arbeit. Sie ist nur ein kleiner Bestandtheil eines grofsen Ganzen, dessen Bearbeitung mich schon über zwölf Jahre beschäftigt hat, und welche ich mir zur wissenschaftlichen Aufgabe meines L e bens gemacht habe. Wenn nun langjähriger unverdrossener Fleifs, ausdauerndes redliches Streben nach dem Besseren, und reine begeisterte Liebe zur Sache Vieles bei Unternehmungen dieser A r t erringen helfen, so habe ich in der That das beruhigende und freudige Bewufstsein, dafs von dieser Seite bisher nicht mehr von mir hätte geschehen können. Nur e i n Zweifel, nur ein Bedenken ist mir übrig geblieben, ob nicht überhaupt mehr Kenntnifs, Urtheil und Geschick zu einer solchen Arbeit erfordert wird, als ich zu derselben mitbrachte. Möge sie in dieser Beziehung nicht gar zu viel zu wünschen übrig lassen! Als leitenden Grundsatz habe ich überall streng den befolgt, dafs nur e i n e Uebersetzung die richtige sein könne. Auf diese Weise habe ich mir die Arbeit natürlich nicht erleichtert, sondern eher erschwert. Um meinen Zweck um so sicherer zu erreichen, habe ich von sämmtlichen in diesem Bande enthaltenen Partieen zwei vollständige, ganz von einander unabhängige Uebersetzungen zu verschiedenen Zeiten ausgearbeitet, aus deren wiederholten Vergleichungen die für die Presse bestimmte Handschrift hervor-

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gegangen ist. Dadurch ist zugleich auch mein Verfahren vollkommen gerechtfertigt, dafs ich Zusammentreffen, mitunter wörtliche Uebereinstimmung mit meinen Vorgängern durchaus nicht gescheut und vermieden habe. Ich habe mich dabei unbedenklich an den Ausspruch eines grofsen Gewährsmannes gehalten : »Nur Eines kann das Beste sein; und dieses darum, weil es ein Anderer gefunden, mit Eigenem vertauschen zu wollen, wäre Thorheit und eitle Selbstgefälligkeit« *). An Selbstständigkeit glaube ich dadurch auch eher gewonnen als verloren zu haben, und hoffe, ohne der Bescheidenheit zu nahe treten zu wollen, dafs sich diese Versicherung bei näherer Vergleichung als wahr erweisen werde. Möglichst treu und möglichst lesbar zu übersetzen, ohne weder zu sehr von dem Urtexte abzuweichen, noch der deutschen Sprache Gewalt anzuthun, war unausgesetzt mein Hauptbestreben. Nur in der Uebertragung der bei P i a t o n so häufigen Anakoluthieen habe ich mir hin und wieder eine etwas freiere Fassung erlaubt, aber auch dieses nur da, wo ich gewissermafsen in meinem Recht zu sein glaubte; und wo ich durch zu enges Anschliefsen an das Original im Deutschen eine Verzerrung des Satzes oder eine Verdrehung des Gedankens zu fürchten hatte. Ich glaube nicht, dafs mir dieses zum besonderen Vorwurfe gereichen werde. In solchen Fällen war ich natürlich immer in der Lage, dafs ich unter zwei Uebeln das kleinere wählen zu müssen erachtete. Die sämmtlichen mir bekannt gewordenen deutschen Uebersetzungen, namentlich die von S c h l e i e r m a c h e r , habe ich überall gewissenhaft benutzt, und bin dabei bis auf die ältesten zurückgegangen. Selbst die Vergleichung von K l e u k e r ist stellenweise nicht ohne Nutzen für mich gewesen. Wenn ich auch seine Worte nicht geradezu bei*) B ö c k h in der Vorrede zur Antigene des Sophokles, pag. IV.

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behalten konnte, so wurde ich doch hier und da erst durch ihn auf das Richtige hingeleitet. Die lateinischen Uebertragungen konnte ich natürlich nur da benutzen, wo ich durch ihre Vergleichung den gesuchten besseren Ausdruck oder eine vortheilhaftere Wendung zu ermitteln hoffen durfte. Dankbar mufs ich gestehen, dafs mir dieses hin und wieder, namentlich durch Zuziehung der Uebersetzungen der Apologie und des Kriton von F r i e d r i c h A u g u s t W o l f gelungen ist. Im Uebrigen habe ich ihre Vergleichung, weil ich mich durchaus streng an das griechische Original angeschlossen, eher vermieden als gesucht. Ich glaubte um so mehr so verfahren zu müssen, weil ich bei manchen Stellen die Bemerkung gemacht hatte, dafs meine Vorgänger weniger nach dem Urtexte P i a t o n s, als nach der lateinischen Version des M a r s i l i u s F i c i n u s übersetzt, und dadurch in der That den nach dem Griechischen näher liegenden richtigen deutschen Ausdruck verfehlt hatten. Ursprünglich hatte ich den Plan geordnet, den einzelnen Dialogen Einleitungen und erklärende Anmerkungen, namentlich Sacherläuterungen, beizugeben. Da indessen mein Hauptbestreben dahin geht, eine Uebersetzung zu liefern, so habe ich mich nach reiflicher Ueberlegung entschlossen, erßt diese zu vollenden, und später das, was ich allenfalls bei erweitertem Wissen und reiferem Urtheil noch ferner zu leisten im Stande sein sollte, in einem eignen Bande nachzuliefern. Ganz unverhohlen gestehe ich indessen, dafs ich mich dieser Arbeit, zu welcher allerdings bereits Manches vorbereitet ist, aus Grundsatz nicht eher unterziehen werde, als ich durch eigne Anschauung über den inneren Zusammenhang der einzelnen Platonischen Schriften mehr ins Klare gekommen bin, als es mir bisher gelungen ist, und bei dem besten Willen hat gelingen können. Ich schäme mich dieses Geständnisses keineswegs* denn ich halte es für besser, durch fortgesetztes Studium

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lieber noch Manches von der Zukunft zu erwarten, als schon jetzt als Mitredender über Gegenstände aufzutreten, die so grofse Schwierigkeiten darbieten, und zu deren Entwickelung und festerer Begründung ein reiferes und bestimmteres Urtheil erfordert wird, als ich es jetzt abzugeben vermöchte. — A n Gelegenheit, die hierzu erforderlichen Notizen zu sammeln und zu verarbeiten, unter der Hand vielleicht auch neue Ansichten zu begründen, kann es natürlich am wenigsten dem Uebersetzer fehlen. Ich werde sie, so viel in meinen Kräften steht, überall gewissenhaft benutzen. Jeder urtheilsfähige Kenner mufs es aus Erfahrung wissen, dafs sich hierin, selbst nach den gründlichen und umfassenden Leistungen von T e n n e m a n n , S c h l e i e r m a c h e r , A s t und S o c h e r , noch so viel Unhaltbares , Schwankendes, Unerwiesenes und zum Theil sich Widersprechendes vorfindet, dafs es am Ende vielleicht besser ist, bei P i a t o n zu bleiben, und sich von ihm, belehren zu lassen, als sich in das Labyrinth vielfacher willkührlicher Annahmen zu verlieren, in welchem sich unläugbar manche seiner Ausleger irre gegangen haben. Dafs aber in dem Zurückgehen auf die Quelle selbst hier allein Heil zu suchen und zu finden sei, haben bereits die Untersuchungen der neuesten Zeit, namentlich die gediegenen und gründlichen Schriften von S t a l l b a u m u n d K a r l F r i e d r i c h H e r m a n n auf das glänzendste erwiesen und bewährt. Bei der Uebersetzung habe ich nicht nur den Text, sondern auch die Eintheilung und Reihenfolge der einzelnen Dialoge nach der neuesten Ausgabe von S t a l l b a u m in der Gotha - Erfurter Sammlung zu Grunde gelegt. Ihr habe ich für meinen Zweck bei Weitem das Meiste zu verdanken, und schon dieses war Grund genug für mich, in keinem Fall einen andern W e g einzuschlagen. A n ihm hatte ich im Ganzen, wie im Einzelnen, einen so treuen und sicheren Führer, dafs ich mich auch für die Folge ganz an ihn anschliefsen werde.

vn Nicht ohne sehr ernste Gedanken beginne ich in einer sehr ernsten Zeit die öffentliche Herausgabe eines Werkes, das mir unendlich lieb geworden ist, und dem ich auch für die Zukunft die besten Stunden meines Lebens zu widmen gedenke. Ob ich aber je an dem gewünschten schönen Ziele ankommen werde, hängt von Zeit und Umständen, vor allem Andern aber davon ab, ob ich nach demUrtheil sachverständiger Kenner die dazu erforderlichen Eigenschaften besitze, und ob mir Gott überhaupt Leben und Gesundheit so lange fristen wird. Die auch für meinen Zweck ganz bezeichnenden Worte des Sokrates in einer Stelle des Phaidon*) — xai afta /.tev ¿yio tocog ovd' av oiös Tf.

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—• die ich oft im Stillen als eine ernste Mahnung betrachtete, spreche ich hier ganz offen als meine volle Ueberzeugung aus.

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Was nun die Fortsetzung des Ganzen betrifft, so kann und werde ich mich mit dem Erscheinen der folgenden Bände niemals an eine bestimmte Zeit binden. Einestheils wäre das ganz gegen meine Grundsätze, anderntheils dürfte ich schon um der Sache willen nicht anders verfahren; denn ich halte es für unabweisliche Pflicht eines jeden Uebersetzers solcher Meisterwerke des Alterthums, seinen Leistungen den Grad der Reife und Vollendung zu geben, der ihm nur irgend zu erstreben möglich ist. — Arbeiten dieser A r t können ohnehin nur in freien Stunden gedeihen, in welchen man sich unwillkührlich zu dem geliebten Gegenstande hingezogen fühlt, und gar nichts Anderes thun und denken mag. A m wenigsten würden selbstgeschmiedete Fesseln bei der Nachbildung P i a t o n s an ihrem Orte sein. Sein Genius ist der Genius der Freiheit, und seine Welt die Welt der Ideale. Von jenem getragen beherrscht er diese durch eine unvergleichliche Sprache. Schon die Alten /)

108. D . Cap. 58.

Vili sprachen mit Begeisterung von ihr. J o v e m , a i u n t p h i l o s o p h i , si G r a e c e l o q u a t u r , sie l o q u i *). Auch die beste Uebersetzung wird in vielen Stellen nur ein treuer Schatten des Originals sein. Nirgends habe ich dieses lebhafter und tiefer empfunden, als bei der Nachbildung des Gastmahls. Mit Recht nannte es W i e l a n d * * ) ein poetisches Prachtwerk. Form und Inhalt sind in jeder Zeile classisch und die Sprache desselben gehört gewifs zu der schönsten Prosa, die je geschrieben worden ist. A n mehr als einer Stelle sah ich mich vor und nach dem Kampfe überwunden, und dachte oft tiefbeschämt an die Worte F r i e d r i c h L e o p o l d S t o l b e r g ' s in einer Note zur Ilias : o lieber Leser, lerne Griechisch, and wirf meine Uebersetzung ins Feuer! W i e wenig ich geleistet habe, fühle ich selbst; wie viel? — das sei dem Urtheil gerechter Richter anheimgestellt G i e f s e n im Juli 1848.

Dr. €f. F. Drescher. *) Cicero's Brutus. Cap. 31. §. 121. **) Aristipp und seine Zeitgenossen, S. 168.

Verteidigung des Sokrates.

1. Welchen Eindruck, ihr Männer von Athen, meine Ankläger auf euch gemacht haben, weiss ich nicht. Ich für meine Person hätte über ihnen beinahe meiner selbst vergessen; so überzeugend redeten sie. Wiewohl Wahres haben sie, so zu sagen, nichts gesprochen. Am meisten jedoch habe ich mich unter dem Vielen, was sie fälschlich vorgegeben, über Eins an ihnen gewundert, über die Behauptung nämlich, dass ihr euch wohl zusammennehmen müsstet, damit ihr nicht von mir hintergangen würdet, da ich ein gar gewaltiger Redner sei. Denn dass sie sich gar nicht schämen, weil sie doch auf der Stelle von mir durch die That widerlegt werden müssen, wenn ich auch nicht im Entferntesten als ein gewaltiger Redner erscheine, dieses kam mir als das Unverschämteste an ihnen vor, wenn dieselben nicht etwa den einen gewaltigen Redner nennen, welcher die Wahrheit redet. Denn wenn sie dieses meinen, so möchte ich wohl zugestehen, ein Redner zu sein, nur nicht in ihrem Sinne- Sie haben nämlich, wie ich behaupte, wenig oder gar nichts Wahres gesagt; ihr aber sollt von mir die vollständige Wahrheit hören. Keineswegs jedoch, bei Zeus, ihr Männer von Athen, in Bezug auf Gedanken und Ausdrücke schön geordnete oder durch Schmuck prangende Reden, wie die von ihnen, sondern einen ungeregelten Vortrag werdet ihr hören in ganz zufälligen Ausdrücken. Ich hege nämlich das Vertrauen, dass das, was ich sage, gerecht ist, und niemand unter euch erwarte es 1*

4 anders. Denn keineswegs dürfte es sich doch wohl ziemen, ihr Männer, in einem solchen Lebensalter, wie ein junger Mensch, der Reden zurechtkünstelt, vor euch hinzutreten. Aber auch darum, ihr Männer von Athen, ersuche ich euch dringend und bedinge es mir aus, dass ihr, wenn ihr mich mit denselben Worten meine Vertheidigung fuhren höret, mit welchen ich sowohl auf dem Markte an den Wechslertischen, wo die meisten von euch mich gehört haben, als auch anderwärts zu reden gewohnt bin, deshalb weder erstaunet noch Lärm machet. Es verhält sich nämlich also : jetzt zum erstenmal bin ich vor Gericht erschienen, in einem Alter von mehr als siebenzig Jahren. Ich bin also recht eigentlich fremd in der hier üblichen Redeweise. So wie ihr nun, wenn ich in der That ein Fremdling wäre, doch wohl Nachsicht mit mir haben würdet, wenn ich in jener Mundart und Weise spräche, in welchen ich erzogen 18 wurde, so richte ich denn auch jetzt, wie mich dünkt, darin eine gerechte Bitte an euch, dass ihr die Art des Ausdrucks unbeachtet lasset, — vielleicht dürfte sie etwas schlechter, vielleicht aber auch wohl besser sein — und dass ihr gerade das ins Auge fasset, und darauf euere Aufmerksamkeit hinlenket, ob ich Rechtmässiges rede, oder nicht. Denn das ist ja eben der Hauptvorzug des Richters, der des Redners aber, die Wahrheit zu reden. 2. Fürs Erste nun liegt mir die Verpflichtung ob, mich gegen dasjenige zu vertheidigen, ihr Männer von Athen, dessen ich zuerst fälschlich angeklagt worden bin, und gegen die ersten Ankläger, dann aber gegen die späteren Klagen und Kläger. Denn gegen mich sind längst und schon vor vielen Jahren viele Ankläger bei euch aufgetreten, die nichts Wahres vorbrachten; und diese furchte ich mehr als Anvtos und seinen Anhang, wiewohl auch diese gefahrlich sind. Allein jene sind gefährlicher, ihr Männer, welche gar viele unter euch von früher Jugend auf an sich zogen und überredeten und ganz gegen die

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Wahrheit die Klage gegen mich erhoben : es sei da ein gewisser Sokrates, ein weiser Mann, welcher den Dingen am Himmel nachspähe, und alle Gegenstände unter der Erde durchforscht habe, und die schwachbegründete Sache zur überlegenen mache. Diese, ihr Männer von Athen, welche ein solches Gerücht ausgesprengt haben, die sind meine gefährlichen Ankläger. Denn die, welche es hören, sind der Ansicht, Leute, welche nach solchen Dingen forschen, glauben auch nicht einmal an Götter. Sodann sind dieser Kläger viele, und lange Zeit bereits sind sie klagend aufgetreten; zu dem haben sie auch in einem solchen Alter zu euch geredet, in welchem ihr ihnen am leichtesten hättet glauben können, indem ihr Knaben wäret, einige von euch wohl auch Jünglinge; und recht eigentlich an leerer Stätte brachten sie ihre Klage vor, wo niemand sich vertheidigte. Das Widersinnigste von Allem aber ist, dass es nicht einmal möglich ist, ihre Namen zu wissen und anzugeben, ausser nur, wenn allenfalls ein Komödiendichter darunter vorkommt. Die aber, welche euch aus Neid undVerläumdung beredeten, und welche, nachdem sie sich selbst haben überreden lassen, Andere überredeten, diesen insgesammt ist durchaus gar nicht beizukommen. Denn weder ist es mir möglich, einen von ihnen hier auf den Platz zu bringen, noch zu widerlegen, sondern ich muss bei meiner Vertheidigung recht eigentlich wie mit Schatten .kämpfen, und mich auf Widerlegung einlassen, während Niemand Rede steht. S o gehet denn auch ihr von der Ansicht aus, dass, wie ich behaupte, zweierlei Ankläger gegen mich aufgetreten sind; die Einen, welche so eben ihre Klage vorgebracht haben, die Andern, welche schon längst, die ich hier meine; und glaubet, dass ich mich gegen diese zuerst vertheidigen müsse. Denn auch ihr habt ja früher auf ihre Klagen gehört, und wpit mehf als auf die der Späteren. Wohlan denn! Vertheidigen muss ich mich also, ihr 19 Männer von Athen, und darauf hinarbeiten, euch ein nach-

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theiliges Vorurtheil, welches ihr schon seit langer Zeit hegtet, zu benehmen, und dieses dazu noch in so kurzer Zeit. So wünschte ich denn nun, dass dieses so von Statten gienge, wenn es sowohl euch als mir von Nutzen ist, und dass ich durch meine Vertheidigung auch etwas gewönne. Ich glaube indessen, dass dieses schwer ist, und es entgeht mir durchaus nicht, wie die Sache steht. Gleichwohl gehe dieses, wie es Gott gefallt : ich habe dem Gesetz zu gehorchen und mich zu vertheidigen. 3. So wollen wir denn von Anfang her nochmals in Erwägung ziehen, was es für eine Anschuldigung ist, aus welcher das nachtheilige Vorurtheil gegen mich entstanden, und auf welche vertrauend Meietos diese Klage gegen mich eingereicht hat. Nun gut! Durch welche Angaben verläumdeten mich meine Verläumder? Gerade so nun, als wären sie förmliche Ankläger, muss ich ihre beschworene Klageschrift vorlesen. »Sokrates v e r g e h t sich und t r e i b t Ungehöriges, indem er dasjenige erforscht, was u n t e r der E r d e ist und am Himmel vorgeht, und indem er die schwachbegründete Sache zur ü b e r l e g e n e n macht, und ganz dieselben Dinge auch Andere lehrt« Das ohngefähr ist der Inhalt derselben. Aehnliches habt ihr ja auch selbst in des Aristophanes Komödie gesehen, wo ein gewisser Sokrates herumgetrieben wird, welcher vorgiebt, dass er in der Luft wandele, und allerlei anderes albernes Zeug treibt, wovon ich Nichts, weder Grosses noch Kleines verstehe. Und ich sage dieses nicht, um eine solche Wissenschaft herabzusetzen, wenn jemand in Dingen der Art weise ist; wenn ich mich nur nicht von Seiten des Meietos gegen solche Anklagen zu verwahren hätte! sondern ich habe wirklich, ihr Männer von Athen, nichts mit diesen Dingen zu schaffen. Zu Zeugen aber stelle ich die Meisten von euch selber, und fordere euch auf, euch gegenseitig zu belehren und zu verständigen, so viel deren jemals meine Unterredungen mit angehört

7 haben; bei gar vielen von Euch aber ist dieses der Fall. So erklärt Euch denn gegenseitig, ob jemals Einer unter Euch mich wenig oder viel über dergleichen Dinge hat reden hören. Und daraus werdet ihr ersehen, dass es dieselbe Bewandniss mit allem Uebrigen hat, was die Leute von mir sagen. 4. Allein es ist weder daran das Geringste, noch a n c h , wenn Ihr etwa von irgend Jemanden gehört habt, dass ich mich damit abgebe, Menschen zu erziehen und mir Geld damit verdiene; nicht einmal das ist wahr. Gleichwohl scheint dieses wenigstens mir etwas Schönes zu sein, wenn Jemand im Stande wäre, Menschen zu erziehen, wie etwa Gorgias der Leontiner, und Prodikos der Keier und Hippias der Eleier. Denn von diesen ist jeder im Stande, ihr Männer, von Stadt zu Stadt zu ziehen, und die Jünglinge, denen es frei steht, sich unentgeldlich an jeden beliebigen Bürger anzuschliessen, zu bereden, dass sie den Umgang jener aufgeben, sich für Geld an sie an- 20 ächliessen, und es ihnen noch Dank dazu wissen sollen. J a es ist auch noch ein anderer Mann aus Paros hier, ein Weiser, auf dessen hiesigen Aufenthalt ich durch Folgendes aufmerksam wurde. Durch Zufall traf ich nämlich mit einem Manne zusammen, welcher den Sophisten mehr Geld bezahlt h a t , als die übrigen insgesammt, mit Kallias des Hipponikos Sohn. An diesen wandte ich mich nun mit der Frage — er hat nämlich zwei Söhne — lieber Kallias, sagte ich, wenn deine beiden Söhne Füllen oder Kälber wären, so hätten wir wohl einen Aufseher fiir sie anzunehmen und für Lohn zu gewinnen, der sie gut und tüchtig machen würde in der ihnen zukommenden Tugend. Es müsste dieser aber wohl ein Bereiter oder ein Landmann sein. Nun aber, da sie Menschen sind, wen hast du im Sinne, als Aufseher für sie anzunehmen? W e r ist wohl in dieser menschlichen und bürgerlichen Tugend ein Sachkundiger? Ich glaube nämlich, du hast darüber nachge-

8 dacht, da du Vater von Söhnen bist Findet sich einer, fuhr ich fort, oder nicht? Allerdings, erwiederte er. Wer ist es, fragte ich weiter, und woher? und wie hoch belauft sich sein Unterricht? Euenos, erwiederte e r , o Sokrates, aus Paros, auf fünf Minen. Da priess ich den Euenos glücklich, wenn er in Wahrheit diese Kunst besitzt, und BO gar vorteilhaft unterrichtet. Würde ich mir doch selbst etwas darauf zu gut thun und mich brüsten, wenn ich mich darauf verstände. Aber ich verstehe es eben nicht, ihr Männer von Athen. 5. Es möchte nun wohl vielleicht jemand von euch einwenden : Aber Sokrates, was ist denn dein Geschäft? woher sind denn diese Verläumdungen gegen dich entstanden ? Denn sicherlich, wofern du nicht etwas ganz Besonderes vor Andern als Geschäft betriebest, es wäre dann doch kein so grosses Gerücht und Gerede entstanden, wenn du nicht etwas ganz Anderes thätest, als die meisten Leute. So sage es uns doch, was es ist, damit wir nicht aufs Gerathewohl über dich aburtheilen. Dieses dünkt mich mit Recht zu sagen, wer es sagt, und ich will es euch nachzuweisen versuchen, was das eigentlich ist, was mir den Namen und den nachtheiligen Ruf zugezogen hat. So höret also. Auch wird es vielleicht manchem von euch vorkommen, als scherze ich, seid indessen fest versichert, zu sein, dass weder an den Dingen auch nur das Geringste gesund und dauernd sei, noch an den Reden, sondern dass alles, was ist, so recht eigentlich wie im Euripos zu oberst und zu Unterst gekehrt wird, und zu keiner Zeit in demselben Zustande bleibt. — J a allerdings, erwiederte ich, sprichst du die Wahrheit. — Wäre das nun aber, sagte er, o Phaidon, nicht ein beklagenswerther Zustand, wenn Einer, im Falle es eine wahre, sichere und verständliche Rede giebt, sodann, weil er gerade auf solche Reden stösst, die bald wahr zu sein scheinen, bald nicht, sich nicht selber die Schuld beimessen wollte, und seiner Unwissenheit in der Kunst; sondern am Ende aus Mismuth gern die Schuld auf die Reden von sich abschieben, und nun sein übriges Leben unter Hass und Schmähungen gegen die Reden hinbringen wollte, der Wahrheit und Erkenntniss der Dinge aber beraubt würde? — J a bei Zeus, bemerkte ich, das wäre gewiss beklagenswerth. — 40. Vor allen Dingen wollen wir uns demnach, bemerkte er weiter, davor hüten, und den Gedanken nicht in unserer Seele aufkommten lassen, als ob an den Reden vielleicht gar nichts Gesundet sei, sondern vielmehr bedenken, dasg wir noch nicht gesund seien, dass wir uns aber mannhaft aeigen und ernstlich danach streben müssen, gesund zu werden; und zwar du und die Uebrigen des gan91 zen künftigen Lebens halber, ich aber eben des To.des halber, denn vielleicht betrage ich mich in dem gegenwärtigen Augenblick in Bezug auf diesen Gegenstand nicht als

127 Philosoph, sondern wie die ganz Ungebildeten, als Streitsüchtiger. Denn auch jene kümmern sich, wenn sie über einen Gegenstand streiten, nicht darum, wie sich das, wovon die liede ist, verhält j — wie sie aber in Bezug auf das, was sie selbst aufgestellt haben, die Zustimmung der Anwesenden erhalten, darauf geht ihr Streben. Zudem glaube ich mich in dem gegenwärtigen Augenblick nur in so weit von ihnen zu unterscheiden, als ich gar nicht danach trachten werde, dass dasjenige, was ich behaupte, den. Anwesenden als wahr erscheine, wenn es nicht unter der Hand geschieht, sondern dass es so viel als möglich mir selbst sich so zu verhalten scheine. Iph rechne nämlich so, lieber Freund, und siehe wie eigennützig : wenn das, was ich sage, wirklich wahr ist, so ist es doch herrlich, eine solche Ueberzeugung zu haben. Wenn es aber für den Verstorbenen gar nichts mehr giebt, so werde ich doch wenigstens gerade während dieser Zeit vor dem Tode den Anwesenden weniger beschwerlich durch meine Klagen werden. Eben diese Unwissenheit aber wird nicht immer für mich fortdauern, denn das wäre ja ein Unheil, sondern wird sich ganz in der Kürze verlieren. Gewappnet also, mein Simmias und Kebes, gehe ich so auf den Gegenstand los. Ihr jedoch, wenn ihr mir folgen wollt, bekümmert euch nur ganz wenig um den Sokrates, um die Wahrheit aber um so viel mehr. Wenn ich euch daher etwas Wahres zu behaupten scheine, so gebt mir euere Zustimmung, wenn aber nicht, so widersetzt euch auf jede Weise, und nehmt euch wohl zusammen, dass ich nicht durch Eifer zugleich mich selbst und euch hintergehend, wie eine Biene, die den Stachel zurückgelassen hat, davon gehe. 41. Indessen, sagte er, müssen wir darangehen. Vor allen Dingen erinnert mich an das, was ihr sagtet, im Fall es sich herausstellen sollte, dass ich es nicht recht im Gedächtniss behalten habe. Simmias ist nämlich, wie ich glaube, zweifelhaft und furchtet, eB möchte die Seele, wie-

128 wohl göttlicher und schöner als der Leib, dennoch vor demselben untergehen $ weil aie eine Art Harmonie ist, Kebes aber schien mir so vial zuzugeben, dass die Seele zum wenigsten liingere Zeit dauere, als der L e i b ; das hingegen sei jedermann unbekannt, ob nicht die Seele, weun sie viele Leiber und zum Oefteren abgenutzt hat, nunmehr, wenn sie den Letzteren verlassen, selber zu Grunde geht, und ob nicht eben dieses der Tod ist, ich meine der Untergang der Seele, da j a der Leib fortwährend gar nicht unterzugehen aufhört, Ist es indessen etwa dieses, mein Simmias und Kebes, was uns zu betrachten obliegt? — Beide waren damit einverstanden, es wäre dieses. — Nehmt ihr nun, fuhr er fort, von den sämmtlichen früheren Reden gar keine an, oder nur einige, andere aber nicht? — Einige, erwiederten sie, die andern aber nicht. — Was nun, fuhr er fort, sagt ihr in Bezug auf jene Rede, in welcher wir die Behauptung aufstellten, das Lernen sei eine Wiedererjnnerung, und, wenn sich dieses so verhalte, müsse n o t wendigerweise unsere Seele vorher auderswo sein, bevor 92 sie in den Leib hineingebunden werde. — Ich zum wenigsten, bemerkte Kebes, wurde schon damals auf eine ganz wunderbare Weise von ihr überzeugt, und beharre auch jetzt dabei, wie bei keiner andern Rede. — In der That, sprach Simmias, auch ich selbst bin derselben Ansicht, und sehr sollte es mich wundern, wenn ich mir je hierüber noch eine andere Meinung bilden würde. — Hierauf bemerkte Sokrates : es ist aber doch uothwendig, o Thebsnischer Gaatfreund, dass du dir- eine andere Ansicht bildest, wenn anders eben die Meinung Bestand haben soll, dass die Harmonie ein zusammengesetztes Ding, die Seele aber eine hurt Harmonie sei, welche aus dem im Leibe AngeCpatisten bestehe. Du würdest es j a doch gewiss nicht gelten lassen, wenn du behaupten wolltest, dass die Harmonie früher bestanden habe, bevor dasjenige vorhanden war, woraus dieselbe zusammengesetzt werden musste.

1:29 O d e r wirst du es gelten l a s s e n ? — K e i n e s w e g s , sprach e r , o Sokrat.es. — Merkst dn nun, f a h r er f o r t ,

dass

du mit

deiner A n g a b e in demselben F a l l bist, wenn d u behauptest, die S e e l e sei vorhanden,

bevor sie in die Gestalt und den

L e i b des Menschen gelange,

sie sei aber zusammengesetzt

aus d e m , w a s noch nicht ist.

Z u m wenigsten ist die H a r -

monie

nicht das für dich, womit du sie v e r g l e i c h e s t ;

im

Ge^entheil schon vorher sind die L e i e r und die Saiten und die T ö n e , welche noch unharmonisch sind, v o r h a n d e n , zuletzt von A l l e m aber entsteht die H a r m o n i e und geht auch zuerst zu G r u n d e . jener

Wie wird dir nun aber diese R e d e mit

zusammenstimmen? — G a r

nicht,

erwiederte

Sim-

mias. — Gleichwohl aber, fuhr ar fort, gehört es sich, dass, wenn irgend eine Rede, namentlich die von der H a r m o n i e , zusammenstimmend

SCI« —• Iis gehört sich allerdings, erwiederte Simmias. — Diese also,

sagte er,

stimmt nicht für

dich z u s a m m e n , siehe aber zu, welche von beiden Ansichten du wählen w i r s t , sei,

oder

o Sokrates, kommen

dass das .Lernen eine Wiedererinnerung

die Seele eine H a r m o n i e ? — Viel lieber jene, erwiederte er.

Denn

diese ist mir so

zuge-

ohne Beweisführung nach einer gewissen W a h r -

scheinlichkeit u n d gewinnendem Anschein, wodurch sie auch den Beifall der meisten Menschen erhält.

I c h weiss aber

auch, dass die Reden, welche ihre B e w e i s e nach der W a h r scheinlichkeit führen, höchst unzuverlässig s i n d , und

dass

sie, wenn sich J e m a n d nicht recht vor ihnen in A c h t nimmt, g a r sehr irre führen, sowohl in der Geometrie, als in allem Andern.

D i e R e d e über die W i e d e r e r i n n e r u n g

und

das

L e r n e n a b e r ist auf einen Anerkennung verdienenden G r u n d hin erörtert worden.

Denn es w u r d e j a

doch

behauptet,

dass g e r a d e so unsere Seele vorhanden s e i , bevor sie in den Leib gelangte, wie ihr die W e s e n h e i t zukommt, welche den B e i n a m e n dessen führt, was ist. wie ich selbst überzeugt bin,

D i e s e h a b e ich aber,

a u s hinreichendem

und ganz mit Recht, angenommen»..

Grunde

F ü r mich lie^t 9

dem-

130 nach offenbar die Notwendigkeit vor, deshalb weder meine noch eines Andern Behauptung gelten zu lassen, dass die Seele eine Harmonie sei. 42. W a s aber, fuhr jener fort, mein Sinimias, sagst du dazu ? Scheint es dir, dass es Bestimmung der Harmonie oder irgend einer andern Zusammensetzung sei, sich 03 irgend anders zu verhalten, als sich jenes verhält, woraus sie besteht? — Keineswegs. — Noch auch, wie ich glaube, etwas Anderes zu thun, oder zu leiden, als das, was jenes thut oder leidet. — Er meinte es auch. — Demnach ziemt es sich auch nicht, dass die Harmonie das anführe, woraus sie zusammengesetzt ist,* sondern dass sie folge. o r — E r war auch damit einverstanden. — Weit gefehlt also, dass die Harmonie sich entgegengesetzt bewegen oder ertönen oder sonst in etwas Anderem ihren Theilen zuwider sein könnte. — Gewiss weit gefehlt, sagte er. — Wie aber? Ist nicht jede Harmonie ihrer Natur nach gerade so eine Harmonie, wie sie eben gestimmt ist ? — Das verstehe ich nicht, sagte er. — Oder würde sie nicht, fuhr er fort, wenn sie mehr und in höherem Grade o gestimmt wäre,7 wenn dieses anders den Umständen nach möglich ist, dann auch mehr Harmonie sein und in höherem G r a d e ; wenn sie aber weniger und in geringerem Grade (gestimmt ist,) dann auch weniger und in geringerem Grade (Harmonie)? — Allerdings. — Ist auch dieses der Fall mit der Seele, dass auch nur im Geringsten die eine Seele in höherem Grade und mehr, als die andere Seele, oder hinwiederum in geringerem Grade und weniger eben dieses sei, (ich meine) S e e l e ? — Auch nicht im Entferntesten, sagte er. — Wohlan denn, beim Zeus, sprach er, man sagt doch von einer Seele, dass sie Verstand und Tugend besitze und gut s e i ; von einer andern, dass sie Unvernunft und Verderbtheit besitze und schlecht sei. Und sagt man dieses mit Wahrheit? — Mit Wahrheit allerdings. — Die nun, welche den Satz aufteilen, die Seele sei eine Harmonie, was werden die wohl

131 sagen, dass das, was sich in den Seelen findet, sei, die Tugend und das Laster ? Etwa wieder eine andere Harmonie oder Disharmonie? Ferner (wird er sagen) die eine sei gestimmt, (ich meine) die gute, und habe als Harmonie noch eine andere Harmonie in sich; die andere dagegen sei unharmonisch und habe keine andere Harmonie in sich? —'"'Ich für meine Person, sagte Simmias, vermag nichts darüber anzugeben. So viel ist indessen klar,7 dass derO jenige, welcher jenes voraussetzt, sich offenbar in der Weise äussern würde. — Wir haben uns aber schon vorher darüber verständigt, fuhr er fort, dass keine Seele mehr oder weniger Seele sei, als die andere Seele. Aber gerade darin besteht ja die Uebereinkunft, dass keine Harmonie weder mehr noch in höherem Grade, noch weniger und in geringerem Grade Harmonie sei, als die andere. Nicht wahr? — Allerdings. — Die aber nun weder mehr noch weniger Harmonie ist, die ist auch weder mehr noch weniger gestimmt. Ist es so ? — So ist's. — Die aber weder mehr noch weniger gestimmt ist, nimmt sie wohl mehr oder weniger Antlieil an der Harmonie, oder gleichen ? — Gleichen. — Da nun die eine Seele weder mehr noch weniger, als die andere, gerade dieses, nämlich Seele ist, so ist sie wohl auch weder mehr noch weniger gestimmt? — So ist's. — In diesem Zustande aber hat sie nun wohl auch nicht mehr Antheil weder an der Disharmonie, noch an der Harmonie? — Gewiss nicht. — Und wiederum in diesem Zustande dürfte wohl die Eine mehr als die Andere Antheil an dem Laster oder der Tugend haben, wenn anders das Laster Disharmonie, die Tugend hingegen Har» monie ist? — Nicht mehr. — Vielmehr wird ja doch, o Simmias,* nach einer richtigen keine Seele 9i Ö Betrachtungsweise O Antheil an dem Laster haben, wenn sie anders Harmonie ist. Eine Harmonie nämlich, die ja das ganz und gar ist, Harmonie, kann doch wohl niemals Antheil an der Disharmonie haben. — Gewiss nicht. — Eben so wenig doch 9 *

132 auch eine Seele, die ganz und gar Seele ist, an dem Laster. Wie wäre das nämlich nach dem Vorausbemerkten möglich? — In Folge dieser Betrachtungsweise also wer len uns die Seelen aller lebenden Wesen in gleicher Weise gut sein, wenn anders alle Seelen in gleicher Weise das von Natur sind, nämlich Seelen. — Mich zum wenigsten, erwiederte er, dünkt so, o Sokrates. — Scheint, dir indessen, fuhr er fort, auch die Behauptung richtig und mit unserer Rede vereinbar, wenn die Annahme richtig war, dass die Seele eine Harmonie sei ? — Nicht auf die entfernteste Weise, antwortete er. 43. Wie aber nun? fahr er fort. TJeber alles, was an dem Menschen ist, behauptest du, gebiete etwas Anderes afs die Seele, namentlich, wenn sie vernünftig ist? — Das denke ich nicht. — Etwa so, dass sie den Eindrücken des Leibes nachgiebt, oder dass sie ihnen auch entgegentritt? Ich verstehe dieses onngefahr so : dass sie ihn, wenn zum Beispiel Hitze oder Durst darin ist, zu dem Entgegengesetzten hinzieht, zu dem Nichttrinken, oder wenn Hunger darin ist, zu dem Jfichtessen; wie wir ja auch in Tausend andern Fällen die Seele dem im Leibe Befindlichen entgegentreten sehen. Oder nicht? — Ja allerdings. — Sind wir aber nicht wiederum in dem Früheren übereingekommen, dass dieselbe, wenn sie Harmonie ist, niemals etwas Anderes anstimmen könne, was dem, wodurch sie angespannt und nachgelassen und in Bewegung gesetzt wird, entgegen ist; und dass sie auch sonst irgend einen andern Eindruck erhalte, als das, woraus sie besteht, dass sie demselben im Gregentheil folge, niemals aber vorangehe ? — Darin sind wir übereingekommen, erwiederte er, und warum auch nicht ? — Wie nun ? — Scheint sie uns jetzt nicht offenbar ganz das Gegentheil zu thun, indem sie über alles das, woraus man ihre Bestandtheile ableiten möchte, gebietet, und ihm das ganze Leben hindurch fast immer entgegenwirkt, und in allen Beziehungen herrscht, indem sie (der

133 Leib) bald härter züchtiget und unter Schmerzen, wie durch Mittel der Gymnastik und der Heilkunst, bald aber auch gelinder, nicht nur ermahnend, sondern auch drohend mit den Begierden, dem Zorn und der Furcht, gerade so als wäre sie eine Andere und redete mit einem andern Ding? wie j a auch Horneros in der Odyssee gedichtet hat, wo er von dem Odysseus sagt : Aber er schlug an die Brust und strafte das Herz mit den Worten : Dulde nun aus mein Herz, noch Härteres hast du geduldet. Denkst du wohl, er habe dieses gedichtet in der Meinung die Seele sei eine Harmonie und von der Art, class sie von den Eindrücken des Leibes sich leiten lasse, nicht aber von der Art, sich selbst zu leiten und zu beherrschen; und als wäre sie ein weit göttlicherer Gegenstand, als dass sie mit einer Harmonie verglichen werden könnte? — Bei Zeus, o Sokrates, so kommt es mir vor. — Dem zu Folge also, mein Bester, ist es für uns keineswegs gerathen zu sagen, die Seele sei eine Art Harmonie. Wir würden nämlich offenbar weder mit Horneros, dem göttlichen Dichter, über- es einstimmen, noch auch mit uns selber. — J a es verhält sich so, sprach er. 44. Nun gut, fuhr Sokrates fort, die Thebanerin Harmonía hat sich, wie es scheint, noch leidlich gut gegen uns angelassen. Wie steht es nun aber weiter mit dem Kadmos, o K e b e s , auf welche Art und durch welchen Beweis werden wir den günstig für uns stimmen? — Das wirst du meines Erachtens, erwiederte Ivebes, schon ausfindig machen. Deine letzte Rede zum wenigsten, ich meine die über die Harmonie, hast du auffallend gut und ganz gegen mein Erwarten vorgetragen. Als nämlich Simmias das aussprach, worüber er in Zweifel war, wunderte ich mich gar sehr, wenn jemand etwas mit seiner Rede sollte anfangen können,

134 Ganz unbegreitlicherweise schien er mir gleich den ersten Angriff deiner Rede nicht aushalten zu können. Ich würde mich daher auch gar nicht wundern, wenn es der Rede des Kadmos gerade so ergienge. — O Guter, sagte Sokrates, rede nur nicht vermessen, damit uns nicht etwa neidische Vergeltung die Rede, welche vorgetragen werden soll, über den Haufen werfe. Doch das soll Gott überlassen bleiben; wir aber wollen nach Homerischer Weise näher rückend heran die Probe machen, ob etwa deine Rede von Belang ist. Die Hauptsache von dem nun aber, wonach du suchst, ist folgende : du verlangst, es soll erwiesen werden, dass unsere Seele unvergänglich und unsterblich sei, damit, wenn ein Philosoph, der im Begriff zu sterben steht, und der vertrauensvoll der Meinung ist, dass er nach dem Tode dort in höherem Grade glücklich sein werde, als wenn er unter einer andern Lebensweise geendigt hätte, kein unüberlegtes und thörichtes Vertrauen hege. Die Beweisführung aber, dass die Seele etwas Starkes und Gottähnliches ist, und dass sie bereits schon früher vorhanden war, ehe wir Menschen geboren wurden, von alle dem behauptest du, es hindere gar nichts, dass dieses Alles nicht etwa eine Unsterblichkeit andeute, sondern dass die Seele etwas lange Dauerndes sei, und dass sie wohl schon eine gar nicht zu berechnende Zeit früher vorhanden war, und gar Tielerlei wusste und that. Aber desshalb wäre sie ja noch keineswegs unsterblich, im Gegentheil gerade der Umstand, dass sie in den Leib eines Menschen gekommen, wäre für sie der Anfang ihres Untergangs, wie eine Krankheit; und so bringe sie denn dieses Leben in einem jammervollen Zustande hin, und gehe dann endlich in dem, was man Tod nennt, zu Grunde. Es mache aber, wie du angiebst, gar keinen Unterschied, ob sie einmal in den Leib komme oder zum Oefteren, in Bezug auf das, was jeder von uns zu fürchten habe. Denn • es sei doch ganz angemessen, dass derjenige, der es weder wisse, noch

136 Rechenschaft darüber geben könne, dass sie unsterblich sei, Besorgniss hege, wenn er nicht unverständig sein wolle. Dieses ohngefahr ist es, dünkt mich, o Kebes, was du darüber denkst, und ganz mit Absicht wiederhole ich es zum Oefteren, damit uns ja nichts entgehe, und du, wenn du willst, dazu oder davon thun könnest. — Darauf bemerkte Kebes : in dem Augenblick verlange ich weder etwas davon noch dazu zu thun, sondern das, ist es, was ich sagen will. 45. Nachdem nun Sokrates eine geraume Zeit inne gehalten und über irgend etwas bei sich nachgedacht hatte, bemerkte er alsdann : das ist gar kein leichtes Ding, o K e b e s ,* wonach du forschest. Denn vollständig Ö muss man dir Ursache des Entstehens und Vergehens zu erforschen suchen. Ich theile dir also, wenn du willst, meine Erfah- 96 runden darüber mit. Wenn dir dann allenfalls etwas von dem, was ich sage, zur Ueberzeugung von dem, worüber du sprichst, brauchbar erscheint, so magst du es gebrauchen. — J a wohl, erwiederte K e b e s , will ich das. — S o höre denn nun, was ich sagen werde. Ich hatte nämlich, o K e b e s , bemerkte er weiter, als ich noch ein Jüngling war, ein ganz ausserordentliches Verlangen nach der Art von Weisheit, welche man Naturkunde nennt. Denn als eine überaus erhabene erschien sie mir, die Ursachen jegliches Dinges zu wissen, wodurch Jegliohes entsteht, und wodurch es vergeht, und wodurch es besteht; und' gar manchmal warf ich mich bald hier bald dort hin, indem ich fur's Erste das in Erwägung z o g , ob wohl, wenn das Warme und das Kalte in eine gewisse Fäulniss übergegangen, dann sofort Thiere daraus erwachsen, wie Einige angenommen haben ? und ob es das Blut ist, wodurch Wir denken, oder die Luft, oder das Feuer, oder ob keines von diesen; sondern das Gehirn es ist, welches uns die Wahrnehmungen des Hörens und Sehens und Riechens verschafft», aus diesen aber die Erinnerung und die Vorstellung ent-

136 steht, aus der Erinnerung und der Vorstellung aber, wenn sie zur Ruhe gelangt ist, in ganz gleicher Weise die Erkenntniss hervorgeht. Und wenn ich wiederum das Vergehen von alle diesem erwog, ferner die Erscheinungen am Himmel und auf der Erde, so kam ich mir am Ende zu dieser ganzen Untersuchung über alle Maassen untauglich vor. Ich will dir einen hinreichenden Beweis dafür angeben. Was ich nämlich schon früherhin ganz deutlich wusste, wie es zum wenigsten mir, so wie auch Andern vorkam, darin erblindete ich sofort in Folge von dieser Untersuchung so vollständig, dass ich auch selbst das verlernte, was ich früherhin zu wissefi glaubte, sowohl in Bezug auf viele andere Dinge, als auch darauf, wodurch der Mensch wächst. Davon glaubte ich nämlich friiherhin, es sei jedermann klar, dass es von dem Essen und Trinken hörkomme. Sobald nämlich durch die Speise Fleisch zu dem Fleische hinzukomme, und Knochen zu den Knochen, und in derselben Weise zu allem Uebrigen das jedem Einzelnen Verwandte, so werde alsdann die erst kleine Masse nachher stark, und eben so werde ein kleiner Mensch gross. So dachte ich damals, und scheint dir das nicht ganz in der Ordnung ? — Ja so scheint mir's, erwiederte Kebes. — Erwäge nun aber auch noch weiter Folgendes. Ich glaubte nämlich mit allem Grund der Ansicht zu sein, dass, wenn ein Mensch neben einem andern kleinen stehend als gross erschiene, er um den Kopf grösser wäre als dieser, und ein Pferd grösser als ein P f e r d ; und was noch einleuchtender ist, als dieses, zehn schien mir mehr zu sein als acht, weil noch zwei zu demselben hinzukommen, und das Zweifussige grösser zu sein, als das Einfussige, weil es uih die Hälfte grösser ist, als dieses. — Was hältst du nun aber, bemerkte Kebes, eigentlich davon? — Dass ich, erwiederte er, bei Zeus gewiss weit davon entfernt bin, zu vermeinen, als wüsste ich die Ursache von irgend einem dieser Dinge, da ich ja nicht einmal in so weit mit mir im Reinen bin, ob,

137

wenn Jemand zu Einem Eins hinzusetzt, entweder das Eine, zu welchem es hinzugesetzt ward, zwei geworden, oder ob das Hinzugesetzte und das, KU welchem es hinzugesetzt ward, eben durch das Hinzusetzen des Einen zu 87 dem Andern zwei geworden ist. Ich wundere mich nämlich, dass, als jedes derselben von dem Andern getrennt, war, jedes von beiden damals Eins und nicht zwei war, nachdem sie aber einander nahe gekommen, dieses die Ursache geworden, dass sie zwei wurden, die Vereinigung nämlich, dass sie nahe an einander gestallt wurden. Eben so wenig kann ich mieh ferner davon überzeugen, dass, wenn Jemand Eins zerschneidet, eben diuses das Zerschneiden wiederum die Ursache wurde, dass zwei geworden sind. Denn hier findet eine der dortigen ganz entgegengesetzte Ursache des Zweiwerdens statt. Dort nämlich, weil sie einander näher gebracht, und Eins zu dem Andern hinzugesetzt wurde, hier aber, weil Eins von dem Andern weggebracht und getrennt wird. Eben so wenig kann ich mich noch überzeugen, dass ich verstehe, wie Eines wird oder das Andere, mit einem Wort, warum es entsteht oder vergeht, oder besteht, nach dieser Weise des Verfahrens, sondern ich mische mir auf's Gerathewohl irgend eine andere Weise zusammen, diese aber lasse ich auf keinen Fall gelten. 46. Als ich nun aber einmal Jemanden aus einem gewissen Ruche, wie er sagte, des Anaxagoras vorlesen hörte, welcher behauptet, dass der Verstand es ist, welcher alle Dinge anordnet und die Ursache von Allem ist, so freute ich mich schon über diese Ursache, und in gewissem Betracht schien mir das sich ganz richtig zu verhalten, dass der Verstand die Ursache von allen Dingen sei, und dachte dabei, wenn sich dieses so verhalte, so werde der Alles anordnende Verstand Jegliches anordnen und eben dahin stellen, wo es gerade am besten wäre. Wenn demnach Jemand die Ursache von jedem Ding ausfindig machen

138 wolle, wie es entsteht oder vergeht oder besteht, so müsse er das in Bezug auf dasselbe ausfindig machen, wie es für dasselbe am besten sai, entweder zu bestehen, oder irgend etwas Anderes zu leiden oder zu thun. In Folge dieser Ansicht aber komme es nun dem Menschen nicht zu, irgend etwas Anderes in Betrachtung zu ziehen, sowohl in Bezug auf sich selbst, als auf andere Dinge, als nur das Vortrefflichste und B e s t e ; nothwendig sei es indessen, dass eben derselbe auch das Schlechtere kenne, denn die Erkenntniss von beiden sei eine und dieselbe. Indem ich nun dieses überdachte, glaubte ich zu meiner Freude an dem Anaxagoras einen Lehrer über die Ursachen der Dinge nach meinem Sinn gefunden zu haben, der mir nun weiter auch angeben werde, fiir's Erste, ob die Erde flach sei oder rund, und nachdem er mir diess angegeben, die Ursache und Nothwendigkeit noch weiter auseinander setzen werde, indem er das Bessere bemerklich machen und anführen werde, warum es besser sei, dass sie so ist; und welcher, wenn er behauptete, dass sie sich in der Mitte befände, weiter auseinander setzen werde, dass es besser für sie sei, sich in der Mitte zu befinden; und wenn er mir dieses bewiese, so hatte ich mir fest vorgenommen, niemals nach «8 einer andern Art von Ursache zu verlangen. Eben so hatte ich mir denn auch vorgenommen, in gleicher Weise über die Sonne und den Mond und die übrigen Gestirne Erkundigungen einzuziehen, in Bezug, auf ihre Geschwindigkeit zu einander, ihre Umwälzungen und die übrigen Erscheinungen an denselben, in wie fern es wohl besser sei, dass jegliches das thue und leide, was es leidet. Denn nimmermehr hätte ich geglaubt, dass er, welcher behauptet, es sei dieses so von der Vernunft geordnet, irgend einen andern Grund noch weiter beibringen werde, als den, dass es am besten ist, wenn sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Und so dachte ich denn, dass er, wenn er die Ursache für jedes Einzelne und für alle insgesammt angäbe, nun das-

139 jenige, was für jedes Einzelne das Beste und für Alle das gemeinschaftlich Gute wäre, auseinander setzen würde. Und diese Hoflnungen würde ich nicht um Vieles hingegeben haben, sondern ich nahm sogleich mit grossem Eifer die Bücher zur Hand, und las sie so schnell, als ich nur irgend konnte, um so schnell als möglich das Beste und das Schlechtere kennen zu lernen. 47. Mit dieser wunderbaren Hoffnung, mein Freund, war es nun gar bald für mich aus, als ich beim Fortfahren im Lesen einen Mann gewahr wurde, der sich gar nichts mit der Vernunft zu schaffen macht, noch auch sonst Ursachen geltend zu machen sucht, welche sich auf das Anordnen der Dinge beziehen, dagegen Luft, Erde und Wasser und viele andere ganz unstatthafte Dinge als Ursachen aufführt. Dabei kam es mir vor, dass es ihm ganz in gleicher Weise ergangen, als wenn Einer die Behauptung aufstellte, dags Sokrates alles, was er thut, mit Verstand thut, und dann, wenn er sich daran mächte, die Gründe von allem, was ich thue, anzugeben, für's Erste sagen wollte, ich sässe jetzt deswegen hier, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht, und zwar die Knochen hart, und durch Gelenke von einander geschieden wären, die Sehnen dagegen von der A r t , dass sie angespannt und nachgelassen werden könnten, umschlössen die Knochen sammt dem Fleische und der Haut, welche dieselben zusammenhält. Da sich nun die Knochen in ihren Gelenken hin und her bewegen, so setzten mich die Sehnen dadurch, dass ich sie nachlasse und anziehe, in den Stand, meine Glieder zurecht zu biegen, und eben aus dieser Ursache sässe ich jetzt hier mit zusammengebogenen Knieen. Ferner noch, wenn er von meiner UnterredungC5 mit euch Ögewisse andere Ursachen der A r t anführen wollte, indem er die Töne, die Luft, das Gehör und tausenderlei andere derartige Dinge angäbe, die wahren Ursachen aber aufzufuhren unterliesse, dass nämlich, nachdem es die Athenäer fiir

140 rathsamer erachtet, mich zu verurtheilen, aus demselben Grunde denn 'auch ich es für besser erachtet, hier sitzen zu bleiben, und der Gerechtigkeit angemessener, die Strafe geduldig auszustehen, die sie verfügt haben. Denn bei dem 89 Hunde w ä r e n , wie ich glaube, diese Sehnen und Knochen schon längst, von der Vorstellung des .Besten getragen, in der Gegend von Megaru oder Böotien, wenn ich nicht geglaubt hätte, es sei der Gerechtigkeit angemessener und rühmlicher, statt zu fliehen und davon zu laufen, dem Staate die Strafe, die er mir etwa anliegt, zu verbüssen. Dergleichen Dinge n aber Ursachen zu nennen,7 wäre doch ö gar zu ungereimt. Wollte hingegen Jemand sagen, dass ich, ohne dergleichen zu haben, sowohl Knochen als Sehnen und was ich sonst alles habe, auch gar nicht im Stande sein würde, das mir gut Dünkende zu thun, so würde er wohl recht haben. Dass ich aber um dieser Dinge willen t h u e , was ich thue, und eben darum mit Verstand handle, keineswegs aber nach der Wahl des Besten, das wäre doch eine grosse und starke Leichtfertigkeit der Rede. Denn gar nicht einmal unterscheiden zu können, dass etwas anderes die Ursache in der That ist, etwas anderes aber das, ohne welches die Ursache wohl schwerlich Ursache sein könnte; dieses scheint die Mehrzahl der Menschen, gleichsam im Finstern herumtappend und mit eineni ganz unpassenden Namen benennend, als die Ursache selbst zu bezeichnen. Daher umgiebt denn auch Einer die E r d e mit einem vom Himmel ausgehenden Wirbel und lässt dieselbe dadurch stehen bleiben, ein Anderer unterbreitet ihr, wie einem breiten Backtroge, als Grundlage die Luft. Die einwirkende' Kraft aber, dass sie nun so liegt, wie sie am besten angebracht werden konnte, diese suchen sie weder auf, noch glauben sie, dass ihr irgend eine göttliche W i r k samkeit inwohne, sondern sie denken einen Atlas aufgefunden zu haben, der stärker und unsterblicher wäre, als dieses, und Alles besser zusammenhielte, und achten in

141 Wahrheit das Gute, und das, was verbinden und zusammenhalten muss, für gar nichts. Ich zum wenigsten nun wäre, lim eine solche Ursache zu ermitteln, von Herzen gern Jedermanns Schüler geworden. D a sie mir aber gänzlich abgieng, und ich weder im Stande war, sie selbst aufzufinden, noch auch von einem Andern zu lernen, wünschest du da wohl, mein Kebes, dass ich dir eine Schilderung davon machen s soll, auf welche Weise ich die zweite Fahrt zur Erforschung der Ursache unternommen habe? — J a wohl, sagte er, das ist mein höchster Wunsch. 48. Ich glaubte nun nach diesem, fuhr er weiter fort, als ich bereits müde geworden war, die Dinge zu betracht e n , ich müsse mich wohl zusammennehmen, damit es mir nicht eben so gienge, wie denen, welche die Sonne beobachten und betrachten, wenn sie sich verfinstert. Denn sicherlich verderben sich Manche die Augen, wenn sie das Bild- derselben nicht im Wasser oder sonst einem Gegenstande der Art betrachten. Etwas der Art kam denn auch mir in den Sinn, und ich fürchtete deshalb, ich möchte vollständig an der Seele erblinden, wenn ich mit den Augen nach den Gegenständen hinschaute, und mich bemühte, sie durch jegliche Wahrnehmung zu erfassen. E s schien mir daher erforderlich, zu den Gedanken meine Zuflucht zu nehmen, und mittelst derselben den wahren Stand der Dinge zu erschauen. Vielleicht ist indessen meine Vergleicliung dem Gegenstande in mancher Beziehung nicht ganz entsprechend. Denn das gebe ich durchaus nicht zu, 100 dass derjenige, welcher die Dinge in Gedanken betrachtet^ sie besser in Bildern betrachtet, als welcher nach ihren Wirkungen. Ich gieng also nun darauf a u s , und stellte, indem ich jedesmal den Gedanken, den ich gerade für den stärksten erachte, zu Grunde gelegt habe, das, was mir mit demselben im Einklang zu stehen scheint, als wahr hin, sowohl in Bezug auf Ursachen, als auf jeden andern Gegenstand, was aber nicht, als nicht wahr. Ich will dir aber

142 noch deutlicher angeben, was ich meine. Ich glaube nämlich, dass du es jetzt noch nicht verstehst. — Nein, bei Zeus, sagte Kebes, gar nicht sonderlich. 49. Ich -verstehe dieses aber, fuhr jener fort, also : es ist gar nichts Neues, sondern dasselbe, was ich immerfort, sowohl anderwärts, als auch in der vorausgegangenen Rede, gar nicht aufgehört habe zu sagen. Ich gehe also weiter und will es versuchen, dir den Begriffner Ursache zu veranschaulichen, mit dem ich mich angelegentlich beschäftigt habe, und komme wiederum auf jenes Vielbesprochene zurück, und fange damit an, dass ich den Grundsatz aufstelle, es gebe etwas an und für sich Schönes und Gutes und Grosses, und so alles Andere. Wenn du mir nun zugiebst und einräumst, es sei dieses so, so hoffe ich dir daraus die Ursache nachweisen und herausfinden zu können, dass die Seele unsterblich ist. — Nun j a , sagte Kebes, wolltest du wohl, da ich dir's zugebe;, ohne Verzug deine weiteren Folgerungen daraus herleiten ? — So überlege denn, sagte er, was noch weiter mit jenem in Zusammenhang steht, ob du gleicher Ansicht mit mir darüber bist» Es scheint mir nämlich, dass, wenn es noch sonst etwas Schönes giebt, ausser dem an sich Schönen, es durch gar nichts Anderes schön sei, als weil es eben Theil an jenem Schönen hat. Derselben Meinung bin ich auch in Bezug auf alles Andere. Bist du über diese Ursache mit mir einverstanden? — Ja das bin ich, sagte er. — Demnach, fuhr er fort, verstehe ich jene übrigen künstlich ersonnenen Ursachen nicht mehr, noch kann ich sie überhaupt begreifen. Im Gegentheil, wenn Jemand zu mir sagte, warum irgend etwas schön sei, weil ihm entweder eine blühende Farbe oder Gestalt oder sonst etwas der Art eigen ist, so gebe ich das Uebrige ganz auf, (denn durch alles Andere gerathe ich nur in Verwirrung,) daran aber halte ich einach und kunstlos und vielleicht einfältig genug bei mir selber fest, dass nichts Anderes es schön macht, als eben

143 die Anwesenheit oder die Gemeinschaft jenes Schöhen woher und wie auch dieselbe hinzugekommen sein möge. Denn in Bezug darauf wage ich noch keine bestimmte Behauptung, wohl aber, dass durch das Schöne Alles, was schön ist, schön werde. Denn das zu antworten scheint mir am sichersten zu sein, sowohl für mich selbst, als für einen Andern, und daran festhaltend glaube ich niemals fallen zu müssen, sendern dass es sicher sei, sowohl mir als jedwedem Andern zu antworten, dass durch das Schöne das Schöne schön werde. Oder dünkt nicht auch dich also ? — So dünkt mich. — Ferner also durch Grösse das Grosse gross, und das Grössere grösser, und durch Kleinheit das Kleinere kleiner ? — Ja. — Auch würdest du es gewiss nicht gelten lassen, wenn Jemand sagte, es sei Einer mittelst des Kopfes grösser, als ein Anderer, und der Kleinere gerade deswegen kleiner, sondern du würdest darauf 101 schwören, dass du gar nichts Anderes behauptest, als dass Alles, was grösser ist, als etwas Anderes, durch nichts Anderes grösser ist, als durch die Grösse, und dass es gerade deswegen grösser ist, wegen der Grösse, das Kleinere hingegen durch nichts Anderes kleiner, als durch die Kleinheit, und dass es gerade deswegen kleiner ist, wegen der Kleinheit, und das, weil du, wie ich glaube, in Sorgen wärest, es möchte dir- irgeijd eine entgegengesetzte Ansicht in den W e g treten, im Falle du sagen wolltest, es sei J e mand mittelst des Kopfes grösser oder kleiner; fur's Erste, weil durch denselben Umstand das Grössere grösser, f tind das Kleinere kleiner, sodann, dass mittelst des Kopfes, der klein ist, das Grössere grösser sein würde, und das wäre doch ein Wunder, wenn durch etwas Kleines Jemand gross wäre. Oder würdest du dieses wohl nicht furchten ? — Darauf sagte Kebes lachend, das würde ich gewiss. — Würdest du demnach, fuhr er fort, wohl Bedenken tragen zu behaupten, dass zehn um zwei mehr sei, als acht, und dass es aus derselben Ursache mehr betrage, nicht aber

144 mittelst der Vielheit und durch die Vielheit? Ferner dass das Zweifüssige mittelst der Hälfte grösser sei, als das Einfiissige, nicht aber mittelst der Grösse? Die Besorgniss bliebe doch ohne Zweifel dieselbe. — Allerdings, sagte er. — Wie aber? Wenn zu Einem Eins hinzugesetzt wort? den ist, würdest du da .nicht grosses Bedenken haben zu sagen, dass das Hinzusetzen die Ursache sei, dass zwei daraus geworden sind, oder wenn es gespalten worden, die Spaltung, und würdest du nicht überlaut erklären, du wiisstest nicht, dass jedes Ding auf irgend eine andere Weise entstehe, als dass es Antheil nehme an dem eigenthümlichen Wesen eines jeden, woran es Antheil n i m m t ; und so fändest du darin keine andere Ursache des Zweiwerdens, als gerade das Antheilnehmen an der Zweilieit, und es müsse an derselben Antheil nehmen, was zwei werden solle, und an der Einheit, was Eins werden solle; diese Spaltungen aber und Hinzusetzungen und andere Klügeleien der A r t würdest du ganz aufgeben,7 und die Antwort ye fD O scheiteren Leuten, als du bist, überlassen; du aber würdest aus Furcht, wie es im Sprüchwort heisst, vor deinem eignen Schatten und deiner Unerfahrenheit, an die Sicherheit jener Voraussetzung dich festhaltend, wohl also antworten ? W e n n aber Jemand die Voraussetzung selber angritte, so würdest du ihn ganz gehen lassen und gar nicht antworten, bist du erst das aus derselben Hervorgehende untersucht hättest, ob es deiner Ansicht nach miteinander übereinstimmt, oder sich widerstreitet? Wenn du nun aber Rechenschaft über jene selbst geben mlisstest, würdest du sie nicht in der A r t geben, dass du wiederum eine andere Voraussetzung zu Grunde legtest, welche dir unter den höher liegenden als die beste erschiene, bis du auf etwas Befriedigendes kämest ? Zugleich würdest du auch, wenn du von dem ersten Grunde sprächest und dem aus demselben Hervorgehenden, gewiss nicht durcheinander mengen, wie die Widerspruchskünstler, wenn du etwas von dem, was wirk-

145 lieh ist, ausfindig machen

wolltest.

Denn ihnen

kommt

darüber vielleicht nicht ein einziger Gedanke, noch macht es ihnen Sorge.

Denn sie, die aus lauter Weisheit AJles

durcheinander rühren, sind gleichwohl noch dazu fähig, sich selber zu gefallen.

Du indessen, wenn du anders zu den 102

Philosophen gehörst, wirst es, denke ich, so wie ich machen. — D u sprichst ganz vollkommen wahr, sagten Simmias und Kebes zugleich. Echekr.

Bei Zeus, o Phaidon, ganz mit Recht. Denn

bis zum Verwundern dieses für jeden,

einleuchtend scheint mir der Mann

der auch nur ein bischen Verstand hat,

vorgetragen zu haben. Phaid.

Ja allerdings, o Echekrates, und so schien es

auch allen andern, die zugegen waren. Echekr.

Eben so auch uns den Abwesenden, die wir

es aber jetzt hören. 50.

Aber,

was war es denn, was noch nach diesem

zur Sprache kam? Phaid. dieses

W i e ich glaube, so fragte er, nachdem ihm

zugestanden

worden,

und man

übereingekommen

war, dass jede Idee an sich etwas sei, und dass alle übrigen Dinge,

die Antheil

daran nehmen, eben von ihnen

selbst ihre Benennung erhalten, weiter hierauf Folgendes : W e n n du nun,

so fuhr er nähmlich fort, dieses also ver-

stehst, wirst du nicht auch, wenn du sagst, Simmias sei grösser als Sokrates, kleiner aber als Phaidon, dann weiter behaupten, bei Simmias komme beides v o r , sowohl Grösse als Kleinheit? — Ja das werde ich. — Nun aber, fuhr er weiter fort, giebst du doch zu, dass es sich damit, Simmias überrage den Sokrates, nicht auch in Wahrheit so verhalte, wie

die W o r t e

ausdrücklich

lauten.

Denn

überrage Simmias doch wohl nicht dadurch,

ursprünglich dass er Sim-

mias ist, sondern durch die Grösse, die er eben zufällig hat; ferner wiederum überrage er den Sokrates nicht, weil Sokrates eben Sokrates ist, sondern weil bei Sokrates Kleinheit 10

146 vorkommt, in Vergleich zu der Grösse Jenes. — Das ist wahr. — Eben so wenig werde er wiederum von Phaidon dadurch überragt, weil Phaidon eben Phaidon ist, sondern weil bei Phaidon Grösse vorkommt, in Vergleich zu der Kleinheit des Simmias. — So ist es. — So bekommt demnach Simmias den Beinamen sowohl gross als klein zu sein, indem er in der Mitte von beiden steht, und dadurch, dass er den Einen durch Grösse überragt, die Kleinheit überragt, einem Andern aber eine Grösse zukommen lässt, die seine Kleinheit überragt. Dabei lächelte er und sagte : Ich mag wohl so bestimmt wie eine Urkunde zu sprechen scheinen, aber es verhält sich doch wohl nun einmal so, wie ich sage. — Jener stimmte bei. — Ich sage dieses aber nur des s wegen, weil ich wünsche, dass du gleicher Ansicht mit mir seist. Mir scheint es nämlich, dass nicht nur die Grösse selbst niemals zugleich gross und klein zu sein begehrt, sondern auch, dass die Grösse in uns niemals das Kleine aufnimmt, noch überragt zu werden) begehrt, sondern Eines von beiden wird stattfinden, dass sie entweder flieht und ausweicht, wenn das Gegentheil auf sie zukommt, das Kleine, oder dass sie, wenn jenes hinzugekommen, zu Grunde geht. Bleibt, sie aber und hat die Kleinheit in sich aufgenommen, so wird sie nicht etwas Anderes zu sein begehren, als was sie war. Gerade so wie ich, der ich die Kleinheit angenommen und mich unter sie gefügt habe, auch jetzt noch seiend wer ich bin, ganz derselbe kleine bin. Jenes aber, indem es gross ist, wagt es nicht, klein zu sein. Ganz in derselben Weise begehrt auch das Kleine in uns niemals gross zu werden, oder es zu sein, noch auch begehrt etwas anderes von entgegengesetzten Dingen, das noch ist, was es war, zugleich das 103Gegentheil zu werden oder zu sein, sondern entweder weicht es aus, oder es geht unter, wenn sich die Sache so gestaltet. — Es scheint mir ganz und gar so, sagte Kebes.

147 51. Hierauf sagte einer der Anwesenden, der es hörte, — wer es indessen war, erinnere ich mich nicht mehr genau : — Bei den Göttern! sind wir denn nicht in unseren früheren Reden gerade über das Gegentheil von dem, was behauptet wird, übereingekommen, dass aus dem Kleineren das Grössere entstehe, und aus dem Grösseren das Kleinere , und dass so recht eigentlich dieses das Entstehen für das Gegentheil sei, (ich meine) aus dem Gegentheil. Nun aber scheint mir behauptet zu werden, dass dieses doch wohl niemals der Fall sei. — Darauf bemerkte Sokrates indem er das Haupt hinneigte und horchte : recht brav hast du daran erinnert, gleichwohl aber bemerkst du den Unterschied nicht zwischen dem jetzt und zwischen dem damals Gesagten. Damals wurde nämlich behauptet, aus dem entgegengesetzten Ding gehe das entgegengesetzte Ding hervor, jetzt aber, dass das Entgegengesetzte selbst sich nicht leicht selbst entgegengesetzt werde, weder das in uns, noch das in der Natur. Damals nämlich, mein Freund, sprachen wir von Dingen, welche die Gegentheile in sich haben, indem wir sie mit der Benennung jener benannten, jetzt aber von denen selbst, durch deren Ein wohnen die genannten Dinge ihre Benennung erhalten. Gerade aber von diesen behaupten wir, dass sie wohl nicht leicht eine Entstehung des Einen aus dem Andern zulassen mögen. Darauf sagte e r , indem er dabei auf den Kebes hinsah, es hat doch wohl nicht etwa auch dich, mein K e bes, etwas von dem in Verwirrung gebracht, was dieser da s a g t e ? — Keineswegs bin auch ich, erwiederte Kebes, in einer solchen Stimmung, wiewohl ich durchaus nicht damit sagen will, dass mich nicht Vieles verwirrt macht. — Wir sind also doch, fuhr er fort, darin unbedingt einverstanden, dass das Entgegengesetzte niemals das ihm Entgegengesetzte sein werde. — Ganz und g a r , antwortete er. 10*

148 52. Weiter nun betrachte mir auch noch das, sagte e r , ob du wohl mit mir einverstanden sein wirst. Nennst du etwas warm, und kalt? — J a , das thue ich. — Etwa das, was auch Schnee und T e u e r ? — Bei Zeus, das thue ich nicht. — Im Gegentheil etwras ganz anderes als das Feuer ist das W a r m e , und etwas ganz anderes als der Schnee ist das K a l t e ? — J a . — Aber der Ansicht, denke ich, bist du doch zum wenigsten, dass niemals der Schnee als solcher, wenn er, wie wir im Vorhergehenden behaupteten, das Warme aufgenommen hat, noch fernerhin sein werde, was er war, -(ich meine) Schnee und warm, dass er im Gegentheil, wenn das Warme hinzukommt, demselben entweder weichen oder ganz verschwinden werde. — Allerdings. — Ebenso dass wiederum das Feuer, wenn das Kalte hinzukommt, demselben entweder aus dem W e g e gehn und verschwinden, gewiss aber nie, wenn es die Kälte aufgenommen, noch ferner das zu sein getrauen werde, was es war, (ich meine) Feuer und kalt. — Du sprichst wahr, sagte er. — E s tritt also, fuhr er fort, bei einigen Dingen der Art der Fall ein, dass nicht nur der Begriff selbst denselben Namen für alle Zeit in Anspruch nimmt, sondern auch noch etwas anderes, was zwar jener nicht ist, w'ohl aber die Gestalt desselben für immer beibehält, so lange es besteht. Noch deutlicher wird dir vielleicht d a s , was ich sagen will, durch Folgendes werden. Das Ungerade muss doch wohl immer denselben Namen erhalten, den wir so eben nannten, oder nicht? — Allerdings. — Etwa allein unter den Dingen, denn danach frage ich, oder auch noch etwas anderes, welches zwar nicht das ist, 104was clas Ungerade, gleichwohl aber neben seinem eignen Namen immer auch noch so benannt werden muss, weil es ursprünglich so beschaffen ist, dass es von dem Ungeraden niemals ganz aufgegeben wird. Ich verstehe aber damit so etwas, wie es zum Beispiel der Dreiheit ergeht, und vielem Andern. Ueberlege es aber in Bezug auf die

149 Dreiheit. Koramt es dir nicht vor, dass sie immer mit ihrem eignen Namen bezeichnet werden müsse, so wie mit dem des Ungeraden, wiewohl dieses nicht dasselbe ist, was die Dreiheit? Gleichwohl aber ist gerade so ursprünglich beschaffen sowohl die D r e i , als die Fünf, und die ganze Hälfte der Zahlen, so dass, ohne dasselbe zu sein, was das Ungerade, doch jede derselben immer ungerade ist. Und wiederum ist die Zwei und die Vier und die ganze andere Reihe von'Zahlen, wiewohl sie das nicht ist, was das Gerade, gleichwohl jede derselben immer gerade. Giebst du das zu, oder nicht? — W i e sollte ich es nicht? sagte er. — So gieb demnach Acht auf das, was ich dir deutlich zu machen gedenke. E s ist aber Folgendes : es scheint nicht allein jenes Entgegengesetzte sich nicht gegenseitig aufzunehmen, sondern auch alles das, was einander nicht entgegengesetzt ist, immer aber das Entgegengesetzte an sich h a t ; eben so wenig scheint dieses die Idee aufzunehmen, welche der in ihm wohnenden entgegengesetzt ist, sondern wenn sie zu ihm herankommt, entweder unterzugelm oder auszuweichen. Oder wollen wir nicht sagen, die Drei werde eher untergehn und sich alles Andere gefallen lassen wollen, ehe sie es über sich ergehen lasse, so lange sie noch Drei sei, gerade zu werden? — J a allerdings, versetzte Kebes. — Nun ist j a aber doch, fuhr er fort, die Zwei der Drei nicht entgegengesetzt. — Das ist sie freilich nicht. — Also nicht blos die entgegengesetzten Begriffe ertragen es nicht, an einander heran zu kommen, sondern auch noch gar manche andere Dinge dulden das Herankommen des Entgegengesetzten nicht. — D u hast ganz vollkommen recht, sagte er. 53. Willst du nun, fuhr er fort, dass wir, wenn wir es anders vermögen, bestimmen sollen, von welcher Art diese Dinge sind ? — Allerdings. — Sollten es nun aber, sagte e r , o Kebes, nicht diejenigen sein, welche das, was sie in Besitz genommen, nicht nur zwingen, ihre eigne

150 Idee festzuhalten, sondern auch immer die eines gewissen Entgegengesetzten ? — Wie verstehst du das ? — Wie wir so eben sagten. Du weisst nämlich doch, dass das, wovon die Idee der Dreiheit Besitz nimmt, nothwendig nicht blos D r e i , sondern auch ungerade ist? — Allerdings. — Zu einem solchen aber kann nach unserer Behauptung die Idee, welche der Form, die dieses bewirkt, entgegen ist, nimmermehr gelangen. — Gewiss nicht. — Es bewirkte dieses aber die Form des Ungeraden ? — Ja. — Dieser aber entgegengesetzt ist die des Geraden ? — Ja. Zur Dreiheit wird also die Idee des Geraden nimmermehr kommen? — Ganz gewiss nicht. — Die Dreiheit ist demnach ganz von dem Geraden ausgeschlossen? — Ausgeschlossen. — Die Dreiheit ist also ungerade ? — Ja. — W a s ich demnach zu bestimmen beabsichtigte, welche Dinge nämlich, ohne einem gewissen' entgegengesetzt zu sein, gleichwohl das Entgegengesetzte selbst nicht annehmen, wie zum Beispiel jetzt die Dreiheit, die, wiewohl sie dem Geraden nicht entgegengesetzt ist, dasselbe demohngeachtet nicht aufnimmt, denn sie bringt jederzeit das Entgegengesetzte zu demselben hinzu, eben so die Zweiheit zum Ungeraden, 105 und das Feuer zum Kalten, und noch gar vieles Andere : — so sieh nur zu, ob du es so bestimmen willst., dass nicht nur das Entgegengesetzte das Entgegengesetzte nicht annimmt, sondern auch jenes, was jenem ein Entgegengesetztes zubringt, zu welchem es etwa selbst kommen mag, (ich meine,) dass gerade dieses Zubringende niemals das Entgegengesetzte des Zugebrachten aufnimmt. Rufe dir's aber nur noch einmal in's Gedächtniss zurück, denn es ist gar nicht übel, es zum Oefteren zu hören. Fünf nimmt die Idee des Geraden nicht auf, noch die Zehn, das Doppelte, die des Ungeraden. Dieses ist nun freilich selbst wieder einem Andern entgegengesetzt, gleichwohl aber wird es die Idee des Ungeraden nicht aufnehmen; eben so wenig, als das Anderthalbe, und auch sonst gar Manches

151 dergleichen, als Halbes die des Ganzen, noch auch dag Drittheil und alles Andere der A r t , wenn du anders folgst und in dieser Weise mit mir einverstanden bist. — Ich bin allerdings ganz und gar mit dir einverstanden und folge dir. 54. So sage mir denn, sprach er, noch einmal von Anfang an, und antworte mir nicht in der Weise, in welcher ich dich frage, sondern mich nachahmend in einer andern. Ich sage diess aber, weil ich ausser der Antwort, die ich vorher gab, und welche sicher ist, aus dem so eben Gesagten noch eine andere eben so sichere in Aussicht habe. Wenn du mich nämlich fragtest, durch was, wenn es dem Leibe einwohnt, derselbe warm werde, so werde ich dir nicht jene sichere ungelehrte Antwort geben, wenn ihm Wärme einwohnt, sondern dem eben Bemerkten zufolge eine durchdachtere, wenn ihm Feuer einwohnt. Eben so wenig werde ich, wenn du fragen solltest, durch was, wenn es dem Leibe einwohnt, derselbe krank werde, antworten, wenn ihm Krankheit einwohnt, sondern wenn Fieber. Eben so wenig (werde ich, wenn du fragtest) durch was, wenn es der Zahl einwohnt, dieselbe ungerade werde, antworten, wenn ihr Ungeradheit, sondern wenn ihr die Einheit, und eben so in allen andern Fällen. Sieh aber zu, ob du bereits hinreichend weisst, was ich damit will. — J a ganz hinreichend, sagte er. — So antworte denn, fuhr er fort, durch was, wenn es dem Leibe einwohnt, wird derselbe lebend sein ? — Wenn ihm Seele einwohnt, sagte er. — Verhält sich denn nun dieses immer so? — Wie sollte es nicht, fuhr er fort. — Die Seele mag also wovon sie will Besitz nehmen, so kommt sie immer zu demselben als Leben bringend? — So kommt sie freilich, sagte er. — Ist denn nun aber dem Leben etwas entgegengesetzt, oder nichts ? — J a das ist, sagte er. — Was denn ? — Der Tod. — Die Seele wird demnach das Gegentheil von dem, was sie immer mitbringt, in keinem Fall aufnehmen, wie

152 dem Vorausgegangenen zufolge bereits zugestanden ist? — J a wohl ganz entschieden, sagte Kebes. 55. "Wie nun? "Was die Idee des Geraden nicht aufnimmt, wie nannten wir das eben erst ? — Ungerade, sagte er. — Was aber das Gerechte nicht annimmt, und das Künstlerische nicht annehmen mag? — Dieses unkünstlerisch, sagte er, jenes aber ungerecht. — Nun gut. Was aber den Tod nicht annehmen will, wie nennen wir das ? — Unsterblich, sagte er. — Dem zufolge nimmt die Seele den Tod nicht auf? — Nein. — Die Seele ist also unsterblich? — Unsterblich. — Nun gut, sagte er. Wollen wir diess nun für erwiesen ausgeben? Oder wie meinst du? — Ja fiir vollkommen genügend, o Sokrates. — Wie nun, fuhr er fort, o Kebes, wenn das Ungerade nothwendig unloo vergänglich wäre, würden dann die Drei nicht auch unvergänglich sein ? — Warum sollten sie es nicht ? — Wenn demnach auch das Unwarme nothwendig unvergänglich wäre, würde dann nicht, wenn Jemand Warmes zu dem Schnee hinzubrächte, der Schnee entweichen und zwar unversehrt und ungeschmolzen ? E r würde nämlich weder vergehen, noch auch ausdauernd die Wärme aufnehmen. — Du sprichst wahr, sagte er. — Ganz in derselben Weise, denke ich, würde, wenn das Unkalte unvergänglich wäre, im Falle etwas Kaltes zu dem Feuer käme, dasselbe weder erlöschen noch vergehen, sondern sich unversehrt sofort entfernen. — Nothwendig, sagte er. — Ist es dem zufolge nicht nothwendif, p ' sich auch eben so über das Unsterbliche auszusprechen ? Wenn nämlich das Unsterbliche auch unvergänglich ist, so ist es unmöglich, dass die Seele, wenn der Tod über sie herankommt, zu Grunde gehe. Dem vorher Gesagten zufolge wird sie nämlich den Tod weder in sich aufnehmen, noch wird sie todt sein, eben so wie die Drei nach unserer Behauptung nicht gerade sein wird, eben so wenig, als andererseits das Ungerade, und eben so wenig auch das Feuer kalt, so wenig, als die im Feuer enthaltene

153 Wärme. W a s hindert, indessen, könnte Jemand sagen, dass zwar das Ungerade nicht gerade wird,3 wenn das Geo o rade hinzukommt, wie bereits zugestanden worden, dass aber, wenn es untergeht, an dessen Stelle etwas Gerades entsteht? Jemanden, der dieses behauptete, könnten wir wohl schwerlich abstreiten, dass es nicht vergehe, denn- das Ungerade ist nicht unvergänglich. Im Falle uns aber dieses öist zugestanden wäre, so könnten wir es leicht durchfechten, dass bei dem Hinzukommen des Geraden das Ungerade und die Dreie sofort entwichen. Desgleichen würo o den wir es in Bezug auf das Feuer und das Warme und andere Dinge wohl gerade so durchfechten. Oder nicht? — J a , allerdings. — Ferner nun auch in Bezug auf das Unsterbliche; wenn uns nämlich zugegeben wird, dass es ebenfalls unvergänglich ist, so würde die Seele noch ausserdem, dass sie unsterblich ist, auch unvergänglich sein; wenn indessen nicht, so bedürfte es wohl- noch eines weiteren Beweises. — Dessen bedarf es nun aber nicht, was das anbelangt. Denn schwerlich dürfte etwas Anderes dem Untergang nicht ausgesetzt sein, wenn sogar das Unsterbliche und Ewige den Untergang annähme. 56. Dass indessen zum wenigsten Gott, sagte Sokrates, und die Idee des Lebens selbst, und wenn es sonst noch etwas Unsterbliches giebt, nun und nimmermehr untergehe, darüber, glaube ich, sind wohl Alle einverstanden. — Alle Menschen gewiss bei Zeus, sagte er, und noch mehr, wie ich glaube, die Götter. — Wenn also das Unsterbliche auch unzerstörbar ist, wäre dann nicht die Seele, wenn sie doch unsterblich ist, ebenfalls unvergänglich? — Das ist durchaus nöthig. — Kommt also der Tod über den Menschen, so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm; das Unsterbliche aber geht unversehrt und unzerstört fort, und weicht dem Tode aus. — Es scheint so. — In weit höherem Grade also, sagte e r , o Kebes, ist die Seele unsterblich 107 und unvergänglich, und in der That werden unsere Seelen

154 in dem Hades sein. — Dem zu" Folge, sagte er, o Sokrates, vermag weder ich etwas Anderes dagegen zu erinnern, noch deinen Heden irgendwie den Glauben zu versagen. Wenn hingegen hier Simmias oder irgend ein Anderer etwas zu sagen hat, so ist es gut, es nicht zu verschweigen, da ich nicht weiss, auf welche andere Gelegenheit, als die eben gegenwärtige, es jemand aufschieben wollte, der über derartige Gegenstände entweder etwas zu reden oder zu hören wünscht. — J a wirklich, fuhr Simmias fort, auch ich weiss nicht, wie ich dem Gesagten zu Folge noch Zweifel hegen sollte. Von Seiten der Wichtigkeit des Gegenstandes indessen, von welchem die Reden handeln, und aus Geringschätzung der menschlichen Schwäche, bin ich genöthigt, noch Zweifel bei mir über das Gesagte zu hegen. — Und nicht allein in so fern, o Simmias, bemerkte Sokrates, sondern auch darin sprichst du ganz vernünftig; und es ist daher erforderlich, die ersten Unterstellungen, und wenn sie auch zuverlässig zu sein scheinen, gleichwohl einer noch genaueren Prüfung zu unterwerfen. Und wenn ihr sie auf eine befriedigende Weise auseinander gesetzt habt, so werdet ihr, wie ich glaube, der Untersuchung folgen, so weit sie zu verfolgen einem Menschen nur irgend möglich ist. Und im Falle euch eben dieses recht klar geworden, so werdet ihr nichts weiter aufzusuchen brauchen. — Du sprichst wahr, sagte er. ' 57. Aber das, sagte er, ihr Männer, verdient gewiss noch erwogen zu werden, dass, wenn die Seele unsterblich ist, sie doch der Sorgfalt bedarf, nicht sowohl für diese Zeit allein, in welche das fällt, was wir Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und so dürfte denn nun allerdings die Gefahr als furchtbar erscheinen, wenn sie jemand vernachlässigen wollte. Wenn nämlich der Tod eine Befreiung von Allem wäre, so wäre es für die Bösen, wenn sie sterben, ein ganz unverhoffter Gewinn, mit der Seele zugleich von ihrem Leibe und ihrer Schlechtigkeit befreit

155 zu werden. Nun aber, da sie j a offenbar als unsterblich erscheint, dürfte es kein anderes Mittel für sie geben, dem Bösen zu entrinnen und kein anderes Heil, das ausgenommen, so gut und vernünftig als möglich zu werden. Denn nichts anderes nimmt die Seele mit, wenn sie in den Hades wandert, als Bildung und Nahrung, was j a auch, wie es heisst, dem Verstorbenen gleich im Anfang seiner Wanderung dorthin den grössten Nutzen oder Schaden bringt. E s heisst aber darüber also, dass jeden Verstorbenen sein D ä m o n , der ihm im Leben zugefallen war, an einen ich weiss nicht gerade welchen Ort zu bringen sucht, von wo aus diejenigen, welche sich dort versammelt haben, lim Gericht über sich halten zu lassen, mit jenem Führer in den Hades wandern, welchem der Auftrag geworden, die von hier dorthin zu bringen. Nachdem sie aber dort erlangt, was sie erlangen sollten, und die erforderliche Zeit ausgehalten haben, so bringt sie ein anderer Führer wieder nach Verlauf von vielen und grossen Zeitperioden hierher zurück. Die Wanderung ist aber freilich nicht so, wie sie der Telephos des Aischylos beschreibt. Jener sagt näm-ios lieh, ein ganz einfacher W e g führe zu dem Hades. Dieser scheint mir indessen weder einfach, noch ein einziger zu sein. Dann nämlich hätte man j a gar keine Führer mehr nöthig, denn es würde sich gewiss nicht leicht Jemand irgend wohin verirren, wenn nur ein einziger W e g wäre. Nun aber scheint er viele Scheide- und Umwege zu haben. Ich behaupte dieses, weil ich es aus dem, was hier zu Lande heiliges Herkommen und Sitte i s t , ableite. Die wohlgesittete und vernünftige Seele folgt nun, und verkennt den gegenwärtigen Zustand nicht. Diejenige aber, welche sich mit sinnlichem Verlangen an den Leib anschliesst, treibt sich, wie ich im Vorhergehenden bemerkte, lange Zeit um denselben und um den sichtbaren Ort herum, und nachdem sie kräftigen Widerstand geleistet und Vieles gelitten hat, wird sie mit Gewalt und nur unter Widerstreben

156 von dem dazu beorderten Dämon mit fortgeführt. Ist sie nun da angelangt, wo sich die Uebrigen befinden, so wird die unreine und etwas der Art verübt habende, mag sie sich nun mit ungerechtem Mord abgegeben, oder sonst etwas der Art begangen haben,7 was diesem verwandt oder P P verwandter Seelen Werk ist, jedermann fliehen und verabscheuen , und keiner begehrt ihr Weggenosse oder ihr Führer zu sein; sie selbst aber irrt umher in jeglicher gewisse Zeiträume vertfosVerlegenheit befangen, D O 3 bis erst O

sen sind, nach deren Verlauf sie von der Notwendigkeit in die ihr gebührende Behausung gebracht wird. Diejenige aber, welche rein und massig durch das Leben gegangen, und zu Reisegefährten und Führern Götter bekommen hat,' O bewohnt jede den ihr zukommenden Ort. 58. E s ogiebt aber viele und bewunderungswürdige tr n Orte der E r d e , und sie selbst ist weder von der Beschaffenheit noch von dem Umfang, als sie von denen, die von der Erde zu erzählen pflegen, ausgegeben wird, wie ich von Jemanden überzeugt worden bin. — Darauf bemerkte Simmias : wie verstehst du das, o Sokrates ? In Bezug auf die Erde nämlich habe auch ich selbst bereits Vieles gehört, freilich indessen nicht solches, was dicli überzeugt. Gar gerne möchte ich es daher hören. — Allerdings, o Simmias, scheint mir nicht gerade die Kunst des Glaukos dazu erforderlich zu sein, darzustellen, was es ist; dass es jedoch wahr sei, das scheint mir noch schwieriger zu sein, als die Kunst des Glaukos; auch dürfte ich einerseits vielleicht nicht einmal dazu tauglich sein, andrerseits aber scheint mir, und wenn ich es auch verstände, mein Leben, o Simmias,7 fiir die Grösse des Gegenstandes nicht auszuO reichen. Die Gestalt der Erde jedoch, wie sie nach meiner Ueberzeugung ist, und die Orte derselben zu beschreiben, hindert mich nichts. — Aber auch das, bemerkte Simmias, genügt schon. —

157 Ich bin demnach, fuhr jener fort, für's Erste überzeugt, dass sie, wenn sie sich mitten am Himmel als runder Körper befindet, weder der Luft bedürfe, um nicht zu fallen, 109 noch irgend einer andern nothwendigen Bedingung dieser A r t , sondern dass, um sie zu halten, hinreichend sei die gleichmässige Ausdehnung des Himmels an sich auf allen Seiten, so wie das Gleichgewicht der Erde selber. Denn ein im Gleichgewicht befindlicher Gegenstand, der in der Mitte' eines gleichen angebracht ist, wird nicht vermögen, sich mehr oder weniger nach irgend einer Seite zu neigen, sondern in seiner gleichmässigen Lage wird er ohne Bewegung bleiben. Das ist demnach das Erste, fuhr er fort, wovon ich überzeugt worden bin. — J a und das mit Recht, bemerkte Simmias. — Ferner sodann, sagte er, dass sie ausserordentlich gross sei, und dass wir die Gegenden von dem Phasis bis zu den Säulen des Herakles in einem ganz kleinen Raum um das Meer herum bewohnen, wie um einen Sumpf herum Ameisen und Frösche, und dass auch noch anderwärts viele andere an vielen Orten dieser Art hausen. Denn es gebe überall um die Erde viele Höhlen, verschieden an Gestalt und Grösse, in welche sowohl das Wasser, als auch der Nebel und die Luft zusammengeflossen wären; die Erde selbst aber liege rein in dem reinen Himmel, an welchem sich die Gestirne befinden, und welchen die meisten von denen, die über dergleichen Dinge zu sprechen gewohnt sind, Aether nennen; dessen Bodensatz nun eben dieses sei und fortwährend in den Höhlen der Erde zusammenfliesse. Uns nun, die wir in den Höhlungen derselben wohnen, entgienge das, und wir glaubten oben auf der Erde zu wohnen, gerade so, wie wenn Jemand, der mitten im Grund des Meeres wohnte, auf dem Meere zu wohnen glaubte, und der, weil er durch das Wasser die Sonne sammt den übrigen Gestirnen erblickte, von dem Meere glaubte, dass es der Himmel ist; vermöge seiner Schwerfälligkeit und Kraftlosigkeit aber noch niemals

158 bis zur Oberfläche des Meeres gekommen wäre ; und weder jemals, nachdem er aus dem Meere emporgetaucht und sich bis zu dem Orte hier erhoben, wahrgenommen hätte, um wie viel reiner und schöner derselbe sei, als der bei ihnen, noch von einem Andern, der es gesehen, etwas davon gehört hätte. Ganz in derselben Lage nun seien auch wir. Da wir nämlich in einer Höhlung der Erde wohnen, vermeinten wir, oben auf derselben zu wohnen, und nennten die Luft Himmel, als ob durch dieselbe, wie durch den Himmel, die Sterne ihre Bahn wandelten. Dieses aber sei deswegen der F a l l , weil wir wegen Unvermögens und Schwerfälligkeit nicht im Stande seien, bis zur äussersten Luftgränze hindurch zu dringen. Denn wenn Jemand bis zu den äussersten Punkten derselben gelangte, oder sich mit Flügeln hinaufschwänge, so würde er emportauchend hinschauen, gerade so wie hier die aus dem Meere emportauchenden Fische das schauen, was hier ist; eben so würde denn Einer das, was dort ist, sehen, und wenn unsere Natur im Stande wäre, die Betrachtung auszuhalten, so würde er erkennen, dass jenes dort der wahre Himmel, 110 und das wahre Licht und die wahre Erde sei. Diese Erde nämlich und die Steine und der ganze Raum hier ist verdorben und angefressen, wie das im Meere Befindliche vom Salzwasser. Denn es wächst weder irgend etwas der Rede Werthes in dem Meer, noch giebt es überhaupt etwas Vollkommenes darin, sondern nur Schluchten und Sand, unermesslich viel Koth und Schlamm,7 wo es nur ircrend O Erde giebt, und nichts, was mit dem Schönen bei uns auch nur entfernt verglichen zu werden verdiente. Jenes indessen dürfte wiederum vor dem bei uns weit mehr den Vorzug zu verdienen scheinen. Wenn man daher auch eine schöne Erzählung zur Sprache bringen darf, so ist es wohl der Mühe werth, o Simmias, zu hören, von welcher J3eschaffenheit das ist, was es auf der Erde unter dem Himmel

159 giebt. — J a wohl, mein Sokrates, sagte Simmias, würden wir diese Erzählung mit Vergnügen hören. 59. Man sagt also für's Erste, bemerkte er, o Freund, eben diese Erde sei, wenn sie Jemand von oben herab betrachte , so anzuschauen, wie die aus zwölf Lederstücken zusammengesetzten Bälle, bunt, mit Farben geschmückt, von denen unsere Farben hier, deren sich die Mahler bedienen, gleichsam Proben sind. Dort aber bestehe die ganze Erde aus solchen und zwar aus noch weit glänzenderen und reineren, als diese. Denn ein Theil sei purpurfarben und von wundervoller Schönheit; ein anderer goldähnlich, ein anderer sehr weiss, aber noch weisser als Gyps und Schnee,' und so sei sie gleicherweise aus andern Farben O zusammengesetzt, und zwar aus noch mannichfaltigeren und schöneren, als wir gesehen haben; und so stellten eben diese Höhlungen derselben, welche mit Wasser und Luft angefüllt sind, eine Art von Farbengebilde dar, welches in dem bunten Wechsel der übrigen Farben erglänzt, so dass ein Bild derselben fortwährend als ein bunter Gegenstand erscheint. Auf derselben nun, die so beschaffen, wachsen nach Verhältniss auch die Gewächse, Bäume sowohl, als Blumen und Feldfrüchte. Und wiederum haben gerade so die Gebirge und Steine ganz in demselben Verhältniss ihre Glätte sowohl, als ihre Durchsichtigkeit und ihre schöneren Farben, und von diesen seien denn auch die hierorts so beliebten Steinchenarten Theilchen, Karneole sowohl, als auch Jaspisse und Smaragde, sowie alle übrigen der Art. Dort aber gebe es auch gar nichts, was nicht so beschaffen wäre, ja sogar noch schöner als diese. Die Ursache hiervon aber liege darin, weil jene Steine rein sind, und nicht, wie die hiesigen, angefressen und verdorben von Fäulniss und Salzsäure, und dem, was hier zusammengeflossen ist, und welches denn eben sowohl Steinen, als der Erde, sowie allen übrigen Dingen, Thieren sowohl als Pflanzen, Verunstaltungen und Krankheiten zuzieht. Die

160 Erde selbst aber sei mit allen diesen Gegenständen ausge111 schmückt und ausserdem noch mit Gold und Silber, sowie noch mit vielen anderen Dingen der Art. Dieses wachse nämlich dort ganz ausgezeichnet, sei in beträchtlicher Menge und Grösse vorhanden, und überall auf der Erde, so class sie anzusehn ein Schauspiel beseeligender Erscheinungen sei. Thiere aber gebe es auf derselben noch gar viele andere, sowie Menschen, deren Einige mitten im Lande wolmen, Andere aber um die Luft, wie wir um das Meer, andere auf Inseln, welche die Luft umfliesse, und welche sich in der Nähe des Festlandes befänden; und mit einem Wort, was uns das Wasser und das Meer ist für unser Bedürfniss, das sei dort die Luft, was aber für uns die Luft, das sei für jene der Aether. Die Witterung aber hätte bei ihnen eine solche Temperatur, dass die Leute dort ohne Krankheiten wären, und eine weit längere Zeit lebten, als die hier zu Lande; und an Gesicht und Gehör und Geruch und allen andern Dingen der Art ständen sie von uns in demselben Abstände, als in Bezug auf Reinheit Luft von Wasser und Aether von Luft absteht. Ferner hätten sie auch Tempel der Götter und Heiligthiimer, in welchen die Götter in Wahrheit als Bewohner weilten, ferner auch Orakelsprüche und Weissagungen und Erscheinungen der Götter, und fände überhaupt ein vertrauter Umgang zwischen ihnen und jenen statt. Auch würden die Sonne und der Mond und die Sterne von ihnen gesehen, wie sie wirklich sind, und ihre übrige Glückseligkeit reihe sich nun als weitere Folge hiervon an. 60. Die ganze Erde sei demnach ursprünglich also beschaffen, sowie auch das, was die Erde umgiebt. E s gebe aber auf derselben nach Verhältniss ihrer Höhlungen viele Orte rings um sie herum, manche derselben seien tiefer und weiter geöffnet, als der, auf welchem wir wohnen; diejenigen aber, welche tiefer seien, hätten eine geringere

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Spaltung, als der Ort bei uns hier, wiederum andere hätten eine minder beträchtliche Tiefe, als der bei uns, und dehnten sich weiter aus. Diese alle aber wären unter der Erde an vielen Stellen durch in einander gehende Oeffnungen verbunden, engere sowohl als breitere, und hätten Durchgänge, wo sich denn vieles Wasser aus dem einen in den andern, wie in Mischkessel ergiesse; ferner gebe es immerströmende Flüsse von ungeheuerer Grösse unter der Erde, von warmem sowohl als von kaltem Wasser, vieles Feuer und gewaltige Flüsse von Feuer, viele aber auch von nassem Schlamm, reinerem sowohl als schmutzigerem, wie in Sikelien die vor dem Feuerstrom sich ergiessenden Schlammflüsse, und der Feuerstrom selbst. Von. diesen würden nun die einzelnen Orte angefüllt, auf welche der vor sich gehende Umlauf gerade jedesmal treffe. Dieses Alles aber bewege auf- und abwärts eine gewisse in der Erde befindliche Schaukelschwingung. Eben diese Schaukelschwingung aber entsteht etwa durch folgende natürliche Einrichtung. 112 Einer dieser Erdschlünde, der überhaupt sehr gross ist, und quer durch die Erde gebohrt, ist der, welchen Horneros meint, wenn er sagt : Ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde, derselbe, welchen anderwärts sowohl er selbst, als viele andere unter den Dichtern den Tartaros genannt haben. In diesen Erdschlund nämlich fliessen alle Ströme zusammen, und fliessen wieder aus demselben heraus. Die Einzelnen aber nehmen die eigenthümliche Beschaffenheit dea Erdreichs an, durch welches sie gerade fliessen. Die Ursache aber, dass alle Ströme von da heraus und wieder hineinfliessen, ist die, weil eben diese flüssige Masse weder Grund noch Boden hat. Sie wogt und fluthet daher aufund abwärts, und die Luft und der Hauch um dieselbe thut das Nämliche. Denn er folgt ihr nach, wenn sie sowohl in die jenseitigen Gegenden der Erde fortströmt, als 11

1C2 auch wenn in die diesseitigen; und gerade 60, wie der Hauch der Athmenden wogend ununterbrochen aus- und einströmt, eben so verursacht auch hier der mit dör Flüssigkeit emporgehobene Hauch sowohl beim Ein- als beim Ausströmen gewaltige und über alle Maassen stürmische Winde. Wenn nun das fortströmende Wasser nach der Gegend hin zurückweicht, welche die untere genannt wird, so fliessen die Strömungen unter die Erde in jene Gegenden, und fiillen .sie an, wie wenn Leute pumpen. Wenn sie sich nun aber wieder von dort verlieren, und hierher losströmen, so füllen sie wiederum die hiesigen Gegenden: sind nun aber diese voll, so fliessen sie durch Kanäle und durch die E r d e , und wenn jede derselben in den Orten angelangt ist, wohin sie ihren Lauf nimmt, so bilden sie Meere, Seen, Flüsse und Quellen. Von da verlieren sie sich wieder unter der Erde, nachdem einige längere nnd mehre, andere wenigere und kürzere Räume umflossen haben, und fallen wieder in den Tartaros hinein ; einige viel weiter hinab, als sie ausgepumpt wurden, andere aber weniger. Alle aber ergiessen sich weiter unten, als ihr AusHuss war. Ferner stürzen manche der Stelle ihres EinHiessens gegenüber heraus, manche auf derselben Seite. Manche aber ziehen sich auch förmlich in einem Kreise herum, indem sie sich ein- oder auch mehremale um die Erde herumwinden, wie die Schlangen, und stürzen, nachdem sie sich möglichst abwärts gesenkt haben, wieder Iiinein. E s ist indessen nur möglich, sich von beiden Seiten bis zur Mitte herabzusenken, weiter aber nicht. Denn für beide Ströme geht auf jeder Seite der Lauf aufwärts. Gl. Ausserdem giebt es noch viele andere grosse und verschiedenartige Ströme. Unter diesen vielen sind nun insonderheit vier Ströme, von denen der grösste und am meisten nach Aussen in einem Kreise herumfliessende der sogenannte Okeanos ist; diesem gegenüber und in entgegengesetzter Richtung strömend befindet sich der Acheron, welcher

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durch manche andere öde Gegenden fliesst, namentlich sodann unter der Erde fortfliessend in den Acherusischen m See gelangt, wohin die Seelen der meisten Verstorbenen gelangen, und welche, nachdem sie gewisse vom Schicksal bestimmte, bei Einigen längere, bei Andern kürzere Zeiten daselbst verweilt haben, wieder zur Erzeugung anderer Geschöpfe ausgesandt werden. Der dritte Fluss bricht in der Mitte von diesen hervor, und ergiesst sich nahe an seinem Ausfluss in einen weiten von einem gewaltigen Feuer brennenden Raum, und bildet einen See, der grösser ist, als bei uns das Meer, und von Wasser und Schlamm aufsprudelt. Von da an geht er im Kreise trübe und schlammig weiter, und indem er sich um die Erde herumwälzt, gelangt er, wie an andere Orte, so aiich an die äussersten Gränzen des Acherusischen Sees, ohne sich jedoch mit dem Wasser desselben zu vermischen. Nachdem er sich aber zum Oefteren unter der Erde herumgewälzt hat, fallt er ganz unten in den Tartaros hinein. Dieser ist es nun, welchen die Leute Pyriphlegeton nennen, und von welchem denn auch die feuerspeienden Berge, wo sie sich irgend auf der Erde finden, losgerissene Stücke emporblasen. Diesem aber wiederum gegenüber ergiesst sich der Vierte zuerst in eine schreckliche und wilde Gegend, wie es heisst, die aber ganz die Farbe, wie der Kyanos hat. Die Leute nennen dieselbe die Stygische, und den See, welchen der hineinfallende Fluss bildet, den Styx. Nachdem er nun hier hineingefallen ist, und gewaltige Kräfte in dem Wasser angenommen hat, verschwindet er unter der Erde, wälzt sich um dieselbe herum, geht in entgegengesetzter Richtung von dem Pyriphlegeton und begegnet demselben auf der entgegengesetzten Seite in dem Acherusischen See. Auch nicht einmal sein Wasser mischt sich mit anderem, sondern auch er geht im Kreise herum, und ergiesst sich in den Tartaros, und zwar in entgegen11 *

164 gesetzter Richtung von dem Pyriphlegeton. Sein Name ist, wie die Dichter sagen, Kokytos. 62. Da sich dieses aber also verhält, so werden die Verstorbenen, nachdem sie an dem Orte angekommen, wohin der Dämon einen jeden bringt, fiir's Erste vor Gericht gezogen, sowohl die, welche tadellos und unsträflich gelebt haben, als auch die, welche nicht. Diejenigen nun, von welchen angenommen wird, dass sie mittelmässig gelebt haben, wandern nach dem Acheron und besteigen die bereits für sie bestimmten Fahrzeuge, und gelangen auf denselben zu dem See; und daselbst wohnen sie, reinigen sich, büssen ihre Vergebungen ab, wenn einer sich irgend vergangen hat, und werden losgesprochen; für ihre guten Thaten hingegen erhalten sie Auszeichnungen, ein jeder nach Verdienst. Diejenigen aber, welche wegen der Grösse ihrer Vergehungen für unheilbar gelten, entweder wegen zahlreicher und bedeutender Beraubungen von Heiligthümern, oder wegen vielfacher ungerechter und gesetzwidriger Mordthaten, die sie verübt haben, oder was all noch für andere Vorfälle dieser Art vorkommen mögen, diese stürzt das ihnen zukommende Schicksal in den Tartaros, aus welchem sie nie wieder zum Vorschein kommen. Diejenigen aber, von welchen man annimmt, dass sie zwar heilbare, aber doch schwere Verbrechen begangen, die zum Beispiel an Vater oder Mutter im Zorn irgend eine Gewaltthat in vollbracht, dieselbe aber ihr ganzes übriges Leben hindurch bereut haben, oder die auf eine ähnliche andere Art zu Mördern geworden, diese stürzen zwar notwendigerweise in den Tartaros, wenn sie aber hineingestürzt sind, und ein Jahr daselbst zugebracht haben, so wirft sie die Woge wieder heraus; und zwar die Mörder in den Kokytos, diejenigen aber, die an Vater und Mutter zu Verbrechern geworden, in den Pyriphlegeton. Wenn sie nun fortgetrieben an dem Acherusischen See angelangt sind, so schreien sie da und rufen, die Einen denen zu, welche sie getödtet,

165 die Andern denen, welche sie mishandelt haben; wenn sie dieselben nun herbeigerufen haben, so Hellen sie und bitten, sie doch in den See hinaussteigen zu lassen und aufzunehmen ; und wenn sie dieselben überreden, so steigen sie heraus und werden frei von ihren Qualen, wenn aber nicht, so werden sie von Neuem in den Tartaros getrieben, und von da wiederum in die Flüsse; und sie hören nicht eher auf, dieses zu erdulden, bevor sie diejenigen überreden, an welchen sie sich vergangen haben. Dieses ist nämlich die Strafe, die von den Richtern für sie angeordnet wurde. Diejenigen ferner, von welchen man annimmt, dass sie ganz vorzugsweise unsträflich gelebt haben, diese sind es, welche aus diesen in der Erde befindlichen Orten befreit und wie aus Gefangnissen erlöst, nach oben in eine reine Wohnung gelangen und auf der Erde wohnen. Gerade von diesen aber leben die durch die Philosophie zur Genüge Gereinigten ohne Leiber auf immer für die Folgezeit, und gelangen in noch schönere Wohnungen, als diese hier, welche weder leicht zu beschreiben sind, noch auch gegenwärtig die Zeit dazu ausreichen würde. 63. Aber schon um deswillen, was wir bereits durchgegangen haben, o Simmias, müssen wir Alles aufbieten, um der Tugend und der Einsicht- im Leben theilhaftig zu werden; denn schön ist der Preis und die Hoffnung gross. Mit Gewalt indessen darauf zu bestehen, dass sich dieses so verhalte, wie ich es dargestellt habe, ziemt keinem Mann, der Verstand hat. Dass es jedoch eine solche oder eine ähnliche Bewandniss mit unseren Seelen und deren (künftigen) Wohnungen habe, da j a die Seele doch offenbar unsterblich ist, dieses zu glauben ist meines Erachtens demjenigen ganz angemessen, der diese Bewandniss annimmt, und verdient, dass er es auf seine Gefahr hin wage. Denn es ist ein schönes Wagestück und man rnuss sich mit solchen Dingen gleichsam selbst bezaubern; deswegen ziehe ich denn auch schon seit geraumer Zeit die Erzählung in

166 die Länge. Aber schon um deswillen muss denn auch ein Mann in Bezug auf seine Seele muthig gefasst sein, welcher in dem Leben die übrigen sinnlichen Genüsse, die sich auf den Leib und dessen Ausschmückung beziehen, als ihm ganz fremdartig, völlig unbeachtet gelassen hat, und der Ansicht gewesen ist, dass sie das Uebel nur noch ärger machen werden, im Gegentheil sich ganz jenen (Genüssen) hingegeben, welche sich auf das Lernen, beziehen, und nachdem er seine Seele nicht mit fremdem, sondern mit 115 dem ihr eigenthümlichen Schmuck, mit Enthaltsamkeit, Gerechtigkeit, UnVerzagtheit, Freiheit und Wahrheit geziert hat, so nun die Wanderung in den Hades erwartet, um sie anzutreten, sobald das Schicksal ruft. Ihr nun freilich, setzte er hinzu, o Simmias und Kebes, und ihr Uebrigen werdet ein andermal, jeder zu seiner Zeit dahin wandern. Mich aber ruft schon jetzt, würde ein Tragiker sagen, das Geschick, und es ist ohngefahr an der Zeit, mich nach dem Bade umzuthun. Denn es scheint mir doch besser zu sein, erst nach dem Bade das Gift zu trinken, und den Weibern nicht die Umstände zu machen, den Leichnam zu waschen. 64. Als er dieses nun gesprochen hatte, sagte Kriton : gut, o Sokrates. Was frägst du aber diesen oder mir auf, entweder in Bezug auf deine Kinder oder sonst einen Gegenstand, wodurch wir dir, wenn wir es thun, einen ganz besonderen Gefallen erzeigen würden. — Ausser dem, was ich immer sage, antwortete er, o Kriton, gar nichts besonders Neues. Dass ihr nämlich, während ihr fiir euch selber sorgt, sowohl mir als den Meinigen, sowie euch selbst zu Gefallen thut, was ihr thun möget, auch wenn ihr es jetzt nicht versprechen solltet; wenn ihr euch indessen selbst vernachlässigt, und nicht gleichsam den Spuren des jetzt und in früherer Zeit Gesagten im Leben nachgehen wollt, so werdet ihr, wenn ihr im Augenblick auch noch so viel und noch so heilig versprächet, dennoch gär keinen Vor-

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tlieil davon haben. — Wir wollen demnach, sagte er, ernstlich darauf bedacht sein, so zu thun. Auf welche Art aber sollen wir dich begraben? — Wie ihr wollt, antwortete er, wenn ihr mich nur erst habt, und ich euch nicht entwische. Indem er nun ruhig lächelte und dabei nach uns hillblickte, sagte er, ich überzeuge den Kriton nicht, ihr Männer, dass ich liier der Sokrates bin, der sich jetzt mit euch unterredet, und alles, was gesagt wird, gehörig ordnet, er glaubt im Gegentheil, dass ich derjenige sei, welchen er kurz nachher, als Leichnam sehen wird, und fragt daher, wie er mich begraben soll. Dass ich mich aber schon längst ausführlich darüber ausgesprochen habe, dass ich, nachdem ich das Gift getrunken, nicht mehr bei euch bleiben, sondern unverweilt ich weiss nicht zu welchen höheren Genüssen der Seeligen abgehen werde, das scheine ich ihm nur so gesagt zu haben, um zugleich euch und mich zu trösten. So leistet demnach, fuhr er fort, bei Kriton für mich die entgegengesetzte Bürgschaft von derjenigen, welche dieser bei den Richtern für mich geleistet hat. Denn dieser hat gut dafür gesagt, dass ich gewiss und wahrhaftig bleiben, ihr aber verbürgtet euch, dass ich gewiss und wahrhaftig nicht bleiben werde, wenn ich gestorben bin, sondern unverweilt davon gehen werde, damit es Kriton leichter ertrage, und nicht, wenn er meinen Leib verbrennen oder begraben werden sieht, sich meinetwegen betrübe, als ob mir etwas Schlimmes widerführe, noch auch bei der Leichenbestattung sage, dass er entweder den Sokrates ausstelle, oder hinaustrage, oder begrabe. Denn wisse wohl, fuhr er fort, o bester Kriton, sich nicht gut auszudrücken, ist nicht nur an und für sich ganz unstatthaft, sondern es hat auch einen nachtheiligen Einfluss auf die Seele. Du musst vielmehr muthig gefasst sein, und ineinen Leib zu bestatten befehlen, und zwar so zu bestatten, wie es dir gerade genehm ist, und wie du glauben darfst, dass es am meisten ne schicklich sei.

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65. Nachdem er dieses gesagt hatte, stand er auf und begab sich in ein besonderes Zimmer, um sich zu baden, und Kriton folgte ihm j uns aber hiess er dableiben. Wir blieben also, indem wir uns über das Gesagte unterredeten, und es nochmals in Erwägung zogen; dann aber besprachen wir uns wieder über das Misgeschick, welches uns betroffen habe, und dachten natürlich nicht anders, als dass wir nun, wie eines Vaters beraubt, das übrige Leben als Waisen hinbringen würden. Nachdem er sich aber gebadet hatte, und nicht nur seine Kinder zu ihm gebracht worden, (er hatte nämlich zwei kleine Söhne und einen erwachsenen,) sondern auch die im Hause bekannten Weiber gekommen waren, so unterredete er sich mit diesen in Kritons Beisein, und nachdem er ihnen das, was er all wünschte, aufgetragen hatte, befahl er den Weibern und Kindern -fortzugehen, er selbst aber kam auf uns zu. Es war auch bereits nahe an Sonnenuntergang, denn er hatte sich lange Zeit drinnen aufgehalten. Als er nach dem Bade zurückgekommen war, so setzte er sich nieder, und hatte nach dem noch gar nicht viel gesprochen, da kam der Diener der Eilfmänner, stellte sich zu ihm hin und sprach : o Sokrates, über dich werde ich mich gewiss nicht zu beklagen haben, wie ich mich über Andere beklage, dass sie mir zürnen und fluchen, wenn ich ihnen ankündige, das Gift zu trinken, indem es die Oberen befehlen. Dich aber habe ich auch sonst schon im Laufe dieser Zeit als den edelsten, sanftmiithigsten und besten Mann kennen gelernt unter denen, die j e hierher gekommen sind; und so weiss ich denn auch jetzt recht gut, dass du mir nicht zürnest, (du kennst j a die, welche Schuld daran sind,) sondern jenen. Nun also, (denn du weisst ja, was ich dir fiir eine Nachricht zu bringen gekommen bin,) lebe wohl, und suche das, was nicht zu ändern ist, so leicht als möglich zu ertragen. Indem er dabei weinte, drehte er sich um und gieng weg. — Darauf blickte Sokrates nach ihm hin und sprach : auch

1 denn durch den Besitz des Guten sind die Glücklichen glücklich. Es bedarf daher auch nicht der weiteren Frage warum denn der glücklich sein will, der es will, sondern das Antworten scheint ein Ende zu haben. — Du hast recht, sagte ich. — Glaubst du denn nun etwa, dass dieser Wunsch und diese Liebe allen Menschen gemeinsam seien, und dass alle des Guten immer theilhaftig zu werden wünschen ? oder wie meinst du ? — Ich meine so, sagte ich, dass sie allen gemeinsam seien. — Warum also, sprach sie, o Sokrates, sagen wir nicht, dass alle lieben, wenn denn doch alle dasselbe lieben, und zwar immer, sondern sagen von Einigen, dass sie lieben, von Andern aber nicht? — Darüber, erwiederte ich, wundere ich mich selber. — Das 15

226 aber lass dich nicht Wunder nehmen, sprach sie; wir scheiden nämlich nur eine gewisse Art von Liebe aus, und nennen sie, indem wir ihr den Namen des Ganzen beilegen, Liebe, fiir die andern aber gebrauchen wir andere Namen. — Wie zum Beispiel ? sagte ich. — Ich meine etwa so : dü weisst doch, dass die Erzeugung etwas Vielfältiges ist. Denn die Ursache von jedwedem, was es auch sei, das aus dem Nichtsein in das Sein übergeht, ist ein Erzeugen, so dass auch die unter allen Künsten begriffenen Verrichtungen ein Erzeugen sind, und die Meister darin sind alle Erzeuger. — Du hast ganz recht — Gleichwohl, bemerkte sie weiter, weisst du j a , dass sie nicht Erzeuger genannt werden, sondern andere Namen haben, aber ein von dem gesammten Erzeugen abgesonderter einziger Theil, der sich auf die Tonkunst und die Versmaasse bezieht, wird mit dem Namen des Ganzen bezeichnet. Denn dieser allein heisst Dichtung, und die, welche diesen Theil des Erzeugens besitzen, Dichter. — Du hast ganz recht, sagte ich. — Gerade so verhält es sich denn nun auch mit der Liebe. In der Hauptsache ist jedes Begehren des Guten und des Glücks die grösste und verfiihrerischte Liebe für Jeden. Allein die Andern, die ihr auf mancherlei Art zugewandt sind, entweder in Bezug auf Gelderwerb, oder in Bezug auf Liebhaberei an Leibesübungen und Streben nach Weisheit, von denen heisst es nicht, dass sie lieben und Liebhaber sind; diejenigen liingegen, welche nur auf eine Art ausgehen, und sich dafür beeifern, erhalten den Namen des Ganzen, Liebe, lieben und Liebhaber. — Du scheinst recht zu haben, sagte ich. — Es geht nun auch allerdings, sagte sie, eine Rede, dass diejenigen, welche ihre Hälfte suchen, lieben. Meine Rede aber sagt, dass die Liebe weder auf ein Halbes, noch auf ein Ganzes gerichtet sei, wenn es nicht zufällig, mein Freund, gerade etwas Gutes ist. Ja selbst ihre eignen Füsse und Hände lassen sich die Menschen bereitwillig abschneiden, wenn ihnen das Ihrige schäd-

227 lieh zu sein scheint. Denn nicht das Seinige ist, glaube ich, einem Jeden werth, wenn Einer nicht etwa das Gute das Angehörige und das Seinige nennt, das Schlimme aber das f r e m d e ; denn es ist ja durchaus nichts anderes, was die Menschen lieben, als das Gute. Oder glaubst du es, doch von ihnen? — Beim Zeus, daran denke ich nicht, erwiederte ich. — Können wir also nun, fuhr sie fort, so ohne Weiteres behaupten, dass die Menschen das Gute lieben ? — Ja, sagte ich. — Wie aber? Muss man nicht hinzusetzen, sprach sie, dass sie auch das Gute zu besitzen trachten? —Man muss es hinzusetzen. — Folglich auch, sprach sie, es nicht nur zu besitzen, sondern es auch für immer zu besitzen?—Auch das muss man hinzusetzen. — Folglich ist Alles zusammengenommen, sagte sie, die Liebe darauf gerichtet, dass man das Gute immer haben will — Du hast ganz vollkommen rechte sagte ich. 25. Wenn nun aber die Liebe darauf gerichtet ist, sagte sie weiter, auf welche Art und vermöge welcher Handlungsweise könnte der Eifer und die Anstrengung derer, die ihr nachstreben, Liebe genannt werden? Was ist denn dieses nur für ein Werk? Vermagst du eB anzugeben? — Dann würde ich dich doch gewiss, erwiederte ich, o Diotima, nicht so wegen deiner Weisheit bewundern, und zu dir kommen, um eben dieses zu erlernen. — Wohlan denn, sprach sie, so will ich dir's sagen. Es ist dieses nämlich eine Erzeugung in dem Schönen, sowohl dem Leibe als der Seele nach. — Sehergabe, fuhr ich fort, ist dazu erforderlich, um einzusehen, was du eigentlich damit sagen willst, und ich begreife es nicht. — Wohlan denn, bemerkte sie weiter, ich will es deutlicher sagen. Den Trieb nach Befruchtung nämlich, sprach sie, o Sokrales, haben alle Menschen, sowohl dem Leibe als der Seele nach, und sobald sie einmal ein gewisses Alter erreicht haben, so verlangt unsere Natur zu erzeugen. Erzeugen aber kann sie nicht in dem Hässlichen, sondern nur in dem Schönen. Des Mannes und des Weibes Vereinigung nämlich ist Erzeugung. Es ist dieses aber etwas 15*

228 Göttliches, so wie eben dieses in dem sterblichen Wesen etwas Unsterbliches, ich meine die Empfängniss und die Erzeugung. Es kann dieses aber in dem nicht Zusammenstimmenden unmöglich stattfinden; nicht zusammenstimmend aber ist das Hässliche mit allem Göttlichen, das Schöne aber ist zusammenstimmend. Eine Moira also und eine Eileithyja ist die Schönheit für die Erzeugung. Wenn daher das Zeugungslustige dem Schönen naht, so wird es aufgeheitert und zerfliesst in Wonne, zeugt und gebährt; wenn aber dem Hässliehen, so zieht es sich finster und traurig zusammen, wendet sich weg, rollt sieb ein, und erzeugt nicht, sondern trägt die ihm inwohnende Frucht mit Unlust. Daher hat denn auch der Zeugnngslustige und schon von Befruchtungstrieb Schwellende ein so unaufhaltsames Verlangen nach dem Schönen, weil es ihn von den starken Wehen, die er hat, befreit. Die Liebe, bemerkte sie weiter, o Sokrates, ist ja nicht auf das Schöne gerichtet, wie Du glaubst. — Auf was aber denn? — Auf das Zeugen und das Gebären im Schönen. — Es mag sein, sagte ich. — J a allerdings, sprach sie. — Warum denn aber auf die Erzeugung? — Weil die Erzeugung das immerfort Werdende und Unsterbliche für das Sterbliche ist, Unsterblichkeit aber zugleich mit dem Guten zu begehren, ist nach dem bereits Zugestandenen nothwendig, wenn anders die Liebe auf das Gute gerichtet ist, es nämlich stets zu besitzen. Dieser Rede zufolge ist also die Liebe nothwendig auch auf die Unsterblichkeit gerichtet. 26. Diess Alles nun lehrte sie mich, so oft sie über die Liebe sprach, und fragte mich auch einmal, was glaubst du wohl, o Sokrates, dass die Ursache dieser Liebe und Begierde sei ? oder bemerkst du nicht, in welchem gewaltsamen Zustande sich alle Thiere befinden, wenn sie zu zeugen begehren, sowohl die, welche laufen, als die Geflügelten, indem sie alle krank und von Liebe ergriffen sind, fürs Erste in Bezug auf die Vermischung unter ein-

229 ander, sodann in Bezug auf die Ernährung des Erzeugten ; wie ferner auch die Schwächsten bereit sind, für dasselbe mit den Stärksten zu kämpfen und dafür zu sterben, und wie sie sich freiwillig den Qualen des Hungers Preis geben, um Jenes ernähren zu können, und auch sonst Alles aufbieten. Von den Menschen, sagte sie, könnte man freilich annehmen, dass sie diess aus Ueberlegung thun. Was ist aber bei den Thieren der Grund, dass sie so stark von der Liebe ergriffen werden ? Vermagst du es anzugeben ? — Auch darauf erklärte ich, dass ich es nicht wüsste. — Darauf entgegnete sie : denkst du denn je etwas Tüchtiges in Liebessachen zu leisten, wenn du das nicht begreifst ? — Aber gerade deswegen, o Diotima, bin ich ja, wie ich soeben erst bemerkte, zu dir gekommen, weil ich es erkenne, dass ich Lehrer nöthig habe. Sage mir also doch den Grund sowohl hiervon, als von allem Andern, was auf die Liebe Bezug hat. — Wenn du demnach, sprach sie, in dem Glauben stehst, dass die Liebe von Natur auf das gerichtet sei, worüber wir oftmals übereingekommen sind, so wundere dich nur nicht. Denn hier sucht nach einem mit Jenem ganz übereinstimmenden Verhältniss die sterbliche Natur nach Möglichkeit ewigr* und unsterblich zu sein. Sie o vermag es indessen nur auf diese Art durch Erzeugung, weil sie immer' ein anderes Junges statt des Alten zurücklässt; da ja auch von jedem einzelnen lebenden Wesen gesagt wird, dass es lebe und dasselbe sei, wie zum Beispiel von Kind auf Einer immer derselbe heisst, bis er ein alter Mann geworden ist. Dieser behält freilich nie dasselbe an sich, und heisst dennoch derselbe, er verjüngt sich im Gegentheil immer und verliert Manches an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und keineswegs etwa nur in Bezug auf den Leib, sondern auch in Bezug auf die Seele bleiben die Gewohnheiten, die Sitten, Meinungen, Begierden, Freude, Schmerz, Furcht im Einzelnen bei dem Einzelnen dasselbe, sondern das Eime

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entsteht, das Andere vergeht. Noch viel sonderbarer aber als dieses ist» dass auch der Erkenntnisse manche bei ans entstehen, manche vergehen, und dass wir niemals nicht einmal in Bezug auf die Erkenntnisse dieselben sind, sondern dass auch jeder Einzelnen der Erkenntnisse ganz das*selbe begegnet. Denn das, was man Nachsinnen nennt, findet statt, wenn die Erkenntniss gewissermassen entwichen ist. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntniss, das Nachsinnen aber, das statt der ausgegangenen wieder eine neue Erinnerung verschafft, erhält die Erkenntniss, so dass sie dieselbe zu sein scheint. Auf diese Weise nämlich wird alles Sterbliche erhalten, nicht dadurch, dass es ganz und gar immer dasselbe ist, wie das Göttliche, sondern dadurch, dass das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues zurücklässt, dergleichen es selber war. Vermöge dieser Veranstaltung, o Sokrates, sagte sie, hat das Sterbliche Theil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles Uebrige, das Unsterbliche aber vermöge einer andern. Wundere dich also ja nicht, wenn jedes von Natur seinen eigenen Abkömmling in Ehren hält. Denn um der Unsterblichkeit willen folgt einem Jeden dieser Eifer und diese liebe nach. 27. Nachdem ich diese Rede gehört hatte, wunderte ich mich darüber und sprach: Aber, weiseste Diotima, verhält sich denn das in Wahrheit also ? — Darauf erwiederte sie, wie die rechten Sophisten, das sei versichert, o Sokrates. Wenn du ja nur irgend Lust hast, die Ehrliebe der Menschen zu betrachten, so würdest du dich gewiss über das Unvernünftige in Bezug auf das wundern, worüber ich bereits gesprochen habe, wenn du es nicht verstehst und beherzigst, in welchem gewaltsamen Zustande sie sich befinden durch das eifrige Streben, berühmt zu werden, und sich unsterblichen Ruhm für alle Zeiten zu begründen, und eben deswegen auch entschlossen sind, alle Gefahren zu bestehen, noch mehr als fiir ihre Kinder, oder Vermögen

231 aufzuwenden, und sich allen nur erdenklichen Miihsalen zu unterziehen und selbst dafür zu sterben. Glaubst du denn etwa, bemerkte sie weiter, Alkestis würde wohl fiir den Admetos gestorben sein, oder Achilleus dem Patroklos nachgestorben, oder euer Kodros im Voraus füi die Königsherrschaft seiner Kinder, wenn sie nicht gedacht hätten, dass eine unsterbliche Erinnerung an ihre Tugend bleiben würde, wie wir sie nun auch wirklich haben? Weit gefehlt, sagte sie; im Gegentheil, glaube ich, für die Unsterblichkeit der Tugend und fiir einen solchen herrlichen Nachruhm thun Alle Alles, und zwar um so viel mehr, je besser sie sind, denn sie trachten nach dem Unsterblichen. Diejenigen nun, bemerkte sie weiter, welche dem Leibe nach Zeugungskraft besitzen, wenden sich möhr den Weibern zu, und sind auf diese Weise der Liebe ergeben, indem sie sich durch Kinderzeugen Unsterblichkeit, Andenken und Glückseligkeit, wie sie denken, für alle Folgezeit verschaffen; diejenigen aber, welche der Seele nach, — e s » « giebt nämlich solche, sagte sie, welche ihre Zeugungslust in der Seele haben, und zwar noch mehr als im Leibe, für das nämlich, was der Seele zukommt, zu zeugen und zu empfangen. Was kommt ihr denn nun zu? Weisheit, so wie jede andere Tugend, deren Erzeuger bekanntlich auch alle Dichter sind, so wie unter den Künstlern diejenigen, welche für erfindsame Köpfe gelten. Bei weitem die grösste und schönste Weisheit aber, sagte sie, ist diejenige, welche auf die Anwendung der Staaten und des Hauswesens Bezug hat, deren Namen Besonnenheit und Gerechtigkeit ist. Wenn nun Einer schon von Jugend auf in der Seele damit befruchtet ist, so begehrt er auch diesem göttlichen Zustande gemäss, namentlich wenn das gehörige Alter eingetreten ist, bereits zu gebären und zu erzeugen. Ein solcher geht daher auch, glaube ich, herum und sucht das Schöne auf, worin er erzeugen könne. Denn in dem Hässlichen wird er nimmermehr erzeugen. Daher

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liebt er denn min die schönen Leibesgestalten mehr als die hässlichen, insofern er zeugungslustig ist, und wenn er auf eine schöne, edle und von Natur besonders ausgezeichnete Seele trifft, dann schliesst er sich mit überschwenglicher Liebe an Beides gemeinsam an, und hat einem solchen Menschen gegenüber sogleich einen guten Yorrath von Redensarten über die Tugend, so wie über dasjenige, womit sich ein rechtschaffener Mann beschäftigen und was er erstreben müsse, und bemüht sich ihn zu bilden. Indem er nämlich, glaube ich, mit dem Schönen in unmittelbare Berührung kommt, und vertrauten Umgang mit ihm hat, gebährt und erzeugt er dasjenige, wovon er längst befruchtet war, und während er abwesend und anwesend seiner gedenkt, zieht er gemeinschaftlich mit Jenem das Erzeugte auf, so dass sie eine weit innigere Gemeinschaft unter sich haben, als sie bei dem Kinderzeugen vorkommt, so wie auch eine dauerndere Freundschaft, da sie in dem gemeinschaftlichen Besitz schönerer und unsterblicherer Kinder sind. Auch würde es gewiss jedermann vorziehen, solche Kinder für sich zu bekommen, als menschliche, wenn er im Hinblick auf einen Horneros und Hesiodos und die übrigen trefflichen Dichter diese seelig preist, weil sie solche Sprösslinge von sich hinterlassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und bleibendes Andenken sichern, da sie ja selbst von dieser Beschaffenheit sind; oder wenn du willst, fuhr sie fort, solche Kinder, wie sie Lykurgos in Lakedaimon zurückgelassen hat, welche die Retter von Lakedaimon, ja so zu sagen, von ganz Hellas wurden. In hohen Ehren steht bei euch auch Solon, weil er den Gesetzen das Dasein gab, so wie viele andere Männer hier und da anderwärts, unter Hellenen sowohl als unter Barbaren, weil sie an der Spitze vieler und herrlicher Unternehmungen glänzten, und allerlei gute Werke stifteten, denen daher auch solcher Kinder wegen schon viele Tempel

233 errichtet worden sind, wegen menschlicher Nachkommen aber noch nie Einem. 28. In die bisher genannten Geheimnisse der Liebe kannst nun vielleicht auch du, o Sokrates, eingeweiht werden. Ob du indessen auch, wenn Jemand die höchsten210 und heiligsten, um derentwillen auch jene da sind, auf die rechte "Weise vortrüge, fähig dazu wärest, das weiss ich nicht. Dennoch will ich sie mittheilen, sprach sie, und es durchaus nicht an Bereitwilligkeit dazu fehlen lassen. Versuche es aber mir zu folgen, wenn du im Stande bist. Es muss nämlich, bemerkte sie weiter, derjenige, welcher auf die rechte Weise in diese Sache eingehen will, schon in der Jugend damit anfangen, sich auf schöne Leibesgestalten einzulassen, und fiir's Erste, wenn anders der Führer richtig leitet, selbst nur einen solchen Leib lieben, und in demselben schöne Reden erzeugen; alsdann aber zu der Einsicht gelangen, dass die Schönheit an jeglichem Leibe mit der an jedem andern Leibe nahe verwandt ist, und dass es, wenn man dem Schönen an der Gestalt nachstreben soll, eine gewaltige Thorheit sei, die in allen Leibern vorkommende Schönheit nicht fiir eine und dieselbe zu halten; wenn er aber dieses erkannt hat, muss er als Liebhaber aller schönen Leibesgestalten dastehn, und von der heftigen Leidenschaft zu einer einzigen nachlassen, indem er diess verachtet und fiir ganz unbedeutend hält. Dem zunächst muss er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher erachten, als die in dem Leibe, so dass es denn auch, wenn Jemand von Seiten der Seele Anerkennung verdient, und er auch nur ein wenig von jener Blüthe zeigt, schon genug für ihn ist, und dass er ihn liebt, und sich um ihn kümmert, und solche Reden zu Tage fordert, und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen; damit er ferner in die Nothwendigkeit versetzt werde, auch in den Bestrebungen und Einrichtungen das Schöne anzuschauen, und zu der Erkenntniss zu kommen, dass es in

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allen Beziehungen mit sich verwandt ist» um so die Schönheit von Seiten des Leibes für etwas ganz Unbedeutendes zu halten. Nach diesen Bestrebungen aber muss man ihn auf die Wissenschaften hinleiten, damit er auch die Schönheit der Wissenschaften sehe, und nicht mehr, indem er bereits auf das Schöne in seiner Fülle hinblickt, wie ein Sklave, der von der Schönheit eines Knäbleins oder irgend eines Menschen oder einer einzelnen Bestrebung eingenommen ist, der Schönheit eines Einzelnen fröhne, und so als schlecht und kleindenkend erscheine, sondern hingewendet nach dem unendlichen Meere des Schönen und dasselbe schauend, viele schöne und grossartige Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er in diesem Fall gestärkt und gekräftigt eine einzige solche Wissenschaft erblickt, welche sich auf etwas Schönes der Art bezieht. Jetzt aber, sprach sie, suche so viel als irgend möglich auf mich Acht zu geben. 29. Wer nämlich bis zu diesem Punkt Anleitung in den Liebessachen erhalten hat, und das Schöne der Ordnung nach überschaut, der wird, indem er bereits der Vollendung der Liebessachen entgegengeht, plötzlich etwas seiner Natur nach wunderbar Schönes erblicken, eben jenes nämlich, o Sokrates, um dessenwillen gerade auch alle die früheren Anstrengungen statt fanden, welches fiir's Erste 211 unwandelbar ist, und weder entsteht, noch vergeht, weder zunimmt, noch schwindet; sodann auch nicht in einem Betracht schön, in dem andern hässlich ist, noch zu einer Zeit schön, zu einer andern nicht, noch auch im Vergleich zu diesem schön, zu jenem aber hässlich, noch auch hier schön, dort aber hässlich, weil es fiir die Einen schön, fiir die Andern hässlich ist. Ferner wird ihm auch das Schöne nicht erscheinen wie etwa ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas Anderes, was an dem Leibe vorkommt, noch wie irgend eine Rede oder irgend eine Wissenschaft, noch als irgendwo an etwas Anderem befindlich, zum Beispiel

235 an einem lebenden Wesen, oder auf der Erde oder am Himmel, oder an einem andern Gegenstande, sondern an und für sich und in sich selber immerdar in einerlei Gestalt bestehend, an welchem ailes andere Schöne etwa nur in der Weise Antheil hat, dass wenn zum Beispiel dieses Andere entsteht oder vergeht, jenes in keinem Fall weder einen Zuwachs erhält, hoch eine Verringerung erleidet, noch sonst etwas der Art ausgesetzt ist. Wenn demnach Einer von diesem Standpunkte aus durch die wahre Knabenliebe emporsteigend jenes Schöne zu erblicken anfangt, so steht er beinahe an der Gränze der Vollendung. Dieses ist nämlich die rechte Weise auf Liebessachen einzugehn, oder von einem Andern dazu angeleitet zu werden, dass man von diesem einzelnen Schönen beginnend um jenes einen Schönen willen immer weiter aufwärts gehe, gleichsam von Stufe zu Stufe höher, von Emern zu zweien, und von zweien zu allen schönen Leibesgestalten, und von den schönen Leibesgestalten zu den schönen Bestrebungen, und von den schönen Bestrebungen zu den schönen Kenntnissen, bis man von einer Kenntniss zur andern endlich zu jener Kenntniss gelangt, welche die Kenntniss von nichts Anderem, als von eben jenem Schönen selber ist, und endlich die Idee des Schönen selber erfasst. Erst auf diesem Standpunkte des Lebens, o lieber Sokrates, sprach die Mantineische Fremde, hat, wenn irgend sonst wo, der Mensch Genuss am Leben, wenn er das Schöne selbst schaut. Wenn du dieses jemals erblickst, so wirst du es nicht mit Goldsachen und Schmuckgewanden oder schönen Knaben und Jünglingen vergleichen mögen, bei deren Anblick du jetzt in Entzücken geräähst, und bereit bist, du sowohl als viele Andere, bei dem Anschauen des Lieblings und steten Zusammensein mit demselben, wenn es irgendwie möglich wäre, weder zu essen noch zu trinken, sondern ihn nur anzuschauen und mit ihm zusammen zu sein. Was aber, fuhr sie fort, sollen wir erst glauben, wenn J e -

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mand Gelegenheit hätte, das Schöne an sich ganz rein, lauter und unvermischt zu erblicken, durchaus unentstellt von menschlichem Fleisch, Farben und vielem andern sterblichen Flitterwerk, sondern das göttlich Schöne an sich in seiner einfachen Gestalt zu erblicken ? Glaubst du denn etwa, dass das Leben eines Menschen ein elendes sei, der 212 seinen Blick dorthin richtet, und jenes so anschaut, wie es der Fall sein muss, und mit demselben vereinigt ist ? Oder beherzigst du es nicht, dass es ihm dort allein zu Theil werden kann, wo er das Schöne schaut, wie man es schauen muss, nicht Scheinbilder der Tugend zu erzeugen, in so fern er kein Scheinbild umarmt, sondern Wahres, indem er das Wahre umfasst und dass der, welcher wahre Tugend erzeugt und zur Entwickelung bringt, den Vortheil davon hat, ein Liebling der Götter, und wenn irgend ein anderer Mensch, unsterblich zu werden. Dieses nun, o Phaidros und ihrUebrigen, sprach Diotima; und ich bin dadurch überzeugt worden. So wie ich aber überzeugt bin, so versuche ich's, auch Andere davon zu überzeugen, dass man zur Erlangung dieses Gutes für die menschliche Natur nicht leicht einen besseren Mitwirker bekommen könne, als den Eros. Daher behaupte ich denn für meine Person, dass Jedermann den Eros ehren müsse: ja ich ehre nicht nur das, was sich auf die Liebe bezieht, und übe es ganz vorzugsweise, sondern ich fordere auch Andere dazu auf, und verherrliche jetzt und immerdar die Macht und den männlichen Muth des Eros, so viel in meinen Kräften steht. Von diesem Vortrage nun, o Phaidros, nimm, wenn du willst, an, dass er als eine Lobrede auf den Eros gesprochen worden sei, wenn aber nicht, so benenne ihn so, wie und wonach es dir genehm ist, ihn zu benennen. 30. Nachdem dieses Sokrates gesprochen, hätten ihn die Andern gelobt, Aristophanes aber wäre im Begriff gewesen, eine Bemerkung zu machen, weil Sokrates in dem

237 Vortrage seiner Erwähnung gethan hatte in Bezug auf die Rede. Da hätte plötzlich die Thüre nach dem Vorhofe, an welcher gepocht worden war, ein starkes Geräusch verursacht , wie von Nachtschwärmern; auch hätte man die Töne einer Flötenspielerin gehört. Daher habe Agathon gesagt: seht doch einmal nach, ihr Leute ! Im Falle es einer von unseren Angehörigen ist, ruft ihn herein; wenn aber nicht, so sagt doch, dass wir nicht mehr trinken, sondern bereits ausruhen. Gar nicht lange darauf habe man im Vorhofe die Stimme des Alkibiades gehört, der tüchtig berauscht war, und unter lautem Geschrei nachfragte, wo Agathon sei, und darauf bestand, man solle ihn doch zu Agathon bringen. Man hätte ihn nun zu ihnen gebracht, während ihn die Flötenspielerin, so wie einige andere von seinen Begleitern unter den Armen hielten; da sei er nun an der Thüre stehen geblieben, bekränzt mit einem dicken Kranze aus Epheu und Veilchen, und mit einer grossen Menge Bänder auf dem Kopfe, und habe gesagt : seid gegrüsst, ihr Männer! Werdet ihr wohl einen tüchtig berauschten Mann als Trinkgenossen aufnehmen? Oder sollen wir wieder fortgehen, nachdem wir nur den Agathon bekränzt haben, weshalb wir gekommen sind? Denn gestern, habe er weiter bemerkt, war es mir durchaus nicht möglich, zu erscheinen, nun aber bin ich d a , mit Bändern auf dem Haupte, um von meinem Haupte das Haupt des Weisesten und Schönsten damit zu umwinden. Werdet ihr mich wohl wie einen Trunkenen auslachen, wenn ich so rede? Ich aber, und wenn ihr auch lacht, weiss dennoch ganz gut, 2s dass ich recht habe. Sagt mir aber nur auf der Stelle, soll ich unter dieser ausdrücklichen Bedingung hereinkommen oder nicht? Trinkt ihr mit oder nicht? Daraufhätten Alle durcheinander gelärmt und darauf bestanden, er solle eintreten und sich niederlassen; auch Agathon habe ihn eingeladen. Nun sei derselbe eingetreten, gefuhrt von den Leuten, und habe zugleich die Bänder abgenommen, um

238 den Agathon zu umwinden, den Sokrates aber, wiewohl er ihn gerade vor den Angen hatte, gar nicht bemerkt, sondern sich neben den Agathon niedergesetzt, in der Mitte zwischen Sokrates und jenem, denn Sokrates sei auf die Seite gerückt, damit sich jener setzen konnte. Nachdem er sich nun niedergesetzt, habe er den Agathon beglückwünscht und bekränzt. — Darauf habe Agathon gesagt, ihr Leuten bindet doch dem Alkibiades die Sohlen ab, damit er sich zu uns beiden herlegen kann. — Ganz recht, habe Alkibiades gesagt, aber wer ist hier unser dritter Trinkgenosse? Dabei habe er sich zugleich umgewendet und ihn den Sokrates erblickt; sobald er aber seiner ansichtig geworden, sei er aufgesprungen und habe gesagt : O Herakles, was hat denn das zu bedeuten ? Also du, o Sokrates, liegst hier schon wieder auf der Lauer gegen mich, wie du gewöhnlich ganz unerwartet zum Vorschein kommst, wo ich deine Anwesenheit am wenigsten vermuthet hätte. Wie bist du nun auch da, und warum hast du dich auch gerade hierher gelegt? Ja, nicht neben den Aristophanes, oder wer sonst allenfalls ein Spassvogel ist und dafür gelten will, — sondern du hast es wieder so einzufädeln gewusst, dass du neben dem Schönsten im Zimmer zu liegen kommst. — Darauf habe Sokrates gesagt, o Agathon, sieh zu, ob du mir beistehen kannst, da die Liebe zu diesem Menschen für mich kein kleines Leiden ist. Denn von jener Zeit an, seit welcher ich mich in diesen verliebte, darf ich mir's nicht mehr beigehn lassen, weder irgend einen Schönen anzusehn, noch mich mit ihm zu unterreden, oder der treibt dann aus Eifersucht und Neid das wunderlichste Zeug und schilt mich aus, kaum dass er nicht Hand an mich legt. Sieh daher zu, dass er auch jetzt nichts anstellt, sondern bringe uns auseinander, oder wenn er sich Gewalt zu brauchen untersteht, so stehe mir bei, denn vor der Tollheit und dem verliebten Wesen dieses Menschen habe ich alle Aengste. — Nein, habe darauf Alkibiades gesagt,

239 zwischen mir nnd dir ist an keine Ausgleichung zu denken, sondern dafür werde ich dir ein andermal was abgeben ; jetzt aber, habe er weher gesagt, gieb mir, Agathon, von den Bändern h e r , damit ich auch diesem sein wunderbares Haupt umwinde, und er mir keine Vorwürfe mache, das8 ich zwar dich bekränzt, ihn aber, der doch alle Menschen im Reden überbietet, nicht HUT neulich erst, wie du, sondern jederzeit, gleichwohl nicht bekränzt habe. Zugleich habe er von den Bändern genommen, den Sokrates damit umwunden, und sich niedergelegt. 31. Nachdem er sich aber niedergelegt, habe er sich weiter vernehmen lassen: zur Sache also, ihr Männer! Ihr kommt mir indessen ganz nüchtern vor. Das darf euch aber nicht so hingehn, sondern trinken müsst ihr. Das ist ja auch so unter uns ausgemacht worden. Zum Oberhaupt nun beim Trinken wähle ich, bis ihr genug getrunken habt, mich selber. Agathon aber soll einen tüchtigen Pokal herbringen lassen, wenn eitl solcher vorhanden ist. Doch ist das gar nicht einmal nöthig; geh vielmehr, Junge, habe er gfesagt, und bringe jenen Kühlhumpen her, von dem er214 sah, dass er mehr als acht Kännehen fasste. Diesen habe er füllen lassen und zuerst selber ausgetrunken, ihn dann für den Sokrates einzuschenken befohlen, und zugleich erklärt, gegen den Sokrates, ihr Männer, hilft mir der Pfiff gar nicht». Denn wie viel einer nur haben will , so viel trinkt er aus, und wird dennoch gewiss nicht berauscht Sokrates habe nun, als ihm der Junge eingeschenkt, getrunken; Eryximachos aber die Frage aufgeworfen, wie treiben wir's denn nun, o Alkibiades? Etwa so, dass wir weder etwas reden noch singen zu dem Becher, sondern recht eigentlich wie durstige Leute draufisu trinken? — Drauf habe Alkibiades erwiedert, 0 Eryximachos, bester Sohn des besten und verständigsten Vaters, Heil dir ! — Ja auch dir, habe Eryximachos gesagt, aber was wollen

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wir treiben ? — Ganz so, wie du es haben willst, dir muss man ja folgen. Denn ein heilender Mann ist werth gleich vielen zu achten. Ordne also an, was du willst. — So höre denn, habe Eryximachos gesagt Wir hatten, bevor du eintratst, beschlossen, es solle ein Jeder rechts herum der Reihe nach eine ßede, so schön als er nur könnte, über den Eros halten, und ihn verherrlichen. Wir übrigen alle nun haben dieselbe gehalten. Da du aber keine gehalten, doch aber ausgetrunken hast, so kommt es dir von Rechtswegen zu, zu sprechen, und wenn du gesprochen hast, dem Sokrates etwas aufzugeben, was du willst, und dieser seinem Nebenmann rechts und so weiter die Andern. — Ja du hast ganz recht, o Eryximachos, habe Alkibiades gesagt, dass aber ein berauschter Mann seine Reden denen der Nüchternen vergleichend gegenüberstelle, das dürfte schwerlich ganz in der Ordnung sein. Und weiter noch, o Glückseliger, glaubst du denn etwas von dem, was Sokrates so eben erst sprach ? Oder weisst du, dass ganz das Gegentheil von dem der Fall ist, was er sagte ? Denn der wird sich gewiss, wenn ich Jemanden in seinem Beisein lobe, entweder einen Gott oder einen andern Menschen, als ihn selber, nicht halten können, Hand an mich zu legen. — Du wirst dich doch nicht mit Worten vergessen ? habe Sokrates gesagt. — Beim Poseidon, habe Alkibiades erwiedert, mache mir nur keine Einwendungen, da ich in deinem Beisein auch nicht einen einzigen Andern loben möchte. — Ja mache es nur so, habe Eryximachos gesagt, wenn du willst; lobe den Sokrates. — Wie meinst du das? habe Alkibiades erwiedert; hältst du es für nöthig, dass ich über den Mann herfalle und ihn vor euren Augen abstrafe ? — Hör* einmal du, habe Sokrates gesagt, was hast du im Sinn? Willst du mich loben, dass ich zum Gelächter werde? oder was gedenkst du zu thun? — Die Wahrheit will ich reden. Bedenke indessen, ob du es gestatten willst. — Ja wohl, habe

241 er erwiedert, ich gestatte die Wahrheit und befehle dir sogar an, sie zu reden. — Unverzüglich gehe ich daran, habe Alkibiades erwiedert. Du aber mach' es nur so. W e n n ich indessen nicht ganz bei der Wahrheit bleibe, so widerlege mich, wenn du willst, mitten in der Rede, und sage es heraus, dass ich daran lüge. Denn mit meinem Willen werde ich niemals lügen. Wenn ich jedoch, wieais ich mich gerade daran erinnere, bald dieses bald jenes vorbringe, so lasse dich das nicht wundern, denn es ist gar nichts Leichtes für einen Menschen in einem solchen Zustande deine Sonderbarkeiten geläufig und der Reihe nach herzuzählen. 32. Ich will also den Sokrates, ihr Miinner, in folgender Weise zu loben versuchen, und zwar in Bildern. Er wird nun allerdings, vielleicht glauben, es sei dabei auf Spott abgesehen. Das Bild soll aber Wahrheit, und nicht Spott zum Zweck haben. Ich behaupte nämlich, dass er die grösste Aehnlichkeit habe mit den bekannten, in den Werkstätten der Bildhauer aufgestellten Silenen, welche die Künstler mit Hirtenpfeifen und Flöten darstellen, die, wenn man sie nach beiden Seiten öffnet, inwendig offenbar Bildsäulen der Götter enthalten. Ebenso behaupte ich auch, dass er dem Satyr Marsyas sprechend ähnlich sei. Dass du nun diesen zum wenigsten der Gestalt nach ähnlich bist, o Sokrates, wirst du gewiss selber nicht bestreiten mögen; wie du ihnen aber auch in anderer Beziehung gleichst, das höre nun weiter. Ein rechter Spötter bist du, oder nicht ? Im Falle du das nicht zugestehst, will ich Zeugen beibringen. Aber doch kein Flötenspieler? Ein noch weit bewundernswürdiger als jener. Denn er bezauberte mittelst eines Instruments die Menschen durch die Gewalt seines Mundes, und so auch jetzt noch wer seine Stücke auf der Flöte bläst. Denn was Olympos auf der Flöte leistete, halte ich für des Marsyas Verdienst, der es ihn lehrte. Seine Stücke nun, mag sie ein guter Flötenspieler 16

242 vortragen, oder eine schlechte Flötenspielerin, sind ungemein ergreifend, und offenbaren diejenigen, welche der Götter und ihrer Weihungen bedürfen, weil sie eben göttlich sind. Du aber zeichnest dich nur dadurch so sehr vor ihm aus, dass du ohne Instrument mit blossen Worten ganz dasselbe zu Stande bringst. Wir zum wenigsten, wenn wir O D ' einen andern noch so guten Redner andere Reden halten hören, machen uns alle so zu sagen fast gar nichts daraus. Wenn dagegen Jemand dich hört, oder deine Reden, während sie ein Anderer vorträgt, auch wenn der Vortragende noch so unbeholfen ist, so sind wir, mag sie nun eine Frau, oder ein Mann oder ein Knabe hören, ganz davon entzückt und hingerissen. Ich zum wenigsten, ihr Männer, wenn ich euch nicht gar zu berauscht vorkommen sollte, könnte euch mit einem Eide versichern, welchen starken Eindruck die Reden dieses Menschen auf mich gemacht haben, und auch jetzt noch auf mich machen. Denn so bald ich ihn höre, pocht mir das Herz weit stärker, als den von korybantischer Begeisterung Hingerissenen, und Thränen errtstürzen mir in Folge seiner Reden. Ich sehe aber, dass auch noch gar viele Andere ganz denselben Eindruck davon haben. Wenn ich dagegen den Perikles und andere treffliche Redner hörte, so dachte ich allerdings, dass sie gut sprächen, hatte aber keinen solchen Eindruck davon; weder war meine Seele in Verwirrung gerathen, noch fühlte sie Unwillen darüber, dass ich mich in einem so sklavenmässigen Zustande befände. Aber von diesem Marsyas da bin ich schon oftmals in eine solche Gemüthsstimaiemung versetzt worden, dass das Leben keinen Reiz mehr für mich zu haben schien, wenn ich so bliebe, wie ich wäre. Auch wirst du nicht davon sagen können, o Sokrates, dass es nicht wahr sei. Zudem bin ich mir sogar jetzt noch bewusst, dass ich es, wenn ich mich dazu entschliessen könnte, meine Ohren dazu herzugeben, schwerlich aushalten, sondern ganz denselben Eindruck davon haben würde.

243 Denn er nöthigt mir das Geständniss ab, dass ich mich, wiewohl mir noch gar Vieles abgeht, selber vernachlässige, und dagegen die Angelegenheiten der Athenäer besorge. Mit wahrem Widerstreben also, wie vor den Sirenen die Ohren zuhaltend, fliehe ich eilends davon, damit ich nicht daselbst sitzen bleibe, und neben ihm zum alten Manne werde. Bei diesem allein unter allen Menschen habe ich es auch fühlen müssen, was nicht leicht Jemand bei mir finden zu dürfen glauben sollte, dass ich mich nämlich vor irgend einem schämen könnte. Vor diesem allein aber schäme ich mich. Ich bin mir nämlich gar wohl bewusst, dass ich ihm nicht widersprechen kann, als ob ich das, waa er mich heisst, nicht thun müsste; dass ich aber, sobald ich von ihm weggegangen bin, von den Ehrenbezeugungen der Leute überwältigt werde. Darum laufe ich ihm davon und weiche ihm aus, wenn, ich ihn sehe, und schäme mich meiner Geständnisse; ja gar oft würde ich es nur gern sehen, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu wissen. Wenn übrigens der Fall eintreten sollte, so weiss ich gar gut, dass dieses ein noch weit grösseres Herzeleid für mich sein würde, so dass ich gar nicht einsehe, was ich mit diesem Menschen anfangen soll. 33. Einen solchen Eindruck hat nun sowohl auf mich, als auf viele Andere das Flötenspiel dieses Satyrs gemacht. Höret mir aber nur noch weiter zu, wie ähnlich er denen ist, mit welchen ich ihn verglichen habe, und wie wunderbar der mächtige Einfluss, den er ausübt. Denn dessen seid nur versichert, dass keiner von euch diesen kennt. Ich will euch aber eine deutliche Schilderung von ihm entwerfen, da ich nun einmal angefangen habe. Ihr seht j a doch, dass Sokrates in die Schönen verliebt ist, und fortwährend um sie und von ihnen entzückt ist; und andererseits, dass er ungeschickt in Allem ist und nichts weiss, wie schon sein Aeusseres lehrt. Ist nun das nicht silenenartig? Gewiss in hohem Giade. Er hat dieses nämlich nur 16*

244 so äusserlich um sich geworfen, wie ein geschnitzter Silenos; inwendig aber, wenn man ihn öffnet, welche Fülle von Weisheit und Besonnenheit, ihr Trinkgenosson, denkt ihr euch da bei ihm ? Wisset, dass er sich gar nicht darum kümmert, ob einer schön ist, sondern das achtet er so gering, als es kaum Jemand glauben sollte, noch auch, ob einer reich ist, oder sonst einen andern von den Leuten gepriesenen Vorzug besitzt. E r hält vielmehr alle diese Dinge für ganz werthlos, und uns selbst für nichts, und bringt unter Hohn und Spott gegen die Menschen sein ganzes Leben hin. Ob aber, wenn es ihm Ernst galt, und er sich aufthat, Jemand die in seinem Innern befindlic hen Götterbilder Ogesehen hat,' das weiss ich nicht. Ich aber

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habe sie schon einmal gesehen, und sie kamen mir so göttlich und golden, und so überaus schön und bewundernswürdig vor, dass ich das unverzüglich thun zu müssen glaubte, wozu mich Sokrates aufforderte. D a ich nun aber dachte, dass es ihm Ernst um meine Jugendschönheit gelte, so hielt ich das für einen unverhofften Gewinn und ein wunderbar glückliches Ereigniss für mich, da es nun ganz bei mir stand, von Sokrates, wenn ich mich ihm gefällig erwiese, Alles zu hören, was er wüsste. Ich bildete mir nämlich Wunder wie viel auf meine Jugendreize ein- • U n ter diesen Gedanken schickte ich, da ich frülierhin nicht gewohnt war, ohne Begleiter allein, mit ihm zu sein, meinen Begleiter dann fort, und blieb allein mit ihm zusammen. Zu euch muss ich j a durchaus die Wahrheit reden. Gebt aber auch recht A c h t , und wenn ich lüge, Sokrates, so überführe mich. Wir waren also, ihr Männer, beide ganz allein miteinander zusammen, und ich dachte, er würde "sogleich eine Unterredung mit mir anknüpfen, wie sich etwa ein Liebhaber mit seinem Liebling in der Einsamkeit unterhält, und freute mich schon darauf. Daraus aber wurde ganz, und gar nichts, sondern gerade so, wie er es gewohnt war, unterhielt er sich mit m i r , brachte den T a g bei

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mir zu, und ging fort. Nach diesem forderte ich ihn auf, Leibesübungen mit mir vorzunehmen, und stellte sie mit ihm an, als könnte ich dadurch etwas erzielen. E r nahm nun Leibesübungen mit mir vor, und rang öfters mit mir, ohne dass Jemand -zugegen war. Doch wozu so viel Redens ? Ich hatte j a doch keinen Erfolg davon. D a ich nun. auch gar nichts auf diesem Wege ausrichtete, so hielt ich es für angemessen, dem Manne recht tüchtig zuzusetzen, und gar nicht nachzulassen, weil ich es j a doch einmal ano-efangen hatte,' sondern endlich einmal zu ero o fahren, wie es um die Sache stände. Ich lade ihn daher zur Mahlzeit ein, und stellte ihm so recht eigentlich nach, wie ein Liebhaber seinem Liebling. Auch nicht einmal darin gab er mir sogleich Gehör, doch liess er sich nun mit der Zeit dazu bereden. Als er zum erstenmal gekommen war, wollte er gleich nach der Mahlzeit weggehen , und damals Hess ich ihn ziehen, weil ich mich schämte. Als ich ihm aber ein andermal nachstellte, unterhielt ich mich, nachdem er seine Mahlzeit gehalten, bis tief in die Nacht mit ihm; und als er nun fortgehen wollte, nahm ich zum Vor\Vand, dass es schon spät sei, und nöthigte ihn zu bleiben. E r begab sich also zur Ruhe auf dem Lager, welches unmittelbar an das meinige stiess, auf welchem er auch gespeist hatte; auch schlief sonst Niemand in dem Zimmer, als wir Beide. Bis hierher hält sich nun die Sache noch in den Gränzen des Anstandes, und lässt sich sogar Jedermann erzählen; das weiter Folgende aber würdet ihr mich schwerlich erzählen hören, wenn nicht für's Erste, wie das Sprüchwort lehrt, der Wein ohne Kinder und mit denselben die Wahrheit spräche, und es mir dann auch ungerecht schiene, eine auffallend herrliche That des Sokrates zu verheimlichen, da ich einmal darauf eingegangen bin, ihn zu loben. Uebrigens geht es mir auch gerade so, wie einem von der Natter Gebissenen. Man sagt nämlich doch, dass Jemand, dem dies begegnet

246 ist, mit Niemanden davon sprechen möge, wie es war, als mit den Gebissenen, weil diese allein Einsicht und Nachsicht haben könnten, wenn er sich nicht scheute, vor Schmerz Alles zu thun und zu reden. Ich nun, der ich am Schmerzlicheren gebissen ward, und an dem für Schmerz empfindlichsten Theile, wo man nur gebissen werden kann, — denn am Herzen oder an der Seele, oder wie man es sonst nennen soll, ward ich verwundet und gebissen von den Reden der Philosophie, welche grimmiger einhacken als eine Natter, wenn sie sich einer jungen fiir's Gute nicht unempfänglichen Seele bemächtigt haben, und sie dazu bringen, alles Mögliche zu thun und zu reden; — und da ich zudem auch einen Phaidros, Agathon, Eryximachos, Pausanias, Aristodemos und Aristophanes vor mir habe; denn was brauche ich den Sokrates zu nennen, und wie sie alle heissen ? Ihr alle seid j a bereits gemeinschaftlich ergriffen von dieser philosophischen Wuth und Raserei. Darum sollt ihr es alle hören. Denn ihr werdet Nachsicht haben mit dem, was ich damals that, und mit dem, was ich eben erzähle. Ihr Diener aber, und wer vielleicht sonst noch ungeweiht und ungebildet ist, legt recht grosse Schlösser vor euere Ohren. 34. Nachdem denn nun, ihr Männer, das Licht ausgelöscht und die Diener hinausgegangen waren, glaubte ich durchaus keine Umschweife mehr mit ihm machen zu dürfen, sondern freimüthig heraussagen zu müssen, was ich dachte. D a stiess ich ihn denn an und sagte, Sokrates, schläfst du ? — Nicht doch, erwiederte er. — Weisst du wohl, was ich vorhabe ? — Was denn eigentlich ? sprach er. — Du dünkst mich, fuhr ich fort, der einzige Liebhaber zu sein, der meiner würdig ist, und scheinst Bedenken zu tragen, dich gegen mich auszusprechen. Ich meine nämlich also: ich halte es für ganz unvernünftig, wenn ich dir nicht auch darin zu Willen sein möchte, wie auch in anderer Beziehung, wenn du etwas von meinem Vermögen

247 oder von meinen Freunden bedürfen solltest. Für mich giebt es j a nichts Höheres, als das, so vorzüglich als möglich zu werden, und darin, glaube ich, giebt es keinen tüchtigeren Beistand, als du bist. Darum würde ich mich einem' solchen Manne nicht zu willfahren weit mehr vor den Verständigen schämen, als ihm zu Willen zu sein vor der Masse der Unverständigen. Als er dies gehört hatte, sagte er recht spöttisch und so ganz in seiner gewohnten W e i s e : Lieber Alkibiades, du scheinst mir in der That nicht einfältig zu sein, wenn anders das wahr ist, was du von mir sagst; und ist wirklich in mir eine Kraft, durch welche du besser werden könntest, wahrlich eine überschwengliche Schönheit würdest du dann in mir erblicken, die deiner Wohlgestalt gegenüber bei Weitem den Vorzug verdient. Wenn du nun diese entdeckend mit mir in Gemeinschaft zu treten, und Schönheit gegen Schönheit einzutauschen beabsichtigst, so gedenkst du mich nicht wenig zu übervortheilen, sondern'bemühst dich, statt des Scheines des Schönen das wahre Schöne zu erwerben, und denkst in der That, Gold für Kupfer einzutauschen. Aber, o 219 Glückseliger, überlege es besser, damit es dir nicht entgeht, dass du nichts an mir hast. Fängt j a doch des Geistes Auge erst, dann scharf zu sehen an, wenn das des Leibes bereits an seiner Schärfe zu verliefen beginnt. Davon indessen bist du noch weit entfernt. — Als ich das gehört hatte, sagte ich, in Bezug auf meine Person steht es so, und nichts davon ist anders gesprochen worden, als ich es denke. Du aber überlege es nun selber so, wie du es für dich und mich fiir's Beste erachtest. — Ja, sagte er, darin hast du ganz recht. In der Folgezeit wollen wir's noch weiter überlegen, und das zur Ausführung bringen, was uns Beiden sowohl in dieser, als in jeder andern Beziehung als das Beste erscheint. — Nachdem ich dieses angehört und mich darüber ausgesprochen, und meine Pfeile gleichsam abgeschossen hatte, dachte ich, er sei ver-

248 wundet. Ich stand daher auf, liess ihn gar nicht weiter mehr zum Wort kommen, warf ihm mein Kleid um, (denn es war Winter,) legte mich unter seinen Mantel hinein, umschlango mit beiden Armen diesen in Wahrheit göttlichen O und bewunderungswürdigen Mann, und blieb die ganze Nacht neben ihm liegen. Auch davon wirst du ebenfalls nicht sagen können, o Sokrates, dass ich lüge. Wiewohl ich nun dieses Alles gethan hatte, war er mir doch in hohem Grade überlegen, und verachtete und verlachte meine Jugendreize, und trieb seinen Spott damit, wiewohl ich glaubte dass dieselben etwas zu bedeuten hätten, ihr Richter, (Richter seid ihr nämlich über Sokrates ungemessenen Stolz.) Denn wisset es nur, bei den Göttern, bèi den Göttinnen, gar nichts weiter kam dabei heraus, dass ich bei dem Sokrates geschlafen hatte, sondern ich stand auf, wie wenn ich bei einem Vater oder älteren Bruder geruht hätte, 35. Wie denkt ihr nun aber, dass mir nachher zu Muthe gewesen, da ich mich an meiner Ehre gekränkt glaubte, und dennoch von den natürlichen Vorzügen, der Besonnenheit und Herzhaftigkeit des Mannes entzückt war, weil ich in ihm mit einem solchen Menschen in Berührung gekommen, wie ich ihn in Bezug auf Verstand und unerschütterliche Enthaltsamkeit, schwerlich jemals zu finden geglaubt hätte? Unmöglich konnte ich also weder auf ihn zürnen und mich seinem Umgange entziehen, noch war ich so glücklich, ihn auf irgend eine Art für mich zu gewinnen. Denn das wusste ich gar wohl, dass er durch Geldgeschenke noch viel weniger irgendwo zu verwunden sei, als Ajas durch Eisen ; und gerade dadurch, womit ich ihn allein fangen zu können gedacht hatte, war er wir entwischt. Ich wusste mir also gar nicht zu helfen, und völlig überwunden von dem Menschen, wie noch nie Einer von irgend einem Andern, ging ich umher. Dieses Alles nun war mir früherhin begegnet: in der Folge machten wir den Fel^zug

249 nach Potidaia zusammen mit, und waren dort Tischgenossen. Für's Erste war er nun in Ertragung von Beschwerden nicht allein uns überlegen, sondern auch allen Andern. Denn wenn wir irgend einmal wo abgeschnitten waren, und, wie es ja im Felde vorkommt, auf Speise verzichten220 mussten, so waren die Andern in Bezug auf Ausdauer gar nichts gegen ihn. Ging es dagegen wieder einmal vollauf her, so verstand er es allein zu gemessen, so unter Andern auch namentlich im Trinken, worin er es, ohne gerade Lust dazu zu haben, dennoch, wenn er dazu genöthigt wurde, Allen zuvorthat; und was das Wunderbarste von Allem ist, kein Mensch hat je den Sokrates betrunken gesehen. Hiervon sollt ihr nun auch, denke ich, alsbald den Beweis haben. Eben so auch in Ertragung der Beschwerden des Winters, (denn die Winter sind daselbst furchtbar,) verrichtete er Wunderdinge, unter Andern namentlich einmal, da eine ganz furchtbare Kälte herrschte, und alle Uebrigen entweder gar nicht von drinnen hinausgingen, oder wenn ja einer hinausging, Wunder wie viel Kleidungsstücke und die dicksten Schuhe anzog, und die Füsse noch in Filze und Schafpelze einwickelte; da ging dieser hinaus und hatte ganz dieselbe Kleidung an, die er auch sonst früher zu tragen gewohnt w a r , und wandelte unbeschuht leichter über das Eis hin, als die Andern in Schuhen. Die Kriegsleute aber sahen ihn scheel darum an, gerade so, als verachtete er sie. 36. Das wäre denn nun dieses. Doch wie erjenes vollbracht und bestand, der gewaltigeKrieger, dort einstens bei dem Heere, das lohnet sich zu hören. Nachsinnend nämlich über irgend etwas war er von Morgen an auf derselben Stelle stehen geblieben in Gedanken vertieft, und da es ihm nicht recht abgehen wollte, liess er nicht nach, sondern blieb nachforschend stehen. Und schon war es Mittag, als es die Leute gewahr wurden, und staunend Einer dem Andern erzählte,

260 dass Sokrates vom frühen Morgen an über etwas nachdenkend dastände. Endlich aber, da es Abend war, und die Leute gespeist hatten, trugen einige Jonier, denn damals war es Sommer, ihr Feldbettgeräthe hinaus, um Theils im Kühlen zu schlafen, Theils auch um ihn zu beobachten, ob er auch die Nacht über da stehen bleiben würde. Und er blieb wirklich stehen, bis es Morgen ward und die Sonne aufging. Dann ging er fort, nachdem er sein Gebet zu der Sonne verrichtet hatte. Wenn ihr ihn aber auch auf dem Schlachtfelde kennen lernen wollt, so lasst euch erzählen; denn auch darin muss man ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Als nämlich jene Schlacht vorfiel, in Folge deren mir die Heerführer den Preis zuerkannten, hat mich kein anderer Mensch gerettet, als dieser; denn da ich verwundet war, wollte er mich nicht im Stich lassen, sondern rettete sowohl meine Waffen, als mich selber. Auch bestand ich damals darauf, o Sokrates, dass dir die Heerführer den Preis ertheilen sollten, und dieses wirst du mir ebenfalls weder zum Vorwurf machen, noch sagen können, dass ich lüge. Da jedoch die Heerführer meinen vornehmen Stand in Rücksicht zogen, und mir den Preis ertheilen wollten, so wärst du noch eifriger darauf bedacht, als die Heerführer, dass ich ihn eher als du erhalten möchte. 22t Ferner, ihr Männer, war es auch der Mühe werth, den Sokrates zu beobachten, als sich das Heer von Delion auf der Flucht zurückzog. Ich war nämlich zu Pferde dabei, er aber als Fussgänger. E r zog sich erst zurück, als die Leute schon auseinandergesprengt waren, uud mit ihm Laches. Da komme ich dazu, und sogleich, nachdem ich sie erblickt hatte, rede ich ihnen zu gutes Muthes zu sein und erklärte, dass ich sie nicht im Stich lassen würde. Bei dieser Gelegenheit konnte ich *den Sokrates noch vortheilhafter beobachten, als bei Potidaia. Denn ich selbst war weniger in Furcht, weil ich mich zu Pferde befand: für's Erste, wie sehr er den Laches an Geistesgegenwart

251 übertraf; dann schien er mir, o Aristophanes, es sind das deine eigenen Worte, auch dort so auf und abzuschreiten, wie hier, einherstolzirend und die Augen stier seitwärts werfend, ruhig sich umschauend nach Freunden und Feinden. Auch konnte es ihm jeder selbst aus ziemlicher Entfernung ansehen, dass, wenn sich einer an diesem Manne vergreifen sollte, derselbe sich mit äusserster Kraft vertheidigen würde. Darum gingen sie auch ungefährdet davon, er sowohl als der Andere. Denn gewöhnlich werden nur die, welche sich so zu benehmen wissen, im Kriege gar nicht angegriffen, sondern man verfolgt nur die, welche unaufhaltsam die Flucht ergreifen. Nun giebt es freilich noch gar viel Anderes und Bewunderungswürdiges, womit man den Sokrates loben könnte. Aber in Bezug auf sein übriges Thun und Treiben könnte man dergleichen vielleicht auch noch von Andern anfuhren; das aber, dass er sonst keinem Menschen ähnlich ist, weder einem aus der Vorzeit, noch einem der jetzt Lebenden, dass verdient alle Bewunderung. Wie zum Beispiel Achilleus war, so könnte man sich wohl auch den Brasidas und Andere vorstellen, ferner wie Perikles, so den Nestor und Antenor, und so giebt es noch gar Manche. Eben so könnte man Andere in derselben Beziehung darstellen. Von welcher Art aber dieser Mensch in Ansehung seines sonderbaren Wesens ist, seine Person sowohl als seine Reden, so dürfte man nicht im Entferntesten einen Aehnlichen finden, selbst wenn man ihn suchte, weder unter den jetzt Lebenden noch unter den Alten, wenn ihn nicht etwa Jemand mit dem, was ich sage, vergliche, nämlich mit keinem Menschen, sondern mit den Silenen und Satyrn, seine Person und seine Reden. 37. Und nun habe ich doch gleich im Anfang noch das übergangen, dass auch seine Reden jenen Silenen, wenn sie geöffnet werden, in hohem Grade ähnlich sind» Wenn nämlich einer des Sokrates Reden mit anhören will, so werden sie ihm anfänglich äusserst lächerlich vorkommen,

252 in solche Ausdrücke und Gedanken hüllen sie sich von Aussen ein, wie in die Haut eines recht ausgelassenen Satyrs. Denn er spricht von Lasteseln , von Schmieden und Schustern und Gerbern, und scheint immer eins und dasselbe auf dieselbe Weise vorzubringen, so dass jeder unerfah222rene und unverständige Mensch über seine Reden lachen muss. Wenn sie aber Jemand erst geöffnet sieht, und in dieselben hineingedrungen ist, so wird er fiir's Erste finden, dass diese Reden vorzugsweise einen inneren Sinn haben, sodann, dass sie ganz göttlich sind, und die meisten Götterbilder der Tugend in sich enthalten, und auf das Meiste oder vielmehr auf Alles hingerichtet sind, was dem zu berücksichtigen zukommt, welcher gut und edel werden will. Das ist es, ihr Männer, was ich an Sokrates lobe. Indem ich andererseits auch das mit einmischte, was ich tadle, habe ich euch gesagt, worin er gegen mich gefrevelt hat. Das hat er indessen nicht allein bei mir so gemacht, sondern auch bei Charmides, des Glaukon, und bei dem Euthydemos, des Diokles Sohn, und noch gar vielen Andern, welche derselbe hintergeht, als wäre er ihr Liebhaber, sich aber eher als Liebling anstellt, denn als Liebhaber. Dieses sage ich denn auch dir, o Agathon, dass du dich nämlich nicht von ihm hintergehen lassest, sondern dich durch unsere unangenehmen Erfahrungen gewitzigt wohl zusammen nehmest, und nicht, wie das Sprichwort lautet, wie ein Thor, durch Schaden klug werdest. 38. Nachdem dieses Alkibiades gesprochen, sei ein Gelächter entstanden wegen seiner freimüthigen Rede, weil er noch immer in den Sokrates verliebt zu sein schien. Darauf habe Sokrates bemerkt: du kommst mir noch ganz nüchtern vor, Alkibiades, sonst hättest du gewiss nicht so schlau durch alle nur erdenkliche Verwickelungen das zu verbergen gesucht, weswegen du dieses alles gesagt, und dasselbe gerade so, als wäre es nur eine Nebensache, erst gegen das Ende hingestellt hast, als hättest du nicht Alles

253 lediglich deswegen vorgebracht, um mich und den Agathon zu entzweien, weil du meinst, ich dürfe nur dich lieben und sonst keinen Andern, Agathon aber nur von dir geliebt werden, und von keinem Einzigen sonst. Du hast indessen nicht heimlich genug gethan, im Gegentheil ist dein satyrisches und silenisches Schauspiel ganz deutlich verstanden worden. Es soll ihm aber, lieber Agathon, durchaus nichts nützen, setze dich aber nur in eine solche Verfassung, dass mich und dich Niemand entzweien kann. — Darauf habe nun Agathon geäussert, ja wohl, Sokrates, du scheinst ganz recht zu haben. Ich schliesse dieses schon daraus, weil er sich mitten zwischen mich und dich gelegt hat, um uns ganz von einander zu trennen. Es soll ihm deshalb gar nichts nützen, sondern ich will zu dir kommen und mich dort neben dir niederlassen. — J a wohl, habe Sokrates erwiedert, lasse dich hier unten an mir nieder. — O Zeus, habe Alkibiades ausgerufen, was macht mir dieser Mensch wieder all zu Schäften! E r glaubt mir überall überlegen sein zu müssen. Wenn es denn aber gar nicht anders geht, o Wunderbarer, so lasse doch wenigstens den Agathon sich mitten zwischen uns niederlegen. Das ist aber unmöglich, habe Sokrates erwiedert, denn du hast mich gelobt, ich aber muss nun weiter den nach der rechten Seite zu loben. Wenn nun Agathon unten an dir liegt, so wird er doch nicht noch einmal mich loben sollen, bevor er vielmehr erst von mir gelobt worden ist. Doch lass es gut sein, o Unvergleichlicher, und beneide den Jung- 223 ling nicht, wenn er von mir gelobt wird, denn ich habe ein wahres Verlangen, ihn zu preisen. — Köstlich, köstlich, 0 Alkibiades, habe Agathon gesagt, nun kann ich unmöglich hier bleiben, sondern muss vor allen Dingen den Platz wechseln, damit ich von Sokrates gelobt werde. — Das sind ja eben, habe Aristophanes bemerkt, die gewohnten Dinge! Wenn Sokrates dabei ist, kann kein Anderer sich mit einem Schönen einlassen. Und auch jetzt wieder, wie

254 leicht hat er sogar einen überzeugenden Grand gefunden, dass gerade dieser neben ihm liegen muss. 39. Hierauf sei nun Agathon aufgestanden, um sich neben den Sokrates hinzulegen. Plötzlieh aber sei eine ganze Menge Nachtschwärmer an die Thüre gekommen, und da sie dieselbe offen gefunden, weil ihnen Jemand hinaus entgegen gegangen war, wären sie zu ihnen hineingedrungen und hätten sich niedergelassen. Allgemein habe sich nun ein lauter Lärm verbreitet, und ganz gegen alle Ordnung sei man genöthigt worden, eine ganze Masse Wein zu trinken. Daher wären Eryximachos, Phaidros und einige Andere, wie Aristodemos sagte, fortgegangen, seiner aber habe sich der Schlaf bemächtigt, und er habe sehr lange fortgeschlafen, weil die Nächte damals gar lang waren. Aufgewacht sei er mit Tages Anbruch, als die Hähne schon krähten; nach seinem Erwachen aber habe er gesehen, dass die Andern Theils schliefen, Theils fortgegangen waren, Agathon, Aristophanes und Sokrates wären allein noch wach gewesen, und hätten rechtsherum aus einem grossen Becher getrunken. Mit diesen nun habe sich Sokrates unterhalten. An den Inhalt der Reden, sagte Aristodemos, erinnere er sich nicht weiter, denn er sei nicht von Anfang an zugegen gewesen, und habe ein wenig genickt. Die Hauptsache indessen, sagte er, wäre die gewesen, dass sie Sokrates zu dem Eingeständnisse habe zwingen wollen, es sei die Sache eines und desselben Mannes, dass er es verstehe, Komödien und Tragödien zu dichten, und ein Tragödiendichter im Sinne der Kunst sei auch ein Komödiendichter. Dazu nun wären sie gezwungen worden, hätten aber gar nicht recht folgen können, und wären eingenickt. Zuerst sei Aristophanes eingeschlummert, und als bereits der T a g kam, aach Agathon. Hierauf sei nun Sokrates, nachdem er jene in Schlaf gebracht, aufgestanden und fortgegangen;

255 und er selbst, wie er gewohnt war, ihm gefolgt. Nachdem er im Lykeion angekommen, habe er sich durch ein Bad gereinigt, und wie auch sonst den ganzen Tag daselbst aufgehalten, und nach diesem Aufenthalte erst gegen Abend daheim sich zur Ruhe begeben.

D r u c k dor L i c h t e n b e r g e r ' s c h e n B u c h d r u c k e r e i (W. in G i e s a e n .

Keller)

Piatons sämmtliche Werke.

Zweiter Band.

Piatons sämmtliche

W e r k e

übersetzt

von

Dr. Gottlieb Friedrich Drescher.

Z w e i t e r Band. Gorgias.

Protagoras.

G i e f s e n. J.

Bicker'sche

Buchhandlung.

1 8 5 4.

Vorrede. Nach einer langen Unterbrechung übergebe ich hier dem gelehrten Publicum den zweiten Band meiner Uebersetzung des Piaton. Obgleich ich in der Vorrede zu dem ersten Bande deutlich ausgesprochen habe, dass ich mich mit dem Erscheinen der folgenden Bände an keine bestimmte Zeit binden würde, so ist doch gerade die diessmalige Verspätung zu auffallend, als dass ich mir nicht einige Bemerkungen deshalb erlauben dürfte. Ausser andern "Verhältnissen, von denen ich abhängig war, und welche oft und vielfach störend und hemmend auf meine Bestrebungen eingewirkt haben, lag ein Hauptgrund der Verzögerung in der unruhigen und vielbewegten Zeit, die weder geeignet noch geneigt war, wissenschaftlichen Leistungen, namentlich solchen, die auf das classische Alterthum zurückführten, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

VI

Da dieses die eignen Worte eines meiner geehrten Recensenten sind, so kann ich sein Urtheil um so mehr als selbstredenden Grund für mich anführen. Ein anderes gar nicht unerhebliches Bedenken war für mich auch der Umstand, ob es neben den viel rascher vorschreitenden Arbeiten Anderer auf demselben Gebiete rathsam sein dürfte, meine Uebersetzung noch weiter fortzuführen, und ob ich überhaupt neben gleichzeitiger doppelter und dreifacher Concurrenz noch etwas Erspriessliches zu leisten im Stande sein würde. Die mir im Laufe der letzten Jahre bekannt gewordenen ßeurtheilungen des ersten Bandes in öffentlichen gelehrten' Blättern waren indessen zu günstig und zu aufmunternd, als dass sie mich nicht zur Fortsetzung eines Unternehmens hätten anspornen sollen, auf das ich bisher so viel Zeit und Mühe verwendet hatte, und das mir, je länger ich mich damit beschäftige, immer lieber und theurer wird. Die Grundsätze, nach denen ich arbeitete, habe ich ausführlich in der Vorrede zu dem ersten Bande entwickelt. Ich habe dieselben in dieser Fortsetzung unabänderlich treu beibehalten, und konnte das um so mehr, da sie den Beifall sachkundiger Männer erhalten haben. Vor allen Dingen habe ich grössere Gleichmässigkeit zu erstreben gesucht, als dieses bei einigen meiner Vorgänger der Fall gewesen sein dürfte, und wie auf das Ganze, so

vn auch auf das Einzelne den möglichsten Fleiss verwendet. Hätte mich diese Rücksicht, die bei dem weiteren Fortschreiten des Werkes immer bestimmender für mich wurde, nicht beständig geleitet, und mitunter wahrhaft ängstlich gemacht, so hätte dieser Band schon vor zwei Jahren ausgegeben werden können. Der P r o t a g o r a s war schon vor vier, der G o r g i a s vor zwei Jahren fertig, wurden aber nach zwei unabhängig von einander gefertigten Uebersetzungen einer wiederholten Durchsicht unterworfen. — Ueberhaupt ist Piatons Text für den Uebersetzer in vielen Stellen wie der Boden des Tuscischen Landgutes des Plinius. Es ist im wahren Sinne des Worts ein tenacissimum solum, quod, quum primum prosecatur, tantis glebis adsurgit, ut nono demum sulco perdometur. So habe ich wenigstens mein Feld zu bearbeiten imd das mir Mögliche nach besten Kräften zu leisten gesucht; denn leider kann ja bei einer so umfangreichen Arbeit von der bekannten goldnen Regel des Horatius : nonum prematur in annuin, die ich so gerne befolgt hätte, im Einzelnen keine Rede sein. Wenn sich meine anspruchslosen Bestrebungen auch in dieser Fortsetzung des Beifalls gerechter Richter zu erfreuen haben sollten, und wenn vor Allem die Grundbedingungen nicht wegfallen, deren

vm Erfüllung unerforscht und unerforschlicli in einer höheren Hand liegt, so werden die den dritten Band bildenden Bücher von dem Staate ohne längere Unterbrechung erscheinen können. G i e s s e n im September 1854.

Dr. G. F . Drescher.

G o r g i a s.

P e r s o n e n des D i a l o g s :

KallUiles. Sokrates. Chairephon. Aorgiaa. Polos.

1. K al Ii kl es. A n Krieg und Schlacht, heisst es, o Sokrates, müsse man sich erst spät betheiligen. S o k r a t e s . W i r sind also wohl, wie das Sprüchwort lautet, nach dem Feste gekommen, und haben uns verspätet ? K a i Ii kl es. Und zwar nach einem überaus ergötzlichen Feste. Denn viel Schönes hat uns Gorgias ganz vor Kurzem erst zum Besten gegeben. S o k r a t e s . Daran, o Kallikles, ist nun freilich Chairephon da S c h u l d , der uns nöthigte, auf dem Markte zu verweilen. C h a i r e p h o n . Das hat gar nichts zu sagen, o Sokrates. Ich will es auch wieder gut machen. Gorgias ist bekanntlich ein Freund von mir, so dass er uns, wenn es dir beliebt, j e t z t , oder wenn du e3 wünschest, ein ander Mal, einen Vortrag halten wird. K a l l . Ei was, o Chairephon? Lust, den Gorgias zu hören?

Hat denn Sokrates

1*

4 Chair. Gerade zu diesem Zweck sind wir ja erschienen. K a l l . Nun so kommt, wann ihr wollt, zu mir in meine Wohnung, denn bei mir ist Gorgias eingekehrt und wird euch etwas vortragen. So kr. Da hast du Recht, o Kallikles. Wird er sich denn aber zu einer Unterredung mit uns entschliessen können? Ich will nämlich von ihm zu erfahren suchen, was das Wesentliche der Kunst des Mannes ist, und worin das besteht, wozu er sich anheischig macht, und was er lehrt. Den Vortrag über sonstige Gegenstände mag er, wie du vorschlägst, ein ander Mal halten. K a l l . Da ist wohl nichts besser, als ihn selber zu fragen, o Sokrates. Denn gerade dieses war ja für ihn ein Hauptaugenmerk bei seinem Vortrage. Er forderte zum wenigsten einen Jeden der drinnen Anwesenden eben erst a u f , nur irgend eine beliebige Frage an ihn zu richten, und versicherte auf Alles Antwort geben zu wollen. S o k r . J a du hast Recht. Frage ihn, o Chairephon. C h a i r . W a s soll ich ihn denn fragen? S o k r . Wer er ist. C h a i r . Wie verstehst du das? S o k r . Wie wenn er etwa zufallig ein Schuhmachermeister wäre, so würde er dir doch gewiss zur Antwort geben, er sei ein Schuster. Oder begreifst du nicht, wie ich das meine? 2. C h a i r . J a ich begreife es und will ihn fragen. — Sage mir doch, o Gorgias, ist es denn wahr, was Kallikles da sagt, dass du dich anheischig machst, auf jede Frage, die Jemand an dich richtet, Antwort zu geben? «s G o r g i a s . Es ist wahr, a Chairephon. Denn wirklich erst jetzt habe ich mich eben dazu anheischig gemacht, und behaupte, dass mich noch Niemand seit vielen Jahren nach etwas gefragt hat, worauf ich nicht gefasst gewesen wäre.

5 C h a i r . Ganz gewiss also antwortest du mit leichter Mühe, o Georgias. G o r g . E s steht ganz bei dir, o Chairephon, einen Versuch damit zu machen. P o l o s . J a bei Z e u s , wenn es dir anders beliebt, o Chairephon, lieber mit mir. Gorgias scheint mir auch wirklich ganz erschöpft zu sein, denn nur gar zu viel hat er eben gesprochen. C h a i r . Wie so, o Polos, glaubst du denn etwa besser als Gorgias antworten zu können? P o l . Was verschlägt das? Wenn es dir nur genügt. C h a i r . Gar nichts. Da du j a nun einmal willst, so antworte. P o l . F r a g e nur. C h a i r . Ich frage also. Wenn Gorgias ein Sachverständiger in der Kunst wäre, worin es sein Bruder Herodikos ist, welchen Namen würden wir ihm wohl rechtmässig beilegen? Nicht denselben, wie J e n e m ? P o l . Allerdings. C h a i r . Wenn wir ihn also als einen Arzt bezeichneten, so würden wir uns wohl richtig ausdrücken. P o l . Ja. Chair. Wenn er hingegen in der Kunst erfahren wäre, worin es Aristophon, der Sohn des Aglaophon, oder dessen Bruder ist, welche Benennung würden wir ihm wohl da richtig ertheilen ? P o l . Offenbar die eines Malers. C h a i r . Da er nun aber wer weiss in was für einer Kunst ein Sachverständiger ist, mit welcher Benennung werden wir ihn wohl da richtig bezeichnen? P o l . O Chairephon, es giebt viele Künste unter den Menschen, die durch Erfahrungen erfahrungsmässig erfunden wurden. Denn die Erfahrung bewirkt, dass wir den W e g durchs Leben wandeln mit K u n s t , Unerfahrenheit aber nach (des Zufalls) Gunst. An jeglichen derselben

6 betheiligen sich Andere an Anderen in anderer Weise, an den Besten aber die Besten. Zu diesen gehört denn auch Gorgias da, und ist Mitinhaber der herrlichsten der Künste. 3. Sokr. Ganz trefflich, o Gorgias, scheint Polos auf Reden gerüstet zu sein. Aber freilich was er dem Chairephon versprochen hat, das leistet er nicht. G o r g . Wie denn eigentlich, o Sokrates? Sokr. Die ihm vorgelegte Frage scheint er mir durchaus nicht zu beantworten. G o r g . Gut, wenn es dir beliebt, so frage du denselben. S o k r . Das nicht. Wenn du natürlich selber zu antworten geneigt bist, so möchte ich weit lieber dich fragen. Denn von Polos ist es mir schon aus dem, was er gesagt hat, einleuchtend, dass er sich mehr in die sogenannte Redekunst hineingearbeitet hat, als in das Abhalten von Gesprächen. Pol. Wie so denn, o Sokrates. Sokr. Weil du, o Polos, auf die Frage des Chairephon, in welcher Kunst Gorgias ein Sachverständiger sei, die Kunst desselben zwar rühmend erhebst, als ob sie Jemand tadeln wollte, aber nicht beantwortet hast, worin sie eigentlich besteht. P o l . Habe ich denn nicht geantwortet, dass es die herrlichste sei? S o k r . Das freilich. Es fragt ja aber Niemand, von welcher Beschaffenheit die Kunst des Gorgias sei, sondern worin sie bestehe, und wie man deshalb den Gorgias zu M9 nennen habe. So wie es dir nun schon vorher Chairephon an die Hand gab, und du ihm trefflich und mit wenig Worten darauf antwortetest, so erkläre dich nun ebenfalls, worin die Kunst besteht, und wie wir den Gorgias deshalb nennen sollen. Oder vielmehr, sage du uns selber, o Gorgias, wie wir dich nennen sollen als Sachverständigen von welcher Kunst ?

7 G o r g . Von der Redekunst, o Sokrates. S o kr. Einen Redner also sollen wir dich nennen? G o r g . J a und einen tüchtigen, o Sokrates, wenn du mich wirklich, was zu sein ich mich rühme, wie Homeros sagt, so nennen willst. S o k r . J a das will ich. G o r g . Nenne micb nur so. S o k r . Sollen wir demnach sagen, du seist im Stande, auch Andere dazu zu bilden? Gorg. Dazu mache ich mich j a eben anheischig, (und zwar) nicht allein hier, sondern auch anderwärts. S o k r . Könntest du dich denn nun wohl dazu entschliessen, o Gorgias, so wie wir uns jetzt mit einander unterreden, den Gegenstand unter gegenseitigen Fragen und Antworten zu erledigen, die weitläufigen Vorträge aber in der A r t , wie auch Polos begann, auf ein ander Mal auszusetzen? Aber dass du mir j a deinem Versprechen nicht untreu wirst! Entschliesse dich im Gegentheil, ganz kurz auf das Gefragte zu antworten. G o r g . Es giebt freilich, o Sokrates, manche unter den Antworten, bei denen es nöthig ist, die Vorträge ausführlich zu halten. Demungeachtet will ich mich doch so kurz als möglich zu fassen suchen. Denn auch das ist wiederum eines von den Dingen, von denen ich die Versicherung gebe, dass Niemand mit kürzeren Worten als ich denselben Gedanken vortragen könne. S o k r . Das ist's j a eben, was ich brauche, o Gorgias. Gerade davon gieb mir ein Probestück, (ich meine) von deinem gedrängten Vortrage, von deiner ausführlichen Darstellung aber ein ander Mal. G o r g . Nun j a ich will es thun; und du wirst eingestehen, noch Niemanden gehört zu haben, der sich kürzer in seinen Reden gefasst hätte. 4. S o k r . Wohlan denn. (Du behauptest nun einmal ein Sachverständiger in der Redekunst zu sein, und

8 glaubst auch einen Andern zum Redner bilden zu können.) Was hat denn eigentlich die Redekunst für Dinge zum Gegenstande? wie zum Beispiel die Weberkunst die Anfertigung von Kleiderstoffen. Nicht wahr? G o r g . Ja» S o k r. Demnach auch die Tonkunst die Dichtung von Gesangweisen? G o r g . Ja. S o k r. Bei der Hera, o Gorgias, ich habe alle Achtung vor deinen Antworten, weil du so kurz als nur irgend möglich antwortest. G o r g . Das denke ich auch wirklich, o Sokrates, ganz wie es sich gehört, zu thun. So k r . Du hast ganz Recht. Wohlan gieb mir doch auch eben so Bescheid über die Redekunst. Was hat sie als Wissenschaft für Dinge zum Gegenstande? G o r g . Reden. S o k r . Welche denn von diesen, o Gorgias? Etwa die, welehe die Kranken darüber aufklären, bei welcher Lebensweise sie gesund werden können? G o r g . Nein. S o k r . Also doch nicht gerade auf alle Reden bezieht sich die Redekunst? G o r g . Gewiss nicht. S o k r . Sie macht aber doch Leute zum Reden tüchtig. G o r g . Ja. S o k r . Demnach über das, worüber man spricht, auch nachzudenken? G o r g . Warum das nicht? S o k r . Macht denn nun nicht auch die Heilkunst, die wir eben erst anführten, tüchtig, über die Kranken nach460 zudenken und zu reden? G o r g . Nothwendig. Sokr. Also bezieht sich auch die Heilkunst, allem Anschein nach, auf Reden.

9 G o r g . Ja. S o k r . Zum wenigsten auf die über die Krankheiten? G o r g . Auf jeden Fall. S o k r . Bezieht sich demnach nicht auch die gymnastische Kunst auf Reden, (ich meine) auf die über den guten oder schlechten Zustand des Leibes? G o r g . Allerdings. S o k r . Ja aber auch mit den übrigen Künsten, o Gorgias, verhält es sich ebenso. Eine jede von ihnen hat es mit, denselben Reden zu thun, welche sich gerade auf den Gegenstand beziehen, dessen Kunst eine jede ist. G o r g . So ist es. Sokr. Warum nun aber in aller Welt nennst du denn nicht auch die andern Künste Redekünste,- da sie es mit Reden zu thun haben, wenn du diejenige Redekunst nennst, welche es mit Reden zu thun hat ? G o r g . Weil, o Sokrates, bei den andern Künsten so zu sagen die ganze Wissenschaft auf Handarbeit und dergleichen Verrichtungen beruht, bei der Redekunst aber gar nichts von dergleichen Handleistung vorkommt, sondern die gesammte Verrichtung und Ausführung durch Reden geschieht. Aus diesem Grunde gehe ich von der Ansicht aus, dass es die Redekunst mit Reden zu thun hat, indem ich mich ganz richtig ausdrücke, wie ich behaupte. 5. S o k r . Habe ich denn nun etwa einen Begriff davon, wie du dieselbe benennen willst? Bald werde ich es indessen deutlicher einsehen. Antworte nur. Wir haben doch Künste. Nicht wahr? G o r g . Ja. S o k r . Unter allen Künsten aber giebt es, meines Erachtens, solche, bei denen Werkthätigkeit die Hauptsache ist, und die nur einer kurzen Darstellung bedürfen, manche aber auch gar keiner, sondern die Aufgabe der Kunst Iiesse sich wohl auch stillschweigend zu Stande bringen, wohin zum Beispiel die Malerkunst und das Bildhauerge-

10 sehäft und viele andere gehören. Als solche scheinst du mir diejenigen zu bezeichnen, mit denen deiner Aussage nach die Redekunst gar nichts zu thun hat. Oder nicht? G o r g . J a allerdings fasst du die Sache ganz richtig auf, o Sokrates. So kr. Es giebt hingegen andere unter den Künsten, die Alles durch die Rede zur Ausführung bringen, und körperlicher Arbeit, so zu sagen, entweder gar keiner oder nur sehr geringer bedürfen; dahin gehören zum Beispiel die Zahlenlehre, die Rechenkunst, die Feldmesskunst, die Kunst des Brettspiels und noch viele andere Künste, deren manche Rede und Handlung beinahe in gleichem Verhältniss erfordern, viele aber auch noch mehr, und bei welchen Handlung und Ausführung auf der Rede beruht. F ü r eine von solchen scheinst du mir die Redekunst zu erklären. G o r g . Du hast ganz Recht. S o k r. Doch glaube ich sicherlich nicht, dass du geneigt bist, irgend eine von diesen Redekunst zu nennen, wiewohl du dich dem Wortlaute nach so ausgesprochen hast, dass diejenige, die ihre Hauptbestimmung in der Rede hat, die Redekunst ist, und es könnte daher leicht Jemand, wenn er deinen Worten eine schlimme Deutung geben wollte, die Einwendung machen : also die Zahlenlehre, o Gorgias, nennst du Redekunst. Allein ich glaube nicht, dass du weder die Zahlenlehre noch die Feldmesskunst Redekunst nennst. G o r g . Du denkst ganz richtig darüber, o Sokrates, 451 und mit Recht folgst du dieser Annahme. 6. S o kr. Wohlan so bringe nun auch du die Antwort, nach der ich fragte, zu ihrer Vollendung. Da nämlich die Redekunst gerade eine von denjenigen Künsten ist, welche sich zum grossen Theil der Rede bedienen, es aber auch noch andere dieser Art giebt, so versuche mir anzugeben, in Bezug auf was diejenige, welche ihre Hauptbestimmung in Reden hat, Redekunst ist. Wenn mich

11 zum Beispiel Jemand nach irgend einer von den Künsten fragte, die ich eben erst anführte, höre Sokrates, was ist denn die Zahlenkunst? so würde ich ihm, wie du eben, sagen, dass es eine von denjenigen ist, deren Hauptbestimmung in der Rede besteht. Und wenn er mich weiter fragte : in welcher Beziehung denn? so würde ich sagen, dass es eine von denen ist, deren Hauptbestimmung sich auf das Gerade und Ungerade bezieht, wie gross jedes von beiden sei. Wenn er nun aber auch fragte : welche Kunst nennst du denn aber die Rechenkunst? so würde ich sagen, dass auch sie eine von denen ist, die nur durch die Rede ihre volle Bestimmung erreichen. Und wenn er weiter fragte : in wie fern denn? so würde ich sagen, wie die Urkundspersonen in der Volksversammlung : alles Andere wie zuvor; wie mit der Zahlenkunst, so verhält es sich auch mit der Rechenkunst, denn sie hat es mit demselben Gegenstande zu thun, mit dem Geraden wie mit dem Ungeraden, unterscheidet sich aber in so fern, dass die Rechenkunst das Ungerade und das Gerade betrachtet, wie es sich der Grösse nach sowohl gegen sich selbst, als gegen einander verhält. Und wenn Jemand weiter nach der Sternkunde fragte, und auf meine Erklärung, dass auch diese Alles durch Reden zu Stande bringe, spräche : aber die Reden der Sternkunde, worauf beziehen sich die, o Sokrates? so würde ich sagen : auf die Bewegung der Sterne und der Sonne und des Mondes, wie sie sich gegen einander verhalten in Bezug auf die Geschwindigkeit. G o r g . Ganz richtig würdest du dich da ausdrücken, o Sokrates. S o k r . Wohlan denn mache auch du es so, o Gorgias. Die Redekunst ist ja gerade eine von den Künsten, die Alles durch die Rede ausführen und zu Stande bringen. Nicht wahr? G o r g . So ist es.

12 So kr. Sage mir also über welchen Gegenstand? Welches ist denn dasjenige von den Dingen in der Welt, womit es hier unsere Reden zu thun haben, deren sich die Redekunst bedient? G o r g . Es sind die wichtigsten unter allen menschlichen Angelegenheiten, o Sokrates, und die vorzüglichsten. 7. S o kr. Aber auch hierüber, o Gorgias, drückst du dich ganz zweifelhaft und durchaus noch nicht bestimmt aus. Du hast doch wohl, denke ich, bei Gastmahlen die Leute schon den bekannten Rundgesang anstimmen gehört, in welchem die Singenden aufzählen, dass gesund sein das Beste ist, das Zweite schön sein, das Dritte, wie sich der Dichter des Rundgesangs ausdrückt, reich sein ohne Trug. G o r g . Das habe ich freilich gehört. Aber wozu führst du dieses an? m S o k r . Weil dir nun gleich die Meister von Fach in den Dingen, welche der Dichter des Rundgesangs gelobt hat, entgegentreten dürften, der Arzt, der Turnlehrer und der Geldspeculant, und zwar zuerst der Arzt sagen würde : höre Sokrates, Gorgias hintergeht dich; denn nicht seine Kunst hat Bezug auf das grösste Gut für die Menschen, sondern die meinige. Wenn ich ihn nun fragte : Wer bist du denn eigentlich, der du das behauptest? so würde er ohne Zweifel erwiedern : Ein Arzt. •— Was sagst du da? Ist denn das Betreiben deiner Kunst das grösste Gut? —> Warum sollte es denn nicht, würde er ohne Zweifel sagen, o Sokrates, die Gesundheit sein? Was giebt es denn für ein grösseres Gut für die Menschen, als die Gesundheit? Wenn nun nach diesem wiederum der Turnlehrer sagte : Mich selber, o Sokrates, sollte es doch wundern, wenn dir Gorgias ein grösseres Gut von seiner Kunst aufweisen könnte, als ich von der meinigen; so würde ich wiederum auch zu diesem sagen : Wer bist denn nun du, lieber Mann, und was ist dein Geschäft ? Turnlehrer, würde er sagen; mein Geschäft ist daher, die Menschen schön und stark

13 zu machen in Bezug auf den Leib. Nach dem Turnlehrer würde der Geldspeculant, wie ich glaube, so recht mit Geringschätzung aller Andern sprechen : Sieh' doch nur einmal nach, o Sokrates, ob sich dir wirklich ein grösseres Gut, als der Reichthum, darbietet, sei es bei Gorgias oder bei irgend einem Andern. — D a würden wir nun zu ihm sagen : Wie so denn ? Bist du denn dessen förmlich Meister? — E r würde es bejahen. — In welcher Eigenschaft? — A l s Geldspeculant. — Wie nun? werden wir sagen, glaubst du denn entschieden, der Reichthum sei das grösste Gut für die Menschen? — Ei warum denn nicht? wird er erwiedern. — Aber Gorgias da, würden wir sagen, behauptet j a doch r im Gegensatz davon, die von ihm betriebene Kunst sei die Ursache eines grösseren Gutes, als die deinige : E s ist also k l a r , dass er noch weiter fragen würde : Und was ist denn dieses für ein G u t ? Das sollst du beantworten, o Gorgias. Wohlan also denke dir, o Gorgias, du würdest eben sowohl von Jenen, als von mir gefragt, und gieb Antwort, was ist denn das, wovon du sagst, es sei das grösste Gut für die Menschen, und du seist dessen formlich Meister? G o r g. Was auch in Wahrheit, o Sokrates, das grösste Gut ist, und was den Menschen selber zugleich Freiheit verschafft, zugleich J e d e m die Befugniss giebt, über Andere zu herrschen in seiner Stadt. S o kr. W a s verstehst du denn eigentlich darunter? G o r g. Dass man im Stande ist, durch Worte zu überreden, sowohl im Gerichtshofe die Richter, als im Rathhause die Rathsmänner, und in der Gemeindeversammlung die Gemeindemänner, so wie in jeder andern Versammlung, die unter den Bürgern eines Staates gehalten wird. J a und im Besitz einer solchen Gewalt (der Rede) wirst du dir unterthan machen den Arzt, unterthan den Turnlehrer; und es wird sich klar herausstellen, dass der genannte Geldspeculant für einen Andern Geld erwirbt, und nicht für

14 sich, sondern für dich, der du zu sprechen und die Menge zu überreden vermagst. 8. So kr. Jetzt scheinst du mir, o Gorgias, dich der «3 Sache so nahe kommend als möglich darüber erklärt zu haben, was du dir unter der Redekunst für eine Kunst denkst, und, wenn ich etwas davon verstehe, so behauptest du, dass die Redekunst eine förmliche Meisterin der Ueberredung ist, und dass die gesammte Wirksamkeit und der Hauptzweck derselben endlich darauf hinausläuft. Oder kannst du etwas dafür angeben, dass die Redekunst noch mehr vermöge, als Ueberzeugung in der Seele der Zuhörer zu bewirken? G o r g . Keineswegs, o Sokrates; im Gegentheil scheinst du mir den Begriff derselben ganz befriedigend bestimmt zu haben. Denn das ist allerdings der Hauptzweck derselben. So kr. So höre denn, Gorgias. Denn das muSst du wohl bedenken, dass ich, wie auch ich die Ueberzeugung habe, wenn irgend ein Anderer mit einem Andern sich unterredet, und eben das zu wissen wünscht, wovon die Rede ist, ebenfalls einer von diesen bin. Ich denke aber auch du. G o r g . Was also nun weiter, o Sokrates? S o k r . Ich will es jetzt sagen. Du musst nämlich wohl wissen, dass ich die aus der Redekunst hervorgehende Ueberredung, was das eigentlich für eine ist, von der du sprichst, und in Bezug auf welcherlei Gegenstände sie Ueberredung ist, noch immer nicht deutlich weiss, dass ich indessen vermuthe, was für eine du meines Erachtens darunter verstehst, und auf was für Dinge dieselbe Bezug hat. Nichtsdestoweniger werde ich die Frage an dich richten, was du eigentlich für eine Ueberredung, die aus der Redekunst hervorgeht, meinst, und auf was für Gegenstände sie sich beziehe. Weshalb aber, da ich ja selber meine Vermuthung darüber habe, soll ich dich darnach fragen, und spreche

15 es im Gegentheil nicht selber aus ? Nicht deinetwegen, sondern um unserer Untersuchung willen, damit sie so von Statten gehe, wie sie uns das am ersten deutlich machen könne, wovon die Rede ist. Denn überlege nur, ob ich dich deines Bedünkens mit Recht noch weiter frage. Wie wenn ich dir etwa die Frage vorgelegt hätte : was für ein Maler ist Zeuxis? und wenn du mir gesagt hättest : einer, der nach dem Leben malt; könnte ich dich da wohl mit Recht fragen, was malt er denn für Bilder nach dem Leben, und wo? G o r g. Allerdings. S o k r. Etwa deshalb, weil es auch noch andere Maler giebt, die viele andere Bilder nach dem Leben malen? G o r g . Ja. S o k r . Wenn freilich kein Anderer als Zeuxis dergleichen malte, so wäre deine Antwort wohl gut ausgefallen. G o r g . Warum das nicht? S o k r . Wohlan denn, so erkläre dich auch über die Redekunst, ob du der Ansicht bist, dass nur allein die Redekunst Ueberredung bewirke, oder auch andere Künste? Ich verstehe dieses aber ohngefahr so : wer irgend einen Gegenstand lehrt, überredet er von dem, was er lehrt, oder nicht? G o r g . Das (letzte) gewiss nicht, o Sokrates, im Gegentheil mehr als Alles überredet er jedenfalls. S o k r . Wenn wir nun die Rede wieder auf dieselben Künste bringen, von denen wir eben sprachen, belehrt uns nicht die Zahlenlehre und der Zahlenkünstler, wie gross der Betrag der Zahl ist? G o r g . Allerdings. S o k r . Also überredet sie auch? Gorg. Ja. S o k r . So ist also auch die Zahlenlehre eine förmliche Meisterin der Ueberredung? G o r g . So ist es.

16 So k r . Wenn uns nun Jemand fragt, welcher Ueberredung und von was, so werden wir ihm natürlich antworten, derjenigen, welche Belehrung giebt über das Gerade und über das Ungerade, wie viel es beträgt. Eben so wer«4den wir auch von allen andern Künsten, die wir eben anführten , nachzuweisen vermögen, dass sie förmliche Meisterinnen der Ueberredung sind, desgleichen welcher, und in Bezug auf was? Oder nicht? G o r g. Ja. S o kr. So ist also die Redekunst nicht allein eine förmliche Meisterin der Ueberredung? G o r g . Du hast Recht. 9. So kr. Da nun nicht allein sie dieses Werk zu Stande bringt, sondern auch noch andere Künste, so werden wir mit Recht, gerade so wie in Bezug auf den Maler, den, der das behauptet, nach dem noch weiter fragen, welcher Ueberredung und welches die Ueberredung betreffenden Gegenstandes Kunst ist die Redekunst? Oder scheint es dir nicht recht zu sein, weiter darnach zu fragen? G o r g . Mir scheint es. S o kr. So antworte denn, o Gorgias, da ja auch du dieser Ansicht bist. G o r g . Ich behaupte demnach derjenigen Ueberredung, o Sokrates, welche in den Gerichtshöfen und in den andern Volksversammlungen vorkommt, wie ich auch eben erst bemerkte, und in Bezug auf das, was recht und unrecht ist. So kr. Auch ich vermuthete freilich, dass du diese Ueberredung meinst und in Bezug hierauf, o Gorgias. Damit du dich aber nur nicht etwa wunderst, wenn ich dich gleich nachher wieder nach so etwas frage, was freilich deutlich zu sein scheint, und doch noch weiter darnach frage : d e n n , wie gesagt, ich frage dergleichen, um der Ordnung nach die Rede zu Ende zu bringen, nicht um deinetwillen, sondern damit wir uns nicht daran gewöhnen, auf blose Vermuthungen hin, einander das Gesagte im

17 Voraus wegzuhaschen, sondern damit du deinen Satz, deinem Vorhaben gemäss, wie du eben willst, durchführen könnest. G o r g . Und ganz recht scheinst du mir daran zu thun, o Sokrates. S o k r . Wohlan denn, lasse uns auch Folgendes in Erwägung ziehen. Du sprichst davon etwas gelernt zu haben? G o r g . J a davon spreche ich. S o k r . Wie aber? auch etwas geglaubt zu haben? G o r g . Auch das thue ich. S o k r . Scheint dir nun etwa gelernt haben und geglaubt haben dasselbe zu sein, wie erlerntes Wissen und Glauben, oder etwas Anderes? G o r g . Ich zum wenigsten, o Sokrates, meine etwas Anderes damit. S o k r . D a hast du die richtige Meinung. Du wirst es aber daraus erkennen. Wenn dich nämlich Jemand fragte : giebt es wohl, o Gorgias, einen falschen und einen wahren Glauben? so würdest du es bejahen, wie ich glaube. G o r g . Ja. S o k r . Wie aber? giebt es eine falsche und eine wahre Erkenntniss ? G o r g . Auf keinen Fall. S o k r . So ist also wiederum klar, dass Beides nicht dasselbe ist. G o r g . D a hast du Recht. S o k r . Nun sind aber doch eben sowohl die, welche gelernt haben, Ueberredete, als die, welche geglaubt haben. G o r g . So ist es. S o k r . Willst du also, dass wir zwei Arten der Ueberredung annehmen, die eine, welche Glauben verschafft ohne das Wissen, die andere aber, welche Erkenntniss? G o r g . Allerdings. S o k r . Welche von beiden Ueberredungen also bewirkt die Redekunst in den Gerichtshöfen und in andern 2

18 Volksversammlungen in Bezug auf das Recht und Unrecht ? aus welcher das Glauben entsteht ohne das Wissen, oder aus welcher das Wissen? G o r g . Offenbar doch wohl die, o Sokrates, aus welcher das Glauben entsteht. 455 S o k r . Die Redekunst ist also, aller Wahrscheinlichkeit nach, förmliche Meisterin einer auf Glauben beruhenden Ueberredung, aber nicht einer Belehrung gebenden in Bezug auf das Recht und Unrecht. G o r g . Ja. S o k r . Also nicht als Lehrkünstler tritt der Redner in den Gerichtshöfen und andern Volksversammlungen über Recht und Unrecht auf, sondern lediglich als Glaubenskünstler. Denn sicherlich dürfte er nicht leicht im Stande sein, eine solche Masse Volkes in kurzer Zeit über so wichtige Gegenstände zu belehren. G o r g . Gewiss nicht. 10. S o k r . Wohlan denn, lass' uns sehen, worin eigentlich das besteht, was wir über die Redekunst sagen. Denn in der That vermag ich selber noch gar nicht einzusehen , was ich darüber sage. Wenn über die Wahl von Aerzten oder Schiffsbaumeistern oder irgend einer andern Klasse von Geschäftskundigen von Seiten der Stadt eine Versammlung stattfände, nicht wahr in diesem Falle würde der Redekünstler gar nicht zur Berathung gezogen werden? Denn das ist klar, dass bei einer jeden Wahl der Kunstverständigste gewählt werden muss. Nicht anders, wenn es der Aufführung von Mauern, oder der Herrichtung von Seehäfen, oder von Schiffswerften gilt, nur die Hauptbaumeister. - Nicht anders wiederum, wenn über die Wahl von Heerführern, oder eine bestimmte Stellung gegen die Feinde, oder die Besetzung von festen Plätzen eine Berathung stattfindet, werden in diesem Falle nur die Heerführungskünstler mitberathen, die Redekünstler aber nicht. Oder was meinst du, o Gorgias, zu dergleichen Dingen? D a du

19 nämlich selbst behauptest, ein Redner zu sein, und auch Andere zu Redekünstlern bilden zu können, so ist es ganz angemessen, die Eigentümlichkeiten deiner Kunst von dir selbst zu erforschen. Auch von mir musst du glauben, dass ich jetzt deinen Vortheil betreibe. Denn vielleicht ist ja auch Mancher unter denen, die drinnen im Hause sind, der dein Schüler zu werden wünscht, wie ich das von einigen, ja sogar von Vielen weiss, die wohl vielleicht Anstand nehmen dürften, dich auszufragen. Wenn du also von mir ausgefragt wirst, musst du glauben, du würdest auch von Jenen ausgefragt : was haben wir denn davon zu erwarten, o Gorgias, wenn wir deinen Umgang suchen? Worüber werden wir der Stadt zu rathen im Stande sein ? Etwa nur über Recht und Unrecht, oder auch über die Dinge, von welchen eben erst Sokrates sprach? Versuche es demnach, ihnen Antwort zu geben. G o r g . J a ich will es versuchen, o Sokrates, dir den gesammten mächtigen Einfluss der Redekunst deutlich zu enthüllen, denn du selbst hast eine gute Anleitung dazu gegeben. Du weisst ja doch gewiss, dass die Schiffswerften dort und die Mauern der Athenäer und die Herrichtung der Seehäfen auf des Themistokles Anrathen unternommen worden sind, Manches auch auf das des Perikles, keineswegs aber auf das der (betreffenden) Werkmeister. So k r . Man erzählt das, o Gorgias, von Themistokles. Den Perikles aber hörte ich noch selber, als er uns seinen Rath ertheilte über die Aufführung der mittleren Mauer. G o r g . Und wenn wirklich eine Wahl bei den von dir «s angeführten Gegenständen stattfinden sollte, o Sokrates, so siehst d u , dass die Redner die Rathgebenden sind, und dass sie mit ihren Ansichten bei dergleichen Dingen die Oberhand gewinnen. S o k r . Und eben weil ich mich darüber wundere, o Gorgias, war es längst meine F r a g e , was denn das eigentlich für ein mächtiger Einfluss der Redekunst ist. Denn 2*

20 wie eine Art höhere Erscheinung kommt sie mir vor, wenn ich ihre Grösse so recht betrachte. 11. G o r g . Ja wenn du nur erst Alles wüsstest, o Sokrates, dass sie, so zu sagen, alle übrigen Kräfte zusammen in sich vereinigt, und von sich abhängig macht. Davon will ich dir aber einen starken Beweis anführen. Schon oftmals nämlich bin ich mit meinem Bruder und mit andern Aerzten zu einem Kranken hingegangen, der sich durchaus nicht dazu entschliessen konnte, entweder einen Arzneitrank zu nehmen, oder sich dem Arzt zum Schneiden oder Brennen anzuvertrauen, und während ihn der Arzt nicht zu überreden vermochte, habe ich ihn überredet, und das durch keine andere Kunst, als die Redekunst. Und so behaupte ich auch, wenn in eine Stadt, wohin du willst, ein Redekünstler und ein Arzt kämen, und es erforderlich wäre, in der Gemeinde oder in irgend einer andern Versammlung einen Wettkampf in der Rede zu bestehen, welcher von ihnen (zum Arzt) gewählt werden müsse, der Redner oder der Arzt, so würde der Arzt in gar keinen Betracht kommen, sondern der, welcher der Rede mächtig ist, würde gewählt werden, wenn er es wünschte. Und wenn" derselbe mit jedem andern denkbaren Geschäftskundigen einen Wettkampf zu bestehen hätte, so würde der Redekünstler eher, als jedweder Andere, überreden, ihn selber zu wählen. Denn es giebt nichts in der Welt, worüber der Redekünstler nicht überzeugender vor der Volksmenge sprechen sollte, als jeder andere denkbare Geschäftskundige. So machtig also und von solcher Bedeutung ist der Einfluss dieser Kunst. Man muss sich indessen, o Sokrates, der Redekunst bedienen, wie jeder andern Art des Wettkampfes, denn auch von andern Arten des Wettkampfes darf man nicht gerade deswegen gegen alle Menschen Gebrauch machen, weil einer das Faustkämpfen und das Gesammtringen und das Schlagen in förmlicher Rüstung gelernt hat, so dass er Freunden und Feinden überlegen

21 ist : nicht gerade deshalb darf man seine Freunde schlagen oder stosen oder gar tödten; noch auch bei Zeus, wenn Einer, der in die Ringschule gegangen, und bei einer kräftigen Leibesbeschaffenheit auch ein tüchtiger Faustkämpfer geworden ist, hernach seinen V a t e r und seine Mutter schlägt, oder sonst einen von seinen Angehörigen und Freunden, darf man deshalb die Turnmeister ,und die Lehrer des Kampfes in förmlicher Rüstung hassen oder gar aus den Städten verjagen. Denn diese theilten ihre Kunst mit zum Zweck rechtmässigen Gebrauches der betreffenden Waffen gegen die Feinde und die Beleidiger, zur Vertheidigung, nicht zum Angriff. Diese aber machen es gerade umgekehrt, 457 und bedienen sich ihrer Stärke und Kunst nicht wie es recht ist. A l s o nicht die Lehrer sind verwerflich, noch ist die Kunst daran Schuld und deshalb verwerflich, sondern diejenigen, denke i c h , welche sie nicht, wie es recht ist, gebrauchen. Ganz dieselbe Annahme gilt nun auch in Bezug auf die Redekunst. D e r Redner ist nämlich allerdings im Stande, gegen A l l e und über Alles zu sprechen, so dass e r , um es kurz zu sagen, in allen beliebigen Dingen stärkeren Glauben bei den verschiedenen Volksmassen findet. Um gar nichts mehr aber darf er deshalb weder den Aerzten ihren guten Ruf entziehen, weil er das allenfalls zu thun vermöchte, noch auch den andern Geschäftskundigen, sondern er muss auch von der Redekunst einen rechtmässigen Gebrauch machen, wie von jeder A r t des Wettkampfes. Wenn aber, denke ich, einer wirklich ein Redekünstler geworden i s t , und nachher vermöge dieser Kraft und Kunst Unrecht thut, so darf man.nicht den, der sie lehrte, hassen oder gar aus den Städten verjagen. Denn dieser theilte sie zum Zweck rechtmässigen Gebrauches mit, jener aber macht den entgegengesetzten Gebrauch davon. Es ist also Recht, den, der sie nicht in der gehörigen Weise gebraucht, zu hassen und zu verjagen, und hinzurichten, aber nicht den, der sie lehrt.

22 12. S o k r . Ich denke, o Gorgias, dass auch du viele Unterredungen aus Erfahrung kennst, und bei denselben etwa folgende Beobachtung gemacht hast, dass manche Leute, nachdem sie unter sich die Bestimmung getroffen, worüber sie sich zu einer Unterredung anschicken wollten, und eben sowohl Unterweisung angenommen, als Belehrung ertheilt hatten, nicht leicht so ohne Weiteres ihre Zusammenkünfte auflösen können; dass sie im Gegentheil, wenn sie in irgend etwas in ihren Ansichten auseinander giengen, und der Eine behauptet, der Andere drücke sich nicht richtig oder nicht deutlich aus, aufgebracht werden, und meinen, die Gegner sagten das aus Missgunst gegen sie aus, indem sie nur Streit suchten, nicht aber die bei der Untersuchung vorliegende Aufgabe erforschten. Manche machen sich auch endlich auf die schmählichste Weise davon, indem sie unter gegenseitigen Lästerungen solche Dinge über sich selber sagen und anhören, dass auch die Anwesenden um ihrer selbst willen verdriesslich darüber sind, weil sie es über sich gewinnen konnten, sich zu Zuhörern solcher Menschen herzugeben. Doch warum erwähne ich das? Weil du mir jetzt durchaus nicht gerade sehr Folgerechtes, noch mit dem, was du früher über die Redekunst anführtest, Uebereinstimmendes zu sagen scheinst. Ich furchte mich daher, dich zu widerlegen, damit du nicht unterstellest, ich spreche nicht aus Eifer um der Sache willen, um sie gehörig ins Licht zu setzen, sondern um deinetwillen. Ich 468 würde dich daher, wenn du zu den Leuten gehörst, zu denen auch ich gehöre, ganz gerne ausfragen, wenn aber nicht, so würde ich es unterlassen. Zu welchen gehöre ich denn aber? Zu denen, die sich gerne widerlegen lassen, wenn ich etwas Unrichtiges sage, und die gerne widerlegen, wenn ein Anderer etwas Unrichtiges sagt, denen es in r dessen nicht unangenehmer ist, widerlegt zu werden, als selbst zu widerlegen. Denn um so viel halte ich jenes für ein grösseres G u t , insofern es wirklich ein grösseres Gut

23 ist, selbst von dem grössten Uebel befreit zu werden, als einen Andern davon zu befreien. Denn es giebt, glaube ich, gar kein so grosses Uebel für den Menschen, als eine falsche Ansicht von den Dingen, von welchen gerade jetzt unter uns die Rede ist. Wenn nun auch du ein solcher zu sein versicherst, so wollen wir unsere Unterredung fortsetzen, hältst du es hingegen auch für g u t , dass wir es unterlassen müssen, so wollen wir es jetzt ganz aufgeben und unsere Unterredung einstellen. G o r g . Allerdings behaupte auch ich, o Sokrates, für meine Person ein solcher zu sein, wie du ihn vorzeichnest. Vielleicht jedoch sollten wir dabei auch auf die Anwesenden Bedacht nehmen. Denn wirklich schon lange, bevor auch ihr dazu kämet, habe ich den Anwesenden Vieles vorgetragen, und wir dürften auch jetzt vielleicht etwas zu weitläufig werden, wenn wir unsere Unterredung fortsetzen wollten. Wir müssen also auch auf diese Rücksicht nehmen, damit wir nicht Manche derselben abhalten, wenn sie noch etwas Anderes zu thun vorhaben. 13. C h a i r . Den Lärm, o Gorgias und Sokrates, höret ihr ja selbst von diesen Männern da, die gerne zuhören möchten, wenn ihr über etwas sprechen wollt. Auch ich für meine Person möchte nun gar nicht so von Geschäften in Anspruch genommen sein, dass ich mich solchen Gesprächen, und wenn sie dazu noch so gehalten werden, zu entziehen brauchte, weil es vortheilhafter wäre, etwas Anderes zu thun. K a l l . Bei den Göttern, o Chairephon, wiewohl ich denn doch selber schon vielen Unterredungen beiwohnte, so weiss ich doch nicht, ob ich mich jemals so herzlich gefreut habe, wie eben jetzt, so dass ihr mir zum wenigsten, und wenn ihr euch den ganzen Tag mit einander unterreden wolltet, einen wahren Gefallen thun würdet. So kr. J a doch, o Kallikles, von meiner Seite steht kein Hinderniss im Wege, wenn nur Gorgias Lust dazu hat.

24 G o r g . Es würde j a dann schimpflich sein, o Sokrates, wenn ich keine Lust dazu hätte, da ich zudem noch selber dazu aufgefordert habe, mich zu fragen, was Jeder wolle. Setze im Gegentheil, wenn es diesen da recht ist, deine Unterredung fort, und frage nur, was du willst. S o k r . So höre denn, o Gorgias, was mir an dem von dir Gesagten auffallt. Denn während du es j a vielleicht ganz richtig vorträgst, fasse ich es nicht richtig auf. Du behauptest, im Stande zu sein, einen zum Volksredner zu bilden, wenn er nur von dir lernen will. G o r g. J a . S o k r . Dass er also in allen Dingen Glauben bei dem Volke finde, nicht sowohl durch Belehrung, als vielmehr durch Ueberredung? 459

G o r g . J a allerdings. S o k r . Nun sagtest du doch, dass auch in Sachen der Gesundheit der Redner mehr Glauben finden werde, als der Arzt. G o r g . Das sagte ich freilich, zum wenigsten vor dem Volke. S o k r . Nicht wahr der Ausdruck vor dem Volke bedeutet so viel, als vor denen, die nichts davon verstehen? Denn gewiss wird er doch vor denen, die etwas davon verstehen, nicht mehr Glauben finden, als der Arzt. G o r g . Du hast Recht. S o k r . W e n n er demnach mehr Glauben finden wird, als der A r z t , so findet er mehr Glauben als der, welcher Kenntniss von der Sache hat? G o r g . Allerdings. Sokr. Zum wenigsten nicht in der Eigenschaft als Arzt. Nicht wahr? Gorg.

Ja.

S o k r . Der Nichtarzt ist aber doch darin ohne E r fahrung, worin der Arzt Erfahrung hat. Gorg.

Das ist klar.

25 S o k r . Also der Nichtkenner wird mehr Glauben als der Kenner unter Nichtkennern finden, sobald der Redner mehr Glauben findet, als der Arzt. Ist das die Folge davon, oder was Anderes ? G o r g . In diesem Falle zum wenigsten ist das die Folge. S o k r . Demnach verhält es sich auch in Bezug auf alle andere Künste eben • so mit dem Redner und der Redekunst. Von den Dingen selbst braucht sie durchaus nicht zu wissen, wie sie sich verhalten, aber irgend ein künstliches Mittel der Ueberredung muss sie doch aufgefunden haben, um sich vor Nichtkennern das Ansehen zu geben, mehr Kenntniss davon zu haben, als die Kenner. 14. G o r g . Ist es demnach nicht ein sehr behagliches Gefühl, o Sokrates, dass m a n , ohne andere Künste, als diese einzige, gelernt zu haben, den Geschäftskundigen in nichts zurücksteht? S o k r . Ob der Redner, weil er nun einmal in dieser Lage ist, hinter den Andern zurücksteht oder nicht zurücksteht, das wollen wir auf der Stelle zu erforschen suchen, wenn es etwa in den Bereich unserer Untersuchung gehört. Jetzt aber wollen wir vorerst dem nachforschen : ist wohl der Redner in Bezug auf das Gerechte und das Ungerechte, das Hässliche und das Schöne, das Gute und das Böse ganz in derselben Lage, wie in Bezug auf das Gesunde und die andern Dinge, mit denen es die andern Künste zu thun haben, dass er selbst davon keine Kenntniss h a t , was etwas Gutes oder etwas Böses, oder etwas Schönes oder etwas Hässliches, oder Gerechtes oder Ungerechtes ist, sich aber eine Ueberredung darüber herausgekünstelt h a t , so dass er als Nichtkenner unter Nichtkennern dafür gilt, mehr Kenntniss zu haben, als ein Kenner? Oder ist es durchaus nöthig, dass er Kenntniss davon habe, und muss derjenige, welcher die Redekunst erlernen will, mit Vorkenntnissen darin zu dir kommen ?

26 Wenn aber nicht, wirst du der Lehrer der Redekunst den zu dir Kommenden zwar nichts von alle dem lehren, denn dazu hast du keinen Beruf, aber es dahin bringen, dass er den Leuten Kenntniss von dergleichen Dingen zu haben scheine, ohne sie zu haben, nnd gut zu sein scheine, ohne es zu sein ? Oder wirst du ganz und gar nicht im Stande sein, ihn in der Redekunst zu unterrichten, wenn er nicht das wahre Sachverhältniss in Bezug auf diese Dinge vorMoauskennt? Oder wie verhält es sich damit, o Gorgias? J a bei Zeus beginne nun, wie du eben sagtest, deine Enthüllungen und sage mir, worin eigentlich der mächtige Einfluss der Redekunst besteht. G o r g . Aber ich denke doch, o Sokrates, wenn er es allenfalls nochr nicht wissen sollte, so wird er auch das von mir lernen. So k r . Halte das einmal fest. Denn deine Bemerkung ist gut. Wenn du irgend Jemanden zum Redekünstler bilden willst, so muss er nothwendig wissen, was recht und was unrecht ist, mag er es nun entweder früher oder später von dir gelernt haben. G o r g . Allerdings. S o k r . Wie nun? Wer die Baukunst erlernt hat, ist der ein Baukünstler, oder nicht ? G o r g . Ja". S o k r . Demnach auch, wer die Tonkunst ein Tonkünstler ? G o r g . Ja. S o k r . Und wer die Heilkunst ein Heilkünstler ? Auch in den übrigen Dingen verhält es sich so in ganz gleicher Weise. W e r etwas gelernt hat, der gilt für einen solchen, wozu Jeden die betreffende Kunst macht. G o r g . Allerdings. S o k r . Ist denn nun nicht nach eben dieser Annahme auch der, welcher das Gerechte gelernt hat, gerecht? G o r g . Ganz ausser Zweifel.

27 S o k r. Der Gerechte aber handelt doch wohl gerecht ? G o r g. Ja. S o k r. Muss also nicht nothwendig der Redekünstler gerecht sein, der Gerechte aber gerecht handeln wollen ? G o r g . So scheint es zum wenigsten. S o k r . Nimmermehr also wird der Gerechte Unrecht thun wollen. G o r g . Nothwendig. S o k r . Der Redekünstler muss aber nothwendig unserer Annahme zufolge gerecht sein. G o r g . Ja. S o k r . Nimmermehr also wird der Redekünstler Unrecht thun wollen. G o r g . Es scheint wenigstens nicht. 15. S o k r . Erinnerst du dich nun an deine erst kurz vorher gegebene Erklärung, dass man es den Turnlehrern nicht als Schuld anrechnen, noch sie aus den Städten verjagen dürfe, wenn der Faustkämpfer Gebrauch von seiner Kunst macht und Unrecht dabei thut ? In ganz gleicher Weise müsse man eben so auch, wenn der Redner einen unrechten Gebrauch von der Redekunst mache, nicht dem, welcher sie lehrte, die Schuld beimessen, noch ihn aus der Stadt hinaustreiben, sondern dem, welcher Unrecht tKut, und von der Redekunst nicht den richtigen Gebrauch macht. W u r d e das gesagt, oder nicht ? G o r g . Es wurde gesagt. S o k r . Nun stellt sich aber doch zum wenigsten das heraus, dass eben dieser, der Redekünstler, schwerlich jemals Unrecht thut. Oder nicht? G o r g . So ist es offenbar. S o k r . So wurde ja auch gleich in unsern ersten Reden, o Gorgias, die Behauptung aufgestellt, die Redekunst habe es nicht mit Reden über das Gerade und Ungerade zu thun, sondern mit denen über Recht und Unrecht. Nicht wahr?

28 G o r g . Ja. So kr. Ich entgegnete nun, als du das damals behauptetest, dass in keinem Fall die Redekunst etwas Ungerechtes sein könne, da ihre Vorträge immer von der Gerechtigkeit handeln. Da du nun aber kurz nachher behauptetest, der Redner könne von der Redekunst wohl 46i auch einen unrechten Gebrauch machen, so wunderte ich mich darüber, und von der Ansicht ausgehend, deine Behauptungen seien in der Weise nicht mit einander im Einklang, machte ich jene Bemerkungen, dass es, wenn du es, wie ich, für einen Gewinn erachtetest, überführt zu werden, ganz angemessen' sei, die Unterredung fortzusetzen, wenn aber nicht, sie ganz aufzugeben. Du siehst aber doch auch selber ein, dass, als wir die Sache später nochmals in Erwägung zogen, wiederum zugegeben wurde, es sei gar nicht möglich, dass der Redekünstler einen unrechten Gebrauch von der Redekunst machen könne und Unrecht begehen wolle. Wie sich dieses nun eigentlich verhält, auf eine völlig befriedigende Weise zu erforschen, das ist, beim Hunde, o Gorgias, nicht die Aufgabe einer kurzen traulichen Unterredung. 16. P o l . Wie denn, o Sokrates, denkst auch du so über die Redekunst, wie du es eben aussprichst? Oder glaubst du etwa, dass Gorgias sich schämte, dir nicht ebenfalls beizustimmen, dass ein tüchtiger Redekünstler nicht auch das Gerechte und das Schöne und das Gute kennen müsse, und dass, wenn einer ohne diese Kenntniss zu ihm käme, er es ihn selber lehren müsse, und dass hernach in Folge dieses Zugeständnisses vielleicht etwas Widersprechendes in seine Reden gekommen sei ? Das ist es ja eben, was dir Freude macht, indem du selbst auf solche Fragen hinlenkst. Denn wer meinst du wohl werde es in Abrede stellen wollen, dass er das Recht selber kenne, und auch Andere darüber belehren werde? Aber

29 das Gespräch auf solche Dinge hinzulenken, wäre doch ein gar plumpes Verfahren. S o kr. O schönster Polos, aber ganz aus Grundsatz suchen wir ja in den Besitz von Freunden und Söhnen zu kommen, damit, wenn wir selber bei zunehmendem Alter auf Abwege gerathen sollten, ihr Jüngeren uns zur Seite stehen und unser Leben durch That und Wort berichtigen möget. Eben so sei auch du jetzt, wenn ich und Gorgias bei unserer Unterredung auf Abwege, gerathen, uns zur Seite und berichtige uns. Das kommt dir aber auch von Rechtswegen zu. Auch ich will ja gerne von den Zugeständnissen, wenn dir etwas nicht mit Recht zugestanden zu sein scheint, was du nur willst, zurücknehmen lassen, wenn du mir nur das Eine dabei beobachten möchtest. P o l . W a s willst du damit sagen ? S o k r. Wenn du deinen langen Reden, o Polos, Schranken setzen möchtest, deren du dich anfänglich zu bedienen vorhattest. P o l . Wie doch ? Soll es mir denn nicht freistehen, so viel zu sprechen, als ich will ? So k r . Das wäre ja eine schmerzliche Erfahrung für dich, o Rester, wenn du nach Athen gekommen wärest, wo die meiste Redefreiheit in Hellas herrscht, und du allein solltest dann daselbst darum gebracht werden. Nimm doch im Gegensatz davon an : »Wenn du weitläufig in deiner Rede würdest, und dich nicht dazu entschliessen könntest, auf meine Fragen zu antworten, würde nicht wiederum auch ich eine schmerzliche Erfahrung machen, wenn es mir nicht freistehn sollte, meines Weges zu gehn, und dich nicht anzuhören ?« Wenn dir indessen etwas an der «2 angeführten Untersuchung liegt, und du dieselbe berichtigen willst, wie ich eben erst sagte, so nimm zurück, was dir gutdünkt, und der Reihe nach fragend und dich fragen lassend, wie ich und Gorgias, widerlege und lasse

30 dich widerlegen. Denn du behauptest doch gewiss, dasselbe zu verstehen, was Gorgias. Oder nicht? P o l . J a das behaupte ich. S o k r . Demnach forderst auch du dazu auf, dich jedesmal zu fragen, was einer nur irgend will, wie ein Mann, der zu antworten versteht. P o l . J a allerdings. S o kr. So thue also auch jetzt, welches von beiden du willst; frage oder antworte. 17. P o l . Gut, das will ich thun. Und nun antworte mir, o Sokrates. D a dir Gorgias in Bezug auf die Redekunst in Verlegenheit zu sein scheint, was verstehst denn du unter derselben ? S o kr. Fragst du etwa, was für eine Kunst ich darunter verstehe ? P o l . J a das frage ich. S o k r . F ü r gar keine halte ich dieselbe, o Polos, um wenigstens dir gegenüber die Wahrheit zu reden. P o l . Was dünkt dich denn aber die Redekunst zu sein ? S o k r . Der Gegenstand, von dem du in der Schrift, die ich neulich las, behauptest, du habest sie als eine Kunst dargestellt. P o l . W a s verstehst du darunter? S o k r . Ich verstehe darunter eine Sache der Erfahrung. P o l . Also eine Sache der Erfahrung dünkt dich die Redekunst zu sein ? S o k r . J a so dünkt mich, wenn du sie nicht für etwas Anderes erklärst. P o l . Worin denn Sache der E r f a h r u n g ? S o k r . In der Bewirkung einer gewissen Annehmlichkeit und Lust. P o l . Scheint dir also nicht die Redekunst etwas Schönes zu sein, wobei man im Stande ist ^ den Menschen eine Annehmlichkeit zu bereiten.

31 S o kr. Wie denn, o Polos? Hast du denn schon von mir erfahren, wofür ich dieselbe erkläre, dass du noch weiter darnach fragst, ob sie mir nicht etwas Schönes zu sein bedünke ? P o l . Habe ich denn nicht vernommen, dass du behauptest, sie sei eine Sache der Erfahrung? So kr. Willst du nun, da du das Bereiten von Annehmlichkeiten so hoch anschlägst, etwa mir eine kleine Annehmlichkeit bereiten ? P o l . J a das möchte ich. So kr. Nun so richte die Frage an mich, was für eine Kunst m i r die Speisebereitung zu sein scheint. P o l . Ich frage dich also, was für eine Kunst ist die Speisebereitung? S o k r . Gar keine, o Polos. P o l . Was denn aber sonst? sprich. S o k r . Ich sage also, eine Sache der Erfahrung. P o l . Worin denn? sprich. S o k r . Ich sage also in der Bewirkung von Annehmlichkeit und Lust, o Polos. P o l . Eins und dasselbe also ist die Speisebereitung und die Redekunst? S o k r . Das keineswegs, sondern nur ein Theil desselben Geschäftsbetriebs. P o l . Was meinst du denn damit für eines? S o k r . Wenn es nur nicht etwas plump herauskommt, die Wahrheit zu sagen. Denn des Gorgias wegen trage ich wirklich Bedenken, es auszusprechen, damit er nicht denke, ich suche seinen eignen Geschäftszweig ins Lächerliche zu ziehen. Ich weiss aber noch gar nicht, ob das die Redekunst ist, aus welcher Gorgias ein Geschäft macht. Denn aus unserer eben angestellten Untersuchung ist uns 463 durchaus noeh nicht klar geworden, was sich derselbe eigentlich darunter denkt. Was ich aber die Redekunst

32 nenne, ist ein Theil eines Gegenstandes, der durchaus nicht zu den rühmlichen gehört. G o r g . Was denn für eines? Sage es nur heraus, ohne dich im Geringsten vor mir zu scheuen. 18. So kr. Sie scheint mir also, o Gorgias, zwar kein kunstmässiger Geschäftszweig zu sein, wohl aber der eines scharfblickenden, unternehmenden und schon von Natur im Umgang mit Menschen überlegenen Geistes. Als die Hauptsache dabei bezeichne ich die Schmeichelei. Von diesem Geschäftsbetrieb giebt es nun meines Erachtens noch viele andere Theile, deren einer auch die Kochkunst ist. Diese scheint nun zwar eine Kunst zu sein, wie aber meine Annahme besagt, ist sie keineswegs eine Kunst, sondern Sache der Erfahrung und Einübung. Als einen Theil derselben bezeichne ich auch die Redekunst, so wie die Kunst sich zu putzen und die sophistische Kunst, und das wären vier Theile für vier verschiedene Gegenstände. Wenn . mich also Polos ausfragen will, so mag er es thun. Denn er hat noch gar nicht darnach gefragt, für welchen Theil der Schmeichelei ich die Redekunst erkläre, sondern es ist ihm ganz entgangen, dass ich noch gar nicht darauf geantwortet habe; er fragt aber doch noch weiter, ob ich sie nicht für etwas Rühmliches halte. Ich werde ihm indessen nicht eher antworten, ob ich die Redekunst für etwas Rühmliches oder Entehrendes halte, bevor ich ihm vor allem Andern beantwortet habe, was sie ist. Denn das wäre ja nicht recht, o Polos. Wenn du es aber zu erfahren wünschest, so frage mich, für welchen Theil der Schmeichelei ich die Redekunst erkläre. P o l . So frage ich also, und du antworte, für welchen Theil. S o k r. Du wirst doch wohl meine Antwort verstehen ? Es ist nämlich die Redekunst nach meiner Erklärung das Schattenbild von einem Theile der Staatskunst.

33 P o l . Wie nun? Erklärst du dieselbe für etwas Rühmliches oder Entehrendes? S o k r . Ich erkläre sie für etwas Entehrendes. Denn das Böse nenne ich entehrend; da ich dir doch nun einmal antworten soll, als wüsstest du schon, was ich damit sagen will. G o r g . Bei dem Zeus, o Sokrates, ich selber verstehe ja nicht einmal, was du damit sagen willst. S o k r . Das ist ganz begreiflich, o Gorgias. Ich drücke mich j a noch gar nicht deutlich aus, aber der Polos da ist jung und feurig. G o r g . Lasse doch den nur ganz gehen, und sage mir, inwiefern du die Redekunst f ü r das Schattenbild von einem Theile der Staatskunst erklärst. S o k r . Nun so will ich anzugeben versuchen, was ich für eine Vorstellung von der Redekunst habe. W e n n sie das aber nicht wirklich ist, so mag mich Polos da widerlegen. D u nennst doch wohl etwas Leib und Seele? G o r g . W a r u m das nicht? 464 S o k r . Du glaubst demnach auch, dass es ein gewisses Wohlbefinden jedes dieser beiden gebe? G o r g . J a das glaube ich. S o k r . W i e denn ? Auch ein scheinbares Wohlbefinden, das gar nicht yorhanden ist? Ich meine zum Beispiel so : Viele scheinen sich in Bezug auf ihren Leib ganz wohl zu befinden, denen es nicht leicht Jemand anmerken w ü r d e , dass sie sich nicht Wohlbefinden, ausser nur ein A r z t , und einer von denen, die sich mit Leibesübungen abgeben. G o r g . Du hast Recht. S o k r . So etwas, sage ich, könne sowohl am Leibe als an der Seele vorkommen, was zu glauben veranlasst, Leib und Seele befanden sich wohl, wiewohl sie sich um nichts besser befinden. G o r g . So ist es. 3

34 19. S o k r . Wohlan denn, wenn ich kann, will ich dir noch deutlicher darlegen, was ich meine. Da der Gegenstände zwei sind, so nehme ich zwei Künste an. Die auf die Seele Bezug habende nenne ich Staatskunst, die aber auf den Leib bezügliche kann ich dir nicht so ohne W e i teres mit einem Namen bezeichnen; nehme indessen von dieser einen Behandlung des Leibes zwei Theile an, die gymnastische Kunst und die Heilkunst. In der Staatskunst betrachte ich als Gegenstück der gymnastischen Kunst die Kunst der Gesetzgebung, als Gegenstück der Heilkunst aber die Rechtskunde. J e zwei von ihnen, insofern sie sich auf einen Gegenstand beziehen, haben allerdings Manches mit einander gemein, die Heilkunst mit der gymnastischen Kunst, und die Rechtskunde mit der Kunst der Gesetzgebung. Gleichwohl sind sie aber auch in Manchem unter sich verschieden. D a es nun ihrer vier giebt, und sie immer das Beste bezweckend, die einen den Leib, die andern die Seele behandeln, so nimmt nun die Kunst zu schmeicheln nach einem blosen Gefühl, während sie, sage ich, nicht erkennt, sondern nur vermuthet, indem sie sich in ein Vierfaches vertheilt, und unter jedem einzelnen der Theile birgt, den Schein an, das zu sein, worunter sie sich b a r g , und kümmert sich gar nicht um das Beste, macht im Gegentheil durch das jedesmal Angenehmste J a g d auf den Unverstand, und hintergeht ihn, so dass sie gar viel werth zu sein scheint. Unter der Heilkunst nun hält sich die Kochkunst verborgen und giebt sich den Schein, die für den Leib besten Speisen zu kennen, so dass, wenn es sein müsste, dass vor Knaben oder vör Männern, die eben so unverständig als Knaben sind, ein Koch und ein Arzt einen Wettkampf zu bestehen hätten, wer von beiden sich auf gute und schlechte Speisen verstehe, der Arzt oder der K o c h , der Arzt gewiss Hungers sterben würde. Schmeichelei also nenne ich d a s , und behaupte, dass so 465 etwas entehrend sei, o Polos, — denn ich sage das zu dir —

35 weil sie das Angenehme zu treffen sucht, ohne Rücksicht auf das Beste. Für eine Kunst aber erkläre ich sie nicht, sondern für eine Sache der Erfahrung, weil sie durchaus keine Rechenschaft darüber zu geben vermag, von welcher natürlichen Beschaffenheit die Dinge sind, welche sie darbietet ; so dass sie also auch den Grund für jedes Einzelne gar nicht angeben kann. Wenn du indessen noch in Zweifel darüber bist, so bin ich bereit, dir Rede zu stehen. 20. Bei der Heilkunst liegt also, wie gesagt, die kochkünstlerische Schmeichelei zu Grunde, bei der gymnastischen Kunst aber in ganz gleicher Weise die putzkünstlerische, welche verderbenbringend, betrügerisch, unedel und unfreisinnig ist, indem sie durch allerlei angenommene Haltung, Farbentand, aufgewichstes Wesen und Kleiderputz täuscht, und es dahin bringt, dass die Leute fremde Schönheit an sich zu ziehen suchen, und die eigne, (ich meine) die durch die gymnastische Kunst bewirkte, ganz vernachlässigen. Damit ich nun nicht weitläufig werde, will ich mich gegen dich ausdrücken, wie die Messkünstler, — denn jetzt dürftest du mir wohl vielleicht folgen können, — dass, wie die Kunst sich zu putzen, zur gymnastischen Kunst, so verhalte sich die Kochkunst zur Heilkunst; lieber aber so : dass, wie die Kunst sich zu putzen zur gymnastischen Kunst, so die sophistische Kunst zur Kunst der Gesetzgebung, und dass wie die Kochkunst zur Heilkunst, so die Redekunst zur Rechtskunde. W i e ich indessen sage, unterscheiden sie sich so von Natur. Weil aber die genannten Gegenstände nahe unter sich verwandt sind, so gerathen auch bei derselben Angelegenheit und in Bezug auf dieselben Dinge die Sophisten und Redekünstler in Verwirrung, und wissen nicht, was sie weder mit sich selber anfangen sollen, noch die andern Leute mit ihnen. Denn wenn ja die Seele nicht dem Leibe vorstände, sondern dieser sich selber, und wenn nicht von derselben die Kochkunst und die Heilkunst genau erforscht und unterschieden würden, 3 *

36 sondern der Leib selber den Unterschied zu bestimmen hätte, indem er nach den für ihn erwachsenden Annehmlichkeiten abwägt, so würde die bekannte Lehre des Anaxagöras ins Weite gehen, mein lieber Polos. Du bist ja bekannt mit diesen Ansichten. Alle Dinge würden dann zusammen in Einem durcheinander gemischt, ohne dass das Heilkünstlerische und die Gesundheit Betreffende von dem Kochkünstlerischen geschieden würde. W o f ü r ich also die Redekunst erkläre, das hast du bereits gehört, für das Gegenstück der Kochkunst, und zwar das für die Seele, was jene für den Leib ist. Vielleicht habe ich nun freilich ein ungeeignetes Verfahren eingeschlagen, weil ich, während ich d i r lange Reden zu halten nicht gestatten wollte, meine Rede selbst bedeutend ausgedehnt habe. Doch ist es angemessen , hierbei Nachsicht mit mir zu haben. Denn als ich mich kurz in meiner Rede fasste, verstandest du mich nicht, und wusstest dir nicht recht zu helfen, was du mit der von mir gegebenen Antwort anfangen solltest, sondern bedurftest einer förmlichen Erörterung. Wenn nun auch ich nicht weiss, was ich mit deinen Antworten anfangen 166soll, so dehne auch du deine Rede aus, wenn ich es aber weiss, so lass mich dabei gewähren. Denn das ist billig. Und wenn du jetzt mit der von mir gegebenen Antwort etwas anzufangen weisst, so mache es nur so. 21. P o l . Was sagst du also? Schmeichelei dünkt dich die Redekunst zu sein ? S o k r. Nein vielmehr für einen Theil der Schmeichelei erklärte ich dieselbe. Hast du denn aber, so jung noch, gar kein Gedächtniss, o Polos? Was wirst du erst später thun? P o l . Scheinen dir denn etwa in den Staaten die guten Redner, wie Schmeichler, für schlechte Leute zu gelten ? S o k r . Stellst du eine förmliche Frage damit, oder machst du den Anfang mit irgend einer Rede ?

37 P o l . Ja ich frage. So k r . Mir zum wenigsten scheinen sie gar nichts zu gelten. P o l . Inwiefern nichts zu gelten? Haben sie denn nicht den grössten Einfluss in den Staaten ? S o k r . Nein, wenn du etwa Einfluss zu haben für etwas Gutes fiir den Mann von Einfluss erklärst. P o l . Dafür erkläre ich es nun allerdings. S o k r . Demnach scheinen mir die Redner den geringsten Einfluss unter den Leuten im Staate zu haben. P o l . Wie aber? Lassen sie denn nicht, wie unbeschränkte Machthaber, umbringen, wen sie wollen, und nehmen Hab und Gut weg, und verjagen aus den Staaten, wen ihnen gut dünkt ? S o k r . Bei dem Hunde! Dennoch, o Polos, bin ich bei jedem deiner Worte schwankend, ob du das selber behauptest, und deine eigne Ansicht darlegst, oder ob du mich fragst. P o l . Natürlich frage ich dich. S o k r . Gut, mein Freund. Fragst du mich denn aber zweierlei auf einmal ? P o l . Wie so zweierlei? S o k r . Drücktest du dich denn nicht eben erst ohngefähr so aus : Die Redner lassen, wen sie wollen, umbringen, wie unbeschränkte Machthaber, und nehmen Hab und Gut weg, und vertreiben aus den Staaten, wen ihnen gut dünkt? P o l . Ja das sagte ich. 22. S o k r . So sage ich dir denn, dass dieses zwei Fragen sind, und dass ich dir auf beide Antwort geben will. Ich behaupte nämlich, o Polos, dass sowohl die Redner, als die unbeschränkten Machthaber, nur einen sehr geringen Einfluss in den Staaten haben, wie ich bereits eben erklärte. Denn gar nichts, so zu sagen, können sie von

38 dem, was sie wollen, thun; wohl aber können sie das thun, was ihnen das Beste zu sein scheint. P o l . Heisst das demnach einen mächtigen Einfluss haben ? S o kr. Nein, wie zum wenigsten Polos behauptet. P o l . Ich soll nein sagen? Ich sage vielmehr ja. S o k r. Bei dem —! das sollst du nicht; da du ja sagtest, grossen Einfluss zu haben sei ein Gut für den Mann von Einfluss. P o l . Das sage ich freilich. S o k r . Glaubst du denn also, dass es etwas Gutes sei, wenn einer das thut, was ihm das Beste zu sein dünkt, ohne dass er Verstand hat? und nennst du das grossen Einfluss haben? P o l . Das glaube ich keineswegs. So kr. Also musst du beweisen, dass die Redner Verstand haben, und dass die Redekunst eine Kunst, aber keine Schmeichelei sei, wenn du mich widerlegen willst ? 467 Wenn du mich aber unwiderlegt lassen wirst, so werden die Redner, die in den Städten thun, was ihnen gut dünkt, und eben so die unbeschränkten Machthaber, gar nichts Gutes damit erwerben, wenn denn doch mächtiger Einfluss, wie du sagst, etwas Gutes ist; aber ohne Verstand was ihnen gut dünkt zu thun, muss, das gestehst auch du ein, ein Uebel sein ? Oder nicht ? P o l . Das gestehe ich ein. S o k r . Wie sollten denn nun wohl die Redner oder die unbeschränkten Machthaber grossen Einfluss in den Staaten haben, wenn Sokrates nicht von Polos überführt wird, dass sie thun, was sie wollen. P o l . Das ist mir ein Mann — S o k r . Ich sage, dass sie nicht bewirken, was sie wollen. Widerlege mich doch. P o l . Hast du denn nicht eben noch vor deinen letz-

39 ten Worten zugestanden, dass sie bewirken, was ihnen das Beste zu sein dünkt? So kr. Das gestehe ich auch jetzt noch zu. P o l . Also'bewirken sie, was sie wollen? S o k r . Ich sage nein dazu. P o l . Indem sie aber doch bewirken, was ihnen gut dünkt ? S o k r . Das bejahe ich. P o l . Verwegenes und ungeheueres Zeug sprichst du da, o Sokrates. S o k r . Mache mir doch keine Vorwürfe, o holdester Polos, dass ich dich nach deiner Weise anrede1, sondern wenn du mich zu fragen verstehst, so beweise, dass ich mich falsch ausdrücke; wenn aber nicht, so stehe mir selber Rede. P o l . Ja ich bin bereit, dir Rede gu stehn, damit ich erfahre, was du sagen willst. 23. S o k r . Scheinen dir denn nun die Menschen das zu wollen, was sie jedesmal thun, oder (vielmehr) das, um welches willen sie das thun, was sie thun ? Scheinen dir zum Beispiel diejenigen, welche Arzneien von den Aerzten einnehmen, das zu wollen, was sie thun, die Arznei einzunehmen und Schmerzen auszuhalten, oder Jenes, gesund zu werden, um welches willen sie einnehmen? P o l . Offenbar, gesund zu werden, um welches willen sie einnehmen. S o k r . So ist demnach auch bei denen, welche zu Schiffe gehen, oder andere Geschäfte auf Gewinn treiben, nicht dasjenige, was sie jedesmal thun, das, was. sie wollen. Denn wer mag gern zu Schiffe gehen, sich Gefahren aussetzen, und Widerwärtigkeiten haben ? Sondern Jenes, denke ich, weshalb sie zu Schiffe gehen, sich zu bereichern, denn der Bereicherung wegen gehen sie zu Schiffe. P o l . Allerdings.

40 So k r . Ist es denn nun nicht eben so mit allen andern Dingen? Wenn Jemand etwas um irgend willen thut, so will er nicht das, was er thut, sondern dasjenige, um welches willen er es thut? P o l . Ja. So kr. Giebt es denn nun etwas in der W e l t , was nicht entweder etwas Gutes oder Böses, oder zwischen diesen in der Mitte Liegendes, weder Gutes noch Böses ist? P o l . Das ist jedenfalls nöthig, o Sokrates. S o k r . Erklärst du demnach nicht die Weisheit und die Gesundheit und den Reichthum und andere Dinge der A r t für etwas Gutes, aber das diesen Entgegengesetzte für etwas Böses ? P o l . J a so meine ich. S o k r . Unter dem weder Guten noch Bösen verstehst du aber doch solche Dinge, welche bisweilen mit dem Guten 46azusammenhängen, bisweilen mit dem Bösen, bisweilen mit keinem von beiden, wie sitzen und gehen und laufen und schiffen, und wiederum wie Steine und Holz, und andere Dinge dieser A r t ? Verstehst du das nicht darunter? Oder nennst du etwas anderes weder gut noch böse ? P o l . Nein, sondern dieses. S o k r . Thun denn nun die Leute dieses in der Mitte Liegende um des Guten willen, wenn sie es thun, oder das Gute um des in der Mitte Liegenden willen? P o l . Das in der Mitte Liegende doch wohl um des Guten willen. S o k r . Das Gute also verfolgend gehen wir auch, wenn wir gehen, weil wir es fiir besser halten, und stehen im Gegentheil, wenn wir stehen, um des Nämlichen, des Guten willen. Oder nicht? P o l . Ja. S o k r . Also bringen wir auch ums Leben, wenn wir Jemanden ums Leben bringen, und verjagen ihn und rauben

41 ihm Hab und G u t , weil wir es für zuträglicher für uns halten, dieses zu thun, als es zu lassen. P o l . Allerdings. S o k r. Also um des Guten willen thun dieses Alles diejenigen, welche es thun. Pol.

Das sage ich.

24. S o k r . Haben wir nun nicht zugestanden, dass wir nicht das wollen, was wir um irgend eines Gegenstandes willen thun, sondern dasjenige, um welches willen wir dasselbe thun? P o l . A u f jeden Fall. S o k r . W i r wollen also nicht hinmorden, noch aus dem Staate veijagen, noch um Hab und Gut bringen, so ganz ohne W e i t e r e s , sondern, wenn uns das wirklich von Nutzen i s t , wollen wir es thun, wenn es indessen zum Nachtheil gereicht, wollen wir es nicht. Denn das Gute wollen wir, wie du sagst, aber das weder Gute noch Böse wollen wir nicht, so wenig als das Böse. Nicht wahr? Glaubst du, dass ich Recht habe, o P o l o s , oder nicht? Warum antwortest du denn nicht? P o l . J a du hast Recht.. So kr. W e n n wir also dieses zugestehen, so thut, wenn Jemand irgend einen umbringen lässt, oder aus dem Staate verjagt, oder ihm Hab und Gut raubt, sei er nun ein unbeschränkter Machthaber oder ein Redner, in der Meinung, dass es zuträglicher für ihn sei, während es doch in der That schlimmer ist, dieser doch gewiss, was ihm gut dünkt. Nicht wahr? Pol.

Ja.

S o k r . E t w a aber auch, was er will, wenn das wirklich böse ist? W a r u m antwortest du denn nicht? Pol. er will.

Nein doch.

E r scheint mir nicht zu thun, was

S o k r . Ist's denn nun möglich, dass ein solcher in der oben bezeichneten- Stadt einen grossen Einfluss habe, wenn

42 grossen Einfluss zu haben nach deinem Zugeständniss etwas Gutes i s t ? Pol.

Das ist nicht möglich.

S o k r. Ganz Recht hatte ich also, wenn ich behauptete, es sei möglich, dass ein Mensch, der im Staate thut, was ihm gut dünkt, keinen grossen Einfluss h a b e , noch das thue, was er will. . P o l . Ganz begreiflich also, o Sokrates, würde es dir nicht erwünscht sein, wenn es dir freistände, im Staate zu thun, was dir gut dünkt, lieber als gar nicht, noch würdest du eifersüchtig sein, wenn du einen sähest, der entweder wen ihm gut dünkte ums Leben brachte, oder Hab und Gut raubte, oder in Fesseln warf. S o k r . Meinst du mit Recht oder mit Unrecht? P o l . W i e er es auch thun mag, ist er nicht in beiden 469 Fällen zu beneiden ? S o k r . Vergiss dich nicht mit Worten, o Polos. P o l . W i e so? Sokr. Weil man weder die Nichtbeneidenswerthen, noch die Unglücklichen beneiden, im Gegentheil sie bedauern soll. P o l . E i wie denn? Scheint es dir denn so mit denjenigen Menschen zu stehen, von welchen ich rede ? Sokr.

Warum das nicht?

P o l . W e r demnach, wen ihm gut dünken mag, ums Leben bringt, und selbst mit Recht umbringt, der scheint dir unglückselig und bemitleidenswerth zu sein? S o k r . Das scheint er mir gerade nicht, auch nicht beneidenswerth.

aber

doch

P o l . Hast du denn nicht eben erst behauptet, er unglückselig sei?

dass

S o k r . Von dem zum wenigsten, o Freund, welcher mit Unrecht ums Leben bringt, und dass er dazu noch bedauernswerth, von dem aber, welcher mit R e c h t , dass er nicht zu beneiden sei.

43 P o l . Ist denn da wohl der, welcher mit Unrecht sterben muss, bemitleidenswerth und unglückselig? S o kr. Weniger als der, welcher ihn umbringen lässt, o Polos, und weniger auch, als der, welcher mit Recht sterben muss. P o l . Wie so denn, o Sokrates? S o k r. Gerade so, wie Unrecht thun das grösste aller Uebel ist. P o l . Ist das wirklich das grösste? Ist nicht Unrecht leiden ein noch grösseres? S o k r . Nichts weniger als das. P o l . Du möchtest also wohl lieber Unrecht leiden, als Unrecht thun? S o k r . Ich für meine Person möchte keines von beiden. Wenn es indessen durchaus sein müsste, Unrecht zu thun oder Unrecht zu leiden, so würde ich vorziehen, lieber Unrecht zu leiden, als Unrecht zu thun. P o l . Du würdest es also nicht für wünschenswerth erachten, eine unbeschränkte Macht zu besitzen? S o k r . Nein, wenn du anders unter dem Besitz einer unbeschränkten Macht dasselbe verstehst, was ich. P o l . Ich verstehe natürlich darunter, wie eben bemerkt wurde, das, dass es Einem in dem Staate freistehe, das zu thun, was ihm gut dünkt, dass er ums Leben bringen, aus dem Lande jagen, und Alles nach eignem Gutdünken thun kann. 25. S o k r . O lieber Bester, höre doch meine weiteren Erörterungen und mache deine Einwendungen dagegen. Wenn ich vor einer Masse Menschen auf dem Markte einen Dolch unter die Achsel nähme und zu dir spräche : o Polos, so eben ist mir da eine wunderbare Macht und Herrschaft zugefallen. Wenn es mir nämlich gut dünken sollte, dass einer der Menschen, die du hier siehst, gleich auf der Stelle des Todes sein müsste, so wird derjenige, von dem es mir gut dünkt, sofort sterben müssen; und

44 wenn es mir gut dünkt, dass einem derselben etwas am Kopf zerschlagen würde, so wird es ihm gleich auf der Stelle zerschlagen sein, und wenn, dass einem das Kleid zerrissen würde, so wird es zerrissen sein. Einen so mächtigen Einfluss habe ich in dieser Stadt. Wenn du es nun nicht recht glauben wolltest, und ich dir den Dolch vorzeigte, so würdest du mir vielleicht bei seinem Anblick sagen : in der A r t , o Sokrates, können freilich Alle einen mächtigen Einfluss haben; da könnte ja auf diese "Weise jedes Haus, das dir gut dünkte, in Brand gesteckt werden, so wie die Schiffswerfte der Athenäer, und die Kriegsgaleeren, und alle andern Fahrzeuge, sowohl die dem Staate angehörigen, als die, welche persönliches Eigenthum sind. Aber das heisst ja nicht mächtigen Einfluss haben, wenn einer thut, was ihm gut dünkt. Oder dünkt d i c h so? P o l . 'So ganz gewiss nicht. S o k r. Könntest du mir nun wohl angeben, warum du einen solchen Einfluss tadelst ? P o l . J a das kann ich. S o k r . Warum denn? Sprich. P o l . Weil nothwendig der, welcher so zu Werke geht, in Schaden kommen muss. S o k r . Ist denn aber in Schaden zu kommen nicht etwas Böses ? P o l . Allerdings. S o k r . Demnach, o Wunderbarer, scheint mir wiederum andererseits grossen Einfluss zu haben, vorausgesetzt, dass es für den, der nach Gutdünken handelt, die Folge hat, dass er zu seinem Vortheil handelt, etwas Gutes zu sein, und gerade darin besteht, allem Anschein nach, grosser Einfluss; wenn aber nicht, etwas Böses und in der That ein nur geringer Einfluss zu sein. Wir wollen indessen auch noch Folgendes in Erwägung ziehen. Nicht wahr? wir sind doch darin einverstanden, dass es bisweilen wohl besser sei, das zu thun, wovon wir eben sprachen, Men-

45 sehen ums Leben bringen zu lassen, aus dem Lande zu treiben, und ihnen Hab und Gut zu nehmen, bisweilen aber auch nicht ? P o l . Allerdings. S o k r . Es wird also dieses, allem Anschein nach, sowohl von dir, als von mir zugestanden ? P o l . Ja. S o k r . Wann nun behauptest d u , dass es besser sei, dieses zu thun? Sprich, welche Begriffsbestimmung du darüber festsetzest? P o l . Du vielmehr selbst, o Sokrates, beantworte diese deine (an mich gerichtete) Frage. S o k r . Nun so behaupte ich denn, o Polos, wenn es dir lieber ist, es von mir zu hören, dass es, wenn Einer dieses mit Recht thut, besser sei, wenn aber mit Unrecht, schlimmer. 26. P o l . J a es hat seine Schwierigkeiten, dich zu widerlegen, o Sokrates. Sollte- aber nicht selbst ein Kind dich widerlegen können, dass du nicht Recht hast? S o k r . Grossen Dank werde ich es also dem Kinde wissen, gleichen aber auch dir, wenn du mich widerlegst, und von der Faselei befreist. Ermüde daher ja nicht, einem guten Freunde eine Wohlthat zu erweisen, sondern widerlege mich. P o l . Gewiss aber, o Sokrates, ist es gar nicht nöthig, dich mit alten Geschichten zu widerlegen; denn das, was gestern und ehegestern geschah, schon das ist hinreichend, dich zu widerlegen und den Beweis zu führen, dass viele Menschen, welche Unrecht thun, glückselig sind. S o k r . Was wäre denn d a s ? P o l . Du siehst doch gewiss, dass der bekannte Archelaos, des Perdikkas Sohn, über Makedonien herrscht? S o k r . Wenn auch das gerade nicht, so höre ich es doch zum wenigsten.

46 P o l . Dünkt er dich nun glückselig oder unglücklich zu sein? S o k r . Das weiss ich nicht, o Polos, ich bin ja noch nie mit dem Manne zusammengekommen. P o l . Wie denn? Wärest du mit ihm zusammengekommen, so würdest du es wohl wissen, sonst aber von selber weisst du es nicht, dass er glückselig ist. S o k r . Bei Zeus ganz gewiss nicht. P o l . Es ist also klar, dass du nicht einmal von dem grossen König zu wissen behaupten wirst, dass er glückselig ist. S o k r . Und ganz der Wahrheit gemäss werde ich das sagen. Ich weiss ja nicht, wie es um seine Bildung und Rechtlichkeit steht. P o l . Wie aber ? Besteht denn darin die ganze Glückseligkeit ? S o k r . Wie zum wenigsten ich behaupte, o Polos. Von dem Braven und Rechtschaffenen, Mann wie Frau, behaupte ich, dass er glückselig, von dem Ungerechten und Schlechten aber, dass er unglücklich sei. «1 P o l . Unglücklich also ist der genannte Archelaos nach deiner Annahme? S o k r . Natürlich, o Freund, sobald er ungerecht ist. P o l . Wie sollte er denn aber nicht ungerecht sein? Zum wenigsten gieng ihn die Herrschaft, die er jetzt besitzt, gar nichts an, da er von einer Frauensperson stammt, die dem Alketas, dem- Bruder des Perdikkas, als Sklavin angehörte, und er also dem Rechte nach ein Sklave des Alketas w a r ; und wenn er den Rechten nach handeln wollte, so musste er dem Alketas als Sklave dienen, und war glückselig nach deiner Annahme. Nun aber ist er zum Erstaunen unglücklich geworden, da er das grösste Unrecht begangen hat. E r Hess bekanntlich zuerst eben diesen seinen Gebieter und Oheim zu sich beschicken, um ihm die Herrschaft zurückzugeben, die ihm Perdikkas ent-

47 rissen hatte, bewirthete ihn und dessen Sohn Alexandros, seinen Vetter, und so ziemlich mit ihm von gleichem Alter, gastfreundlich, und machte sie betrunken, warf sie auf einen Wagen, schaffte sie bei Nacht fort, brachte sie beide gewaltsam ums Leben und machte sie spurlos verschwinden; und indem er dieses Unrecht verübte, entgieng es ihm gänzlich, dass er höchst unglücklich geworden, fühlte auch gar keine Reue darüber, sondern kurz darauf, ohne den Wunsch glückselig zu werden, zog er seinen eheleiblichen Bruder, den Sohn des Perdikkas, einen etwa siebenjährigen Knaben, dem die Herrschaft dem Rechte nach zukam, nicht, wie es Recht war, heran, und gab ihm die Herrschaft zurück, sondern warf ihn in einen Brunnen hinein und ertränkte ihn, und sagte zu seiner Mutter Kleopatra, es sei derselbe eine Gans verfolgend hineingestürzt und umgekommen. Demgemäss nun, insofern er das grösste Unrecht unter den Leuten in Makedonien begangen hat, ist er der Unglücklichste aller Makedonier, aber nicht der Glückseligste, und es ist vielleicht gar mancher Athenäer, der besonders nach deinem Vorgänge lieber jeder andere Makedonier sein möchte, als Archelaos. 27. S o k r. Gleich im Anfang unserer Unterredungen, o Polos, habe ich dich gelobt, dass du mir in Bezug auf die Redekunst gut ausgebildet zu sein, die Kunst der (wissenschaftlichen) Unterredung indessen vernachlässigt zu haben scheinst. Und was Anderes ist denn nun die bezeichnete Rede, wodurch mich selbst ein Kind widerlegen dürfte, und ich auch jetzt von dir, wie du glaubst, durch diese Rede widerlegt worden bin, indem ich behaupte, dass der, welcher Unrecht thut, nicht glückselig s e i ? Woher denn, o Guter ? Ich gebe dir j a doch von alle dem, was du da "vorbringst, auch nicht das Geringste zu. • P o l . D u willst nämlich nicht, wiewohl so darüber denkst, wie ich mich ausspreche.

du gerade

48 S o ' k r . O lieber Bester, nach Rednerart versuchst du mich zu widerlegen, wie die, welche Andere in den Gerichtshöfen zu widerlegen vermeinen. Denn auch dort glauben die Einen die Andern zu widerlegen, wenn sie für die Angaben, die sie machen, viele und achtbare Zeugen beibringen können, derjenige aber, welcher das Gegentheil behauptet, etwa nur einen oder gar keinen beibringen kann. 472

Diese Widerlegung aber ist ohne allen Werth, um die Wahrheit zu ermitteln. Denn in manchen Fällen dürfte wohl auch Jemand dem falschen Zeugniss vieler und ganz geachteter Männer unterliegen müssen. So werden dir auch jetzt in Bezug auf das, was du sagst, so ziemlich alle Athenäer und Fremden ihre volle Zustimmung geben. Wenn du aber Zeugen gegen mich beibringen willst, dass ich nicht Recht habe, so werden, wenn du es wünschest, Nikias, des Nikeratos Sohn, und mit ihm seine Brüder Zeugniss für dich ablegen, vbn denen die Dreifüsse herrühren, welche der Reihe nach in dem Dionysion aufgestellt sind, auch wenn du es wünschest, Aristokrates, des Skellios Sohn, von welchem ebenfalls das bekannte schöne Weihgeschenk zu Pytho herrührt, und wenn du es weiter wünschest, des Perikles ganzes H a u s , oder irgend eine andere Familie, die du dir ganz nach Belieben unter den hiesigen auswählen kannst. Aber ich für mich allein gebe dir's nicht zu. Denn du überführst mich nicht durch überzeugende Beweise, sondern, indem du viele falsche Zeugen gegen mich beibringst, versuchst du mich aus meinem Besitz und dem Gebiete des Wahren hinauszuwerfen. Ich indessen, wenn ich nicht dich selber, den Einzelnen, als Zeuge beibringen kann, der mir in dem, was ich sage, beistimmt, glaube nichts der Rede Werthes für mich zu Stande gebracht zu haben in Bezug auf das, was der Gegenstand unserer Unterredung ist; ich glaube aber auch nicht einmal für dich, wenn nicht ich, der ich ganz allein bin, Zeugniss für dich ablege, und du diese Andern

49 da allesammt ganz unbeachtet lassest. Es ist nun zwar dieses eine Art von Beweisführung, wie du glaubst und viele Andere. Es giebt aber auch noch eine andere, die ich wiederum als solche betrachte. Wir wollen sie also neben einander stellen und zu erforschen suchen, ob sie sich in etwas von einander unterscheiden werden. Zudem ist j a auch das, worüber wir streiten, gar keine Kleinigkeit, sondern gerade ein solcher Gegenstand, den zu kennen höchst rühmlich, ihn nicht zu kennen, höchst schimpflich ist. Denn die Hauptsache dabei ist, bekannt oder unbekannt damit zu sein, wer glückselig ist und wer nicht. So hältst du es, um gleich ein Beispiel anzuführen, was jetzt Gegenstand unserer Untersuchung ist, für möglich, dass ein Mann, der ungerecht handelt, und dabei auch ungerecht ist, hochbeglückt sei, wenn du den Archelaos zwar für ungerecht hältst, aber doch für glückselig. Nicht wahr? wir sollen dieses als deine Ansicht betrachten? P o l . Allerdings. 28. S o k r . Izu dem Verluste ihres ursprünglich gesunden Fleisches geben, sondern diejenigen, welche gerade zur Zeit um sie sind, und ihnen Rath ertheilen, wenn nun die damalige Ueberfiillung zum Vorschein kommt, und ihnen nach geraumer Zeit eine Krankheit zuzieht, da ja dieselbe ohne Berücksichtigung der Gesundheit statt gefunden; diesen (sage ich) werden sie die Schuld beimessen, und sie tadeln, und ihnen, wenn sie es anders vermögen, Uebels zufügen, jenen früheren aber, die eigentlich Schuld an ihren Leiden sind, werden sie Lobeserhebungen machen. Auch du, o Kallikles, gehst jetzt auf eine diesem ganz ähnliche Weise zu Werke : du machst Menschen Lobeserhebungen, welche dieselben (die Athenäer) vollauf mit dem bewirthet haben, wonach ihnen gelüstete, und von denen sie sagen, dass sie den Staat gross gemacht hätten. Dass er aber nur aufgedunsen und bis in das Innere schadhaft ist durch jene Genannten aus alter Zeit, das werden sie gar nicht gewahr. Denn ohne BI» Ueberlegung und Sinn für Recht haben sie die Stadt mit Seehafen, Schiffswerften, Mauerwerken und Einfuhrzöllen und dergleichen Possen überfüllt. Wenn nun der regelmässige Fieberanfall der Krankheit selber eintritt, so werden sie die zur Zeit anwesenden Rathgeber anschuldigen, dem Themistokles aber, so wie dem Kimon und Perikles, den (eigentlichen) Urhebern der Leiden, werden sie Lobeserhebungen machen. Dich aber werden sie vielleicht angreifen, wenn du nicht auf deiner Hut bist, so wie meinen Freund Alkibiades, wenn sie neben dem, was sie eroberten, auch noch das Alte dazu verlieren, während ihr nicht die

134 (eigentlichen) Urheber der Leiden seid, sondern vielleicht nur Miturheber derselben. Gleichwohl sehe ich, dass auch jetzt etwas ganz Unvernünftiges vorgeht, und höre es auch von Männern aus alter Zeit. Ich mache nämlich die Wahrnehmung, dass, wenn der Staat gegen irgend einen der Staatsmänner wie gegen einen Unrechtthuenden einschreitet, diese ungehalten sind und ganz kläglich thun, als wenn ihnen noch so Arges widerfahre. Sie nämlich, die dem Staate viele erspriessliche Dienste geleistet hätten, würden widerrechtlich von demselben ins Verderben gezogen, wie ihre Angabe lautet. Das ist aber die vollständige Unwahrheit. Denn schwerlich dürfte auch nur ein einziger Vorsteher eines Staates jemals widerrechtlich von dem Staate selber ins Verderben gezogen werden, welchem er vorsteht. Es scheint nämlich ganz dasselbe der Fall mit denen zu sein, die sich für Staatsmänner, wie mit denen, die sich für Sophisten ausgeben. Denn auch die Sophisten, so gescheit sie auch in andern Dingen sind, begehen hierin eine förmliche Ungereimtheit. Denn während sie versichern, Lehrer der Tugend zu sein, führen sie doch gar oft Klage über ihre Schüler, dass sie ihnen sogar persönlich Unrecht thäten, indem sie ihnen den Lohn vorenthielten und auch sonst keine Dankbarkeit erwiesen, da denselben doch nur Gutes von ihnen widerfahren sei. Und welches Verfahren könnte wohl unvernünftiger sein, als dieses Vorgeben, dass Menschen, die gut und gerecht geworden sind, denen die Ungerechtigkeit von ihrem Lehrer benommen worden ist, und die sich (nun) im Besitz der Gerechtigkeit befinden, gerade darin ungerecht sein sollen, was gar nicht bei ihnen vorkommt ? Scheint dir das nicht ungereimt zu sein, o Freund? Eine förmliche Rede zu halten hast du mich gezwungen, o Kallikles, weil du mir nicht antworten mochtest. 75. K a l l . Solltest du denn gar nicht im Stande sein zu sprechen, wenn dir nicht Jemand antwortet?

135 S o k r. Es scheint fast so. Jetzt zum wenigsten dehne ich meine Reden gehörig in die Länge, da du mir nicht antworten magst. Aber, o Guter, sage mir doch bei dem Hort der Freundschaft, scheint es dir denn nicht unvernünftig zu sein, wenn Einer behauptet, er habe Jemanden gut gemacht, und demselben nun vorwirft, dass er, nachdem er gut durch ihn geworden, und es wirklich ist, dennoch schlecht sein soll? K a l l . Mir zum wenigsten scheint es so. S o k r. Hörst du denn nicht ähnliche Aeusserungen von solchen, welche vorgeben, dass sie die Menschen zur Tugend heranziehen? K a l l . Das höre ich freilich. Aber was wolltest du wohl von Menschen sagen, die gar nichts werth sind? 520 S o k r . Was wolltest du denn aber von Jenen sagen, welche vorgeben, dass sie dem Staate vorstehen und fiir ihn' sorgen, dass er so gut als möglich werde, und die ihn dann wieder, wenn es sich gerade trifft, als ganz schlecht anklagen ? Glaubst du denn, dass irgend ein Unterschied zwischen diesen und jenen statt finde? Ganz dasselbe, o Glücklicher, ist Sophist und Redner, oder etwas Nahverwandtes und so ziemlich Gleiches, wie ich mich auch geigen Polos aussprach. Du aber denkst aus Unkunde, das Eine, die Redekunst, sei etwas gar Schönes, das Andere aber verachtest du. In Wahrheit jedoch ist die sophistische Kunst um so viel schöner, als die Redekunst, wie die Gesetzgebung schöner, als die Rechtspflege, und die gymnastische Kunst schöner, als die Heilkunde ist Ich hingegen dachte, nur allein den Volksrednern und Sophisten komme es nicht zu, gerade Demjenigen Vorwürfe zu machen, was sie selber auszubilden suchen, als wenn es schlecht gegen sie verfahre, oder sie müssen mit ganz derselben Angabe zugleich sich selber anklagen, dass sie denen gar nichts genützt haben, denen sie doch zu nützen vorgeben. Verhält es sich nicht so ?

136 K a l l . Allerdings. S o k r . Und so kam es auch, -wie sich das von selbst versteht, vorzugsweise diesen zu, ihre Wohlthat doch zum wenigsten ohne Lohn zu spenden, wenn ich anders Recht hatte. Wenn nämlich Jemand irgend eine andere Wohlthat empfangen hätte, wenn er zum Beispiel schnell durch den Turnlehrer geworden wäre, so könnte er ihm wohl vielleicht den Dank ganz vorenthalten, wenn es ihm der Turnlehrer so hingehen Hesse, und er nicht der über den Lohn getroöenen Uebereinkunft gemäss so viel möglich gleichzeitig, sobald er ihm die Schnelligkeit mitgetheilt, auch zu seinem Gelde käme. Denn nicht durch Langsamkeit, denke ich, begehen die Menschen Unrecht, sondern durch Ungerechtigkeit. Nicht wahr? K a l l . Ja. S o k r . Wenn demnach Jemand eben dieses ganz entfernt, (ich meine) die Ungerechtigkeit, so hat es durchaus keine Gefahr für ihn, dass ihm jemals Unrecht widerfahren werde, sondern er allein kann mit voller Sicherheit die betreffende Wohlthat spenden, wenn anders Jemand wirklich im Stande ist, die Leute gut zu machen. Ist es nicht so? K a l l . Das sage ich. 76. S o k r . Darum ist es denn auch, wie es scheint, durchaus nichts Entehrendes, in andern Dingen mit Rath an die Hand zu gehen, und Geld dafür zu nehmen, zum Beispiel in Sachen des Bauwesens und anderer Künste. K a l l . So scheint es wohl. S o k r . Aber gerade bei dem Verfahren, in welcher Weise Jemand so gut als möglich werden und sein Hauswesen oder seinen Staat am besten verwalten könne, seine Rathschläge ausdrücklich zu verweigern, wenn einem J e mand kein Geld dafür bezahle, wird für entehrend gehalten. Nicht wahr? K a l l . Ja.

137 S o k r. Denn es ist klar, dass dieses die Veranlassung ist, dass gerade diese allein unter den Wohlthaten den, der Gutes empfangt, mit dem Verlangen erfüllt, wieder Gutes zu thun, so dass es ein erfreuliches Zeichen zu sein scheint, wenn der, welcher Gutes mit dieser Wohlthat erwies, wieder Gutes dafür empfangt, wenn aber nicht, dann keineswegs. Verhält es sich denn wirklich so damit? K a l l . Ja so ist es. So kr. Zu welcher Behandlungsweise des Staates for-521 derst du mich also auf? Gieb mir eine bestimmte Erklärung. Zu derjenigen, dass ich es bei den Athenäern durchzusetzen suche, dass sie so gut als möglich werden, wie es der Arzt macht, oder dass ich ihnen dienstbar sei, und mit ihnen umgehe, um ihre Gunst zu erlangen ? Sage m i r ' d i e Wahrheit, 0 Kallikles, denn von Rechtswegen kommt es dir zu, mir, wie du mit einer freimüthigen Sprache gegen mich begannst, bis an's Ende zu sagen, was du denkst. Auch jetzt sprich dich offen und ehrlich aus. K a l l . So sage ich denn, dass du ihnen dienstbar sein sollst. S o k r. Also den Schmeichler zu machen, o Edelster, forderst du mich auf? K a l l . Wenn es dir etwa beliebt, einen solchen Menschen einen Myser zu nennen, o Sokrates. Denn wenn du das nicht thun willst — S o k r. Sage mir nur nicht, was du schon so oft ausgesprochen hast, dass mich alsdann um's Leben bringen wird, wer Lust dazu hat, damit nicht wiederum auch ich dir zu sagen brauche, dass er das als ein Bösewicht an einem braven Manne thun würde; noch, dass er mich berauben wird, wenn ich etwas habe, damit nicht wiederum ich zu sagen brauche, ja und wenn er mich 'darum beraubt hat, so wird er nicht wisäfen, was er damit anfangen soll; sondern, wie er es widerrechtlich geraubt hat, so wird er es, nachdem er es an sich gezogen, auch widerrechtlich

138 gebrauchen. Wenn aber widerrechtlich, schmachvoll; wenn aber schmachvoll, zu seinem Unheil. 77. K a l l . Wie fest scheinst du mir zu vertrauen, o Sokrates, es werde dir durchaus nichts von alle dem begegnen, als wohntest du ganz aus dem Wege, und könntest nicht vielleicht von einem ganz verworfenen und nichtswürdigen Menschen vor Gericht gezogen werden! S o k r . Dann bin ich freilich in Wahrheit unverständig, o Kallikles, wenn ich nicht glaube, dass in dieser Stadt hier einem Jeden alles Mögliche begegnen könne. Das indessen weiss ich recht gut, dass es, wenn ich in irgend einer der Beziehungen, welche du angiebst, gefährdet, vor Gericht erscheinen muss, nur ein Bösewicht sein wird, der mich vor die Schranken bringt. Denn kein rechtschaffener Mann wird einen Menschen, der nichts Unrechts thut,*vor Gericht ziehen. Auch wäre es da gar kein Wunder, wenn ich meinen Tod fände. Willst du, dass ich dir sage, warum ich das erwarte? K a l l . Allerdings. S o k r . Ich glaube Hur mit einigen wenigen Athenäern, damit ich nicht sage ganz allein, mich mit der wahren Staatskunst zu beschäftigen, und unter den Jetztlebenden ganz allein Staatsangelegenheiten zu betreiben. Da ich nun in meinen Reden, die ich jedesmal halte, nicht um Gunst zu erlangen spreche, sondern zum Zweck des Besten, nicht aber zum Zweck des Angenehmsten, und das nicht thun mag, was du mir anpreisest, ich meine die obengenannten Herrlichkeiten, so werde ich nicht wissen, was ich vor Gericht sagen soll. Dann tritt aber derselbe Fall für mich ein, dessen ich schon gegen Polos erwähnte. Ich werde nämlich gerichtet werden, wie allenfalls unter Kindern ein Arat gerichtet werden dürfte, wenn der Koch klagend gegen ihn aufträte. Denn überlege nur, was könnte wohl ein solcher Mensch, über solchen Dingen ergriffen, zu seiner Vertheidigung sagen, wenn ihn irgend Einer anklagte

139 und spräche : o Kinder, gar viel Schlimmes hat dieser Mann da an euch verübt, indem er euch, und zwar gerade die jüngsten unter euch, ins Verderben zieht, und euch durch Schneiden und Brennen und Abmagern und Würgen zur Verzweiflung bringt, der euch die bittersten Tränke 522 reicht, und Hunger und Durst zu leiden zwingt, gar nicht wie ich, der ich euch viele und mancherlei,Süssigkeiten reichlich auftischte. Was glaubst du wohl, dass ein von solcher Noth umstrickter Arzt zu sagen wissen werde? Oder wenn er die Wahrheit sagen wollte : das Alles that ich, o Kinder, mit Rücksicht auf euere Gesundheit, was für ein Geschrei meinst du wohl würden solche Richter erheben? Nicht ein lautes? K a l l . Vielleicht. Man sollte es zum wenigsten denken. S o kr. Glaubst du demnach, dass er sich in der grössten Verlegenheit befinden werde, was er sagen soll? K a l l . Allerdings. 78. S o kr. Eine solche Erfahrung, das weiss ich, würde sicherlich auch ich zu machen haben, wenn ich vor Gericht erschiene. Denn ich werde nicht vermögen, ihnen Annehmlichkeiten anzuführen, die ich ihnen verschafft habe, welche dieselben für Wohlthaten und erspriessliche Dienstleistungen halten; ich aber bin weder eifersüchtig auf die, welche sie verschaffen, noch auf die, welchen sie verschafft werden. Und wenn Jemand behaupten sollte, dass ich die jungen Leute verderbe, weil ich sie in Verlegenheit bringe, oder dass ich auf die alten Leute schelte, indem ich ihnen persönlich o,der öffentlich bittere Worte sage, so werde ich weder die Wahrheit zu reden vermögen : Ganz mit Recht sage ich dieses Alles, und handle darin nur zu euerem Vortheil, ihr Richter; noch sonst etwas Anderes : so dass ich vielleicht Alles, was irgend über mich kommen mag, werde erleiden müssen. Kall.

Glaubst du denn nun wohl, o Sokrates, dass

140 es gut um einen Menschen stehe, der sich im Staate in einer solchen Lage befindet, und ausser Stand ist, sich selber zu helfen? So kr. Wenn ihm zum wenigsten das zu Statten kommt, o Kallikles, was du oftmals zugestanden hast; wenn er sich nur darin Hülfe verschafft hat, weder gegen Menschen noch gegen Götter etwas Ungerechtes weder gesagt noch gethan zu haben. Denn diese Art von Hülfe, das ist zum Oefteren von uns zugestanden worden, ist die beste, die man sich selber leisten kann. Wenn mich nun Jemand überführte, dass ich ausser Stande sei, diese Hülfe mir selber und einem Andern zu leisten, so würde ich mich natürlich schämen, wenn ich dessen vor Vielen oder vor Wenigen oder auch nur unter vier Augen überführt würde; und wenn ich in Folge dieses Unvermögens sterben müsste, so würde mir das natürlich wehe thun. Wenn ich aber aus Mangel an schmeichlerischer Redekunst mein Leben beschliessen müsste, so weiss ich recht gut, dass du dann sehen würdest, wie leicht ich den Tod ertrage. Denn das Sterben an sich fürchtet ja Niemand, der nicht ganz und gar unvernünftig und unmännlich ist, das Unrechtthun aber fürchtet er. Denn dass die Seele unter einer wahren Last von Ungerechtigkeiten in den Hades gelange, das ist unter allen Uebeln das ärgste. Wenn du es aber wünschest, so will ich dir durch eine Erzählung nachweisen, dass sich das wirklich so verhält. K a l l . Gut. Da du ja nun einmal alles Uebrige zu Ende gebracht hast, so bringe auch das zum Schluss. 523 79. S o k r . So höre denn, wie die Leute gewöhnlieh sagen, eine recht schöne Erzählung, die du zwar, wie ich mir denke, für ein Mährchen halten wirst, ich aber für eine wahre Erzählung. Denn als wirkliche Wahrheit will ich dir das erzählen, was ich zu erzählen gedenke. Wie nämlich Homeros erzählt, so theilten sich Zeus und Poseidon und Pluton in die Herrschaft, nachdem sie die-

141 selbe von ihrem Vater überkommen hatten. Es galt nun unter Kronos folgendes Gesetz in Bezug auf die Menschen, und gilt fortwährend auch jetzt noch unter den Göttern, dass wer von Jen Menschen sein Leben gerecht und unsträflich hinbrachte, sobald er dasselbe beschlossen, nach den Inseln der Seligen hinziehe, und daselbst unerreicht von allen Uebeln in vollkommener Glückseligkeit weile, der hingegen, welcher ungerecht und gottlos gelebt, in den Kerker, der Strafe und Vergeltung gelange, welchen die Leute bekanntlich Tartaros nennen. Richter in dieser Angelegenheit waren unter Kronos und auch noch neuerdings, während Zeus die Herrschaft hatte, Lebende über Lebende, und sassen noch an demselben Tage zu Gericht, an welchem die Menschen sterben sollten. Daher wurden die Urtheile schlecht gefällt. Da kamen denn nun Pluton und die Aufseher von den Inseln der Seligen und erklärten dem Zeus, dass ihnen nach beiden Orten hin Menschen zukämen, die es gar nicht verdienten. Da erklärte Zeus ausdrücklich : Gut, dieser Geschichte will ich ein Ende machen. Jetzt freilich werden die Urtheile schlecht gefällt. Denn in ihren Kleidern, sagte er, werden die zu Richtenden gerichtet; sie werden nämlich lebend gerichtet. Viele nun, fuhr er fort, die schlechte Seelen haben, sind in schöne Leiber, angestammte Vorzüge und Reichthümer eingekleidet, und sobald nun das Gericht gehalten wird, so treten viele Zeugen für sie auf, um Zeugniss für sie abzulegen, dass sie rechtschaffen gelebt haben. Die Richter kommen nun durch diese Dinge ausser Fassung, und richten nebenbei selbst in ihren Kleidern, indem Augen und Ohren und der ganze Leib als Hülle vor ihre Seele treten. Dieses Alles nun steht ihnen hindernd im Wege, ihre eignen Bekleidungen sowohl, als die der zu Richtenden. Vor allen Dingen nun, sagte er weiter, muss es ein Ende damit haben, dass sie ihren Tod vorauswissen. Jetzt freilich wissen sie denselben voraus. Das ist daher auch schon dem Prometheus ange-

142 sagt worden, dass er dem Ding bei ihnen ein Ende mache. Sodann sollen sie entblösst von allen genannten Gegenständen gerichtet werden. Erst nach ihrem Tode nämlich soll Gericht über sie gehalten werden. Eben so soll auch der Richter unbekleidet sein, ein Verstorbener, mit bioser Seele die blose Seele schauend, unmittelbar gleich nach dem Tode eines Jeden, in gänzlicher Abgeschiedenheit von allen Verwandten, und allen jenen Schmuck auf der Erde zurücklassend, damit das Urtheil gerecht sei. Da ich nun alles dieses früher als ihr erkannt, so habe ich zu Richtern meine eignen Söhne bestellt, und zwar zwei aus Asien, den Minos und Rhadamanthys, und einen aus Europa, den 524Aiakos. Diese nun, sobald sie gestorben sind, werden Gericht halten in der Wiesenaue an dem Dreiwege, von welchem aus die beiden Wege abgehen, der eine nach den Inseln der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Und zwar wird die aus Asien Rhadamanthys richten, die aus Europa aber Aiakos. Den Ehrenvorsitz werde ich dem Minos übergeben, um darüber zu entscheiden, wenn den beiden Andern etwas nicht möglich zu lösen sein sollte, datait das Urtheil in Bezug auf den letzten Lebensgang der Menschen so gerecht als möglich sei. 80. Das ist es, o Kallildes, was ich gehört habe, und wovon ich glaube, dass es wahr sei; auch schliesse ich aus diesen Erzählungen, dass ohngefähr Folgendes weiter der Fall sein werde. Der Tod ist, wie es mir vorkommt, nichts Anderes, als die Trennung zweier Dinge, der Seele und des Leibes, von einander. Sobald sie aber einmal vt)n einander getrennt sind, hat nichts desto weniger jedes von beiden noch dieselbe eigenthümliche Beschaffenheit, die es auch hatte, als der Mensch noch lebte; der Leib behält seine eigenthümliche natürliche Beschaffenheit, so wie die Spuren der gehabten Pflege und Eindrücke, alles ganz deutlich. Wenn zum Beispiel Jemandes Leib bei seinen Lebzeiten gross war, sei es von

143 Natur oder durch die gehabte Lebensweise, oder durch beides zugleich, so ist dessen Leichnam auch, nachdem er gestorben, gross, und wenn er (im Leben) dick war, auch noch im Tode dick, und so verhält es sich auch mit allem Andern. Und wiederum, wenn Jemand langes Haar zu tragen pflegte, so hat auch der Leichnam desselben langes Haar. W e n n wiederum Einer ein rechter Taugenichts war, und Narben als die Spuren von Schlägen oder Geisseihieben oder andern Wunden bei Lebzeiten an seinem Leibe hatte, so kann man noch an der Leiche des Verstorbenen sehen, dass sie dieselben an sich hat. Wenn ferner Jemandes Glieder im Leben gebrochen oder verrenkt waren, so zeigen sich ganz dieselben Erscheinungen noch deutlich an ihm im Tode. Mit einem W o r t e , die Art des Zustandes, den man dem Leibe im Leben zu geben bemüht war, das zeigt sich Alles oder doch grossentheils auf einige Zeit auch noch deutlich im Tode. Ganz dasselbe scheint mir nun auch in Bezug auf die Seele der Fall zu sein, o Kallikles. Deutlich stellt sich Alles bei der Seele heraus, sobald sie von dem Leibe entkleidet ward, sowohl in Bezug auf ihre natürliche Beschaffenheit, als auch auf die Eindrücke, die der Mensch wegen seiner Beschäftigung mit jeglichem Gegenstande in seiner Seele hatte. Sobald sie nun vor den Richter kommen, die aus Asien vor den Radamanthys, so lässt Radamanthys sie neben sich herantreten, und betrachtet eines Jeden Seele, ohne zu wissen, wem sie gehört; indem er nun aber oft die Seele des grossen Königs oder irgend eines andern Königs oder Machthabers vornahm, sah er gewöhnlich nichts an' derselben, was gesund gewesen wäre, sondern dieselbe in Folge von. Meineiden und Ungerechtigkeit durchgegeisselt und voller Narben, die einem Jeden seine Handlungsweise in die Seele abgedrückt hat, ferner Alles verdreht in Folge 525 von Lüge und Frevelmuth, und nichts Gerades, weil sie ohne Wahrheit herangezogen wurde. Eben so sah er die

144 Seele gewöhnlich in Folge der in ihren Handlungen bewiesenen Willkühr, Ueppigkeit, Frevelhaftigkeit und Zügellosigkeit voll von Missverhältniss und Entstellung. So wie er aber das sah, schickte er dieselbe ehrlos geraden Weges ins Gefängniss fort, wo sie gleich bei ihrer Ankunft die ihr zukommenden Leiden zu erdulden bat. 81. Es kommt nun aber einem jeden der Züchtigung Verfallenen, der von einem Andern ordnungsmässig gezüchtigt wird, zu, entweder besser zu werden, und Nutzen daraus zu ziehen, oder den Andern zum warnenden Vorbilde zu dienen, damit eben Andere, wenn sie ihn das leiden sehen, was er zu leiden hat, aus Furcht besser werden. Es sind aber die, welche Nutzen daraus ziehen, dass sie von Göttern und Menschen zur Strafe gezogen werden, solche, welche wieder gut zu machende Vergehungen begangen haben. Gleichwohl aber erwächst ihnen dieser Nutzen erst durch Schmerzen und Qualen, sowohl hier auf Erden, als im Hades. Denn es ist gar nicht möglich, auf andere Weise von Ungerechtigkeit befreit zu werden. Diejenigen aber, welche das äusserste Unrecht begangen haben, und gerade durch solche Ungerechtigkeiten unheilbar geworden sind, aus diesen werden die warnenden Vorbilder hergenommen, und diese haben zwar für ihre Personen gar keinen Vortheil mehr davon, weil sie unheilbar sind, Andere aber haben Vortheil, da sie sehen, wie diese wegen ihrer Vergehungen fiir alle Zeit die grössten und schmerzlichsten und furchtbarsten Leiden zu dulden haben, die so recht eigentlich als warnende Vorbilder aufgerichtet sind dort im Hades in dem Gefängniss, für alle fortwährend ankommenden Ungerechten Gegenstände der Betrachtung und Zurechtweisung. Einer von diesen, behaupte ich, wird auch Archelaos sein, wenn Polos die Wahrheit spricht, sowie jeder Andere, der ein solcher unumschränkter Herrscher ist. Ich glaube aber, dass die meisten, welche zu diesen warnenden Vorbildern gehören, unumschränkte Herrscher, Könige,

145 Machthaber und Staatsmänner gewesen sind. Denn gerade diese lassen sich wegen ihrer unbeschränkten Macht die grössten und verruchtesten Vergehungen zu Schulden kommen. Zeugniss dafür giebt auch Homeros. Denn von Königen und Maehthabern hat derselbe gedichtet, die im Hades für alle Zeiten Strafe zu leiden haben, von Tantalos und Sisvphos und Tityos. Von Thersytes aber, und wenn irgend ein Anderer von gewöhnlichen Leuten schlecht war, hat Niemand gedichtet, dass er schweren Strafen ausgesetzt sei, weil er eben für unheilbar gilt. Denn dazu, glaube ich, fehlte ihm die Macht, (so grosse Verbrechen zu begehen;) daher war er auch glücklicher als die, welche die Macht dazu besassen. Im Gegentheil, o Kallikles, aus der Zahl der Mächtigen sind auch die Menschen, welche für recht schlecht gelten. Dennoch ist gar kein Hinder-526 niss vorhanden, dass auch unter diesen rechtschaffene Meiner vorkommen, und es ist daher ganz angemessen, sich recht sehr über die zu freuen, ,welche es werden. Denn schwer ist es, o Kallikles, und grossen Lobes würdig, im Besitz einer vollen Freiheit Unrecht thun zu dürfen, doch sein ganzes Leben hindurch gerecht zu bleiben. Es giebt aber deren nur sehr wenige. Doch hat es ihrer sowohl hier als anderwärts gegeben, und werden auch, denke ich, noch fernerhin Männer vorkommen, die sich rühmlich in dieser Tugend auszeichnen, in der nämlich, redlich das zu verwalten, was ihnen etwa Jemand anvertraut. Einer derselben, der auch unter den übrigen Hellenen hochberühmt geworden, war Aristeides, des Lysimachos Sohn. Die meisten unter den Maehthabern hingegen, mein Bester, werden schlecht. 82. "Wie gesagt also, wenn jener Radamantbys irgfind so Einen bekommt, so weiss er sonst gar nichts Weiteres von demselben, weder wer er ist, noch von welchen er herstammt, wohl aber, dass er schlecht ist. Und sobald er das eingesehen, schickt er ihn in den Tartaros fort, 10

146 nachdem er ihn mit einem Abzeichen versehen hat, ob er ihm als heilbar oder als unheilbar vorkomme. Dieser aber hat nach seiner dortigen Ankunft die ihm gebührende Strafe zu leiden. Tritt nun aber einmal der Fall ein, dass er eine andere Seele erblickt, die fromm und der Wahrheit treu gelebt hat, die eines ganz gewöhnlichen Mannes oder irgend sonst Jemandes, vorzugsweise, o Kallikles, meine ich.damit, eines Philosophen, der im Leben lediglich seine eignen Angelegenheiten besorgte, und nicht allerlei fremdartige Dinge betrieb, so hat er seine Freude daran, und entsendet sie nach den Inseln der Seligen. Ganz in derselben Weise verfahrt auch Aiakos. Jeder von diesen beiden hält mit einem Stabe in der Hand Gericht. Minos a b e r , der das Ganze leitet, sitzt und hält allein einen goldnen Herrscherstab, wie ihn Odysseus bei Homeros gesehen zu haben versichert : »Haltend das goldene Scepter, den Todten verkündend ihr Urtheil.« Ich nun für meine Person, o Kallikles, habe mich durch diese Erzählungen überzeugen lassen, und nehme Bedacht, darauf, wie ich dem Richter meine Seele so gesund als möglich vorzeigen könne. Indem ich also auf diese Ehrenbezeugungen der meisten Menschen förmlich verzichte ? will ich es bei meinem Forschen nach Wahrheit durch die That versuchen, wie ich wohl im Stande sein könne, als ein recht braver Mann zu leben, und wenn ich einmal sterben muss, zu sterben. Icü fordere aber auch alle andern Menschen, so viel ioh kann, und deine Aufforderung erwiedernd namentlich denn auch dich zu diesem Leben und zu diesem Wettkampfe auf, von. dem ich behaupte, dass er den Vorzug vor allen in dieser Welt vorkommenden Wettkämpfen verdiene, und mache es dir zum Vorwurfe, dass du nicht im Stande sein wirst, dir selber zu helfen, wenn dieses Gericht und dieses Urtheil über dich ergehen wird, von dem ich erst jetzt eben gesprochen habe; sondern, wenn du vor deinem Richter, dem

147 Sohne der Aigina, erschienen bist, so wirst du, wenn er dich gefasst hat und fortschleppt, nicht weniger dort, als527 hier, den Mund aufsperren und schwindelig werden, und vielleicht wird dir auch dort Einer schimpflich hinter die Ohren schlagen, und dir jegliche Schmach anthun. Vielleicht hältst du nun diese ganze Erzählung für ein Mährchen, wie das eines alten Mütterchens, und verachtest sie. Und es wäre auch wohl gar nicht zu verwundern, diese Dinge zu verachten, wenn wir nur bei unserer Nachforschung irgend etwas Besseres und Wahreres aufzufinden vermöchten. Jetzt aber siehst du ein, dass ihr alle Drei, die ihr die Weisesten unter den jetzt lebenden Hellenen seid, du, Polos und Gorgias, nicht nachzuweisen yermöget, dass man ein anderes Leben führen müsse, als dasjenige, welches sich auch noch für jene Welt als zuträglich erweist, dass im Gegentheil, während Andere in so vielen Reden widerlegt wurden, dieser Grundsatz allein unerschüttert feststeht, dass man sich mehr in Acht zu nehmen habe, Unrecht zu tliun, als Unrecht zu leiden, "und dass ein Mann mehr als Alles darauf Bedacht' zu nehmen habe, nicht gut zu scheinen, sondern es wirklich zu sein, sowohl in seinem häuslichen, als in seinem öffentlichen Leben. Wenn aber Jemand in irgend einer Beziehung schlecht wird, so muss er gezüchtigt werden; und darin bestehe das zweite Gut nach dem Gerechtsein, dass man es werde, und durch eintretende Züchtigung seine Strafe verbüsse. Femer müsse man jede A r t von Schmeichelei, sowohl die gegen sich selbst, als die gegen die andern Leute, gegen Wenige und gegen Viele, gänzlich verbannen. Und so müsse man die Redekunst und jede andere Wirksamkeit in Anwendung bringen, immer zum Zweck des Rechtes. 83. Gieb mir also Gehör und folge mir dahin, wo du bei deiner Ankunft glückselig sein wirst, sowohl im Leben, als im Tode, wie ja auch deine Annahme deutlich besagt. Lasse auch Einen dich wie einen Thoren verachten 10 *

148 und dir Schimpf und Schande anthun, wenn er Lust dazu hat, j a bei Zeus lasse dir getrost sogar jenen schmählichen Schlag (ins Angesicht) versetzen, denn es wird dir nichts Schlimmes damit widerfahren, wenn du wirklich ein recht ehrenwerther Mann bist, der Tugend übt. Und nachmals, wenn wir uns so gemeinschaftlich geübt haben, dann erst, wenn es uns nöthig dünken sollte, wollen wir uns den Staatsgeschäften hingeben, oder worüber es uns sonst etwa gut dünken sollte, dann berathen, wenn wir besser zum Berathen geeignet sind, als jetzt. Denn es wäre ja eine Schande, in der Lage, in welcher wir uns jetzt offenbar befinden, dennoch mit hochfahrendem Wesen aufzutreten, als wenn (wirklich) etwas an uns wäre, da wir ja doch keineswegs gleiche Ansichten über dieselben Dinge haben, und das noch dazu über die allerwichtigsten. So gross ist noch unser Mangel an Bildung! Wie eines Führers also wollen wir uns des Grundsatzes bedienen, der sich eben klar herausgestellt hat, und der uns darauf hinweist, dass dieses die beste Lebensweise ist, in Ausübung der Gerechtigkeit und jeder andern Tugend zu leben und zu sterben. Diesem also wollen wir folgen, und auch die andern Leute dazu auffordern, nicht aber jenem, auf welchen du vertrauend mich dazu aufforderst Denn er ist ohne allen Werth, o Kallikles.

P r o t a g o r a s .

Personen

des

Dialogs:

Ein Freund. Solirates. Hippokrates. Protagoras. Alkibiades. Kallias. Hritia§. Prodikos. Hlpplas. 1. F r e u n d . Woher, o Sokrates, kommst du zum .100 Vorschein? Ganz gewiss doch wohl von dem Treibjagen auf des Alkibiades Jugendreize? J a auch mir kam e r , als ich ihn neulich sah, noch als ein schöner Mann vor; aber doch als ein Mann, o Sokrates, unter uns gesagt, tind bei dem der Bart schon ziemlich stark ist. S o k r a t e s . Ei was macht denn das aus? Hältst du es denn wirklich nicht ganz mit Homeros, welcher sagte, die reizendste Jugendzeit sei die des keimenden Bartes, in welcher eben Alkibiades sich befindet? F r . Wie steht es also jetzt? Du kommst doch wohl von ihm her? Und wie ist der junge Mann gegen dich gesinnt ? S o k r . Ganz gut, dünkte mich zum wenigsten, und ganz besonders gerade an dem heutigen Tage. Denn er hat viel für mich und zu meinen Gunsten gesprochen, und daher komme ich auch eben erst von ihm. Etwas ganz Sonderbares will ich dir indessen sagen. Wiewohl er nämlich anwesend war, schenkte ich ihm doch gar keine Aufmerksamkeit, ja ich dachte oft gar nicht an ihn. Fr.

Und

was von besonderer Wichtigkeit

mochte

152 wohl in Bezug auf dich und ihn vorgefallen sein? Denn schwerlich hast du doch einen andern Schöneren getroffen, zum wenigsten nicht hier in der Stadt. S o k r . J a einen weit Schöneren. F r . W a s sagst du? Einen Einheimischen oder einen Fremden ? S o k r . Einen Fremden. F r . Was ist er für ein Landsmann? S o k r . E r ist aus Abdera. F r . Und so schön dünkte dich der Fremde zu sein, dass er dir noch schöner als des Kleinias Sohn vorkam ? S o k r . Wie hätte mir aber auch, o lieber Bester, das Weiseste nicht als das Schönere vorkommen sollen ? F r . Du bist uns also mit einem Weisen zusammen gewesen, o Sokrates, und kommst von da? S o k r . J a sogar mit dem Weisesten, zum wenigsten der jetzt Lebenden, wenn dir anders Protagoras für den Weisesten gilt. F r . E i was sagst du? Ist Protagoras bei uns eingewandert? S o k r . Schon seit drei Tagen. F r . Und kommBt wohl eben von einer Zusammenkunft mit demselben? sio S o k r . J a wohl, nachdem ich gar Vieles mit ihm gesprochen und von ihm gehört habe. F r . Warum willst du uns nun die Unterhaltung nicht erzählen, wenn dich nichts abhält? Setze dich doch hierher und lasse den Burschen da aufstehn. S o k r . J a wohl das. Ich werde es euch sogar noch Dank wissen, wenn ihr mir zuhören wollt. F r . J a und wir auch dir, wenn du es erzählen willst. S o k r . Auf beiden Seiten wäre also wohl der Dank. So höret denn nun. 2. In der letztvergangenen Nacht, da kaum noch der Morgen dämmerte, schlug Hippokrates, des Apollodoros

153 Sohn, Phasons Bruder, sehr stark mit einem Stock an die Thiire , und nachdem ihm Jemand aufgemacht hatte, trat er sogleich hastig herein, und rief mit lauter Stimme : Höre Sokrates! Bist du wach oder schläfst du ? Und da ich ihn an der Stimme erkannte, sagte ich : Das ist j a Hippokrates ! Du bringst doch keine schlimme Botschaft ? — Nichts weniger als das, erwiederte er, sondern nur erfreuliche Nachrichten. — Mögest du Recht haben, sagte ich; was giebt es aber, und weshalb bist du schon um diese Zeit gekommen? — Protagoras, sagte er, ist angekommen, indem er zu mir herantrat. — Schon vorgestern, sagte, ich, und du hast es eben erst erfahren? — J a bei den Göttern, sagte er, erst gestern Abend. Dabei tastete er zugleich nach dem Lagergestell, setzte sich zu meinen Füssen und sagte : J a erst gestern Abend, als ich sehr verspätet aus Oinoe zurückkehrte. Mein Sklave Satyros war mir nämlich davon gelaufen. Auch hatte ich allerdings die Absicht, dir zu sagen, dass ich ihm nachsetzen würde, vergass es aber,, weil ich etwas Anderes besorgte. Erst nachdem ich zurückgekommen war, und wir zu Abend gegessen hatten und uns zur Ruhe begeben wollten, da sagt mir mein Bruder, dass Protagoras angekommen sei. Und noch immer hatte ich zwar den Vorsatz, sogleich zu dir zu gehen, aber dann schien es mir doch schon gar zu spät in der Nacht zu sein. Sobald mich aber nach einer solchen Ermüdung nur der Schlaf verlassen hatte, stand ich sogleich auf und machte mich hierher auf den Weg. — Da ich nun sein entschlossenes und stürmisches Wesen aus Erfahrung kenne, so sagte ich : Was verschlägt denn das dir? Hat dir denn etwa Protagoras was zu Leide gethan? — Da lachte er und sagte : J a bei den Göttern, o Sokrates, weil er allein weise ist, mich aber nicht dazu macht. — Doch j a bei Zeus, sagte ich, wenn du ihm Geld und gute Worte giebst, so wird er auch dich weise machen. — O wenn es doch, rief er aus, o Zeus und ihr Götter, nur

154 darauf ankäme, wie wollte ich es dann weder an meinem noch an der Freunde Vermögen im Geringsten fehlen lassen. Aber gerade deswegen bin ich auch eben zu dir gekommen, dass du dich für mich bei ihm verwenden möchtest. Einmal bin ich nämlich noch zu jung, dann habe ich aber auch den Protagoras weder je einmal gesehen, noch etwas von ihm gehört. Zudem war ich auch noch ein Kind, als er das erste Mal hierher kam. Alle indessen, o Sokrates, loben den Mann, und erklären ihn für einen 311 ganz ausgezeichneten Redner. Warum gehen wir denn aber nicht zu ihm hin, damit wir ihn noch zu Hause treffen? Seine Einkehr hat er, wie ich gehört habe, bei Kallias, des Hipponikos Sohn. Wir wollen indessen gehen. — Da bemerkte ich : Noch wollen wir nicht dorthin gehen, o Guter, denn es ist noch zu früh, sondern uns hier nach dem Hofe aufmachen und uns ergehend daselbst verweilen, bis es Täg wird. Dann wollen wir gehen. Zu dem hält sich auch Protagoras meistentheils zu Hause auf, so dass wir ihn, sei nur ganz getrost, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu Hause treffen werden. 3. Nach diesem machten wir uns auf und giengen in dem Hofe umher. Ich nun, um des Hippokrates Stärke zu erproben, fassteahn scharf ins Auge und fragte : Sage mir, sprach ich, o Hippokrates, du schickst dich eben an, zu Protagoras hinzugehen, um ihm als Belohnung Geld für dich zu bezahlen, än wen glaubst du dich dabei zu wenden, und was gedenkst da zu werden ? Angenommen, du hättest vor, zu deinem Namensverwandten, dem Koer Hippokrates, einem der Asklepiaden, zu gehen, um ihm als Belohnung Geld für dich zu bezahlen, und es fragte dich Jemand : Sage mir Hippokrates, du stehst im Begriff dem Hippokrates Lehrgeld zu zahlen, wen denkst du dir unter demselben? Was würdest du da wohl antworten? — Einen Arzt., sagte er, würde ich er wiedern. — Und um was zu werden? — Ein Arzt, erwiederte er. — Wenn

155 du dich aber an Polykleitos den Argeier oder an Pheidias den Athenäer zu wenden gedächtest, um ihnen Lehrgeld für dich zu zahlen, und dich Jemand fragte : Für was gelten dir Polykleitos und Pheidias, denen du Geld zu zahlen im Sinne hast? Was würdest du wohl antworten? — Da würde ich sagen für Bildhauer. Und um was selber zu werden ? — Offenbar ein Bildhauer. — Nun gut, sagte ich. Indem wir uns also an Protagoras wenden, ich wie du, werden wir bereit sein, ihm Lehrgeld für dich zu Bahlen, wenn anders unsere Mittel dazu ausreichen und wir ihn dadurch zu bestimmen vermögen, — wenn aber nicht", so wollen wir auch noch die unserer Freunde mit dazu verwenden. Wenn uns nun Jemand, da wir die Sache mit solcher Hast betreiben, fragte : Sage mir doch, o Sokrates und Hippokrates, wen denkt ihr euch denn eigentlich unter Protagoras, dass ihr ihm Geld zu zahlen im Sinne habt? Was würden wir ihm da wohl antworten? Mit was für einem andern Namen hören wir noch den Protagoras bezeichnen, wie den Pheidias als einen Bildhauer und den Homeros als einen Dichter? W a s der Art hören wir von Protagoras ? — Einen Sophisten nennen die Leute bekanntlich den Mann, o Sokrates, sprach er. — Wir gehn also, um ihm als einem Sophisten Geld zu zahlen ? — Auf jeden Fall. — Wenn dir nun Jemand noch die weitere Frage vorlegte : Um was denn aber selber zu werden gehst du zu Protagoras? — Da sagte er erröthend, — denn der Tag schimmerte schon etwas durch, dass man es ganz312 deutlich an ihm wahrnehmen konnte, — wenn es sich gerade so, wie mit dem Früheren, verhält, offenbar, um ein Sophist zu werden. — Du aber, fuhr ich fort, bei den Göttern, solltest dich nicht schämen, vor den Hellenen dich selber als einen Sophisten auszugeben? — J a bei Zeus, o Sokrates, wenn ich sagen soll, wie ich es denke. — E s ist aber auch wohl gar nicht deine Ansicht, o Hippokrates, dass dein Unterricht bei Protagoras so beschaffen sein

156 werde, sondern etwa, wie er bei deinem Elementarlehrer, deinem Musiklehrer oder deinem Turnlehrer war. Denn jeden dieser Gegenstände erlerntest du nicht zum Zweck der Kunst, um ein Meister darin zu werden, sondern zum Zweck der Ausbildung, wie es sich für einen ganz sich selbst lebenden freien Mann geziemt. — J a allerdings, sagte er, scheint mir der Unterricht bei Protagoras mehr von dieser Art zu sein. 4. Weisst du denn nun, was du jetzt zu thun im Begriff bist, oder entgeht es dir ganz? fuhr ich fort. — In Bezug auf was ? — Dass du im Begriff bist, die Behandlung deiner Seele einem Manne, und zwar, wie du sagst, einem Sophisten anzuvertrauen. Was aber ein Sophist eigentlich ist, es sollte mich wundern, wenn du es weisst. Freilich wenn dir das nicht bekannt ist, so weisst du nicht einmal, wem du deine Seele übergiebst, noch ob zu einem guten, oder ob zu einem schlechten Zweck. — D a s , sagte e r , glaube ich denn doch zu wissen. — E r kläre dich also, was denkst du dir unter einem Sophisten? — Einen Mann, versetzte e r , der, wie schon der Name besagt, im Besitz von Kenntnissen ist. — Ganz dasselbe nun, fuhr ich fort, kann man freilich auch von Malern und Baumeistern sagen, dass sie Leute sind, welche Kenntnisse besitzen.- — Wenn uns nun aber Jemand fragte, worauf beziehen sich denn die Kenntnisse, in deren Besitz die Maler sind, so würden wir ihm doch wohl sagen, auf das, was die Anfertigung von Gemälden zum Gegenstande hat, und eben so auch in andern Fällen. Wenn aber Jemand uns darnach fragte : Was für Kenntnisse besitzt denn der Sophist? W a s würden wir ihm wohl antworten? Auf was für ein Geschäft versteht er sich ? — W a s würden wir wohl von ihm sagen, o Sokrates, als dass er sich darauf verstehe, tüchtige Redner heranzubilden ?»— Vielleicht» fuhr ich fort, hätten wir wohl Recht, doch genügt das noch keineswegs. Denn die Antwort macht noch eine weitere

157 Frage für ans nöthig, nämlich, worüber der Sophist tüchtig im Reden macht. Gerade so, wie der Citherspieler tüchtig im Reden und sachverständig macht über die Kirnst, in welcher er Unterricht giebt, (ich meine) über das Citherspiel. Nicht wahr ? — J a . — Nun gut. Ueber was" aber macht denn nun der Sophist tüchtig im Reden? Offenbar doch über das, worauf auch er sich versteht? — Natürlich. — Worin besteht, denn nun aber das, worin der Sophist selbst ein Sachverständiger ist, und auch seinen Schüler dazu macht? — Bei Zeus, sagte er, darüber kann ich dir keine weitere Auskunft geben. 5. Hierauf sagte ich weiter : Wie nun? Weisst du. denn auch, welcher Gefahr du deine Seele auszusetzen auf dem Wege bist? Oder würdest du, wenn du Jemanden deinen Leib anvertrauen müsstest, auf die Gefahr hin, dass er gut oder schlecht dadurch werde, nicht ausführlich überlegen, ob du ihn demselben anvertrauen dürfest oder nicht, und würdest du nicht zur Berathung deine Freunde und Verwandten heranziehen, und die Sache ganze Tage lang in Erwägung nehmen; was du aber weit höher anschlägst als den Leib, ich meine die Seele, und das, wovon dein ganzes Wohl und Wehe abhängt, j e nachdem dasselbe sich gut oder schlecht herausstellt, darüber hast du dich weder mit deinem Vater, noch mit deinem Bruder gemeinsam benommen, noch mit irgend einem von uns, deinen Freunden, ob du dem erst eben angekommenen Fremdling deine Seele anvertrauen dürfest, oder nicht, sondern, nachdem du erst gestern Abend, wie du sagst, von ihm gehört, kommst du mit Tages Anbruch, und stellst weder Ueberlegnng noch Berathung darüber an, ob du dich ihm anvertrauen dürfest oder nicht, bist aber entschlossen, dein eignes und der Freunde Hab und Gut daran zu setzen, als wärest du bereits ganz mit dir im Reinen, dass du dich durchaus dem Protagoras hingeben müsstest, den du weder kennst, wie dn sagst, noch

158 jemals gesprochen hast, aber einen Sophisten nennst; was aber ein Sophist, dem du dich anzuvertrauen gedenkst, eigentlich ist, das weisst du offenbar gar nicht? — Als er das gehört h a t t e , sagte e r , offenbar scheint es sich so zu verhalten, o Sokrates, nach dem, was du sagst. — Handelt denn nicht, o Hippokrates, der Sophist im Grossen oder im Kleinen mit solchen W a a r e n , von welchen sich die Seele nährt? Mir zum wenigsten kommt er ohngefuhr als ein solcher vor. — Nährt sich denn aber, o Sokrates, die Seele von etwas? — Von Kenntnissen doch wohl, erwiederte ich. • Dass uns aber auch j a , o Freund, der Sophist nicht durch Anpreisung dessen, was er verkauft, betrüge, wie die Händler von Nahrungsmitteln für den Leib, sowohl im Grosshandel als im Kleingeschäft. Denn auch diese verstehen ja doch weder selbst etwas von den Waaren, welche sie führen, ob etwas dem Leibe heilsam oder schädlich ist, loben aber Alles bei dem Verkaufe; noch wissen es die, welche von ihnen kaufen, wenn einer nicht etwa zufällig ein Turnmeister oder ein Arzt ist. Gerade so loben auch diejenigen, welche mit ihren Kenntnissen in den Städten herumziehen, und sie demjenigen, der gerade jedesmal Lust dazu hat, verkaufen und feil bieten, Alles, was sie verkaufen wollen; vielleicht dürften aber auch von diesen, mein Bester, gar Manche nicht verstehen, ob das, was sie verkaufen wollen, gut oder schlimm f ü r die Seele ist. Und BO ebenfalls auch diejenigen, welche von ihnen einkaufen, wenn sich nicht gerade Einer auf die Seelenheilkunde versteht. Wenn du dich nun zufallig darauf verstehst, was davon heilsam oder schädlich ist, so kannst du dir ohne Gefahr Kenntnisse einkaufen, sowohl von Protagoras, als von jedem beliebigen Andern; wenn aber nicht, so siehe zu, o lieber Bester, damit du nicht über das Theuerste 3H ein ungewisses Spiel treibst und in. Gefahr kommst. Denn ohnehin ist ja auch eine weit grössere Gefahr bei dem Einkauf von Kenntnissen, als bei dein von Lebensmitteln.

159 Denn wenn man Lebensmittel und Getränke bei dem Krämer oder Kaufmann einhandelt, so kann man sie in andern Gefässen forttragen, und bevor man sie durch Essen oder Trinken in den Leib aufnimmt, erst zu Hause hinstellen, und nachdem man einen Sachverständigen herzugerufen, berathschlagen, was zum Essen oder Trinken taugt, und was nicht, und wie viel und wann, so dasa bei dem Einkaufe die Gefahr nicht gross ist. Kenntnisse aber kann man in keinem andern Gefässe mit foi*tnehmen, sondern man muss nach Erlegung des Kaufpreises die KenntniBs in der Seele selbst aufnehmen und nach dem Unterrichte fortgehen, mag man nun Nachtheil oder Vortheil davon gehabt haben. Dieses wollen wir daher überlegen und zwar mit Leuten, die älter sind, als wir; denn wir sind noch zu jung, um über einen so wichtigen Gegenstand entscheiden zu können. Jetzt indessen wollen wir, wie wir uns vorgenommen hatten, hingehn und den Mann hören, dann aber, nachdem wir ihn gehört, auch Andern Mittheilung darüber machen. Denn nicht allein Protagoras ist daselbst, sondern auch Hippias der Eleier, — und, wie ich glaube, auch Prodikos der Keier, — so wie noch viele andere weise Männer. 6. Nachdem wir das beschlossen hatten, gingen wir fort. Sobald wir in der Vorhalle angekommen, blieben wir stehen, und unterhielten uns über einen Gegenstaifd, auf den wir unterwegs gefallen waren. Damit uns nun dieser nicht unvollendet bliebe, sondern um denselben erst, bevor wir hineingiengen, zu erledigen, blieben wir in der Vorhalle stehen, und besprachen uns, bis wir uns mit einander verständigt hatten. Wenn ich mich nun recht erinnere, so mochte ilns der Thürhüter, ein Verschnittener, gehört- haben, und vielleicht wegen der grossen Anzahl von Sophisten über die, welche das Haus besuchen, unwillig sein. Als wir denn nun an die Thüre gepocht hatten, so machte er auf und sagte, als er uns erblickte : o weh,

160 das sind Sophisten! Der Herr hat keine Zeit. Zugleich schlug er mit' beiden Händen die Thüre in voller Hast so stark er konnte zu. Wir pochten also noch einmal an. Da gab er uns hinter verschlossener Thüre zur Antwort : Habt ihr denn nicht gehört, ihr Leute, dass der Herr keine Zeit hat? — Aber, mein Guter, sagte ich, wir kommen ja weder zu Kallias, noch sind wir Sophisten, fasse dich doch. Nur mit dem Wunsche, den Protagoras zu sehen, sind wir ja gekommen. Melde uns also an. Mit knapper Noth machte uns denn nun endlich der Mensch die Thüre auf. 7. Als wir nun eingetreten waren, trafen wir den Protagoras in der vorderen Säulenhalle herumwandelnd. Neben ihm wandelten noch mit umher auf der einen Seite Kallias, des Hipponikos Sohn, und sein Halbbruder von mütterlicher Seite, Paralos des Perikles, und Charmides 315 des Glaukon Sohn; auf der andern Seite aber des Perikles zweiter Sohn Xanthippos, ferner Philippides des Philomelos Sohn, und Antimoiros der Mendaier, welcher sich am meisten unter den Schülern des Protagoras auszeichnet, und kunstgerecht darauf studirt, um einmal ein Sophist zu werden. Von denen aber, welche sein weiteres Gefolge bildeten, um seine Vorträge anzuhören, schien ein grosser Theil Fremde zu sein, welche Protagoras aus den einzelnen Städten, durch welche er kommt, mit sich nimmt, indem er sie durch seine Stimme bezaubert, wie Orpheus; sie aber folgen ihm durch seine Stimme bezaubert Doch waren auch .noch einige Einheimische in dem Chor. Bei Betrachtung dieses Chors machte es mir ein ganz besonderes Vergnügen, wie schön sie sich in Acht nahmen, dem Protagoras ja nicht von vornen in den Weg zu treten, wie sich im Gegentheil diese Zuhörer,- sobald er sich mit seinem Gefolge umdrehte, mit dem schönsten Anstände nach beiden Seiten hin ¿heilten, und indem sie im Kreise eine Schwenkung machten, immer hübsch ordentlich sich hinter ihm aufstellten.

161 »Jenem zunächst erblickt' ich«, wie Homeros sagt, Hippias den Eleier, welcher der vorderen Säulenhalle gegenüber auf einem Thronsessel sass. U m ihn herum sassen auf Bänken Eryximachos, des Akumenos Sohn, ferner Phaidros der Myrrhinusier, und Andron des Androtion Sohn, und unter den Fremden Theils Landsleute von ihm, Theils einige Andere. Man sah, dass sie über die Natur und die Erscheinungen am Himmel dem Hippias mancherlei Fragen aus der Sternkunde vorlegten; dieser aber, auf seinem Thronsessel sitzend, gab einem jeden von ihnen Bescheid und erörterte die vorgelegten Fragen. »Ferner auch noch sah' ich den Tantalos.« Denn Prodikos der Keier war j a eingewandert, befand sich aber in einem besonderen Zimmer, dessen sich vormals Hipponikos als Vorrathskammer bediente, jetzt aber hat wegen der Menge der Einkehrenden Kallias auch dieses ausgeräumt und zu einem Gastzimmer für Fremde eingerichtet. Prodikos nun lag noch ruhig da, eingehüllt in allerlei Felle und Decken, und zwar, wie der Augenschein lehrte, in recht viele. Ihm zur Seite sassen auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias aus Kerameis, und neben Pausanias ein noch ganz junger Mensch, wie mich dünkt, von schönen und guten Anlagen, dabei aber auch von Ansehn überaus schön. Ich denke, sein Name war Agathon, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er der Liebling des Pausanias wäre. Das war denn auch der junge Mensch. Ausserdem kamen noch die beiden Adeimantos, der Sohn des Kepis und der des Leukol'ophides, so wie einige Andere zum Vorschein. Worüber sie sich aber unterhielten, das konnte ich von Aussen nicht verstehen, so dringend ich auch wünschte, den Prodikos zu hören; — denn durch und durch weise, j a göttlich dünkt mich der Mann zu sein, — 316 allein ein durch den tiefen Ton seiner Stimme in dem Zimmer entstehendes dumpfes Getöse machte das, was gesprochen wurde, ganz unverständlich. 11

162 Und wir waren eben eingetreten, da traten gleich hinter uns noch ein Alkibiades der Schöne, wie du sagst, und auch ich glaube, und Kritias, der Sohn des Kallaischros. 8. Sobald wir nun eingetreten waren, und noch ein wenig, um dieses Alles zu betrachten, verweilt hatten, giengen wir auf den Protagoras zu, und ich sagte : O Protagoras, zu dir sind wir eigentlich gekommen, ich so wie auch Hippokrates hier. — Wollt ihr etwa, fragte er, allein mit mir sprechen, oder auch im Beisein der Andern? — Uns, erwiederte ich, verschlägt das gar nichts. Höre nur, weshalb wir gekommen sind, und entscheide selber. — Nun was ist's denn eigentlich, fragte er weiter, weshalb ihr hierher gekommen seid? — Dieser Hippokrates da hat hier seine Heimath, ist der Sohn des Apollodoros, und stammt aus einer angesehenen und sehr wohlhabenden Familie. In Bezug auf seine natürlichen Anlagen scheint es derselbe unbedenklich mit seinen Altersgenossen aufnehmen zu können, und scheint mir darnach zu streben, ein berühmter Mann in unserer Stadt zu werden. Dieses glaubt er aber am ersten erreichen zu können, wenn ihm dein belehrender Umgang zu Theil würde. Ob du nun der Ansicht bist, darüber einzig und allein mit uns sprechen zu müssen, oder im Beisein von Andern, das überlege dir jetzt selber. — Ganz mit Recht, sagte er, o Sokrates, bist du um mich besorgt. Denn ein fremder Mann, der in grossen Städten herumkommt, und in diesen die ausgezeichnetsten Jünglinge zu bereden sucht, den Umgang mit Andern, nahen Angehörigen und Fremden, Aelteren und Jüngeren, ganz aufzugeben, und sich an ihn anzuschliessen, um durch diesen seinen Umgang besser zu werden, muss bei einem solchen Unternehmen sehr vorsichtig zu Werke gehn. Denn es erwachsen ihm dabei in nicht geringem Grade Neid und Misgunst, so wie andere Anfeindungen, ja sogar Nachstellungen. Ich behaupte nun allerdings, dass die sophistische Kunst uralt sei, dass aber die Männer der Vorzeit,

163 die sich mit derselben befassten, aus Furcht vor der daraus entspringenden Gehässigkeit, einen Vorwand und Deckmantel für dieselbe benutzt haben, und zwar Manche die Dichtkunst, wie zum Beispiel Homeros, Hesiodos und Simonides, Andere wiederum geheime Deutungen und Sehersprüche, wie die Anhänger von Orpheus und Musaios, manche Andere wieder, wie ich wahrgenommen habe, die gymnastische K u n s t , zum Beispiel Ikkos der Tarantiner, so wie der noch jetzt lebende und keinem nachstehende Sophist Herodikos der Selymbrianer, der aber ursprünglich ein Megareer ist. Die Musik hat euer Agathokles zum Yorwande genommen, der ein grosser Sophist ist, so wie auch Pythokleides der Keier und viele Andere. Diese A l l e , wie gesagt, bedienten sich aus Furcht vor Misgunst dieser Künste als Verschleierungsmittel. Ich bin indessen mit allen diesen zum wenigsten in Bezug auf diesen Punkt nicht einverstanden. Denn ich glaube, dass sie durchaus 317 nichts von dem, was sie dabei bezweckten, erreicht haben. Sie konnten es nämlich nicht geheim vor denen halten, die etwas in den Staaten durchzusetzen vermögen, und um derentwillen solche Bemäntelungen unternommen werden, da die Menschen vom gewöhnlichen Schlage, um es gerade herauszusagen, gar nichts davon merken, sondern das, was jene verlauten lassen, nur nachsingen. Wenn nun Einer davonzulaufen gedenkt, und nicht davonlaufen kann, sondern dabei ertappt wird, so zeigt sich schon eine grosse Thorheit bei dem blosen Beginnen, und wird dieses n o t wendigerweise die Leute noch viel mehr aufbringen. Denn sie halten einen solchen bei alle dem noch für einen durchtriebenen Kauz. Darum bin ich denn auch den ihnen ganz entgegengesetzten W e g gegangen, und bin dessen geständig, dass ich ein Sophist bin und die Leute unterrichten will, glaube auch, dass diese Vorsichtsmassregel besser als jene sei, indem ich es lieber eingestehe, als in Abrede stelle. Ausser dieser habe ich mir noch einige andere aus-

164 gedacht, so dass mir, unter Gottes Beistand, noch gar nichts Schlimmes dadurch widerfahren i s t , dass ich mich für einen Sophisten ausgebe. Gleichwohl treibe ich diese Kunst schon viele J a h r e , wie ich deren ja ohnehin im Ganzen gar viele zähle, da keiner unter euch Allen ist, dessen Vater ich nicht dem Alter nach sein körinte; so dass es für mich bei weitem am angenehmsten ist, wenn ihr ein Anliegen habt, dasselbe vor A l l e n , die hier im Hause versammelt sind, zur Sprache zu bringen. — Ich aber — denn ich errieth e s , er wolle sich vor dem Prodikos und Hippias zeigen und gross damit thun, dass wir als seine Verehrer hingekommen wären — sagte : Warum rufen wir denn nicht 'gleich auch den Prodikos und Hippias und ihre Gesellschaft herbei, damit sie uns auch zuhören können ? — J a allerdings, sagte Protagoras. — Wenn ihr es also wünschet, bemerkte Kallias, so wollen wir eine förmliche Sitzung veranstalten, damit ihr euch niederlassen und mit einander besprechen könnt? — Das hielt man für erforderlich. Wir alle aber hocherfreut, dass wir weise Männer hören sollten, griffen nach Bänken und Lagerstellen und richteten uns neben dem Hippias ein. Denn da waren die Bänke schon bei der Hand. Während dessen waren aber auch Kallias und Alkibiades angekommen und brachten den Prodikos, den sie von seinem Lager aufzustehn vermocht hatten, so wie die Gesellschaft des Prodikos mit. 9. Nachdem wir uns nun alle zusammen niedergelassen hatten, begann Protagoras : Jetzt also, o Sokrates, nachdem auch diese da anwesend sind, kannst du wohl das zur Sprache bringen, dessen du kurz zuvor in Betreff dieses Jünglings gegen mich Erwähnung thatest. — Ich erklärte darauf : Mein Anfang ist ganz derselbe, o Prota318 goras, wie vorhin erst, in Bezug auf das, weshalb ich hierher gekommen bin. Dieser Hippokrates da hat nämlich ein wahres Verlangen nach deinem näheren Umgange. Was nun eigentlich für ihn dabei herauskommen wird, wenn er

165 bei dir in die Lehre geht, das möchte er, wie er sagt, gar gerne erfahren. Das ist e s , was wir dir vorzutragen haben. — Hierauf nahm Protagoras das Wort und sagte : O junger M a n n , du wirst also, wenn du bei mir in die Lehre gehst, das davon haben, dass du schon am ersten Tage, an welchem du mit mir zusammen bist, als ein besserer Mensch nach Hause zurückkehrst, und in ganz gleicher Weise am folgenden, und dass du so mit jedem Tage beständige Fortschritte zum Besseren machst. — Als ich das gehört h a t t e , sprach ich : O Protagoras, was du da sagst, ist durchaus nichts besonders Auffallendes, sondern ganz natürlich, indem ja auch du, wiewohl so hoch in Jahren und so weise, besser werden würdest, wenn dich Jemand in dem unterrichtete, was du allenfalls noch nicht verstehst. Antworte mir aber nur nicht in der Weise; wenn im Gegentheil zum Beispiel Hippokrates da sein (bisheriges) Verlangen urplötzlich änderte, und nach dem näheren Umgang gerade des jungen Mannes verlangte, der erst vor Kurzem hier eingewandert ist, ich meine des Zeuxippos des Herakleoten, und zu demselben hingienge, wie jetzt zu dir, und ganz dasselbe von ihm hörte, was er von dir (erfahren hat,) er werde durch das Zusammensein mit ihm von T a g zu Tag besser werden und Fortschritte machen, und ihn dann weiter fragte : Worin soll ich denn eigentlich nach deiner Angabe besser werden und Fortschritte machen? ihm Zeuxippos wohl antworten würde : in der Malerei; und wenn er sich an Orthagoras den Thebaier anschliessen wollte, und von diesem ganz dasselbe hörte, wie von dir, und ihn dann noch weiter fragte, in welcher Beziehung er durch das Zusammensein mit ihm täglich besser werden könne, dieser sagen würde, im Flötenspiel : so sage denn nun auch du diesem jungen Manne und mir, der ich statt seiner frage, dieser Hippokrates da wird durch sein Anschliessen an Protagoras, von dem T a g e , an welchem er sich an ihn anschliesst, als ein besserer Mensch zurück-

166 kehren, und so an jedem weiteren Tage Fortschritte machen, worin denn aber, o Protagoras, und in welchem Betracht? — Als Protagoras dieses von mir gehört hatte, sagte er : Du fragst ganz gut, o Sokrates, und mir macht es Freude, denen, die gut fragen, zu antworten. Kommt nämlich Hippokrates zu mir, so wird ihm das nicht widerfahren, was ihm widerfahren würde, wenn er sich an irgend einen andern Sophisten anschlösse. Denn die andern mishandeln die jungen Leute wahrhaft. Sie bringen sie nämlich, nachdem sich dieselben den Künsten förmlich entzogen, ganz gegen ihren Willen gewaltsam zu jenen Künsten zurück, und unterrichten sie im Rechnen, in Sternkunde, Messkunst und Musik — und dabei warf er einen Blick auf Hippias — kommt er indessen zu mir, so wird er durchaus nichts Anderes lernen, als weshalb er gekommen ist. Der Gegenstand des Unterrichts aber ist guter Rath in seinen eignen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten einzurichten habe, ferner in den Angelegenheiten des Staates, wie er wohl den mächtigsten Einfluss im Staate durch That und Wort gewinnen könne. — Ver319 stehe ich denn aber, sagte ich, deine Erklärung auch recht? Du scheinst mir nämlich die Staatskunst damit zu meinen, und dich verbindlich zu machen, Männer zu guten Staatsbürgern heranzubilden. — J a das ist eben, sagte er, o Sokrates, das Anerbieten, wozu ich mich anheischig mache. 10. Gewiss bist du also, fuhr ich fort, im Besitz eines schönen Kunstmittels, wenn du es wirklich besitzest. Denn es soll durchaus nichts Anderes zu dir gesprochen werden, als was ich denke. Ich war nämlich der Ansicht, o Protagoras, dass dieses gar nicht lehrbar sei, da du es aber versicherst, so weiss ich nicht, warum ich es nicht glauben sollte. Weshalb ich aber denke, dass es nicht lehrbar sei, noch dass Menschen von Menschen dazu verholfen werden könne, darüber bin ich eine Erklärung schuldig. Ich behaupte nämlich, wie auch die andern Hellenen, dass die Athenäer gescheite

167 Leute sind. Nun sehe ich aber, dass sie, wenn wir zu einer Gemeindeversammlung zusammenkommen, und die Stadt irgend etwas im Bauwesen vornehmen soll, die Bauverständigen holen lassen, um sie über die Bauunternehmungen zu Rathe zu ziehen, wenn aber im Schifl'bauwesen die Schiffbauer, und ebenso in allen andern Dingen, von denen sie glauben, dass sie lernbar und lehrbar seien. Wenn es aber irgend ein Anderer unternimmt, ihnen Rath zu geben, von dem sie nicht glauben, dass er Meister seines Faches sei, und wenn er noch so schön und reich und vornehm wäre, so lassen sie sich durchaus nicht mit ihm ein, sondern lachen ihn aus, und lärmen so lange, bis entweder der, welcher zu sprechen versucht, durch den Lärm betroffen von selbst wieder abtritt, oder die Stadtsoldaten ihn auf der Prytanen Geheiss herunterziehen und fortschaffen. Und eben so verfahren sie durchweg in Allem, wovon sie glauben, dass es Sache der Kunst sei. Sobald es aber irgend einer Berathung über die Verwaltung des Staates gilt, so tritt jeder auf und giebt ihnen seinen Rath darüber, und zwar eben sowohl der Zimmermann, als der Schmied, der Schuster, Kaufmann, Schiffsrheder, Reiche, Arme, Vornehme, Geringe, und Niemand macht es einem solchen, wie den Vorerwähnten, zum Vorwurfe, dass er sich, ohne es irgendwo gelernt, und ohne irgend einen Lehrer darin gehabt zu haben, dennoch untersteht, seinen Rath mitabzugeben ; offenbar darum, weil sie das nicht für lehrbar halten. Diese Ansicht herrscht indessen nicht blos bei den Gesammtangehörigen des Staates, sondern unsere weisesten und besten Staatsbürger sind auch persönlich nicht im Stande, gerade die hervorragenden Eigenschaften, welche sie besitzen, auch Andern mitzutheilen. Hat doch Perikles, der Vater dieser jungen Männer da, dieselben in Allem, was nur irgend durch Lehrer geschehen konnte, gut und trefflich unterrichten lassen, in den Gegenständen aber,320 worin er selber geschickt ist, unterrichtet er sie weder

168 selbst, noch vertraut er sie irgend einem Andern an, sondern sie schweifen wie losgelassen umher, und weiden allein, ob sie vielleicht irgendwo von selbst diese Tugend antreffen möchten. Wenn du aber willst, derselbe berühmte Mann, ich meine Perikles, ist Vormund über den Kleinias, den jüngeren Bruder unseres Alkibiades da. D a er für denselben fürchtete, er möchte von Alkibiades verdorben werden, so trennte er ihn ganz von demselben, brachte ihn im Hause des Ariphron unter, und liess ihn da erziehen; und ehe sechs Monate vergangen waren, gab ihn der wieder an denselben zurück, weil er nicht wusste, was er mit ihm anfangen sollte. Und so kann ich dir noch gar viele Andere nennen, die, wiewohl sie selbst ausgezeichnete Männer waren, doch noch keinen, weder von ihren eignen, noch von fremden Leuten, besser zu machen vermochten. Indem ich also dieses Alles, o Protagoras, in Rücksicht ziehe, glaube ich nicht, dass Tugend lehrbar sei. Wenn ich indessen solche Versicherungen von dir höre, so lenke ich ein, und denke, es sei wirklich etwas an deiner A n g a b e , weil ich von der Ansicht ausgehe, du seist ein Mann von vielen Erfahrungen, habest Vieles gelernt, und Manches selbst aufgefunden. Wenn du uns also auf eine überzeugendere Weise darthun kannst, dass die Tugend lehrbar sei, so lasse dich j a nicht widerwillig finden, sondern thue es uns dar. — Gut, sagte er, o Sokrates, es soll mir nicht am guten Willen fehlen. Soll ich es euch aber darthun, indem ich, wie ein älterer Mann Jüngeren gegenüber, ein Mährchen erzähle, oder soll ich es in einfacher Rede auseinander setzen? — Viele nun der um ihn her Sitzenden entgegneten ihm, er möge den Gegenstand so erörtern, wie es ihm von beiden Weisen gefallig wäre. — Demnach, sagte er, scheint es mir ergötzlicher zu sein, euch ein Mährchen zu erzählen. 11. E s war nämlich einmal eine Zeit, wo es zwar Götter g a b , sterbliche Geschlechter aber noch nicht gab. Nachdem aber auch für diese die vom Schicksal bestimmte

169 Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bildeten sie die Götter in der Erde Schoos aus Erde und Feuer, und mischten auch von dem hinzu, was aus Feuer und Erde zusammengemengt ist. Als sie nun im Begriff waren, dieselben an's Licht zu fördern, gaben sie dem Prometheus und Epimetheus den Auftrag, dieselben auszustatten, und die (erforderlichen) Kräfte nach Gebühr an die Einzelnen zu vertheilen. Von Prometheus aber erbat sich Epimetheus, er möge ihm die Austheilung überlassen; sobald ich aber ausgetheilt habe, s a g t e e r , nimm es in Augenschein. Nachdem er ihn so dazu beredet hatte, theilte er aus. Bei dem Austheilen verlieh er Einigen Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren aber stattete er mit Schnelligkeit a u s ; Andere versah er mit Waffen, für Andere, denen er eine wehrlose Natur mitgetheilt hatte, ersann er ein anderes Vermögen zur Rettung. Welche derselben er nämlich in Kleinheit gehüllt hatte, denen theilte er beflügelte Flucht oder unterirdische Behausung zu; welche er aber durch Grösse erhob, die rettete er eben dadurch. Und eben so321 vertheilte er ausgleichend alles Uebrige. Dieses ersann er a b e r , indem er Bedacht darauf n a h m , dass j a keine Gattung spurlos vernichtet würde. Nachdem er sie aber mit Mitteln ausgestattet, dem wechselseitigen Verderben zu entrinnen, ersann er Sicherung gegen den von Zeus herrührenden Wechsel der Jahreszeiten, indem er sie einhüllte in dichte Haare und starke F e l l e , die eben so gut ausreichten, um Kälte, als vermögend wären, auch die Hitze abzuhalten, und damit, wenn sie ihre Schlafstätten bezögen, eben diese Dinge jedem Einzelnen zur e i g e n t ü m lichen und angebornen Lagerdecke dienen könnten. Auch unten an den Füssen versah er Manche mit Hufen, Andere mit Haaren und starken und blutlosen Schwielen. W e i t e r sofort verschaffte er den verschiedenen Thieren verschiedene Nahrungsmittel, den Einen Kräuter aus der Erde, Andern Früchte der Bäume, wieder Andern Wurzeln. Manchen aber

170 wiess er anderer Thiere Frass zur Nahrung an. Die Einen versah er mit geringer Fortpflanzung, Andere hingegen, die jenen zur Beute werden, mit starker Fortpflanzung, und verschaffte dadurch der Gattung ihre Erhaltung. Da indessen Epimetheus gar nicht besonders weise war, so war es ihm ganz entgangen, dass er die (vorhandenen) Kräfte an die unvernünftigen Geschöpfe aufgewendet hatte. Unausgestattet blieb ihm also noch das Geschlecht der Menschen übrig, und er war darum verlegen, was er damit anfangen solle. In seiner Verlegenheit kommt nun Prometheus zu ihm, um die Austheilung zu besichtigen, und sieht, dass alle andern lebenden Wesen in entsprechender Weise mit Allem versorgt sind, den Menschen aber findet er nackt, unbeschuht, unbedeckt und unbewaffnet. Bereits aber war auch der vom Schicksal bestimmte Tag erschienen, an welchem auch der Mensch aus der Erde an das Licht hervortreten sollte. In wahrer Verlegenheit n u n , was für eine Rettung er für den Menschen ausfindig machen könne, stiehlt Prometheus des Hephaistos und der Athene kunstreiche Weisheit sammt dem Feuer — denn unmöglich war es, dass sie ohne Feuer Jemanden angehörig oder nützlich hätte sein können — und so verlieh er denn diese Gabe dem Menschen. So gelangte nun allerdings der Mensch auf diese Weise zu der zum Leben erforderlichen Weisheit, aber die staatsbürgerliche hatte er noch nicht. Denn diese war bei dem Zeus. Dem Prometheus war aber damit noch nicht gestattet, in die Hochburg, des Zeus Behausung, einzutreten. Zudem aber waren auch die Wachen des Zeus furchtbar. Aber in der Athene und des Hephaistos gemeinsame Wohnung, in welcher beide ihre Kunst übten, drang er heimlich ein, und nachdem er die im Feuer schaffende Kunst des Hephaistos, so wie die andere der Athene gestohlen hatte, theilte er sie dem Menschen mit; und von da an beginnt für den Menschen die Bequemlichkeit des Lebens; den Prometheus aber erreichte, durch Epimetheus veran-

171 lasst, nachmals, wie die Sage geht, die Strafe des Dieb-322 stahls. 12. Sobald nun aber der Mensch göttlichen Geschickes theilhaftig war, so hat er auch zuerst wegen seiner Verwandtschaft mit der Gottheit allein unter den lebenden Wesen an Götter geglaubt, und damit begonnen, Altäre und Bildnisse der Götter zu errichten. Sodann hat er bald darauf Töne und Worte durch seine Kunst gegliedert, und Wohnungen, Kleider und Schuhe und Lagerbetten und die aus der Erde wachsenden Nahrungsmittel erfunden. So nun ausgestattet wohnten die Menschen anfanglich zerstreut, Städte aber gab es nicht. Sie wurden also von den wilden Thieren aufgerieben, weil sie in jedem Betracht schwächer als diese waren; auch gewährte ihnen die Kunst ihres Handwerks zwar hinlängliche Unterstützung zum Lebensunterhalt, aber zum Kampfe gegen die Thiere war sie unzureichend; denn die Kunst den Staat zu verwalten, von der die des Krieges einen Theil ausmacht, besassen sie noch gar nicht. Sie suchten sich also zu sammeln, und durch die Erbauung von Städten zu schützen. Sobald sie sich nun gesammelt hatten, fügten sie sich gegenseitig Kränkungen zu, eben weil sie die Kunst, den Staat zu verwalten, noch nicht besassen, so dass sie sich wiederum zerstreuten und ihren Untergang fanden. Da nun Zeus für unser Geschlecht fürchtete, es möchte ganz zu Grunde gehen, so sandte er den Hermes ab, um Scham und Recht unter die Menschen zu bringen, damit diese diö Ordner der Städte und das einigende Band der Freundschaft würden. Es fragte nun Hermes den Zeus, in welcher Weise er den Menschen Recht und Scham mittheilen solle. Soll ich etwa, wie die Künste ausgetheilt worden, eben so auch diese austheilen ? Vertheilt aber sind sie also : ein Einziger, der die Heilkunde versteht, ist hinreichend für viele Unkundige, und eben so auch die andern Meister in ihrem Fach. Und soll ich nun eben so Recht und Scham unter

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den Menschen aufstellen, oder soll ich sie an Alle vertheilen? An Alle, sprach Zeus, und Alle sollen Theil daran haben. Denn da könnten keine Staaten zu Stande kommen, wenn nur Wenige Antheil daran hätten, wie an andern Künsten. J a sogar ein Gesetz sollst du in meinem Auftrage geben, dass man den, der es nicht vermag sich an Scham und Recht zu betheiligen, gleich einer Pest des Staates um's Leben bringe. Unter diesen Umständen also, o Sokrates, und aus diesen Gründen glauben sowohl die Andern, als auch die Athenäer, dass, wenn von ausgezeichneter Tüchtigkeit im Bauwesen, oder irgend einer andern Meisterschaft die Rede ist, nur Wenige an der Berathung Theil nehmen dürfen, und wenn Jemand ausser diesen Wenigen mitberathen will, so geben sie es, wie du sagst, nicht zu : und zwar ganz mit Recht, wie ich behaupte. Wenn sie aber zur Berathung über die bürgerliche Tugend schreiten wollen, welche sich 323 lediglich auf Gerechtigkeit und Besonnenheit beziehen muss, so lassen sie ganz mit Recht Jedermann zu, da es Jedem zukommt, wenigstens Theil an dieser Tugend zu nehmen, oder es würde gar keine Staaten geben. Dieses, o Sokrates, ist der Grund hiervon. Damit du aber nicht glaubst, hierin getäuscht zu werden, dass (nämlich) in der That alle Menschen der Ansicht sind, Jedermann habe Antiieil an der Gerechtigkeit, so wie an jeder andern staatsbürgerlichen Tugend, so nimm auch noch Folgendes zum Beweise. Wenn nämlich, wie du sagst, Jemand behauptete, er sei in andern Kunstfertigkeiten, (zum Beispiel) im Flötenspiel oder in irgend einer andern Kunst geschickt, worin er es doch gar nicht ist, so verlachen ihn die Leute entweder, oder sind ungehalten auf ihn, und seine Angehörigen gehen zu ihm hin und weisen ihn zurecht, als ob er verrückt wäre. Wenn hingegen in Bezug auf Gerechtigkeit und die andern staatsbürgerlichen Tugenden die Leute auch von Einem wissen, dass

173 er ungerecht ist, und es wollte dieser über sich selber die Wahrheit sagen im Beisein Vieler, so würden sie eben dieses, was sie dort für Besonnenheit hielten, ich meine die Wahrheit zu sagen, hier als Verrücktheit bezeichnen, und behaupten, Alle müssten von sich sagen, dass sie gerecht seien, mögen sie es nun sein oder nicht, oder der sei verrückt, welcher keine Ansprüche auf Gerechtigkeit mache , indem durchaus Jeder auf irgend eine Weise Antheil an ihr haben müsse, oder gar nicht unter Menschen leben dürfe. 13. Dass sie also Jedermann ganz mit Recht als Mitberathenden über diese Tugend annehmen, eben weil sie glauben, dass Jeder Antheil an ihr habe, das will ich damit sagen. Dass sie aber nicht glauben, sie sei von Natur vorhanden, oder sie komme ganz von selbst, sondern sie sei wirklich lehrbar, und wer sie erlange, der erlange sie nur durch sorgsames Bemühen, das will ich dir noch weiter nachzuweisen versuchen. Ueber alle Arten von Uebeln nämlich, von denen die Menschen glauben, sie hätten sie unter sich von Natur oder durch Zufall, zürnt Niemand, noch schilt oder bel