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German Pages 216 [217] Year 2011
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Phaidon
Klassiker Auslegen Auslegen Klassiker Herausgegeben von von Herausgegeben Otfried Höffe Höffe Otfried Band 44 36 Band
Otfried Höffe ist o. Professor für Philosophie Otfried Höffe ist o.Tübingen Professor für Philosophie an der Universität an der Universität Tübingen.
Karl Marx / Friedrich Engels Platon
Die deutsche Phaidon Ideologie Herausgegeben von Jörn Müller Herausgegeben von
Harald Bluhm
Akademie Akademie Verlag Verlag
Abbildung auf dem Cover: Platon, Marmorbüste, unbekannter Künstler, Römische Kopie eines griechischen Originals aus dem letzten Viertel des 4. Jhs. v.u.Z., Vatikanische Museen, Museum Pio-Clementino, Saal der Musen, Inventarnummer 305, Foto: Marie-Lan Nguyen (User: Jastrow) 2006, © Wikimedia Commons
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-05-004681-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Der Akademie Verlag ist ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buchesdarf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmungoder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gesamtgestaltung: K. Groß, J. Metze, Chamäleon Design Agentur Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
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Inhalt
Hinweise zur Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Ethos und Logos. Platons Phaidon im Spiegel der wissenschaftlichen Interpretation Jörn Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Rahmenhandlung des Dialoges (57a–61b, 88c–89a, 102a, 115a–118a) Michael Erler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Philosophieren als Sterben-Lernen: Anthropologischer Dualismus (62c–69e; 80e–84b) Michael Bordt SJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Das Argument aus den Gegensätzen (69e–72d) Filip Karfík . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. The Recollection Argument Revisited (72e–78b) Lloyd P. Gerson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Das Argument aus der Ähnlichkeit (78b–80e) Benedikt Strobel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. The Objections of Simmias and Cebes (84c–89c) Kenneth Dorter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Welchem Logos kann man noch vertrauen?. Die harmonia-These als Gefährdung des Beweisgangs für die Unsterblichkeit der Seele (89b–95a) Bernd Manuwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9. Kritik der bisherigen Naturforschung und die Ideentheorie (95a–102a) Christoph Horn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
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10. Das Argument aus den essentiellen Eigenschaften (102a–107d) Dorothea Frede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 11. Der Mythos im Phaidon (107d–115a) Christian Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 12. Wirkungsgeschichte des platonischen Phaidon Theo Kobusch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Hinweise zu den Autoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
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Hinweise zur Benutzung Griechische Begriffe und Zitate werden in lateinischer Umschrift wiedergegeben; dabei bezeichnet ‚ê‘ den griechischen Buchstaben η (êta), ‚ô‘ den griechischen Buchstaben ω (ômega). Stellenangaben zu den Werken Platons beziehen sich auf die wissenschaftlich übliche Stephanus-Paginierung in ihrer Seiten-, Abschnitts- und ggf. auch Zeilenzählung (Beispiel: Phd. 64e4-6). Für Platons Werke werden dabei folgende Kürzel verwendet: Ap. Chrm. Cra. Cri. Grg. Lg. Mn. Phd. Phdr. Phlb. Plt. Prm. Prt. Rep. Symp. Sph. Tht. Ti.
Apologie Charmides Kratylos Kriton Gorgias Nomoi / Gesetze Menon Phaidon Phaidros Philebos Politikos Parmenides Protagoras Politeia / Staat Symposion / Gastmahl Sophistes Theaitetos Timaios
Literaturverweise erfolgen durch eine Abkürzung aus Autorennachname, Erscheinungsjahr und ggf. Seitenzahl der Publikation (Beispiel: Dorter 1982, 125). Am Ende jedes Beitrags wird die zitierte bzw. angeführte Literatur aufgeschlüsselt; eine umfangreiche und thematisch sortierte Auswahlbibliografie findet sich am Ende des Bandes. Das Personenregister enthält alle im Text oder in den Fußnoten genannten Autoren sowie historischen Persönlichkeiten; auf in den Dialogen vorkommende Figuren (z. B. Simmias im Phaidon) wurde verzichtet. Das Sachregister schließt auch die beiden englischen Texte mit ein; die entsprechenden Seitenangaben finden sich dabei aber hinter dem deutschen Stichwort.
1 Jörn Müller
Ethos und Logos. Platons Phaidon im Spiegel der wissenschaftlichen Interpretation
1.1 Die „Dualität“ des Zugangs Platons Dialog Phaidon ist dramatisch an dem Tag angesiedelt, an dem Sokrates nach seiner Verurteilung durch ein Athener Gericht den Schierlingsbecher leert, und stellt somit den Philosophen bzw. das Philosophieren im Angesicht des Todes dar. Diese Schilderung involviert (mindestens) zwei Ebenen, nämlich „was gesagt und was getan wurde“ (Phd. 58c6–7), anders formuliert: (1) welches Ethos sich in Sokrates’ Verhalten ausdrückte und (2) welche Logoi oder philosophischen Argumentationen ausgetauscht wurden. (1) Im auffallenden Kontrast zu größeren Teilen seiner Umgebung (z. B. seiner Frau Xanthippe), die als von Gemütserregungen der Trauer und des Schmerzes befallen bzw. als in einem Wechselbad der Gefühle dargestellt werden (Phd. 59a–b, 117c–d), geht Sokrates seinem nahenden Tod mit absoluter Gelassenheit entgegen: Er zeigt keinerlei Furcht, sondern strahlt in seinem ganzen Verhalten die Überzeugung aus, dass sein physisches Ableben keinen Anlass zur Klage oder Ängstigung bietet. Vielmehr verströmt er die felsenfeste Zuversicht, dass ihn jenseits der Schwelle des Todes sogar die „größten Güter“ (megista agatha: Phd. 64a1) erwarten. (2) Diese Zuversicht oder Hoffnung verteidigt er gegenüber den skeptischen Einwendungen seiner beiden Gesprächspartner Simmias und Kebes mit einer Reihe von Argumenten, die im Wesentlichen auf die Unsterblichkeit der Seele abzielen. Das sokratische Ethos, das sich in seinem Verhalten im Angesicht des Todes manifestiert, ist also nicht arbiträr gewählt, sondern philosophisch begründungsfähig: Sokrates tut somit gerade das, wozu er in vielen Dialogen seine Opponenten auffordert, nämlich Rechenschaft abzulegen (logon didonai) im Blick auf die eigene Lebensführung und deren Verankerung in einem Überzeugungssystem, dessen logische Konsistenz und Kohärenz im Prüfgespräch (elenchos) auf die Probe zu stellen ist.
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Dass diese beiden Dimensionen, Ethos und Logos, im Phaidon (und auch im Corpus Platonicum insgesamt) eng miteinander verzahnt sind, sollte eigentlich ein Truismus sein, aber ein Blick auf die wissenschaftliche Forschungs- und Kommentarliteratur ergibt zumindest teilweise ein anderes Bild: Wie Kenneth Dorter in der Einleitung zu seinem Kommentar feststellt (vgl. Dorter 1982 [1], ix–x1 ), haben viele Untersuchungen, Kommentierungen bzw. Werkinterpretationen gewissermaßen eine „Schlagseite“ in eine von zwei idealtypisch wie folgt zu charakterisierenden Richtungen: (A) Der analytische Ansatz konzentriert sich in erster Linie auf die Rekonstruktion und Prüfung der logischen Struktur der dargebotenen Argumente. Hier steht also der sokratische Logos im Mittelpunkt des Interesses, der dabei teilweise auch in Ablösung von bzw. unter Herauslösung aus dem Dialogganzen betrachtet wird.2 (B) Der dramatische Ansatz achtet hingegen stärker auf die Gesamtinszenierung des Geschehens im Dialog: Hier steht (implizit oder explizit) die hermeneutische Hypothese im Hintergrund, dass die wesentlichen Botschaften Platons weniger auf der Ebene des Logos, sondern v. a. in der Darstellung des Dialogs als Handlung sowie des äußeren Geschehens und des sich im konkreten Verhalten offenbarenden Ethos des Sokrates als Philosoph zu suchen sind.3 Es wäre sicherlich zu einfach, daraus einen blanken Kontrast von „philosophischen“ und „literarischen“ bzw. „nichtphilosophischen“ Lesarten des Phaidon zu konstruieren (vgl. Rowe 1993 [1], 1–3) – schließlich kann auch eine dramatische bzw. literarische Lesart Platons durchaus nachhaltig von philosophischen Intentionen getragen sein. Aber es nicht ganz von der Hand zu weisen, dass hier zwei unterschiedliche, tendenziell nicht ohne weiteres kompatible Zugänge zum Text vorliegen. Während R. S. Bluck im Jahr 1955 noch eher ein Überwiegen des dramatischen (bzw. literarischen) Zugangs andeutete (und monierte),4 hat sich die Situation im Gefolge der analytischen Philosophie im angelsächsischen Bereich und auch im deutschen Sprachraum eher ins Gegenteil ver-
1 Hier und im Nachfolgenden beziehen sich alle bibliographischen Angaben auf die Liste ausgewählter Literatur im Anhang zu diesem Band. Zur schnelleren Auffindbarkeit ist neben dem Autorennamen und dem Erscheinungsjahr jeweils auch noch in eckigen Klammern dahinter die Sektion der Bibliografie angeben, in welcher der Eintrag verzeichnet ist. 2 Vgl. hierzu exemplarisch die Fülle an Artikeln zu den einzelnen Argumenten für die Unsterblichkeit der Seele unter 2.3 im Literaturverzeichnis. 3 Vgl. die Titel zur Dialogdramaturgie unter 2.2, bes. Arietti 1986; Dorter 1970; Ebert 2006; Matthey 2007; Prufer 1985/86; Sedley 1995; Wolz 1963. 4 Vgl. Bluck 1955 [1], vii: „There is sometimes a tendency to treat the Phaedo primarily as literature, and only secondarily as philosophy. But although this dialogue is, indeed, a masterpiece of dramatic literature, its author undoubtedly intended it to be first and foremost a work of philosophy.“
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kehrt: Viele gängige neuere Kommentare bzw. Werkinterpretationen des Phaidon sind tendenziell im Fahrwasser einer primär argumentanalytischen Lesart verortet.5 Diese unterschiedlichen hermeneutischen und methodischen Zugänge haben jeweils verschiedene Passagen und inhaltliche Aspekte des Phaidon in besonderer Weise betont und beleuchtet. Nachfolgend sollen in summarischer Form die zentralen Frage- und Untersuchungsperspektiven aufgezeigt werden, die dabei im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Interpretation und Erforschung des Textes gestanden haben und immer noch stehen. Dies soll den Lesern und Leserinnen unseres kooperativen Kommentars eine Art orientierende „Landkarte“ bieten, in welche die Deutungen der einzelnen Textabschnitte in den nachfolgenden Kapiteln dieses Bandes eingebettet werden können. Getreu der holzschnittartigen Differenzierung der inhaltlichen wie wissenschaftlichen „Dualität“ des Zugangs werden dabei nacheinander die involvierten hermeneutischen Dimensionen von Ethos (1.2) und Logos (1.3) charakterisiert, um abschließend auf die daraus resultierende Konzeption dieses Bandes einzugehen (1.4).
1.2 Das Ethos des Sokrates und die dramatische Deutung Die dramatische Interpretation nimmt ihren Ausgang meist von der existenziellen Dimension, die den Rahmen des Phaidon absteckt und ihn mit zwei anderen Dialogen, die in der klassischen Tetralogienordnung auch mit ihm gruppiert waren, eng verbindet: Nachdem Sokrates mit seiner Verteidigungsrede vor Gericht letztlich gescheitert ist (Apologie) und sich dem Ansinnen seiner Freunde widersetzt hat, sich der bevorstehenden Hinrichtung durch Flucht zu entziehen (Kriton), „komplettiert“ der Phaidon nun die Darstellung vom Prozess und Tod des Sokrates. Als eine Art beglaubigter historischer Bericht ist er wohl dennoch nicht aufzufassen, wofür neben der verschachtelten Dialogstruktur – die Darstellung des Todestags ist noch einmal in einen zeitlich und räumlich deutlich abgesetzten Rahmendialog eingebettet – auch die beiläufige Notiz spricht, dass der Verfasser des Dialogs, also Platon selbst, nicht persönlich anwesend war.6 Nichtsdestoweniger kann man kaum an der platonischen Intention zweifeln, ein5 Vgl. außer Bluck selbst z. B. auch Hackforth 1955, Gallop 1975, Bostock 1986, Frede 1999 (alle unter 1). Dorter 1982 versucht stärker eine „integrative“ Deutung aus dramatischer und argumentanalytischer Perspektive; Eberts Kommentar ist zwar nicht unbedingt in seinen beiden Hauptanliegen (vgl. Ebert 2004, 8f.), wohl aber in seiner Durchführung deutlich an der Argumentlogik geschult. Eher „philologisch“ orientierte Kommentare bzw. Texterläuterungen bieten Archer-Hind 2 1894, Burnet 1911, Loriaux 1969/75, Dixsaut 1991; Rowe 1993 (alle unter 1) sowie Verdenius 1958 [2.1]. 6 Vgl. Phd. 59b10: „Platon aber, glaube ich, war krank.“ Im Gegensatz dazu wird in der Apologie explizit auf die Anwesenheit Platons hingewiesen (Ap. 38b6f.). Gegen eine allzu enge Gruppierung des Phaidon mit den beiden „Prozessschriften“ spricht neben der Datierung in unterschiedliche Werkphasen im Corpus Platonicum – Apologie und Kriton gelten als Frühwerke, der Phaidon als Werk der Reifezeit – auch einiges Inhaltliche: So gibt sich Sokrates in der Apologie in Fragen der postmortalen Existenz tendenziell eher als Agnostiker (wenn
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dringlich zur Darstellung zu bringen, „dass Sokrates tatsächlich als unerschütterlicher Märtyrer seiner philosophischen Überzeugungen gestorben ist“ (Frede 1999 [1], 8). Als Darstellung eines dem Tode geweihten Philosophen liegt natürlich die Einordnung in das Genre „Tragödie“ nahe, aber Sokrates offenbart in seiner Haltung gegenüber dem Tod eindeutig „antitragische“ Züge, wie der Beitrag von Michael Erler in diesem Band zeigt. Es geht ihm wohl darum, therapeutisch auf die Seelen der anderen Anwesenden (und ggf. auch auf die der Leserschaft) einzuwirken und sie von der Furcht vor dem Tod allgemein zu befreien: Sokrates soll bzw. will in Tat und Wort das „Kind in uns“ beschwören, das Angst davor hat, dass unsere Seele nach dem Tod und der damit einhergehenden Trennung vom Körper einfach vom Winde verweht wird und untergeht (vgl. Phd. 70a, 77d–e, 80d). Betont man diese Kontinuität mit der in den platonischen Frühschriften leitmotivischen „Sorge um die Seele“ (epimeleia tês psychês), die bei Sokrates nicht nur auf die eigene Seele, sondern stets auch auf die seiner Mitbürger bezogen ist, trägt der Phaidon v. a. den Charakter einer philosophischen Trostschrift, einer consolatio philosophiae. Zugleich kann er genretechnisch auch als ein protreptisches Werk verstanden worden, das den Leser zur Philosophie bekehren soll (vgl. Festugière 1973 [2.1] u. Sprague 2007 [2.1]). Die Darstellung eines philosophischen Märtyrertodes, der dennoch nicht betrauert werden muss, findet ihre griffige Formulierung in der sokratischen These, dass das Philosophieren selbst nichts anderes als ein „Sterben-Lernen“, also eine Einübung in den Tod ist, insofern der Philosoph in seinem Denken die Ablösung seiner Seele vom Körper – und damit das Sterben – bereits lebenslang betreibe (Phd. 64a–b, 80d–81a, 83a–b). Diese paradox anmutende These wird im Phaidon wesentlich in einer Art „zweiten Apologie“ – dieses Mal vor den Freunden und nicht vor den athenischen Richtern – legitimiert (Phd. 62c–69e in Verbindung mit 80c–84b). Diese „neue“ Apologie wirft jedoch einige Probleme im Blick auf das involvierte Verständnis der Termini „Philosophie“ bzw. „Philosoph“ auf: Sokrates’ Ausführungen laufen nämlich auf einen sehr starken „Leib-Seele-Dualismus“ hinaus, in dem der Körper letztlich eine Art Gefängnis der Seele ist (Phd. 82d9–83a1); folgerichtig erscheint Philosophieren in erster Linie als eine Art „Reinigungsprozess“ (katharsis) der Seele von allem Körperlichen (Phd. 67c5–d2, 82d1–7). Diese prononciert leibfeindliche Haltung lässt sich mit den anderen platonischen Werken der mittleren und späten Werkphase, welcher der Phaidon gemeinhin zugerechnet wird, nur sehr mühsam unter einen Hut bringen (s. u., unter 1.3). Aber auch schon bei der Lektüre des Phaidon selbst können Zweifel auftreten, ob das alles so strikt gemeint sein kann: Die Seele scheint nämlich bereits hier, wie das spätere „Argument aus der Ähnlichkeit“ zeigt, eher in einer Mittelstellung (metaxy) zwischen dem auch optimistisch, dass der Tod kein Übel für ihn ist), während er sich im Phaidon der postmortalen Existenz der Seele sicher ist. Trotzdem gibt es viele Deutungen, die eine inhaltliche Verbindung der drei Schriften stark machen, z. B. Szlezák 1985 [2.1], der hier eine sokratische „Verteidigung auf drei Ebenen“ diagnostiziert.
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Körperlichen und dem Reich des Intelligiblen angesiedelt. Entgegen vieler gängiger Interpretationen lässt sich, wie Michael Bordt in seinem Beitrag zeigt, der „metaphysische Dualismus“ von Ideen- und Sinnenwelt gerade nicht bruchlos in einen simpel gestrickten Leib-Seele-Dualismus übersetzen (vgl. auch Müller 2009a [2.7]) – was Platon selbst erkannt hat. Inwiefern repräsentiert Sokrates in seiner „Apologie“ dann aber das platonische (Selbst-)Verständnis von Philosophie? Nicht zuletzt deshalb ist verschiedentlich gemutmaßt worden, dass der Autor Platon im Phaidon seinen Sokrates in der philosophischen Selbstcharakterisierung v. a. eine Annäherung an den Pythagoreismus vollziehen lässt.7 Am nachhaltigsten ist diese These von Theodor Ebert (1994 [2.6] u. 2004 [1]) vertreten worden: Obwohl er die beiden Gesprächspartner Simmias und Kebes entgegen der lange Zeit gültigen opinio communis gerade nicht als Pythagoreer gelten lassen will (vgl. hierzu Sedley 1995 [2.2]), sieht er im Phaidon dennoch eine Art „Werbeschrift“ in Richtung der Pythagoreer; Sokrates werde deshalb als pythagoreischer Philosoph bzw. als „anima naturaliter Pythagorica“ (Ebert 2004 [1], 151) dargestellt. Für diese Deutung sprechen neben dem durch Ort und Gesprächspartner als „pythagoreisch“ gekennzeichneten Rahmengespräch prima facie auch einige deutliche Überlappungen im Gedankengut, nicht zuletzt im Blick auf das Praktizieren einer asketisch geprägten Lebensform wie auch hinsichtlich der Lehre von der Seelenwanderung (Metempsychose), auf die Sokrates explizit rekurriert. Der Umfang und die Zielsetzung dieser Annäherung zwischen platonischem und pythagoreischem Philosophieverständnis ist jedoch weiterhin zwischen den Interpreten umstritten. Dabei hat es auch immer wieder Deutungen gegeben, die das eigentliche tertium comparationis zwischen Platonismus und Pythagoreismus weniger im philosophischen Bereich, sondern eher in der religiösen Grundhaltung der beiden Richtungen gesehen haben; so sind z. B. die sôma-sêma-Metaphorik, die katharsis und die Idee der Seelenwanderung auch für die Orphik belegt.8 Zehrt Sokrates im Phaidon letztlich von religiös gespeisten Jenseitsvorstellungen? In einer dezidiert religiös-existenziellen Deutung hat etwa Romano Guardini (1943 [1], 260–279) den „religiösen Charakter der Unsterblichkeitsgewissheit“ bei Platon betont und die gewagte Behauptung formuliert, „dass der Phaidon die Botschaft der platonischen Apollonreligion darstellt“ (ebd., 268). Dabei stützte er sich neben den zahlreichen impliziten und expliziten Bezügen auf Apollon im Phaidon auch auf den Umstand, dass Sokrates seiner Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele die Erzählung eines Mythos über das jenseitige Schicksal der Seele folgen lässt: Hier werde letztlich das gesagt, „was durch den Gedanken nicht mehr erfasst werden kann“ (ebd. 273), was also den Logos letztlich übersteige, ohne ihn notwendig damit 7 Zum Verhältnis des Phaidon zum Pythagoreismus vgl. die Literatur unter 2.6. 8 Vgl. hierzu Bernabé 2007; Böhme 1989; Epp 1968/69; Long 1948; Müller 2009; Zander 1999 (alle unter 2.5).
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zu negieren. Das Problemfeld des Verhältnis von Mythos und Logos bei Platon ist natürlich zu umfangreich, um es hier abdecken zu können,9 aber mit Blick auf den Phaidon sieht Christian Schäfer in seinem Beitrag doch eher die Tendenz, dass der Mythos das versinnbildlichend entfaltet, was der philosophische Logos vorher argumentativ erarbeitet und untermauert hat. Zudem ist – wie Schäfer zu Recht betont – im Phaidon im Gegensatz zu anderen Werken (z. B. Gorgias und Politeia) gerade nicht der Jenseitsmythos das letzte Wort,10 sondern wiederum das diesseitige Ethos des Sokrates: Nicht der Mythos beschließt den Phaidon, sondern die Sterbeszene. Die ostentative Betonung der hierbei in der Tat sehr religiös anmutenden Haltung von Sokrates kann man im Übrigen auch noch als einen späten Ref lex auf seine Verurteilung wegen Gottlosigkeit (Asebie) deuten, die mit seiner durchgängigen Stilisierung als unverdrossenem „Gottesdiener“ konterkariert werden soll. Die dramatische Lesart schenkt dabei allen Details der Darstellung des Verhaltens von Sokrates und seiner Umgebung größte Beachtung. Zweifelsfrei ist hier sehr viel symbolisch aufgeladen, vom letzten Bad als kathartischem Akt der „Reinigung“ (vgl. Stewart [2.2] 1972) bis zur Beschreibung des Zustands der Füße bzw. Beine des Sokrates als Versinnbildlichung seiner Positionierung zwischen körperlicher Welt und transzendentem Ideenhimmel (vgl. Dorter 1982 [1], 178). Die hermeneutischen Probleme, auf welche die dramatische Lesart in ihrer Interpretation des sokratischen Ethos zuweilen stößt, lassen sich in nuce an Hand seiner letzten Worte illustrieren (Phd. 118a7–8, Übers. B. Zehnpfennig): „Kriton, dem Asklepios schulden wir einen Hahn. Entrichtet ihm den und vergesst es nicht.“ Sofern man hierin nicht bloß eine weitere Demonstration der religiösen Grundhaltung, sondern ganz im Stile der höchst bedeutsamen letzten Worte (ultima verba) berühmter Personen eine Art Summe des Dialogs oder der sokratischen Lebensführung sehen will, ergibt sich folgendes Bild:11 Asklepios, dem Gott der Heilkunst, ein Opfer zu bringen bedeutet herkömmlicherweise, sich für eine Heilung zu bedanken oder eine solche zu erbitten. Aber was für eine Heilung ist hier gemeint: Die Heilung des Sokrates von der „Krankheit“ des Lebens durch die Trennung von Seele und Leib (so Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft, § 340)? Oder die Heilung der Anwesenden von der Skepsis gegenüber den Logoi (Stichwort: Misologie, s. u.)? Oder die Heilung von der Todesfurcht (Stichwort: therapeutische epimeleia tês psychês)? Oder gar die erbetene Heilung des wegen Krankheit nicht anwesenden Platon? Mit diesen Optionen ist das interpretatorische Potenzial sicherlich noch nicht vollständig 9 Vgl. die unter 2.5 versammelten Titel zur Thematik, v. a. die neueren Sammelbände von Janka/Schäfer 2002 und Partenie 2009. 10 Die häufige Kennzeichnung der Passage 107c–115a als „Schlussmythos“ (z. B. in der ansonsten sehr gelungenen Ausgabe von Zehnpfennig 2 2007 [1]) ist deshalb etwas irreführend. 11 Vgl. Clark 1952, Crooks 1998, Most 1993, Kloss 2001, Madison 2002, Mitscherling 1985; Wells 2008 (alle unter 2.2). Gute Zusammenfassungen des Diskussionsstandes bieten Frede 1999 [1], 169–172 und Ebert [1] 2004, 458–461.
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ausgeschöpft, aber eine endgültige Entscheidung dieser konkurrierenden Deutungen erscheint aufgrund der „dramatischen“ Evidenz allein zumindest schwer möglich. An die Interpretation dieser Passage lässt sich auch eine Art Binnendifferenzierung der dramatischen Deutung des Phaidon anknüpfen: Friedrich Nietzsche hat Sokrates und damit seiner Philosophie ganz in Anlehnung an seine Interpretation der Sterbeszene (s. o.) eine fundamentale „Lebensmüdigkeit“ unterstellt, eine Art Lebensekel bzw. -schwäche der Vernunft, die ihre Erfüllung letztlich nur in der Weltf lucht finden könnten. Oft ist hier auch ein Kontrast mit dem „weltzugewandten“ Symposion gesehen worden: Während dieses Werk das Leben des Philosophen zeige und eine Art „Diesseitsevangelium“ biete, werde im Phaidon eher eine leicht morbide anmutende Jenseitsorientierung des Philosophierens sichtbar. Gegen eine solche Deutung spricht allerdings nicht nur das (in seiner Herkunft allerdings umstrittene) Selbstmordverbot, das Sokrates ausdrücklich bejaht (Phd. 62a–c): Auch die Tatsache, dass er quasi bis zur letzten Minute philosophiert und seine Lebensführung in der phaidonischen „Apologie“ ausdrücklich rechtfertigt, zeigt, dass er auf keinen Fall nur zuversichtlich auf die Zeit nach dem Tod schaut, sondern auch seiner vorherigen philosophischen Tätigkeit einen hohen Eigenwert beimisst. In dieser Spielart der existenziellen Deutung geht es im Phaidon eben nicht nur um das Sterben des Philosophen und das jenseitige Schicksal seiner Seele, sondern auch und gerade um sein Leben, genauer: um die Frage nach dem guten Leben (eudaimonia), die Sokrates und Platon umgetrieben und letztlich zur Philosophie als einer Lebensform gebracht hat, in der Theorie und Praxis, Logos und Ethos eine Einheit bilden (vgl. Zehnpfennig 2 2007 [1], XII–XVIII). Zu philosophieren heißt dann, richtig zu leben und zu sterben, und gerade deshalb fällt der sokratische Blick zurück wie auch der nach vorne so zuversichtlich aus: Jenseits- und Diesseitsorientierung schließen sich in dieser Lesart also nicht sensu stricto aus, insofern die im Leben philosophisch gewonnenen Einsichten die gelassene Haltung zum Sterben wesentlich mitbedingen: Der Philosoph muss den Tod keineswegs suchen, hat aber auch keinen Grund, ihn partout zu f liehen oder zu fürchten. Wie Christopher Rowe (1993 [1], 5) richtig feststellt, führt der Phaidon letztlich (mindestens) auf zwei Schlussfolgerungen hin, nämlich (1) dass das philosophische Leben das beste ist und (2) dass die Seele unsterblich ist. Dieser zweite Aspekt steht traditionell im Mittelpunkt der argumentanalytischen Interpretation des Phaidon, die im Folgenden skizziert werden soll.
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1.3 Philosophischer Logos und Argumentanalyse Im Zentrum des sokratischen Logos, also der philosophischen Argumentation im engeren Sinne des Wortes, stehen nun die drei bzw. vier12 „Beweise“ für die Unsterblichkeit der Seele sowie – in sachlich enger Verbindung damit – Sokrates’ Widerlegung der harmonia-These von Simmias und des Webergleichnisses von Kebes, die beide auf die mögliche Zerstörbarkeit bzw. Vergänglichkeit der Seele hinarbeiten. Zu diesen Argumenten existiert eine mittlerweile schwer überschaubare Menge an Literatur, v. a. an Aufsätzen bzw. Artikeln,13 die sich oft in analytischer Weise der logischen Struktur des Gedankenganges widmen und dessen Prämissen, Prinzipien und Schlussfolgerungen zu rekonstruieren sowie in ihrer Plausibilität und Beweiskraft zu prüfen suchen. Diese für sich betrachtet teilweise äußerst scharfsinnigen Analysen sind allerdings eingebettet in einige umfassendere Problemkomplexe, die man bei aller Liebe zur logischen Detailbetrachtung nicht aus dem Blick verlieren sollte: (1) Beweischarakter: Es darf als durchaus umstritten gelten, inwiefern das Vorgetragene von Sokrates selbst als ein vollgültiger Beweis im strikten, i. e.: demonstrativen, Sinne des Wortes aufgefasst wird: Die Termini technici apodeixis bzw. apodeiknynai fallen zwar oft (Phd. 72c1, 73a5, 77a–d, 87a4, c4, 88b5, 92d1/3, e1, 105e8), aber insgesamt entsteht doch der Eindruck, als wenn das letzte Wort in der Sache auch noch nach dem letzten Argument nicht gesprochen ist. Hierauf deutet nicht nur die (für Sokrates allerdings typische) Aufforderung zur weiteren Untersuchung und Prüfung der vorläufig nur als glaubwürdig (pistai) gekennzeichneten und von Simmias und Kebes konzedierten Voraussetzungen (Phd. 107b4–6): Teilweise wird die Argumentation von Sokrates selbst als bloß „wahrscheinlich“ (eikos, vgl. Phd. 70b7) charakterisiert, was nicht für einen genuin demonstrativen Charakter des Vorgetragenen spricht. Viele Interpreten stoßen sich zudem grundlegend an der offensichtlichen (2) Beweishäufung (vgl. Heitsch 2000 [2.3]) im Phaidon. Der Tenor dieser Kritik lautet: Wenn Sokrates ein einziges überzeugendes und unwiderlegbares Argument für einen Beweis sensu stricto zur Verfügung hätte, warum sollte er dieses gewissermaßen „verwässern“, indem er noch andere anführt? Für dieses Vorgehen können natürlich unterschiedliche Hintergründe geltend gemacht werden: So könnte z. B. statt der logischen Funktion des Beweises der „psychotherapeutische“ Effekt im Vordergrund stehen, den Sokrates bei seinen Zuhörern und Lesern erzeugen will (vgl. Erler 2009 [2.2]), und der durch mehrfache Variation eventuell erhöht werden kann: „Wenn dich das noch nicht restlos überzeugt, dann nimm noch folgende Erwägung hinzu ...“. Die Beweishäufung hätte dann aber primär persuasiven und nicht demonstrativen Charakter, was nicht so 12 Bei der teilweise abweichenden Zählung geht es v. a. um die Frage, ob das Anamnesis-Argument als eigener Beweis zu zählen ist, obwohl Sokrates es selbst eher als Ergänzung zum Kreislauf-Argument kennzeichnet (Phd. 77c6–d5); vgl. dazu auch unten, Anm. 16. Die meisten Interpreten sprechen von vier Argumenten. 13 Vgl. die unter 2.3 verzeichneten Titel.
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recht zu der von Sokrates of wiederholten Kritik an der sophistischen Rhetorik passt.14 Eine andere Möglichkeit besteht darin, hier einen steigernden Charakter der Argumentation im Phaidon anzunehmen, und zwar in dem Sinne, dass die ersten drei Argumente in der Tat aus verschiedenen Gründen nicht durchschlagen und erst das vierte Argument konklusiven Charakter hat. Auch hier sind die Interpreten allerdings geteilter Auffassung: Während Dorothea Frede in ihrem Beitrag in diesem Band (vgl. auch dies. 1978 [2.3] u. 1999 [1], 134–151) das letzte Argument aus seinen Voraussetzungen heraus letztlich für schlüssig hält und von Platon selbst als gültigen Beweis konzipiert ansieht, meint Theodor Ebert (2004 [1], 417–420), dass Platon letztlich bewusst alle Beweisversuche – inklusive des letzten – scheitern lässt. Dies führt dann auf das weite Feld der Frage nach der (3) Fehlerhaftigkeit bzw. Unzulänglichkeit der Beweise bzw. Argumente. Viel Energie ist v. a. in der analytischen Kommentartradition darauf verwendet worden, der sokratischen Argumentation Sophismen, zweifelhafte Prämissen u. ä. nachzuweisen – oder sie just gegen diese Vorwürfe zu verteidigen. Ein Beispiel unter vielen möge genügen: Wenn Sokrates im Rahmen seines Kreislaufarguments mit dem Prinzip der Symmetrie arbeitet, demzufolge beim Entstehen der Gegensätze auseinander solche Prozesse immer in beide Richtungen stattfinden (aus dem Schlafenden wird ein Wachender und umgekehrt), scheint sich dieses Prinzip durch lineare und irreversible – und d. h.: nichtsymmetrische – Entwicklungen wie das Altern recht elementar widerlegen zu lassen. Dann stellt sich aber mit Ebert (2004 [1], 195) die (rhetorische) Frage: „Sollen wir wirklich glauben, Platon hätte nicht gesehen, daß es Prozesse gibt, die unumkehrbar sind, wie der Prozess des Alterns?“ Auf jeden Fall sollte man so weit wie nur möglich zu unterscheiden versuchen, ob Fehler absichtlich oder unabsichtlich begangen wurden, und ob der Autor sie im Mund der Protagonisten bewusst inszeniert hat – dann wären sie im Blick auf die Dialogfigur unabsichtlich, aber im Blick auf den Autor absichtlich – oder ob sie dem Autor (also Platon) ggf. doch selbst unabsichtlich unterlaufen sein könnten (vgl. Heitsch 2000 [2.3], 499f.). Die Beweislast scheint mir dann aber eher bei den Autoren zu liegen, die Platon unterstellen, dass er als Autor alle Beweise absichtlich scheitern lässt: Wie verträgt sich das mit der in diesem Band von Bernd Manuwald sorgfältig untersuchten Misologie-Passage im Phaidon (Phd. 88c–91c), in der Sokrates seine in Verwirrung geratenen Zuhörer ausdrücklich davor warnt, das Vertrauen in die Logoi zu verlieren, nur weil nicht alle überzeugend sind? Wäre es nicht argumentationsstrategisch ein Eigentor, nach dieser Warnung später die „Zuf lucht in die Logoi“ (Phd. 99e4–6) anzutreten, um dann in seinem letzten „Beweis“ lediglich eine weitere 14 Natürlich kann man auch generell zweifeln, ob ein solches Variationsverfahren die Glaubwürdigkeit des Behaupteten bzw. des Sprechers wirklich erhöht und nicht eher zu untergraben droht. Schließlich rühmt sich Sokrates im Gorgias im Vergleich mit der sophistischen Rhetorik gerade damit, dass er im Gegensatz zu seinen Opponenten immer dasselbe sage, statt viele verschiedene Zeugen aufzurufen (Grg. 471e–472c; 474a–b) – was sich schlecht mit der Idee einer deliberativen Argumentvariation verträgt.
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defiziente Argumentation zu präsentieren?15 Oder wird Sokrates auf diese Weise im Phaidon in diesen „letzten“ Fragen doch als ein erkenntnistheoretischer Skeptiker porträtiert, der die Grenzen menschlicher Weisheit im Vergleich zur göttlichen analog zu seinem Wissen um das eigene Nichtwissen in der Apologie zieht? Unabhängig von diesen übergeordneten Fragen bzw. Interpretationsproblemen kann man in Bezug auf die Argumentanalyse folgende hermeneutische Prinzipien geltend machen, die jeweils beachtet werden sollten: (1) Von fundamentaler Bedeutung ist die Beachtung des Beweisziels bzw. der Reichweite der jeweiligen Argumentation. Wie Filip Karfík und Benedikt Strobel in ihren Analysen zum Kreislauf- und zum Ähnlichkeitsargument verdeutlichen, ist es unabdingbar, sich das jeweilige Demonstrandum des Beweisgangs genau vor Augen zu führen: Es ist nämlich keineswegs der Fall, dass alle Argumente – wie oft dargestellt bzw. angenommen – genau dasselbe inhaltliche Ziel verfolgen, nämlich die absolute Unvergänglichkeit der Seele in vollem Umfang zu demonstrieren. Das Kreislaufargument zielt primär auf den Nachweis, dass die Seelen, nachdem sie die Körper der Gestorbenen verlassen, „im Hades“ (Phd. 71e2) sind bzw. überhaupt existieren (Phd. 72d9–e1); das AnamnesisArgument hingegen beweist nach eigener Auskunft des Sokrates für sich genommen nur die Präexistenz, nicht aber die Postexistenz der Seele (Phd. 77c1–5).16 Im Ähnlichkeitsargument lautet die erreichte Schlussfolgerung, dass unser Körper nach unserem Tod schnell aufgelöst wird, während unsere Seele ganz oder „nahezu“ unauf lösbar (Phd. 80b10) ist – nur wer unterstellt, dass Sokrates hier von Anfang an einen Beweis ihrer absoluten Unvergänglichkeit leisten wollte, wird schon dieses Resultat als unbefriedigend empfinden. Gerade die ersten drei Beweise scheinen also in eher noch unspezifischer Weise darauf zu zielen, die „kindische Angst“ zu bekämpfen, dass die Seele nach dem Tod einfach aufgelöst und vom Winde verweht wird. Erst durch das Webergleichnis von Kebes wird deutlich, dass die Unsterblichkeit der Seele im Sinne ihrer absoluten Unzerstörbarkeit bewiesen werden muss, um dieser Todesfurcht endgültig zu begegnen; die hierfür zentrale terminologische Unterscheidung und inhaltliche Auslotung des Verhältnisses von „unsterblich“ (athanatos) und „unzerstörbar“ (anôlethros) wird nach ihrer eher beiläufigen Einführung durch Kebes (Phd. 88b5f.) erst im letzten Argument in Angriff genommen. Aber auch hier stellt sich, wie Dorothea Frede zeigt, noch das Problem der Reichweite des präsentierten Arguments. Letztlich beweist das Argument aus den 15 Man kann hierin natürlich prinzipiell eine weitere Aufforderung des Sokrates sehen, die so konstatierte Beweislücke selbst zu schließen; vgl. etwa v. Kutschera 2002 [3], Bd. II, 41. In diese Richtung geht auch die Hypothese von Ebert (2004 [1], 420), der meint, dass Platon den Pythagoreern (als den Adressaten des Dialogs) den Nutzen der Dialektik demonstriere und sie zur Vollendung der Argumentation auffordere. 16 Versteht man das Kreislauf-Argument als primär auf die Postexistenz, das Anamnesis-Argument als auf die Präexistenz der Seele abstellend, so wird in der Tat – wie es auch Sokrates selbst reklamiert (Phd. 77c–d) – erst durch ihre Zusammenfügung ein „vollständiger“ Beweis daraus.
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essentiellen Eigenschaften zum einen mehr, zum anderen weniger als gefordert: Der Nachweis der Unsterblichkeit erstreckt sich einerseits letztlich auf alle Seelen (und nicht bloß auf die menschlichen); andererseits sichert der Beweis allein ihre bloße Fortexistenz als Lebensprinzip und nicht eine qualifizierte Form der individuellen Unsterblichkeit als Person unter Einschluss der kognitiven Vermögen und ggf. ihrer Inhalte (z. B. der persönlichen Erinnerungen). Sokrates’ Zuversicht im Angesicht des nahenden Todes beruht ja auf der doppelten Überzeugung, „dass [1] die Seele, nachdem der Mensch gestorben ist, noch besteht und [2] in gewisser Weise noch Kraft und Einsicht (phronêsis) hat“ (Phd. 70b2–4; Übers. Zehnpfennig). Eine jenseitige Existenz ohne geistige Tätigkeit könnte für einen Philosophen wohl kaum ein Ziel sein, das gegenüber dem diesseitigen Leben als besser erscheint. Hier sind also auf der Ebene der Reichweite des Logos de facto noch einige Fragen offen. (2) Beachtung der dialogischen Form: Viele Interpreten verwenden im Rahmen der logischen Analyse der Frage nur wenig Aufmerksamkeit darauf, wer im Dialogverlauf genau welche Behauptungen aufstellt, wer was fragt, wer welche Zustimmungen gibt, etc. Für das Problem der Fehlschlüssigkeit bzw. Unzulänglichkeit der Argumentation sowie die Frage nach der Intentionalität der Fehler auf Figuren- und Autorenseite ist die Miteinbeziehung dieser „dialektischen Seite der Argumentation“ (vgl. Ebert 2004 [1], 9; Rowe 1993 [1], 2f.) aber von absolut zentraler Bedeutung. In diesen Kontext gehört auch stets die Warnung vor der fallacia Socratica, also der Neigung, Sokrates nur als Sprachrohr platonischen Philosophierens zu verstehen, aus dessen Äußerungen man letztlich eine Art doktrinäres System herausdestillieren kann. Die dialogische Form ist sicherlich kein beliebiges Kleid für das platonische Philosophieren und sollte deshalb bei der inhaltlichen – und d. h. eben auch: bei der argumentanalytischen – Interpretation konstruktiv miteinbezogen werden.17 Trotz der so geltend gemachten Fokussierung auf den genauen Wortlaut des Dialogs selbst ist natürlich auch die Einordnung des Werks in den größeren Kontext des Corpus Platonicum stets ein hermeneutisches Desiderat: Die verschiedenen Logoi im Phaidon sind selbst äußerst voraussetzungsreich und strahlen ihrerseits in verschiedene zentrale Themenfelder platonischen Philosophierens in toto ab. Die wichtigsten Themenkreise, die hierbei involviert sind, sollen nachfolgend zumindest kurz skizziert und ggf. problematisiert werden: (1) Anamnesis-Lehre: Das zweite Argument knüpft an eine für Platons Denken zentrale Lehre an, die erstmalig im Menon entwickelt wird, dass nämlich alles Lernen letztlich Wiedererinnerung (anamnêsis) ist.18 Während im Menon diese These aber eher 17 Richtungweisend in Bezug auf die Verzahnung von literarischer Form und Inhalt beim platonischen Philosophieren ist hier die neue Ueberweg-Darstellung von Erler 2007a [3]. 18 Vgl. Phd. 72e3–7, mit einem unübersehbaren Rückbezug auf Mn. 80d–86c. Zur Anamnesis-Lehre im Phaidon vgl. Ackrill 1973; Allen 1969/60; Dorter 1967 u. 1972; Dunlop 1975; Franklin 2005; Hardy 2007; Kanayama 2006; Kelsey 2001; Lafrance 2007; Lee 2000; Morgan 1984; Osborne 1995; Scott 1987; Weiss 2000 (alle: 2.3).
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in praxi am Beispiel eines Sklaven, der eine mathematische Aufgabe löst, vorgeführt wird, ist im Phaidon das Bemühen um den Nachweis erkennbar, dass man das Konzept von apriorischem, d. h. nicht aus sinnlichen Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen heraus gewonnenem Wissen (und damit auch die Annahme einer erkenntnisfähigen Seele, die schon vor der Einkörperung existiert) aus epistemologischen Erwägungen heraus akzeptieren müsse. Hier sind äußerst grundlegende Erwägungen hinsichtlich des platonischen Konzepts des Wissenserwerbs und seiner begriff lichen Grundlagen involviert. Auffällig ist, dass das Anamnesis-Argument im Phaidon von verschiedener Seite aus ausdrücklich bestätigt bzw. bekräftigt wird, weshalb ihm von manchen Interpreten (z. B. Dorter 1967 [2.3]) eine Schlüsselstellung für die platonische Unsterblichkeitsidee in toto zugewiesen wird. Letztlich ist die Anamnesis-Konzeption auch am ehesten eine Grundlage für die von Sokrates in Aussicht gestellte Fortexistenz der Seele in personalen Kategorien, d. h. unter Einschluss kognitiver Fertigkeiten und Gehalte. Wie der Beitrag von Lloyd Gerson in diesem Band verdeutlicht, sind die im Anamnesis-Argument involvierten Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Ähnlichkeit auch eine Brücke zur (2) Ideenlehre:19 Diese figuriert schon im Argument aus der Ähnlichkeit, das letztlich auf dem metaphysischen Dualismus von intelligibler und sinnlicher Welt aufruht. Die Annahme von Ideen als explanatorischen Größen, nämlich zur Erklärung dafür, warum die Dinge bestimmte Eigenschaften haben – die einzelnen schönen Dinge sind schön durch die Teilhabe am Schönen selbst –, wird jedoch auch später nicht demonstrativ bewiesen, sondern als eine Hypothese gesetzt.20 Das von Sokrates damit als Alternative zur vorherigen Naturforschung dargestellte hypothesis-Verfahren ist in der Forschung viel beachtet worden;21 seine Verwendung zeigt aber auch die Reichweite des letzten Beweise an, der eben letztlich auf der Ideenhypothese beruht. Verkürzt formuliert wird am Ende nur die Gültigkeit folgenden Satzes bewiesen: „Wenn es die Ideen gibt, ist die Seele unsterblich“ (Szlezák 1985 [2.1], 247). Die sokratische Aufforderung zur weiteren Untersuchung der ersten Voraussetzungen (prôtai hypotheseis) zum Abschluss der Argumente (107b4–9) kann somit durchaus direkt auf die Ideenlehre bezogen werden, in Bezug auf die im Phaidon ohnehin vieles im Unklaren bzw. Vagen verbleibt.22 Schon
19 Zur Bedeutung der Ideenlehre für den Phaidon vgl. die Titel unter 2.4. 20 Vgl. Phd. 99d–102a. Der ursächliche Charakter der Ideen wird in der Forschung viel diskutiert; vgl. Burge 1971; Byrne 1989; Creswell 1971; Matthews/Blackson 1989; Politis 2010; Rowe 1993; Sedley 1998; Stough 1976; Vlastos 1969; Yonezawa 1991 (alle: 2.4). 21 Vgl. hierzu Bluck 1957; Ebert 2001; Plass 1960; Sprague 1968/69; Telle 1973 (alle unter 2.4). 22 Das später im ersten Teil des Parmenides thematisierte Problemfeld, wie man sich nämlich das Verhältnis zwischen den transzendenten Ideen und ihren sinnlichen Partizipanten zu denken habe, wird zwar im Phaidon mit einem Strauß von Ausdrücken (methexis, parousia, koinônia) metaphorisch charakterisiert, aber inhaltlich bewusst offen gelassen (Phd. 100d3–8).
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die Charakterisierung dieses Unternehmens als zweite bzw. zweitbeste Fahrt (deuteros plous: 76c9–d1) gegenüber der vorsokratischen Ursachenforschung ist dabei alles andere als eindeutig, insofern die Ideenhypothese doch eigentlich den Königsweg in der platonischen Welterklärung darstellen sollte.23 Im Phaidon wird ihre Genese auf jeden Fall eng verquickt mit der (3) Kritik an der vorsokratischen Physiologie: Im Rahmen einer „Autobiografie“ (96a– 99c), die als authentische Darlegung der geistigen Entwicklungsgeschichte des Sokrates nicht unproblematisch ist,24 wird die Geburt der Ideenhypothese als direkte Konsequenz aus dem Versagen der vorherigen Naturforschung beschrieben. Ebenso wie später im zehnten Buch der Nomoi (890b–899c) wird die einseitig mechanistisch-materialistische Erklärung der Prozesse des Werdens und Vergehens verworfen zu Gunsten einer teleologischen Auffassung der Natur als eines auf das Gute als Zweck hin ausgerichteten und damit sinnhaften Geschehens. Wie Kenneth Dorter in seinem Beitrag zu den Einwänden von Simmias und Kebes aufzeigt, rekurrieren auch diese beiden auf ein in der Tiefenstruktur rein physikalistisches Kausal- bzw. Erklärungsmuster und präludieren damit angemessen die anschließende Darstellung sowie die sokratische Kritik an der vorsokratischen Naturforschung in der „Autobiografie“. Das im Phaidon bloß eingeforderte aber nicht verwirklichte Programm einer auf Formal- und Finalkausalität beruhenden Erklärung des Kosmos kann man dabei als eine Antizipation der Ausführungen im Timaios lesen: Denn dort wird letztlich eine Art „intelligent design“-Konzeption dargestellt, in welcher der platonische „Handwerkergott“, der Demiurg, den sichtbaren Kosmos nach dem Vorbild der Ideen so gut wie nur möglich gestaltet und damit der sokratischen Forderung im Phaidon nach Erklärung der Natur durch das Gute bzw. Beste Genüge getan wird. Hier wie da gilt es aber, den von Christoph Horn in seinem Beitrag kritisch diskutierten Einwand zu beachten, dass auf diese Weise ein unverkennbar handlungstheoretisches Vokabular in die Analyse von natürlichen Prozessen „importiert“ wird; das wird von nicht wenigen Interpreten als eine kategoriale Verwechslung oder eine unzulässige Vermischung von Gründen und Ursachen angesehen. Deutlich erkennbar ist bei Platon auf jeden Fall die Absicht, die Seele generell als Sachwalterin der Vernunft im Kosmos und damit als unverzichtbare explanatorische Größe innerhalb der Naturphilosophie zu etablieren.
23 Zum deuteros plous vgl. Goodrich 1903/04; Kanayama 2000; Murphy 1936; Preus/Ferguson 1969, Rose 1966; Shipton 1979; Tait 1986 (alle unter 2.4). 24 Die Problematik liegt hier nicht zuletzt darin, dass Sokrates in der Apologie rundweg abstreitet, die ihm von der Anklage zur Last gelegte „gottlose“ Naturforschung vorsokratischen Stils jemals betrieben zu haben (Ap. 19b–d, 26d–e). Vgl. zu dieser „Autobiografie“ im Phaidon und ihrer Kritik an der Vorsokratikern Schäfer 2005; Gower 2008; Menn 2010 (alle unter 2.4).
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(4) Psychologie:25 Dabei fällt jedoch gerade im Vergleich anderer Schriften des mittleren und späteren Œuvres mit dem Phaidon sehr deutlich ins Auge, dass in der Darstellung der Seele einige Abweichungen vorliegen: Der Phaidon konzentriert sich ausschließlich auf die Seele als (1) Lebensprinzip und (2) kognitives Prinzip bzw. Erkenntnisvermögen: In anderen Werken wird die Seele in erster Linie als Bewegungsprinzip bzw. als Selbstbeweger verstanden verstanden. Im Phaidros wird das Wesen der Seele definitorisch explizit über die Selbstbewegung bestimmt und darüber auch ein weiterer Beweis ihrer Unsterblichkeit geleistet (vgl. Phdr. 245b–246a; Demos 1968 [2.7]; Bett 1986 [2.7]); eine ähnliche Argumentation findet sich im Spätwerk, den Nomoi (Lg. X, 894e–896d). Offensichtlich ist es Platon im Phaidon also nicht an einer exhaustiven funktionalen Analyse der Seele gelegen; obwohl der Dialog in der Tetralogienordnung den Nebentitel Peri psychês trägt, wird hier nicht das geleistet, was z. B. Aristoteles in seiner gleichnamigen Schrift in Angriff nimmt, nämlich eine umfassende Untersuchung aller seelischen Aktivitäten sowie des ontologischen Status der Seele selbst. Ihre für das mittlere und spätere Corpus Platonicum charakteristische Mittelstellung (metaxy) zwischen körperlicher und rein geistiger Welt wird zwar im Ähnlichkeitsargument in groben Strichen skizziert, aber nicht näher ausgeführt. Insgesamt zeigen die wiederholten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele bei Platon – außer den bereits angeführten Passagen ist noch Rep. X, 608c–611a, zu nennen –, dass die Seele bei Platon v. a. in ihrer existenziell-metaphysischen Dimension und den damit zusammenhängenden ethischen Implikationen (Stichwort: epimeleia tês psychês und Wahl der richtigen Lebensorientierung) explizit zum Thema wird. Schließlich macht Platon in Politeia X (611b–d) selbst die Einschränkung, dass die Seele sich in ihrer wahren Natur erst nach der Trennung vom Körper zeigt. Das Wesen der Seele wäre uns damit zumindest unter irdischen Erkenntnisbedingungen kaum zugänglich bzw. adäquat beschreibbar. Zur quasi näherungsweisen Beschreibung der Seele verwendet Platon allerdings höchst eindrucksvolle und wirkmächtige Bilder, wie etwa den Seelenwagen (Phdr. 246a–256e) oder das chimärische Seelentier (Rep. IX, 588c–592b). Diese Darstellungen stimmen allerdings zumindest darin überein, dass die Seele als dreiteilig aufgefasst wird; im Phaidon hingegen legt sich eher eine Eingestaltigkeit der Seele nahe, von einer Mehrteiligkeit ist hingegen nicht viel zu spüren.26 Dieser Befund ist natürlich verschieden interpretierbar: „Unitarische“ Deutungen können entweder darauf pochen, dass Platon nie mehr in einen Dialog einbringt, als für die jeweiligen Zwecke erforderlich ist, und dass die Dreiteilung hier argumentativ nichts ausrichten 25 Vgl. zu diesem Themenkomplex die unter 2.7 versammelte Literatur; einen Forschungsüberblick zur platonischen Psychologie habe ich in Müller 2009b geboten. 26 Vgl. v. a. das Argument aus der Ähnlichkeit, in dem die Seele als den „unzusammengesetzten“ und „eingestaltigen“ (monoeides: Phd. 78d 5, 80b2; vgl. auch 83e2) Ideen verwandt beschrieben wird.
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würde. Oder sie können in Anlehnung an die Unterscheidung von sterblichen und unsterblichen Seelenteilen aus dem Timaios die Auffassung vertreten, dass Platon eben nur die Vernunftseele (logistikon) für unvergänglich gehalten habe und dass von ihr allein im Phaidon die Rede sei. Wer hingegen größere Affinitäten zu einer „genetischen“ Deutung des Corpus Platonicum hat, kann hier allerdings auch einen entwicklungsgeschichtlichen Übergang in der platonischen Psychologie von der eingestaltigen zur dreiteiligen Seele vermuten: Durch die mit Politeia IV (436a–441c) einsetzende psychische „Internalisierung“ des Konf likts zwischen Leib und Seele bzw. dessen Übersetzung in einen Antagonismus von Seelenteilen wird nämlich nicht zuletzt eine nachhaltige Ressource für eine phänomennahe Beschreibung des Problems der akrasia bzw. Willensschwäche geschaffen, für die in den sokratischen Dialogen noch kein rechter Platz ist (vgl. Prt. 351b–358e; Müller 2009c [2.7]). Dazu passt dann auch, dass im Gegensatz zur dualistisch-leibfeindlichen Grundhaltung im Phaidon dem Körper im Laufe der platonischen Schriften zunehmend eine positive Funktion zugeschrieben und eher eine Harmonie von Leib und Seele angestrebt wird (vgl. Johansen 2000 [2.7]). Obwohl der Phaidon aufgrund des gewissermaßen kanonischen entwicklungsgeschichtlichen Kriteriums, nämlich der Präsenz oder Absenz der Ideenlehre, herkömmlich dem mittleren Werk zugerechnet wird, spräche die in ihm auftretende Psychologie dann jedoch eher für eine Gruppierung mit dem Frühwerk. Hier sind trotz zahlreicher Untersuchungen zur platonischen Psychologie (siehe die Titel unter 2.7) noch einige Probleme zu klären. Für nahezu alle unter (1) bis (4) angesprochenen philosophischen Themen und Theoreme gilt aber ohnehin, dass sie im Phaidon entweder selbst vorausgesetzt oder nur zur weiteren Entwicklung und Prüfung angestoßen, aber nicht dialogintern ausbuchstabiert werden. Hier ist allerdings definitiv der dramatisch-existenzielle Rahmen des Werks zu beachten: Auch für Sokrates sind die Logoi, die er im Verlauf eines einzigen Tages argumentativ entwickeln kann, letztlich begrenzt ...
1.4 Die Pluralität der Zugänge und die Konzeption dieses Bandes Wie deutlich geworden ist, stellt der Phaidon bei aller diagnostizierten Fragmentarizität in der Behandlung der Ideenhypothese, der teleologischen Naturerklärung und der Seelenlehre doch in der in ihm präsenten Themenbreite von Ontologie, Epistemologie, Metaphysik, Psychologie und Naturphilosophie eine Art Brevier (oder zumindest ein Sammelbecken) der Philosophie Platons dar. Diese inhaltliche Vielfalt der philosophischen Logoi dürfte im Verbund mit der dramatisch-existenziellen Konstellation eines Berichts über das Verhalten und das Ethos des Philosophen im Angesicht des Todes das anhaltende Interesse am Phaidon über die Zeiten hinweg begründet haben: Über die Rezeption in Antike und Mittelalter hinaus (vgl. Carlini 1972 [2.1]), die ih-
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ren sichtbaren Niederschlag in den neuplatonischen Kommentaren der Spätantike (vgl. Westerink 1976/77 [1]) sowie der lateinischen Übersetzung durch Henricus Aristippus im 12. Jahrhundert (vgl. Minio-Paluello 1950 [1]) gefunden hat, bleibt der Dialog auch in Humanismus und Aufklärung – etwa in Moses Mendelssohns Phädon von 1767 – präsent. Die verschiedenen Etappen der Wirkungsgeschichte, die Theo Kobusch in seinem Beitrag zum Abschluss des Bandes nachzeichnet, sind in ihrem Verständnis des Textes und ihrer Aufnahme bestimmter philosophischer Motive aus ihm natürlich jeweils von zeitspezifischen Strömungen geprägt; auch hier dominiert in wechselnder Folge das Interesse am Ethos des Sokrates (z. B. im christlichen Vergleich des sterbenden Philosophen mit dem Tod Christi) oder am Logos der philosophischen Argumente, v. a. im Blick auf die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele als Thema einer metaphysica specialis. Dasselbe kann man allerdings, wie oben dargestellt, auch für die wissenschaftliche Erforschung des Phaidon in unserer Zeit mit ihrer tendenziellen „Dichotomisierung“ von dramatischen und analytischen Interpretationen sagen. Das sich aus dieser Diagnose nahe legende Desiderat einer Überwindung von bloß sektoralisierten (und damit auch tendenziell insulären) Betrachtungsperspektiven zugunsten einer die verschiedenen Dimensionen von Ethos und Logos sowie dramatischen und analytischen Zugängen produktiv verschmelzenden „integrativen“ Betrachtung ist allerdings leichter formuliert als in die Tat umgesetzt. Der Versuch einer solchen „unifizierenden“ Lesart hätte seinen Ausgangspunkt sicherlich in der Frage nach dem übergreifenden Thema sowie der Absicht des Werks im Ganzen zu nehmen (vgl. hierzu Zehnpfennig 2 2007 [1], XII–XIV; Frede 1999 [1], 177f.). Eine solche ambitionierte Zielsetzung könnte aber in einem kooperativen Kommentar aus verschiedenen Federn ohnehin nicht realisiert werden. Das Konzept des vorliegenden Bandes ist es deshalb, seiner Leserschaft die Pluralität der möglichen wissenschaftlichen Zugänge zum Phaidon zu eröffnen. Zu diesem Zweck sind in ihm argumentanalytische, literarisch-dramatische, philologische und auch religionsphilosophische Zugänge jeweils durch kompetente Autoren vertreten, die zudem alterstechnisch unterschiedlichen „Forschergenerationen“ angehören. Auch eine solche Pluralität von Zugängen kann einen gewichtigen hermeneutischen Ertrag erbringen: Aus den komplementär dargebotenen Einzeldeutungen – im Verbund mit der in dieser Einleitung versuchten Verortung der in der Phaidon-Forschung virulenten Problemstellungen übergreifender Natur – vermag sich jede/r Leser/in selbst mosaikartig ein eigenes Bild von diesem faszinierend vielschichtigen Werk zusammenzusetzen. Die Beiträge in diesem Band gehen fast vollständig auf ein wissenschaftliches Symposium zurück, das vom 16. bis 18. Juli 2010 am Institut für Philosophie der Universität Würzburg abgehalten wurde. Der Fritz Thyssen Stiftung sei hiermit für die generöse Finanzierung des gesamten Projekts gedankt. Für den wahrhaft kooperativen Stil bei
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der Zusammenarbeit an diesem Kommentar möchte ich mich bei den Beiträgern herzlich bedanken, für wertvolle redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung des Bandes an erster Stelle bei Eike Brock, daneben auch bei Lena Pint, David Franz, Johanna Schenk und Vanessa Emmerich. Dem Herausgeber der Reihe „Klassiker Auslegen“, Prof. Dr. Otfried Höffe, dem zuständigen Lektor des Akademie Verlags, Dr. Mischka Dammaschke, sowie Dr. Veit Friemert sei für ihre Unterstützung beim Zustandekommen des Werks ebenfalls gedankt.
2 Michael Erler
Die Rahmenhandlung des Dialoges (57a–61b, 88c–89a, 102a, 115a–118a)
2.1 „Was gesagt und was getan wurde“ (58c): Form als Botschaft Wegen seines Inhaltes und seiner formalen Gestaltung gilt der Phaidon mit seiner kunstvollen Mischung aus narrativen und dramatischen Elementen als einer der künstlerisch anspruchsvollsten Dialoge Platons. Das Vorgespräch zwischen Phaidon und Echekrates wird in dramatischer Gesprächsform geboten, das Geschehen um Sokrates’ Tod im Gefängnis in Athen wird von Phaidon erzählt. Dabei ist der Erzähler Phaidon gleichzeitig auch eine dramatis persona der erzählten Handlung. Er war in Sokrates’ letzten Stunden anwesend und greift einmal sogar in das Gespräch ein (89a). Phaidon berichtet aber nicht nur von den Geschehnissen und Gesprächen im Gefängnis, sondern schildert auch die Wirkung, welche diese Geschehnisse auf ihn und die anderen Teilnehmer hatten. Rahmengespräch und geschilderte Handlung werden zudem kunstvoll verbunden, indem das Rahmengespräch am Schluss andeutungsweise aufgegriffen wird (118a); der Bericht wird durch kommentierende Intervention von Echekrates zweimal unterbrochen (88c–89a, 102a). Entsprechendes ist bei Platon sonst nur noch im Euthydemos zu beobachten (Erler 2007, 121f.). Im Phaidon kommt diesen ‚Einbrüchen‘ des Rahmens in das berichtete Dialoggeschehen auf besondere Weise eine geradezu kommentierende Wirkung zu. Die Unterbrechungen greifen nämlich Irritationen der Gesprächspartner auf, ref lektieren deshalb Form und Ergebnis der jeweiligen Diskussionen, antizipieren dadurch geradezu Reaktionen der potentiellen Leser und können so als hermeneutische Hinweise des Autors verstanden werden (Dalfen 1989). Auch der Schluss des Dialoges, der an den Rahmen anknüpft und den Tod des Sokrates schildert, gewinnt einen über die bloße Schilderung des Geschehens hinausgehenden, argumentativen Charakter, wenn man seine literarische Gestaltung berücksichtigt. Schon Schleiermacher konstatiert mit Recht, „dass auch nirgends das mimische so ganz in den Gegenstand verwachsen und innig mit ihm eines ist als hier“ (Schleiermacher 1826, II/3, 9). Platon selbst macht den Le-
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ser schon darauf aufmerksam, dass bei der Deutung des Dialoges literarische Form und philosophischer Gehalt gleichermaßen zu beachten sind. Denn im Rahmengespräch bittet Echekrates den Erzähler Phaidon ausdrücklich darum, beides zu erzählen, „was gesprochen und was getan wurde“ (58c). Man darf dies als Aufforderung verstehen, bei der Interpretation sowohl die dramatische als auch die pragmatische Seite des Dialoges zu beachten. Schon bei den Rahmenteilen zu Beginn, am Ende des Dialoges und dort, wo das Rahmengespräch zweimal in die Erzählung geradezu ‚einbricht‘ (57a–59c, 88c–89a, 102a–117c), lohnt es sich, dieser Aufforderung Folge zu leisten und auf einzelne Szenen und Motive, aber auch auf die unterschiedlichen Orte und Auditorien zu achten, mit denen der Leser des Dialoges konfrontiert wird.
2.2 Orte und Auditorien 2.2.1 Echekrates in Phleious Die enge Verbindung von Darstellungsform und inhaltlicher Aussage wird schon bei Platons Wahl von Szenerie, Gesprächspartnern und Auditorien deutlich. Platon versetzt uns zunächst nach Phleious, einem kleinen Ort auf der Peleponnes, nahe Korinth, ein Zentrum des Pythagoreismus und Refugium für Pythagoreer nach einer Verfolgung im Jahre 454 v. Chr. (Erler 2007, 174–184). Dort berichtet Phaidon auf Bitten des Echekrates von den Geschehnissen während der letzten Stunden des Sokrates. Anlass für Echekrates’ Bitte um einen Bericht ist das Interesse am Schicksal des Sokrates, insbesondere die Frage, warum es einen größeren zeitlichen Abstand zwischen Verurteilung und Hinrichtung gegeben habe. Man hat von seiner Verurteilung und seiner Hinrichtung durch Gift gehört, wundert sich freilich, dass zwischen Urteil und Vollstreckung doch relativ lange Zeit verstrichen sei, und bittet um eine Erklärung (57a–b). Die Vollstreckung des Urteils an Sokrates habe sich verzögert – so Phaidon –, weil eine Festgesandtschaft zum Apolloheiligtum nach Delos (58a–c) unterwegs gewesen sei und in dieser Zeit keine Todesurteile vollzogen werden durften. Damit wird dem Leser eine relativ konkrete Vorstellung von der dramatischen Zeit des berichteten Gespräches gegeben: Zwischen Prozess und Todestag des Sokrates liegt wohl ein Monat. Wir befinden uns im Juni oder Juli 399 (Xenophon, Mem. 4, 8, 2). Das dramatische Datum der Erzählung hingegen dürfte einige Zeit später im gleichen Jahr liegen. Denn Echekrates hat, so sagt er, geraume Zeit nichts aus Athen gehört (57a–b). Vor allem aber interessiert, wie sich Sokrates angesichts des drohenden Todes verhalten habe: „Was hat der Mann vor dem Tod gesagt? Und wie hat er sein Leben beendet?“ (57a; Übers. Ebert). Bemerkenswert ist, dass das skandalöse Urteil selbst außerhalb der Diskussion bleibt. Folgerichtig liegt dann auch der Fokus des folgenden Berichtes ganz auf diesem Aspekt: Sokrates’ Handeln und Reden angesichts des Todes. Und dies ist verständlich, denn nach tradi-
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tionellem Verständnis ist es erst nach dem Tode eines Menschen möglich zu beurteilen, ob ein Mensch ein glückliches und das heißt gelungenes Leben geführt hat, wie dies Solon Kroisos entgegenhält (Hdt. 1, 32f.) und in Sophokles’ Trachinierinnen (Tr. 1–3) als alte Überzeugung bezeichnet wird. Sokrates legt in der Tat angesichts des Todes eine Ruhe und Gelassenheit an den Tag, ja erweist sich auf eine Weise als glücklich, die seine Freunde irritiert, aber auch Anlass zu Bewunderung und zur Frage ist, was der Grund für diese Haltung und seine offensichtliche Freiheit von Todesfurcht ist (Blößner 2001, 107ff.). Freiheit von Todesfurcht als Grundlage eines gelungenen Lebens aber setzt voraus, dass man eine klare Vorstellung vom Tod hat und, so Sokrates, dass man über einen Beweis verfügt, wonach „die Seele gänzlich unsterblich und unzerstörbar ist“ (88a; Übers. Ebert). Unsterblichkeit der Seele, damit ist das philosophische Thema des Dialogs genannt, das freilich kein Selbstzweck, sondern seinerseits Grundlage der Antwort auf die Frage ist, warum Sokrates am Lebensende eudaimon war. Zu diesem Thema passt, dass anders als in anderen Dialogen Platons, in denen mit der Fiktion von Dialogerzähler und Adressat gespielt wird, der Zuhörerkreis im Phaidon nicht farblos bleibt wie z. B. in der Politeia, sondern als ‚Pythagoreergemeinde‘ Kontur erhält. Denn ein Thema wie die Unsterblichkeit der Seele passt gut zu der pythagoreisch-orphischen Tradition (Blößner 2001,136). In der Tat ist zu beobachten, dass der Phaidon durch die Wahl eines pythagoreischen Zuhörerkreises im berichteten Gespräch und in weiteren Einzelheiten „Pythagorean flavor“ hat (Guthrie 1975, IV 325 Anm. 2). Sokrates lässt Gedanken oder Konzepte anklingen wie Philosophie als Streben nach Wahrheit und als Lebensform mit religiösen Konnotationen (Diogenes Laertios 1,12; 7,48 = Herakleides Pontikos frg. 87 Wehrli), den Körper-Seele-Dualismus (Körper als Grab der Seele) und Vorstellungen von der Seelenwanderung, die pythagoreischem (oder orphischem) Gedankengut nicht fernliegen. Freilich, indem Platon einen passenden Kontext für die Fragestellung evoziert, verdeutlicht er auch, wie er sich zu dieser – und allgemein – zur Tradition stellt. Dass der Autor des Dialoges, der Philosoph Platon, den Pythagoreern viel verdankt, steht außer Frage und belegt auch der Phaidon. Man kann mit der literarischen Gestaltung des Kontextes eine Reverenz des Philosophen Platon an diese wichtige Tradition sehen (Erler 2009, 67ff.).1 Weil Platon jedoch die Unsterblichkeitsthese, die pythagoreisch-orphischer Tradition vertraut ist, nicht einfach übernimmt, sondern Sokrates nach philosophisch-argumentativen Begründungen suchen lässt, Schwierigkeiten nicht verschweigt und im Gespräch mit seinen Partnern immer wieder Rechtfertigungen für seine Auffassungen sucht, bestätigt der Dialog Phaidon, was auch sonst in Platons Dialogen zu beobachten ist: Traditionen sind ernst zu nehmen, bedürfen aber grundsätzlich der Überprüfung (Erler 2003). Indem Platon zudem im Rahmengespräch Pythagoreer eine Rolle spielen, im Dialog selbst dann mit der Unsterblichkeit eine These diskutie1 Den Einf luss betont wohl zu stark Ebert 1994.
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ren lässt, die ihnen vertraut sein muss, gleichzeitig aber auf Schwierigkeiten hinweist, zu deren Überwindung z. B. die platonische Ideenhypothese ins Spiel gebracht wird, signalisiert Platon: Traditionen bedürfen nicht nur des prüfenden Gespräches, sondern einer Begründung. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Rahmengespräch zusätzlich philosophiehistorisch an Relevanz.
2.2.2 Sokrates in Athen und seine Freunde Ebendies ist auch beim zweiten Teil des Rahmengespräches der Fall. Auch hier setzen Angaben über Szenerie, Auditorium und Geschehnisse Signale, welche philosophisch relevant und für die Deutung des Dialogs von Bedeutung sind. Ort des berichteten Gespräches ist nämlich das Gefängnis auf der Agora in Athen (Thompson/Wycherley 1972). Platon lässt die räumlichen Gegebenheiten, wo die Gespräche stattfinden, Sokrates ein letzes Bad nimmt und den Schierlingsbecher trinkt, realistisch vor den Augen des Lesers entstehen. Platons ‚Szenenmalerei‘ hat schon in der Antike, aber auch weit darüber hinaus, Eindruck gemacht, hat Autoren wie Shakespeare (Henry V ), Mendelssohn oder Kant beeinf lusst oder die Imagination von Malern offenbar schon in der Antike (vgl. Lucian, De Morte Peregrini 37) und später den Maler Jacques-Louis David inspiriert. Über ein bloß historisches Interesse hinaus ist von Bedeutung, was Phaidon über das Personal zu erzählen weiß, das in Sokrates’ letzten Stunden anwesend ist. Phaidon bietet eine Liste: Simmias, Kebes aus Theben, Phaidonides aus Theben, Eukleides und Terpsion aus Megara und eine Gruppe einheimischer Athener: Apollodoros, Kritoboulos, Kriton, Hermogenes, Epigenes, Aischines, Antisthenes, Ktesippos, Menexenos und andere (59b) (vgl. zu den einzelnen Döring 1998). Es handelt sich bei dem Freundeskreis des Sokrates um ein who is who von auch sonst bekannten Sokrates-Freunden, von denen einige zu Sokrates’ Zeit philosophisch aktiv und zum Teil auch publizistisch tätig waren – vor allem Aischines und Antisthenes. Besonders bemerkenswert ist, dass hier Platons Name zwar fällt (59b, sonst nur Ap. 34a, 38b), wir aber nur erfahren, dass er wegen Krankheit abwesend ist: „Platon aber war, glaube ich, krank“. Viel ist darüber gerätselt worden, wie diese Bemerkung zu bewerten ist. Merkwürdig auch die relativierende Ergänzung „glaube ich“. Denn der Autor des Phaidon, Platon, sollte doch wissen, ob er krank war. Freilich sollte man nicht zu viel in diese Bemerkung hineinlesen (Frede 1999). Die Stelle ist freilich philosophie- und literarhistorisch von Bedeutung. Denn Platon gibt mit seiner Bemerkung zu erkennen, dass er sich selbst zum Kreis der Sokratiker zählt, in dem er sich erst noch philosophisch und literarisch (Erler 2007, 60–71) profilieren muss – er ist zur dramatischen Zeit im Jahre 399 v. Chr. 28 Jahre alt. Der Phaidon ist ja nicht zuletzt ein Enkomium auf den Vater der Sokratischen Bewegung, Sokrates, und ein Prunkstück in der literarischen Gattung, der Sokrates einen Namen gab, den Sokratikoi Logoi. Der Phaidon lässt also nicht nur ein wichtiges Element im Um-
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feld des platonischen Philosophierens (Pythagoreer), sondern auch das philosophischliterarische Umfeld erkennen, in dem sich Platon durchsetzen muss. Der Umstand, dass es sich bei den Gesprächsteilnehmern im berichteten Gespräch um Sokratiker aus Athen und Umgebung handelt, ist aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung für Inhalt und Verlauf des Gespräches. Denn das Gespräch wird ja von Sokrates zeitweise als die Fortsetzung jener Verteidigung verstanden, die Sokrates in der Apologie mit einem philosophisch inkompetenten Publikum führen musste. Deshalb ließ er dort Fragen offen (Ap. 40c–41c) (Szlezák 1985, 221ff.), die nun relativiert werden, wie vor allem diejenige der Unsterblichkeit der Seele (62c–69e). Denn die größere Kompetenz und Aufnahmebereitschaft seines neuen „sokratischen“ Auditoriums erlaubte es Sokrates infolge seiner Auffassung von philosophischer Rhetorik, gleiche Sachverhalte differenzierter zu erörtern. Es handelt sich hier um jene Frage, die begründen soll, dass und warum Sokrates trotz Todesnähe glücklich ist. Trotz dieser größeren Kompetenz zeichnet sich der Diskussionsverlauf freilich durch große Unsicherheit aufseiten seiner Partner Kebes und Simmias aus (Dalfen 1994). Auch die anderen Anwesenden wie z. B. Kriton scheinen durch die philosophische Argumentation entweder nicht überzeugt oder behalten sich Zweifel vor, obgleich sie die Argumentation stringent finden (Phd. 107b). Die These der Unsterblichkeit scheint auf sie paradox zu wirken. Wie Sokrates selbst sagt: Das „Kind im Mann“ (Erler 2004) kommt ihnen als Quelle von Unsicherheit und Affekt in die Quere (77d) und muss „besungen werden“. Wieder ist festzuhalten, wie kunstvoll der Autor Platon Dialoggeschehen und konstruierten Kontext aufeinander abstimmt, sodass letzterer ersteres geradezu begründet. Denn anders als in Pythagoreerkreisen ist bei Zeitgenossen des Sokrates etwa in Athen die These von der Unsterblichkeit der Seele keineswegs gängige Münze. Sokrates selbst betont das in der Politeia. Als er dort ebenfalls einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele bietet (608d), erinnert er daran, dass die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele durchaus ungewöhnlich sei, kaum auf Akzeptanz stoße, sondern mit großem Misstrauen rechnen müsse. Er stellt die These von der Unsterblichkeit der Seele damit auf die gleiche Stufe wie die anderen Paradoxa in der Politeia: Frauengleichheit, Gemeinschaft von Frauen, Kindergemeinschaft und Philosophenherrscher. Im Übrigen betont noch Aristoteles, dass die Frage der Unsterblichkeit der Seele in seiner Zeit von den meisten Menschen als offene Frage angesehen werde (Sophistici Elenchi I 17, 176b, 16f.; Baltes 1999, 168f.). Entsprechend reagiert Sokrates auch vor dem Richtergremium in der Apologie, indem auch er die Frage offen lässt (Ap. 40c–41c; vgl. Xenophon, Mem. 8, 5–10; Cyr. 8, 2, 17–27). Erst vor seinen an Philosophie interessierten Freunden im Gefängnis ist er bereit, seine Position zu bekennen und zu begründen, die aber auch hier auf Misstrauen stößt. Selbst die pythagoreisierenden Sokrates-Schüler Simmias und Kebes haben Probleme mit der These und das, obgleich ihnen Sokrates’ Argumente einleuchten. Kann also die Unsterblichkeitsthese beim Publikum des erzählten Gespräches im Phleious grundsätzlich auf Verständnis zählen, so muss Sokrates doch in der Diskus-
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sion im Gefängnis mit jener Skepsis rechnen, von der Phaidon dann auch erzählt. Mit den beiden unterschiedlich disponierten Auditorien antizipiert Platon gleichsam mögliche Reaktionen von Lesern des Dialoges. Der wirkliche Philosoph Sokrates erweist sich hingegen für solche Schwankungen als unempfänglich. Auch diese Stelle mit der Niedergeschlagenheit der Gesprächspartner des Sokrates angesichts der Gegenargumente kann als Identifikationsangebot für den Leser angesehen werden. Gemeinsam ist beiden Auditorien jedenfalls die Freude an der Erinnerung an Sokrates (58d). Die Gespräche und Ereignisse, von denen berichtet wird, erfüllen diese Erwartungen. Der Dialog Phaidon wird damit zum Vorläufer jener Memorialiteratur, die später in philosophischen Zirkeln der Erinnerung an den jeweiligen Meister der Schule, aber auch der Selbstvergewisserung der jeweiligen Gruppen dient.
2.3 Sokrates als Therapeut: antitragische Katharsis (59d und 68c–69e) Das Rahmengespräch lässt freilich nicht nur die Erwartung und Hochschätzung erkennen, die Sokrates von seinen Freunden entgegengebracht wird. In einer bemerkenswerten Passage wird auch die Wirkung beschrieben und analysiert, welche seine außergewöhnliche Persönlichkeit auf seine Freunde ausübt. Der Erzähler Phaidon schildert nämlich nicht nur die Geschehnisse und Gespräche vor Sokrates’ Tod und berichtet, wie sich die anwesenden Freunde verhielten. Phaidon beginnt seinen Bericht mit einigen Bemerkungen gleichsam post festum darüber, wie er sich selbst während der Gespräche gefühlt habe. Dabei sei ihm seine emotionale Reaktion auf die Gespräche und Geschehnisse merkwürdig vorgekommen (58e–59a). Phaidon bietet eine Analyse seines Zustandes (Erler 2010). Trotz der tragischen Situation während der letzten Stunden und trotz des Todes seines vertrauten Freundes habe er nämlich kein Mitleid (eleos) empfunden und sei emotional durchaus ausgeglichen gewesen (58e). Phaidon glaubt, den Grund hierfür zu kennen: Er sieht ihn in eben jenem Verhalten und Reden des Sokrates, das von seinem Glück und seiner Zuversicht zeuge, er werde es nach dem Tod nicht schlecht haben – so gefasst sei er in den Tod gegangen, offenbar im Bewusstsein, es werde ihm auch nach dem Tod gut gehen. Aus diesem Grund habe er, so glaubt Phaidon, kein Mitleid, sondern eine ungewohnte Mischung (aethes krasis) zugleich von Schmerz und Lust empfunden, weil er bedachte, dass Sokrates bald sterben werde. Auch die anderen Teilnehmer des Gespräches hätten sich in einem beinahe ähnlichen Zustand befunden. „Denn der Mann schien mir in seinem Verhalten und in dem, was er sagte, glücklich zu sein, Echekrates; beendete er doch sein Leben voller Zuversicht und festen Sinnes; daher kam ich zu der Überzeugung […], dass, wenn irgend jemand, dann er es ist, der auch im Jenseits glücklich sein würde“ (58e; Übers. Ebert). Weniger Sokrates’ philosophische Argumentation für die
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Unsterblichkeit scheint Phaidon beeindruckt zu haben als das Verhalten angesichts seines Todes. Zunächst mag man sich an jene Szene im Symposium erinnert fühlen, als Alkibiades seinerseits beschreibt, welche Wirkung die Person des Sokrates auf ihn hat (213a–222b). Ein Vergleich macht aber einen wesentlichen Unterschied deutlich: Bei Alkibiades entfesselt Sokrates die Gefühle des Alkibiades so, dass er sich nicht mehr kontrollieren kann und Eros sein Handeln bestimmt. Ganz anderes beobachtet Phaidon an sich. Denn anders als Alkibiades berichtet Phaidon nicht von einem aufwühlenden, beinahe willenlos machenden Zustand, in den ihn Sokrates versetzt, sondern im Gegenteil von einer die Emotionen eher beruhigenden, ja sie beseitigenden Wirkung. Der Grund hierfür bleibt zunächst offen, wird dem Leser aber gleichsam implizit von Platon erklärt. Phaidon reagiert nämlich auf einen Sokrates, der von Platon geradezu als Gegenentwurf zu einem tragischen Helden vorgestellt wird (Erler 2008). Denn der Sokrates im Phaidon zeichnet sich durch eine Affektlosigkeit und eine nahezu heroische Selbstbeherrschung angesichts des Todes aus, die in ihrer Radikalität die anwesenden Freunde im Dialog und auch nicht wenige Leser irritiert und die Sokrates selbst als Kontrast zur tragischen Weltsicht bringt (115a). Sokrates verrät keine innere Bewegung, als er den Giftbecher trinkt (116b–117c), lässt keinen Trennungsschmerz gegenüber seiner Familie erkennen, schickt seine Frau, seine Kinder und seine Angehörigen vielmehr fort, als sie in lautes Klagen ausbrechen (59e–60a, 116b). Sokrates hadert nicht mit seinem Schicksal (aganaktein) oder klagt über ungerechte Behandlung, sondern erweist sich in den letzten Stunden seines Lebens als besonders ausgeglichener, ja glücklicher Mensch. Ebendies irritiert die anwesenden Freunde wie auch viele Leser und ist Anstoß zur Frage nach einer Erklärung für diesen ungewöhnlichen Zustand. Offenbar hängt dies mit seiner Einschätzung dessen, was Tod ist, zusammen und zeigt, dass Sokrates in der Tat jener verständigste und gerechteste aller Menschen ist, als welchen ihn Phaidon am Ende des Dialoges apostrophiert (118a). Er verfügt offenbar über Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit oder Vernunft, von denen Sokrates im Gespräch selbst gehandelt, die er analysiert und die er von traditionellen „knechtischen“ Tugenden unterschieden hat (69b). Diese Tugenden aber zeichnen sich nach Sokrates dadurch aus, dass sie eine Art von Reinigung – eine Katharsis – der Seele von Emotionen wie Lust oder Furcht, und was es sonst Derartiges gibt, bewirken (69b). Vor diesem Hintergrund erhält Sokrates’ emotionsfreies Verhalten, aber auch der von Phaidon bei ihm selbst beobachtete emotionale Zustand Profil und findet eine Erklärung. Sokrates selbst als Träger der Tugenden, aber auch Phaidon als Rezipient und Nachahmer seines Vorbildes illustrieren, was Sokrates von der Wirkung der wahren Tugend erwartet. Wenn Phaidon über seine Freiheit von Mitleid und die gemäßigte Mischung seines emotionalen Zustandes staunt, bestätigt und illustriert er jene Wirkung, die Sokrates von der wahren Tugend propagiert, und bietet gleichzeitig einen Beleg dafür, dass Sokrates über solche Tugenden verfügt. Wieder werden die enge Verbindung von pragmatischer und dramatischer Ebene und ihre Bedeutung
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für das Verständnis des Phaidon deutlich. Die Szene gehört zu jenen Passagen im Phaidon – die beiden „Einbrüche“ der Rahmenhandlung ins Hauptgespräch gehören ebenfalls dazu (88c–89a, 102a, s. u. 2.5) –, mit denen Platon die Leser in das Geschehen geradezu einbezieht, indem er Reaktionen auf erzählte Vorkommnisse beschreibt, die entsprechende Reaktionen potentieller Leser gleichsam antizipieren und analysieren. Der literarisch gestaltete Rahmen des Dialoges ist Teil der philosophischen Aussage.
2.4 Sokrates, der Dichter: Lust und Schmerz Zu Beginn seines eigentlichen Berichtes über Sokrates’ letzten Tag erzählt Phaidon, dass die Gruppe seiner Freunde bei ihrem regelmäßigen Treffen im Gefängnis von der Rückkehr des Schiffes aus Delos erfuhr (59d). Damit ist allen klar, dass dieser Besuchstag der letzte im Leben des Sokrates sein wird. Die erste kleine Szene, von der Phaidon berichtet, soll einen ersten Eindruck von jener unerschütterlichen Haltung des Sokrates angesichts des nun unmittelbar bevorstehenden Todes geben, die nicht nur Phaidon so nachhaltig beeindruckt hat. Sie dient aber nicht nur der Illustration sokratischer Gelassenheit, sondern ist auch philosophisch relevant (Frede 1999). Die Freunde finden einen Sokrates vor, dem man soeben die Fesseln abgenommen hat; seine emotional aufgewühlte Frau Xanthippe soll Kriton nach Hause bringen. Sokrates setzt sich auf dem Bett auf, reibt sein von den Fesseln befreites Bein und nimmt das damit verbundene Wohlgefühl zum Anlass, sich über das Verhältnis zwischen dem, was man „gemeinhin angenehm“ nennt, und dem, was Schmerz bereitet, Gedanken zu machen (60b). Denn er wundert sich: Eigentlich handelt es sich bei Lust und Schmerz doch um Gegensätze und man sollte erwarten, dass sie nicht gleichzeitig beim Menschen anzutreffen sind. Sokrates beobachtet jedoch (60b–c), dass mit dem Schmerz beinahe gezwungenermaßen auch ein angenehmes Gefühl einhergeht. Offenbar hänge beides, wie Sokrates es ausdrückt, an einem Kopf zusammen (60b–c). Äsop hätte eine schöne Geschichte daraus gemacht: Ein Gott habe das Angenehme und den Schmerz miteinander versöhnen wollen, habe beide aber letztlich nur am Scheitel zusammenfügen können. Deshalb komme bei dem einen das andere immer mit. Sokrates Bemerkungen über Äsop veranlassen Kebes zu fragen – der Dichter und Philosoph Euneos habe ihm das aufgetragen –, warum Sokrates im Gefängnis zu dichten angefangen habe. Wir hören von einem Hymnus auf Apollon – und davon, dass er Äsops Fabeln in Dichtung übertragen habe. Diese kleine Begebenheit ist zunächst atmosphärisch von Bedeutung (Ebert 2004, 110–122). Sie signalisiert, dass Sokrates trotz seiner Lage der Humor nicht verlassen hat. Weiterhin hat sie argumentativen Charakter: Der Umstand, dass Sokrates Gedichte auf Apollon verfasst und damit – wie er zugibt – einem im Traum erfolgten Auftrag gefolgt sei, soll belegen, dass Sokrates ein frommer Mann ist. Sokrates selbst bestätigt das, wenn er in der Apologie sein philosophisches Pragma als Gottesdienst und sich selbst als Gottge-
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sandten bezeichnet, und widerlegt damit einen wichtigen Punkt der Anklage gegen ihn (Asebie). Die Szene ist schließlich auch philosophisch von Interesse. Sokrates’ beiläufige Bemerkung über das Verhältnis von Lust und Schmerz erinnert nicht nur an Phaidons Selbstanalyse und seine Feststellung, dass Lust und Schmerz bei ihm eine „ungewohnte Mischung“ (59a) eingegangen seien. Sie illustriert geradezu das, was in Dialogen wie dem Gorgias (494a–496e), der Politeia (583eff.) oder dem Philebos (31d–32b) über Lust und Schmerz und ihre gegenseitigen Beziehungen diskutiert wird. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob Lust und Schmerz ausschließende Gegensätze sind, ob es ein Zwischenstadium gibt oder ob es eine Mischung beider geben kann. Die Szene wirkt wie eine lebensweltliche Illustration dieser viel diskutierten philosophischen Problematik. Sokrates’ Bemerkungen über Äsopische Dichtung und das Verständnis von Musenkunst als Philosophie oder Dichtung schließlich greifen spielerisch auf, was in den Dialogen über das Verhältnis von Philosophie und Dichtung, von Mythos und Logos diskutiert wird: Wenn hier suggeriert wird, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen Mythos und Logos offenbar nicht besteht, – dann wird dieser Eindruck in anderen Dialogen (z. B. Gorgias) bestätigt. Ohne also die kleine Szene des Rahmengespräches überbewerten zu wollen, sollten doch spielerische Anklänge an gewichtige Inhalte nicht verkannt werden.
2.5 Rahmenhandlung als Zwischenspiele (88c–89a, 102a) Ein wichtiges Strukturelement des Phaidon ist der wiederholte Einbruch der Rahmenhandlung in die erzählte Haupthandlung. Die beiden Stellen sind von Platon mit Bedacht gewählt worden. Formal haben sie eine gliedernde Funktion, insofern sie den Beginn von Ausführungen über die Gefahren der Misologie (88c–91a) und den Übergang zum letzten Beweis signalisieren (102a). Inhaltlich markieren sie wichtige Phasen des jeweiligen Gespräches. Denn beide Male lösen Sokrates’ Einstellung zum Gespräch und seine Fähigkeit, nach gewichtigen Gegenargumenten des Simmias und Kebes gegen Unsterblichkeitsbeweise, welche die Zuversicht der Zuhörer mindern, den Diskurs dennoch gleichsam zu retten, bei Echekrates Erstaunen aus. Die Rahmenhandlung unterstreicht die Bedeutung der Verunsicherung, die aus den Einwänden der beiden Thebaner Simmias und Kebes beim Zuhörer erwächst, wird aber philosophisch durch den Hinweis auf die Bedeutung des Logos entschärft. Denn wenn Echekrates sich fragt, wie Sokrates mit der gewichtigen Kritik werde umgehen können, dann wird auch hier geradezu eine Lesehaltung antizipiert, durch das literarische Mittel einer Durchbrechung der Fiktion betont und gleichzeitig Spannung erzeugt (88c–e). Der Leser mag sich mit der Niedergeschlagenheit von Sokrates’ Partnern angesichts der Bedeutung der Gegenargumente identifizieren – immerhin geht es um die Grundlage von Sokrates’ Zuversicht angesichts des Todes –
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und die sich anschließende Warnung des Sokrates vor Misologie (89d–91c) (Gaiser 1959) mag als Protrepse verstanden werden, welche die Scheu der Freunde, an Sokrates Kritik zu üben, als menschlich verständlich, aber unphilosophisch erweist. Sokrates’ unerschütterte und unerschütterliche Haltung setzte gegen diese Zweifel zudem eine Art dramatischen Kontrapunkt, insofern seine Haltung trotz aller Kritik die Richtigkeit der These von der Unsterblichkeit der Seele gleichsam illustriert. Dramatisch unterstrichen wird die Bedeutung der Partie dadurch, dass es sich um diejenige Passage im Dialog handelt, an der nicht nur die Rahmenhandlung in das beschriebene Gespräch hineinbricht, sondern der Erzähler Phaidon selbst als Akteur des beschriebenen Gespräches auftritt (89a–91c). Da sich die weitere Diskussion mit Simmias über die Harmoniethese und deren Widerlegung (92a–95a) und die Argumentation mit Kebes über die Unsterblichkeit der Seele (95a–107a) an dieser besonders markierten Stelle des Einbruchs der Rahmenhandlung anschließen, trägt diese dazu bei, den Verlauf des gesamten weiteren Dialogs zu strukturieren. Auch der zweite Einbruch der Rahmenhandlung lässt Echekrates’ Bewunderung (102a) für Sokrates’ Ausführungen erkennen, die diesmal die Ideenlehre betreffen (99d–102a). Es geht um den methodischen Vorgang, wonach entweder die Folgen einer Hypothese auf ihre Vereinbarkeit miteinander überprüft (101d) oder die Hypothese selbst untersucht werden soll, was von einer höheren Hypothese aus geschehen muss und solange geschehen sollte, bis man zur hinlänglichen Hypothese gelangt (101d–e). Ein solches Verfahren zeichnet demnach einen wirklichen Philosophen aus (101eff.). Es geht hier also um die Sicherung einer Methode, die als erfolgreich angesehen wird. Hervorgehoben wird auf diese Weise die Bedeutung der Ideenhypothese für die gesamte Frage der Unsterblichkeit. Diese methodischen Vorgaben stoßen auf Zustimmung von Kebes und Simmias. Sie werden gleichsam dramatisch unterstrichen, indem aus der Rahmenhandlung der Beifall des Echekrates hineinklingt. Beide Einbrüche der Rahmenhandlung in die erzählte Handlung wirken somit wie dramatische Ausrufezeichen, gleichzeitig aber auch wie ein Autorenkommentar zu der im Text gebotenen Diskussion. Sie spiegeln gleichsam Haltungen im Text, wie sie Platon von seinem Leser erwartet. Offenbar erhofft er bei ihnen diese kathartischen Effekte, wenn sie sein Sokrates-Bild rezipieren, wie sie bei Phaidon nach dessen Schilderung wirksam werden.
2.6 Tod des Protophilosophen Das Rahmengespräch tritt am Ende des Dialoges wieder in den Vordergrund mit dem vergleichsweise kurz gefassten Bericht über den emotionalen Höhepunkt des Dialoges, den Tod des Protophilosophen Sokrates. Wir hören, wie Sokrates sich mit Kriton über die Frage austauscht, wie Sokrates bestattet werden soll, und von Sokrates’ scherzhaf-
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ter Reaktion: „falls ihr mich zu fassen bekommt“ (115c). Kriton offenbart mit seiner Frage, dass er im Grunde nicht verstanden hat, dass das Selbst des Sokrates in seiner Seele besteht und dass diese unsterblich ist – an ihm scheint die Diskussion vorbeigegangen zu sein. Der Leser soll registrieren, dass Sokrates auch in der schwersten Stunde seinen Witz nicht verliert. Wir erfahren weiter, dass sich Sokrates für längere Zeit in Begleitung Kritons ins Bad begab (116a). Nach seiner Rückkehr folgten große und eindrucksvolle Szenen des Abschieds, von seiner Familie, von seinen Freunden. Bemerkenswert ist der Auftritt des Dieners, der Sokrates zum Vollzug der Todesstrafe im Staatsauftrag auffordert und das vorbereitete Gift bringt. Sokrates bleibt gefasst. Wenn schon Libation nicht erlaubt sei, möchte sich Sokrates durch ein Gebet für die Wanderung von hier nach dort „vorbereiten“ (117c). Unter großer emotionaler Bewegung seiner Freunde, die er zu trösten versucht (117d), nimmt er das Gift zu sich – hier findet sich eine Apostrophe an Echekrates, die daran erinnert, dass wir uns im Rahmengespräch befinden – dessen Wirkweise mit klinischer Genauigkeit beschrieben wird. Als das Gift zu wirken beginnt, trägt er seinen Freunden auf, dem Asklepios einen Hahn zu opfern. Phaidon beschließt seine Erzählung mit der Bemerkung, mit Sokrates sei der gerechteste und einsichtigste aller Menschen gestorben. In diesem Schlussteil sind Details zu beobachten, die inhaltlich bedeutsam sind. Zwar ist Sokrates’ Wunsch, dem Asklepios einen Hahn zu opfern, in seiner Bedeutung umstritten, und es ist zu beachten, ob man nach der Intention des Autors Platon, der dramatischen Figur des Sokrates oder der des historischen Sokrates sucht. Am plausibelsten scheint die Annahme, wonach auch in diesen letzten Stunden nochmals an Sokrates’ Frömmigkeit und damit an die Unhaltbarkeit der Anklage erinnert werden soll (Ebert 2004, 460f., nach Theodoret). Vielleicht ist auch daran zu denken, dass Sokrates sich bei Asklepios für das Gift als ein Heilmittel bedanken will, das ihm den Übergang „von hier nach dort“ (107e) erleichtert. Denn der Ausdruck „von hier nach dort“ wird von Platon in den philosophischen Kontext transferiert als Bezeichnung jenes Weges, den der Philosoph zu gehen hat, wie der Theaitet zeigt (174b; vgl. Rep. 529a, 619e; Phdr. 250e). Schließlich sollen nach Sokrates’ Wunsch ja auch alle anderen dafür dankbar sein. Dies passt zu Sokrates’ Anspruch, Fürsorge für alle zu praktizieren (115bc, 116d; Kloss 2003, 236ff.). Mit dieser Fürsorge noch in seinen letzten Minuten erweist sich Sokrates einmal mehr als Protagonist seiner These, dass Philosophie wahre Politik sei, indem sie sich um die Seelen der anderen und um die eigene Seele kümmert (Grg. 521d). Der Dank an Asklepios würde dann zu einem Dank für die Fürsorge passen, den er der Seele angedeihen lässt, und würde Sokrates einmal mehr als platonischen Protophilosophen erweisen, dem seine Freunde nachzueifern versuchen. Die emotionale Reaktion seiner Freunde zeigt freilich, dass ihnen dieses Nacheifern nur unzulänglich gelingt. Besonders Apollodoros, der äußerlich Sokrates nachzueifern sucht – aus dem Symposium erfahren wir, dass er deshalb sogar keine Schuhe trägt (173b; Phdr. 229a) – zeigt in seinem unbeherrschten Verhalten, dass seine Mimesis des Protophilosophen
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nur oberf lächlich ist (Phd. 117d; Blondell 2002, 108) – Phaidon freilich hat, wie seine Selbstanalyse, aber auch sein kontrolliertes Verhalten in der Schlussszene zeigten, ein anderes Format. Das Ende des Phaidon illustriert also das eindrucksvolle Verhalten des Protophilosophen Sokrates angesichts des Todes. Er bestätigt damit seine tapfere und beherrschte Art, die er schon zuvor vor Gericht und nach der Verurteilung an den Tag legte. Denn der Phaidon bildet gemeinsam mit Apologie und Kriton eine dramatische und inhaltliche Trias, zu der noch der Euthyphron gehört, dessen Handlung zwischen Meletos’ Anklage und dem Prozess angesiedelt ist. Diese Dialogfolge insgesamt illustriert die Reaktionen des wahren Philosophen auf Ungerechtigkeit und seine Art, mit dem Tod umzugehen. Die Darstellung der letzten Lebensphase des Sokrates und seiner Todesstunde hat zudem einen geradezu argumentativen Charakter. Denn er bietet dem Leser eine Grundlage für die Beurteilung des gesamten Lebens des platonischen Protophilosophen und lässt ihn erkennen, dass er wirklich ein eudaimon war. Nach gängiger Vorstellung der Zeit nämlich, kann man, wie bereits erwähnt, nur dann richtig beurteilen, ob ein ganzes Leben ausgefüllt und eudaimon gewesen ist, wenn man das Ende des jeweiligen Lebens und die Art kennt, wie der Mensch sich dabei verhalten hat. Diese Vorstellung wird manifest in dem berühmten Gespräch, das Solon kurz vor seiner Verbrennung auf dem Scheiterhaufen mit Kroisos führt (Hdt. 1, 30–32): „Der Mensch aber, der das meiste seines Bedarfs besitzt und in diesem Besitze lebt und glücklich sein Leben beendet, der, König, verdient nach meiner Meinung den Namen eines Glücklichen. Überall muss man auf das Ende sehen“ (Übers. Feix). Es lässt sich in der Tragödie feststellen (Sophokles, Trach. 1–3) und wird in der Philosophie ref lektiert (Aristoteles, EN 1100a10–1101b9; Blößner 2001, 109). Sokrates steigert dieses Ideal geradezu, indem er schon als glücklich anerkannt ist, bevor er tot ist, allein mit Blick darauf, wie er auf den Tod zugeht. Indem also Sokrates als wirklicher eudaimon beglaubigt wird, wird die Darstellung auch eine literarische Antwort auf die Frage, die in der Politeia philosophisch diskutiert wird: ob sich ein gerechtes Leben auszahlt oder nicht doch eher gewöhnlicher Egoismus und Ungerechtigkeit. Denn am Ende des Euthyphron, der Apologie, des Kriton und des Phaidon geht es eben nicht nur um das Ende der Person des Sokrates. Indem Sokrates von Phaidon als der treff lichste, vernünftigste und gerechteste der Menschen (118a) apostrophiert wird, indem er schon in der Apologie (23a) oder im Kriton (47a–48a) als der „Eine und die Wahrheit selbst“ angesprochen wird, wird Sokrates gleichsam zur Personifikation des platonischen Protophilosophen, jenes idealen Gerechten – wie er denn möglich ist (hoios an eie genomenos) –, von dem in der Politeia die Rede ist (Rep. 472c). Dieser gerechteste aller Menschen aber erweist sich – das belegen die Dialoge – als eudaimon. Damit wird gleichsam eine lebensweltliche Bürgschaft dafür gegeben, dass möglich ist, wofür Sokrates in der Politeia philosophisch argumentiert: Allein der wirklich Gerechte ist glücklich.
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Der Schluss des Phaidon, der die immer wieder gerühmte heitere und ausgeglichene Haltung des Sokrates im Angesicht des Todes schildert, liefert die lebensweltliche Bestätigung dafür, dass Sokrates philosophisch richtig liegt, dass nicht äußere Umstände, sondern nur eine bestimmte seelische Disposition Grundvoraussetzung für wahre Eudaimonie ist – eine Disposition, über die Platons Protophilosoph verfügt und die es nachzuahmen gilt (Blößner 1997, 17–45). Der Schluss des Phaidon bekräftigt diesen Anspruch, der mit Platons Sokrates-Bild im Phaidon, aber auch in den anderen Dialogen erhoben wird und wird überdies zum Angebot an den Leser, sich ebenso beeinf lussen zu lassen, wie es Phaidon im Dialog erging. Wieder wird deutlich, dass der Phaidon auf der dramatischen Ebene das ergänzt und geradezu lebensweltlich beglaubigt, was auf der pragmatischen Ebene philosophisch begründet werden soll. Zum einen wird gezeigt, dass nur mithilfe platonischer Lehre die durchaus auch von anderen – z. B. Pythagoreern – behauptete Unsterblichkeit der Seele nachweisbar ist – und damit wahre Eudaimonie des Menschen recht eigentlich erst begründbar wird. Zum andern wird mit den „historischen“ Geschehnissen um die Sokrates-Figur, durch dessen Verhalten und dessen Art dem Tod zu begegnen gleichsam beglaubigt, dass diese Eudaimonia in der Tat auch in der Wirklichkeit erreichbar ist, wenn man über die Disposition eines wahren Philosophen verfügt und diese konsequent in Reden und Handeln umsetzt. Die Rahmenhandlung macht zudem deutlich, was auch im Dialog selbst immer wieder zu beobachten ist: Auch im philosophischen Kontext sollte die Wirkung einer derartigen Beglaubigung von Realität nicht unterschätzt werden. Es ist bezeichnend, dass Platon bisweilen den Eindruck erweckt, dass die Bewunderung seiner Freunde für Sokrates nicht selten eher aus Respekt vor Sokrates’ Haltung als aus bloßer Überzeugungskraft der philosophischen Argumente resultiert. Schon also die Rahmenhandlung suggeriert, was das berichtete Gespräch unterstreicht. Wirklichkeit wird zum Bürgen für ein philosophisches Konzept: Es gibt den unter widrigen Umständen glücklichen Menschen, von dem z. B. der Gorgias spricht (Grg. 473c, vgl. Rep. 361e) wirklich – es ist der platonische Philosoph in Gestalt des historischen Sokrates; die dramatische Seite des Dialoges wird zu einem Aspekt der pragmatischen Ebene, die Rahmenhandlung in besonderer Weise untrennbarer Bestandteil des gesamten Dialoggeschehens, wie dies für Platons Dialoge allgemein gilt.
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Philosophieren als Sterben-Lernen: Anthropologischer Dualismus (62c–69e; 80e–84b)
3.1 Anthropologischer Dualismus Phaidon ist bekannt für den anthropologischen Dualismus, den Platon seinen Sokrates in diesem Dialog vortragen lässt. Ein anthropologischer Dualist vertritt die These, dass der Mensch (anthrôpos) ein aus zwei ganz unterschiedlichen Entitäten zusammengesetztes Wesen ist. Die eine Entität ist dabei materieller, die andere geistiger Natur. Jeder Mensch besteht demzufolge aus einem Körper (oder einem Leib) und einer Seele (oder Geist oder Bewusstsein – je nachdem, wie man die infrage stehenden Entitäten genauer benennt). Wenn Sokrates sagt, dass der Körper sterblich, die Seele aber unsterblich sei, oder wenn er drastisch formuliert, dass der Körper ein Kerker für die Seele sei, die sich im Tod aus diesem Kerker befreien könne, dann lassen sich diese Aussagen am einfachsten auf dem Hintergrund einer dualistischen Anthropologie verstehen und sind auch so verstanden worden. Der anthropologische Dualismus ist keine für Platon spezifische These. Viele Philosophen und Philosophinnen sind anthropologische Dualisten – der berühmteste und einf lussreichste Dualist nach Platon ist René Descartes. Aber auch ein Philosoph wie Karl Popper, ein ausgesprochener Platonkritiker, hat in seinem gemeinsam mit dem Neurologen John Eccles geschriebenem Werk The Self and Its Brain einen anthropologischen Dualismus vertreten. Seinen systematischen Ort hat der anthropologische Dualismus heute in der Leib-Seele-Diskussion, in der unter Einbeziehung der Ergebnisse der Neurobiologie gefragt wird, wie sich das Bewusstsein des Menschen zu seinem Körper verhält. Einer der nach wie vor attraktiven Optionen innerhalb der Leib-Seele Diskussion besteht in der Annahme eines Dualismus: Der Mensch besteht aus Leib und Seele und der Leib und die Seele gehören unterschiedlichen ontologischen Welten an. Der anthropologische Dualismus ist keine spitzfindige philosophische These, sondern legt sich auch durch eine nicht sehr theoretisch aufgeladene Interpretation unserer
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Alltagserfahrungen nahe. Menschen sind normalerweise der Auffassung, dass sie nicht einfach nur materielle Körper neben anderen materiellen Körpern sind. Sie unterscheiden sich von Tischen, Bergen und Pf lanzen dadurch, dass sie ihre Welt erleben, dass sie Gefühle, Gedanken, Empfindungen, Phantasien usw. haben, die sie Tischen, Bergen und Pf lanzen prinzipiell nicht zuschreiben würden. Sie haben aber auch einen materiellen Körper, haben also etwas mit Tischen, Bergen und Pf lanzen gemeinsam – und so legt es sich nahe anzunehmen, dass Menschen sich von allen anderen Dingen dadurch unterscheiden, dass sie zusammengesetzt sind, aus einem materiellen Körper und dem Bewusstsein (bzw. einer Seele). Natürlich wissen wir auch um einen Zusammenhang, einer Wechselwirkung zwischen dem Körper und der Seele, und ein anthropologischer Dualist muss auch eine Erklärung für diese Wechselwirkung geben können. So gibt es einen Einf luss vom Körper auf die Seele: Wenn unser Körper müde oder krank ist, dann hat das auch einen Einf luss auf unser Empfinden und Denken. Und es gibt einen Einf luss von der Seele auf den Körper: Wenn wir uns bewusst dafür entscheiden, ein Eis essen zu wollen, dann hat dieser geistige Akt der Entscheidung Konsequenzen für unsere Körperbewegungen. René Descartes nahm an, dass die Zirbeldrüse Sitz dieser Wechselwirkung sei, Karl Popper (und mit ihm John Eccles) haben vertreten, dass eine Wechselwirkung auf der Ebene der Quanten stattfände. Platon, wie wir noch sehen werden, lässt seinen Sokrates vertreten, dass sich die Seele in unterschiedlichen Graden an den Körper binden könne und umgekehrt auch von dem Körper gebunden werden kann.
3.2 Anthropologischer Dualismus und das Weiterleben nach dem Tod Ein anthropologischer Dualismus legt sich auch dann nahe, wenn wir über den Tod nachdenken und dabei eine Hoffnung begründen wollen, dass wir, in welcher Form auch immer, nach dem Tod weiter existieren. Wenn tatsächlich wir es sind, die nach dem Tod weiter existieren, dann muss es etwas geben, das wir jetzt in unserer Existenz vor dem Tod mit unserer Existenz nach dem Tod gemeinsam haben. Nur, was ist dieses ‚etwas‘? Die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende unserer Existenz bedeutet, kann, muss aber nicht explizit religiös begründet sein. Innerhalb einer jüdisch-christlichen Kultur ist es zwar naheliegend, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod mit der Frage in Verbindung zu bringen oder sogar eine Antwort auf die Frage davon abhängig zu machen, ob es einen Gott gibt, der uns nach dem Tod auferweckt, aber diese Verbindung von Religion und Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist per se nichts, was im Wesen der Frage nach einem Leben nach dem Tod gegeben wäre. Wenn Platon im Phaidon seinen Sokrates dafür argumentieren lässt, dass die Seele unsterblich ist und den Tod überdauert, dann spielt dabei eine Hoffnung oder ein Glaube an einen Gott oder an
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Götter höchstens indirekt eine Rolle. Es ist die Seele, die es zu untersuchen gilt, und wenn aus einer Untersuchung der Seele deren Unsterblichkeit folgt, dann ist die Welt eben derart beschaffen, dass die Seele eines Menschen seinen Tod überdauert. Insofern ist die Untersuchung der Unsterblichkeit der Seele eine naturphilosophische oder metaphysische, aber keine religionsphilosophische oder gar theologische Untersuchung.1 Die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod nun ausgerechnet an der Seele festzumachen und zu behaupten, dass es die Seele ist, die die Kontinuität zwischen dem Leben vor und nach dem Tod eines Individuums sichert, legt sich aus zwei Gründen nahe. Zum einen ist klar, dass unser Körper mit dem Tod zerfallen wird. Sokrates wird Gift trinken und sein Körper, nach dem Tod nur noch eine Leiche, wird verwesen. Selbst dann, wenn Platon seinen Sokrates eigens darauf hinweisen lässt, dass in manchen Kulturen durch Einbalsamierung der Leiche der Körper selbst kaum verwest und noch lange nach dem Zeitpunkt des Todes den Menschen überdauert (vgl. Phd. 80b9– d4) – und um wie viel mehr müsse dann die Seele unsterblich sein –, ist doch klar, dass der Körper zerfallen wird. Wichtiger noch ist aber der zweite Grund. Wir Menschen sind normalerweise der Überzeugung, dass das, was uns unserem Wesen nach konstituiert und uns unsere Identität gibt, nicht unsere körperliche Verfasstheit, sondern unser Bewusstsein, also etwas Geistiges, ist. Es macht uns als Menschen aus, was wir denken, was wir für wahr halten, was wir empfinden, welche Ziele wir uns setzen, wie wir uns und unsere Welt erleben usw. Wenn es eine identitätsrelevante Kontinuität zwischen unserem Leben jetzt und einer Existenz von uns nach dem Tod geben soll, dann muss es eine Kontinuität des Bewusstseins sein. Es gibt noch einen weiteren Grund, die Frage nach der Unsterblichkeit an der Seele festzumachen, der mit der griechischen Kultur zusammenhängt. Die Auffassung, dass im Augenblick des Todes die Seele den Körper des Menschen verlässt, ist eine Auffassung, die sich schon früh in der griechischen Kultur findet. Dabei ist die Seele zunächst noch kein philosophisch beladener Begriff. Das griechische Wort für Seele, psychê, bedeutet zunächst so viel wie „Atem“ im Sinne von „Lebenshauch“. Wer stirbt, hört auf zu atmen. Der Atem als Träger des Lebens entweicht dem Sterbenden und eine Leiche bleibt übrig. Dass mit dem Moment des Todes das Leben des Individuums also nicht am Ende ist, sondern der Mensch weiterleben kann, ist eine Auffassung, die in der griechischen Kultur – anders etwa als in der damaligen jüdisch-hebräischen Kultur – fest verwurzelt ist.
1 Indirekt spielt die Annahme von Gott und Göttern allerdings eine Rolle, weil für Platon das letzte Prinzip der gesamten Wirklichkeit, die Vernunft (nous), mit Gott identifiziert werden kann. Weil das letzte Prinzip der Wirklichkeit dasjenige ist, von dem abhängt, dass die Welt, die Naturordnung und sogar die Ethik so ist, wie sie ist, und damit auch die faktische Unsterblichkeit der Seele von dem ersten Prinzip abhängt, kann man vertreten, dass die Unsterblichkeit der Seele von einem ersten Prinzip, der Vernunft, die mit Gott identifiziert werden kann, abhängt. Allerdings spielt auch hier ein Glaube im jüdisch-christlichen Sinn keine Rolle.
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Wenn es auch eine Tradition gab, in der vertreten wurde, dass der Tod in einer Loslösung der Seele vom Körper besteht, so war doch unklar, wie dieses Weiterleben der Seele nach dem Tod aussehen könnte. Neben der Vorstellung, die Seele führe ein halbbewusstes Leben in einer Art Schattenreich (vgl. z. B. Homer in der Ilias [Il. 3.278f.; 19.259] und das elfte Buch der Odyssee), entstanden positivere Bilder über das Jenseits. Auf ein besseres Schicksal nach dem Tod konnten vor allem diejenigen hoffen, die in die Mysterienkulte initiiert worden waren, die zu Platons Zeit in Attika überaus populär gewesen sind. Aus den Erweiterungsbauten im Mysterienheiligtum in Eleusis (ca. 20 km von Athen entfernt) im 5. Jhdt. v. Chr. kann man sehen, dass sich ein Großteil der Athener Bevölkerung in die Demetermysterien, die dort gefeiert wurden, initiieren ließ. Auch, wenn wir aufgrund der strengen Geheimhaltungspf licht der Mysterien nicht mehr genau rekonstruieren können, wie diese Feiern abgelaufen sind, so belegen doch ausreichend Zeugnisse, dass die Menschen, die initiiert worden waren, auf ein besseres Los im Jenseits hoffen konnten (vgl. Demeterhymnus 480–2; Sophokles Fr. 837 P. aus Triptolemos). Die Frage, was denn nun mit einem Menschen nach seinem Tod wird, war also zu Platons Zeit virulent. Dabei interessiert sich Platon nun überhaupt nicht für die Dichter oder für die Mysterieninitiationen und erhofft von ihnen in keiner Hinsicht irgendwelche Aufklärung über das Schicksal der Seele nach dem Tod. Vielmehr lässt er sich offenbar durch die pythagoreische Vorstellung der Seelenwanderung inspirieren und entwirft in Anlehnung daran die Auffassung, dass die unsterbliche Seele wiedergeboren werden kann, bis sie eventuell einmal dem Kreislauf der Wiedergeburten entkommt. Die Auffassung, dass die Seele wiedergeboren werden kann, war in Attika damals fremd. Für Platon allerdings war die Auffassung der Reinkarnation ganz offensichtlich eine attraktive Annahme, denn nicht nur im Phaidon, sondern auch in anderen Dialogen lässt Platon seinen Sokrates wie eine Selbstverständlichkeit die Reinkarnation vertreten. Dabei fällt, ähnlich wie bei den eschatologischen Mythen, auf, dass die Details der Wiedergeburt undeutlich bleiben. Platon kommt es nicht darauf an, sich darauf festzulegen, als was man denn nun ganz genau reinkarniert wird, sondern durch die Reinkarnation ein Grundprinzip zu etablieren: Die Frage danach, wie das Leben nach dem Tod eines Individuums ausschaut, hängt ausschließlich von dessen Lebensführung ab. Nicht die Frage, ob jemand in die Mysterien initiiert worden ist oder nicht, sondern die Frage, wie ein Mensch gelebt hat, ist für Platon also von Bedeutung für die Art des Weiterlebens nach dem Tod. Entscheidend dabei ist, ob und in welchem Maße es dem Menschen schon zu Lebzeiten ein Anliegen war, seine Seele von seinem Körper zu lösen. Platon skizziert, wie schon angedeutet, die Auffassung, dass die Seele eines Menschen auf unterschiedliche Art und Weise mit seinem Körper verbunden sein kann. Die Stärke der Verbindung zwischen der Seele und dem Körper ist dabei abhängig von den Lebenszielen des Menschen. Wenn die Ziele eines Menschen, und damit auch seine konkreten Entscheidungen und Handlungen, vor allem darin bestehen, für seinen Kör-
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per zu sorgen und den körperlichen Impulsen nachzugehen, dann bindet er damit seine Seele an seinen Körper. Dabei sind es die Begierden (wie Hunger, Durst), Lüste (Befriedigung der Sexualität) und das Streben nach Macht, Geld und Einf luss – die letzten Endes wieder der Befriedigung der Begierden dienen –, die die Seele an den Körper heften. Drastisch lässt Platon seinen Sokrates davon sprechen, dass derjenige, der diesen Einf lüssen nachgeht und seine konkreten Lebensziele und Handlungen von den körperlichen Impulsen beeinf lussen lässt, seine Seele an den Körper nagele, weil jede Lust und Unlust einen Nagel habe, mit dem die Seele an den Körper gefesselt werde (vgl. Phd. 83d1–e3).
3.3 Individualität der Seele und Unsterblichkeit Auch wenn das Bild der an den Körper genagelten Seele zunächst vielleicht fremd und unverständlich ist, ist der Grundgedanke dahinter doch plausibel. Die Seele umfasst u. a. das, was der Mensch in seinem Leben anstrebt, also die Ziele, die ein Individuum hat. Diese Ziele bestimmen auch seinen Charakter und werden ihrerseits von seinem Charakter mitbestimmt. Das, was ein Mensch in seinem Leben wichtig findet und welche Prioritäten er in seinem Leben hat, bestimmt zu einem großen Teil, was für eine Art von Mensch er ist. Jemand, für den Geld und Reichtum beispielsweise die wichtigsten Lebensziele sind, ist ein anderer Mensch als jemand, für den erfüllende menschliche Beziehungen die wichtigsten Lebensziele sind. Die Ziele und der Charakter sind aber nicht materieller, sondern geistiger Natur, und wenn ein Mensch sich nun zum Inhalt der Ziele die Befriedigung seiner Körperbedürfnisse wählt, dann beherrscht der Körper mit seiner Lust oder Unlust die jeweiligen Entscheidungen und Handlungen eines Individuums. Insofern kann Platon davon sprechen, dass die Seele dem Körper folgt und durch fortwährende Wiederholung und Gewohnheit eben an den Körper genagelt wird. An diesem Punkt entsteht eine interessante Spannung in Bezug auf die traditionelle Vorstellung, die Seele verlasse als Lebensatem im Augenblick des Todes den Menschen. Es ist die Spannung zwischen der Überzeugung, dass sich jede Seele als Prinzip des Lebens zum Zeitpunkt des Todes vom Körper löst und der These, dass die individuelle Lebensform Einf luss auf die Art und Weise des Überlebens der Seele hat. Die Seele, die sich vom Körper löst, ist nicht mehr schlicht das Prinzip des Lebens eines Menschen, sondern Träger seiner Individualität. Ganz deutlich wird dieser individuelle Aspekt dann, wenn Sokrates seine Hoffnung ausführt, nach dem Tod nicht nur zu anderen Göttern zu kommen, die weise und gut sind, sondern auch zu verstorbenen Menschen, die besser sind als die Athener Bürger, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt hat (vgl. Phd. 63b4–c7) – auch wenn er einschränkend hinzufügt, er könne sich nicht ganz sicher sein, ob er tatsächlich auf Menschen treffen werde. Die Hoffnung aber,
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nach dem Tod andere Menschen zu treffen, setzt voraus, dass diese anderen Menschen in ihrer Individualität identifizierbar sind. Es ist leicht nachvollziehbar, dass es umso schwieriger ist, eine philosophisch befriedigende Auffassung der Unsterblichkeit der Seele zu entwickeln, je individueller die Seele verstanden wird. Die vage Lösung, die Aristoteles im zwölften Buch seiner Metaphysik anspricht, zeigt deutlich, dass sich die griechischen Philosophen mit der Frage herumgeschlagen haben, wie die Seele unsterblich sein kann, wenn sie doch die individuellen Züge eines Menschen umfasst. Aristoteles konstatiert in Bezug auf die Seele, dass sie vielleicht als Form eines Menschen bestehen bleibe, nachdem es den Menschen nicht mehr gebe; allerdings gelte dieses nur von der Vernunft, nicht von der gesamten Seele (vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, 1070a23–25). Die Antwort, die Aristoteles auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele gibt, ist eine andere als die, die Platon gibt. Platon gelingt es durch die Einführung der Auffassung einer Wiedergeburt, zumindest auf der Ebene des Mythos eine Vorstellung einzuführen, in der die Seele nach dem Tod weiterlebt. In einem Abschnitt über das Schicksal der guten und der schlechten Seelen im Jenseits (vgl. Phd. 80e2–82c1) skizziert er, dass sich diejenigen Seelen der Menschen, die sich ganz an den Körper geheftet haben, weil die Menschen von den Lüsten, die der Körper bereithält, so fasziniert gewesen sind, kaum von ihm richtig lösen können und als eine Art Gespenster um Denkmäler und Friedhöfe umherschleichen würden. Wer in seinem Leben vor allem gerne gegessen und getrunken habe, werde als Esel wiedergeboren (im Timaios führt Platon denselben Gedanken noch etwas ausführlicher aus und meint kreativ und plastisch, wer sich vor allem dem Essen hingegeben habe, werde als Hängebauchschwein wiedergeboren!), wem es im Leben vor allem auf Macht angekommen sei, werde als Wolf wiedergeboren usw. Natürlich stellen sich an die Wiedergeburt viele philosophische Fragen, wie z. B. diejenige, was nach dem Tod des Tieres mit der Seele passiert. Hat jemand Chancen, als Mensch wiedergeboren zu werden? Leben die Gespenster unendlich lang? Gibt es einen Kreislauf der Wiedergeburten, der einmal enden kann, wie es der Schlussmythos nahelegt, oder eine einmalige Wiedergeburt, wie es der Anfang des Dialoges eher suggeriert? Die Ref lektiertheit eines Philosophen wie Platon liegt auch darin, dass er diese Fragen nicht stellt und erst gar nicht damit beginnt, ein kohärentes Bild der Wiedergeburt zu zeichnen. Es sind Fragen, die er in dem zentralen Teil des Dialoges, in den Beweisen der Unsterblichkeit der Seele, längst hinter sich gelassen hat. Denn wie immer man die Unsterblichkeitsbeweise interpretieren möchte, es ist klar, dass sich die Fragen nach der Unsterblichkeit derjenigen Teile der Seele, die an den Körper gebunden sind (also die Begierden und die Emotionen), gar nicht stellt. Ohne dass Platon die Leserin oder den Leser deutlich darauf aufmerksam macht, wird eine ganz andere Auffassung der Seele eingeführt, auf der dann Platons weitere Überlegungen beruhen. Das, was eigentlich die Seele ist, ist die Vernunft, und nur dieser Teil der Seele ist überhaupt ein Kandidat für die wahre Unsterblichkeit, die den philosophischen Überlegungen zugrunde liegt.
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Im eigentlichen Sinn unsterblich ist eine Seele, wenn sie sich rein vom Körper löst, und dafür muss der Mensch ein Leben der Vernunft geführt haben. Weil es für den Philosophen charakteristisch ist, sein Leben ausschließlich an dem auszurichten, was vernünftig ist, ist es vor allem der Philosoph, dessen Seele sich rein vom Körper befreien und unsterblich sein kann. Dass es ausgerechnet die Vernunft sein soll, an der sich der Mensch orientierten muss, wenn sich die Seele möglichst rein vom Körper abtrennen soll, hängt zu einen damit zusammen, dass die anderen klassischen Seelenteile, also die Triebe und die Emotionen, notwendig an den Körper gebunden sind. Das ist ganz offensichtlich für die klassischen Triebe wie Sexualität oder Hunger und Durst. Ohne einen Körper kann es keinen Sexualtrieb und keinen Hunger geben. Aber auch Emotionen wie Freude oder Angst sind an einen Körper gebunden, denn ohne eine entsprechende Körperreaktion gibt es keine Emotionen. Wenn also etwas von einem Menschen überleben soll, und das, was überlebt, nicht körperlich ist, dann muss es ein Teil der Seele sein, der prinzipiell nicht an den Körper gebunden ist. Und wenn überhaupt irgendein Kandidat dafür infrage kommt, dann ist es die Vernunft.
3.4 Vernunft und metaphysischer Dualismus Die Erklärung, dass die Triebe und Emotionen notwendig an den Körper gebunden sind, die Vernunft aber vom Körper unabhängig sein könne, hängt zum anderen – und in noch höherem Maße – mit einer metaphysischen Annahme Platons zusammen, einer Annahme, die er im Phaidon skizziert und die für Platons Metaphysik ganz generell charakteristisch ist: dem metaphysischen Dualismus, d. h. dem Dualismus zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Welt der Erscheinungen und der nur durch Denken zu erfassenden Welt der Ideen. Auch dann, wenn die Annahme von Ideen ganz ausdrücklich erst später in den Dialog eingeführt wird, so beruhen doch viele Auffassungen, die Sokrates in den beiden uns interessierenden Textabschnitten ab 63e8–69e4 und 80e2–84b7 macht, auf der Annahme eines metaphysischen Dualismus. Ansatzpunkt der Unterscheidung ist dabei die Frage, was die charakteristischen Objekte sind, die die Seele (ohne, dass sie dabei den Körper zu Hilfe nimmt) erkennt und wie die Seele die Objekte am leichtesten erkennen kann. Dabei vertritt Sokrates, dass es die Aufgabe der Seele ist, die Wahrheit zu treffen. Diese Aufgabe kann die Seele dann am besten erfüllen, wenn sie bei der Suche nach Erkenntnis nicht von irgendeiner sinnlichen Wahrnehmung getrübt wird (vgl. Phd. 65a9–d3). Platon gibt folgende Beispiele für das, was die Seele erkennen kann, wenn sie sich nicht der Wahrnehmung des Körpers bedient: das Gerechte, das Schöne, das Gute, das Wesen (ousia) der Größe, der Gesundheit und der Stärke (vgl. Phd. 65d4–e5). Auch wenn terminologisch in diesem Kontext nicht von Ideen die Rede ist, so ist doch klar, dass der Sache nach die Ideen gemeint
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sind, zumal es für Platons Philosophieren charakteristisch ist, sich nicht an einer festen Terminologie zu orientieren. Bei der Suche nach der Wahrheit darüber, was das Gute oder das Schöne ist, ist es für die Seele am besten, wenn ihre Erkenntnis nicht von der Wahrnehmung beeinträchtigt ist. Wenn sich ein Mensch nun während seines Lebens darum bemüht, die Seele so weit wie möglich vom Körper zu lösen, und das bedeutet dann, sich in der Erkenntnis der Ideen zu üben und so eine philosophische Existenz zu führen, wird die Seele auch nach dem Tod zu dem gehen, was ihr ähnlich ist, nämlich zu dem Unsterblichen, Vernünftigen und Göttlichen (vgl. Phd. 80e2–82c1). An dieser Stelle stellen sich sicherlich sehr viele Fragen. Nur eine von ihnen sei angesprochen: Wie ist es möglich, das Schöne zu erkennen, ohne dabei auch die Sinne zu benutzen? Es ist aufschlussreich, dass Platon in einem dem Phaidon in vieler Hinsicht verwandten und komplementären Dialog, dem Symposion, der sinnlichen Erkenntnis eine viel größere Bedeutung zumisst (vgl. Symp. 209e5–212a7). Um die Idee des Schönen zu erkennen, ist ein langer Weg von Nöten, an dessen Anfang die Erfahrung sexueller Attraktion steht. Ein junger Mann – so beginnt eine Art Übungsweg – macht die Erfahrung, von einem schönen Menschen sexuell erregt zu werden. Wichtig an dieser Erfahrung ist die Interpretation: Es ist nicht der Mensch, der ihn sexuell erregt, sondern eine Eigenschaft an diesem Menschen, nämlich dessen Schönheit. Wer der Schönheit selbst auf der Spur bleiben möchte, der wird in einem zweiten Schritt erkennen, dass es diese Schönheit an vielen Menschen gibt und er wird sie mit vielen Menschen erfahren wollen. In einem nächsten Schritt wird er erleben, dass es eine dauerhaftere und intensivere Form der Schönheit gibt, wenn man sich nicht an der Schönheit von Körpern orientiere (deren Schönheit vergeht schnell), sondern von der Seele, also dem Charakter eines Menschen. Noch einmal intensiviert sich die Erfahrung der Schönheit, wenn man das Schöne in den Wissenschaften sucht; und dann kann es geschehen, dass man plötzlich in einer überwältigenden Erfahrung das Schöne selbst schaut, also nicht instantiiert als eine Eigenschaft an etwas anderem, sondern in seiner Reinheit und für sich selbst. Der Übungsweg des Symposion endet mit der Schau des Schönen, die keine durch die Sinne vermittelte Erfahrung ist, denn auch wenn Platon das Bild des Schauens und damit ein Bild aus dem Bereich der Wahrnehmung nimmt, ist deutlich, dass es kein Erlebnis ist, bei dem die visuelle Wahrnehmung eine Rolle spielt. Hier stimmt Platons Symposion mit dem Phaidon überein. Die Akzente sind allerdings in beiden Dialogen verschieden. Während im Symposion der Weg zur Schau der Ideen skizziert wird und Platon dabei die Bedeutung der sinnlichen Erkenntnis als eine unerlässliche Etappe auf dem Weg betont, akzentuiert er im Phaidon, dass die Erkenntnis des Schönen selbst eine Erkenntnis ist, an der die Sinne nicht beteiligt sind.
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3.5 Anthropologischer und metaphysischer Dualismus2 Die Auffassungen, die Platon seinen Sokrates von der Seele vortragen lässt, sind eingebettet in eine Gesamtsicht der Wirklichkeit, ohne die alles, was er über die Seele und die Unsterblichkeit sagt, in der Luft zu hängen scheint. Weil von einer Antwort auf die Frage, wie sich im Phaidon der anthropologische Dualismus zum metaphysischen Dualismus verhält, viel für die Gesamtinterpretation des Dialoges abhängt, seien einige grundsätzlichere Überlegungen an das Ende der Interpretation des anthropologischen Dualismus gestellt. Wer nämlich Platons Phaidon das erste Mal liest, beeindruckt von der Tiefe und literarischen Qualität des Dialoges, wird kaum umhinkommen, den Zusammenhang zwischen Sokrates’ Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele und die den Dialog abschließende philosophische Untersuchung, in der die Annahme von Ideen als zweitbeste Fahrt eingeführt wird, wie folgt zu sehen: Sokrates hat die Hoffnung, dass seine Seele unsterblich ist und den Tod überdauert. Im Moment des Todes hat er das Ziel seines philosophischen Lebens erreicht, endlich trennt sich die Seele vom Körper. Die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele wird in den Gesprächen, die Sokrates mit Simmias und Kebes führt, in mehreren Anläufen philosophisch begründet, aber erst mit der expliziten und ausführlichen Einführung der Ideen wird eine philosophische Grundlage geschaffen, die einem Beweis für die Unsterblichkeit der Seele ein sicheres sachliches Fundament legt – auch dann, wenn, wie wir gesehen haben, die Annahme von realen abstrakten Entitäten schon viel früher im Dialog eingeführt wird. Mit der Einführung der Ideen und damit einer metaphysisch dualistischen Auffassung über unsere Wirklichkeit als Ganze wird aber der Grund gelegt, die Unsterblichkeit der Seele beweisen zu können. Es legt sich nahe anzunehmen, dass die Seele, weil sie in den Bereich der Ideen gehört, und alles, was in den Bereich der Ideen gehört, ewig und unvergänglich ist, auch ewig und unvergänglich, also unsterblich, sein muss. Eine solche Deutung des Phaidon besteht folglich in der Annahme, dass erst die Metaphysik, die Platon skizziert, die Voraussetzungen dafür bietet, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, selbst wenn die Metaphysik unter dem Vorbehalt der zweitbesten Fahrt steht. Ohne eine Metaphysik, also eine Auffassung über die Wirklichkeit als Ganze, hängt jeder Beweis für die Unsterblichkeit der Seele in der Luft. Die Metaphysik selbst ist dabei streng dualistisch. Es gibt zwei Bereiche der Wirklichkeit. Alles, was es gibt, gehört entweder in den Bereich der wahrnehmbaren Erscheinungswelt oder in den Bereich der nicht wahrnehmbaren Ideen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es Verbindungen zwischen den beiden Bereichen gibt: Die Dinge in der Erscheinungswelt sind so, wie sie sind, weil sie an den Ideen teilhaben. Von den Ideen wird gesagt, sie können „in“ den Dingen sein und den Dingen so die Eigenschaften verleihen, die sie 2 Vgl. dazu ausführlicher Bordt 2006.
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haben. Wichtig ist aber, dass es über den Bereich der wahrnehmbaren Erscheinungswelt und der nicht wahrnehmbaren Ideen hinaus keinen dritten ontologischen Bereich gibt. Der Mensch nimmt in diesem metaphysischen Dualismus nur insofern eine Sonderstellung ein, als ein Teil von ihm, sein Körper, zur wahrnehmbaren Welt, ein anderer Teil von ihm, seine Seele, zur Welt der Ideen gehört. Dem anthropologischen Dualismus, so könnte man meinen, entspricht der metaphysische Dualismus und umgekehrt. Eine derartige Interpretation würde dem Dialog selbst aber nicht gerecht werden. Der metaphysische Dualismus kann, wenn er auf den Menschen angewandt wird, kein Fundament für einen anthropologischen Dualismus sein, sondern stellt den anthropologischen Dualismus vielmehr infrage, sowie auch der metaphysische Dualismus vom anthropologischen Dualismus her infrage gestellt wird, denn es ist für die Seele charakteristisch, eine Zwischenstellung zwischen dem Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungswelt und der Welt der Ideen einzunehmen. Damit wird aber auch der strenge metaphysische Dualismus aufgegeben, denn es gibt neben den beiden Bereichen, der Erscheinungswelt und der Welt der Ideen, offenbar einen dritten Bereich, den Bereich der Seele. Es ist genau diese Auffassung der Seele, die sich in vielen anderen Dialogen, besonders prominent in Platons Symposion, findet. Der Grund dafür, einen eigenen ontologischen Bereich für die Seele anzunehmen, liegt dabei nicht einmal darin, dass auch im Phaidon von der Seele ausdrücklich gesagt wird, sie könne die Sinnesorgane zu Hilfe nehmen, wenn sie sich für ihre Erkenntnis der Wahrnehmung bedienen möchte, gerate dabei aber stets ins Schwanken als sei sie betrunken (vgl. Phd. 79c2–8). Denn selbst dann, wenn die Seele sich mit den ihr eigentümlichen Objekten, den Ideen, und mit sich selbst beschäftigt (vgl. Phd. 79d1–7), wird sie nicht zu einem Objekt dieses ontologischen Bereichs. Es gibt verschiedene Hinweise Platons dafür, dass er die Spannung zwischen dem anthropologischen Dualismus und dem metaphysischen Dualismus klar gesehen hat und die Leserinnen und Leser auf diese Spannung aufmerksam machen möchte. An keiner Stelle sagt er, dass die Seele ein Objekt im Bereich derjenigen Dinge wäre, die unsterblich sind. Nachdem er beispielsweise die beiden Arten des Seienden unterschieden hat in zusammengesetztes und unzusammengesetztes Seiendes, das unzusammengesetzte Seiende mit dem unsichtbar Seienden, das zusammengesetzt Seiende mit dem sichtbaren Seienden identifiziert (vgl. Phd. 79a6–11)3 , und darauf dann fragt, zu welcher Art des Seienden die Seele gehört, überrascht die zögerliche Antwort – denn man erwartet, 3 Hier weiche ich von Benedikt Strobels Beitrag in diesem Band ab, dem ich dennoch wichtige Anregungen verdanke. Strobels Unterscheidung zwischen einer vollständigen Distinktion in zwei Bereiche des Seienden in Phd. 78b4–c5 (Dinge, die auf lösbar sind und Dinge, die nicht auf lösbar sind) und einer unvollständigen Distinktion in Phd. 79a6 – 9 (Dinge, die sichtbar sind und Dinge, die unsichtbar sind) finde ich nicht wirklich überzeugend, da diejenigen Dinge, die sichtbar bzw. unsichtbar sind mit denjenigen Dingen identifiziert werden, die sich auf immer andere Weise und solche, die sich immer auf die gleiche Weise verhalten. Diese Identifizierung findet sich aber schon in Phd. 78c5f. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen
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dass natürlich eindeutig ist, dass die Seele, weil sie unsichtbar ist, in den Bereich dessen gehört, was sich immer auf die gleiche Weise verhält: „Ähnlicher (homoioteron) also als der Körper ist die Seele dem Unsichtbaren, dieser aber dem Sichtbaren“ (Phd. 79b16f.). Diese Behauptung ist natürlich alles andere als befriedigend. Wenn jemand streng zwei Wirklichkeitsbereiche voneinander unterscheidet und dann fragt, ob ein bestimmter Gegenstand in den einen oder anderen Wirklichkeitsbereich fällt, kann eine gültige Antwort nicht darin bestehen, der Gegenstand falle wohl in den einen Bereich, weil er den Gegenständen dort „ähnlicher“ sei. Damit hat Platon keine Antwort gegeben, sondern ein Problem angezeigt, über das nachgedacht werden muss. Wenig später formuliert er ebenso ausweichend: Dem Göttlichsten, Unsterblichen, Denkbaren, Eingestaltigen, Unauf löslichen, dem was sich immer gleich bleibt, ist die Seele am ähnlichsten (homoiotaton). (Phd. 80b1–3). Wenn das so ist, kommt es dann nicht dem Körper zu, schnell aufgelöst zu werden, der Seele andererseits, gänzlich unauf löslich zu sein oder doch beinahe (engys)? (Phd. 80b8–10) Auch hier ist der Zusatz „oder doch beinahe“ eine Problemanzeige und keine Lösung des Problems. Zudem wird auf eine sachliche Schwierigkeit aufmerksam gemacht, die den Interpreten immer wieder zu Recht aufgefallen ist. Es ist nämlich aus der Platonischen Konzeption der Seele, wie sie in anderen Dialogen bekannt ist, nicht wirklich klar, ob die Seele tatsächlich unzerstörbar ist. Unzerstörbar ist das, was unzusammengesetzt ist (vgl. Phd. 78b4–80e2). Das, was zusammengesetzt ist, verhält sich nicht immer auf dieselbe Weise. Unzusammengesetzt kann nur etwas sein, bei dem sich keine Teile voneinander unterscheiden lassen, was einfach ist und insofern nicht in Teile zerfallen kann. Dem Zusammengesetzten kommt es zu, in Teile zerlegt zu werden. Wir müssten also fragen, ob und inwiefern die Seele überhaupt einfach ist. Die Behauptung der schlichten Einfachheit der Seele widerspricht Auffassungen der Seele, wie Platon sie ausführlich beispielsweise im vierten Buch der Politeia (vgl. Rep. 437b1–441c3) oder im Timaios vertreten lässt. Die Seele besteht aus Teilen (oder, wie manche Interpreten annehmen, Funktionen), aber ist nicht einfach und unzusammengesetzt. Gerade in der Politeia wird mithilfe des Nichtwiderspruchsprinzips ausführlich für eine Unterscheidung verschiedener Seelenteile argumentiert. Zwar lässt Platon an einer anderen Stelle im zehnten Buch der Politeia (vgl. Rep. 611b1–8) keinen Zweifel daran, dass er die Seele gerne als eine Einheit begreifen möchte, aber was für eine Form von Einheit es ist, und ob die Unterscheidung in Teile oder Vermögen vorläufig gewesen ist oder nicht, bleibt unklar. Dingen, die zusammengesetzt sind (also Dinge, die sich immer anders verhalten), und Dingen, die unzusammengesetzt sind (also Dingen, die sich immer gleich verhalten).
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Wenn unsere Interpretation richtig sein sollte, dann weist Platon im Phaidon also auf die besondere Schwierigkeit hin, innerhalb eines metaphysischen Dualismus einen Platz für die Seele zu finden. Dass Platon diese Schwierigkeit in der Tat gesehen hat, zeigt ein erneuter Blick auf sein Symposion, in dem, wie wir bereits gesehen haben, der sinnlichen Wahrnehmung für die Erkenntnis der Ideen eine viel bedeutsamere Rolle zugesprochen und, wie wir sehen werden, der metaphysische Dualismus relativiert wird. Platon bestimmt im Symposion den ontologischen Ort der Seele als ein „Zwischen“ (metaxy). Es ist für die Seele charakteristisch, eine Zwischenstellung einzunehmen, und zwar zwischen der Welt der wahrnehmbaren Dinge und der Welt der Ideen. Es gibt also nicht nur zwei Bereiche, den der Erscheinungswelt und den der Ideen, sondern noch einen dritten Bereich in der Ontologie, den Bereich, der für die Seele charakteristisch ist und der sich zwischen beiden Bereichen befindet. Ebenso wie im Phaidon, so liefert auch im Symposion die Seele des Philosophen das Modell für die Seele. Für den Philosophen ist es nun charakteristisch, nicht einfach die Weisheit zu haben, sondern nach der Weisheit zu streben. Das legt schon die Etymologie des Wortes „Philosoph“ nahe, denn „philos“ bedeutet „Freund“ oder „Liebhaber“ und „sophia“ bedeutet „Weisheit“, und wer ein Liebhaber von etwas ist, der hat nicht schon das, was er liebt, sondern strebt danach. Die Seele des Philosophen strebt also nach Weisheit, nach der Wahrheit und nach den Ideen. Jede Auffassung über die Seele muss der Tatsache gerecht werden, das die Seele beiden Bereichen angehört. Im Timaios werden diese Überlegungen weiterentwickelt. Platon skizziert ein Modell der Seele, das deutlich machen soll, warum die Seele in der Lage ist, alles, was ist, zu erkennen. Das Material, aus dem die Seele gebildet ist, enthält alle Bestandteile, die auch in der nicht-seelischen Wirklichkeit vorkommen (vgl. Ti. 35a1–36b7). Zunächst unterscheidet Platon Sein, Identität und Verschiedenheit voneinander. Dann unterscheidet er innerhalb des Seins, der Identität und der Verschiedenheit jeweils drei Arten voneinander: (1) Unteilbares Sein bzw. unteilbare Identität und unteilbare Verschiedenheit (damit ist der Bereich der intelligiblen Dinge, der Ideen, gemeint), (2) teilbares Sein bzw. teilbare Identität und teilbare Verschiedenheit (damit ist der Bereich der wahrnehmbaren Dinge gemeint) und (3) aus (1) und (2) zusammengesetztes Sein bzw. zusammengesetzte Identität und Verschiedenheit. Aus dieser dritten Art ist die Seele konstituiert. Sie besteht also aus dem aus unteilbarem und teilbarem Sein zusammengesetzten Sein, aus der aus der unteilbaren und teilbaren Identität zusammengesetzten Identität und aus der aus unteilbarer und teilbarer Verschiedenheit zusammengesetzten Verschiedenheit. Diese komplexe Zusammensetzung der Seele bedeutet zum einen, dass die Seele alles enthält, was es auch in der Wirklichkeit gibt; nur so kann die Seele sowohl die Ideen als auch die Dinge in unserer sinnlichen Erfahrungswelt erkennen. Zum anderen macht Platon deutlich, dass der Seele ein eigener, dritter Wirklichkeitsbereich zukommt, und ein metaphysischer Dualismus keine angemessene Theorie der
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Wirklichkeit ist, weil er keinen Platz für die Seele lässt. Damit stellt sich aber erneut und verschärft die Frage, was die Unsterblichkeit der Seele garantieren kann.
Literatur Bordt, M., 2006: Metaphysischer und anthropologischer Dualismus in Platons Phaidon, in: Niederbacher, B. / Runggaldier, E. (Hgg.): Die menschliche Seele. Brauchen wir den Dualismus?, Frankfurt/M., 99–116 Burkert, W., 1987: Ancient Mystery Cults, Cambridge (Mass.) Popper, K. / Eccles, J., 1977: The Self and Its Brain, New York
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Das Argument aus den Gegensätzen (69e–72d)
4.1 Das Demonstrandum (69e5–70b9) Das Argument aus den Gegensätzen, das auch als Kreislauf- oder zyklisches Argument, als Antapodosis-Argument oder als Argument aus dem Wiedergeborenwerden bezeichnet wird,1 ist das erste in der Reihe von Sokrates’ Argumenten zugunsten der Unsterblichkeit der Seele, die im Phaidon auf seine „Apologie“ (63b1–69e4) folgen: auf die Verteidigung der unbekümmerten Haltung angesichts des bevorstehenden Todes, die Sokrates seinen um ihn versammelten Freunden „gleichsam vor Gericht“ (63b2) abstattet. Diese Apologie gründet auf einer den „echten Philosophen“ zugeschriebenen Lehre, wonach der Tod in der Loslösung der Seele vom Körper besteht (64c2–8), und wonach die von der Gemeinschaft mit dem Körper befreite Seele erst einmal „im Hades“ (68a9–b1) jene Form des reinen Denkens (phronêsis, 65a9, 66a6, 66e3, 68b4, 69c2) erlangen kann, nach der die echten Philosophen zeit ihres Lebens streben, die ihnen jedoch wegen der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper unzugänglich bleibt (66e1– 4). Ein wichtiger Bestandteil dieser Lehre ist die Auffassung der Seele, nach der diese des Denkens, das im Erfassen des Seienden besteht, in dem Maße fähig wird, in dem sie sich von der Sorge um den Körper abwendet und in sich selbst sammelt (66b3–67b2, 67c5–d2; vgl. 80e4–6, 83e5). Aus dieser Auffassung wird gefolgert, dass dies die Seele am besten tun kann, wenn sie vom Körper vollkommen gereinigt, d. h. losgelöst wird. 1 Die Vielfalt der Bezeichnungen ergibt sich aus dem komplexen Aufbau des Argumentes, das mit mehreren Thesen arbeitet: dass Lebende aus den Gestorbenen wieder geboren werden, dass Gegensätze nur aus Gegensätzen entstehen, dass jedem Werdeprozess zwischen Gegensätzen ein gegenläufiger Werdeprozess entspricht (antapodosis), dass das Werden der Gegensätze unaufhörlich im Kreis verläuft. In den spätantiken PhaidonKommentaren wurde das Argument entweder schlicht als „das erste Argument“ (Damaskios, In Phd. I 183,1 Westerink) oder als „das Argument aus den Gegensätzen“ (ho apo tôn enantiôn logos, ebd. I 207,1; II im Titel; Olympiodoros, In Phd. 10,5,14; 10,16,8 Westerink) bezeichnet. Im Titel dieses Beitrages behalten wir die in der Antike gebräuchliche Bezeichnung.
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Eben in diesem Punkt greift Sokrates’ Gesprächspartner Kebes die dargestellte Lehre an. Er hält ihr die weitverbreitete Befürchtung entgegen, dass die Seele im Augenblick des Todes, wenn sie den Körper verlässt, keineswegs „irgendwo in sich selbst versammelt“ (70a7) bleibt, sondern umgekehrt „wie ein Hauch oder ein Rauch“ zerstreut wird und gar nicht mehr existiert (70a5–7). Um diesen Punkt zu klären, wirft er die Frage auf, ob die Seele nach dem Ableben des Menschen überhaupt noch eine Kraft (dynamis) und ein Denkvermögen (phronêsis) besitzt (70b1–4). In Antwort auf diese Frage formuliert Sokrates sein erstes Argument. Zuerst gibt er seine eigene Formulierung der zu untersuchenden Frage: Es gilt zu erforschen, ob die Seelen (psychai) der verstorbenen Menschen „im Hades sind“ oder nicht (70c4–5). Was dieses „im Hades sein“ bedeutet, bleibt zunächst unbestimmt. Offensichtlich ist damit aber dasselbe gemeint wie in der vorausgehenden „Apologie“ (68a5, a9–b1), nämlich ein Zustand, in dem sich die Seele nach der Loslösung vom Körper befindet. Dies wird später im Laufe des Dialogs bestätigt, wenn Sokrates den „Hades“ (Haidês) als einen „unsichtbaren Ort“ (topon […] aidê) deutet, wohin sich die Seele, die selbst ein „Unsichtbares“ (to aides) ist, nach ihrem Weggang aus dem Körper begibt (80d5–6, 81c11; vgl. Cra. 403a5–8). Jedenfalls bildet in diesem Stadium der Debatte die These, dass die Seelen der Verstorbenen „im Hades sind“, eine Meinung (doxa, 70b9), die der durch Kebes ausgedrückten Ansicht entgegengesetzt wird, wonach die Seele des Verstorbenen nach ihrem Weggang aus dem Körper nicht mehr existiert. Wird Sokrates zeigen können, dass die Seelen der Verstorbenen „im Hades sind“, wird der Einwand des Kebes entkräftet. Somit wird die These, dass die Seelen, nachdem sie die Körper der Gestorbenen verlassen, „im Hades“ (71e2) oder „irgendwo“ (72a7) sind bzw. überhaupt existieren (72d9–e1), für Sokrates zum eigentlichen Demonstrandum seiner Argumentation.
4.2 Die Argumentationsstrategie (70b10–d6) Um dies nachzuweisen, bedient sich Sokrates einer eigentümlichen Strategie: Er beruft sich auf eine „alte Lehre“ (palaios logos, 70c5–6), welche die zu beweisende These voraussetzt. Er versucht dann, diese Lehre, die mehr besagt als er zu beweisen braucht, auf einem argumentativen Wege zu begründen. Dies geschieht so, dass er noch allgemeinere Thesen aufstellt, die die Richtigkeit eben dieser Lehre beweisen sollen. Gilt dann diese Letztere als bewiesen, ist dadurch auch das in ihr implizierte Demonstrandum bewiesen. Diese Argumentationsstrategie entspricht in ihren Grundzügen der später im Laufe des Dialogs beschriebenen Methode der Begründung der Hypothesen durch das Aufstellen von höheren Hypothesen, von denen sich die ersteren als ihre Folgerungen ergeben (100a3–7, 101d3–e3, 107b4–9). Es ist wichtig dieses Prozedere des Sokrates zu beachten, denn es bringt mit sich, dass die Beweisarbeit nicht direkt für das eigent-
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liche Demonstrandum – nämlich für die These, dass die Seelen nach dem Tode im Hades sind bzw. (irgendwo) existieren –, sondern für eine komplexere These, die das Demonstrandum impliziert, zu leisten ist (zur Analyse des Aufbaus des ganzen Argumentes vgl. Damaskios, In Phd. I 183ff. Westerink; Ebert 2004, 170f.). Diese komplexere These ist die Seelenwanderungslehre. Sokrates formuliert sie knapp und bündig mit folgenden Worten: „Es gibt eine alte Lehre, auf die wir uns erinnern, dass sie [sc. die Seelen der Gestorbenen] von hier dort angelangt sind und dass sie wiederum hier anlangen und aus den Gestorbenen geboren werden“ (70c5–8).2 Diese Lehre rechnet damit, dass die Seelen nach dem Weggang aus dem Körper „dort“ sind bzw. „im Hades“ existieren. Sie besagt aber mehr als das, nämlich dass die Seelen bzw. die Lebenden aus den Gestorbenen „wiedergeboren“ werden (70c8–9, d3–4), d. h. dass die im Hades befindlichen Seelen wieder in die Körper hineingeboren werden. Ist dies der Fall, muss a fortiori gelten, dass die Seelen der Gestorbenen existieren (70d1–2). Sollte sich also die These, dass die Lebenden aus den Gestorbenen wiedergeboren werden, als evident (phaneron) erweisen, wäre das ein genügender Beweis (hikanon tekmêrion) für die These, dass die Seelen im Hades sind (70d2–4). Aus diesen Gründen macht Sokrates die Hypothese der Seelenwanderung zum Gegenstand seiner Argumentation. Für die von ihm angewandte Untersuchungsmethode ist dabei die Bemerkung bezeichnend, dass man sich eines anderen Argumentes (allou […] tou […] logou) bedienen müsste, falls der Erweis dieser Hypothese misslingen sollte (70d4–5; vgl. 100a3–4). Dies bedeutet nämlich nicht, dass in solchem Fall das Demonstrandum zu verlassen wäre, sondern dass man das Demonstrandum aufgrund einer anderen Hypothese als der Seelenwanderungslehre zu begründen zu versuchen hätte. Es heißt aber auch, dass die Seelenwanderungslehre, falls ihre Begründung durch höhere Hypothesen gelingt, als anzunehmende Voraussetzung des Demonstrandum zu betrachten sein wird, sodass die zu beweisende These, dass die Seelen der Gestorbenen im Hades sind bzw. nach dem Abschied vom Körper existieren, mit der umfassenderen These, dass die Lebenden aus den Gestorbenen wiedergeboren werden, zu verbinden 2 Vgl. Platon, Mn. 81a5–c5, Phdr. 248c2–b5, Rep. 614b2–621c2, Tim. 41d4–e3, 90e1–92c3. Wie „alt“ die Seelenwanderungslehre im Griechenland war, ist nicht ganz klar, sie taucht aber nicht vor der archaischen Zeit auf. Literarisch bezeugt ist sie erst in 6. Jh. bei Xenophanes (DK 21 B 7), der sie Pythagoras zuschreibt, und später bei Pindar (Ol. II 56–80; Fr. 129–131; 133), auf den Platon Bezug nimmt (Fr. 133 = Platon, Mn. 81b8– c4). Vor Platon ist sie noch bei Empedokles (DK 31 B 115, 117, 129) und bei Herodot (II 123) bezeugt, der sie irrtümlich aus Ägypten herleitet und ihre Übernahme Griechen zuschreibt, deren Namen er zu kennen behauptet, aber nicht verraten will. Ein archäologischer Fund aus Olbia scheint sie für das frühe 5. Jh. v. Chr. im Rahmen eines orphischen Kultes zu belegen (Vinogradov 1991, 80). Dass die Seelenwanderungslehre zum Gedankengut des Pythagoras gehörte, kann als gesichert gelten (Burkert 1962, 98–112; Kahn 2001, 11–13; Riedweg 2007, 68–70), unklar ist, wann und wie sie in die Orphik einging (Nilsson 1967, 691–696; West 1983, 18–20; Casadio 1991). Später wurde sie gemeinhin für orphisch und pythagoreisch gehalten (Damaskios, In Phd. I 203 Westerink) und als Lehre von der metempsychôsis oder metensômatôsis bezeichnet (Olympiodoros, In Phd. 10,1,1 Westerink).
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ist. Das Resultat des ganzen Argumentes wird in diesem Fall sein, dass man mehr zu akzeptieren hat, als es zu beweisen galt. Dies ist nicht ohne Bedeutung für die Entwicklung und das Endresultat des Dialogs. Im Rahmen des ganzen Dialogs nämlich führt das erste Argument die Seelenwanderungslehre als Bestandteil von Sokrates’ Begründung seiner Hoffnung auf die Existenz und auf das bessere Los seiner Seele nach dem Tod ein (63c5–7), der in seiner „Apologie“ (63b4–69e4) noch nicht enthalten war. Da Sokrates selbst durch sein erstes Argument nicht nur die Existenz der Seele im Hades, sondern eben auch die Seelenwanderungslehre für begründet hält (72a4–8, d6– 10, 77c6–9) und deswegen auch später im Laufe des Dialogs auf sie baut (81d9–82b8, 107d5–e4, 113a2–6), zählt diese mit zu den Resultaten seiner Beweisführung.
4.3 Das Prinzip der Gegensätze (70d7–71a11) Die Argumentation zugunsten der Seelenwanderungslehre verläuft ihrerseits in mehreren Schritten. Der erste Schritt besteht im Aufstellen einer höheren Hypothese. Diese betrifft den gesamten Bereich desjenigen, das dem Werden unterliegt, seien es Menschen, andere Lebewesen oder Pf lanzen, kurzum „insgesamt all das, was einen Werdeprozess aufweist“ (sullêbdên hosaper echei genesin, 70d9). In diesem Bereich, so die These, entsteht Gegensätzliches immer nur aus Gegensätzlichem (ouk allothen ê ek tôn enantiôn ta enantia, 70e1–2). Diese These behauptet nicht, dass alles Werdende etwas Gegensätzliches ist, sondern lediglich, dass in all den Fällen, wo etwas entsteht, zu dem es etwas Gegensätzliches gibt (hosois tynchanei on toiouton [sc. enantion] ti, 70e2; hosois esti ti enantion, 70e5), Gegensätzliches aus Gegensätzlichem entsteht. Diese These bezeichnet man in der Sekundärliteratur als das Prinzip der Gegensätze. Die Formulierung des Prinzips der Gegensätze ist insofern interpretationsbedürftig, als zu klären bleibt, was unter den „Gegensätzen“ (ta enantia) zu verstehen ist (vgl. Ebert 2004, 173–180). Wenn Sokrates dieses Prinzip einführt, gibt er zuerst zwei Beispiele der Gegensatzpaare: Das Schöne ist gegensätzlich gegenüber dem Hässlichen und das Gerechte ist gegensätzlich gegenüber dem Ungerechten (70e2–3). Diese zwei Beispiele vertreten eine unbestimmte Anzahl analoger Fälle (70e4). In der Schussfolgerung der induktiven Bewahrheitung dieses Prinzips, die auf seine Aufstellung folgt (70e4–71a11) und andere Beispiele der Gegensatzpaare angibt, wird die Formulierung des Prinzips in einer leicht veränderten Form wiederholt, indem gesagt wird, dass „gegensätzliche Dinge aus gegensätzlichen [Dingen]“ (ex enantiôn ta enantia pragmata, 71a10, vgl. 71b2) entstehen. Anstatt von „Gegensätzlichem“ (ta enantia) wird von „gegensätzlichen Dingen“ (enantia pragmata) gesprochen. Die volle Bedeutung dieser Umformulierung wird erst viel später im Laufe des Dialogs klar, wenn Sokrates im Rahmen seines letzten Beweises die Unterscheidung zwischen „dem gegensätzlichen Ding“ (to enantion pragma) und
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„dem Gegensatz selbst“ (auto to enantion) macht (103b3–4). Der Gegensatz selbst ist die einer Eigenschaft, zu der es eine gegensätzliche Eigenschaft gibt, entsprechende Form (eidos, 102b1), z. B. „das Schöne an sich selbst“ (kalon auto kath’ hauto, 100b6) bzw. „das Schöne selbst“ (auto to kalon, 100c4–5), während das gegensätzliche Ding dasjenige bezeichnet, das an dieser Form teilhat und dank dieser Teilhabe dieselbe Benennung (epônymia) trägt (102b2–3, 103b6–c1). Während die gegensätzlichen Dinge aus gegensätzlichen Dingen entstehen, wie das Prinzip der Gegensätze postuliert, können die Gegensätze selbst unmöglich auseinander entstehen (102d6–9, 103b2–c1). Die im ersten Argument gemeinten enantia sind demnach als enantia pragmata zu verstehen. Sie bezeichnen Gegenstände, die Veränderungsprozessen unterliegen, bei denen sie Eigenschaften annehmen, zu denen es gegensätzliche Eigenschaften gibt (vgl. Barnes 1978, 402f.; Greco 1996, 230). Die klärende Unterscheidung zwischen den Gegensätzen selbst und den gegensätzlichen Dingen im Sinne von partizipierenden Gegenständen und den partizipierten Formen wird allerdings im Rahmen des ersten Beweises nicht explizit gemacht. Somit bleibt das Argument durch eine Zweideutigkeit belastet, wie die spätere Frage eines unbenannten Teilnehmers des Dialogs zeigt (103a4–10). Formuliert man das Prinzip der Gegensätze im Lichte der späteren Unterscheidung um, dann besagt es, dass Gegenstände, die Eigenschaften annehmen, zu denen es gegensätzliche Eigenschaften gibt, jeweils aus Gegenständen entstehen, die durch die entsprechende gegensätzliche Eigenschaft charakterisiert waren. Auch in dieser Umformulierung bleibt allerdings das Prinzip der Gegensätze unterbestimmt. Eine der für das ganze Argument wichtigen Fragen, die es unbeantwortet lässt, ist, ob es derselbe Gegenstand sein muss, oder ob es auch ein anderer Gegenstand sein kann (Barnes, 304; Frede 1999, 41f.; Ebert 2004, 178). Das Prinzip der Gegensätze ist somit auch in dieser Hinsicht äquivok: Es kann (a) sowohl auf Prozesse bezogen werden, bei denen an demselben Gegenstand eine gegensätzliche Eigenschaft auftritt, d. h. bei denen es zu einem Wechsel akzidenteller Eigenschaften kommt, (b) als auch auf jene, bei denen der Gegenstand, an dem der Wechsel der gegensätzlicher Eigenschaften stattfindet, nicht identisch bleibt, d. h. bei denen dieser Wechsel eine substanzielle Eigenschaft betrifft. Der Aufbau des ersten Argumentes als Ganzes erfordert, dass sich das Prinzip der Gegensätze lediglich auf den Fall (a), d. h. auf akzidentelle Veränderungen am identisch bleibenden Substrat bezieht. Auch dieser Unterschied wird allerdings durch Sokrates erst im Rahmen seiner letzten Beweisführung klar herausgestellt (103b2–c2) und leuchtet aus der Formulierung des Prinzips der Gegensätze im Rahmen des ersten Arguments nicht unmittelbar ein. Um das Prinzip der Gegensätze zu begründen, bedient sich Sokrates eines induktiven Verfahrens: Er zählt eine Reihe von Veränderungsprozessen, die dieser Regel gehorchen, auf und zieht daraus den Schluss, dass dieselbe Regel für alle vergleichbaren Fälle gilt (70e4–71a11). Es ist auffallend, dass die Beispiele, die er angibt, sämtlich Eigenschaften sind, die gegenüber ihren Gegensätzen als Komparative auftreten: größer/kleiner,
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stärker/schwächer, schneller/langsamer, besser/schlechter, gerechter/ungerechter, während die zuvor angeführten Beispiele der Gegensatzpaare im Positiv angegeben waren: schön/hässlich, gerecht/ungerecht. Die im Positiv formulierten Gegensatzpaare scheinen für die Beweiskraft des Argumentes fragwürdig, denn was für die im Komparativ formulierten Gegensätze als evident gilt (etwas kann unmöglich größer werden, ohne zuvor kleiner gewesen zu sein), gilt nicht für die im Positiv formulierten Gegensätze (etwas kann schön werden, ohne zuvor notwendig hässlich gewesen zu sein; vgl. Gallop 1975, 107f.; Barnes 1978, 405; Gallop 1982, 212; Frede 1999, 40f.; Ebert 2004, 173– 179). Der Unterschied liegt darin, dass es sich im Sinne der Aristotelischen Analyse unterschiedlicher Typen von Gegensätzen (ta antikeimena, vgl. Aristoteles, Cat. 10–11) einerseits um Relativa (ta pros ti), andererseits um bloß konträre Gegensätze (ta enantia) handelt, und zwar um solche, die eine Mitte zulassen (Cat. 10, 11b38–12a25). So kann der Einwand geltend gemacht werden, dass das Prinzip der Gegensätze zwar für die angeführten Relativa gilt, nicht aber für die konträren Gegensätze schön/hässlich und gerecht/ungerecht, die Sokrates in 70e2–3 als sein erstes Beispiel angibt. Sollte also das Prinzip der Gegensätze gültig sein, müsste es auf Gegensatzpaare eingeschränkt werden, die keine Mitte zulassen. Oder aber man müsste den Begriff des Gegensatzes auf die Negation in derselben Gattung ausdehnen, denn es gilt, dass ein Mensch, der groß wird, zuvor notwendig nicht-groß gewesen sein muss. So dehnt den Gegensatzbegriff selbst Aristoteles aus, wenn er davon spricht, dass bei den Veränderungsprozessen das Mittlere (to metaxy) als ein Gegensatz (hôs enantion) zu den beiden entgegengesetzten Termini (ta akra) funktioniert und als solcher auch bezeichnet wird (Phys. 224b30–35). Platon arbeitet im Rahmen des ersten Argumentes mit einem undifferenzierten Gegensatzbegriff, der anscheinend ebenfalls eine solche lockere Anwendung zulässt.
4.4 Das Prinzip der Reziprozität (71a12–b11) Ein zweiter Schritt von Sokrates’ Argumentation besteht in der Formulierung eines zusätzlichen Prinzips zum Prinzip der Gegensätze (71a12–b11). Dieses Prinzip postuliert, dass es bei allen Gegensatzpaaren zwei Werdeprozesse (geneseis) gibt, nämlich von einem gegensätzlichen Zustand zum anderen sowie von diesem zurück zum ersteren. Unterstützt wird dieses Prinzip durch das Beispiel des größeren und kleineren Dinges, wo es zwischen den beiden gegensätzlichen Zuständen die Werdeprozesse der Zunahme und der Abnahme gibt. Gleicherweise, so die These, gibt es bei allen Gegensatzpaaren entsprechende Paare der Werdeprozesse, ob es für sie Namen gibt oder nicht. Zwei weitere Beispiele solcher Paare von Werdeprozessen sind Auseinandertreten/Zusammentreten und Kaltwerden/Warmwerden. Das durch diese Beispiele unterstützte Prinzip wird dann mit dem zuvor auf ähnliche Weise begründeten Prinzip der Gegensätze zu einem die gegensätzlichen Dinge betreffenden Gesetz zusammengezo-
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gen, welches sagt: „Sie entstehen auseinander und weisen beiderseits das Werden des einen zum anderen auf“ (71b9–10). Das in diesem Argumentationsschritt formulierte Postulat kann als Prinzip der Reziprozität (Gallop 1975, 111), der Abwechslung (Greco 1996, 230) oder der Symmetrie des Werdens (Ebert 2004, 170) bezeichnet werden. Seine Aufstellung als eines für alle Gegensatzpaare geltenden Prinzips stößt auf zwei Einwände. Vor allem setzt es die Gültigkeit des Prinzips der Gegensätze voraus, zu dem es eine Ergänzung bildet. Lehnt man die Gültigkeit des Prinzips der Gegensätze ab, kann man unmöglich das Prinzip der Symmetrie gelten lassen (Ebert 2004, 183). Aber auch wenn man sie zulässt oder auf Gegensatzpaare ohne Mitte einschränkt, können gegen die Gültigkeit des Prinzips der Reziprozität Beispiele der Gegensatzpaare angeführt werden, bei denen es bestritten werden kann, dass es zwischen den betreffenden Eigenschaften entsprechende Werdeprozesse in beiden Richtungen gibt. Als Gegenbeispiel kann etwa das Gegensatzpaar jung/alt gelten, wo es zwar zweifelsohne den Prozess des Älterwerdens gibt, anscheinend aber keinen Prozess des Jüngerwerdens. Beispiele solcher Art scheinen die Verallgemeinerung des Prinzips der Reziprozität zu verbieten. Gegen einen solchen Einwand spricht jedoch der letzte Teil (72a11–d5) des ganzen Argumentes, in dem Sokrates von sich aus, d. h. ohne jeden Einwand seitens seines Gesprächspartners, zu dem hier postulierten Prinzip der Reziprozität zurückkehrt. Er tut dies, indem er fragt, ob dieses Prinzip nicht unberechtigterweise (adikôs) anerkannt wurde (72a11–12), und begründet es dann durch eine kontrafaktische Hypothese (72a11–b6), die man als das Kreislauf-Argument bezeichnen kann (dazu siehe unten 4.6). Will man also die allgemeine Gültigkeit des Prinzips der Reziprozität beurteilen, muss man dieses zusätzliche Argument einbeziehen (Greco 1996, 231). Von der Falschheit des Prinzips der Reziprozität könnte nur dann gesprochen werden, wenn das Kreislauf-Argument den oben formulierten Einwand nicht beseitigt. Da das Ziel der in diesem zusätzlichen Argument angewandten kontrafaktischen Hypothese ist, jeden Fall des Werdens auszuschließen, welches sich zwischen gegensätzlichen Eigenschaften nur in einer Richtung vollzöge, kann Platons Sokrates nicht vorgeworfen werden, dass er solche Fälle nicht berücksichtigt. Er tut dies, indem er sie leugnet. Sein Kreislauf-Argument soll herausstellen, ob er dies berechtigterweise (72a11) tut und darin nicht irrt (72d7). Bevor wir jedoch auf die Analyse dieses Argumentes eingehen, soll der nächste Schritt in Sokrates’ Beweisführung betrachtet werden.
4.5 Lebend und gestorben (71c1–72a10) Im nächsten Schritt werden die beiden Prinzipien der Gegensätze und der Reziprozität, wie sie in 71b9–10 zusammengefasst wurden, auf die zu beweisende These, dass „die Le-
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benden nirgend anderswoher entstehen als aus den Gestorbenen“ (70d3–4) angewandt. Dies geschieht folgendermaßen: Zuerst wird das Gestorben- oder Totsein (to tethnanai) als der Gegensatz zum Leben (to zên) bestimmt, wobei das Gegensatzpaar Leben/Gestorbensein mit dem Gegensatzpaar Wachen/Schlafen in Analogie gesetzt wird (71c1–5). Anschließend werden die beiden oben aufgestellten Prinzipien (71c6–7) zuerst am Gegensatzpaar Wachen/Schlafen demonstriert (71c9–d4): Das Wachen entsteht aus dem Schlafen sowie das Schlafen aus dem Wachen, wobei es zwischen den beiden Zuständen zwei Werdeprozesse (geneseis) gibt, nämlich das Einschlafen und das Aufwachen. Diese Formulierung ist im Sinne der Unterscheidung zwischen den Gegensätzen selbst und den gegensätzlichen Dingen so zu verstehen, dass der Wachende wachend wird aus dem Schlafenden sowie der Schlafende schlafend wird aus dem Wachenden, wobei das Aufwachen und das Einschlafen Werdeprozesse sind, denen ein in dieser Hinsicht veränderbares, ansonsten aber identisches Subjekt unterliegt. Analogerweise soll gelten, dass aus dem Lebenden das Gestorbene sowie aus dem Gestorbenen das Lebende wird (71d5–13). Diese allgemeine Formulierung wird dann dahin gehend präzisiert, dass lebende Wesen sowie lebende Menschen aus den Gestorbenen entstehen (71d14–15). Da dies die Existenz der Seelen im Hades (d. h. in der Trennung vom Körper) impliziert (70c9–d2), gilt diese als erwiesen (71e2). Zusätzlich werden die beiden entsprechenden Werdeprozesse genannt, von denen der eine als „deutlich“ (saphês) gilt, nämlich das Sterben, während der andere, nämlich das Wiederauf leben, zwar nicht in derselben Weise evident ist, nichtsdestoweniger aber dem Sterben entgegengesetzt werden muss, soll nicht „die Natur hinkend sein“ (71e4–72a3). Auf diese Weise wird der Schluss bekräftigt, dass die Lebenden „um nichts weniger“ aus den Gestorbenen entstehen als die Gestorbenen aus den Lebenden, was als hinreichender Beweis (hikanon tekmêrion) für das eigentliche Demonstrandum gilt, dass die Seelen der Gestorbenen irgendwo sein müssen, woher sie wiedergeboren werden (72a4–10, vgl. 70d2–4). Dieser Teil von Sokrates’ Beweisführung bringt eigentlich nur die These zum Ausdruck, dass die Bezeichnungen „lebend“ (zôn) und „gestorben“ (tethneôs) Gegensätze sind, die den beiden Prinzipien der Gegensätze und der Reziprozität gehorchen. Er verleiht ihnen eine Bedeutung, in der sie mit diesen Prinzipien vereinbar sind. In dieser Bedeutung handelt es sich eigentlich um Prädikate, die zwei einander entgegensetzte Zustände der Seele bezeichnen: ihr Verbundensein mit dem Körper (Leben) und ihr Getrenntsein vom Körper (Gestorbensein). Wenn einer dieser Zustände eintritt, muss ihm der andere vorausgegangen sein (Prinzip der Gegensätze); gibt es einen Übergang von einem dieser Zustände zum anderen, muss es auch den entsprechenden Übergang von dem anderen zum ersteren geben (Prinzip der Reziprozität). So lösen das Leben und das Gestorbensein als zwei gegensätzliche Zustände an einem identisch bleibenden Substrat einander ab. Wenn also Sokrates sagt, dass die Gestorbenen nur aus den Lebenden entstehen können, meint er damit, dass die Seelen nur dann körperlos werden
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können, wenn sie zuvor mit Körper verbunden waren. Wenn er sagt, dass auch umgekehrt die Lebenden nur aus Gestorbenen entstehen können, meint er damit, dass die Seelen nur dann die Verbindung mit dem Körper eingehen können, wenn sie zuvor körperlos waren. Der eine Werdeprozess, das Sterben, bezeichnet das Loswerden der Seele vom Körper, der andere, das Wiederauf leben, bezeichnet den Eintritt der Seele in den Körper. Diese Konzeption kommt allerdings in Sokrates’ Argumentation nicht klar zum Ausdruck. Denn Sokrates vermeidet es, von Leben und Tod als von zwei entgegengesetzten Zuständen der Seele zu sprechen. Statt dessen hält er an der unbestimmten Rede von den Lebenden und den Toten fest (dazu Karfík 2004, 68–75). Diese Ausdrucksweise ist nicht harmlos, denn sie verdeckt den Unterschied, den es zwischen Sokrates’ und Kebes’ Auffassung von Tod gibt. Für Kebes bedeutet der Tod das Zugrundegehen und Nichtmehr-Existieren der Seele (70a2–7). Für Sokrates bedeutet er das Loslösen der Seele vom Körper und ihr In-sich-selbst-versammelt-Sein (67c5–d5, 70a7). In der Rede von Lebenden und Gestorbenen, die nicht von Seelen, sondern von Menschen bzw. Lebewesen spricht, kommen Sokrates und Kebes überein: Keiner bezweifelt, dass ein Mensch oder ein Lebewesen eines Tages stirbt und als solcher bzw. solches nicht mehr existiert. Aber ob das Gestorbensein eines Menschen oder anderen Lebewesens ein Aufhören der Existenz seiner Seele mit sich bringt oder nicht, ist eine andere Frage. Die Auffassung von Leben und Totsein als Prädikate, die zum Subjekt Menschen bzw. Lebewesen haben, lässt diese Frage offen. Die Auffassung von Leben und Totsein als Zustände der Seele ist bereits eine Antwort auf sie. Denn ist unter dem Gegenstand beider Prädikate lebend/gestorben die Seele gemeint, dann ist darin impliziert, dass nicht nur eine „lebende“, sondern auch eine „gestorbene“ Seele ein existierender Gegenstand sein muss. Eben diese Bedeutung von Gestorbensein, die Sokrates hier stillschweigend voraussetzt, war es aber, gegen die Kebes seinen Einspruch erhob (69e5–70b4). Kebes verlässt jedoch, ohne es zu merken, seine eigene Auffassung in dem Augenblick, in dem er sich die Parallele zwischen Wachen/Schlafen und Leben/Gestorbensein von Sokrates aufzwingen lässt (71c1–d7). Denn während der Wechsel zwischen Wachen und Schlafen keineswegs den Untergang des Gegenstandes nach sich zieht, an dem er stattfindet, gilt dies im Sinne von Kebes’ Einwand für den Übergang vom Leben zum Gestorbensein nicht. Kebes’ ursprünglicher Einwand, dass das Gestorbensein nicht im An-sich- bzw. Im-Hades-Sein der Seele, sondern im Aufhören ihrer Existenz besteht, bleibt infolgedessen durch Sokrates’ Argumentation unberührt. Dass dem so ist, wird aus dem späteren Verlauf des Dialogs ersichtlich, in dem Kebes zu seinem ursprünglichen Einwand zurückkehrt, der nicht entkräftet wurde (vgl. 86e6–87a1). Sokrates’ Beweisführung im ersten Argument kann für Kebes tatsächlich nicht vollends befriedigend sein. Vom Gesichtspunkt seines Einwandes betrachtet stellt sie eigentlich eine petitio principii dar. Denn Sokrates setzt in die beiden als Prämissen aufgestellten Prinzipien der Gegensätze und der Reziprozität eine Auffassung vom Ge-
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gensatz lebend/gestorben ein, die das zu beweisende Im-Hades- bzw. An-sich-Sein der Seele bereits impliziert (vgl. Gallop 1975, 105f.; Frede 1999, 43f.; Ebert 2004, 183f.). Damit geht er an Kebes’ Einwand vorbei. Deswegen wird erst Sokrates’ letzter Beweis, der den harten Kern dieses Einwandes, nämlich die Auffassung des Todes als Zerstörung, ernst nimmt (91d2–7, dazu O’Brien 1968, 98), Kebes endgültig zufriedenstellen können (107a2–3).
4.6 Der Kreislauf des Werdens (72a11–d103 ) Der letzte Teil von Sokrates’ erster Beweisführung ist, wie schon erwähnt, ein zusätzliches Argument zum Prinzip der Reziprozität. Sein Ziel ist zu beweisen, dass es zwischen zwei gegensätzlichen Eigenschaften bzw. Zuständen Werdeprozesse in beide Richtungen geben muss. Das Prinzip der Reziprozität hat dies unter Berufung auf wenige Beispiele für alle Gegensatzpaare postuliert. Aufgrund dieses Postulats wurde es auf das Gegensatzpaar lebend/gestorben angewandt. Nun soll dieses Postulat durch ein zusätzliches Argument begründet werden. Die Begründung knüpft an eine Formulierung des Prinzips der Reziprozität an, die Sokrates bei dessen Anwendung auf das Gegensatzpaar lebend/gestorben benutzt hat: Wenn man nicht dem Sterben einen entgegengesetzten Werdeprozess entsprechen ließe, müsste man zugeben, dass die Natur hinkend ist (71e4–10). Dieser Formulierung bedient sich nun Sokrates, um eine kontrafaktische Hypothese aufzustellen. Diese sagt (72a12–b6): „Wenn die einen entstehenden Dinge nicht jeweils den anderen entsprächen, als ob sie im Kreis herumliefen, sondern es gäbe ein geradliniges Werden aus einem Zustand lediglich zu dem gegenüberliegenden, und das Werden böge nicht wieder zu dem anderen Zustand um und machte keine Kurve, weißt du, dass alles letztendlich dieselbe Gestalt annähme und sich in demselben Zustand befände und hörte auf zu werden?“ Diese Hypothese illustriert Sokrates zunächst an drei Beispielen: Wenn dem Einschlafen nicht das Aufwachen entspräche, würde schließlich alles schlafen; wenn dem Zusammentreten nicht das Auseinandertreten entspräche, würde sich ein Zustand des Anaxagoreischen „Alle Dinge zusammen“ (DK 59 B 1) einstellen; wenn dem Sterben nicht das Wiederauf leben entspräche, wäre schließlich alles tot (72b8–d3). Die Formulierungen der Beispiele Einschlafen/Aufwachen und Sterben/Wiederauf leben machen klar, dass jedem Werdeprozess zwischen zwei gegensätzlichen Zuständen jeweils ein gegenläufiger Prozess entsprechen soll, dem derselbe Gegenstand zugrunde liegt. So ist 3 Nach der Burnet’schen Ausgabe in OCT 72a11–e2. Die neue Ausgabe in OCT folgt Stallbaums Athetese und verlegt die Worte kai tais men ge agathais ameinon einai, tais de kakais kakion, die Burnet lediglich in Klammern setzte, in den Apparat, sodass der Passus bereits in 72d10 endet und der nächste 72e1 beginnt.
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vom Aufwachen die Rede, das „aus dem Eingeschlafenen entsteht“ (72b9–10), und so ist davon die Rede, dass „alles, was am Leben teilnimmt“ (72c6–7), stirbt. Die reductio ad absurdum der Hypothese des Ausbleibens eines der beiden entgegengesetzten Werdeprozesse wird am Beispiel des Sterbens durchgeführt (72c5–d3). Man setzt voraus, (a) dass alles, was als lebend entsteht (= am Leben teilgenommen hat), stirbt (72c6–7), und (b) dass es kein Entstehen des Lebenden aus dem Gestorbenen gibt, d. h. kein Wiederauf leben (72c7–8). Unter diesen Voraussetzungen müsste alles eines Tages tot sein (72c8–9). Denn ließe man zu, (c) dass lebende Wesen aus anderen Dingen entstehen als aus den gestorbenen (72d1–2), müsste als Schlussfolgerung (d) ein solcher Prozess letztendlich in einem Zustand enden, in dem alle zur Verfügung stehende Dinge aufgebraucht und tot wären (72d2–3). Man sieht leicht, dass das Argument mit weiteren Voraussetzungen rechnet. Es setzt voraus, (i) dass es keine Werdeprozesse aus dem Nichts gibt, (ii) dass die Anzahl der Gegenstände im Universum endlich ist und (iii) dass Werdeprozesse im Universum nicht zum Stillstand kommen dürfen. Die Voraussetzung (iii) findet in der als selbstverständlich geltenden Annahme der Absurdität der gegenteiligen Hypothese ihren Ausdruck (vgl. 72b4–6). Die beiden Voraussetzungen (i) und (ii) bleiben unausgesprochen. Gibt man alle diese Prämissen an, bringt das Argument eine kohärente Konzeption zum Ausdruck, in deren Rahmen das Prinzip der Reziprozität und mit ihm auch das Prinzip der Gegensätze gelten würden. Sie kann als das Prinzip der Aufrechterhaltung der Werdeprozesse bezeichnet werden, bei denen Gegenstände Eigenschaften erlangen, zu denen es gegensätzliche Eigenschaften gibt. Diese Konzeption scheint dem Ganzen von Sokrates’ Argumentation in 70c4–72e2 zugrunde zu liegen (Greco 1996). Dass die Prinzipien der Gegensätze und der Reziprozität auf kosmologischen Überlegungen beruhen, macht Sokrates selbst vor ihrer Einführung deutlich, indem er Kebes anweist, den Blick auf den ganzen Bereich des Werdens zu richten (syllêbdên hosaper echei genesin peri pantôn idômen, 70d9–e1; dazu Karfík 2004, 19–47). Somit bildet Sokrates’ Kreislauf-Argument einen unentbehrlichen Teil seiner ganzen Argumentation (vgl. Gallop 1975, 112; Frede 1999, 44). Sein Platz an ihrem Ende entspricht der bereits besprochenen Vorgehensweise des Sokrates, in der die höheren Voraussetzungen der aufgestellten Thesen erst nach den Konsequenzen dieser Thesen untersucht werden. Aus dem Kreislauf-Argument wird wieder (wie schon in 71e2 und 72a7–8) vermittels der These, dass die Lebenden aus den Gestorbenen entstehen, der Schluss auf die Existenz der Seelen der Gestorbenen gezogen (72d6–10). Dieser Schluss hat denselben Status wie die beiden vorausgegangenen: Er hebt nicht den hypothetischen Charakter der zu beweisenden These auf, sondern verankert sie in höheren Hypothesen.
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4.7 Leben und Tod in Sokrates’ letztem Beweis (95b5–107a7) Wie schon erwähnt beinhaltet Sokrates’ letzter Beweis eine klärende Bemerkung in Bezug auf seinen ersten Beweis (103a4–c6). Sokrates’ letzte Beweisführung ist überhaupt im Hinblick auf den ersten Beweis erhellend. Sie geht auf das Thema der einander ausschließenden Gegensätze wieder ein. Sie beschreibt eingehend dieselben Vorgänge des Wechsels der gegensätzlichen Bestimmungen, von denen im ersten Beweis die Rede war: kleiner/größer bzw. klein/groß (102b3–103a2, vgl. 70e6–71a11), heiß/kalt (103c10–e1, vgl. 71b6–7), lebend/gestorben (105c8–106e7, vgl. 71c1–72a10); darüber hinaus fügt sie das Gegensatzpaar gerade/ungerade hinzu (103e5–105b4). Sie macht dies allerdings, indem sie zwischen zwei Fällen unterscheidet, die im ersten Beweis nicht unterschieden wurden: dem Fall, in dem der Wechsel der gegensätzlichen Eigenschaft eines Gegenstandes diesen Gegenstand bestehen lässt, und dem Fall, in dem ein solcher Wechsel das Zugrundegehen dieses Gegenstandes nach sich zieht. Der erstere Fall liegt überall dort vor, wo die Bestimmung durch eine der gegensätzlichen Eigenschaften nicht für den Gegenstand als solchen konstitutiv ist (das Groß- oder Kleinsein ist nicht konstitutiv für das Sein von Simmias, Sokrates oder Phaidon, 102c1–9). Wo dagegen eine solche Eigenschaft das Sein eines Gegenstandes als solchen mitbestimmt (das Heißsein beim Feuer, das Kaltsein beim Schnee, 103c10–e1; das Ungeradesein bei ungeraden Zahlen, das Geradesein bei geraden Zahlen, 103e9–104b4), haben wir es mit dem letzteren Fall zu tun: Der betreffende Gegenstand kann nicht die entgegengesetzte Eigenschaft annehmen, es sei denn, dass er als solcher untergeht und dass an seine Stelle ein anderer tritt (106b5–c3). So kann z. B. der Schnee unmöglich heiß werden und zugleich „noch sein, was er war“ (eti esesthai hoper ên, 103d7), nämlich Schnee. Auf diese Weise wird zwischen dem Wechsel akzidenteller Eigenschaften an demselben Substrat und der substanziellen Veränderung unterschieden. Diese Unterscheidung wendet nun Sokrates auf den Fall der Seele und der Gegensätze Leben/Tod (zôê/thanatos) an, wobei er präzisiert, dass die Seele immer das Leben mit sich bringt, sodass sie unmöglich den Tod als Gegensatz des Lebens annehmen kann (105c8–d11). Da Sokrates in einem weiteren Schritt für das, was in dem Sinne „unsterblich“ (athanaton) ist, dass es den Tod nicht annehmen kann (105e2–7), auch den Charakter der Unzerstörbarkeit (anôlethron) fordert (106c9–d9), hält er im Fall der Seele für ausgeschlossen, dass sie untergeht, wenn der Tod an den Menschen herantritt. Folglich bleibt nur die Möglichkeit übrig, dass die Seele „dem Tod aus dem Wege weicht, indem sie weggeht“, woraus Sokrates den uns bekannten Schluss zieht, dass „unsere Seelen in der Tat im Hades sein werden“ (106e4–107a1). Stellt man in Bezug auf diese Analyse die Frage, was die Gegensätze Leben/ Tod bedeuten und was der Gegenstand ist, dem die Prädikate lebend/gestorben zugeschrieben werden, stellt man fest, dass hier alles anders gemeint ist als im ersten Beweis. Vor allem ist klar, dass die Prädikate lebend/gestorben nicht beide der Seele
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zugeschrieben werden können, denn diese kann nur mit Leben verbunden werden, nicht aber mit dem Tod. Es wird ausdrücklich ausgeschlossen, dass die Seele zu einer „gestorbenen“, „toten“ Seele werden könnte (oud’ estai tethnêkyia, 106b4). Dagegen wird als Gegenstand, der sowohl „lebend wird“ als auch „stirbt“, der Körper (sôma, 105c8) bzw. das Sterbliche (to thnêton, 106e4, vgl. 80b3–5) am Menschen genannt. Ein Körper wird zu einem „lebenden“ Körper dadurch, dass in ihn die Seele eintritt (105c8–10), die das Leben als ihre konstitutive Eigenschaft mitbringt. Wenn der Tod an einen Menschen herantritt, der aus Seele und Körper besteht (vgl. 79b1–2), „stirbt“ der Körper, während die Seele „heil und unzerstört“ weggeht (106e4–6). Somit wird in Sokrates’ letztem Beweis der Körper zum Substrat der Prozesse des Lebendwerdens und des Sterbens. Die Seele dagegen wird als ein Gegenstand aufgefasst, für den die Teilhabe an der Idee des Lebens konstitutiv ist. Da die Idee des Lebens im Sinne der im letzten Beweis aufgestellten Ideenhypothese als Ursache (aitia) jedes Lebendwerdens und Lebendseins gilt, gilt auch die Seele als Ursache vom Lebendwerden und Lebendsein des Körpers, der an der Idee des Lebens vermittels der Seele teilnimmt (105a5–d5, dazu Karfík 2004, 79–83). Der Gegenstand, an dem ein Wechsel der gegensätzlichen Zustände lebend/gestorben stattfindet, ist also in Sokrates’ letztem Beweis der Körper, während die Seele einem solchen Wechsel nicht unterliegen kann. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, was im Rahmen des letzten Argumentes die Prädikate lebend/gestorben bzw. die Gegensätze Leben/Tod bedeuten. Klar ist, dass sie nicht wie im ersten Beweis das Verbundensein mit dem Körper und das Getrenntsein vom Körper (O’Brien 1967, 210; Barnes 1978, 413; Greco 1996, 228f.) bedeuten können. Man könnte denken, dass sie umgekehrt das Verbundensein mit der Seele und das Getrenntsein von der Seele bezeichnen. Dies nämlich könnte für den Körper zutreffen, der als beseelt „lebend“ und als seelenlos „gestorben“ zu bezeichnen wäre. Es trifft jedoch offensichtlich nicht für die Seele zu, für die das Leben eine konstitutive Eigenschaft ist. Sieht man sich nach einem Aufschluss über die Bedeutung der beiden gegensätzlichen Prädikate lebend/gestorben im Rahmen des letzten Beweises um, findet man ihn in Sokrates’ Bestimmung des Unsterblichen (athanaton) als des Unzerstörbaren (anôlethron, adiaphthoron): Wenn nämlich etwas in dem Sinne unsterblich ist, dass es den Tod als Gegensatz zum Leben nicht annehmen kann, dann bedeutet es, dass es nicht die Zerstörung annehmen (phthoran dechesthai) bzw. dass es nicht untergehen (apollysthai) kann (106c9–d9). Umgekehrt muss gelten, dass dasjenige, was in dem Sinne sterblich ist, dass es den Tod annimmt, Zerstörung annimmt und untergeht. Daraus ergibt sich, dass der Tod, wie er hier verstanden ist, Zerstörung bzw. Untergang meint (O’Brien 1968, 99). Wenn etwas zerstört wird bzw. untergeht, bedeutet das, dass es nicht mehr existiert bzw. nicht mehr ist, was es war, sondern zu etwas substanziell Anderem wird (103d5–8, vgl. 106b7–c4). Leben als Gegensatz zum Tod müsste einen entgegengesetzten Zustand bezeichnen, nämlich ein „noch sein, was es war“. Diese Auffassung von Leben und Tod entspricht nun tatsächlich dem Einwand des Kebes, der Sokrates’ erstem Beweis vor-
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ausging, wonach zu befürchten ist, dass die Seele durch den Tod „zerstört wird und untergeht […] und gar nicht irgendwo mehr existiert“ (diaphtheirêtai te kai apolluêtai […] kai ouden eti oudamou ê, 70a3–7).
4.8 Beweiskraft und Funktion des Argumentes Das Argument aus den Gegensätzen gab in der modernen Forschung Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen und Bewertungen. Man hat einerseits auf den Ernst von Platons Absicht hingewiesen und versucht, dem Argument so viel wie möglich an logischer Stringenz zuzugestehen bzw. zu verleihen (vgl. Barnes 1978; Greco 1996). Auf der anderen Seite hat man auf eine Vielfalt von logischen Fehlern hingewiesen, die der Argumentation des Sokrates vorgeworfen werden können, und sogar die These vertreten, dass Platon seine Dialogfiguren diese Fehler absichtlich begehen lässt (vgl. Ebert 2004, 181, 183, 195). Zwischen diesen beiden Extremen stehen Interpretationen, die das Argument wegen seiner Mängel für lediglich teilweise gesund und nur halbwegs ernst gemeint halten (vgl. Gallop 1982) bzw. die ihm eine nur vorläufige Beweiskraft zubilligen (vgl. Frede 1999, 42). Selbst diejenigen Interpreten, die seinen Ernst und seine logische Stringenz verteidigen, weisen jedoch darauf hin, dass das Argument nicht beweist, was eigentlich zu beweisen war, nämlich dass die Seele nach dem Tode nicht untergehen kann (vgl. Barnes 1978, 413–417; Greco 1996, 251f.). Dass auch Platon als Verfasser die Beweiskraft des ersten Arguments für beschränkt hielt, zeigt der Aufbau des Dialogs. Unmittelbar nach diesem Argument wird das von ihm unabhängige Anamnesis-Argument eingeführt, das die pränatale Existenz der Seele beweist (72e1–77a5). Auch die darauffolgende Verbindung des Anamnesis-Argumentes mit dem Wiedergeburts-Argument (77a6–d5) beseitigt jedoch nicht die Furcht, dass die Seele nach ihrer Loslösung vom Körper untergehen könnte (77d5–78b3). Selbst das Homoiosis-Argument, dessen Beweisziel ist, zu zeigen, dass die Seele dem intelligiblen Sein ähnelt, welches unauf lösbar und unveränderbar ist, kann diese Furcht nicht zerstreuen (84c1–85b9). Im Gegenteil, sie erhält in den Gegenargumenten des Simmias (85b10– 86d3) und des Kebes (86e6–88b8) ihren schlagendsten Ausdruck. Erst diese Gegenargumente zwingen Sokrates, eine Argumentation zu entwickeln, deren Beweisziel darin besteht, die Möglichkeit auszuschließen, dass die Seele untergeht (91c7–107b10). Dies alles zeigt, dass auch in Platons Augen das erste Argument diesen Beweis nicht erbringt. Zeigt der Hergang des Dialogs, dass das erste Argument nicht die Unzerstörbarkeit der Seele beweist, so zeigt die Analyse dieses Argumentes selbst, dass es nicht einmal die These einer vom Körper unabhängigen Existenz der Seele beweist, sondern diese voraussetzt. Was das Argument dagegen leistet, wenn auch nicht mit gewünschter Präzision, ist ein Beweis der Wiedergeburtslehre, der freilich nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass man den Übergang vom Leben zum Tod als einen Werdeprozess zwi-
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schen zwei kontradiktorisch gegensätzlichen Zuständen interpretiert, denen derselbe Gegenstand zugrunde liegt. Setzt man nämlich die Auffassung von Seele, Leben und Tod voraus, die Sokrates im Phaidon in seiner „Apologie“ darlegt, wonach das Gestorbensein ein An-sich-Sein der Seele in der Trennung vom Körper und das Leben ihr Verbundensein mit dem Körper bezeichnen, dann ergibt sich aus der Anwendung der Prinzipien der Gegensätze, der Reziprozität und der Aufrechterhaltung gegensätzlicher Werdeprozesse, dass auf den Übergang vom Leben zum Gestorbensein, dem die Seele unterliegt, der gegenläufige Übergang vom Gestorbensein zum Leben folgen muss, so wie nach diesem wiederum der Übergang vom Leben zum Gestorbensein. Somit ergänzt das Argument die Lehre der „echten Philosophen“ (66b2, vgl. 64a4–5) vom Ansich-Sein der Seele nach ihrer Loslösung vom Körper um die These der „alten Lehre“ (70c5–6), dass die Seelen der Gestorbenen wieder in die Körper hineingeboren werden. Dies scheint auch die eigentliche Funktion des ersten Argumentes im Rahmen des ganzen Dialogs zu sein. Es führt die Seelenwanderungslehre ein, die zu den Thesen zählt, auf die Sokrates seine hoffnungsvolle Einstellung zum Tod gründet. Um den Erweis der Voraussetzung dieser beiden Lehren zu erbringen, nämlich dass die Seele nach ihrer Trennung vom Körper nicht zugrunde geht, bedarf es indessen anderer Argumente.
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5 Lloyd P. Gerson
The Recollection Argument Revisited1 (72e–78b)
The so-called Recollection Argument (RA) in Plato’s Phaedo (72e3–78b3) has deservedly garnered sustained and intense scrutiny.2 It would be difficult to think of another argument in the corpus that contains in such a compact form so many of the doctrines that we regard as essentially Platonic: the immortality of the soul, the theory of separate Forms, the diminished reality of the sensible world, and the identification of knowledge with recollection. The basic argument is relatively simple, which certainly cannot be said about the details. The argument is that our manifest capacity for recognition requires a previous cognition (cf. 73c1–2). Since in some cases of recognition there is no evidence that the relevant cognition occurred incarnately, we must have previously existed discarnately. It was in this discarnate state that we presumably had the original cognition. The argument is encapsulated in the claim that Cebes says Socrates habitually makes, namely, that learning is nothing but recollection (72e5–6: mathêsis ouk allo ti ê anamnêsis tungchanei ousa). As Cebes construes this claim, it would not be true unless our souls existed before incarnation. I note in passing that the claim that learning is nothing but recollection is more precisely aimed to show that we existed prior to incarnation. It is a claim about the self, the identical agent of cognition and recognition. The argument must then appeal to first-person evidence, namely, evidence that we know things that we could not have
1 Dieser Artikel erschien erstmals in: M. McPherran (Hg.), Recognition, Remembrance, and Reality (= Apeiron. Supplementary Volume 32 [1999]), 1–15. Dem Autor sei für die Erlaubnis des Wiederabdrucks herzlich gedankt. 2 Among relatively recent and notable studies see Scott 1995, 53–85; Bedu-Addu 1991; White 1989 and 1992; Osborne 1994–95.
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learned incarnately.3 I shall return to the epistemological nature of the argument at the end of this paper. One key operative term in this argument is epistêmê but it is clear that it is a term being used rather loosely.4 A self-conscious technical restriction in the use of the term epistêmê such as we find in the Republic is not in evidence here. That is why it seems to me that in this argument, focusing on apriori knowledge, which has as its objects propositions, is misleading. It is no doubt true, as has often been pointed out, that many kinds of learning – factual learning, skills learning, and so on – do not involve recollection. All that needs to be shown is that there are at least some examples of what can be loosely called ‘cognition’ but that these probably could not have occurred if we had not previously had certain other discarnate cognitive experiences. So, in this paper I am going to refer to cognition or knowledge indifferently without assuming a technical meaning for epistêmê. The first condition for recollection Socrates lays down is that if someone recollects or recognizes something he must have previously known it (73c1–2). The second condition is that if someone, on perceiving something, not only cognizes (gnô) that thing, but also thinks of (ennoêsê) something else, he is recollecting (c6–8). Third, that something else is the object not of the ‘same knowledge’ (hê autê epistêmê) but of another (c8). Two general sorts of cases of recollection are proposed: from similar (homoiôn) and from dissimilar (anomoiôn) things (74a2–3). An example of the first is seeing Simmias depicted and being reminded of him. Examples of the second are seeing a horse or a lyre depicted and being reminded of a man or seeing a picture of Simmias and being reminded of Cebes. Presumably, both sorts of cases meet the three conditions. Two problems have been noted here by scholars.5 First, it is asked why cases of dissimilars producing recollection are adduced and second it is asked why the knowledge of what is recollected is not the same knowledge. The first problem turns upon the understanding of the terms homoiôn and anomoiôn. These are usually taken to mean ‘similar’ and ‘dissimilar’ but I believe this cannot be correct. One thing can be similar to another in basically two ways: (1) A is similar to B if it is the same in some respect, though it be different in other respects and (2) A is similar to B if A is an approximation of B. Our understanding of the terms here must apply to the relation of sensible instances of Forms to Forms since that is of course the point of the examples of homoiôn and anomoiôn. For the sake of brevity, I appeal to what I take to be the decisive arguments of Vlastos, Nehamas, Bostock, and recently, Pritchard, 3 Even if it is true, as, for example, Scott 1995, 54ff, holds, that the argument seeks to show that recollection is involved only in philosophical and not ordinary thinking, still the conclusion must be understood to be applicable to all who are in principle capable of recollection, that is, all human beings. 4 Cf. 73c8, d3, 74b2 where it is used both in reference to sensibles and to Forms. 5 See, for example, Gallop 1975, 116f., and Bostock 1986, 62–66.
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for the view that instances of Forms cannot be approximations of them.6 Even apart from their arguments, it makes little or no sense to think of a picture of Simmias as an approximation of him whereas a picture of Simmias is not an approximation of Cebes. So, on the similarity reading, that leaves us with the alternate meaning, namely, that A is similar to B if it is the same in some respect. I submit that it also makes no sense to suppose that Socrates is claiming that a picture of Simmias is the same as Simmias in some respect(s) but different in others whereas a picture of Simmias is not the same as Cebes in any respect. For example, a picture of Simmias could just as easily be similar to Cebes because the picture is of a man and Cebes is a man. Similarity is a hopelessly vague criterion for use here. I will not here consider the more subtle but equally fruitless view that A and B are similar if they are the same in a majority of respects, whatever that might mean. That leaves us with the conclusion that homoiôn are the same and anomoiôn are not the same. Plato gives us examples of things not the same because he wants to make clear what sameness is by giving cases of the contradictory. Thus, a picture of Simmias is the same as Simmias means that the man pictured is identical with Simmias. And a picture of Simmias is not the same as Cebes means that the man pictured is not identical with Simmias. This point about sameness is of crucial importance and I shall return to it in a bit. Second, some scholars have questioned the cogency of the third condition, wondering why, for example, the cognition of a picture of Simmias is not the ‘same knowledge’ as that of Simmias himself. Gallop and Ackrill worry that “one cannot recognize a picture of Simmias without eo ipso thinking of Simmias himself”.7 I believe the confusion is caused by the loose cognitive vocabulary. The cognition of a picture of Simmias is not necessarily the recognition that it is a picture of him, and so it is not the ‘same knowledge’ because there are various ways of cognizing a picture without recognizing who is being pictured. Even if in cognizing the picture one does recognize that it is a picture of someone, the knowledge of the person who is being pictured is different from the knowledge of the picture. Against Gallop, I think the point is of considerable importance both in the Phaedo and later in the Republic. As we shall see, Plato is committed to holding that no cognition of any image is identical with the cognition of that of which it is an image. Indeed, cognizing an image or instance of a Form as such must be a different cognition from cognizing the Form itself, otherwise the present argument has not a chance of working. For the argument turns on the claim that the cognition of the instance depends on the cognition of a different object having previously occurred. The crucial case of recollection is from something that is the same and for this a fourth condition is added: one must consider whether or not the same thing is “lacking something with respect to sameness” (ti elleipei touto kata tên homoiotêta, 74a5–7). One would 6 See Vlastos 1973; Nehamas 1975; Pritchard 1995. 7 See Gallop, 117f., and Gallop’s reference to Ackrill.
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suppose that ‘lacking something’ would apply only to cases where the same is in some way derived causally from that to which it is same, not to cases where the sameness is not derived.8 If there were no such derivation, then to say the fact that A is lacking something with respect to B would be of no consequence, for B would be lacking something with respect to A as well. That is, the deficiency would amount to no thing more than difference. How do we parse ‘lacking something with respect to sameness’? The particular example given by Plato is that of equal logs or stones (74a9ff). It is agreed by the interlocutors that 1. there is something that is just equal and this is different from equal logs or stones (a9–13); 2. we know this something that is just equal (epistametha auto ho estin, b3);9 3. we got this knowledge from the things that are equal, namely, the logs and stones (b4–6); 4. whereas the equal things sometimes seem unequal, that which is just equal never seems unequal (b7–c2); 5. the thinking of the equal we get from seeing equal things is recollection (c13–d2); 6. the equal logs and stones are not equal in the same way as the equal; they fall short of it (d4–7); 7. the judgment that the equals fall short of or are inferior to the equal necessitates that he who makes the judgment must have previously known that which the equals are the same as but inferior to (d9–e4);
8 Two connected sorts of derivation are possible. When I draw a picture of someone, I intend for the picture to represent that subject. In one sense, the picture is derived from me, in another sense it is derived from the model. For our purposes, this distinction is not essential here. 9 See Gallop, 119f, on the grammar of this phrase. This line is often taken to be an unargued for claim that we know what the Form of Equality is. Against this, 76b8–9 says that if one know a Form one can give an account of it. But the knowledge that Simmias agrees that he has at 74b2–3 is surely not that. The knowledge that is at issue here is knowledge that is gotten from sense-perception. Bostock 1986, 67–69, recognizes the knowledge is not philosophical knowledge of a Form, but concludes that it must then be ‘humdrum knowledge’ of a Form. He explains this as knowledge of the meaning of the word ‘equal’, I think this is roughly correct, but I do not understand this as in any way ‘humdrum knowledge’ of a Form. Scott 1995, 56–59, argues that philosophical knowledge of Forms is here conceded by Simmias. It is not clear to me if Scott means to hold that this amounts to the ability to give an account of the Form of Equality. If it does, then I think Scott is mistaken for the reason given above. If it does not, then perhaps this philosophical knowledge amounts to just the belief that there is such a Form and that it is the Form that explains the equality in things that are manifestly or perceptually equal. In addition, the claim at 74b4–6 that we ‘get this knowledge [that is, of the Form of Equality] from sensibles’ supports the claim that the knowledge is just that there is such a Form. It is important for the argument that it cannot be more than this.
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8. we recollect the equal from sense-perception; but the knowledge that the equals are inferior to the equal could not have come from sense-perception (75a5–b2); 9. then it was before we began to use our senses that we knew the equal itself. The argument is then generalized for all things of which we affix the seal ‘what it is’ (auto ho esti, d3). These are of course the Forms first mentioned at 65d. The argument very explicitly puts all the Forms on the same footing as the Form of Equality and, by implication, all instances of Forms on the same footing as the equal logs and stones. Nevertheless, it is true that if there were a sort of inferiority present in equals that was not present in any other instance of a Form, the necessity of prior knowledge of the Form in order to judge the inferiority would be sufficient to make the case for pre-existence of the soul. There are sufficient reasons independent of this fact to hold that however we understand the inferiority of the equals it must be generalizable for all instances of Forms. I will simply presume here that any interpretation of this argument must be generalizable in the relevant respect. Unfortunately, there is a notorious textual problem which needlessly clouds the issue. It is not clear what exactly the inferiority consists in. The text, which has been questioned, reads: ar’ ou lithoi men isoi kai xyla eniote tauta onta tô men isa phainetai, tô d’ou; (74b8–9). Does this mean that the equal logs and stones while remaining the same (a) seem equal to one thing but not to another; (b) seem equal to one person but not to another; (c) seem equal sometimes and seem unequal at others times.10 The problem with (b) and (c) and even (a) on one interpretation of ‘appear’ is that they relativize the inferiority of the equals. But that equals should appear unequal to someone or at some time hardly warrants the claim that those who so judge them are judging them against the Form of Equality for of course there are others who do not judge them unequal. That is, the deficiency of the sensible world should not be a function of the relativity of perception. I here mention once again the approximation interpretation of deficiency only to reject it as an interpretation of this passage.11 The examples which seem to work best on this interpretation are mathematical figures. When I draw a circle on paper it seems that it can only be an approximation of what mathematicians call a circle. Approximation is on this view the correct way to understand ‘lacking something with respect to same10 See Bostock 1986, 73–78, and Gallop 1975, 121–125, on the various possibilities of interpreting this line. 11 E.g., Gallop 1975, 95f, and the references in note 6.
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ness’. But if equals appear unequal they also appear equal and they are no more lacking something with respect to equality than odd things are lacking something with respect to evenness. Indeed, the example in the text does not even exclude the possibility that the equal logs and stones are equal in number, not in length or width. And in that case, their apparent inequality is certainly not a deficiency with respect to equality. On the approximation interpretation, if the logs and stones approximate equality because they are unequal, do they approximate inequality because they are equal? If so, then there is no difference between saying that they approximate equality and inequality and saying that the equality and the inequality in them is the same as equality and inequality. The deficiency in equality has to be a deficiency in principle in equal things. The problem is solved if we recognize that for Plato equality is not a two-term relation but a property of each of two things.12 And the judgment that one thing has equality to another is a judgment based on sense-perception inseparable from the judgment that its equality is constituted by the size or width or number, etc. that it has. But the opposite of that property, namely, inequality, is constituted by the same size or width or number, etc. To judge two things are equal, on this argument, may also involve the judgment that, though equal, the equal things are deficient with respect to equality.13 They are deficient because their equality is constituted by that by which inequality is constituted as well. By contrast, things that are equal insofar as they are equal or the Form of Equality, “never appear unequal” (74c1–2).14 On this interpretation, I gloss the text: the very same logs or stones that have equality to other logs or stones also have inequality to other logs or stones. This reading, it seems to me, fits the argument best and gives good sense for ‘lacking something with respect to sameness’, It also allows us to take ‘appear’ in the natural sense both for Forms and instances as not suggesting that each is other than as it appears. Sensible equals appear equal and unequal because they are such. It will not be doubted that it makes sense, perhaps childish sense, to insist that while being one foot long is sufficient for having equality to something else one foot long it is also at the same time sufficient for having inequality to something that is two feet long. Reasonably enough, however, it will be rather more strenuously doubted whether these facts are sufficient for demonstrating that a Form of Equality exists much less that the soul is immortal. Let us see at least what Plato thinks about this.
12 See 107d7, e2. Contra Bostock 1986, 75, who, nevertheless, understands the Greek as I do. See Castañeda 1972; Matthen 1982. 13 Presumably, non-philosophers will typically judge things equal simpliciter. The point here is that such a judgment does not preclude the further judgment that they are deficiently so. 14 The text auta ta isa estin hote anisa soi ephanê ê hê isotês anisotês; is generally taken as indicating two different ways of referring to the Form of Equality. See Gallop 1975, 123–125. It is not essential to determine whether or not this is so for the purpose of this argument, even though later (102d6–103b5) the distinction that I am making here is made explicitly.
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As (8) above tells us, the knowledge in virtue of which we judge the sensible equals to be inferior, that is, the knowledge we ‘think of’ when we recollect, is different in some way from the knowledge we acquire from perceiving these. One might suppose that the distinction that is being drawn here is one that appears explicitly in the Theaetetus, namely, the difference between ‘possessing’ and ‘having’ knowledge (197b8ff). If, however, this is the distinction being made here, Plato has a serious problem because the only difference between possessing and having knowledge is the difference between conscious and non-conscious or actual and potential, that is, there is no difference in content. But if the content of the recollection is the same as the content of what is putatively known discarnately, why do we need the latter? Why, that is, could one not know from sense-perception alone and without recollection that the equal logs and stones are the same as but inferior to the equality of the Form of Equality? Indeed, this is perhaps what someone who wanted to defend the theory of Forms without tying it to an argument for the immortality of the soul would want to do. Whether or not one agrees that the theory of Forms and the immortality of the soul stand or fall together, there is little doubt that the present argument holds this view (cf. 76e5–7, isê anankê; 92d7–8) and is also committed to the view that there is some knowledge which we must have acquired before birth (cf. 75c1–5). There are certainly passages within this argument where the two sorts of knowledge, that is, the knowledge gotten from sense-perception and the knowledge of a Form, seem to be identical. For example, at 75e4 the knowledge we regain in recollection seems to be the same knowledge we have before birth.15 And yet it is not obvious that recollecting something is equivalent to the original knowledge. I might, for example, recollect a trip to foreign land from a photo in a magazine, but what I recollect need not be and probably is not equivalent to what I knew, that is, what I experienced, even though I could not have recollected if I had not experienced the land in the first place. In addition, the Phaedo tends to the view that knowledge of Forms is only possible for someone in a discarnate state or, at least, for someone who is ‘separated’ from his body.16 But this certainly does not seem to be the case for someone who casually acquires knowledge of equality from logs and stones. Even more significant than these considerations is Socrates’ claim that if someone knows something, he can give an account of what he knows (76b5–6). If the knowledge that one acquires from recollection is the same as the knowledge in virtue of which one can give an account, then presumably upon recollecting equality from sensible equals and getting knowledge of it (74c8–9), one could give an account of equality. And since the argument is, as we have seen, explicitly generalized for all Forms, anyone who recollects the Form from sensibles has the knowledge that enables one to give an account. 15 See also 73c2–3; 75e3–5. 16 The strongest evidence for this is at 66e4–67b2. Cf. 85c3–4.
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But this is certainly not what the interlocutors think in this dialogue. Simmias says plaintively that after Socrates’ death there won’t be anyone who can do this. Socrates in reply confirms that hardly anyone seems to know Forms, but they are reminded of what they once learned (76c1–4). What hardly anyone knows cannot be identical with what everyone knows as a result of their discarnate experience. Nor can it refer to what they know when they recollect, as the text implies. Unless we wish to say either that no one recollects or that everyone can give an account in some sense of ‘can’, we seem forced to recognize that the knowledge gotten from sense-perception is not the knowledge gotten discarnately and that it is in virtue of the latter when it is actualized that an account can be given if at all. That the two ‘knowledges’ are different does not mean and cannot mean for the argument that the incarnate version can be had without the discarnate. On the contrary, that is the crux of the argument. What we seem to know (recollect) incarnately on the basis of sense-perception is that there is such a thing as the Form of Equality (cf. 74b2, e8–9) and something of what equality is.17 We could not know this unless we had some other knowledge, namely, discarnate knowledge of the Form of Equality. Knowing that the Form of Equality exists certainly does not entail that one can give an account of it. Having known the Form discarnately obviously does not entail that one can give an account either, but clearly something more than the recollection discussed in this argument is necessary if this is so, then the question we are faced with is why the ability to judge sensibles inferior depends upon the discarnate knowledge. One might conceive of the perfection of Forms as notional and the deficiency of sensible as deficiency with respect to notional perfection. This is indeed what the approximation interpretation does. If Forms were merely notional ideals, as are, say, mathematical figures on some theories, then approximation would be the appropriate way view the things that fall short and it would be correct to speak of them as similar and not the same. I suspect that many of those who hold the approximation interpretation are thinking of Forms as notional ideals. An ideal city, say, or spouse or home may serve such a function. But it is clear that for Plato, Forms, which are explanatory entities, do not play the role of notional ideals and though it is in Parmenides that this is stated explicitly, most scholars recognize that the theory of Forms in that dialogue is the theory present in the Phaedo.18 So, if we recognize that Forms are not notional ideals, but real ideals and that the deficiency of sensible is with respect to these real ideals, we may well wonder if our 17 It seems to me that Scott 1995, 56, is correct to stress that Simmias’ very strong assent to the claim that we know that there is a Form of Equality is within the purview of philosophers alone. I do not think that this applies to the claim that we know what equality is. This is evident from the next line. Anyone could learn what equality is from sense-experience. 18 See Parmenides 132b4ff where Socrates suggests that the regress arguments adduced by Parmenides may be avoided if Forms are ‘concepts’ (noêmata) in the mind. Parmenides immediately and decisively replies that Forms, in order to do what Forms do, must be that of which one has concepts, not concepts themselves.
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ability to judge sensibles deficient could be possible without having had cognition of the ideal. Thus, my judgment that the equal logs and stones are deficient with respect to equality is not a judgment that they imperfectly instantiated a concept of equality, imperfect either by approximation or by limitation or incompleteness. It is a judgment that the equals, though they be equal, are deficient with respect to sameness. A judgment of deficiency alone is available notionally. A judgment of deficiency with respect to sameness is available only by cognizing both of those things judged to be the same.19 And this requires independent cognition of each. Sensibles will not be judged deficient if they are compared to what it is we cognize on the basis of sense-perception. I mean that what we know on the basis of sense-perception is a concept or universal. An instance of a concept or universal is not deficient with respect to sameness here because the concept or universal is just what all the instances have in common. This is the kernel of truth in the claim that Forms are not universals. An instance of universal equality is not deficient with respect to equality because equality is what the instance and all other instances share. There is simply no conceptual space for deficiency of an instance of a universal with respect to that universal. If for no other reason, this shows that the discarnate knowledge of Forms is not the knowledge that is gotten from sense-perception. So, if the judgment that instances of the Form of Equality are deficient with respect to that Form can be made – and that now appears to be the critical issue – it requires independent cognition of the two things judged to be the same and a further judgment based on this that one is deficient with respect to the other. Plato would no doubt be confident in claiming that sensibles can be judged deficient in the relevant sense. He would insist that (1) two logs or stones are equal and (2) the account of what this equality consists of is not an account of Equality. Indeed, it is an account of what is deficient with respect to equality because it is necessarily also an account of inequality, whereas the account of the Form of Equality, whatever that may be, is never an account of Inequality. Let us assume that no one would question (1).20 Someone might, however, reply to (2) by claiming that the account of the equality of the equal logs or stones is exactly the same as the account of the Form of Equality. But this is difficult to maintain since the account of the equality of a log to another log one foot long will at least have to include the fact that the first log is one foot long. And though the log does not have to be one foot long in order to be unequal to a log two feet long, being one foot long is sufficient for this to be so. The account of the equality 19 Bostock 1986, 103–110, thinks that our ability to abstract conceptual knowledge from sensibles undermines Plato’s argument. This seems to me confused. Plato agrees that we get knowledge from sensibles, but this knowledge, as Bostock recognizes, is not the knowledge that we supposedly have before birth. Without this latter knowledge, we could not judge the sensibles deficient. The possibility of abstraction and conceptualization is irrelevant to Plato’s argument. 20 Later at 102d6–8 Socrates insists that not only is Largeness never small, but the largeness in us is never small. I take this passage as a guarantor of sameness in the Form and instance.
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of the logs must include that which constitutes the equality. But that constitution is part of the account of its inequality.21 This interpretation is not, I take it, contradicted later in the dialogue by Socrates’ ‘simple explanation’ that “nothing makes something beautiful except the beautiful itself” (100d4–5). For if this is true, still the account of the material conditions for the presence of or participation in beauty is bound to be different from the account of the Form of Beauty (cf. 99a–b).22 The simple explanation belongs to a different argument making a different point. One could object that the account of equality and an instance of equality must be the same account, that is, there just is no independent account of instances of equality. But then one must explain why equal things sometimes appear unequal, whereas equality never does. This interpretation may be resisted as being insufficiently broad to cover cases of instances of Forms that are not relational like equality. On the contrary, I think that this interpretation is the only one broad enough to sustain the universality required by a theory of Forms that aims to explain identity in difference as well as the inferiority of the sensible world. It is only because of an inadequate conception of this inferiority that one would be reluctant to admit that there are, for example, Forms of substantives or non-relational properties. An account of sensible beauty or of the humanity of a person will necessarily include constituents that are not merely irrelevant to the account of the Form of Beauty and the Form of Man but actually constitutive of the account of something else. It is misleading to suppose that what makes the account of the sensible inadequate is that it is also the account of an opposite. I take it that just as the Form of Equality never appeared to be unequal, the Form of Man never appeared to be feline either. But the account of Socrates’ humanity will at some level inevitably include in it constituents that are part of the account of a cat. Let us take stock of this argument. On the basis of sense-perception, it is possible to know the properties of things. For example, we can understand that two things are equal, that is, each one has equality with respect to the other. This cognition reminds us that there is such a thing as equality, although our knowledge of equality comes from sense-perception. At the same time we come to know equality from sense-perception, we realize that the very same things that have equality with respect to each other can be unequal to other things. What constitutes their equality is exactly what constitutes their inequality. Therefore, the equality that the equal things have is deficient equality. This is not the case with equality itself. Thus, the Form of Equality is not a universal 21 The interpretation here is even more obviously correct in the corresponding Republic passage, 523c ff, where the example is three fingers. the middle one-being taller than one and shorter than the other. Similarly, at 479a–c where Socrates avers that beautiful things seem ugly, just things seem unjust, or pious things impious. 22 See Mueller 1988, 77, who argues that the simple explanation can explain being but not coming-to-be and ceasing-to-be. As Mueller notes, Aristotle makes the same point.
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univocally predictable of all equals, even though all equal things participate in it. The claim that equals are deficiently equal in comparison with equality itself or the Form of Equality could not be made by someone who has not cognized that Form. We have evidently not cognized equality itself in our incarnate existence, so, we must have done so discarnately. Here is another obvious objection. The judgment of deficiency is hypothetical. If a Form of Equality existed, then sensibles equals would be deficient in the requisite manner. But there is no proof offered that such a Form exists. This metaphysical objection misses the epistemological nature of the argument. He who makes the judgment of deficiency is committing himself to the claim that he has cognized that to which he is judging equals deficient. Yet, he who so judges does not also commit himself to being able to give an account of equality now. The genius of this argument is that one can be brought around to admitting that the sensible equals are deficiently equal without believing that one can give an account of the Form of Equality. But in admitting that they are deficiently equal one is forced to admit that this judgement can only be made by someone what has previously cognized that in comparison to which they are judged deficient. Of course, you can deny deficiency and hence the need to admit the comparison but you do this at the risk of having to maintain that the account of the equality of the instances of equality is exactly the same as the account of equality. So, what is the downside of maintaining this? Principally, you have to maintain that the material conditions for instantiation of equality are irrelevant to the being of the instances, that, for example, being one foot long has nothing to do with a log one foot long being equal in length to another log one foot long. More implausibly, you have to insist that the material conditions of Socrates’ humanity have nothing to do with his humanity if those material conditions – at any level – could be those of something else. This is the argument for the immortality of the soul based on recollection as I understand it. More particularly and certainly more troublesome, it is an argument for the existence of the soul or self prior to incarnation, an idea that makes even most friends of personal immortality blanch. It can hardly be a conclusive argument, since it does not exclude the possibility, whether this be implausible or not, of the knowledge of Forms being somehow infused in us sometime after generation. We must not lose the insights to be gained from the fact that that is precisely pre-existence that is being argued for here. A self that pre-exists its incarnation in a particularly body and its participation in an incarnate life, is a self that does not require the accoutrements of such a life for its identity. This fact gives a distinctive meaning to ‘personal’ immortality. It is obscure how to understand personal immortality if it does not include necessarily a continuation of the consequences of incarnation. One way of framing the problem is to ask what could I count as me if I had to exclude everything I have experienced in this body? The implausibility, indeed, perhaps the impossibility of my imagining what would be
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left of me after I cut out everything that belongs to this incarnate existence is addressed simply and eloquently by Plato in the words “philosophy is practice for dying and being dead”. For in philosophy, Plato thinks, one gradually detaches oneself from what one supposes is essential to one’s identity. The more one gives oneself over to philosophy, the more attachment to incarnate life seems delusory and childish.
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6 Benedikt Strobel
Das Argument aus der Ähnlichkeit (78b–80e)
Das Urteil der modernen Interpreten über den dritten der nach üblicher Zählung vier sog. Unsterblichkeitsbeweise im Phaidon, das Argument aus der Ähnlichkeit der Seele mit den Ideen, fällt generell zwiespältig aus: Einerseits haftet ihm der Makel an, das logisch unsauberste der vier Argumente zu sein, ausgestattet mit hoffnungslos unklar formulierten Prämissen und einer ebenso undeutlichen Konklusion, die ein non sequitur bleibt, egal wie man ihren Sinn und den der Prämissen dreht und wendet;1 andererseits steht es im Ruf, unter den vier „Unsterblichkeitsbeweisen“ den größten Aussagegehalt bezüglich der Stellung der Seele im Ganzen der Wirklichkeit zu besitzen und als einziger ihr ontologisches Verhältnis zum Körper einerseits, zu den Ideen andererseits zu klären. Das zwiespältige Urteil ist berechtigt, wie wir sehen werden: Auch wenn mit dem Argument gar nicht die Unsterblichkeit der Seele begründet werden soll – wie der häufig verwendete Titel „Unsterblichkeitsbeweis“ irreführenderweise nahelegt –, sondern eine schwächere These – welche genau, ist klärungsbedürftig (s. u. 6.5) –, folgt selbst diese auf keinen Fall aus seinen Prämissen, so wohlwollend man Prämissen wie Konklusion interpretiert; gleichwohl transportiert das Argument zentrale Botschaften über den ontologischen Status der Seele, die man sich aus dem Dialog nicht hinwegdenken möchte. Da das Argument wenig transparent dargeboten wird und man beim Durchgang durch die entsprechende Textpassage leicht die Orientierung über seinen Aufbau verliert, möchte ich vor einem solchen Durchgang einen Überblick über die Struktur des Arguments geben und eine daran angelehnte Textgliederung vorschlagen. Die Struktur des Arguments erschließt sich m. E. am leichtesten vom Ende her, seiner in 80b8–c1 prägnant formulierten Schlusskonklusion: 1 Ein Interpret geht sogar so weit zu behaupten, das Argument habe die Funktion „to illustrate how not to argue the case for immortality, and, more generally, how not to argue the case for any thesis“ (Elton 1997, 313).
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„[Sokrates:] Wie also? Wenn das so ist, kommt es dann nicht dem Körper zu, schnell aufgelöst zu werden, der Seele andererseits, gänzlich unauf löslich zu sein oder doch nahezu? – [Kebes:] Sicher.“2
Diese Folgerung wird – und dies erklärt die in der exegetischen Literatur seit antiker Zeit (vgl. Olympiodor, In Phaedonem 13.1.2 Westerink) gebräuchliche Bezeichnung des Arguments als „Argument aus der Ähnlichkeit“ (sc. der Seele mit den Ideen) – aus dem unmittelbar zuvor in 80b1–5 Gesagten gewonnen, wonach die Seele dem Unauf lösbaren – gemeint sind die Ideen – sehr ähnlich ist, unser Körper dagegen dem Auf lösbaren, d. h. den (sinnlich wahrnehmbaren3 ) Partizipanten von Ideen. Was wie ein Gedanke aussieht, sind eigentlich zwei: 1 Die Ideen sind unauf lösbar, ihre Partizipanten auf lösbar 2 Unsere Seele ist den Ideen sehr ähnlich, unser Körper den Partizipanten von Ideen. Und aus 1 und 2 wird an der bereits zitierten Stelle 80b8–c1 gefolgert: 3 Unser Körper wird (nach unserem Tod) schnell aufgelöst, unsere Seele ist ganz oder nahezu unauf lösbar. 1, 2 und 3 bilden lediglich den Schlussteil des Ähnlichkeitsarguments, nicht das gesamte Argument: Denn 1 und 2 fungieren in ihm nicht als Prämissen, sondern als Zwischenkonklusionen, die aus vorhergehenden Prämissen gefolgert werden (vgl. 80a10–b1). 1 wird zu Beginn in 78c1–79a11 begründet (wenn auch nicht explizit formuliert), und in diesem Abschnitt werden auch bereits Annahmen formuliert, die für die im folgenden Abschnitt (79b1–80a9) enthaltene dreiteilige Begründung von 2 vorausgesetzt werden. Sie verteilt sich auf die drei Unterabschnitte 79b1–c1, 79c2–e7 und 79e8–80a9. Der gesamten Argumentation geht ein kleiner Fragenkatalog in 78b4–10 voraus. Wir erhalten damit folgende Gliederung des Textstücks:
2 Übers. hier und im Folgenden, teils modifiziert, nach Ebert 2004. 3 Wenn im Folgenden von „Partizipanten (von Ideen)“ die Rede ist, sind stets sinnlich wahrnehmbare Partizipanten gemeint. Vgl. dazu unten Anmerkung 4.
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6.1 Abschnitt 0 (78b4–10): Fragenkatalog Die Furcht, von der „das Kind in uns“ (77e5) mit dem Ähnlichkeitsargument befreit werden soll, ist die Furcht davor, dass sich unsere Seele mit dem Tod zerstreut resp. auf löst. Die Leitfrage, die mit dem Argument einer – negativen – Antwort zugeführt werden soll, lautet entsprechend entweder „Löst sich unsere Seele mit dem Tod auf?“ oder „Kann sich unsere Seele mit dem Tod auf lösen?“. Bereits eine positive Antwort auf die zweite Frage böte Anlass zu der besagten Furcht, erst recht aber eine positive Antwort auf die erste. Anstelle einer Explikation der Leitfrage, auf die die folgende Argumentation eine Antwort liefern soll, werden in 78b4–10 drei Fragen formuliert, durch deren Beantwortung die nicht ausdrücklich formulierte Leitfrage einer Antwort zugeführt werden soll: i Welchen Dingen kommt es zu, aufgelöst zu werden? (78b5–6) ii Welchen Dingen kommt es nicht zu, aufgelöst zu werden? (78b7) iii Gehört die Seele zu den Dingen, die in der Antwort auf i spezifiziert werden, oder zu denjenigen, die in der Antwort auf ii spezifiziert werden? (78b8) Die Fragen i und ii sind von einer ähnlichen Unklarheit behaftet wie die (implizite) Leitfrage: Ist i im Sinne von „Welche Dinge werden (de facto) aufgelöst?“ und ii entsprechend im Sinne von „Welche Dinge werden (de facto) nicht aufgelöst?“ zu verstehen? Oder wird mit i dasselbe gefragt wie mit „Welche Dinge sind auf lösbar?“ und mit ii entsprechend dasselbe wie mit „Welche Dinge sind nicht auf lösbar?“? Der Unterschied zwischen den beiden Lesarten von i bzw. ii fällt sachlich ins Gewicht, wie der Blick auf einen späteren platonischen Dialog zeigt: Dem Timaios (41a8–b6) zufolge sind die vom Demiurgen geschaffenen Dinge zwar nicht unauf lösbar – sie können von ihm aufgelöst werden –, werden aber de facto nicht aufgelöst, weil der Demiurg nicht will, dass sie aufgelöst werden.
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Für die Wahl der – von den Interpreten (vgl. z. B. Gallop 1975, 137; Dorter 1976, 296; Bostock 1986, 118; Ebert 2004, 253) üblicherweise ohne weitere Begründung bevorzugten – Lesarten „Welche Dinge sind auf lösbar?“ und „Welche Dinge sind nicht auf lösbar?“ spricht, dass im Folgenden (78c3–4) behauptet wird, das Aufgelöstwerden komme nur denjenigen Dingen nicht zu, die unzusammengesetzt seien, und dass diese These allenfalls dann plausibel ist, wenn die Lesart von „x kommt es nicht zu, aufgelöst zu werden“ im Sinne von „x ist nicht auf lösbar“ vorausgesetzt ist: Denn es mag zusammengesetzte Dinge geben, die de facto nicht aufgelöst werden. Die Fragen i und ii sind aber noch mit einer weiteren Unklarheit behaftet; es ist unklar, nach welchen Dingen mit ihnen genau gefragt wird: Wird mit Frage i (1) nach Dingen gefragt, für die gilt: All solche – aber vielleicht nicht nur solche – Dinge sind auf lösbar? Oder (2) nach Dingen, für die gilt: Nur solche – aber vielleicht nicht all solche – Dinge sind auf lösbar? Oder schließlich (3) nach Dingen, für die gilt: Alle und nur solche Dinge sind auf lösbar? Frage ii ist auf entsprechende Weise unklar. Und so ist auch unklar, welche der drei folgenden Formen die Antwort auf i anzunehmen hat: A1* Alle Dinge, die so-und-so sind, sind auf lösbar A1** Alle Dinge, die auf lösbar sind, sind so-und-so A1 Alle und nur die Dinge, die so-und-so sind, sind auf lösbar. Und entsprechend unklar ist, welche dieser drei Formen eine passende Antwort auf ii anzunehmen hat: A2* Alle Dinge, die so-und-so sind, sind nicht auf lösbar A2** Alle Dinge, die nicht auf lösbar sind, sind so-und-so A2 Alle und nur die Dinge, die so-und-so sind, sind nicht auf lösbar. Um zu entscheiden, welche der jeweils drei Lesarten die richtige ist, ist ein Blick auf die Funktion von Frage iii erforderlich. In der Antwort auf diese Frage soll eine Antwort auf die Frage „Ist die Seele auf lösbar oder nicht?“ impliziert sein. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn darin, dass die Seele zu den in der Antwort auf i spezifizierten Dingen gehört, impliziert ist, dass sie auf lösbar ist, und wenn darin, dass die Seele zu den in der Antwort auf ii spezifizierten Dingen gehört, impliziert ist, dass sie nicht auf lösbar ist. Diese Implikationen sind aber nur dann gegeben, wenn die Antwort auf i im Sinne eines Satzes der Form A1* oder A1 und die Antwort auf ii im Sinne eines Satzes der Form A2* oder A2 zu verstehen ist.
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Für die Wahl zwischen diesen beiden Lesarten, zwischen A1* und A1 einerseits, A2* und A2 andererseits, ist wiederum Folgendes zu beachten: Frage iii setzt voraus, dass mit der Beantwortung der Fragen i und ii eine erschöpfende Einteilung der Dinge in zwei Mengen vorgenommen werden soll: in die Menge der Dinge, die so beschaffen sind, dass sie auf lösbar sind, und in die Menge der Dinge, die so beschaffen sind, dass sie nicht auf lösbar sind. Wäre die Einteilung nicht erschöpfend, könnte die Seele auch noch zu einer anderen Menge gehören, und die Frage „Was von beidem ist die Seele?“ (78b8) wäre irreführend, denn die Seele könnte auch keines von beidem sein. In der Vollständigkeit der Einteilung liegt nun aber, dass es nichts gibt, das auf lösbar ist und nicht zur ersten Menge gehört, und dass es nichts gibt, das nicht auf lösbar ist und nicht zur zweiten Menge gehört. Die Lesarten A1 und A2 sind daher zu bevorzugen. Entsprechend sind die Fragen i und ii folgendermaßen zu explizieren: i+ Welche Dinge sind die, für die gilt: Sie alle und nur sie sind auf lösbar? ii+ Welche Dinge sind die, für die gilt: Sie alle und nur sie sind nicht auf lösbar?
6.2 Abschnitt 1 (78c1–79a11): Begründung von 1 Dieser Abschnitt enthält, wie oben einführend bemerkt, eine Begründung von These 1; sie erfolgt in fünf Schritten: Zunächst (78c1–5) werden die auf lösbaren Dinge als die zusammengesetzten, die unauf lösbaren als die unzusammengesetzten bestimmt. Sodann (78c6–9) werden die Dinge, die sich nie verändern, als unzusammengesetzt, diejenigen, die sich stets verändern, als zusammengesetzt charakterisiert. In einem dritten Schritt (78c10–e5) werden die Ideen als Dinge eingestuft, die sich nie verändern, ihre (sinnlich wahrnehmbaren) Partizipanten dagegen als Dinge, die sich stets verändern, in einem vierten Schritt (79a1–5) die Ideen als unsichtbar, ihre Partizipanten als sichtbar. Abschließend (79a6–11) wird resümiert, dass sich das Unsichtbare – gemeint sind die Ideen – nie verändert, das Sichtbare – gemeint sind die Partizipanten von Ideen – hingegen stets verändert. Die Folgerung aus dem Gedankengang – dass die Ideen unauf lösbar sind, ihre Partizipanten auf lösbar (= 1) – wird nicht ausdrücklich formuliert. Im Folgenden sollen die einzelnen Schritte im Detail betrachtet werden.
6.2.1 Zusammengesetztsein/Auf lösbarkeit – Nichtzusammengesetztsein/Unauf lösbarkeit (78c1–5) Mit dem Satz in 78c1–2 („Kommt nun nicht dem, was zusammengefügt wurde, und dem Zusammengesetzten von Natur aus zu, in gleicher Weise aufgelöst zu werden, wie
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es zusammengefügt wurde?“) wird Frage i des oben (6.1) besprochenen Fragenkatalogs beantwortet. Da sich gezeigt hat, dass mit i nach den Dingen gefragt wird, für die gilt, dass sie alle und nur sie auf lösbar sind, und als Antwort auf i entsprechend ein Satz der Form A1 erwartet wird, liegt es nahe, die Aussage in 78c1–2 im Sinne von P1 All das und nur das, was sich durch Zusammensetzung gebildet hat, ist auf lösbar zu interpretieren. Und man würde erwarten, dass mit dem darauf folgenden Satz („Und wenn etwas unzusammengesetzt ist, so dürfte nur diesem, wenn überhaupt irgendeinem Ding, zukommen, nicht dieses [sc. das Aufgelöstwerden] zu erleiden“, 78c3–4) eine mit P1 äquivalente Antwort auf ii, nämlich „All das und nur das, was sich nicht durch Zusammensetzung gebildet hat, ist nicht auf lösbar“, gegeben wird. Tatsächlich wird aber mit dem Satz eine schwächere These aufgestellt, die mit P1 nicht äquivalent, sondern in P1 lediglich impliziert ist: P2 Nur das, was sich nicht durch Zusammensetzung gebildet hat, ist nicht auf lösbar. Dass in der Paraphrase von 78c1–4 mit P1 und P2 nicht einfach von „dem, was (nicht) zusammengesetzt ist“ die Rede ist, sondern von „dem, was sich (nicht) durch Zusammensetzung gebildet hat“, trägt der Wahl der effektiven Aoriste „syntethenti“ in 78c1 und „synetethê“ in 78c2 Rechnung, die einen zeitlichen Prozess der Zusammensetzung konnotieren (vgl. Mills 1958, 45). Diese Konnotation ist sachlich wichtig: Denn es ist gut möglich, dass Platon mit der Existenz von abstrakten Entitäten rechnete, die in gewissem Sinne zusammengesetzt, aber nicht auf lösbar sind. Denkbar ist z. B., dass bereits er (wie später Euklid) die natürlichen Zahlen als aus Einheiten zusammengesetzte (jedoch nicht in diese Einheiten auf lösbare) Vielheiten verstand (vgl. Annas 1976, 15). Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er manche Ideen als zusammengesetzt konzipierte, wie dies für die Idee des Gleichen mit Berufung auf „auta ta isa“ in Phd. 74c1 und für die Idee des Ähnlichen mit Berufung auf „auta ta homoia“ in Prm. 129b1 vermutet worden ist (vgl. dazu Mills 1958 und Bluck 1959). Die Annahme solcher Entitäten steht deshalb nicht im Widerspruch zu P1 oder P2, weil sie zwar in einem gewissen Sinne zusammengesetzt sind, sich aber nicht in einem zeitlichen Prozess durch Zusammensetzung gebildet haben. Frage iii des Fragekatalogs lässt sich nun angesichts dieser Antworten auf Fragen i und ii präziser fassen: iii+ Hat sich die Seele durch Zusammensetzung gebildet oder nicht? Die Frage wird im Phaidon nirgends beantwortet. Dies überrascht. Es könnte ja aus P1 sowie der Annahme, dass sich die Seele nicht durch Zusammensetzung gebildet hat,
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direkt ihre Unauf lösbarkeit gefolgert werden. Dieser Schritt unterbleibt jedoch, wie häufig bemerkt worden ist (vgl. Szlezák 1976, 53), und es stellt sich die Frage, warum Platon darauf verzichtet hat, Sokrates die Annahme ins Spiel bringen zu lassen, dass sich die Seele nicht durch Zusammensetzung gebildet hat. Als Erklärung dafür drängt sich folgende Vermutung auf: Weil er selbst nicht oder nicht hinreichend von der Wahrheit der Annahme überzeugt war. Aber warum sollte er davon nicht überzeugt gewesen sein? Hier liegt es nahe daran zu denken, dass die menschliche Seele in der Politeia – und hier vor allem im vierten Buch – als ein Gebilde mit drei Teilen (merê) – dem denkenden (to logistikon), dem affekthaften (to thymoeides) und dem triebhaften Teil (to epithymêtikon) – präsentiert wird. Im zehnten Buch der Politeia wird ausdrücklich festgehalten, dass sich die so verstandene Seele als ein Zusammengesetztes (syntheton) darstelle, und mit Blick auf ihre Zusammensetzung (synthesis) – die nicht die „schönste“ sei – in Zweifel gezogen, dass sie ewig existiert (vgl. dazu Szlezák 1976, 38f.): „Nicht leicht […] ist etwas ewig, das aus Vielem zusammengesetzt ist und nicht über die schönste Zusammensetzung verfügt, wie sich uns jetzt die Seele zeigte.“ (Rep. X 611b5–7) Die zitierte Stelle legt die Vermutung nahe, dass Platon, da er bereits zur Zeit der Abfassung des Phaidon davon überzeugt war, dass die Seele aus drei Teilen zusammengesetzt sei, oder jedenfalls mit diesem Gedanken liebäugelte, davon Abstand nahm, Sokrates in dem Dialog die Annahme voraussetzen zu lassen, dass sie sich nicht durch Zusammensetzung gebildet habe. Diese Vermutung ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil im Zusammengesetztsein der Seele nicht impliziert ist, dass sie sich in einem zeitlichen Prozess durch Zusammensetzung konstituiert hat; sie es auch aus folgendem Grund: Ebenfalls im zehnten Buch der Politeia wird zwischen zwei Begriffen von Seele unterschieden: „Seele“ im eigentlichen Sinne (vgl. Rep. X 611b1, b10, d2, d6, 612a3–4) meint die Seele ohne Gemeinschaft mit dem Körper (vgl. Rep. X 611b10–c4), „Seele“ im abgeleiteten Sinne die eingekörperte Seele. Letztere ist die dreiteilige Seele, wie sie vor allem in Rep. IV beschrieben wird, erstere die Denkseele allein (ich folge hier der traditionellen Interpretation von Rep. X; vgl. zu ihrer Verteidigung Szlezák 1976). Nehmen wir nun an, die Konzeption der dreiteiligen Seele sei bereits im Phaidon stillschweigend vorausgesetzt – ob sie wirklich mit dem vereinbar ist, was im Phaidon über das Verhältnis von Körper und Seele gesagt wird, ist eine umstrittene Frage,4 der hier nicht weiter nachgegangen werden kann –: so ist es nicht die dreiteilige Seele, der im Phaidon die Ähnlichkeit mit den Ideen zugeschrieben wird, sondern die Seele im eigentlichen Sinne, also die Denkseele (vgl. Szlezák 1976, 53–56, gegen Graeser 1969, 57–60; besonders deutlich wird dies durch den Vergleich von Phd. 79d1–8 mit Rep. X 611d7–612a6). Was hätte aber
4 Eine negative Antwort findet sich z. B. bei Groag 1913, 335 oder Müller 2009, 294; eine positive z. B. bei Graeser 1969, 55–63 oder Apolloni 1996, 14f.
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dann im Wege gestanden, dieser Seele – im Unterschied zur dreiteiligen – zuzuschreiben, dass sie sich nicht durch Zusammensetzung von Teilen gebildet hat? Nun, auch in der Politeia wird die Frage, ob die Denkseele viel- oder eingestaltig (poly- oder monoeidês) ist, ausdrücklich offengelassen und weiterer Untersuchung anheimgestellt (vgl. Rep. X 612a3–5). Erst im Timaios wird sie zugunsten der Vielgestaltigkeit im Sinne „der schönsten Zusammensetzung“ (wie es in Rep. X 611b6 heißt) entschieden: Mit der Geschichte der Mischung der Weltseele im Timaios wird erzählt, wie sich die Weltseele selbst und alle anderen Denkseelen durch die Zusammensetzung mehrerer Bestandteile gebildet haben. Nimmt man diese Geschichte wörtlich, so wird im Timaios die Annahme vertreten, dass die Seele aus der Mischung von Teilen hervorgegangen ist, und aus dieser Annahme sowie P1 folgt ihre Auf lösbarkeit. Diese wird im Timaios (41a8–b6) auch tatsächlich behauptet, wiederum im Rekurs auf das bereits aus dem Phaidon bekannte Prinzip, dass alles, was zusammengefügt worden ist, auch auf lösbar ist. Nun ist es gewiss allzu riskant, zu unterstellen, dass das im Timaios über die Denkseele Gesagte für Platon bereits zur Zeit der Abfassung des Phaidon Gültigkeit besaß; aber dass ihm schon hier die Annahme, die Seele sei nicht durch Zusammensetzung entstanden, als problematisch oder zumindest ausführlicher Diskussion bedürftig erscheinen konnte, dies scheint mir der Blick auf den Timaios doch zu zeigen. Und dies genügt auch schon, um zu erklären, warum er Sokrates im Phaidon nicht den direkten Argumentationsweg von dieser Annahme zur Folgerung der Unauf lösbarkeit der Seele nehmen lässt.
6.2.2 Sich-nie-Verändern/Nichtzusammengesetztsein – Sich-stets-Verändern/ Zusammengesetztsein (78c6–9) Im nächsten Schritt wird ein weiteres Begriffspaar eingeführt: Sich-immer-auf-dieselbeWeise-und-gleich-Verhalten (im Folgenden kürzer: Sich-nie-Verändern) und Sich-immer-anders-und-nie-auf-dieselbe-Weise-Verhalten (im Folgenden kürzer: Sich-stetsVerändern). Der erste Teil des Satzes in 78c6–7 („Ist es nun nicht sehr wahrscheinlich, dass das, was sich immer auf dieselbe Weise und gleich verhält, das Unzusammengesetzte ist“) hat in der Literatur zwei Lesarten erfahren: laut der einen (erwogen von Gallop 1975, 138, und vertreten von Ebert 2004, 254 Anm. 3) wird mit ihm die Klasse der Dinge, die sich nie verändern, mit der der Dinge, die sich nicht durch Zusammensetzung gebildet haben, identifiziert: P3* Alles und nur das, was sich nie verändert, hat sich nicht durch Zusammensetzung gebildet.
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Nach der anderen Lesart (vgl. Gallop 1975, 138; Dorter 1976, 296; Bostock 1986, 118) wird mit ihm erstere letzterer lediglich subordiniert: P3** Alles, was sich nie verändert, hat sich nicht durch Zusammensetzung gebildet. Für die erste Lesart spricht die Setzung des Artikels „ta“ vor „asyntheta“ in 78c7 (vgl. Ebert 2004, 254 Anm. 3). Was die Plausibilität der zu interpretierenden Prämisse angeht, scheint dagegen die zweite Lesart im Vorteil: Denn warum sollte es nicht Dinge geben, die sich nicht durch Zusammensetzung mehrerer Bestandteile gebildet haben und sich dennoch verändern? Wäre nicht gerade die (Denk-)Seele ein Kandidat dafür, eine solche Entität zu sein? Im zweiten Teil des Satzes in 78c7–8 („[Ist es nun nicht sehr wahrscheinlich, dass] dagegen die Dinge, die sich stets anders und nie auf dieselbe Weise verhalten, zusammengesetzt sind“) wird – als Gegenstück zur ersten Aussage – den Dingen, die sich stets verändern, zugeschrieben, sich durch Zusammensetzung gebildet zu haben: P4 Alles, was sich stets verändert, hat sich durch Zusammensetzung gebildet. Beide in 78c6–8 enthaltenen Prämissen werden nicht einfach behauptet, sondern als „höchst wahrscheinlich“ (78c7) wahr eingeführt. Damit wird ein leichter Vorbehalt signalisiert, und dies verständlicherweise: Mit beiden werden ontologische Thesen aufgestellt, deren Wahrheit sich, um es vorsichtig zu sagen, nicht auf Anhieb erschließt. Der Frage nachzugehen, mit welcher ontologischen Theorie sie sich rechtfertigen ließen, würde hier zu weit führen; ich möchte mich stattdessen auf die Frage beschränken, was sich aus beiden Prämissen für die Seele, so wie sie im Ähnlichkeitsargument präsentiert wird, ergibt. Laut einer späteren Stelle unseres Textstücks unterliegt sie Veränderungen: Wenn sie sich körperlicher Wahrnehmung bedient, um etwas zu untersuchen, dann „geht sie in die Irre, ist verwirrt und von Schwindel befallen, als wäre sie betrunken“ (79c7–8). Sie fällt somit sicher nicht unter das Prädikat „x verändert sich nie“. Unter Annahme von P3* wäre sie damit als durch Zusammensetzung konstituiert einzustufen. Diese Folgerung ist nun aber wenig willkommen – wie wir oben festgestellt haben, macht Platon an unserer Textstelle wohl bewusst einen großen Bogen um die Beantwortung der Frage, ob sich die Seele durch Zusammensetzung gebildet hat oder nicht – und lässt sich mit Lesart P3** vermeiden. Fällt die Seele unter das Prädikat „x verändert sich stets“? Wenn ja, so ließe sich daraus und aus P4 dieselbe unerwünschte Folgerung (sc. dass sich die Seele durch Zusammensetzung konstituiert hat) ziehen. Sie kann mit der Annahme vermieden werden, dass die Seele zwar unter das Prädikat „x verändert sich“, nicht aber unter das Prädikat „x verändert sich stets“ fällt. Die Annahme impliziert, dass es neben der Klasse der Entitäten,
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die sich niemals verändern, und der der Entitäten, die sich stets verändern, noch eine dritte Klasse von Entitäten gibt: derjenigen, die sich weder niemals noch stets, sondern zuweilen verändern.
6.2.3 Ideen/Sich-nie-Verändern – Partizipanten von Ideen/ Sich-stets-Verändern (78c10–e5) Bisher war noch unklar geblieben, welche Dinge zu der ersten Klasse gehören und welche zu der zweiten. Dies wird in 78c10–e5 klargemacht. Hier wird zum einen (implizit) behauptet, dass es einerseits Ideen gibt, andererseits die vielen Dinge, die nach Ideen benannt sind (vgl. „pantôn tôn ekeinois homônymôn“ 78e2), d. h. die Dinge, die aufgrund ihrer Teilhabe an einer gegebenen Idee des F als F bezeichnet werden (ich spreche im Folgenden kurz von „Partizipanten“5 ): P5 Es gibt Ideen. P6 Es gibt Partizipanten. Zum anderen wird den Ideen zugeschrieben, sich nie zu verändern, den Partizipanten, sich stets zu verändern: P7 Alles, was eine Idee ist, verändert sich nie. P8 Alles, was ein Partizipant ist, verändert sich stets. Die Ideen hatten im Phaidon bereits an zwei früheren Stellen ihren Auftritt: in Sokrates’ „Apologie“ (vgl. 65d4–66a10) und im Anamnesis-Argument (vgl. 74a9–77a5). Neu ist an unserer Stelle die These, dass sich die Ideen niemals verändern, also P7. Für eine spezielle Idee, das Gleiche selbst (auto to ison, auta ta isa), war allerdings bereits im Rahmen des Anamnesis-Arguments festgestellt worden, dass sie niemals als ungleich (sondern immer als gleich) erscheint, während die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die durch Teilhabe an ihr gleich sind, bald als gleich, bald als ungleich erscheinen (74b7–c3; 5 Die in 78d10–e2 zur Sprache gebrachten Dinge als „Partizipanten“ simpliciter zu bezeichnen könnte aus dem Grund als problematisch erscheinen, dass in 78d10–e2 nur von sinnlich wahrnehmbaren Partizipanten die Rede ist (wie hier zwar noch nicht explizit gesagt wird, aber aus 79a1–2 klar hervorgeht), jedoch auch die Existenz von nicht sinnlich wahrnehmbaren Partizipanten (z. B. Seelen) einzuräumen ist. Mit „pantôn tôn ekeinois homônymôn“ (78e2) wird freilich signalisiert, dass die in 78d10–e2 in Rede stehende Klasse von Dingen mit der Klasse aller Partizipanten zu identifizieren ist, mithin zwischen dieser und der Klasse der sinnlich wahrnehmbaren Partizipanten kein Unterschied besteht. Mit der Existenz von nicht sinnlich wahrnehmbaren Partizipanten scheint also an dieser Stelle jedenfalls noch nicht gerechnet zu werden.
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vgl. zur Rechtfertigung der hierfür vorausgesetzten Interpretation der Zeilen 74b7–9 Strobel 2007, 173–179). Hier wird also gesagt, dass das Gleiche selbst auf unveränderliche Weise eben das ist, was die Dinge, die an ihm teilhaben, durch Teilhabe an ihm auf veränderliche Weise sind (nämlich gleich). Diese Feststellung lässt sich so verallgemeinern: Jede Idee ist unveränderlich das, was die Dinge, die an ihr teilhaben, durch Teilhabe an ihr auf veränderliche Weise sind. Dies ist nun allerdings noch keine Garantie dafür, dass sich die Ideen – wie an unserer Stelle emphatisch betont wird (vgl. 78d6–7) – überhaupt nicht verändern. Es mag ja andere Hinsichten geben, in denen sie sich verändern. Solche Hinsichten lassen sich in der Tat leicht finden, wenn man eine generöse Lesart des Prädikats „x verändert sich“ – die sog. cambridge change-Lesart – zu Grunde legt, derzufolge es denselben Sinn hat wie „Es gibt zwei verschiedene Zeitpunkte t1 und t2 und eine Eigenschaft, y, derart, dass × zu t1 y hat und × zu t2 y nicht hat“. Unter Voraussetzung dieser Definition von Veränderung unterliegen auch Ideen Veränderungen: Es gibt z. B. einen Zeitpunkt, zu dem das Schöne selbst die Eigenschaft hat, dass Helena an ihr teilhat, und einen anderen, zu dem es diese Eigenschaft nicht hat (vgl. zur Veränderlichkeit der Ideen unter der cambridge change-Lesart Sophistes 248c11–e5 mit Keyt 1969 und Künne 2004). Soll P7 gegen diesen Einwand immun sein, empfiehlt es sich, eine engere Definition von Veränderung vorauszusetzen, derzufolge im eben genannten Fall keine Veränderung des Schönen selbst vorliegt. Man kann zu diesem Zweck zwischen extrinsischer und intrinsischer Veränderung unterscheiden (vgl. dazu Künne 2004, 319): Das Schöne selbst hat sich zwar durch den Verlust der Eigenschaft, von Helena partizipiert zu werden, extrinsisch verändert, aber nicht intrinsisch. Wenn P7 plausibel sein soll, so sollte „verändert sich nie“ hier im Sinne von „verändert sich nie intrinsisch“ verstanden werden. Im Kontrast zu den Ideen, die sich nie (intrinsisch) verändern, werden ihre Partizipanten mit P8 als in steter (intrinsischer) Veränderung beschrieben. Als Beispiele werden angeführt die vielen schönen und die vielen gleichen Dinge. Auf die Stelle in 74b7–9, wo es heißt, dass gleiche Hölzer und Steine bald als gleich, bald als ungleich erscheinen, habe ich bereits hingewiesen. Wie man häufig beobachtet hat, sind die Eigenschaften, für die im Phaidon von entsprechenden Ideen die Rede ist (wie Gleich-, Schön-, Gut-, Gerecht- und Frommsein), Eigenschaften, die ihren Trägern nicht essentiell zukommen, d. h. nicht so, dass die Träger ohne sie nicht existieren können. Die Partizipanten befinden sich nun so in steter Veränderung, dass sie kontinuierlich einige solcher nichtessentieller Eigenschaften annehmen und verlieren. Dabei handelt es sich um nicht-relationale und relationale Eigenschaften (vgl. 78e3: „in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf einander“ und dazu Hackforth 1955, 82, Anm. 1).
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6.2.4 Ideen/Unsichtbarkeit – Partizipanten von Ideen/Sichtbarkeit (79a1–5) Bereits jetzt könnte aus den Annahmen P1, P3* oder P3**, P7 das erste Konjunkt der Zwischenkonklusion 1 („Die Ideen sind unauf lösbar“), aus den Annahmen P2, P4 und P8 das zweite („ihre Partizipanten sind auf lösbar“) gefolgert werden. Dies wird jedoch weder hier noch an späterer Stelle explizit getan (nur implizit in der Bezeichnung der Ideen als „das Unauf lösbare“ und ihrer Partizipanten als „das Auf lösbare“ gegen Ende der Argumentation in 80b). Die Auslassung der naheliegenden Folgerung verunklärt die Struktur des Arguments. Stattdessen wird ein weiteres Paar von Eigenschaften eingeführt, nämlich Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit. Die Prämissen, mit denen sie eingeführt werden, spielen für die Begründung von 1 bereits keine Rolle mehr, sondern sind Prämissen, die für den ersten Teil der Begründung von 2 in 79b1–c1 (s. u. 6.3.1) benötigt werden, d. h. für die Begründung der Ähnlichkeit zwischen Seele und Ideen mit beider Unsichtbarkeit und für die der Ähnlichkeit zwischen Körper und Partizipanten von Ideen mit beider Sichtbarkeit. Sie lauten: P9 Alles, was sich nie verändert, ist nicht sichtbar. P10 Alles, was ein Partizipant ist, ist berührbar, sichtbar und mit den anderen Sinnen wahrnehmbar. Mit P10 paraphrasiere ich den ersten Teil des Satzes in 79a1–2 („Nun kann man diese Dinge berühren und sehen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen“), mit P9 den zweiten in 79a2–5 („bei denen aber, die sich gleich verhalten, ist es dir nicht möglich, sie anders als mit der Überlegung des Verstandes zu erfassen; vielmehr sind Dinge dieser Art unsichtbar und nicht dem Gesichtssinn zugänglich“). Aus P7 und P9 ergibt sich: K1 Alles, was eine Idee ist, ist nicht sichtbar, aus P10 K2 Alles, was ein Partizipant ist, ist sichtbar. K1 wird wichtig werden für die Behauptung der Ähnlichkeit zwischen Ideen und Seele hinsichtlich Unsichtbarkeit, K2 für die zwischen Partizipanten und Körper hinsichtlich Sichtbarkeit.
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6.2.5 Unsichtbare Ideen/Unveränderlichkeit – Sichtbare Partizipanten von Ideen / Veränderlichkeit (79a6–11) In den Zeilen 79a6–11 wird ein zweiteiliges Resümee gezogen (vgl. „oun“, „also“ 79a6): (a) Es gibt zwei Arten von Seiendem, Sichtbares einerseits, Unsichtbares andererseits, und (b) das Unsichtbare verändert sich nie, das Sichtbare verändert sich stets. Mit (b) scheint prima facie gesagt zu werden, dass sich alles Unsichtbare nie verändert, während sich alles Sichtbare stets verändert. So verstanden, wäre (b) jedoch eine weitere Prämisse (was mit dem bereits angeführten „oun“ in 79a6 schwer vereinbar ist), weder ableitbar aus einer der vorhergehenden Prämissen noch mit einer von ihnen identisch, und stünde zweitens im Widerspruch zu den späteren Aussagen, dass die Seele unsichtbar ist und dass sie sich verändert (vgl. Ebert 2004, 257). Keine der beiden Schwierigkeiten entsteht, wenn man den Ausdruck „das Unsichtbare“ („to aides“) exklusiv auf die Ideen, den Ausdruck „das Sichtbare“ („to horaton“) exklusiv auf ihre Partizipanten bezieht (vgl. Gallop 1975, 140) und entsprechend (a) als Resümee von P5 und P6, (b) als Resümee von P7 und P8 versteht. Nicht nur macht diese Interpretation das resümierende „oun“ verständlich; sie erklärt auch, warum später sowohl gesagt wird, dass die Seele unsichtbar ist (79b14–15), als auch, dass sie dem Unsichtbaren – d. h. den unsichtbaren Ideen – ähnlicher ist als der Körper (79b16–17). Wäre mit „dem Unsichtbaren“ hier alles Unsichtbare schlechthin gemeint und nicht nur die unsichtbaren Ideen, so ergäbe es unter Voraussetzung der Unsichtbarkeit der Seele wenig Sinn zu sagen, dass sie dem Unsichtbaren ähnlich ist (würde sie doch selbst zum Unsichtbaren gehören). Nach dieser Interpretation von „das Unsichtbare“ und „das Sichtbare“ ist die Unterscheidung der beiden Arten des Seienden in 79a6–11, des Unsichtbar-Unveränderlichen einerseits, des Sichtbar-Veränderlichen andererseits, keine erschöpfende Einteilung alles Seienden in zwei Klassen; die Seele gehört weder zu der einen noch zu der anderen, sondern nimmt eine Zwischenstellung zwischen beiden ein.
6.3 Abschnitt 2 (79b1–80a9): Begründung von 2 In diesem Abschnitt werden drei Indizien6 angeführt, die zusammengenommen (vgl. 80a10–b1) die mit 2 behauptete große Ähnlichkeit zwischen der Seele und den Ideen einerseits, zwischen dem Körper und den Partizipanten von Ideen andererseits plausibel machen sollen. Mit jedem dieser Indizien wird ein Paar von auf bestimmte Weise einander entgegengesetzten Eigenschaften A und B zur Sprache gebracht, für das gilt, dass die Seele durch den Besitz von A den Ideen, der Körper durch den Besitz von B den Partizipanten von Ideen ähnlich ist: In 79b1–c1 ist dies das Paar Unsichtbarkeit/ 6 Vgl. zum Terminus ‚Indizien‘ in diesem Kontext Frede 1999, 64–65.
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Sichtbarkeit, in 79c2–e7 das Paar Sich-immer-auf-dieselbe-Weise-Verhalten/Sich-nieauf-dieselbe-Weise-Verhalten, in 79e8–80a9 das Paar Herrschen/Beherrschtwerden.
6.3.1 Erstes Ähnlichkeits-Indiz: Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit (79b1–c1) Nach der – als selbstverständlich vorausgesetzten – Einteilung des Menschen in Körper und Seele in 79b1–3 wird zu Beginn (79b4–6) für den Körper festgestellt, dass er dem Sichtbaren – also den Partizipanten von Ideen (s. o. 6.2.5) – ähnlicher und verwandter sei als dem Unsichtbaren, also den Ideen. Der stillschweigend vorausgesetzte Grund dafür ist, dass der Körper sichtbar ist und damit eine Eigenschaft hat, die die Partizipanten haben (vgl. oben K2), die dagegen die Ideen nicht haben (vgl. oben K1). Dieser Grund ist äußerst schwach – dass der Körper dem Sichtbaren ähnlicher sei als dem Unsichtbaren, wird durch den Hinweis auf eine einzige Eigenschaft, die jeder Körper mit jedem Partizipanten, aber mit keiner Idee gemein hat, schwerlich gerechtfertigt. Die Aussage, dass der Körper dem Sichtbaren ähnlicher sei als dem Unsichtbaren, hat überdies einen merkwürdigen Klang; sie suggeriert, dass der Körper selbst kein Partizipant sei. Als solcher erscheint er jedoch an einer anderen Stelle des Phaidon (in 105b9–c2 ist vorausgesetzt, dass der Körper an der Idee der Wärme teilhat), und man würde darum erwarten, dass er nicht als dem Sichtbaren ähnlich und verwandt eingestuft, sondern unter das Sichtbare subsumiert wird. Die korrespondierende, in diesem Abschnitt noch nicht explizit formulierte Aussage über die Seele – dass sie dem Unsichtbaren ähnlicher und verwandter sei als dem Sichtbaren (vgl. später 79e3–5) – ist einem derartigen Einwand nicht ausgesetzt: Denn die Seele gehört tatsächlich nicht zum Unsichtbaren, i. e. den Ideen (s. o. 6.2.5), sondern ist ihm allenfalls ähnlich. Vielleicht ist die Wahl der merkwürdigen Aussage über den Körper durch den Wunsch motiviert, seine Beziehung zum Sichtbaren und zum Unsichtbaren als genau „spiegelverkehrt“ zu der Beziehung erscheinen zu lassen, die die Seele zu beiden unterhält. Die Unsichtbarkeit der Seele wird ausdrücklich in 79b7–15 behauptet.7 Und daraus, dass die Seele mit den Ideen die Eigenschaft der Unsichtbarkeit teilt, der Körper dagegen mit den Partizipanten die Eigenschaft der Sichtbarkeit, wird in 79b16–c1 gefolgert, dass die Seele größere Ähnlichkeit mit den Ideen hat als der Körper und dieser größere Ähnlichkeit mit den Partizipanten als die Seele. Für diese Folgerung gilt wiederum: Der Hinweis auf eine einzige Eigenschaft, die die Seele, nicht aber der Körper mit den Ideen teilt, reicht nicht aus plausibel zu machen, dass die Seele eine größere Ähnlichkeit mit den Ideen hat als der Körper, und der Hinweis auf eine einzige Eigenschaft, die der Körper, nicht aber die Seele mit den 7 Dabei lässt Platon Kebes einschränken: Unsichtbar sei die Seele für den Menschen. Möglicherweise (so die Vermutung von Rowe 1993, 185) ist dieser Vorbehalt eine Reminiszenz an die traditionelle homerische Vorstellung, derzufolge die Seelen nach dem Tod im Hades sichtbar sind (vgl. z. B. Odyssee 11,141).
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Partizipanten teilt, reicht ebenso wenig aus, plausibel zu machen, dass der Körper eine größere Ähnlichkeit mit den Partizipanten hat als die Seele. Weitere Indizien dafür sind vonnöten.
6.3.2 Zweites Ähnlichkeits-Indiz: Sich-stets-Verändern/ Sich-nie-Verändern (79c2–e7) Wie mit dem ersten Indiz wird auch mit dem zweiten auf ein bereits in Abschnitt 1 eingeführtes Begriffspaar zurückgegriffen: Sich-stets-Verändern und Sich-nie-Verändern (s. o. 6.2.2–3). Anders als im Falle des ersten Indizes wird die Ähnlichkeit der Seele mit den Ideen jetzt nicht mit der Zuschreibung einer gemeinsamen Eigenschaft (wie Unsichtbarkeit) plausibilisiert, sondern mit der These, dass das Prädikat „x verändert sich nie“, das auf die Ideen ohne Einschränkungen zutrifft (s. o. P7), unter bestimmten Umständen und mit bestimmten Einschränkungen auch auf die Seele zutrifft: Die Seele ist nicht simpliciter unveränderlich, aber sie verändert sich in einem bestimmten Zustand in Bezug auf bestimmte Dinge nie. „Nie“ heißt hier also nicht: „schlechthin nie“, sondern ist mit einer Einschränkung zu verstehen: „nie, solange dieser (möglicherweise zeitlich begrenzte) Zustand anhält“. Wenn sie, so heißt es mit Rekurs auf bereits an früherer Stelle (in Sokrates’ „Apologie“, 65a9–66a10) Gesagtes, in der Untersuchung einer Sache vom Körper Gebrauch macht, d. h. von den Sinneswahrnehmungen, so wird sie von ihm zu den Dingen gezogen, die sich stets verändern, und geht in die Irre, wird verwirrt und erleidet Schwindel, als wäre sie betrunken, weil sie es mit unsteten Dingen zu tun hat (79c2–9). Wenn sie die Untersuchung dagegen selbstständig, ohne sich auf Sinneswahrnehmungen zu stützen, anstellt, so ist sie bei dem, was sich nie verändert, und nimmt dabei selbst den Charakter eines Sich-nie-Verändernden an, weil sie es mit Dingen zu tun hat, die sich nie verändern (79d1–6). Die Veränderlichkeit, die ihr im erstgenannten Zustand zukommt, ist eine Veränderlichkeit ihres Urteilens über die veränderlichen Dinge. An der bereits genannten Stelle 74b7–9 wird ein Beispiel für diese Veränderlichkeit gegeben: Gleichgroße Steine und Hölzer erscheinen bald als gleichgroß, bald als nicht gleichgroß. Der Gedanke z. B., dass die Hölzer a und b gleichgroß sind, stellt sich zu einem Zeitpunkt (zu dem a und b gleichgroß sind) als wahr dar, zu einem anderen (zu dem a und b noch nicht oder nicht mehr gleichgroß sind) als unwahr. Er tut dies freilich nur dann, wenn er keine Zeitbestimmungen enthält, zeitlich indefinit ist (der wahre Gedanke, dass die Hölzer a und b zum Zeitpunkt t gleichgroß sind, stellt sich auch dann nicht als falsch dar, wenn a und b zu einem späteren Zeitpunkt als t nicht mehr gleichgroß sind). Eben dies scheint nun an unserer Stelle vorausgesetzt, wenn es heißt, dass die Seele, wenn sie es mit veränderlichen Dingen zu tun hat, in ihren Urteilen über diese in die Irre gerät, verwirrt wird
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und Schwindel erfährt (79c6–8) – sie gerät ins Schwanken, weil ihr zeitlich indefinite Gedanken über veränderliche Dinge bald als wahr, bald als falsch erscheinen. Beständiges Fürwahr- oder Fürfalschhalten ist im Umkehrschluss nur bei Gedanken über unveränderliche Dinge möglich (vgl. auch Ti. 29b5–c3 und dazu Strobel 2007, 278–282). Nur wenn die Seele ihre Überlegungen auf die unveränderlichen Entitäten richtet, kommt sie vom Umherirren ihres Urteilens zur Ruhe und gelangt zu Urteilen, die sich nicht bald als wahr, bald als falsch darstellen, sondern den Status von unfehlbarem Wissen haben. In diesem Zustand der Einsicht (phronêsis, 79d6–7) bleibt sie beständig bei ihren Überzeugungen und verändert sich in Bezug auf sie nie. Nun handelt es sich dabei prima facie bloß um einen bestimmten Zustand der Seele, der mit dem Zustand des Umherirrens (planos, 79d5) alterniert, zudem um einen, den „die Seele nur selten und durchaus nicht eine jede Seele […] erreichen kann“ (Ebert 2004, 262). Könnte man darum nicht den Zustand des Umherirrens mit gleichem Recht als Indiz für die große Ähnlichkeit der Seele mit den veränderlichen Entitäten betrachten? Aus welchem Grund wird der Zustand der phronêsis als der für die Seele charakteristischere ausgezeichnet? Der Grund ist, dass dieser Zustand etwas über ihre eigentliche Natur verrät, weil er darin gründet, wie die Seele an sich selbst (autê kath’ hautên, 79d1, d4) ist, während sie in den mit ihm kontrastierten Zustand des Umherirrens erst durch ihre Relation zum Körper, den sie beseelt, gerät. Ihre eigentliche Natur bleibt solange verdeckt, wie sie in ihren kognitiven Operationen vom Körper Gebrauch macht (vgl. tô sômati proschrêtai eis to skopein ti, 79c3), und tritt erst dann zutage, wenn sie ihre Untersuchung selbstständig anstellt (autê kath’ hautên skopê, 79d1), d. h. unabhängig vom Körper. Ihrer eigentlichen Natur nach hat sie in ihren Überzeugungen eine Beständigkeit, die sie nicht hat, wenn sie ihre Urteile in Abhängigkeit vom Körper trifft. Erst durch ihre Beziehung zum Körper gerät sie in ihren Überzeugungen ins Schwanken; unabhängig von ihm, an sich selbst ist sie in ihnen stabil. Unabhängig vom Körper die Untersuchung anzustellen, heißt sie ohne sinnliche Wahrnehmungen anzustellen. Dies geht ex negativo daraus hervor, dass der Gebrauch des Körpers in der Untersuchung einer Sache damit identifiziert wird, letztere mithilfe sinnlicher Wahrnehmung zu untersuchen (vgl. 70c4–5). Was aber heißt es wiederum, die Untersuchung ohne sinnliche Wahrnehmungen anzustellen? Damit dürfte gemeint sein, dass sich die Seele für die Untersuchung ausschließlich auf Überzeugungen stützt, die sie nicht aufgrund sinnlicher Wahrnehmung gewonnen hat. Als solche Überzeugungen erscheinen im Phaidon Überzeugungen über Ideen. Auch deren innerweltliche Genese setzt zwar in gewissem Sinne sinnliche Wahrnehmung voraus: Die (eingekörperte) Seele könnte – wie Frede 1999, 68, mit Recht betont – keine Gedanken über Ideen fassen, wenn sie dazu nicht von sinnlicher Wahrnehmung angestoßen werden würde (vgl. für die Idee des Gleichen 75a5–7). Aber der Grund dafür, dass sie diese Gedanken als wahr anerkennt, liegt nicht in sinnlicher Wahrnehmung, und
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in diesem Sinne gründen ihre entsprechenden Überzeugungen nicht in sinnlicher Wahrnehmung.8 (Die Möglichkeit, dass die Seele auch in den Denkprozessen, deren Gehalte Propositionen über Ideen sind, vom Körper abhängig ist und ohne ihn solche Denkprozesse nicht vollziehen könnte, wird nicht in Erwägung gezogen und entsprechend auch nicht ausgeschlossen; vielmehr wird die Abhängigkeit der Seele vom Körper in den Denkprozessen ganz einfach damit identifiziert, dass sie sich auf durch den Körper vermittelte Wahrnehmungen stützt.) In Verbindung mit dem ersten Indiz (vgl. kai ek tôn prosthen, 79d9) soll der Hinweis auf den Zustand der Stabilität, den die Seele in ihren Überzeugungen gewinnt, wenn sie in ihren Betrachtungen ihrer eigentlichen Natur entsprechend operiert, die These plausibel machen, dass sie den Dingen, die sich nie verändern (den Ideen), viel ähnlicher ist als denjenigen, die sich stets verändern (den Partizipanten). Diese in 79e2–5 formulierte These ist das Gegenstück zu der bereits im Rahmen des ersten Indizes formulierten These, dass der Körper den Partizipanten viel ähnlicher ist als den Ideen. Diese These wird in 79e6–7 wiederholt, mit dem Unterschied zur Formulierung in 79b6, dass die Ideen nun als „das sich immer auf dieselbe Weise Verhaltende“, ihre Partizipanten als „das sich nicht immer auf dieselbe Weise Verhaltende“ bezeichnet werden. Dabei war zuvor die Veränderlichkeit des Körpers gar nicht explizit zur Sprache gekommen; es war nur gesagt worden, dass er die Seele zum Veränderlichen hinzieht und in ihr Veränderlichkeit in den Überzeugungen bewirkt (vgl. 79c6–7). Diese Eigenschaft des Körpers soll offenbar bereits hinreichend dafür sein, dass er seinerseits veränderlich ist; vorausgesetzt für diesen Schluss ist das Prinzip der Übertragungskausalität (vgl. dazu z. B. Dancy 2004, 148f.), demzufolge eine Sache, die dafür verantwortlich ist, dass eine andere eine bestimmte Eigenschaft annimmt, selbst bereits über diese Eigenschaft verfügt. Formal betrachtet ist das zweite Indiz noch schwächer als das erste: Denn nun wird nicht einmal auf eine gemeinsame Eigenschaft von Seele und Ideen abgehoben, sondern auf eine Eigenschaft der Seele in einem bestimmten, für ihre eigentliche Natur charakteristischen Zustand (Sich-nie-Verändern in ihren Überzeugungen), die eine Ähnlichkeit hat mit einer Eigenschaft der Ideen (Sich-nie-Verändern simpliciter). Dennoch ist seine Suggestivkraft größer als die des ersten, da es mitsamt dieser Ähnlichkeit die kognitive Nähe der Seele zu den Ideen zur Sprache bringt: Wie Sokrates bereits an früherer Stelle (in der Verteidigung seiner positiven Haltung zum nahenden Tod) hervorgehoben hat, sind die Ideen nur dem Denken (dianoia) der Seele zugänglich (vgl. 65d4–66a10). Erst durch ihre Gemeinschaft mit einem Körper, den sie beseelt, hat sie Zugang zu den sinnlich wahrnehmbaren Partizipanten von Ideen; unabhängig von dieser Gemeinschaft, ihrer eigentlichen Natur nach sind die Gegenstände ihres Denkens Ideen. 8 Vgl. zur hier verwendeten Unterscheidung zwischen „dem Fassen des Gedankens“ und „der Anerkennung der Wahrheit des Gedankens“ Frege 1990, 346.
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6.3.3 Drittes Ähnlichkeits-Indiz: Beherrschtwerden/Herrschen (79e8–80a9) Mit dem dritten Indiz wird – wie mit dem zweiten – auf eine Eigenschaft der Seele hingewiesen, die einer Eigenschaft der – jetzt als „das Göttliche“ (vgl. „tô theiô“, 80a3 und a8, „to theion“, 80a4) apostrophierten – Ideen ähnlich ist: Ähnlich wie das Göttliche von Natur aus so beschaffen ist, dass es über das Sterbliche (to thnêton) herrscht (80a3–5), gibt die Natur vor (hê physis prostattei), dass die Seele über den von ihr beseelten Körper herrscht (80a1–2). Die Aussage, dass das Göttliche über das Sterbliche herrscht, ist an sich ein Gemeinplatz; hier ist sie es jedoch nicht: Denn mit dem Ausdruck „das Göttliche“ sind die Ideen gemeint – wobei der Kontrast „göttlich“/„sterblich“ zeigt, dass es die immerwährende Existenz der Ideen ist, die hier ihre Einstufung als „göttlich“ rechtfertigt –, und es ist nicht leicht zu sehen, was es heißen soll, dass die Ideen über das Sterbliche – i. e. ihre Partizipanten – herrschen (zur Vermeidung dieser Schwierigkeit bezieht Rowe 1993, 187, „das Göttliche“ nicht auf die Ideen, sondern auf die Götter). Da Herrschaft stricto sensu von intelligenten, Zwecke verfolgenden Wesen ausgeübt wird, die Ideen aber schwerlich als solche Wesen einzustufen sind, dürfte „Herrschaft“ hier in einem metaphorischen Sinne zu verstehen sein. Die Metapher lässt sich mit einer anderen verständlich machen, die im Phaidon zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Ideen und ihren jeweiligen Partizipanten gebraucht wird: Die Ideen „herrschen“ so über ihre Partizipanten, dass sie Modelle sind, denen letztere gleichzukommen streben, ohne dies zu erreichen (vgl. 74d9–e2, 75a1–3). Auch die Aussage, dass die Natur vorgibt, dass die Seele über den von ihr beseelten Körper herrscht, bereitet Schwierigkeiten, und zwar – wie Gallop 1975, 141 schreibt – „in face of Socrates’ continual stress upon the soul’s bondage to the body (e. g. 66b–d, 83c–e)“. Gallop (ebd.) schlägt als Lösung der Schwierigkeit vor, die Aussage als eine normative zu verstehen: „No doubt the conception of ‚nature‘, here as elsewhere in Plato, is normative. What ‚nature ordains‘ (80a1) is what ought to happen, not what usually does.“ Der Vorschlag klingt plausibel und hat den Vorteil zu erklären, warum es im Text nicht einfach heißt, dass die Seele über den Körper herrscht, sondern dass die Natur dies vorgibt. Freilich lässt er die Analogie zwischen der Herrschaft des Göttlichen über das Sterbliche und der der Seele über den Körper als schwach erscheinen (vgl. Bostock 1986, 119): Denn während für das Göttliche gilt, dass es tatsächlich über das Sterbliche herrscht (und nicht nur von Natur aus darüber herrschen sollte), würde der Seele lediglich zugeschrieben, von Natur aus über den Körper herrschen zu sollen. Zudem heißt es an einer späteren Stelle des Dialogs (94b4–5), dass nichts anderes von den Dingen im Menschen (oder: über die Dinge im Menschen, vgl. zu dieser Ambiguität Rowe 1993, 226) herrsche als die Seele, zumal die vernünftige. Hier fehlt zum einen die für die normative Lesart wichtige Einschränkung „von Natur aus“ (im Griechischen: „pephyke“); zum an-
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deren legt der Zusatz „zumal die vernünftige“ nahe, dass selbst die unvernünftige, an den Körper verlorene Seele in gewissem Sinne über diesen herrscht. Nun zeigt sich zwar die Herrschaft der Seele über den Körper dann am deutlichsten, wenn sie sich ihm (erfolgreich) widersetzt (vgl. 94b7–c2 und c9–e7). Aber auch dann, wenn sie keinen Widerstand leistet und es den Anschein hat, als habe sie sich dem Körper machtlos ergeben, könnte sie Widerstand leisten, und es ist entsprechend ihre Zustimmung zu dem, was der Körper sagt (vgl. 83d6–7, 94b7), die dafür verantwortlich ist, was der Mensch jeweils tut, dessen Seele sie ist. Daher kann selbst der Seele, die stets dem zustimmt, was der Körper sagt, eine Herrschaft über den Körper zugeschrieben werden (wobei sie diese Herrschaft schlecht ausübt und anders ausüben sollte). Die These, die mit dem dritten Indiz bekräftigt werden soll, wird in 80a7–9 formuliert: Dass nämlich die Seele dem Göttlichen, i. e. den Ideen, ähnlich ist, der Körper dem Sterblichen, i. e. den Partizipanten von Ideen. Darin soll offensichtlich sowohl impliziert sein, dass die Seele den Ideen ähnlicher ist als der Körper (vgl. 79b16–17), als auch, dass sie den Ideen ähnlicher ist als den Partizipanten von Ideen (vgl. 79e3–5).
6.4 Abschnitt 3 (80a10–b7): Formulierung von 1 und 2 Hier werden die bereits oben einleitend genannten (Zwischen-)Folgerungen formuliert, deren erste in Abschnitt 1, deren zweite in Abschnitt 2 begründet worden war: 1 Die Ideen sind unauf lösbar, ihre Partizipanten auf lösbar. 2 Unsere Seele ist den Ideen sehr ähnlich, unser Körper den Partizipanten von Ideen. Dass in 80a10–b7 endlich die lang erwartete (Zwischen-)Folgerung 1 erkennbar ist – zumindest implizit durch die Bezeichnung der Ideen als „das Unauf lösbare“ (80b2), ihrer Partizipanten als „das Auf lösbare“ (80b4) –, wird wiederum dadurch verunklärt, dass die Ausdrücke „Das Unauf lösbare“ und „Das Auf lösbare“ – auf die es für die Argumentation in erster Linie ankommt – nur inter alia als Bezeichnungen der Ideen resp. ihrer Partizipanten fungieren und in einer Reihe von Beschreibungen untergehen, die in Abschnitt 1 und 2 zur Charakterisierung der Ideen resp. ihrer Partizipanten verwendet wurden und hier nun in einer Art Reprise zusammengestellt werden. Hatte es schon irritiert, dass die (Zwischen-)Folgerung 1 in dem Abschnitt, der ihrer Begründung dient (Abschnitt 1) gar nicht formuliert wird, so irritiert jetzt, dass sie in 80a10–b7 nur so „versteckt“ enthalten ist. Die Klage der Interpreten, dass unser Argument wenig transparent dargeboten wird, ist nur allzu berechtigt. Sie ist es auch mit Blick darauf, dass die (Zwischen-)Folgerung 2 aus allen drei in Abschnitt 2 genannten Indizien zusammen (vgl. 80a10: „ek pantôn tôn eirêmenôn“) er-
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schlossen wird und die drei Indizien demnach die Funktion haben, zusammengenommen, in kumulativer Evidenz zu zeigen, dass die Seele den Ideen höchst ähnlich ist, der Körper dagegen den Partizipanten von Ideen. Diese Funktion wird dadurch verunklärt, dass an jedes der drei Indizien bereits jeweils eine Folgerung angeschlossen wurde, mit recht beliebiger Varianz der jeweiligen Formulierungen (in 79b16–c1, 79d9–e7, 80a7–9); all diese Folgerungen stellen sich nun als für die Gesamtargumentation belanglos heraus – was zählt, ist die (Zwischen-)Folgerung 2, die mit allen drei Indizien zusammen begründet wird.
6.5 Abschnitt 4 (80b8–c1): Formulierung von 3 Hier wird die Schlussfolgerung des Arguments formuliert: 3 Unser Körper wird (nach unserem Tod) schnell aufgelöst, unsere Seele ist ganz oder nahezu unauf lösbar. Das zweite Konjunkt dieser Folgerung wird auf höchst vorsichtige Weise formuliert: Es wird nicht die Unauf lösbarkeit der Seele gefolgert, sondern dass sie „gänzlich unauf lösbar ist oder nahezu“. Die Vorsicht ist verständlich, wenn man erstens bedenkt, dass es reichlich gewagt wäre, aus 1 und 2 die Unauf lösbarkeit der Seele zu folgern, und zweitens, dass die Begründung von 2 auf drei Indizien beruht, die auch zusammengenommen die Annahme der Unauf lösbarkeit der Seele lediglich erhärten können, aber nicht beweisen. Was genau damit gemeint ist, dass die Seele „nahezu unauf lösbar“ ist, bleibt unklar. Es könnte damit einerseits gemeint sein, dass die Seele zwar nicht unauf lösbar ist, aber de facto zu keinem Zeitpunkt aufgelöst werden wird (vgl. Ti. 41b2–6); andererseits, dass sie zwar nicht unauf lösbar ist, dass aber auch nicht gilt, dass sie so rasch wie der Körper nach dem Tod des Menschen zu Grunde geht. Nach der zweiten, schwächeren Lesart – die von den antiken Kommentatoren vertreten wird (vgl. Olympiodor, In Phaedonem 13.3.22–24 Westerink; Damaskios, In Phaedonem I § 329, II § 31.4, 34.8–10 Westerink) – bleibt offen, ob die Seele zu einem bestimmten Zeitpunkt de facto aufgelöst wird oder nicht; es wird lediglich festgehalten, dass dieser Zeitpunkt, falls die Seele de facto aufgelöst wird, später ist als der Zeitpunkt des Todes des Menschen und später als der Zeitpunkt der Auf lösung des Körpers. Die Sorge, die mit dem Ähnlichkeitsargument zerstreut werden soll, ist die, dass unsere Seele mit unserem Tod zu Grunde geht und uns nicht überdauert (vgl. 69e7–70b4, 77b3–c5). Eben diese Möglichkeit wird mit der Schlusskonklusion auch unter der zweiten, schwächeren Lesart ausgeschlossen. Die stärkere Lesart scheint insofern gar nicht nötig zu sein. Dass das Ziel der Argumentation lediglich das ist, die besagte Möglich-
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keit auszuschließen, wird auch dadurch nahegelegt, dass Sokrates in 80d8–e1 nochmals auf die Sorge „der vielen Menschen“ eingeht und ihr entgegenhält, dass seine Seele mit dem nahenden Tod nicht zu Grunde gehen, sondern ihn überdauern wird. Indem Platon das Ähnlichkeitsargument als Antwort auf jene Sorge inszeniert, macht er auch klar, dass es sich dabei nicht um einen Unsterblichkeitsbeweis handelt: Mit dem Argument soll nicht gezeigt werden, dass die Seele ewig existiert – geschweige denn, dass sie ewig lebendig ist –, sondern lediglich, dass sie sich nicht mit dem Tod auf löst. Aber auch diese schwache Schlussfolgerung folgt nicht aus 1 und 2. Die Seele mag den Ideen in noch so vielen Hinsichten ähnlich sein, aber eben in dieser einen Hinsicht unähnlich: dass sie sich, anders als die Ideen, (schneller oder langsamer) auf löst. Das Ähnlichkeitsargument ist somit formal nicht gültig. Dass Platon dies nicht entgangen ist, macht er insbesondere dadurch klar, dass er Simmias im Folgenden einen Einwand formulieren lässt, der die Ungültigkeit der Folgerung von 3 aus 1 und 2 offenlegt: Simmias führt die Stimmung eines Musikinstruments als Beispiel für etwas an, das aufgrund seiner Unsichtbarkeit, Unkörperlichkeit und Schönheit den Ideen sehr ähnlich, nichtsdestoweniger auf lösbar ist, und bestimmt die Seele als Stimmung des Körpers, die, obgleich schöner und göttlicher als der Körper, dennoch vor ihm zu Grunde gehe (91c7–d2). Sokrates wendet sich in seiner Antwort auf Simmias’ Bemerkungen zwar gegen diese Bestimmung der Seele, entkräftet aber nicht den Einwand gegen die Gültigkeit der Folgerung von 3 aus 1 und 2 (vgl. Ebert 2004, 267).
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7 Kenneth Dorter
The Objections of Simmias and Cebes (84c–89c)
Throughout the Phaedo Plato employs a three-level ontology that is central to the objections we will be examining: the ceaseless f lux of corporeal becoming, the timeless ground of intelligible being, and the mediating principle of soul in which corporeality and rationality are brought into relation with each other. This triad was the basis for the initial three proofs of immortality: the first focused on the implications of the repetitive cycles of corporeal becoming, the second on the soul itself and its recognition (“recollection”) of unchanging rational paradigms that correspond to its sensible experiences, and the third on the nature of the forms themselves and the soul’s kinship to them. The third argument also made all three levels explicit by measuring the soul’s resemblance to timeless intelligible reality on one hand, and transitory corporeal reality on the other, and showing that it is more like the former than the latter. Socrates’ argument there was based on an analogy: the soul is likely to resemble intelligible reality with respect to indestructibility, because it resembles intelligible reality in three other ways drawn once again from the corporeal, psychic, and intelligible realms: 1. soul does not have the corporeal character of being composite (78b–79c); 2. in its own learning it strives to distance itself from body and draw close to the intelligible (79c–e); and 3. like the intelligible and divine, the nature of soul is to rule over the corporeal (80a– b). Arguments from analogy can never be more than suggestive because it is always possible to find a different analogy, and accordingly Socrates’ conclusions were consistently stated there in a tentative way. The objections by Simmias and Cebes will cleverly undermine Socrates’ analogical reasoning by proposing alternative analogies.
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After the third argument Socrates silently considers what has been said. The silence lasts a long time (84c1–2) while Cebes and Simmias quietly discuss at length (84d5) their misgivings about the argument.1 When Socrates notices their hesitation to mention their misgivings, he acknowledges that the arguments contain many grounds for doubt and objection (84c), as he will do again at the end of the final argument (107b). Simmias explains that they were reluctant to burden him in his present misfortune, and Socrates reminds them that the whole point of his arguments has been that his present situation is no misfortune at all. So the objections reveal limitations not only in the logic of Socrates’ claims but also in their rhetorical effectiveness: they failed to persuade even the two most sophisticated members of his audience. In Socrates’ welcoming of death he compares himself to the swans, who have prophetic powers because they belong to Apollo, and who sing most beautifully when they are about to die because they know they are going to a better place (84e–85b). The reference perpetuates a musical leitmotif that has been present from the beginning, when Socrates said that he composed a hymn to Apollo, and put Aesop’s fables into verse, because of a recurring dream in which he was told to practice mousikē (60d–e), i. e. the arts, especially poetry and music. When Simmias and Cebes raised an objection after the second argument, Socrates called their fear of death childish, and when Cebes acknowledged that there may indeed be a child within them who fears death despite the arguments and who needs to be persuaded, Socrates suggested that they persuade their inner child by singing incantations to it until they have enchanted away its fears (77d–e). Again, at the end of the great myth Socrates says that even though the myth is not literally true, we should repeat such stories to ourselves as incantations (114d). Since the function of such incantations was to persuade the irrational part of our nature, the childlike part, the importance of persuasion is continually kept before us throughout the dialogue. In fact the word itself (various forms of peithō) is repeated more than fifty times in the Phaedo. Socrates’ comparison of himself to the singing swans, as he prepares to meet the objections of Simmias and Cebes, is a reminder of Socrates’ dual role here – as both philosopher and advocate or persuader. To have clear knowledge of these matters during our lifetime appears to be impossible or at least extremely difficult, Simmias says, but only someone soft would give up trying. We must either learn the truth about them from someone else or discover it for ourselves or, if we are not able to achieve either of these goals, at least take the best and most irrefutable human account – unless we can find a divine one – and cling to it like a raft as we are carried through the dangers of life (85c–d). This metaphor too resonates with an 1 Since Simmias and Cebes were talking to each other during what is described as a period of “silence”, and since both the silence and their talking are described as lengthy, when they are described as smikron pros allēlō dielegesthēn (84c4) this should be taken to mean “talking in a low voice” rather than “having a few words”. For the former view see Burnet 1911, 79; Bluck 1955, 86; Gallop 1975, 231 n42. For the latter see Hackforth 1955, 94 & n. Line numbers are from Platonis Opera vol. 1, 1995.
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image from the beginning of the dialogue (and prefigures Socrates’ comparison of his method of hypothesis to a “second sailing” at 99c–d). Socrates’ execution was delayed, we were told, because the prow of the ship that the Athenians send to Delos had been crowned with garlands the day before his trial, and law requires that from the crowning of the ship until its return Athens remain pure and free of executions. The annual voyage commemorates the rescue by Theseus of the fourteen children who were sent to King Minos of Crete every year as a tribute to be sacrificed to the Minotaur. Immediately after this explanation Echecrates asks who was present at Socrates’ execution, and Phaedo mentions exactly fourteen names.2 Phaedo acknowledges that others were present besides these fourteen (59b9–10), but Plato’s limiting of the list to fourteen creates a parallel with the children that Theseus rescued from the Minotaur. As the passage about singing incantations to our childish fears showed, one of Socrates’ roles in the dialogue is to rescue his audience from what Simmias here calls the dangers of life – which include not only the fear that death is the end of everything but also the danger that such a belief would encourage immoral behavior (107c–d). The allusion to the saving of the children from the child-eating Minotaur by Theseus is echoed here when Cebes asks Socrates to save the children within them from the fear of Mormolukeia3 (77e7–8) who, like the Minotaur, was a child-eating monster. Socrates is explicit about his role as an advocate with the mission of persuading his audience regardless of whether they can follow the logic of philosophical arguments:
I am presently in danger of behaving not as a philosopher, a lover of wisdom, but […] as a lover of victory. For they, too, when they dispute about something, do not consider how things stand with the matters under discussion, but are eager that what they set forth seem true to those who are present. And I seem to myself to differ from them only thus far: I am not eager that what I say seem true to those who are present, except as a by-product, but that to me myself it seem so as far as possible.4 (91a–b)
2 Apollodorus, Critoboulus and his father (Crito), Hermogenes, Epigenes, Aeschines, Antisthenes, Ktesippus, Menexenus, Simmias, Cebes, Phaedones, Eukleides, and Terpsion. Plato was absent due to illness. 3 Mormolukeia was “a vicious female spirit used to frighten children, a queen of the Laestrygones who lost her own children and so murders other children, or a Corinthian who ate her own children” (condensed from Oxford Classical Dictionary 1996: “Mormo”, 996). 4 Translations are my own unless otherwise indicated.
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7.1 The Objection of Simmias (85b–86d) Socrates’ third argument was, as we saw, an argument from analogy. Accordingly Simmias shows that a different analogy (one in which the musical leitmotif makes another reappearance) leads to the opposite conclusion: Someone might apply this same argument to harmony (harmonias), and a lyre and its strings, and say that harmony is something invisible, incorporeal, thoroughly beautiful, and divine in the tuned (hērmosmenei) lyre; whereas the lyre itself (autē hē lura) and strings are corporeal and of corporeal form (sōmatoeidē), composite, earthen, and connate to what is mortal. Then, if someone broke the lyre, or cut and ripped its strings, someone might rely on the same argument as you, that the attunement (harmonia) must still exist and not be destroyed – for it is not possible for the lyre and the strings, which are of mortal form (thnētoeideis), to continue to exist when the strings are broken, and for the attunement itself (autēn tēn harmonian) which is akin to and connate with the divine and immortal (theiou te kai athanatou), to be destroyed. (85e–86b) The argument is a reductio ad absurdum: it would be absurd to conclude that the attunement of the strings of a destroyed lyre still exists somewhere when there are no longer any strings or lyre; so the logic of the argument is faulty, and since Socrates’ argument relied on the same logic it too is faulty. Here again we find the three levels that Socrates spoke of in his third argument, the corporeal, intelligible, and mediate: the statement, “the lyre and strings are corporeal and of corporeal form” explicitly indicates the corporeal realm. What corresponds to the mediate level is the tuning of the strings: it enables the physical components to manifest the abstract aural ratios and makes the lyre what it is, just as “soul” is our name for what makes our bodily components capable of manifesting abstract rationality, and makes us what we are. The reference to “divine and immortal” is an explicit indication of the intelligible realm. Plato places linguistic reminders of the theory of forms throughout Simmias’ speech in formulas like “the lyre itself” and “harmony itself”, which are normally used with reference to the forms, as well as appearances of the term “form” (eidos) itself, in the compounds “corporeal form” and “mortal form”. When Socrates later restates Simmias’ position prior to refuting it, he says “Simmias is unconvinced, and fears that the soul, although it is more divine and beautiful than the body, is destroyed prior to it since it is in the form (eidei) of attunement” (91c–d).5
5 D. White writes with reference to Dorter 1982, “Dorter admits that the response to Simmias ‘has linguistic echoes of the theory of forms’, but evidently he does not believe this should be taken in a technical sense” (White 1989, 293n2). Insofar as they are references to the theory of forms they are references to forms in the
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Simmias’ objection is intended not only as a polemical counter-example but expresses the concept of soul that he himself accepts: And indeed I think that you yourself are aware that we very much suppose the soul to be something like this. Just as the body is tightened and held together by heat and cold and dry and wet and such things, our soul is a mixture and harmony of these things when they are beautifully and in due measure mixed with one another. If, then, the soul happens to be a harmony, it is clear that when the body is loosened or tightened unduly by diseases or other evils, it is necessary that the soul will immediately be destroyed even though it is most divine. (86b–c) The objection is an analogue of contemporary epiphenomenalism, the view that although consciousness may be logically distinct from the body and central nervous system – consciousness is inward and intensive while the body and central nervous system are spatially extended – it is nevertheless not ontologically independent of them. Consciousness is a phenomenon arising out of neuro-physiological states and merely ref lects them without possessing any autonomy. When evaluating Socrates’ eventual refutation of Simmias, readers should also consider how relevant Socrates’ arguments would be in relation to contemporary versions of this theory. It is surprising that Simmias would say, “we very much suppose the soul to be something like this”. “We” presumably refers to the Pythagoreans, since Simmias and Cebes were disciples of the Pythagorean Philolaus6 , as Plato informed us when he had Socrates ask Cebes, “Didn’t you and Simmias hear about these things [the Pythagorean view that suicide is wrong but that a philosopher should be willing to die] during your association with Philolaus?” (61d). But the Pythagorean doctrine of the soul was not the materialistic view that Simmias here proposes. We have no writings by Pythagoras himself, who revealed his doctrines only to initiates, but some of his disciples, including Philolaus, committed the doctrines to writing. Although Philolaus’ writings no longer survive in their original form, the 5th century CE anthologist Stobaeus quotes the following passage from Philolaus’s book On the Soul: The immovable part [of the world] extends from the soul, that embraces everything, to the moon; and the changing part from the moon to the earth (…) [I]t necessarily results thence that one of the parts of the world ever impresses motion, and that the other ever receives it passively. The one is entirely the domain of Mind and Soul, the other of Generation and Change; the one is technical sense, but when Socrates says, “the lyre itself and strings are corporeal,” he cannot mean that the metaphysical form of lyres is corporeal. 6 See Nails 2002, 82f. (Cebes), 260f. (Simmias).
K D anterior in power, and superior, the other is posterior and subordinate. (DK B 21, trans. Guthrie 1987, 174)
This dualism is obviously incompatible with Simmias’ epiphenomenalism. It has been suggested that if Simmias’ “we” cannot refer not to Pythagoreanism itself, it may refer to those who try to reconcile Pythagoreanism with Empedoclean medical theory.7 But against this Hackforth points out that (…) there is no direct evidence for any such development within the Pythagorean school; and the doctrine cannot be that of Philolaus himself. (…) Moreover (…) Aristotle, when he has occasion in the de anima [407b27] to mention what appears to be this very theory of Simmias, says nothing about its Pythagorean origin. (Hackforth 1955, 102) Hackforth suggests instead that by “we” Simmias here means “people in general,” but this is unlikely since, as Hackforth acknowledges, “most people would never have heard of the theory”.8 Since Simmias is identified as a student of the Pythagorean Philolaus, and there is no evidence of a Pythagorean rapprochement with Empedoclean philosophy, perhaps Plato intended the remark to show the limitations of Simmias’ intellectual acuity. Elsewhere in his book Philolaus writes: The soul is introduced and associated with the body by Number, and by a harmony simultaneously immortal and incorporeal (…); but when death has separated the soul therefrom, the soul lives an incorporeal existence in the cosmos. (DK B 22, trans. Guthrie 1987, 174) Does Plato want his audience to suppose that Simmias was misled by this conception of the soul as a kind of harmony, even though in context it can hardly be interpreted as Simmias does? If so, it would fit in with Cebes’ own uncertainty about the meaning of what Philolaus told them (61d–e). In having Simmias introduce this objection not as a hypothetical alternative but apparently as a Pythagorean view, Plato may be calling attention to Simmias’ philosophical limitations9 , and by extension the limitations of So7 See Burnet 1911, 82; also Bluck 1955, 85f. & 197f. 8 Hackforth’s defense against this objection does not allay it. He writes, “of course he is exaggerating […]; but such looseness of expression is natural enough in all ages: might not someone say today, ‘Most people regard the second Platonic Epistle as spurious’?” (1955, 103). In Hackforth’s example “most people” means the majority of people within a particular school, namely analytic Platonic scholars, but in that case Simmias too is speaking of a particular tradition within which he counts himself, which leaves us with the original question of which school he is referring to. 9 Cf. Christopher Rowe: “his Pythagorean credentials are poor; Plato represents him putting forward an unPythagorean theory of soul (as a ‘kind of harmony’ of bodily constituents)” – Oxford Classical Dictionary 1996, 1409.
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crates’ audience generally, which reminds us once again that Socrates’ role here cannot be limited to sophisticated philosophical arguments, and must also include rhetorical reassurances, the “incantations” mentioned earlier. Whatever its origin, we need to examine the implications of Simmias’ suggestion that the body may produce the soul the way a lyre produces harmony. When he says that the soul is a harmony of bodily elements, how are we to conceive of the elements themselves? If they are conceived of as inert matter, how is the harmony produced? Inert matter cannot arrange itself. There must be some principle of motion that enables the harmony to take place. But the principle of motion in Plato is the soul, so the model would be circular: in order for bodily elements to produce the harmony that is the soul, soul would have to move them into the appropriate relation to one another. The idea of soul as the principle of motion, on which Plato builds arguments for immortality in his subsequent dialogues,10 goes back two hundred years earlier to Thales, the founder of Greek philosophy, who said that even a magnet has soul because it moves iron (DK A 22). How can bodies, which are by nature in motion (80b), be conceived apart from the principle of motion? And how can bodies that have died go through the motions of decomposition unless the principle of motion is still present to them in some sense. As Plato would later write in the Timaeus, “for there to be what is moved, without the mover, or the mover without what is moved, is difficult, or rather impossible” (57e).11 We already saw a suggestion of this in the third argument, for example at 79c when Socrates concludes that “the soul is more like the invisible than the body, and the body more like the visible”: although the body is visible, it is here only said to be “more like” the visible, because “body” here means the living body, which thus already includes something of soul and thus has an aspect that is not entirely visible. Simmias could rescue his model from circularity by distinguishing between soul as the principle of motion and soul as the individual self: it is not circular to say that by virtue of a principle of motion (soul1 ) bodily elements may achieve a harmony that results in individual consciousness (soul2 ). The question then becomes whether these two conceptions of soul are related to each other only indirectly, so that soul as “self” (soul2 ) is distinct from soul as motive principle (soul1 ) and connected with it only through the body, or whether they are in some sense inseparable. If they turn out to be inseparable, then Simmias’ model cannot avoid circularity; and in fact they are inseparable. I mentioned earlier that for Plato soul is the mediating principle in which corporeality and rationality are brought into a relation with each other. This is possible only because 10 Cf. Phdr. 245c, Ti. 89e, Lg. 894b. 11 J. R. Skemp observes with regard to the Phaedrus’ distinction between the self-moving (soul) and what is moved by it (body): “In spite of what seems a sheer dichotomy between that which can move itself and that which receives and transmits motion, it is clear that Plato thinks of the two as conjoined in reality and implying one another” (1942, 6). Skemp subsequently relates this thesis to the Phaedo.
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for Plato there is no discontinuity between soul as the principle of motion in corporeality, and soul as rational consciousness.12 The exact extension of Plato’s concept of soul is not always clear, as we can see from the difference between its employment in the Phaedo and the Republic. In the Republic the soul is described as tripartite, composed of reason, spiritedness, and appetite (434d–445b), but the Phaedo identifies the soul with reason alone, and ascribes spiritedness and appetite to the body (68b–c). This does not mean that when Plato wrote the Phaedo he thought that these were part of the body, and when he wrote the Republic shortly afterwards decided they were parts of the soul instead; for if body meant corporeality devoid of life, neither appetite nor spiritedness would be possible for it. The point is, appetite and spiritedness are possible only for a being that is both embodied and alive, one that combines body and soul, so we can classify them on the side of the soul or on the side of the body, depending on our purpose. In a dialogue like the Republic, which is concerned with the virtues and the way our motivations conf lict and compete with one another, it is more helpful to classify appetite and spiritedness as belonging to the soul, and show how we are pulled in dif– ferent directions by our competing psychological impulses, but in a dialogue devoted to immortality it makes more sense to limit the term “soul” only to what is eternal in us, to what is independent of embodiment.13 But allusions to soul in its non-rational forms are present in the Phaedo as well. For example, Socrates introduced the first argument for the immortality of soul with the words, “Consider not only the case of human beings, if you wish to learn more readily, but also the case of all animals and plants and, in short, everything that comes to be” (70d). Human beings, animals, plants, and everything else that comes to be, indicate respectively the rational, spirited, appetitive, and impersonal (what the Timaeus calls the “world-soul”) forms of soul. But even the division into appetite, spiritedness, and reason is a simplification. As Socrates says in the Republic there may be any number of further divisions in between them (443e), so the whole of it may be considered as a continuum from the lowest to the highest, with three or four primary focal points.14 In its fullest sense, Plato conceives soul as a continuum that stretches between the corporeal (“what is moved”) and the rational (human reason). In Aristotle’s terms, it provides the link in nature between the material cause and the final cause: it is the reason why the corporeal world can be considered the product of rational goodness, as Socrates later claims (97b8–99c6). For Homer, as for our own religious traditions, “soul” refers to something personal and mystical, but in the Greek philosophical tradition beginning with Thales it is helpful to think of it as closer in meaning to all forms of what we mean by “energy”. 12 For a fuller discussion of this see Dorter 1982, 179–191. 13 Thus the Timaeus calls reason the immortal part of the soul, and appetite and spiritedness the mortal parts (44d, 70a). 14 I have discussed this in detail in Dorter 2006, especially pp. 111–123.
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In a dialogue like the Phaedo where Socrates simultaneously pursues goals not only of philosophical discovery but also of emotional reassurance for the child in us, Plato may prefer not to call attention to the difference between the philosophical and religious conceptions of soul, but in interpreting and evaluating what is said we should keep the distinction before us. Whenever Plato uses religious terminology we should always consider whether he may be using it not in the popular sense, but giving it an extended meaning. For example, there is often talk in the Phaedo about our souls existing in Hades, but after the third argument Socrates suggests that he is using “Hades” not in its Homeric sense of a shadowy ghostly underworld but in its etymological sense of “the unseen, the invisible”: “the soul, the invisible (to aides), goes to another such place that is noble and pure and invisible (aidē), to Hades (Haidou) most true” (80d). The term thus functions at the popular level to give emotional reassurance, and at the philosophical level as a metaphor for the Platonic realm of truth, reality in the sense of the intelligible realm not perceived by the senses rather than the visible world. This is reinforced a page later when Socrates says, in a passage that anticipates the way the prisoners in the cave are afraid of the light (Republic 515c–e), that after death the soul may be dragged back to the visible world “in fear of the invisible (aidous) and Hades (Haidou)” (81c). One of Plato’s writing strategies is to initially provide clear simple models that help us grasp fundamental distinctions, but then to show more subtly how reality is more nuanced and complex than the simplified models. We can already see how the simplicity of the three level ontology – corporeality, soul, and rational form – is complicated by the lack of a clear demarcation between body and soul, with appetite and spiritedness being progressive transitions between the corporeal and the rational, so that it is not possible to locate an unambiguous boundary where body ends and soul begins. Later in the dialogue it is the soul’s “upper” boundary, the clear demarcation between soul and form that is blurred, when Simmias interprets the recollection argument to mean that our souls possess “the essence which has the appellation ‘that which is’” (autēs estin hē ousia echousa tēn epōnymian tēn to “ho estin”, 92d8–9).15 Previously, in the third argument Socrates and Cebes agreed that the soul is invisible (79b) but since that would make it indistinguishable from the forms for which, in that passage, invisibility is the identifying feature, Socrates preserved the distinction by referring to the soul only as “more like” the invisible than the visible (79b16–17). After all, if soul means what gives movement and life to bodies, and to have “the mover without what is moved, is difficult, or rather impossible” (Ti. 57e), then soul always has a connection to body and to visibility in a way that does not apply to the pure intelligibility of the forms. At one extreme, therefore, soul as the principle of motion is present even in the motions of lifeless matter such as meteorological and geological phenomena, “everything that comes to be” (70d) – the 15 This anticipates the explicit breaking down of the boundary between Being and motion in the Sophist (245e– 249c) and Timaeus (29a–30b).
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Timaeus’ world-soul – while at the other extreme, as pure rationality it is contiguous with the forms themselves.
7.2 The Objection of Cebes (87b–88b) The model on which Cebes bases his objection is virtually the mirror image of the one Simmias employed. Where Simmias envisioned the soul as the product of a harmonious relationship of bodily elements, Cebes, on the contrary, envisions the body as a product of the activity of the soul (cf. Burnet 1911 on 87b7). Unlike Simmias, Cebes accepts Socrates’ argument that the soul exists before the body, and he distances himself from Simmias’ materialistic hypothesis, but he points out that even though he agrees that the soul is stronger than the body and superior to it, it does not follow that because the body continues to exist for a while after death, the soul must therefore continue to exist as well. Where Simmias employed a comparison with the attunement of a lyre to show how bodies can give rise to something incorporeal like the soul, Cebes enlists a comparison with weaving to illustrate the way the soul can produce a complex body. On that analogy, Cebes says, it is as if Socrates argued that when a weaver dies he must still exist somewhere because the last cloak he wove still exists: since a weaver is stronger and longer lasting than a cloak, if the cloak exists so must the weaver. However, a weaver produces and wears out many cloaks over the course of his life, and outlasts many of them, so it does not follow that he must be weaker and shorter lived than a cloak if the most recently woven one continues to exist when he himself has ceased to be. In the same way, we might say that the soul weaves many bodies over the course of its life since the body is always in f lux and continually needs to be rewoven, and the soul outlasts all but the one it is wearing when it dies: “every soul wears out many bodies, especially in a life of many years – because although the body is in f lux and perishes while the person is still alive, nevertheless the soul always reweaves what is worn out” (87d). Cebes does not say whether he personally subscribes to this model, as Simmias did, but its basic elements had already been put forward by Socrates himself in the Symposium: Even while each living thing is said to be alive and to be the same – as a person is said to be the same from childhood till he turns into an old man – even then he never consists of the same things, though he is called the same, but he is always being renewed and in other respects passing away, in his hair and f lesh and bones and blood and his entire body. (207d–e, translated by Nehamas and Woodruff [Cooper and Hutchinson 1997]) The doctrine may have been alluded to earlier in the Phaedo, as well, in the opening reference to the ship that sailed to Delos (58a–c). Plutarch writes:
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The ship wherein Theseus and the youth of Athens returned had thirty oars, and was preserved by the Athenians down even to the time of Demetrius Phalereus, for they took away the old planks as they decayed, putting in new and stronger timber in their place, insomuch that this ship became a standing example among the philosophers, for the logical question of things that grow; one side holding that the ship remained the same, and the other contending that it was not the same. (The Life of Theseus, 23, in: Plutarch 1914/15) Cebes’ point is that while all the stages of our bodily transformations are produced by our soul, that is no reason why the soul must continue to exist if the final form of our body continues to exist for a while after our death, even if the soul is stronger and longer lasting than the body. This argument too is a reductio ad absurdum: it would be absurd to conclude that a weaver survives his death just because the last cloak that he wove still survives, and Socrates’ argument relies on the same logic. Moreover, Cebes continues, even if we grant that the soul continues to exist after the body dies and that the soul not only continually weaves new versions of the present body but also weaves completely new bodies in subsequent reincarnations, this still would not mean the soul is immortal. It may wear itself out after many of these reincarnations and eventually die after completing the last one – which may in fact be the present one, in which case our soul would die along with our present body. In this model, two of the three levels of reality are directly present: the soul and the corporeal materials from which it weaves the body. The third level is only implicit here – the intelligible paradigm of life which serves as the inherent model for the soul’s weaving activity – and is first made explicit in Socrates’ reply (105d).
7.3 The Relationship of the Objections Whether Simmias’ analogy was a misunderstanding of the Pythagorean view, or a representation of some Empedocles-inf luenced variant that we have no record of, it presented Socrates with a challenge from the perspective of materialism. Cebes’ analogy comes from the opposite direction, from the perspective of popular religion, which conceives of the soul as entering into an embryo and directing its development and fate. Taken together they present Socrates with a kind of dilemma: if what we call the soul or self is nothing more than the product of bodily elements in a certain relationship to each other, then it necessarily would cease to exist upon the dissolution of the body; on the other hand, even if the soul is ontologically prior to and the governing cause of the body, and therefore not necessarily affected by the body’s dissolution, nothing in this model is incompatible with the possibility that the soul may cease to exist for some other reason after the death of the body, for example the kind of dissolution mentioned at 77e. Cebes
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model, unlike that of Simmias, does not claim to prove that the soul dies with the body. It claims only that Socrates has failed to prove that it does not die with the body. Normally when one of his listeners raises an objection Socrates replies to it immediately, and if another objection is raised he then replies to that one. But after hearing Simmias’ objection Socrates says that before answering Simmias he wants to hear Cebes’ objection “so that we will gain time to deliberate on what to answer” (86e). If this explanation is not very convincing – listening to a second objection does not really give us more time to think of an answer to the first since we then need to think of answers to both – it is because it is simply an excuse to present the two arguments together to highlight their complementarity. Socrates reinforces this impression when he subsequently refers to the two arguments in the singular as “the argument of Simmias and Cebes” (89c) and compares them to husband and wife, Cadmus and Harmonia (95a). They are also spoken of in the singular at 89a4, 89a8, and 91b8;16 and before replying to Simmias he restates not only Simmias’ argument but Cebes’ as well (91c–d), even though he will restate it again when he is ready to reply to it (95b–d). That the two arguments are meant to be considered together in this way is suggested not only by their complementarity and constant conjunction, but also by the fact that Cebes’ weaver metaphor, which made their complementarity so conspicuous, is abandoned as soon as the discussion of Simmias’ objection is complete. It was present in Cebes’ initial statement of the objection (87b–e), and implicit in Socrates’ reference to the soul’s “wearing out” a series of bodies, when he restated it prior to refuting Simmias (91d). But after refuting Simmias, when Socrates restates Cebes’ objection once again before replying to it, the weaver metaphor disappears entirely and is replaced by a different metaphor that recurs throughout the Phaedo. No longer is the body seen as a product of the soul, which the soul may leave behind when the body perishes, but the soul’s entry into the body is now described as “the beginning of its destruction, like a sickness” (95d1–3). The addition of this conception and the leaving out of any reference to the weaver metaphor, gives point to Socrates’ concluding invitation to Cebes (not made in his previous summaries) to “add or subtract anything if you wish”. Cebes replies that “at present” he does not wish to add or subtract anything. Socrates has preserved the main point – that the soul may be long lasting without being immortal – even though he substituted a different metaphor that no longer suggests any relationship to Simmias’ view. The new metaphor presents a different kind of antithesis to Simmias’ model than the weaver metaphor did: now it is the life of the body, not its death, that is a threat to the soul. The full significance of the complementarity of the two arguments becomes clearer if we look more closely at Cebes’ weaver metaphor which, like Simmias’ tuning metaphor, is not as straightforward as it seems. How are we to picture a soul “weaving” a body? If we restrict the meaning of “soul” to our rationality alone – the sense it usually has in the 16 He does refer to them in the plural at 89a5.
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Phaedo – then weaving the body would have to be a conscious action, but that is obviously not the case. At the other extreme, neither can it refer to the world soul – the motive force of “everything that comes to be” (70d) – which is wholly impersonal “energy” with no connection to unique identities. Instead we must think of the soul here as what the Republic calls the appetitive principle. The initial embryo continually ingests nutrients and assimilates them to its pattern: milk does not make the embryo milky, any more than a garment that a weaver makes from wool resembles a sheep. But the appetitive soul already involves corporeality, a body, as the Phaedo has insisted (68b–c); it is not pure disembodied soul like reason. It does not weave the body by reaching down with little soul hands to manipulate corporeal material that is external to it; rather it is the internal motive principle within that body. Just as in Simmias’ model the body could not harmonize its elements to create the rational soul if it were not already ensouled in some way, the soul in Cebes’ model could not weave a body if it were not already embodied in some way. The ensouled body and the embodied soul are the husband and wife of Socrates’ Cadmus/Harmonia reference. But husband and wife are not the same person, and like many married couples the arguments of Simmias and Cebes do not share the same point of view. Although both begin with the psychosomatic composite, whether conceived as an animate body or an embodied anima, Simmias sees in it the source of the rational soul, while Cebes sees it as the source of the fully developed body. Nevertheless, both take physical causality as their pattern of explanation, whether modeled on tuning a lyre or weaving a cloak. As a result there is no place for the non-physical reality of the mind: for Simmias it is simply an epiphenomenon of the physical; while in Cebes’ model soul is present only in the form of appetite, and any reference to the forms must be inferred – Cebes himself never makes the connection. Accordingly Socrates will reply to Simmias by showing how the rational form of goodness cannot be reduced to a product of physical causality (93e–94d), and to Cebes by showing how explanations based on physical causality must be superseded and supplemented by those based on formal and teleological causality (96a–106d).
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8 Bernd Manuwald
Welchem Logos kann man noch vertrauen? Die harmonia-These als Gefährdung des Beweisgangs für die Unsterblichkeit der Seele (89b–95a)
Nach Sokrates’ ersten Beweisführungen für die Unsterblichkeit der Seele (69e–84b) herrschte bei den Zuhörern, wie Phaidon seinem Gesprächspartner Echekrates berichtet, zunächst ein beeindrucktes Schweigen: Lediglich Simmias und Kebes f lüsterten miteinander und wurden deswegen von Sokrates zu einer Meinungsäußerung aufgefordert (84cd). Aufgrund ihrer skeptischen Einwände (Simmias: 85e–86d; Kebes: 86e–88c) entstand dann unter den Anwesenden ein unbehagliches Gefühl, weil sie wieder verunsichert waren und überhaupt an der Möglichkeit, Gewissheit erzielen zu können, zu zweifeln begannen (88c1–7). Aus diesem Bericht ergibt sich für den zuhörenden Echekrates (und den Leser des Dialogs) die Frage, ob bzw. wie Sokrates in der Lage ist, solchen Bedenken entgegenzuwirken, ob er dem logos, seiner Argumentation, hinreichend zu Hilfe kommen kann (88e2f.). Platon hat diesen entscheidenden Wendepunkt des Dialogs in doppelter Weise hervorgehoben: Formal unterbricht er – kompositorisch ungefähr in der Mitte des Werks – den von Phaidon erzählten Dialog durch ein Zwischengespräch des Erzählers mit Echekrates (88c8–89a9), thematisch durch Phaidons Wiedergabe der Ausführungen des Sokrates über die „Misologie“, die Abneigung gegen rationales Argumentieren (89d1–91c6), dem einzigen Abschnitt, in dem der Namengeber des Dialogs auch Gesprächspartner des Sokrates ist. Danach erst wird das Sachthema wieder aufgenommen: Nachdem er die Bedenken des Simmias und des Kebes rekapituliert hat (91c7–e1), lässt sich Sokrates zuerst bestätigen, dass von seinen bisherigen Argumenten das aus der Anamnesis-Lehre gewonnene weiterhin gelten solle (91e2–92a5), und wendet sich dann dem Einwand des Simmias zu, die Seele sei eine „Stimmung“, eine harmonia (92a6–95a3). Durch die kompositorische Einordnung ist also der Abschnitt über die Misologie unmittelbar mit dem anschließenden Beweisgang gegen die harmonia-These verbunden, aber diese Ausführungen sind weit über den Kontext im Phaidon hinaus von grund-
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sätzlicher Bedeutung für Platons Philosophiekonzeption, da es darum geht, wie man argumentativ zu richtigen Ergebnissen kommen kann. Denn wenn es sich als unmöglich herausstellte, dass sich eine so entscheidende Frage, wie es die nach der Unsterblichkeit der Seele ist, durch die Argumentation des Sokrates beantworten ließe, verlöre dessen Methodik nicht nur in der konkreten Sachproblematik an Überzeugungskraft. Die Relevanz der Ausführungen über die Misologie als Hinleitung zur anschließenden Argumentation wird denn auch durch eine geradezu dramatische Szenerie hervorgehoben: Nicht morgen, meint Sokrates (Phaidons Haare zusammenfassend), wenn er tot sei, solle Phaidon sein Haupt scheren, sondern heute wolle er selbst seine Haare abschneiden und auch Phaidon solle das tun, wenn ihnen der Logos stürbe und nicht wiederbelebt werden könne, und an Phaidons Stelle würde er schwören, sein Haar nicht wieder wachsen zu lassen, bevor er nicht die Argumente des Simmias und des Kebes siegreich überwunden habe (89b4–c4). Die Schwierigkeit des Vorhabens sowie die Perspektive des letztendlichen Sieges werden durch die scheinbar spielerische Parallelisierung mit Herakles und dem „Helfer“ Iolaos noch betont. Platon will also mit dieser Szene der defätistischen Befürchtung der Zuhörer (und Leser), die Gesprächspartner seien zu einer Entscheidung nicht fähig oder der (untersuchte) Gegenstand selbst lasse ein Ergebnis, dem man vertrauen könne, nicht zu (88c6f.), die unbedingte Zuversicht entgegensetzen, argumentativ zu einer Lösung kommen zu können; die paradoxe Vorstellung, dass Phaidon andernfalls sein Haar lebenslang kurz geschoren tragen müsse, macht diese Gewissheit sinnfällig.1 Wenn man aber zu einer Lösung kommen will, müsse man sich, so führt Sokrates weiter aus, einer bestimmten technê bedienen. Das Schlimmste nämlich, was einem beim Umgehen mit Argumenten widerfahren könne, sei, ein Misologos zu werden, sodass man sich davor unbedingt hüten müsse (vgl. 89c11–d3).2 Ausführlich legt Sokrates dar (89d3–90b3), die Abneigung gegen Argumente komme auf dieselbe Weise zustande wie die Abneigung gegen Menschen (Misanthropie). Das ist deswegen bemerkenswert, weil die Misologie, wie sich später herausstellt, gar nicht in jeder Hinsicht der Misanthropie
1 Sokrates verweist auf das Verhalten der Argiver, die nach dem Verlust von Thyrea an die Lakedaimonier festgesetzt haben sollen, das Haar erst nach der Wiedergewinnung von Thyrea wieder wachsen zu lassen (Herodot 1,82,7). Tatsächlich haben die Argiver das Gebiet wiedererlangt, leider ist aber unklar, wann das geschah. Das Gebiet blieb umstritten (vgl. Thukydides 5,41). Zur Zeit des Pausanias war es jedenfalls wieder argivisch, und die Argiver behaupteten, es durch einen Schiedsspruch zurückgewonnen zu haben (Pausanias 2,38,5). Man vermutet eine Rückeroberung wohl im Zusammenhang der Ereignisse des Jahres 370/369 v. Chr. (Diodor 15,64,2) und eine Bestätigung durch Philipp II. im Jahr 338 v. Chr. (nach Pieske 1924, 45; Lafond 1999, 980). Sollte der Termin 370/369 zutreffen, liegt er möglicherweise nach der Veröffentlichung des Phaidon. Für den Leser, der von der Rückgewinnung Thyreas noch nichts weiß, ist das tertium comparationis dann jeweils die Hartnäckigkeit, mit der das Ziel verfolgt wird, für den Leser, der die Rückgewinnung kennt, auch noch, dass sich die Beharrlichkeit auszahlt. 2 Vgl. zum „größten Übel“ aber auch 83c2–9 und dazu Gallop 1975, 153f.
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analog sein soll (90b4ff.); daher stellt sich die Frage, welche Elemente denn übertragen werden können. Die Misanthropie entstehe, wenn man ohne die entsprechende technê (womit hier konkret die Fähigkeit gemeint ist, richtig mit Menschen umgehen zu können) einem Menschen sehr vertraut und ihn für vollkommen wahrhaftig, in Ordnung und vertrauenswürdig hält, wenig später das Gegenteil feststellen muss, und einem das wiederholt gerade bei den vertrautesten Personen geschehe. Dann hasse man schließlich alle und glaube an überhaupt nichts Gesundes mehr, wo es doch schändlich ist, ohne die technê in Menschendingen mit Menschen umzugehen, während man mithilfe dieser technê die Realität hätte erkennen können: Es gebe nur sehr wenige ganz3 Gute und Schlechte, die meisten seien dazwischen (89d4–90a2). Die Konsequenz, dass dann fast niemand uneingeschränktes Vertrauen verdient, sondern man auf der Grundlage der richtigen technê jeweils prüfen muss (besonders die unklaren mittleren Fälle), wird nicht ausgesprochen. Vielmehr erklärt Sokrates auf eine Verständnisfrage Phaidons, Extremfälle seien generell – auch in anderen Bereichen – selten, das Dazwischenliegende dagegen häufig, und selbst bei einem Wettbewerb um die Schlechtigkeit würden sich nur ganz wenige als die Ersten erweisen (90a3–b3). Aber gerade in diesem Punkt will Sokrates die Analogie zwischen Misologie und Misanthropie nicht gelten lassen (90b4f.), was wohl bedeuten soll, dass an schlechten Argumenten (im Unterschied zu ganz schlechten Menschen) kein Mangel ist.4 Vielmehr bestehe die Entsprechung in Folgendem: Wenn man ohne die auf die Argumente bezügliche technê einer Argumentation vertraue, sie sei richtig, und wenig später erscheine sie einem falsch (manchmal zu Recht, manchmal aber nicht), und das immer wieder vorkomme – hier bricht der Satz anakoluthisch ab; die Konsequenz, dann lege man sich eine Abneigung gegen Argumente zu, wird nicht ausgesprochen (90b6–9), ist aber klar. Man kann sich allerdings fragen, warum Platon, wenn die Analogie nur in der durch den parallelen Entstehungsprozess begründeten ablehnenden Haltung gegenüber Menschen bzw. Argumenten bestehen soll, die Ausführungen über das zahlenmäßige Verhältnis der Extreme zu den Zwischenstufen eingefügt hat. Vermutlich soll damit angedeutet werden, dass die Analogie nur nicht in den extrem schlechten Fällen gilt, dass in den anderen aber eben doch eine gleichartige Zahlenrelation anzunehmen ist. D. h., wie die sehr guten Menschen werden auch die völlig sicheren Argumente selten sein und die meisten eine irgendwo zwischen den Extremen liegende Qualität haben, 3 Zum Bezug von sphodra (90a1) vgl. Rowe 1993, 213. 4 Wenn man (z. B. mit Rowe 1993, 213) tautê (90b4) auf die Aussage über den Schlechtigkeitswettbewerb bezieht (90b1f.). Vgl. auch Ebert 2004, 302. Anders sieht den Unterschied zwischen Menschen und Argumenten Dorter 1982, 89: „Arguments […] are not generally ‚in between‘ soundness and unsoundness and the reason their merit or lack of merit is so difficult to discern must be a fault in us, not in them.“
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in deren Beurteilung man ohne die notwendige technê besonders schwanken kann – und nichts anderes ist den Zuhörern nach den Einwänden von Simmias und Kebes widerfahren.5 Der Besitz der richtigen technê stellt sich also als unbedingt notwendig dar. Statt mit der im Anakoluth-Satz angelegten Konsequenz fährt der platonische Sokrates mit einem Seitenhieb gegen diejenigen fort, die – in offenbar extremer Ausnutzung der Möglichkeit des Schwankens in der Beurteilung der Qualität von Argumenten – ihre Zeit mit sich ausschließenden Argumenten verbringen.6 Diese glaubten schließlich, weise zu sein und als einzige erkannt zu haben, dass weder die Gegenstände noch die Erörterungen darüber irgendetwas Gesundes oder Gewisses hätten, sondern diese unstet hin und her wogten (90b9–c7). Wäre es also, Phaidon, sagte er, nicht eine jammervolle Erfahrung, wenn jemand, obwohl es ein wahres und gewisses Argument gibt und eines, das man einsehen kann, dann trotzdem, weil er mit solchen Argumenten zu tun hat, die als dieselben bald wahr zu sein scheinen, bald aber nicht, nicht sich selbst beschuldigte und auch nicht seine fehlende technê, sondern schließlich wegen seines quälenden Unbehagens gern die Schuld von sich auf die Argumente wegstieße und nunmehr sein restliches Leben in Hass und Schmähung der Argumente verbrächte, aber der Wirklichkeit, der Wahrheit und der Erkenntnis beraubt wäre? (90c7–d7) Durch die Formulierung dieser Frage lässt Platon Sokrates deutlich zum Ausdruck bringen, dass es für ihn zuverlässige und der menschlichen Erkenntnismöglichkeit zugängliche Argumentationsverfahren gibt (wenn man eine technê besitzt) und dass, wenn man dies nicht akzeptiert, der Zugang zu den wirklich seienden Dingen, zu ihrer Evidenz und zum Wissen versperrt wäre.7 5 Wenn wir annehmen, dass jedenfalls nicht alle der zuvor besprochenen Argumente zu der Spitzengruppe gehören. Zu einer sich erst später herausstellenden Ausnahme s.u. S. 116. 6 Vgl. zu den antilogikoi logoi Rowe 1993, 213f. Es handelt sich um einen Seitenhieb gegen die Sophisten; vgl. Ebert 2004, 303. 7 Der Satz wird meist so übersetzt, als ob der Genitivus absolutus (ontos […] katanoêsai), der in einem Bedingungssatz steht, selbst eine Bedingung von fraglicher Erfüllbarkeit wäre, z. B. Ebert 2004: „[…] wenn es tatsächlich ein wahres und sicheres Argument gäbe […] und wenn dann trotzdem jemand […]“; Gallop 1976/86: „if there were in fact some true and secure argument“; Dorter 1982, 88: „if there were some argument that was true […]“; Rowe 1993, 214 zu c9: „‚when there really existed‘“. Aber dê gehört nicht zu ei, wie Ebert anzunehmen scheint. Platon gebraucht ei dê entweder zusammenhängend oder es treten Konjunktionen bzw. Partikel dazwischen (ei men dê, ei de dê, ei gar dê, ei ge dê). Nur an dieser Stelle steht (nach Überprüfung im TLG) ein Partizip zwischen ei und dê, was dafür spricht, dass nicht die Verbindung ei … dê vorliegt; dê gehört auch nicht zu ontos, sondern es ist die idiomatische Verbindung dê tis anzunehmen (Burnet 1911 zu 90c9; Denniston 1954, 214f.). D. h. es existiert ein – nicht näher spezifiziertes – sicheres Argument. Das gibt aber, gerade auch angesichts des folgenden epeita (vgl. Kühner, Gerth 1898–1904 II, 85f. Anm. 8; Rowe 1993, 214 zu d1: „‚even
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Mit dieser Einschätzung antwortet Sokrates zugleich auch auf die gemäßigt skeptische Haltung, die Simmias (85c–d) an den Tag gelegt hatte. Er war der Ansicht, eine Lösung der Frage (nach der Unsterblichkeit der Seele) sei im jetzigen Leben unmöglich oder ganz schwierig, wollte aber nicht aufhören, alle Argumente zu prüfen. Denn entweder müsse man die Wahrheit herausfinden oder wenigstens sich an die beste und am schwierigsten zu widerlegende menschenmögliche Argumentation halten, es sei denn, es verfüge jemand über ein „göttliches Argument“ (theios logos)8 , mit dem er eine sicherere und gefahrlosere Fahrt auf einem „Gefährt von größerer Zuverlässigkeit“ (bebaioterou, 85d3) durchführen könne. Dem setzt Sokrates ein (sc. menschlicher) Einsicht zugängliches wahres und zuverlässiges (bebaiou, 90c9) Argument (logos) entgegen und lehnt damit nicht nur den völligen Agnostizismus derjenigen, die sich auf einander ausschließende Argumente verlegt haben, strikt ab, sondern geht, zumindest an dieser Stelle, auch über die pragmatische Einstellung des Simmias hinaus.9 Die Aussage des Sokrates hat Folgen für das Verständnis des ganzen Dialogs. Denn Sokrates will doch damit wohl andeuten, dass er einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele für eine prinzipiell lösbare Aufgabe hält, wie gleich anschließend auch aus seinen Worten an Simmias zu entnehmen ist (vgl. auch 107b4–9, bes. b8f.).10 Denn aus seiner Haltung zur Möglichkeit gesicherter Erkenntnis zieht Sokrates die Konsequenz, man solle nicht die Vorstellung in seine Seele hineinlassen, dass es bei den Argumenten nichts „Gesundes“ gebe, vielmehr annehmen, dass wir uns noch nicht „gethen‘, ‚despite that‘“), nur einen Sinn, wenn das Gegebensein von ontos […] katanoêsai selbst nicht fraglich ist. Außerdem steht der ganze Satz (90c7–d7) in Opposition zu dem Verdikt über die agnostischen Antilogiker. Da wäre es widersinnig, wenn Sokrates nun seinerseits die Möglichkeit, argumentativ zu gewisser Erkenntnis zu kommen, infrage stellte. 8 Mit theios dürfte die Qualität des logos im Unterschied zu den (unzweifelhaft möglichen) menschlichen Bemühungen gemeint sein und nicht seine Herkunft im Sinne der Offenbarung eine orphischen Lehre (so aber Gallop 1975/86, 146; auch Hackforth 1955, 101). Immerhin hält Sokrates die Seele für dem Göttlichen ähnlich (vgl. 80a–b). 9 Anders Rowe 1993, 202, der in diesem Punkt eine Übereinstimmung zwischen Simmias und Sokrates annimmt. Er verweist u. a. auf 100a3–7. Ebenso versteht Heitsch 2001, 95, die letztgenannte Stelle von der Äußerung des Simmias her, ohne die Aussage des Sokrates 90cd mit einzubeziehen. Aber Sokrates sagt nicht nur 100a3–7, dass er, was er mit Hilfe der Hypothesis-Methode gewinnt, als wahr ansetzt, sondern er glaubt – wie er im weiteren Zusammenhang ausführt –, wenn er die Ideen-Hypothese zugrunde lege, niemals zu Fall zu kommen, er hält sie für sicher (asphales, 100e1). 10 Zwar steht auch hier (wie bei Simmias 85c–d) eine Einschränkung „soweit das am ehesten einem Menschen möglich ist“ (107b7f.), aber es wird auch ein Ende der Suche als möglich angesehen. Die Einschränkung ist als Gegensatz zur ungehinderten Erkenntnismöglichkeit der vom Körper gelösten Seele zu verstehen (66e), wo aber auch von der Möglichkeit die Rede ist, „überaus nahe am Wissen“ zu sein (67a). Auch im Erdenleben ist – mit größter Anstrengung, versteht sich – ein sicheres Ergebnis (saphes, 107b9) zu erreichen, eben das, was Simmias skeptisch gesehen hatte (85c3f.). Anders Heitsch 2000, 40f., mit Anm. 92. – Wenn Sokrates 66a–67b die Erkenntnismöglichkeit vor dem Tode zurückhaltender beurteilt als an anderen Stellen, so hängt das damit zusammen, dass hier der Tod für den Philosophen als besonders erstrebenswert erscheinen soll.
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sund“ verhalten, und man müsse – das gelte für das ganze weitere Leben seiner Zuhörer – alles daran setzen, in einen solchen Zustand zu kommen (90d8–e4). Dieses Ziel wird von Sokrates offenbar als erreichbar angesehen. Denn es gibt – wie aus der Analogie zur Entstehung der Misanthropie zu erschließen ist – in Bezug auf die Argumente (logoi) eine technê 11 , die freilich in diesem Kontext nicht inhaltlich erläutert wird. Aber sie wird in gewisser Weise nach der Wiederaufnahme der Sachdiskussion praktiziert: Auf die Aufforderung des Sokrates hin kommt es zu einer neuen Einschätzung der bisherigen Argumente, wobei nicht alle von Simmias und Kebes abgelehnt werden. Das von Sokrates wieder aufgenommene Anamnesis-Argument wird von ihnen geradezu emphatisch akzeptiert (91e5–92a5) und von Simmias auch methodisch als mit der Ideenlehre verbunden (vgl. 76e–77a) von seinem harmonia-Argument abgehoben, das ohne Beweisführung auf bloßer Wahrscheinlichkeit beruht habe (92c11–e2).12 Damit habe er sich, wie er eingesteht, auf das Argumentationsniveau der „großen Menge“ begeben (92d2).13 Simmias hat also – nach den Voraussetzungen des Dialogs – als Ergebnis der MisologieDiskussion gelernt, welchem Argument er aus welchem Grund trauen darf. Vor dem Wiederbeginn der Sachdiskussion hatte sich Sokrates am Ende der Ausführungen über die Misologie über sein persönliches Verhalten in seiner speziellen Situation und der sich daraus ergebenden Konsequenz für die anderen geäußert: Sein Rat, sich um des ganzen späteren Lebens willen um die richtige Haltung zu den Argumenten zu bemühen, gelte für ihn angesichts seines bevorstehenden Todes nicht in gleicher Weise. Aufgrund seiner besonderen Situation sehe er sich einer ganz anderen Gefahr gegenüber, nämlich dass er sich nicht philosophisch, sondern sachfremd rechthaberisch verhalte, nicht so sehr, damit den anderen wahr erscheine, was er sage, sondern damit er selbst glaube, es verhalte sich so. Die Konsequenz für seine Gesprächspartner müsse sein, ohne Rücksicht auf die Person des Sokrates, allein der Wahrheit verpf lichtet, ihm nur zuzustimmen, wenn sie glaubten, er sage etwas Wahres, sonst aber mit allen Argumenten dagegenzuhalten, „indem ihr euch davor in Acht nehmt, dass ich nicht in 11 Allerdings ist in Bezug auf die logoi nur vom Nicht-Besitz dieser technê als Ursache der Misologie die Rede (90b7; d3), aber auch hier dürfte die Analogie zur Misanthropie gelten, wo eine positive Anwendung vorgeführt wird (89e8–90a2), und ontos […] katanoêsai (90c9f.) kann als Äquivalent für die positiv anwendbare technê fungieren. Gerade hinsichtlich der technê soll ja die Analogie anwendbar sein (90b6ff.). 12 Dagegen ist beim Anamnesis-Argument von Beweis (apodeixis) die Rede (73a5; 77c3–5; vgl. Heitsch 2000, 88; 2001, 26 Anm. 59). Für Simmias ist die (in der Anamnesis-Lehre implizierte) Präexistenz der Seele so gewiss wie die Existenz der Ideen. Vgl. zu Text und Verständnis von 92d8–e1 Rowe 1993, 220 (zu d8). Ebert 2004, 311, weist darauf hin, dass Simmias’ Kritik an Wahrscheinlichkeitsargumenten auch bisherige Argumente des Sokrates trifft (Ähnlichkeitsargument). 13 „[…] aus dem Grund, der auch für die große Menge ausschlaggebend ist“ (Übers. Ebert 2004). Der Ausdruck bedeutet wohl kaum, dass die harmonia-These weit verbreitet war und auch von der „großen Menge“ akzeptiert wurde (in dieser Richtung deutet den Text z. B. Rowe 1993, 219), sondern ist rein methodisch zu verstehen: Simmias hat sich gegenüber der harmonia-These so verhalten, wie sich auch die „große Menge“ von bloßen Plausibilitätsargumenten einnehmen lässt.
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meinen Eifer zugleich mich und euch täusche und mich wie eine Biene, die ihren Stachel zurückgelassen hat, davon mache“ (91a1–c6). Platon lässt Sokrates aus der psychischen Situation, in der er sich befinde, ableiten, dass man bei ihm mit Argumenten rechnen müsse, die mehr der eigenen Beruhigung geschuldet als sachlich berechtigt sein könnten. Diese Selbstbeschuldigung des Sokrates hat aber nicht nur die Konsequenz, dass die Qualität der Zustimmung von Simmias und Kebes, die zu genauer Prüfung des jeweiligen Wahrheitsgehaltes aufgefordert werden, gesteigert wird, sondern auch die Funktion, den Leser aufzufordern, sich vor möglicherweise nicht stichhaltigen Argumenten des Sokrates in Acht zu nehmen und die Relevanz der jeweiligen Argumente genau zu prüfen (vgl. Frede 1999, 88). Dies dürfte auch als Hinweis zu verstehen sein, dass der Dialog Argumente unterschiedlicher Qualität enthält, die jeweils genau zu gewichten sind und jedenfalls als einzelne und möglicherweise ohne weitere Überlegungen die Unsterblichkeit der Seele auch im Sinne Platons noch nicht definitiv beweisen. So wird auch noch nach dem letzten Beweisgang erst von einer weiteren, im Dialog nicht mehr durchgeführten Prüfung erwartet, dass auch die Suche des immer noch skeptischen Simmias zu einem Ende mit sicherer Erkenntnis kommt (107b4–10).14 Nimmt man die Ausführungen über die Misologie mit der eben zitierten Bemerkung zusammen, ergibt sich für den Phaidon im Ganzen zweierlei: erstens, dass ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele möglich sei, und zweitens, dass dieser Beweis im Phaidon noch nicht so weit, wie es die Sache eigentlich erfordert, ausgeführt wird.15 Ähnlich wie in der Politeia (vgl. Manuwald 2003, 364–370) wird im Phaidon das (als durchführbar gedachte) Programm entworfen, aber – den Vorstellungen Platons zum Stellenwert schriftlicher Lehre entsprechend – nicht bis zum Letzten ausgeführt. Bei dem Wiedereinsetzen der Sachdiskussion nach der methodologischen Klärung im Abschnitt über die Misologie‚ spitzt Sokrates die Einwände von Simmias und Kebes auf einen Punkt zu (91c7–e1): Beiden Einwänden ist gemeinsam, dass die Seele selbst als etwas angesehen wird, das zugrunde geht oder zugrunde gehen kann, sei es sogar früher als der Körper (Simmias), sei es bei der letzten Trennung, nachdem sie in vielen Körpern gewesen ist (Kebes). Die Rekapitulation dieser Thesen führt konsequenterweise zu einer Erweiterung des Todesbegriffs, von dem man im Phaidon bisher ausgegangen war, insofern der Tod nicht mehr nur als eine Trennung von (weiterbestehender) Seele und (zugrunde gehendem) Körper zu definieren ist (vgl. 64c4–8), sondern bei der Trennung 14 Ist diese Überlegung richtig, hat die Anlage des Dialogs nichts damit zu tun, dass Platon vermitteln wolle, ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele sei nicht zu erreichen. So aber Heitsch 2001, 95. Vgl. auch ders. 2000, 45. 15 Dies gilt nicht nur für die noch notwendige weitere Überprüfung der Hypotheseis (107b4–10), sondern auch für ein mögliches weiteres Argument (allos logos), das nicht ausgeführt wird, weil Kebes die Ausführung nicht für nötig hält (106c9–d4).
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vom Körper (der letzten lt. Kebes) auch die Seele zugrunde geht und deren Untergang als (endgültiger) Tod anzusehen wäre (91d6).16 Von den beiden Einwänden ist die harmonia-These des Simmias – der Sache nach – der grundsätzlichste und derjenige, der am weitesten geht gegenüber der Konzeption einer unsterblichen Seele als einer eigenständigen Substanz, insofern die Seele als Epiphänomen verstanden wird. Es ist daher für seine Beweisführung sachnotwendig, dass sich Sokrates zunächst mit dem Einwand des Simmias auseinandersetzt. Bei diesem Einwand lassen sich, ohne dass sie Simmias selbst ausdrücklich differenzierte, zwei unterschiedliche Vorstellungen von „harmonia“ unterscheiden:17 (1) Bei der ersten geht Simmias vom Verfahren des Sokrates im Affinitäts-Argument aus, dem er widerspricht: Auch bei der Stimmung (harmonia) einer Leier und ihrer Saiten könne man sagen, sie sei unsichtbar, unkörperlich, etwas sehr Schönes und Göttliches in der Leier, und trotzdem könne sie die Existenz der „körperlichen“ Elemente der Leier nicht überdauern (85e3–86b5).18 Hier bedeutet „Stimmung“ eine Eigenschaft eines Substrats, das diese Eigenschaft hat. Allerdings scheint der Hinweis auf das Schöne und Göttliche darauf hinzudeuten, dass nicht nur die Stimmung als solche, sondern auch die Melodie, die auf der Grundlage der Stimmung hervorgebracht werden kann, wenigstens mitgemeint ist (vgl. Gottschalk 1971, 181). (2) Bei der zweiten Vorstellung wird die Seele als Mischung (krasis) und harmonia der Bestandteile des Körpers bestimmt, nämlich des Warmen und Kalten und Trockenen und Feuchten und anderem Derartigen, von denen er in Spannung und zusammengehalten wird, wenn sie schön und in rechtem Maß gemischt sind. Eine massive Störung dieser Mischung lasse die Seele sofort zugrunde gehen, während die Bestandteile der (körperlichen) Mischung lange Zeit bis zur Verbrennung oder Verwesung weiterexistierten (86b5–d1). Die Seele ist hier also als die (richtige) Mischung (harmonia) verstanden. Simmias drückt sich so aus, als beziehe er sich mit der Gleichsetzung von Seele und harmonia auf eine bereits bekannte Theorie (86b5–7; vgl. auch 88d3–6; 92d2), jedoch ist ein Urheber trotz zahlreicher antiker (problematischer) Zuschreibungen nicht auszumachen.19 Zwar wird Simmias als ein Schüler des Pythagoreers Philolaos vorgestellt (61d), aber die harmonia-These ist mit der pythagoreischen Seelenwanderungslehre un16 Die Diskussion, ob ein neuer Todesbegriff vorliegt oder der alte noch gilt (Rowe 1993, 217 gegen O’Brien 1968, 98ff., und Gallop 1975/86, 155f.), erscheint insofern müßig, als jetzt zu dem alten Todesbegriff nur die Perspektive, dass auch die Seele sterblich sein kann, hinzugekommen ist. Vgl. aber auch schon 77d5–e8. 17 Vgl. die klare und mehr ins Detail gehende Analyse bei Ebert 2004, 283–289. 18 Das gilt für die konkrete Stimmung eines konkreten Instruments. Sie kann unabhängig von der Existenz der Grundlage tatsächlich nicht vorkommen, und so meint Simmias seinen Einwand wohl (Sokrates behandelt ihn später so, ohne dass Simmias protestiert). In einer abstrakten Weise, etwa als Zahlenverhältnis, kann es eine Stimmung unabhängig von einem konkreten Ding geben; vgl. Gallop 1975/86, 156f. 19 Vgl. zu den verschiedenen Zuweisungsversuchen den Überblick bei Gottschalk 1971, 190ff.
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vereinbar (vgl. Rowe 1993, 205), wenn auch Macrobius behauptet, Philolaos habe die Seele für eine harmonia gehalten. Diese Nachricht wird allerdings dadurch entwertet, dass Macrobius diese Ansicht gleichermaßen auch Pythagoras zuschreibt (somn. Scipionis 1,14,19). Für das Verständnis des Phaidon ist die Urheberfrage nicht entscheidend, vielmehr kommt es vor allem darauf an, dass die harmonia-These in diesem Dialog zur Diskussion gestellt wird.20 Sokrates setzt sich mit dem Einwand des Simmias in zwei Argumentationsgängen auseinander, die beide von dessen zweiter Vorstellung ausgehen, wonach die harmonia als etwas Zusammengesetztes verstanden wird (92a8–b2; 93a1; a9); Sokrates verwendet dabei allerdings auch Wendungen, die mit der Analogie „Seele – Stimmung eines Instruments“ zu tun haben (92b8–c2; 93a9; 94c4f.). Wie schon durch die Ausführungen des Simmias entsteht daher auch durch die Antwort des Sokrates eine gewisse Unschärfe, welche der beiden Vorstellungen von harmonia als bestimmend anzusehen ist.21 Der erste Argumentationsgang (91e2–92e4) wurde bereits im Zusammenhang mit der Misologie kurz gestreift: Da Simmias (wie auch Kebes) das in der früheren Diskussion aufgrund der Anamnesis-Lehre gewonnene Argument nach wie vor als richtig ansieht (91e2–92a5), ist es für Sokrates ein Leichtes zu zeigen, dass sich die bei der AnamnesisKonzeption implizierte Präexistenz der Seele nicht mit der harmonia-These verträgt, da eine Stimmung nicht zusammengesetzt sein kann, bevor es das gibt, aus dem sie zusammengesetzt sein muss.22 Eine der beiden Konzeptionen müsse also aufgegeben werden (92a6–c10). Wegen der vorher schon festgestellten Präexistenz der Seele (vor ihrem Eingehen in einen Körper) entscheidet sich Simmias dafür, an der AnamnesisKonzeption festzuhalten und die (nur plausibel scheinende) harmonia-These aufzugeben (92c11–e4).23
20 Trotz Eberts Zurückweisung (2004, 289) spricht einiges für Gottschalks Auffassung, die harmonia-These sei von Platon selbst improvisiert worden (1971, 194f.). Immerhin würde dadurch die Zweiteilung von Simmias’ Einwand erklärt, wie Gottschalk ausführt: Der erste Teil wäre als ein dialektisches Argument zu verstehen, ausgehend von den Epitheta, welche der Seele im Affinitätsargument beigelegt wurden (vgl. bes. 79b12ff.; 80a3). Im zweiten Teil würde die These in eine Gestalt gebracht, in der die Seele als ein Phänomen des lebenden Körpers konzipiert wird, das mit seiner physischen Konstitution zusammenhängt. 21 Vgl. dazu Taylor 1983, 217–222, sowie die Kritik von Ebert 2004, 286 Anm. 4. 22 Taylor 1983, 223 erörtert die mögliche Auffassung, die harmonia als „ratio“, die eine „timeless mathematical entity“ sei, zu verstehen, von der man sagen könne, sie habe existiert, bevor ein bestimmter Körper ins Sein getreten sei, stellt aber gleichzeitig fest, dass dann dasselbe Verhältnis mehrfach (in belebten wie unbelebten Dingen) vorkommen könne und daher alle Seelen-Harmonien mit demselben Verhältnis identisch seien. Simmias meine aber, wenn man in seiner Theorie die Seele als mathematische Entität verstehe, ein individualisiertes Verhältnis, das tatsächlich nicht vor seiner Einkörperung bestehen könne. 23 Die Annahme der Präexistenz der Seele im Zusammenhang der Anamnesis-Kozeption ist für Simmias ebenso sicher wie die Ideen-Hypothese (92d6–e2). Zum Text (d9 autê Mudge [autês Hss.] ) vgl. Rowe 1993, 220.
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Simmias hat also seinen Einwand zurückgezogen, und eine weitere Auseinandersetzung damit scheint sich zu erübrigen, doch schließt Sokrates unvermittelt einen zweiten, sehr ausführlichen und mehrteiligen Argumentationsgang an (92e5–95a3), der sich mit der harmonia-These als solcher befasst – ohne Rückbezug auf die Anamnesis, vielmehr auf der Ebene, wie sie Simmias als lediglich in gewisser Weise plausibel ursprünglich eingeleuchtet hatte.24 Sokrates’ Beweisführung ist recht komplex angelegt und in ihrer inhaltlichen Deutung umstritten. Einigkeit besteht lediglich bezüglich des Aufbaus der Argumentation: Sokrates wirft zwei – untereinander logisch unverbundene25 – die harmonia-Konzeption betreffende Probleme auf: A (92e5–93a10), B (93a11–c10). Diese behandelt er in chiastischer Folge: B´ (93d1–94b3), A´ (94b4–94e7). Den Abschluss bildet noch eine kurze Schlussbemerkung (94e8–95a3). Zuerst (A) arbeitet Sokrates Folgendes heraus: Eine Stimmung könne sich nicht anders verhalten als die Elemente, aus denen sie bestehe.26 Sie „führe“ diese Elemente nicht, sondern „folge“ ihnen, und vor allem könne sie nicht in Gegensatz zu diesen treten.27 Bevor daraus Konsequenzen gezogen werden (das ist erst in A´ der Fall), geht Sokrates zu B über, indem er fragt: „Ist nicht jede Stimmung ihrer Natur nach eine Stimmung, so wie sie gestimmt worden ist?“ (93a11f.; Übers. Ebert 2004). Da Simmias diese Frage nicht versteht, erläutert Sokrates sie mit der (von Simmias dann bejahten) Frage „Ist es nicht so, daß sie, wenn sie mehr und umfangreicher gestimmt wurde, einmal unterstellt, daß es dazu kommen kann, auch mehr und eine umfangreichere Stimmung wäre, wenn sie aber weniger und weniger umfangreich gestimmt wurde, dann auch weniger und eine weniger umfangreiche?“ (93a14–b3; Übers. Ebert 2004). Was Simmias hier zu verstehen scheint, stellt für die Interpreten ein Problem dar, da Sokrates dem Wortlaut nach nicht von einem Instrument spricht, das mehr oder weniger optimal bzw. über einen umfangreicheren oder geringeren 24 Dass sich hinter der These, wie sie als von Simmias beschrieben von Sokrates erörtert wird, noch eine zweite Ebene verberge, eine von Platon gebilligte Vorstellung einer Idee der harmonia, wie Dorter 1982, 108– 114, meint, dürfte sich kaum erweisen lassen. 25 Vgl. Gallop 1975/86, 158; Bostock 1986, 126. Anders Dorter 1982, 100f., der einen sachlichen Zusammenhang zwischen Proposition A und Proposition B erkennt. 26 Nach Ebert 2004, 314 liegt hier der Fehlschluss zugrunde, nach dem von der Eigenschaft eines Zusammengesetzten auf die Eigenschaften seiner Teile geschlossen wird, wo doch eine Zusammensetzung Eigenschaften haben könne, die jeder einzelne ihrer Teile nicht haben könne. – Tatsächlich wird nicht das Phänomen der Emergenz berücksichtigt, wonach das Zusammengesetzte nicht einfach bloß die Summe seiner Teile ist, sondern eine neue Qualität aufweisen kann. Vgl. schon Aristoteles, Metaphysik 1041b11–33. 27 Platon nimmt offenkundig ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Substrat der harmonia und dieser selbst an, sodass Abhängigkeiten nur in der Richtung Substrat → harmonia bestehen können und nicht umgekehrt. Ebert bestreitet, dass dieser Sachverhalt allein aus der zunächst festgestellten (symmetrischen) Gleichartigkeit von Substrat und harmonia (92e5–93a5) abgeleitet werden könne (2004, 314). Das trifft rein argumentationslogisch sicher zu, aber Sokrates geht von der Priorität des Substrats aus (92a9–b3), was er hier (93a6ff.) nicht wiederholt, und insofern ist das Verhältnis von Substrat und harmonia nicht symmetrisch.
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Saitenbereich gestimmt sein kann, sondern von der Stimmung selbst (vgl. Gallop 1975/86, 160), bei der sich unterschiedliche Gestimmtheiten der Stimmung nicht ohne Weiteres vorstellen lassen. Sokrates hat diese Schwierigkeit durch die Bedingung „einmal unterstellt, daß es dazu kommen kann“ (93b1) selbst eingeräumt, sodass man vermuten kann, dass Sokrates eine rein theoretische Möglichkeit erörtert, nur um das, was von der Seele gelten soll, davon abzusetzen:28 Denn eine Seele könne auch nicht im Geringsten mehr oder weniger Seele sein als eine andere. Wie wollten aber dann die Anhänger der harmonia-These Tugend und Schlechtigkeit in der Seele erklären, etwa als eine Stimmung bzw. Ungestimmtheit (Disharmonie) in der Seele, die selbst eine Stimmung ist? Bei dieser Frage ist Simmias ratlos (93b5–c10). Es kommt zur Lösung des Problems durch Sokrates (B´) in der Form einer reductio ad absurdum. Ausgangspunkt ist die (von Simmias bestätigte) Feststellung, dass eine Seele nicht mehr Seele sein könne als eine andere, was in Anwendung auf die These, die Seele sei eine Stimmung, für Sokrates bedeutet, dass alle diese Stimmungen (insofern sie Seelen sind)29 gleich sein müssten. Eine Seele könnte also nicht mehr oder weniger gestimmt sein (als eine andere) und damit auch nicht mehr an Ungestimmtheit (anharmostia) oder Gestimmtheit (harmonia) teilhaben, mithin auch nicht die eine mehr als die andere an Schlechtigkeit und Tugend, wenn denn die Schlechtigkeit Ungestimmtheit, die Tugend Gestimmtheit sei.30 Genauer gesagt wäre Schlechtigkeit sogar unmöglich, da die Seele als Stimmung nicht an Ungestimmtheit teilhaben könne31 , mit der letztendlichen Kon28 Es ist unter den Interpreten strittig, ob mit Sokrates’ Einschränkung die Unmöglichkeit oder die Möglichkeit impliziert oder – wohl am wahrscheinlichsten – die Frage offen gelassen werden soll; vgl. in diesem Sinne Gallop 1975/86, 159f.; Ebert 2004, 318. – Ebert (318f.) möchte die Einschränkung nicht nur auf die Variabilität der Stimmung, sondern auf die Stimmung der Stimmung überhaupt beziehen. Aber der Satzduktus spricht eher für das erstere. 29 Der entscheidende Satz lautet: „Aber wir haben uns eben darauf geeinigt, […] daß eine Seele weder mehr noch weniger Seele ist als eine andere Seele. Das aber läuft auf das Zugeständnis hinaus, daß eine Stimmung weder mehr oder umfangreicher noch auch weniger oder weniger umfangreich eine Stimmung ist als eine andere Stimmung“ (93d1–4; Übers. Ebert 2004). Gallop 1975/86, 162 weist allerdings darauf hin, dass die Einschränkung „insofern sie Seelen sind“ im Text nicht ausgedrückt wird und ohne diese Einschränkung die Aussage in 93d3f. nicht aus d1f. (93b5–7) folgt.; vgl. auch Rowe 1993, 223f. zu 93d2–4. Doch dürfte diese Spezifizierung im Zusammenhang mitzudenken sein, indem man harmonia in diesem Satz nicht als „jede harmonia“, sondern als „eine (bestimmte) Stimmung“ (sc. die Seelenstimmung) versteht; vgl. dazu Ebert 2004, 325 (der noch auf weitere Probleme in der Argumentation des Sokrates aufmerksam macht, 325f.). 30 Sokrates stuft Tugend als Gestimmtheit, Schlechtigkeit als Ungestimmtheit ein, welch letztere Möglichkeit für die Seelen als „Stimmungen“ ausgeschlossen wird (93e7–94a7). Der Fall unterschiedlicher körperlicher Mischungen, die Simmias’ Modell eigentlich zuließe (vgl. 86b7–c3) – mit der Folge qualitativ unterschiedlicher Stimmungen –, wird nicht erwogen; vgl. Rowe 1993, 222f. Allerdings spricht Simmias von „einem schönen und richtigen Verhältnis der Mischung zueinander“ (86c2f.; Übers. Ebert 2004), sodass es so gesehen nur eine Stimmung (und damit nur eine Seelenbeschaffenheit) gibt. – Dies wird nicht zureichend berücksichtigt von Bostock 1986, 127–130. 31 Die Schlüssigkeit dieser Aussage bezweifelt Gallop 1975/86, 164ff. Sie gelte nur für „attunement“ (harmonia) im Sinn von „a correctly tuned state“, nicht für „attunement“ im Sinn von „a tuning“. In letzterer Bedeutung
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sequenz, dass die Seelen aller Lebewesen gleich gut sein werden, wenn denn Seelen gleichermaßen ihrer Natur nach eben dies sind: Seelen. Diese absurde (der Realität widersprechende) Konsequenz hätte sich nicht ergeben, wenn die These von der Seele als harmonia richtig wäre (93d1–94b3). Diese reductio steht und fällt allerdings – abgesehen von anderen möglicherweise vorhandenen argumentativen Schwächen, die in der Forschung diskutiert wurden32 – mit einer bestimmten Auffassung von Tugend und Schlechtigkeit, nämlich mit deren Bestimmung als Stimmung bzw. Ungestimmtheit. Diese Tugendkonzeption wird aber im Phaidon von Sokrates den Vertretern der harmonia-These nur unterstellt (93c3–8), sie wird so, wie sich die Gesprächspartner des Sokrates ausdrücken, von ihnen nicht als ein Bestandteil dieser These vorgebracht, auf den sich Sokrates einfach berufen könnte. Simmias weiß nicht, wie der Vertreter der harmonia-Hypothese Tugend und Schlechtigkeit erklären würde, hält es aber für klar, dass es wohl so sei, wie Sokrates vermutete (93c9f.). Diesen Sachverhalt wird man so verstehen dürfen, dass die Konzeption der Tugend als harmonia nicht ursprünglich mit der These, die Seele sei harmonia, verbunden ist oder Platon sie jedenfalls nicht als ausdrücklich damit verbunden darstellen will. Tatsächlich erscheint bei der Formulierung der These die Seele nur als Lebensprinzip und ist von weiteren Eigenschaften keine Rede (86b5–d3). Freilich ist die Konzeption der Tugend als harmonia nicht unbekannt: Platon selbst lässt in seiner Politeia von Sokrates tugendhafte Seelenzustände als harmonia bzw. symphônia beschreiben.33 Diese Beschreibung beruht dort aber auf der Vorstellung von „Elementen“34 , die sich zueinander harmonisch verhalten können (oder auch nicht), was impliziert, dass die Seele selbst keine harmonia ist.35 Letztlich wird die These, die Seele sei eine harmonia, einhabe Sokrates 93d3–4 („daß eine Stimmung weder mehr oder umfangreicher noch auch weniger oder mehr umfangreich eine Stimmung ist als eine andere Stimmung“ [Übers. Ebert 2004]) harmonia gebraucht. Aber wurde in Simmias’ Einwand harmonia nicht doch als „a correctly tuned state“ angenommen (86c2f.)? Anders Gallop 1975/86, 164. 32 Vgl. Anm. 21; 26; 31; ferner Ebert 2004, 325–332. 33 Rep. 430e3f.; 431e7f.; 432a7–9; 442c10 (sôphrosynê); 443d6 (dikaiosynê); vgl. 591d2 (symphônia in der Seele). – Wenn kosmia (108a6, von der Seele gesagt) im Sinne der Ordnungsvorstellung von Grg. 506e6 gemeint ist, liegt eine mit der Politeia vergleichbare Konzeption auch im Phaidon vor. 34 Ein weiteres Problem besteht darin, wie sich diese Vorstellung der Tugend als harmonia mit derjenigen von der Eingestaltigkeit der Seele (80b2) verträgt; vgl. Gallop 1975/86, 161. 35 Taylor 1983, 227 hält, wenn ich ihn recht verstehe, in Bezug auf die harmonia-Konzeption verschiedene Ordnungssysteme für miteinander kompatibel (227f.), in welchen Falle eine als harmonia verstandene Seele anders, als Sokrates argumentiert, in bestimmter Hinsicht doch gut oder schlecht sein könnte: „No soul, good or bad, is more an ordering of bodily elements than any other, for an ordering of bodily elements is just what a soul is. But orderings of bodily elements may be more or less ordered in respect of psychic components“ (227). Aber Simmias’ These war nicht, dass die Seele irgendeine Ordnung körperlicher Elemente sei, sondern als Seele bereits eine bestimmte, richtige Ordnung (86c2f.). Es ist daher nicht zu sehen, wie eine solche Seele mehr oder weniger hinsichtlich psychischer Komponenten geordnet sein könnte. Vgl. auch Dorter 1982, 105f., der nach
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fach an der platonischen Tugendkonzeption gemessen, ohne dass eingehend geprüft würde, ob der Vertreter der harmonia-These Tugend und Schlechtigkeit vielleicht auch auf andere Weise erklären könnte.36 Nach dem Abschluss der Argumentation B´ nimmt Sokrates, neu einsetzend, und ohne dass dies sofort klar wird, A (92e5–93a10) wieder auf und führt das dort Gesagte weiter (A´, 94b4–94e7): Zuerst lässt er sich die Zustimmung zu der (als Frage formulierten) These geben, es sei von allem, was es im Menschen gebe, die Seele, zumal die vernünftige, die ihn beherrsche.37 Diese leitende Funktion wird daran exemplifiziert, dass sich die Seele den körperlichen Bedürfnissen entgegenstellen, z. B. bei Durst das Trinken verweigern könne (94b4–c2).38 Im nächsten Schritt greift Sokrates auf eine in A getroffene Übereinkunft zurück, die – wenn man es kurz zusammenfasst – darin besteht, dass die Seele als harmonia „von ihren Bestandteilen abhängig ist und darauf niemals einen bestimmenden Einf luß hat“ (94c3–8, Übers. Ebert 2004). Allerdings waren die Bestandteile in der Ausgangsversion die Grundqualitäten warm, kalt, trocken, feucht und Derartiges (86b8f.), jetzt (94c10f.) scheinen es die körperlichen Affektionen zu sein (vgl. Gallop 1975/86, 167). Eigentlich könnte an diesem Punkt gleich die Schlussfolgerung gezogen werden, es sei nicht „schön“ zu behaupten, die Seele sei eine harmonia. Dieser Schluss erfolgt aber erst 94e8–95a3. Dazwischen wird wortreich entfaltet, was am Anfang der Argumentation prinzipiell schon festgestellt worden war (vgl. 94b4–c2), nämlich die Führungsrolle der Seele gegenüber den Elementen, aus denen sie der harmonia-These zufolge bestehen soll. Dabei wird sogar noch Homer als Autorität bemüht, der Odysseus sein Herz (mit Erfolg) zum Standhalten aufrufen lasse (Odyssee 20,17f.39 ), wobei offenbar das sprechende Ich als Äquivalent der Seele verstanden wird. Diese Fähigkeiten der Seele zeigten, dass Homer die Seele nicht als eine harmonia angesehen habe, die von Körperlichem gelenkt werde, vielmehr als etwas, das das Körperliche lenke, etwas Göttlicheres. Das Argument des Sokrates basiert auf der empirischen Erfahrung, dass ein im Menschen wirkender Antagonismus möglich ist, der darin besteht, dass etwas in ihm sich ähnlichen Überlegungen wie Taylor zu dem Ergebnis kommt: „[…] although Simmias’ own formulation lacks the necessary complexity“ (Zitat: 106). 36 Indem er z. B. behauptete, ein Mensch könnte sich bei konstantem Mischungsverhältnis seiner „Seele“ nichtsdestoweniger sittlich unterschiedlich verhalten. 37 Der griechische Text kann aber auch bedeuten, dass es die Seele sei, die über alles, was es im Menschen gebe, herrsche; vgl. Rowe 1993, 226, der auf die Ambivalenz der Formulierung hinweist. Dem Kontext nach dürfte es aber eher darum gehen herauszustellen, welches von den Dingen, die es im Menschen gibt, ihn beherrscht. 38 Die Konf likte spielen sich hier also zwischen (Vernunft-)Seele und Körper ab, nicht zwischen Elementen der Seele wie in der Politeia (435a–441c); vgl. Gallop 1975/86, 89; Rowe 1993, 226. 39 Der erste Vers diese Stelle wird in der Politeia als Beleg für einen Antagonismus in der Seele selbst herangezogen (441b4–c2); vgl. Gallop 1975/86, 167.
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bestimmten, ebenfalls in ihm wirkenden Antrieben entgegenstellen kann. Bedenklich bei Sokrates’ Vorgehen ist allerdings, wenn diese widerstrebende Kraft ohne weitere Begründung mit der Seele gleichgesetzt wird, die dann keine nur als Funktion zu verstehende harmonia sein kann, sondern von vornherein als eine eigenständig agierende Größe angenommen wird. Dagegen könnte ein Vertreter der harmonia-These die Position vertreten, dass die richtige Mischung (harmonia) der Grundqualitäten (warm, kalt, trocken, feucht usw.; vgl. 86b8f.) die Lebensfunktion dieser stoff lichen Grundlage gewährleiste, es aber gleichzeitig zulasse, dass es innerhalb eines gewissen Rahmens einen Antagonismus dieser ohnehin gegensätzlichen Qualitäten geben könne, der dann als Möglichkeit, bestimmte Begierden abzuwehren, manifest werde.40 Allerdings scheint in der harmonia-These, so wie sie von Simmias formuliert wurde, die Möglichkeit einer gewissen Bandbreite des Mischungsverhältnisses nicht vorgesehen zu sein. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Sokrates’ Widerlegung allenfalls eine sehr einfache und starre Form der harmonia-These trifft (vgl. auch Rowe 1993, 226). Simmias jedenfalls, der schon zuvor erklärt hat, dass er keinem Verfechter der harmonia-These mehr zustimmen werde (92e3f.), bestätigt die Argumentation des Sokrates, der seine Übereinstimmung mit Homer ausdrücklich feststellt (94e7–95a3). Eine grundlegende, denkbare Varianten der These einbeziehende Diskussion, wie denn ein Vertreter der harmonia-These das genannte empirische Phänomen erklären könne, findet also nicht statt, vielmehr wird mit rhetorischer Redundanz und der bei Platon nie ganz „unverdächtigen“ Berufung auf einen Dichter ein „sicheres“ Ergebnis erzielt. Es wird sich kaum eindeutig klären lassen, inwieweit die zu beobachtenden argumentativen Schwierigkeiten bzw. Defizite dem Autor Platon bewusst waren oder von ihm bewusst angelegt sind. Bemerkenswert ist jedoch die im Grunde für eine philosophische Beweisführung sachfremde, aber rhetorisch wirksame chiastische Anordnung (A, B, B´, A´) der Argumentation gegen die harmonia-These, die den Effekt hat, dass dann die Ergebnisse der Argumente einprägsam aufeinanderfolgen und so die Überzeugung, die harmonia-These sei nicht haltbar, verstärken (vgl. auch Rowe 1993, 220; Ebert 2004, 315f). Daher stellt sich die Frage, auf welche der beiden Beweisführungen des Sokrates (Anamnesis-Argument, Argumentation gegen die harmonia-These als solche) Platon wohl mehr Gewicht legen wollte. Nach in der Forschung verbreiteter Auffassung handelt es sich bei dem Anamnesis-Argument lediglich um ein argumentum ad hominem, da es nur
40 Vgl. auch Gallop 1975/86, 167 („The soul’s so-called ‚opposition‘ to the body, he [sc. a defender of the attunement theory] might object, is itself simply the effect of a bodily state.“); Bostock 1986, 132f.; Taylor 1983, 229. Ebert 2004, 334 hält dagegen das Argument unter der Bedingung, dass „körperliche Zustände und darauf basierende Strebungen zumindest in einigen Fällen von den materiellen Bestandteilen des Körpers abhängen“, für schlüssig.
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für diejenigen gelte, welche die Lehre von der Anamnesis akzeptierten.41 Dagegen wird die Argumentation gegen die harmonia-These als solche nicht als ebenso eingeschränkt betrachtet und also als die eigentliche angesehen. Vermutlich ist es aber gerade umgekehrt, wofür zwei Überlegungen sprechen: (1) Das Anamnesis-Argument wird – wegen seiner Verbindung mit der Ideenlehre – als der (zunächst von Simmias ohne Beweis für richtig gehaltenen) harmonia-These weit überlegen dargestellt (92d–e, vgl. o. S. 116). Mit den Ausführungen des Simmias, der das im Abschnitt über die Misologie besprochene Vorgehen nun anwendet, wird demonstriert, dass der qualitative Unterschied in den jeweiligen Begründungen erkennen lässt, welches das zu akzeptierende Argument ist.42 Die Ausführungen über die Misologie erhalten dadurch ihre Legitimation für die Gedankenführung im Dialog und für das philosophische Vorgehen überhaupt. Die Durchschlagkraft des Anamnesis-Arguments wird durch die späteren Bemerkungen des Kebes noch ausdrücklich bestätigt (95b1–3). (2) Obwohl sachlich gesehen, wie schon ausgeführt, das harmonia-Argument eigentlich der grundsätzlichste Angriff gegen die These von der Unsterblichkeit der Seele ist, weil es jegliche Substantialität der Seele leugnet, widmet Platon dem Einwand des Kebes, bei dem es um die Dauerhaftigkeit der als substantiell vorgestellten Seele geht, eine wesentlich eingehendere Auseinandersetzung. Es handele sich um eine nicht geringe Angelegenheit, die ein weites Ausholen erfordere (vgl. 95e8–96a1). Die Diskussion von Kebes’ Einwand füllt den gesamten abschließenden Beweisgang (95a–107d), und auch hier wird die Argumentation völlig von der Anwendung der Ideenlehre geprägt. Platon scheint also (möglicherweise bereits aufgrund des Anamnesis-Arguments) so von der Substanzhaftigkeit der Seele überzeugt gewesen zu sein (auf jeden Fall im Sinne ihrer Präexistenz), dass er die harmonia-These nicht als den ernstesten Einwand gegen seine Seelenkonzeption betrachtete und glaubte, mit ihr (vom Anamnesis-Argument abgesehen) mehr mit rhetorischem Effekt als mit eindringlicher philosophischer Diskussion fertig werden zu können. Bezeichnend ist auch, dass die in die Widerlegung der harmonia-These eingefügte Homer-Interpretation ein überschießendes Element hat, nämlich dass die Seele etwas Göttlicheres sei. Diese Deutung wird in Homer hineingelegt, sodass die auf Effekt angelegte Beweisführung am Ende wieder einen inhaltlichen Bezug zu platonischer Lehre hat.
41 Vgl. Gallop 1986, 156; Rowe 1993, 220; Ebert 2004, 312. Anders Dorter 1982, 108, der Platons Standpunkt vor allem im Anamnesis-Argument vertreten sieht. 42 Die Bedeutung der Prüfung der Argumente wird auch später präsent gehalten: 107b4–9.
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Kritik der bisherigen Naturforschung und die Ideentheorie (95a–102a)
Nachdem Sokrates im Dialogverlauf drei Argumente zugunsten der These von der Unsterblichkeit der Seele vorgetragen hat, erheben Simmias und Kebes, seine pythagoreischen Gesprächspartner, gewichtige Bedenken gegen diese Überlegungen. Sokrates liefert daraufhin Gegenargumente, und zwar zunächst gegen Simmias’ These von der Seele als einer harmonia. Am Beginn der Passage 95a–102a nimmt sich Sokrates dann auch den Einwand des Kebes vor, den dieser zuvor anhand des Weber-Vergleichs erläutert hat.1 Der Einwand bestand darin, dass die Seele, selbst wenn sie den Körper überdauern und in mehreren Reinkarnationen zurückkehren sollte, hiermit noch nicht als unsterblich sensu stricto erwiesen wäre (vgl. 88b5f.); es könnte ja noch immer sein, dass sie nur geringfügig dauerhafter ist als der Körper. Der Widerlegung dieses Bedenkens ist unser Textstück gewidmet. Sokrates fasst den Einwand des Kebes nochmals in eigenen Worten zusammen, und als dieser das Referat als korrekte Wiedergabe seines Problems anerkennt, verfällt Sokrates in ein längeres Schweigen (sychnon chronon epischôn: Phd. 95e6). Augenscheinlich gesteht er damit zu, dass Kebes eine enorme Herausforderung an ihn gerichtet hat (vgl. ou phaulon pragma […] zêteis: 95e7f.). Sodann kündigt Sokrates an, man müsse nun gemeinsam den „Grund für Entstehen und Vergehen überhaupt untersuchen“ (holôs gar dei peri geneseôs kai phthoras tên aitian diapragmateusasthai: 95e8f.). Diese Ankündigung klingt recht fundamental, und tatsächlich schließt sich hieran ein zweiteiliges Textstück von weitreichender Bedeutung für Platons Metaphysik an. In einem ersten Passus (95e8–99d3) lässt Platon seinen Sokrates eine (fiktive) philosophische Autobiografie erzählen (oder jedenfalls einen markanten Teil von ihr). Dieser Bericht scheint von der Absicht getragen, den Sinn des Begriffs der Ursache (aitia oder aition) 1 Kebes argumentiert in Phd. 87b–e, dass es irrig wäre, vom letzten selbstgewebten Kleid eines verstorbenen Webers aus auf dessen Weiterleben zu schließen. Zwar sei es korrekt, dass der Weber eine längere Lebenszeit aufweist als seine Webstücke und dass er mehrere selbstgewebte Kleider überlebt; es spreche aber nichts dagegen anzunehmen, dass sein letztes Kleid ihn überdauert.
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herauszuarbeiten mit dem Ziel, die physiologische Naturforschung der Vorsokratiker grundsätzlich zu diskreditieren und sie durch eine teleologische Naturerklärung zu ersetzen. Danach führt ein zweiter Passus (99d4–102a10) zum einen eine neue Methode ein, mit welcher philosophische Gegenstände untersucht werden sollen: das sogenannte hypothesis-Verfahren. Zum anderen skizziert er, und zwar zum ersten Mal in Platons Schriften, die bereits im ersten Teil anklingende Ideentheorie, welche als überlegene Erklärung der Ursachen von Entstehen und Vergehen charakterisiert wird. Die beiden Passagen sind irgendwie als Einheit intendiert, ohne dass man sofort sehen könnte, worin der Zusammenhang von Naturteleologie und Ideentheorie bestehen mag. Zudem weist jedes der beiden Textstücke bereits für sich genommen erhebliche Schwierigkeiten auf.
9.1 Kritik an der vorsokratischen Physiologie Sokrates berichtet, wie er sich als junger Mann von der Naturforschung (peri physeôs historian: 96a7) angezogen gefühlt habe. Diese schien ihm in der Lage zu sein, „ein Wissen von Ursachen eines jeden“ zu vermitteln (eidenai tas aitias hekastou: 96a8), genauer gesagt, Ursachenwissen in Bezug auf deren Werden, Vergehen und Bestehen. Er nennt mehrere Beispiele für naturphilosophische Annahmen, mit denen er damals sympathisierte: (a) Die Entstehung von Tieren lässt sich vielleicht aus dem Fäulnisprozess von Wärme und Kälte erklären. Weiter: Als materielles Fundament unseres Denkens kann (b) das Blut betrachtet werden oder (c) die Luft oder (d) das Feuer. Alternativ dazu erwähnt er die These (e), wonach das Gehirn als Sitz von Denken und Wahrnehmung zu gelten hat, wobei aufgrund von Gedächtnis und Vorstellung Erkenntnis entstehen soll. Da man die Thesen recht eindeutig zuordnen kann, nämlich (a) Archelaos, (b) Empedokles, (c) Diogenes von Apollonia, (d) vermutlich Heraklit und (e) Alkmaion von Kroton, liegt es auf der Hand, dass es in unserem Text um die vorsokratische Physiologie geht (zu diesen Zuweisungen vgl. Hackforth 1952 und Ebert 2004, 340). Von dieser Physiologie sagt nun Sokrates, er sei sich selbst nach einiger Beschäftigung mit ihr als „so untalentiert wie nichts sonst“ (aphyes einai hôs ouden chrêma: 96c2) vorgekommen. Bedenkt man, wie Platon die philosophische Mission des Sokrates in der Apologie beschreibt, so dürfte diese Aussage weniger ein Begabungsdefizit des Sokrates benennen, als vielmehr ein vernichtendes Urteil über die philosophische Relevanz der physiologischen Naturforschung enthalten. Uns Interpreten fällt dabei die Aufgabe zu, die Härte dieser Zurückweisung zu erklären. Dass Sokrates in seiner Jugendzeit an der vorsokratischen Physiologie interessiert gewesen sein mag (und nicht allein z. B. durch die eleatische Begriffsspekulation oder die sophistische Bildungsbewegung geprägt ist), stellt grundsätzlich ein glaubwürdiges Element dieser fiktiven Autobiografie dar. Durch andere Quellen wird die Information
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zwar nicht direkt bestätigt, erweist sich mit ihnen aber als recht gut vereinbar. In Aristoteles’ knappem Bericht aus Metaphysik A6 heißt es bekanntlich, Sokrates habe sich nur mit ethischen Fragen beschäftigt, „jedoch überhaupt nicht mit der Natur“ (peri de tês holês physeôs ouden), und es sei ihm in ethischen Fragen um das Begriff lich-Allgemeine gegangen, für das er Definitionen gesucht habe (987b1–4). Das Referat muss keineswegs ausschließen, dass Physiologie für Sokrates anfangs eine gewisse Rolle gespielt hat; gerade die ausdrückliche Absetzung des Begriff lich-Allgemeinen von Spekulationen über Naturprozesse wirkt wie eine Zusammenfassung unserer Phaidon-Stelle. Cicero berichtet in den Tusculanae disputationes V.4, die Philosophie vor Sokrates habe „Zahlen und Bewegungen“ (numeri motusque) behandelt sowie die Frage untersucht, „woher alles entstehe und wohin es wieder vergehe“ (unde omnia orerentur quove reciderent). Anstelle der Untersuchung der Himmelserscheinungen habe Sokrates als „erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten heimisch gemacht und sie sogar in die Häuser eingeführt“ usw. Interessanterweise berichtet Cicero zusätzlich, Sokrates habe „den Archelaos, einen Schüler des Anaxagoras gehört“ (Archelaum, Anaxagorae discipulum, audierat). Das würde erklären, warum Anaxagoras in unserem Textstück eine so bedeutende Rolle spielt. Andererseits ist die sokratische „Autobiografie“ sicherlich deswegen fiktiv, weil man die Ideentheorie keinesfalls dem historischen Sokrates zuschreiben darf. Was genau erscheint dem platonischen Sokrates als so grundsätzlich falsch an der älteren Physiologie? Bevor er auf Anaxagoras zu sprechen kommt, führt uns Sokrates im Phaidon einige Beispiele für das Ungenügen der physiologischen Erklärungsart vor. Diese Beispiele entstammen aber nicht wie die oben genannten den Werken der Physiologen; es sind vielmehr alltägliche Überzeugungen, in denen Sokrates, wie er sagt, im Lauf seiner Beschäftigung mit der Erklärungsart der Physiologen erschüttert worden sei (gemeint ist zweifellos: nicht durch die Physiologen erschüttert, sondern aufgrund der Insuffizienz ihrer Erklärungsart). Erstens habe Sokrates die Gewissheit eingebüßt, die Ursachen des Größenwachstums zu kennen: nämlich die Nahrungsaufnahme, durch welche beim Menschen der Gewebe- und Knochenaufbau gefördert werde. Zweitens berichtet Sokrates von seiner fragwürdigen früheren Meinung, dass von zwei unterschiedlich großen, nebeneinander stehenden Menschen oder Pferden das eine „allein aufgrund des Kopfes“ (autê tê kephalê: 96d8f.) größer sei als das andere. Drittens sagt er, früher sei ihm die Zahl Zehn größer erschienen als die Acht, weil eine Zwei addiert worden sei. Und viertens teilt er uns mit, früher habe er fragwürdigerweise geglaubt, etwas Zwei-Ellen-Langes sei länger als etwas Eine-Elle-Langes, weil dieses jenes überrage. Auf die irritierte Nachfrage des Kebes, was denn jetzt seine Meinung hierüber sei, erklärt sich Sokrates für unwissend in Bezug auf die Ursache solcher Phänomene. Zudem drückt er sein Erstaunen darüber aus, wie wenig überzeugend die physiologische Erklärungsart genauer besehen sei (vgl. thaumazô gar: 97a2). Ebenso wie Kebes fällt es uns allerdings schwer zu verstehen, was die genannten Beispiele so problematisch
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macht. Einige Versuche dazu: Beim Wachstums-Beispiel mag Sokrates das Problem darin sehen, dass mit physiologischen Mitteln nicht erklärt werden kann, warum das Größenwachstum irgendwann beginnt und irgendwann endet (Was steuert das menschliche Körperwachstum? Warum hören junge Erwachsene auf zu wachsen?). Er könnte es inakzeptabel finden, dass bloße Nahrung, ohne ein steuerndes und regulierendes Moment, zur Erklärung von Wachstumsvorgängen ausreichen sollte. Ähnlich beim KopfBeispiel: Wenn Simmias um einen Kopf größer ist als Kebes, inwiefern ist es dann der Kopf, der ihn größer macht (und nicht z. B. seine langen Beine)? Offenbar bewirkt nicht der Kopf den Unterschied, sondern der gesamte Körper. Aber was macht einen Körper groß? Beispielsweise würde eine Holzkiste, auf die er sich stellt, den Simmias nicht wirklich vergrößern. In der Erklärung muss also die Einheit des Körpers eine Rolle spielen. Bei den beiden numerischen Beispielen mag man daran denken, dass zwei zufällig nebeneinander liegende, äußerst verschiedene Gegenstände (sagen wir ein Stück Kuchen und ein Papiertaschentuch), gar nicht als zwei wahrgenommen werden. Auch ist das Überragen einer von zwei Längen für die Größer-Kleiner-Relation weder notwendig noch hinreichend. Es gibt offenbar nicht-physiologische Regeln, die wir implizit verwenden, wenn wir aus zwei Dingen eine Zwei bilden oder die Größer-Kleiner-Relation auf sie anwenden. Diese ansatzweisen Rekonstruktionen deuten die Beispiele als Fälle, durch die nicht-materielle, begriff liche Aspekte der Natur ins Spiel gebracht werden; denn mit Sicherheit dürften alle Bedenken des Sokrates anti-reduktionistisch gemeint sein. Physiologische Theorien reichen seiner Meinung nach zur Erklärung der genannten Schwierigkeiten nicht aus. Klar ist zudem: Die drei Beispiele müssen grundsätzlich in dieselbe Richtung gehen.2 Worin besteht also das verbindende Problem, das allen Fällen gemeinsam ist, an welchen Sokrates Anstoß nimmt? Wir erfahren dies erst im zweiten (ideentheoretischen) Textteil, in 101b–c. Dort werden die Absurditäten, welche nach Sokrates drohen, explizit gemacht: (a) Wäre der Kopf die gesuchte Ursache, dann müsste er sowohl Ursache des Großseins (oder Größerseins) als auch des Kleinseins (oder Kleinerseins) sein; eine einzige Ursache hätte dann jedoch zwei ganz unterschiedliche, einander entgegengesetzte Wirkungen, was absurd ist. (b) Wenn der Kopf die gesuchte Ursache wäre, dann wäre etwas Kleines, nämlich eben der Kopf, Ursache des Großseins von etwas Großem, was ebenfalls absurd ist.
2 Darum ist auch die Interpretation von Vlastos 1969 zurückzuweisen. Nach Vlastos geht es Sokrates darum, naturale Erklärungen grundsätzlich gegen begriff liche Erklärungen abzugrenzen und deren Vermengung als inadäquat zu kennzeichnen. Dazu müssten die Beispiele aber gegeneinander abgegrenzt sein, was nicht der Fall ist.
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Korrekt formulierte Ursachen, so ein platonisches Prinzip, können nicht zugleich die Eigenschaften F und nicht-F erzeugen (dazu ausführlich Sedley 1998). Ebenso unsinnig erscheint Sokrates die Vorstellung, es sei die Zwei, die die Acht in eine Zehn verwandelt. Stephen Menn (2010) hat hierfür auf die Ähnlichkeit der Passage mit einem EpicharmFragment (Frg. 276 Kassel-Austin) aufmerksam gemacht. Platon und Epicharm dürften übereinstimmend an folgendes Problem denken: Wenn man 1 + 1 addiert, wird dann aus der vorhandenen oder aus der hinzugefügten Eins eine Zwei oder aus beiden? Der platonische Sokrates scheint zu meinen: Aus keiner von beiden; vielmehr ist die Zwei eine Entität sui generis, die aus Einsen besteht. Menn gelangt daher weiter zu der Einschätzung, Platons Thema an dieser Stelle sei die diachrone Identität bzw. Veränderung von Entitäten. Die angeführten Probleme haben somit eines gemeinsam: Unser Wissen um den Formaspekt von Entitäten kann nicht auf deren physische Veränderungen und das heißt auf Materialursachen oder Wirkursachen, reduziert werden. Dass Simmias größer als Kebes ist oder dass sich die Zahl Zwei von der Eins unterscheidet, lässt sich nur im Licht unseres Wissens um die Relation Größersein-als und den Begriff Zweiheit verstehen; wir entnehmen dieses Wissen nicht der Erfahrung und können mittels der Empirie auch keine Prozesse ausfindig machen, die Derartiges erklären könnten. Dass bei der Erklärung natürlicher Eigenschaften zu den Materialursachen und den Wirkursachen auch noch strukturelle Aspekte hinzukommen müssen, ist sicher ein berechtigter Punkt des platonischen Sokrates. Allerdings entsteht sogleich ein gravierendes Problem: Die Ideentheorie leistet ausschließlich eine Erklärung für den Formbesitz, nicht aber für den Formwandel. Genau dieser Punkt scheint es jedoch zu sein, um den es Platon geht. Anders als Menn denke ich daher, dass es Platons eigentliches Ziel in unserem Text ist, Veränderung zu erklären. Nach meiner Lesart gesteht uns Platon hier, inwiefern er mit dieser zentralen Frage selbst nicht zurechtkommt – noch nicht. Erst wesentlich später, im Timaios, formuliert er zumindest eine skizzenhafte Theorie natürlicher Veränderungsprozesse. Im Phaidon dagegen macht er lediglich auf das Problem aufmerksam und betont, dass man – wenn schon nicht erklären, wie Veränderung zustande kommt – so zumindest an der Ideentheorie zur Erklärung des Formbesitzes jeder Entität unerschütterlich festhalten kann. Dass Platon hier ein ungelöstes Problem hat, dürfte auf der Hand liegen. Wie kann man sich die Genese von Größenwachstum vorstellen, wenn man die Welt in Begriffen formaler Kausalität interpretiert? Wie lässt sich z. B. die Genese einer Zehnzahl von Objekten denken, wenn zuvor nur acht vorhanden waren? Weder die Acht noch die Zehn kann man sich als entstanden denken; doch was an ihnen partizipiert, scheint kontingentermaßen einmal dies, ein andermal jenes zu sein. Was man auf der Basis der Ideentheorie lediglich feststellen kann, ist bloß: Wenn man Simmias neben Kebes stellt, partizipiert Simmias an der Idee des Großseins (oder Größerseins), Kebes dagegen an der des Kleinseins (oder Kleinerseins).
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Oder auch: Die vorliegende Menge von Oliven partizipiert zum Zeitpunkt t1 an der Zahl Acht und zum Zeitpunkt t2 an der Zahl Zehn. Würde man dann die Frage aufwerfen, woran es liegt, dass ein x in einer bestimmten Hinsicht oder zu einem bestimmten Zeitpunkt an der Idee der F-heit partizipiert und in einer anderen Hinsicht oder zu einem anderen Zeitpunkt an der Idee der Gheit, dann hätte Platon auf diese Frage nichts Weiteres zu antworten. Er kann dabei aber unmöglich stehen bleiben, denn die zentrale Frage des gesamten Passus ist ja, welche Ursachen sich für Werden, Vergehen und Sein angeben lassen (Phd. 96a8f., 97b4f., c7). Platon muss also mehr bieten als eine Antwort auf die Frage, wie ein x – partiell und transitorisch – zu seinen jeweiligen Eigenschaften F und G kommt. Er muss den Wandel von F zu G ebenfalls erklären können, also Veränderliches wie etwa Größenwachstum oder andere genetische Prozesse. Es scheint zunächst so, als wollte Platon die prozessuale Komponente der Phänomene, exemplifiziert an den schiseis und prostheseis, insgesamt für irrelevant erklären: Und würdest du nicht laut verkünden, dass du keine andere Erklärung wüsstest, wie ein Ding zu etwas Bestimmtem geworden ist als die, dass es an dem eigentümlichen Wesen jeweils dessen partizipiert, woran es eben partizipiert; in den vorliegenden Fällen hast du keinen anderen Grund für das Zweiwerden als die Teilhabe an der Zweiheit, und daran müsse alles partizipieren, was zwei werden will, und an der Einheit das, was eines werden will, jene Teilungen (schiseis) dagegen und Additionen (prostheseis) und all die anderen Subtilitäten würdest du links liegen lassen und sie als Antwort denen überlassen, die gelehrter sind als du. (101c1–9; Übers. Ebert) Warum genau laufen Überlegungen zu Teilungen und Hinzufügungen nach Platon Gefahr, in Absurditäten abzugleiten? Sein Argument ist hier: Teilt man einen Gegenstand in zwei Hälften, so erhält man ebenso eine Zwei, wie wenn man dem Gegenstand einen weiteren hinzufügt; also führen zwei entgegengesetzte Operationen zum selben Resultat – was die Unsinnigkeit der gesamten Erklärungsstrategie beweist, weil ein einziges Phänomen stets durch eine einzige Ursache erklärt werden muss. Aber diese Zurückweisung braucht nun keineswegs zu implizieren, dass Platon die Notwendigkeit bestreiten würde, prozessuale Phänomene zu erklären. In der zitierten Passage könnte man den Schlusssatz über die „gelehrteren Kollegen als du“ (tois seautou sophôterois) zwar als Ironie auffassen: Dann wären pseudo-gelehrte Personen gemeint, die wortreiche Erklärungen bemühen, ohne damit mehr zu sagen. Man kann aber auch – was vom Standpunkt meiner Interpretation aus vorziehenswert ist – ein eingestandenes Defizit bei Sokrates sehen: Allein mit der Ideentheorie vermag er noch nicht den Wechsel der Formbestimmungen in der Erfahrungswelt zu beschreiben.
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Wenn das soweit richtig ist, dann will Platon in unserem Text einerseits auf eine Kontrastierung der causa materialis- und causa efficiens-Perspektive mit der Erklärungsstrategie mittels causa formalis hinaus. Andererseits wäre ihm aber klar, dass die causa formalis-Perspektive ebenfalls explanatorisch unzureichend ist. Sprechen wir im Folgenden von M-Kausalität, E-Kausalität und von F-Kausalität (vgl. dazu Fine 2003). Bereits Gregory Vlastos (1969) hat darauf hingewiesen, dass Platon in unserem Text zwei sehr unterschiedliche Weisen herausarbeitet, wie man die Warum-Frage beantworten kann. Was für Platon die causa formalis-Perspektive auf die Warum-Frage zu einer privilegierten Sicht macht, ist der Umstand, dass sie die logischbegriff liche Seite – und damit etwas Stabiles und Invariantes – gegen die physisch-veränderliche Seite abzuheben erlaubt. Unser Begriff der Zahl Zehn entsteht selbst nicht, wenn wir eine Summe aus acht und zwei Objekten bilden; man kann ihn sich überhaupt nicht als entstanden denken. Das Begriff liche erscheint damit als das wahre Wirkliche. Im Phaidon begegnen wir diesem Punkt bereits im anamnêsis-Argument (72e–77a), wo am Beispiel des „Gleichgroßen selbst“ (auto to ison) auf die Differenz zwischen zwei empirisch gegebenen gleich großen Hölzern einerseits und dem Prädikat „gleich groß“ verwiesen wird, welches wir auf zwei vorliegende Holzstücke anwenden; das Gleichgroße selbst bildet, ebenso wie der Begriff der Zehn, unseren dauerhaften, unerworbenen Maßstab, ohne den wir Sinnlich-Variables nicht verstehen und beurteilen könnten. Doch mit Sicherheit geht Platons Kontrastierung der unterschiedlichen Varianten von Kausalität nicht soweit, dass die Betonung der causa formalis-Perspektive einen Sinnlosigkeitsverdacht gegen die causa materialis- und die causa efficiens-Betrachtungsweise implizieren würde. Dass Platon die M- und die E-Kausalität nicht insgesamt durch FKausalität ersetzen will, steht außer Frage. Es geht ihm um eine geeignete Kombination der beiden Erklärungsweisen. Hier kommt nun die Figur des Anaxagoras ins Spiel. Es ist die Anaxagoras-Passage mit ihrer Betonung teleologischer Kausalität (T-Kausalität), welche eine Verbindung zwischen M-, E- und F-Kausalität herstellt. Platon lässt seinen Sokrates berichten, er habe als junger Mann jemanden (vielleicht ja Archelaos) aus einem Buch des Anaxagoras die These vorlesen hören, die Vernunft ordne alles und sei für alles die Ursache (nous estin ho diakosmôn te kai pantôn aitios: 97b9f.). Sokrates habe dieser These sofort begeistert zugestimmt und sie dahingehend verstanden, als habe Anaxagoras sagen wollen, die Vernunft ordne jede Sache so an, wie es für sie am besten sei (ton ge noun kosmounta panta kosmein kai hekaston tithenai tautê hopê an beltista echê: 97c4f.). Daher habe er sich von Anaxagoras eine Art von Naturerklärung erhofft, die die Welt als eine bestmögliche Ordnung interpretiert. Von der Hoffnung auf eine solche explanatorische Strategie bef lügelt, habe der junge Sokrates rasch zu den Büchern des Anaxagoras gegriffen und sie durchgelesen. Statt einer vernunftbasierten Erklärung habe er jedoch nur Erklärungen auf der Grundlage von Luft, Äther oder Wasser „und auch sonst vieles Unsinnige“ (kai alla polla kai atopa: 98c2) in den anaxagoreischen Schriften vorgefunden.
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Bezeichnen wir den explanatorischen Grundsatz, den Sokrates von Anaxagoras erwartet haben soll, als „Prinzip der bestmöglichen Natureinrichtung“. Versteht man Anaxagoras’ nous-Theorie, so wie der platonische Sokrates dies tut, gemäß dem Prinzip der bestmöglichen Natureinrichtung, dann stehen einem zwei Erklärungsrichtungen offen: Man kann dann sowohl aus natürlichen Gegebenheiten auf deren Angemessenheit oder Vernünftigkeit schließen als auch umgekehrt von der Vernünftigkeit aus auf die faktische Welteinrichtung. Tatsächlich sind Sokrates’ kosmologische Beispiele an unserer Stelle („Ist die Erde f lach oder rund?“ usw.) der zweiten dieser Erklärungsrichtungen zuzuordnen, während man im Timaios auch zahlreiche Beispiele für die erste Vorgehensweise antreffen kann. Die Welt so zu sehen, heißt von der Frage auszugehen, auf welche Weise sich etwas Gegebenes als möglichst vernünftig interpretieren lässt. Sokrates charakterisiert diese Methode, die Ursache des Werdens, Vergehens und Bestehens zu bestimmen, als Frage danach, „wie es für etwas am besten ist zu sein oder sonst etwas zu erleiden oder zu tun“ (hopê beltiston autô estin ê einai ê allo hotioun paschein ê poiein: 97c7f.). Und er schließt eine starke normative Forderung an, indem er feststellt, als Mensch dürfe man keine andere Betrachtung anstellen (ouden allo skopein proshêkein anthrôpô: 97d1) als die, wie sich etwas bestmöglich verhalte. Sokrates’ falsche Erwartung an Anaxagoras führt also immerhin zu einem (hier ganz uneingelöst bleibenden) explanatorischen Programm, dem der Naturteleologie. Als Beispiele dafür können folgende Fragen dienen: Warum ist der Kosmos kugelförmig? Weil die Kugel die vollkommenste aller stereometrischen Formen bildet und der Kosmos ein perfektes dreidimensionales Abbild des intelligiblen Lebewesens darstellen muss (nach Ti. 33b). Weshalb haben Menschen einen kugelrunden Kopf, den sie oben auf dem Körper tragen? Weil dieser als Vernunftträger das Göttlichste an uns die Kugelform verdient und zudem durch den unterhalb von ihm angebrachten, dienstfertigen Körper bestmöglich geschützt werden soll (nach Ti. 44e–45a). Als beliebiges Beispiel für einen Prozess mag man wählen: Warum war Simmias als Junge kleiner, ist nun als Erwachsener aber größer als Kebes? Weil eine Welt, in der dies der Fall ist, in irgendeiner relevanten Hinsicht perfekter ist als eine, in der dies nicht gilt. Doch was genau heißt hier perfekt? Dass die Welt die bestmögliche Ordnung darstellt, kann auf zwei verschiedene Weisen aufgefasst werden: in einem intentionalen Sinn und in einem nicht-intentionalen Sinn. Menschliche oder göttliche Akteure wählen eine bestmögliche Anordnung von etwas stets relativ zu ihren jeweiligen Zielen oder Absichten; bezeichnet man eine Ordnung dagegen als bestmöglich im nicht-intentionalen Sinn, dann ist sie schlechterdings perfekt, d. h. bestmöglich gemessen an einem abstrakten Maßstab der Vernunft, unabhängig von irgendwelchen gegebenen Zielen oder Absichten. Im Timaios wird zwar bekanntlich ein demiourgos eingeführt (30a), und insofern sieht es danach aus, als würde Platon seinem Spätdialog eine intentional geprägte Form von Naturteleologie zugrunde legen, wie man sie etwa von Leibniz und von anderen christlich beeinf lussten Philosophen her kennt. In dieser Tradition gestaltet
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Gott das Universum bestmöglich vor dem Hintergrund seiner Absichten; diese hängen besonders mit der Idee einer allmählichen Formung des Menschengeschlechts zusammen (oder auch mit einer göttlichen Strafordnung vor dem Hintergrund der Erbsünde). Platons Perspektive ist dies sicher nicht. Unabhängig von der Frage, ob die Figur des Demiurgen von Platon nicht bloß erzähltechnisch motiviert ist, ist die Art von Teleologie, die im Timaios (und zudem in Nomoi X) entwickelt wird, zweifellos nicht-intentional. Denn der Demiurg gestaltet die Welt nicht bestmöglich relativ zu seinen eigenen Zielen oder Absichten, sondern bestmöglich im vernünftigen Sinn, indem er auf das intelligible Vorbild blickt.3 Für den Phaidon liegt hierin allerdings ein Problem. Platon scheint ein veritabler Fehler zu unterlaufen, indem er die Erklärungsperspektive der nicht-intentionalen Naturteleologie mit der der Handlungskausalität zusammenbringt. Dies ist kein bloßer Nebenaspekt; tatsächlich liegt hierin sogar das zentrale Argument, das Platon anführt: Er lässt seinen Sokrates darauf hinweisen, dass es unsinnig wäre, wenn man einerseits menschliches Verhalten aus vernünftigen Gründen erklären würde und andererseits physiologische Ursachen dafür geltend machen wollte. Sokrates lehnt die Vorstellung ab, man könne sein eigenes Handeln auf der Grundlage seiner Knochen, Sehnen und Gelenke erklären; dies heiße, die wahren Ursachen für sein Verhalten zu verkennen, nämlich dass es ihm gerechter zu sein scheint, dem Todesurteil der Athener Folge zu leisten, als sich ihm durch eine Flucht zu entziehen. Implizit vollzieht Platon hier eine Unterscheidung, die sich seit Wittgensteins Blauem Buch als diejenige zwischen Gründen und Ursachen etabliert hat. Gründe bilden sozusagen die Währungseinheit der Akteurskausalität, Ursachen die der Naturkausalität. Eine Erklärung auf der Basis von Naturkausalität zu liefern, heißt, empirische Gegebenheiten als nomologisch gültige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu beschreiben. Die Tatsache, dass Wasser unter bestimmten Luftdruck-Bedingungen bei 0o C gefriert und bei 100o C kocht, trifft auf das Wasser in Josefs Teekocher ebenso zu wie auf das in Sandras Eiswürfel. Erklären wir hingegen menschliche Handlungen, so greifen wir dafür auf Gründe zurück und verwenden ein alltagspsychologisches Vokabular, welches von Begriffen Gebrauch macht wie Absichten und Zielen, Wünschen und Interessen, sozialen Werten und persönlichen Prinzipien, Emotionen und Motiven usw. Und darin können sich Josefs und Sandras Umgang mit Wasser stark voneinander unterscheiden. Überdies spielt bei Handlungserklärungen, wie Donald Davidson herausgestellt hat, das principle of charity eine besondere Rolle. Im Unterschied zu naturkausalen Erklärungen geht es in Handlungserklärungen zentral darum, ob die Akteurin oder der Akteur das bestmögliche Ziel und die bestmöglichen Mittel gewählt haben oder ob ihr Handeln allenfalls partiell vernünftig, stark defizitär, akratisch, vollkommen irrational, inkonsistent 3 Ich stimme daher nicht mit Johansen 2004, 69, überein, der Platons Timaios der intentionalen Form von Naturteleologie zurechnet und Aristoteles der nicht-intentionalen.
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usw. sein mag. Handlungserklärungen beruhen somit einerseits auf der Zuschreibung mentaler Zustände (Wünsche, Überzeugungen, Hoffnungen, Befürchtungen etc.) und greifen andererseits auf Konsistenz-, Wahrheits- und Rationalitätsunterstellungen zurück; praktisches Überlegen kann daher aus einem normativen Blickwinkel als richtig oder falsch, adäquat oder inadäquat, vernünftig oder unvernünftig bewertet werden. Ist es tatsächlich dieser Punkt, den Platon gegen die physiologische Naturerklärung des Anaxagoras richtet? Dann würde er eine Verwechslung begehen, wenn er sich über die Erklärungsart der Physiologen lustig macht, etwa indem er ihre Auffassungen zur Stellung der Erde im Kosmos referiert. Dazu gehört beispielsweise die Theorie, wonach um die Erde eine Art von Wirbel gelegt ist, um sie zu stabilisieren, oder die, dass sie auf der Luft als Basis ruht „wie auf einem Backtrog“ (99b6–c1). Direkt zuvor lässt er seinen Sokrates die Bedenken gegen Anaxagoras und die Physiologen in folgender Konklusion zusammenfassen: Dass ich aber eben deswegen tue, was ich tue, und es trotzdem mit Vernunft tue, nicht aber aufgrund einer Entscheidung für das Beste, das wäre ein ganz unverantwortliches Argument. Denn es beruht auf der Unfähigkeit, zwei Dinge auseinanderzuhalten: das, was wirklich die Ursache einer Sache ist, und das, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte. Wobei die meisten, wenn sie dies unter Verwendung eines falschen Ausdrucks als ‚Ursache‘ bezeichnen, mir wie Leute vorkommen, die gleichsam im Dunkeln nach etwas tasten. (99a8–b6; Übers. Ebert) Begeht Platon in diesem Zitat eine illegitime Gleichsetzung von Gründen und Ursachen? Problematisch klingt die Stelle auf jeden Fall. Möglich ist aber auch, dass sich Platon hier nur missverständlich ausdrückt – vergleichbar seiner Rede vom Demiurgen im Timaios. Dächte er implizit an eine idealisierte Figur wie den Demiurgen, dann wäre dessen weltgestaltende Aktivität wohl nicht als Handeln aufzufassen; denn es wäre ja nicht von persönlichen Absichten und Zielen getragen (so wie Sokrates’ Verhalten unter der Bestimmung seines Glücks steht) sondern wäre einfach auf ein Optimieren des Vorhandenen gerichtet. Zumindest bliebe dann aber zu tadeln, dass der platonische Sokrates optimierende Ursachen in seinem Vergleich mit Handlungsgründen gleichsetzt.4 Das zentrale Indiz dafür, dass Platon M- und E-Kausalität nicht einfach durch FKausalität ersetzen will, sondern nach einer verbindenden Lösung sucht, etwa diejenige der T-Kausalität, findet sich ebenfalls im Text. Denn auch wenn Platon den Physiolo4 Ebenfalls missverständlich scheint mir, wenn in der modernen Kommentarliteratur davon die Rede ist, Platon wolle im vorliegenden Textstück teleologische Naturerklärungen von bloß „mechanischen“ absetzen, so etwa Dancy 2004, 291. Genau genommen deckt sich Platons Antithese aus Physiologie und „Prinzip der bestmöglichen Natureinrichtung“ nicht mit der neuzeitlichen Kontrastierung von mechanischen und teleologischen Naturerklärungen.
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gen eine Verwechslung zweier Arten von Ursache vorwirft, mag man in der zitierten Passage doch auch eine Konzession an seine Gegner sehen. Denn unterschieden wird ja immerhin zwischen dem, was „wirklich die Ursache einer Sache ist“ (ti estin to aition tô onti: 99b2f.) und dem, „ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte“ (ekeino aneu hou to aition ouk an pot’ eiê aition: 99b3f.). Wenn man die erste Form von Ursache als die Idee bzw. als den menschlichen Handlungsgrund identifiziert (F-Kausalität), muss man die zweite Form von Ursache als die Objekte physiologischer Erklärungen ansehen, etwa Wirbel und Luft oder Knochen, Sehnen und Muskeln (M- und E-Kausalität). So gesehen ist es bemerkenswert, dass die zweite Ursachenvariante immerhin als notwendiges Mittel zur Realisierung der ersten zählt. Nur zusammen sind sie als Ursachenerklärung hinreichend, für sich genommen aber lediglich notwendig. In welchem Sinn auch immer der Textteil, den wir bisher betrachtet haben (95e– 99d) das Thema Teleologie behandelt, es entsteht in jedem Fall ein Problem: Denn im zweiten Textstück (99d–102a) geht es allem Anschein nach nicht mehr um Teleologie, sondern um die Ideentheorie. Ein Erklärungsversuch hierfür stammt von R. M. Dancy (2004). Nach Dancy ist die vom jungen Sokrates enthusiastisch herbeigewünschte Naturteleologie der Sache nach genauso verfehlt wie die physiologische Naturforschung. Er sieht ihre Unmöglichkeit ein und ersetzt sie durch die Ideenannahme; und in diesem Sinn sei davon die Rede, die Ideentheorie bilde den deuteros plous, nämlich die zweitbeste Fahrt gemessen an einem ersten Anlauf (prôtos plous), welcher in den naturteleologischen Jugendversuchen des Sokrates gelegen habe. Diese These scheint mir unplausibel zu sein.5 Zum einen findet sich im Text keinerlei Hinweis darauf, dass am Prinzip der bestmöglichen Natureinrichtung irgendetwas falsch sein könnte; im Gegenteil, Platon löst dieses im Timaios gemäß dem hier angedeuteten Programm ein. Zum anderen erscheinen Hinweise auf die Ideentheorie bereits im ersten Teil; sie können also kaum als das intendiert sein, was das naturteleologische Programm ersetzt, sondern müssen etwas sein, das dieses vorbereitet. Aber wie ist das möglich?
9.2 Deuteros plous: Hypothesis und Ideen Hier ist nun der Punkt, an dem Platon zum ersten Mal in seinen Schriften (gemäß der üblichen Werkchronologie) die Ideentheorie formuliert (besonders in 100b–101c). Auffällig wirkt daher, dass er sie als „nichts Neues“ (ouden kainon: 100a9f.), ja sogar als ein häufig wiederholtes Thema kennzeichnet und die zentralen Einführungsbeispiele – nämlich das Schöne, Gute und Große an sich – geradezu als „vielbeschwatzt“ (polythrylêta: 100b4) bezeichnet.6 Man kann dies als literarische Strategie deuten, mit der 5 Ähnlich unpassend scheint mir die These von Dorter 1982, man finde in dieser Passage die epistemische Vierteilung des Liniengleichnisses aus der Politeia. 6 Dieselbe Charakterisierung findet sich schon in Phd. 76d8f.
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uns Platon darauf hinweisen will, dass die jetzt folgende Passage als das Zentrum seiner theoretischen Bemühungen anzusehen ist (insofern wäre sie vieldiskutiert), oder auch, dass sie das enthält, worum es bereits dem historischen Sokrates eigentlich gegangen sei (insofern hätten sich seine Gesprächen im Grunde immer um sie gedreht). Sicher falsch wäre es dagegen, die Ideentheorie vorzudatieren; Sokrates kann allenfalls ihr indirekter geistiger Vater sein. Denn da diese Theorie selbst bei Platon nicht früher auftaucht, wäre es erst recht abwegig, sie dem historischen Sokrates zuschreiben zu wollen. Platon beginnt seine Darstellung der Ideentheorie mit einer methodologischen Überlegung zum hypothesis-Verfahren. Dieses bildet, auch das sollte beachtet werden, immer noch einen Teil der sokratischen Autobiografie, wie sich aus dem narrativen Stil ergibt. Hierin liegt dann auch sicherlich ein Wahrheitsmoment: Das hypothesis-Verfahren bildet eine – mit dem elenchos-Verfahren der Frühdialoge verwandte – indirekte Methode der Theoriebildung und der Theorieprüfung und könnte daher prinzipiell auf den historischen Sokrates zurückgehen. Platon stellt damit nun seine Ideentheorie einerseits in einer eher defensiven Form dar: als bloße Annahme oder Voraussetzung (eben als hypothesis), wenn auch andererseits als die stärkste verfügbare Annahme. Bei diesem Verfahren wird eine prima facie überzeugende Überlegung als Ausgangspunkt gewählt und auf ihre Konsequenzen hin untersucht; scheitert die zugrunde gelegte Ausgangsannahme, so muss sie zugunsten einer neuen hypothesis aufgegeben werden.7 Nur ganz oberf lächlich betrachtet weist diese Methode Ähnlichkeiten mit Karl Poppers Kritischem Rationalismus auf. Platon ist weder konsequenter Fallibilist – vielmehr erfahren wir in Politeia V–VII, dass er Ideenerkenntnis für irrtumsfrei hält und für die Idee des Guten sogar eine „unwiderlegbare Argumentation“ als möglich ansieht8 – noch bestreitet er explizit, dass es auch eine direkte Erkenntnis von Ideen geben könnte. Platon lässt seinen Sokrates betonen, das hypothesis-Verfahren sei die zweite Fahrt (deuteros plous) zur Erforschung der wahren Ursachen. Gewöhnlich bedeutet deuteros plous so viel wie „zweitbeste Fahrt“ (nämlich eine beschwerlichere Seefahrt mit Rudern statt mit Segeln). Falls Platon hiermit ausdrücken möchte, dass der prôtos plous die vorsokratische Naturforschung ist, müsste es sich um einen ironischen Sprachgebrauch handeln. Denn mit Sicherheit kann Platon nach aller Kritik an der Physiologie nicht willens sein, die Ideentheorie dieser gegenüber als etwas Indirektes, Mühevolles und Sekundäres einzustufen. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Ausdruck deuteros plous auf die vorsokratische Physiologie als der „ersten Fahrt“ zu beziehen: nämlich einfach in einem chronologischen Sinn. Dann wäre die Ideenannahme die zweite Fahrt in Bezug auf die Biografie des Sokrates. Allerdings sprechen wichtige Parallelstellen bei
7 Zum hypothesis-Verfahren vgl. die sorgfältigen Analysen von Bostock 1986, 157–177, und Stemmer 1992, 250–270. 8 Vgl. den Ausdruck anharmatêton in Rep. V, 477e7 sowie den aptôs logos von VII, 534c3.
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Platon und Aristoteles dafür, dass deuteros plous stets das Zweitbeste in einem werthaften Sinn bezeichnen muss.9 In der Linie meiner bisherigen Interpretation möchte ich daher folgende Lesart vorschlagen: Der Ausdruck deuteros plous bezeichnet m.E. tatsächlich die zweitbeste Fahrt im evaluativen Sinn, bezieht sich aber auf die von Sokrates irrigerweise bei Anaxagoras vermutete Naturteleologie als den prôtos plous. So gelesen bräuchte man die Ideentheorie hier nicht als ironisch unterbewertet anzusehen; Platon wäre vielmehr selbst der Meinung, dass diese tatsächlich beschwerlich ist und auch insgesamt noch zu wenig leistet. Er verfügt im Phaidon ja noch nicht über das theoretische Instrumentarium, um das „Prinzip der bestmöglichen Natureinrichtung“ auszuführen und die Ursachen für die Veränderungen in der Natur zu benennen. Wenn dies zutrifft, dann gesteht Platon selbst zu, dass die Ideentheorie als begriffliches Verfahren noch unzulänglich ist, weil er im Grunde eine die M-, E- und FKausalität synthetisierende Naturteleologie liefern müsste. Diese Lesart des Textes ist bestens damit vereinbar, dass er seinen Sokrates das Verfahren einer „Zuf lucht zu den Begriffen“ (eis tous logous kataphygonta: 99e5) grundsätzlich verteidigen lässt. Er legt ihm die Worte in den Mund, man dürfe das hypothesis-Verfahren keinesfalls als eine bildhafte Betrachtungsweise des Seienden missverstehen (100a2). Dass die in Aussicht genommene begriff liche Methode indirekt vorgeht, gesteht Sokrates damit ebenfalls zu. Er liefert folgende Rechtfertigung dieser Indirektheit: Wer die Ursachen im Medium der logoi betrachtet, gleicht nach Sokrates demjenigen, der sich die Sonne im Medium des Wassers ansieht. Der hier verwendete Vergleich antizipiert gewissermaßen das Höhlengleichnis, wo wiederholt gesagt wird, dass die Aufsteigenden mit einer Blendung durch überhelles Licht konfrontiert sind.10 Das hypothesis-Verfahren sei vorziehenswert, wenn man – so wie Sokrates selbst als junger Mann – einen Schaden vermeiden möchte vergleichbar jener Gefährdung der Augen, welche beim unmittelbaren Betrachten der Sonne im Kontext einer Sonnenfinsternis eintreten könne. Offenbar ergibt sich der befürchtete Schaden hier nicht aus einer der Überforderung, sondern, wie schon Dorter (1982, 121) richtig bemerkt, aus einer der Verwirrung oder Unterforderung der Vernunft durch die sinnliche Welt. Zur Ideentheorie selbst erfahren wir in unserem Text Folgendes: Es gibt ein „Schönes selbst“ (auto to kalon: 100c5), und alles, was außer diesem sonst noch als schön anzusehen ist, ist es, „weil es an jenem Schönen partizipiert“ (dihoti metechei ekeinou tou kalou: 100c5f.). Dieses Schönes bildet die wahre Ursache alles Schönen, während andere Gründe, auch wenn sie „irgendwie gelehrt“ (sophas) klingen mögen – darunter der Verweis auf die blühende Farbe oder die Gestalt, als verwirrend zurückgewiesen wer-
9 Vgl. Platon, Plt. 300c2 und Aristoteles, Ethica Nicomachea II 9, 1109a35, sowie Politik 1284ab19. 10 Vgl. im Höhlengleichnis die Passagen 515c7f., e1, 518a5, b1, c6.
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den müssen (vgl. tarattomai: 100d311 ). Die ideentheoretische Ursachenerklärung wird hingegen als „einfach, simpel und vielleicht schlicht“ (haplôs kai atechnôs kai isôs euêthôs) charakterisiert, nicht, wie wir vielleicht erwarten würden, als anspruchsvoll, revisionär oder provokativ. Sie bestehe kurz und gut darin, Schönheit auf eine „Präsenz oder Gemeinschaft“ (eite parousia eite koinônia: 100d5) jenes Schönen zurückzuführen. Zweimal erscheint danach noch die Formel, alles Schöne ergebe sich aus dem Schönen, womit gesagt ist, dass alles einzelne oder partiell Schöne aus dem selbstständig existierenden Schönen hervorgeht. Es handelt sich, wie Sokrates insgesamt drei Mal betont, um die „sicherste Antwort“ (asphalestaton: 100d8, vgl. asphales e1 und asphalous 101d2) auf die Frage nach den Ursachen. Im Schlussteil unseres Textes kehrt Platon nochmals zu einer methodologischen Überlegung zurück. Mit Blick auf die Ursachenforschung empfiehlt er in dem bereits oben (S. 132) zitierten Text fast händeringend, man solle – mit Blick auf die eigene Schwäche und Verwirrbarkeit – möglichst strikt bei der ideentheoretischen Antwort bleiben, wonach die Ursache der Zweiheit in der Zwei-an-sich liege usw., und solle folglich alle Überlegungen beiseitelassen, welche auf Teilungen (schiseis) und Hinzufügungen (prostheseis) beruhen. Diese Empfehlung richtet sich an den, der Naturerklärung betreibt. Interessant ist nun zu sehen, dass Platon noch zwei weitere Rollen vorsieht, nämlich die eines Herausforderers oder Prüfers der Ideentheorie und die eines Verteidigers. Ich zitiere dazu die abschließende Methodenpassage: Wenn sich aber jemand an die Voraussetzung selber hält, dann würdest du das übergehen und nicht eher antworten, als bis du untersucht hättest, ob die Folgerungen, die sich aus ihr ergeben, untereinander übereinstimmen oder nicht. Sooft du aber diese Voraussetzung selber rechtfertigen müsstest, würdest du sie doch auf gleiche Weise rechtfertigen, indem du wieder eine weitere Voraussetzung machen würdest, welche immer dir von den höheren als die beste vorkommen würde, bis du auf etwas Hinreichendes stoßen würdest? (101d3– e1; Übers. Th. Ebert) Was der Passus sagt, ist m.E. dies: Wenn sich ein Gesprächspartner findet, der die Ideentheorie als hypothesis verteidigt, so braucht man nicht selbst auf der Linie dieser Annahme zu antworten. In der Funktion des Prüfers muss man vielmehr untersuchen, ob die Folgerungen aus ihr untereinander übereinstimmen oder nicht übereinstimmen. In der Funktion des Verteidigers dagegen soll man auf eine weitere, eine übergeordnete Annahme zurückgreifen, die einem als beste Option erscheint, bis man auf „etwas Hinreichendes“ kommt (heôs epi ti hikanon elthois). Die Andeutung, dass die Ideentheorie nichts Selbsttragendes ist, sondern zu ihrer Verteidigung einer höheren Annahme 11 In Phd. 79c7f. hießt es, die Seele gerate beim Betrachten des instabilen Wahrnehmbaren in einen Zustand des „Umherirrens und Irritiertwerdens“ (planatai kai tarattetai).
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bedarf, bleibt hier vollkommen unerläutert und kann nur durch andere Texte und relativ spekulativ beantwortet werden. Wir erfahren weder, wann etwas „hinreichend“ ist, noch, was unter einem „Höheren“ zu verstehen sein könnte. Eine weniger spekulative Interpretationsfrage zur Struktur des hypothesis-Verfahrens ist, was Platon damit meint, dass aus einer bestehenden hypothesis Folgerungen gezogen werden sollen, welche mit der Annahme entweder übereinstimmen oder nicht übereinstimmen (vgl. xymphônei ê diaphônei: 101d6). Es existiert eine ältere Kontroverse zu der Frage, ob Platon mit xymphônei entweder sagen möchte „folgt logisch aus“ oder lediglich „ist vereinbar mit“. Beide Varianten führen zu Schwierigkeiten, und so haben wir es scheinbar mit einem richtiggehenden Dilemma zu tun. Wenn xymphônei logisches Folgen bedeuten würde, dann schiene Platons Aussage überpointiert, weil er dann behaupten würde, man solle alles als falsch ansetzen, was nicht aus der Ausgangsannahme logisch folgt. Sollte xymphônei dagegen nur Vereinbarkeit meinen, dann wäre es zwar plausibel, wollte Platon alles Unvereinbare als falsch annehmen, aber es schiene viel zu weit zu gehen, wollte er alles mit der Ausgangsannahme Vereinbare als wahr gelten lassen. Zu diesem Punkt gibt es eine Reihe von Lösungsversuchen, darunter den textkritischen Lösungsvorschlag von Theodor Ebert (2004, 350–355), der das logische Folgen als Sinn des xymphônei retten würde. Plausibler scheint mir hier aber Dancys Strategie zu sein, der zufolge die Alternative von logischem Folgen und Kompatibilität als zu einfach zurückzuweisen ist. Das xymphônei ê diaphônei könnte dann im Sinn von „insgesamt gut oder schlecht zusammenpassen“ verstanden werden. Abschließend sollten wir uns noch die Frage stellen, inwiefern die Behandlung des Ursachenproblems für eine Antwort auf den Einwand des Kebes notwendig ist. Warum glaubt Sokrates, er müsse sich zuerst der Frage nach der aitia zuwenden, um das Bedenken des Kebes zu entkräften und um überzeugend für die Unsterblichkeit der Seele argumentieren zu können? Die Antwort hierauf findet sich an der Textstelle 100b7–9, wo es heißt: Wenn du mir diese Dinge zugibst und zugestehst, dass es sie gibt, dann hoffe ich, dir im Ausgang von ihnen den Grund darzulegen und nachzuweisen, dass die Seele etwas Unsterbliches ist. (Übers. Th. Ebert) Das Zitat steht im Kontext der Einführung der Ideentheorie, und die Entitäten, um deren Zugeständnis Sokrates bittet, sind das Schöne, Gute und Große usw. Kebes hat das Ursachenproblem selbst gar nicht aufgeworfen, aber der platonische Sokrates hält es für zentral, um sich daran klarzumachen, dass man um die Annahme von Ideen nicht herumkommt. Damit wiederum weist er auf seine „Überlegung aus den essentiellen Eigenschaften“ voraus, welche er bald nach unserer Passage als viertes und abschließendes Argument zugunsten der Unsterblichkeit der Seele entwickelt (103c–107b). Das Argument beruht auf der Einsicht, dass bestimmte Entitäten Wesensmerkmale aufweisen,
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die sie keinesfalls verlieren können; und so besitzt auch die Seele die Eigenschaft des Lebens auf eine unverlierbare Weise. Diese Überlegung beruht auf ideentheoretischen Prämissen, insofern die Seele nach Platon immer am Leben teilnimmt und niemals am Totsein partizipieren kann. Alles das deutet nun darauf hin, dass der platonische Sokrates – und nach meiner Vermutung auch Platon selbst zur Abfassungszeit des Phaidon – das letzte Unsterblichkeitsargument, im Unterschied zu den drei davor angeführten, für überzeugend gehalten hat. Dessen eigentliches Fundament aber bildet die Ideentheorie, die er hier etwas hastig und wie beiläufig einführt, aber offenbar als eine ebenso einfache wie zwingende theoretische Annahme ansieht.
Literatur Bostock, D., 1986: Plato’s Phaedo, Oxford. Dancy, R. M., 2004: Plato’s Introduction of Forms, Cambridge. Dorter, K., 1982: Plato’s Phaedo: An Interpretation, Toronto. Ebert, Th., 2004: Platon, Phaidon. Übersetzung und Kommentar, Göttingen. Fine, G., 2003: Forms as Causes: Plato and Aristotle, in: dies., Plato on Knowledge and Forms. Selected Essays, Oxford, 350–396. Hackforth, R., 1952: Plato’s Phaedo, New York. Johansen, T. K., 2004: Plato’s Natural Philosophy. A Study of the Timaeus-Critias, Cambridge. Menn, S., 2010: On Socrates’ First Objections to the Physicists (Phaedo 95e8–97b7), in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 38, 37–68 Rowe, C. J., 1993: Explanation in the Phaedo 99c6–102a8, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, 11, 49–69. Sedley, D., 1998: Platonic Causes, in: Phronesis 43, 114–132. Stemmer, P. 1992: Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin / New York. Vlastos, G. 1969: Reasons and Causes in the Phaedo, in: Philosophical Review 78, 291–325.
10 Dorothea Frede
Das Argument aus den essentiellen Eigenschaften (102a–107d)
10.1 Hintergrund Zum rechten Verständnis des Arguments, mit dem Sokrates seine Beweisführungen für die Unsterblichkeit der Seele abschließt, ist daran zu erinnern, dass es den Schlussstein seiner langen Auseinandersetzung mit dem Einwand von Kebes’ Seite darstellt. Denn im Unterschied zu den Einwänden des Simmias, die Sokrates unverzüglich Punkt für Punkt widerlegt, stellt die Frage des Kebes ihn nach eigenem Eingeständnis vor eine echte Schwierigkeit. Sie betrifft die Gewissheit, dass die Seele durch wiederholte Zyklen von Geburt und Tod nicht allmählich aufgerieben wird, sodass jede bevorstehende Trennung von Körper und Seele die letzte sein könnte (87a–88b). Um zu zeigen, dass die Seele nicht nur langlebig, sondern unsterblich ist, weil sie durch Geburt und Tod nicht affiziert wird, so Sokrates, müsste er sich mit der Ursache für Werden und Vergehen befassen (95e–96a).1 Dazu sieht es sich aus zwei Gründen außerstande. Zum einen weist er auf einen Katalog von Schwierigkeiten mit dem Begriff der Ursache hin, die in seiner Jugend seinem Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen ein Ende gesetzt hatten (96a–97b). Zum anderen legt Sokrates dar, warum auch seine Hoffnungen enttäuscht wurden, die er an die Verheißung des Anaxagoras geknüpft hatte, die Vernunft sei die Ursache aller Dinge. Statt der erwarteten teleologischen Erklärung, dass und wie die Vernunft alles zum Besten ordnet, bietet Anaxagoras lediglich mechanistische Naturerklärungen, die in Sokrates’ Augen zwar als notwendige Bedingungen, nicht aber als hinreichende Erklärungen dafür gelten können, dass das Gute überall als bindende Kraft wirkt (97c–99d).
1 Sokrates ist hier sehr genau: Die Frage ist, ob das Eintreten der Seele in den Körper für sie nicht wie eine Krankheit der „Anfang ihres Untergangs ist“ (95c). Vgl. dazu Dixsaut 2001, 388f.
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Angesichts dieser ungelösten Probleme sieht Sokrates sich genötigt, den „zweitbesten Weg“ (99d: deuteros plous) in der Frage nach der Unsterblichkeit einzuschlagen und seine Zuf lucht bei den logoi zu suchen (99e), die auf der Ideenlehre basieren. Mit ihrer Hilfe hofft er, den Grund (aitia) dafür aufzeigen und herausfinden zu können, dass die Seele unsterblich ist (100b3–9). Auf die Darlegung dessen, was nicht geht, soll also die Darstellung dessen folgen, was geht, sodass die gesamte Erörterung von 100c–107b den Nachweis der Unsterblichkeit der Seele zum Ziel hat. An diesem an sich verheißungsvollen Punkt sieht sich jeder Exeget zunächst vor Schwierigkeiten gestellt, die nicht allein der quaestio vexata einer angemessenen Übersetzung von „logos“ durch „Wort“, „Argument“, „Definition“, „Erklärung“ oder auch „Theorie“ geschuldet sind. Vielmehr ist überdies angesichts der Tatsache, dass Sokrates sich auf die Ideenlehre beruft und dazu auch gewisse methodische Raffinements einführt, unklar, warum die „zweite Fahrt“ nur als eine zweitbeste Lösung gelten soll. Parallelen belegen freilich, dass die Metapher auf der Nachteiligkeit des Ruderns im Vergleich zum Segeln beruht.2 Wie eine Besinnung auf die Problematik selbst zeigt, hat Sokrates aber mit der Behauptung der „Zweitrangigkeit“ seiner Vorgehensweise durchaus recht. Um zeigen zu können, dass die Seele tatsächlich durch wiederholte Trennungen und Wiedervereinigungen mit einem Körper nicht beeinträchtigt und so allmählich aufgerieben wird, müsste man nicht nur wissen, was mit ihr bei Geburt und Tod geschieht, sondern man müsste dazu auch ihre Natur kennen. Durch Beobachtungen kommt man dieser Problematik aber nicht bei. Man könnte sich, mit Sokrates gesprochen, bei der Beobachtung von Geburt und Tod von Menschen buchstäblich die Augen ausschauen, ohne etwas darüber zu erfahren (99d–e). Weder genaues Hinsehen, noch physiologisch-logische Überlegungen über verschiedene Arten von Ursachen noch auch die Bemühung um eine „Bestheitserklärung“ helfen da wirklich weiter. Daher ist die „Flucht zu den logoi“ einer begriff lichen Rechtfertigung der einzige Ausweg, wie Sokrates mit seiner Erklärung bekräftigt, aufgrund der Ideenhypothese hoffe er zeigen zu können, dass die Seele unsterblich ist. Am hypothetischen Charakter seines Beweises lässt Sokrates keine Zweifel offen: Er will von derjenigen Hypothese ausgehen, die er für die stärkste hält, und als wahr ansehen, was mit ihr übereinstimmt. Nun könnte man sich fragen, ob die Existenz der Ideen nicht bereits durch die Beweisführung mithilfe der Wiedererinnerung etabliert worden ist, welche mit „gleicher Notwendigkeit“ die Existenz der Ideen und die Präexistenz der Seele erwiesen hat (76d–77a). Dazu ist anzumerken, dass die hypothetische Methode lediglich von der Existenz der hier infrage stehenden Ideen und der Teilhabe von Dingen
2 Vgl. Platon, Plt. 300c; Phlb. 19c; Menander, Frg. 241 (ed. Kock) et pass.: „sich ohne Fahrtwind mit Rudern fortbewegen“. Dass ein Scholiast zur Erklärung der Phaidon-Stelle eine andere Interpretation vorschlägt, nämlich die Sicherheit des Ruderns, ist dem Bemühen geschuldet, die „sichere Hypothese“ aufzuwerten (vgl. Greene 1981, 14).
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an ihnen ausgeht, nicht der Ideen überhaupt, und zudem die Natur der fraglichen Ideen und die Art des Teilhabens nicht näher bestimmt. Die weiteren methodischen Anweisungen zum Umgang mit den Ideen dienen der Vorbereitung dieses Beweises. Denn auf die „sichere, wenn auch einfältige“ Ideenannahme, dass alle bestimmten Charakteristiken auf nichts anderem als auf der Teilhabe des jeweiligen Gegenstandes an den gleichnamigen Ideen beruhen und sich so die zuvor erwähnten Schwierigkeiten mit der Bestimmung von Ursachen vermeiden lassen (100b–101c), folgen zwei kleine aber feine Zusätze, die wichtige Erweiterungen und Präzisierungen der Anwendung der Ideenhypothese darstellen: 1. 101c9–d5 fordert, an der „einfältigen Hypothese“ zwar festzuhalten, jedoch die Vereinbarkeit ihrer Konsequenzen zu überprüfen. 2. 101d5–e1 fordert, zur Rechtfertigung der einfältigen Hypothese auf höhere Hypothesen zurückzugreifen, bis man zu etwas „Hinreichendem“ gelangt. Beide Forderungen stellen Interpreten vor Schwierigkeiten. (1) ist problematisch, weil sich prima facie aus der simplen Hypothese, dass etwas Schönes durch Teilhabe am Schönen schön ist, keine einander widersprechenden Konsequenzen ergeben sollten. (2) könnte bedeuten, dass die Suche nach „etwas Hinreichendem“ im Sinn der Politeia erst bei Unhypothetischem, also bei der Idee des Guten, haltmachen darf. Lösungen dieser hier nur angedeuteten Schwierigkeiten werden dadurch erschwert, dass Sokrates seine Forderungen nicht weiter kommentiert, sondern sie lediglich mit einer Warnung vor Verwirrung durch sophistische Vorgehensweisen abschließt. Der Eindruck, die Erklärung zur Methodik sei damit abgeschlossen, wird noch durch die Zäsur verstärkt, welche die einhellige Zustimmung von Sokrates’ Partnern zu seiner Ideenhypothese darstellt, der sich auch noch Phaidon und Echekrates, als Partner des Rahmengesprächs, anschließen (102a2–b2). So scheint die Wiederaufnahme der Diskussion mit der Frage, ob ein und dieselbe Person zugleich konträre Eigenschaften besitzen kann, zunächst in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ideenhypothese und ihrer Anwendung zu stehen (102b–103a). Wie näheres Hinsehen erweist, trügt dieser Schein jedoch.
10.2 Die Teilhabe an entgegengesetzten Ideen (102b–103c) Die Besonderheit des Beispiels, anhand dessen Sokrates seine Beweisführung aufnimmt, die Größe und Kleinheit des Simmias im Vergleich zu der von Phaidon und Sokrates, dürfte mit zur Unklarheit darüber beitragen, dass diese Erörterung eine Überprüfung der Ideenhypothese auf widersprüchliche Folgerungen hin und damit eine Anwendung der methodischen Forderung (1) darstellt. Nur geht es hier nicht um die Teilhabe eines Gegenstandes an einer Idee, sondern um die gleichzeitige Teilnahme ein und desselben
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Gegenstandes an zwei Ideen, nämlich an Größe und Kleinheit, wenn Simmias, mit dem Sokrates seine Beweisführung fortführt, durch die Teilhabe an der Idee der Größe groß und durch die an der Idee der Kleinheit klein ist. Die Auf lösung dieses vermeintlichen Widerspruchs begründet Sokrates nicht einfach durch einen Verweis auf die Relativität des Groß- und Kleinseins bzw. des Größer- und Kleinerseins,3 sondern damit, dass Simmias nicht als solcher an der Größe und Kleinheit teilhat. Nicht er selbst, sondern die Größe/Kleinheit, an der er teilhat, wird durch die Größe von Phaidon übertroffen, während seine Größe wiederum die Größe/Kleinheit übertrifft, an der Sokrates teilhat. Nun fragt sich aber, was mit der Klarstellung dieser Bezüge zwischen Groß- und Kleinsein eigentlich gewonnen ist und warum Platon sich überhaupt die Schwierigkeit mit Relativbegriffen aufhalst, die sich durch die Verwendung anderer Beispiele hätte vermeiden lassen. Denn so ist der Text zunächst alles andere als durchsichtig. Dafür gibt es jedoch mehrere Gründe. Zum einen liefern Relativbegriffe leicht widerlegbare Beispiele für scheinbar miteinander unverträgliche Ideenannahmen. Zum anderen lässt sich eben deshalb besonders leicht zeigen, dass diese Eigenschaften nicht zur Natur ihres Besitzers gehören, sondern Aspekte darstellen, die auf äußeren Beziehungen beruhen. Da angesichts der unterschiedlichen Relationen kein Widerspruch in der Annahme liegt, Simmias sei aufgrund der Teilhabe an der Idee des Großen groß und an der des Kleinen klein, kann Sokrates weitere Folgerungen über diese Eigenschaften ziehen. Sie bestehen zunächst darin, dass Eigenschaften selbst ebenso wenig ihr Gegenteil annehmen wie die dazugehörigen Ideen: Keine konkrete Größe verkehrt sich in ihr Gegenteil. Wie sich Platon dazu in Anlehnung an die militärische Sprache von Angriff, Widerstand, Rückzug, Eroberung und Besetzung ausdrückt, zieht sich die Eigenschaft vielmehr beim „Anrücken“ ihres Gegenteils entweder zurück, weicht aus oder geht zugrunde. Warum sich Platon dieser martialischen Metaphorik bedient, lässt der Nachsatz erkennen: Solche Eigenschaften sind nicht bereit oder fähig, zu verharren und in ihr eigenes Gegenteil verkehrt zu werden (wie etwa die zuvor freien Bewohner einer Stadt zu Sklaven werden). Zur Annahme des Gegenteils ist jeweils nur der Besitzer der betreffenden Eigenschaften fähig. Aus groß wird also nicht klein, vielmehr unterliegen große und kleine Gegenstände derartigen Veränderungen. Die Beispiele von Größe und Kleinheit eignen sich deswegen besonders gut zur Veranschaulichung dieser Verhältnisse, weil Veränderungen zum Gegenteil hin, die wir heute als bloße Aspektänderungen bezeichnen würden, simultan auftreten können, während dies bei echten Qualitätsveränderungen, wie etwa bei Krank- und Gesundwerden nicht der Fall ist. Das Problem der gleichzeitigen Teilhabe an Gegensätzlichem lässt sich somit besonders leicht als Scheinproblem enttarnen. Dass es Platon um eine Präzisierung des Verhältnisses zwischen konträren Eigenschaften und ihren Trägern zu tun ist, wird durch den Einwand vonseiten eines nicht ge3 Der Wechsel zwischen den positiven und den komparativen Ausdrücken zeigt an, dass dazwischen kein Unterschied gemacht werden soll, da beide Relativ-Verhältnisse bezeichnen.
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nannten Zuhörers noch hervorgehoben (103a–b). Dieser Anonymus sieht in der neuen Festlegung einen Widerspruch zum Prinzip des Entstehens aus Gegensätzen im ersten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele (70d–71a). Dieser Einwand gibt Sokrates die Gelegenheit zu einer Klarstellung: Das Prinzip der Entstehung aus Gegensätzlichem bedeutet nicht die Entstehung der Gegensätze auseinander, sondern bezieht sich auf die Träger dieser Eigenschaften, die aus dem einen der beiden entgegengesetzten Zustände in den anderen übergehen, wie bei Wachen und Schlafen, Leben und Tod. Nicht Tod und Leben gehen ineinander über, sondern der Übergang bezieht sich auf die betreffenden Menschen. Dass der Einwand von einem Unbenannten kommt und nicht etwa von Kebes, zeigt an, dass eine Klarstellung der Sache nach eigentlich nicht notwendig wäre, sondern der Sicherstellung derjenigen Voraussetzungen dient, die für die nachfolgende Untersuchung von Bedeutung sind.
10.3 Die Einführung essentieller Eigenschaften und ihre Konsequenzen (103c–105c) Sokratische Untersuchungen sind oft auch deswegen schwer zu verstehen, weil erst in ihrem Verlauf deutlich wird, worauf er mit seinen Fragen eigentlich hinaus will. Das gilt auch für einzelne scheinbare Richtungsänderungen, wie sie die plötzliche Hinwendung zum Warmen und Kalten und ihren Beziehungen zu Feuer und Schnee darstellt. Wie sich anschließend zeigt, will Sokrates insofern eine Beziehung zwischen den Verhältnissen von Feuer und Wärme, Schnee und Kälte zu der zuvor angesprochenen Unverträglichkeit von Gegensätzen herstellen, als in ihrem Fall nicht nur die Gegensätze selbst, sondern auch ihre Besitzer das Gegenteil ihrer notwendigen oder essentiellen Eigenschaften nicht annehmen können. So ist z. B. Schnee mit Wärme unvereinbar, sodass nicht nur die Kälte, sondern auch der Schnee sich beim „Anrücken“ von Wärme entweder zurückziehen oder zugrunde gehen muss. Analoges gilt für das Feuer: nähert sich ihm Kälte, so wird es diese niemals annehmen und dabei bleiben, was es ist. Als allgemeine Schlussfolgerung ergibt sich, dass in solchen Fällen nicht nur die Idee selbst (103e3: eidos) ihre Bezeichnung für alle Zeit in Anspruch nimmt, sondern auch etwas anderes, was zwar nicht mit der Idee identisch ist, wohl aber deren Charakter hat, solange es existiert, und auch danach benannt wird.4 4 Die Bedingung, dass die Dinge, die etwas notwendigerweise mit sich bringen, diese Eigenschaft auch selbst besitzen müssen, wird durch die „Eponymie-Bedingung“ garantiert (102b2), d. h. dass sie nach dieser Eigenschaft auch benannt werden. Diese Tatsache übersehen all diejenigen, die Platons Beweisführung als Fehlschluss interpretieren (z. B. Ebert 2004, 389–397). Dass die Seele nicht nur „lebenbringend“, sondern selbst lebendig ist, gehört zu den Grundvoraussetzungen der Diskussion von Anfang an. Sie steht bereits hinter Kebes’ Forderung nach einem Beweis dafür, dass die Seele den Tod überlebt (70a).
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Dass mit notwendigen oder essentiellen Eigenschaften etwas Neues eingeführt wird, bestätigt die Tatsache, dass Sokrates mathematische Gegenstände als weitere Beispiele von Verhältnissen dieser Art anführt und eingehend erörtert (103e5–104e1). So führt er aus, dass das Ungerade ein Charakteristikum ist, welches nicht nur selbst immer diese Bezeichnung trägt, sondern dass das Gleiche auch für alle ungeraden Zahlen gilt, während die andere Hälfte der Zahlen sämtlich das Charakteristikum des Geraden haben und daher zwar nicht mit der Geradheit identisch sind, diese Eigenschaft aber für immer besitzen. Zur genaueren Deutung dieser Verhältnisse nimmt Sokrates auch die problematische Redeweise von „Ideen in uns“ auf, die in der Sekundärliteratur für einige Verwirrung gesorgt hat, zumal sie bei Platon sonst nicht vorkommt. Diese Redeweise dürfte darauf beruhen, dass außer von „Teilhabe“ (101c; 102b2: metaschesis, metechein, metalambanein) auch von „Anwesenheit“ (parousia) und „Gemeinschaft“ (koinônia) die Rede war (100d5– 6). Daher legt sich eine Gegenüberstellung der „Größe an sich“ und der „Größe in uns“ (102d6f.) nah, wie auch die Feststellung der Gemeinsamkeit, dass beide ihr Gegenteil nicht annehmen können. Diese „immanenten Ideen“ sollen aber lediglich den Unterschied zwischen der Teilhabe an einer Idee als solcher und an denjenigen Eigenschaften kennzeichnen, die mit dieser Idee notwendig verbunden sind, ein Notwendigkeitsverhältnis, welches sich auf die Teilhaber überträgt. Aus diesem Grund spricht Sokrates davon, es gebe Dinge, die nicht das Gegenteil der Idee annehmen, „die in ihnen ist“ (104b8–10). Auch des Weiteren hält Sokrates am Ausdruck des In-seins fest, weil er ihm erlaubt, das Verhältnis zwischen den Ideen und ihren Teilhabern so darzustellen, dass die Ideen all das, was sie „besetzen“, dazu zwingen, ihre eigene Form anzunehmen und darüber hinaus für das so Besetzte auch das Gegenteil ihrer essentiellen Eigenschaft ausschließen. So „zwingt“ die Idee der Dreiheit alles, was sie in Besitz nimmt, dazu, ungerade und damit das Gegenteil des Geraden zu sein. Dass sich die Ideen hier wie Besatzer aufführen, bedeutet jedoch keine Umdeutung der Ideenlehre. Sokrates will mit dieser für Ideen ungewohnten Aktivität nicht mehr zum Ausdruck bringen, als dass alles, was an der Idee Dreiheit teilhat, d. h. die Eigenschaft drei zu sein besitzt, überdies notwendigerweise ungerade ist und somit ebenso notwendigerweise dem Geraden entgegengesetzt ist. Nun könnte die Rede von Angriff, Besetzen, Standhalten, Weichen oder Untergehen bei Zahlen fehl am Platz erscheinen, da sie Veränderungen nicht unterliegen. Wie sollte aus der Fünf eine gerade Zahl werden? Sokrates dürfte hier nicht von den Zahlen selbst, sondern von zählbaren Dingen sprechen, deren Anzahlen sich verändern lassen. Zwar klingt es etwas merkwürdig, dass man aus einer geraden Zahl durch Hinzufügung einer Eins eine ungerade macht, die Formulierung lässt sich aber leicht naturalisieren:
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Aus etwas Ungeradem wird etwas Gerades, wenn man aus einer Dreizahl eine Vierzahl macht.5 Die Heterogenität der Beispiele erschwert nun freilich die Beurteilung der Stringenz der Beweisführung. Denn Platon macht bei seiner „Besatzungsmetaphorik“ keinen erkennbaren Unterschied zwischen immanenten Eigenschaften wie der Größe oder der Dreiheit einerseits und konkreten Gegenständen wie Feuer und Schnee anderseits und gibt zudem bei Fieber und Krankheit nicht zu erkennen, ob er sie als Gegenstände oder als Eigenschaften ansieht. Bei wohlwollender Interpretation lässt sich aber erklären, warum er sich an der Verschiedenheit seiner Beispiele nicht stört: Sowohl im Fall von Eigenschaften, die sich unmittelbar als Repräsentanten von Ideen verstehen lassen, wie etwa die Zahlen, wie auch im Fall von Dingen, die auf Ideen beruhen dürften, wie Feuer und Schnee, lassen sich analoge Verhältnisse von der Art konstruieren, um die es Platon eigentlich zu tun ist. Dass er zunächst von Zahlen ausgeht, um die Konsequenzen des Besitzes von essentiellen Eigenschaften darzulegen, liegt nicht allein daran, dass die Zahlen eminente Anwärter auf Teilhabe an Ideen sind, sondern dass die essentielle Verbindung von Zahlen mit ihrer Geradheit oder Ungeradheit jedem Schulkind bekannt ist. Bei Ideen von Dingen wie Feuer oder Schnee besteht hingegen einerseits Ungewissheit, was entsprechende Ideen angeht,6 zum anderen ist das „Aufzwingen“ der betreffenden Eigenschaften auf das „Besetzte“ zumindest problematisch: Das Feuer erhitzt zwar den Ofen, so wie der Schnee Dinge kühlt; ob man einen Ofen „feurig“ nennen würde und Blumen „schneeig“, bleibt aber dem Sprachgefühl überlassen. Dass Platon auf Beispiele dieser Art nicht von vornherein verzichtet, hat jedoch einen triftigen Grund: Das Bild vom Zurückweichen oder Untergehen passt besser zu Schnee und Feuer oder zur Krankheit als zu Zahlen oder Anzahlen, selbst wenn die Redeweise auch im Fall von Schnee, Feuer und Krankheit nur bildlich gemeint sein kann.7 Zahlen bzw. Anzahlen bieten für Platons Anliegen jedoch den Vorteil, dass der entscheidende weitere Schritt in der Beweisführung leicht verständlich ist: Bestimmte Gegenstände können nicht nur nach ihren Wesensmerkmalen benannt werden, sondern eben dies gilt auch für das Gegenteil ihrer Merkmale. So sind gerade Zahlen nicht nur notwendigerweise gerade, sondern ebenso notwendig nicht ungerade und können auch so bezeichnet werden, eine Feinheit, die sich etwa im Deutschen oder Französischen nicht nachvollziehen lässt, weil keine positiven Bezeichnungen für das Ungerade existieren wie perisson im 5 Goethe sieht dies in seinem Gedicht über die Heiligen Drei Könige allerdings anders: „Es sind ihrer drei und nicht ihrer vier. Und wenn zu den dreien der vierte wär, so wär ein heiliger drei König mehr.“ 6 Noch im Parmenides lässt Platon den jungen Sokrates Zweifel an der Existenz von Ideen von Menschen, Feuer und Wasser äußern (Parm. 130c.). 7 Ein schlichtes Versehen Platons (Bostock 1986, 187ff.) ist deswegen nicht anzunehmen, weil es ihm gerade auf die Heterogenität der Beispiele anzukommen scheint. Im übertragenen Sinn sagt man von Schnee, er habe sich ins Hochgebirge zurückgezogen, vom Feuer, es habe eine andere Richtung genommen, von der Krankheit und dem Fieber, sie seien der Behandlung gewichen.
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Griechischen oder odd im Englischen. Die Besonderheit, dass man einen Gegenstand auch nach diesem Unvermögen benennen kann, wie die Konstruktion mit Hilfe des im Griechischen häufigen α-privativum zeigt, stellt nun aber den entscheidenden Schritt in der Argumentation dar, denn aus dieser Unverträglichkeit mit dem Gegenteil der essentiellen Eigenschaften leitet Sokrates die Unsterblichkeit der Seele ab. Zunächst zementiert Sokrates das Ergebnis seiner Differenzierungen, indem er darauf hinweist, dass die gleichen Verhältnisse wie bei Zahlen auch bei anderen Dingen herrschen, die derartige essentielle Eigenschaften haben. Dabei baut er einen kleinen, aber im Folgenden wichtigen Zusatz in die Darstellung mit ein, indem er sein Modell insofern „dynamisiert“, als er vom „Mitbringen“ der jeweiligen Unverträglichkeit spricht (105a3–5): Was sich durch eine solche essentielle Unverträglichkeit auszeichnet, wird diese auch „mit sich führen“, wenn es von etwas anderem Besitz ergreift. Bevor er die Konsequenz aus dieser Dynamisierung für die Seele zieht, fasst Sokrates aber ganz allgemein zusammen, was sich aus der Einbeziehung essentieller Eigenschaften ergeben hat (105b5–c7): Er sieht in ihr eine verfeinerte Version der sicheren aber einfältigen Methode, da sich das Notwendigkeitsverhältnis zwischen den Ideen auch auf das Verhältnis zwischen ihren Teilhabern und deren Eigenschaften überträgt. Statt der simplen Antwort, ein Körper sei warm, weil Wärme in ihm ist, könne man nun die raffiniertere Antwort geben, er sei es, weil Feuer in ihm ist, oder er sei krank, weil er Fieber habe. Der Übergang von der simplen Erklärung zur verfeinerten setzt allerdings voraus, dass man sich der Notwendigkeit der Zusammengehörigkeit dieser Begriffe bzw. Ideen versichert hat. Dass dies mithilfe des Testes der Unverträglichkeit mit dem Gegenteil zu geschehen hat, wird nicht noch einmal explizit gesagt. Eben dies dürfte jedoch der springende Punkt sein: Fieber ist per se etwas Ungesundes und Feuer per se etwas Unkaltes.8 Nun gibt es freilich auch andere Ursachen für eine Krankheit als Fieber, so wie es auch andere Ursachen für die Wärme eines Gegenstandes geben kann als Feuer. Die verfeinerte Methode gilt in ihrem Fall daher nur, wenn die Eigenschaften hinreichende Bedingungen sind. Dies dürfte jedoch ganz im Sinne Platons sein, denn damit ist man, Forderung (2) folgend, zu einer höheren Hypothese gelangt, die sich als hinreichend (101d–e) erweist, die ursprüngliche Hypothese zu rechtfertigen. Zwar wird in Sokrates’ Beispielen nur die nächst höhere Stufe erreicht; dieses Verfahren ließe sich jedoch fortführen, falls die Rechtfertigung nicht hinreichend erscheint. Die Rückführung auf eine höhere Hypothese mithilfe essentieller Eigenschaften bzw. essentieller Unverträglichkeiten erweist sich somit als ein Beispiel für Forderung (2). Die erneute Betonung des hypothetischen Charakters der Vorgehensweise hat vor allem einen Grund: Auf die Frage, nach der sachlichen Ursache für die Zusammengehö8 Den Unterschied, dass Kälte eine essentielle Eigenschaft des Schnees, Fieber dagegen eine Spezies der Krankheit ist, übersieht Platon entweder oder er hält ihn für unerheblich (vgl. die Übersicht bei Kanayama 2000, 70–75).
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rigkeit der Dinge mit ihren wesentlichen Eigenschaften und Unverträglichkeiten geht Sokrates nicht weiter ein. Vielmehr begnügt er sich mit der Feststellung, dass eine solche Beziehung sowohl auf der Ebene der Ideen wie auch auf der ihrer Teilhaber besteht. Was das Wesen des Feuers und des Heißen, des Schnees und des Kalten ist, wird also nicht weiter erklärt, sondern lediglich vorausgesetzt, dass notwendige bzw. essentielle Zugehörigkeiten auf der Ebene der Ideen und somit auch auf der ihrer Teilhaber bestehen. Aus der „zweiten Fahrt“ wird somit nicht etwa unversehens die „erste Fahrt“ einer Erklärung der Natur der Dinge, sondern es wird weiterhin nur gerudert.9
10.4 Leben als essentielle Eigenschaft der Seele (105c9–107a1) Im Vergleich zu der Ausführlichkeit, mit der Sokrates das raffiniertere Verfahren anhand von Zahlen oder natürlichen Dingen wie Schnee und Feuer dargelegt hat, geht dessen Anwendung auf die Seele geradezu atemberaubend schnell vor sich. Von Ideen ist dabei nicht expressis verbis die Rede. Stattdessen greift Sokrates wiederum auf die martialische Ausdrucksweise zurück und macht die Seele zum „Besetzer“, der notwendigerweise Leben mit sich bringt, mit dem er den Körper erfüllt, solange er diesen besetzt hält. Eine weitere Rechtfertigung der notwendigen Verbindung zwischen Seele und Leben entfällt, weil Kebes auf die knappe Frage, durch wessen Anwesenheit ein jedes Ding Leben erhält, die ebenso knappe Antwort gibt, dass es die Seele ist (105c11). Daraufhin geht es Schlag auf Schlag: 1. 2. 3. 4.
Die Seele bringt bei allem, was sie besetzt, immer Leben mit sich (105d1). Das Gegenteil des Lebens ist der Tod (d5–9). Die Seele nimmt nie das Gegenteil dessen an, was sie mit sich bringt (d10–11). Dinge werden nach ihrer Unfähigkeit benannt, dieses Gegenteil anzunehmen (d13– e1).10 5. Was den Tod nicht annehmen kann, nennt man un-tot (athanatos) (e2–3).11 6. Die Seele nimmt den Tod nicht an; folglich ist die Seele „un-tot“ (105e6). Da das Adjektiv athanatos im Griechischen „unsterblich“ bedeutet und das traditionelle Epitheton der ewig lebenden Götter ist, könnte Sokrates seine Beweisführung im Prinzip an dieser Stelle für abgeschlossen erklären und behaupten, mit der Unvereinbarkeit 9 Aus diesem Grund ist es verfehlt, Platon daraus einen Vorwurf zu machen, dass seine Begründung mithilfe der Ideenlehre keine Ursachen im herkömmlichen Sinn liefert (vgl. Bostock 1986, 153–156, 189f.). 10 Dieser Schritt wird durch die Aufzählung von Beispielen gerechtfertigt, die außer dem Ungeraden auch das Ungerechte (adikon) und das Unmusische (amouson) umfassen. 11 Der Grund für diese unschöne Übersetzung wird im Folgenden deutlich.
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der Seele mit dem Tod sei zugleich erwiesen, dass sie ewig lebt, zumal Kebes dies für hinreichend bewiesen hält (105e8–9). Diese Konsequenz zieht Sokrates aber an dieser Stelle nicht, sondern er behandelt die Folgerung zunächst nur wie ein Zwischenergebnis, das noch der weiteren Rechtfertigung bedarf. Diese besteht in dem Nachweis in zwei Schritten, dass die Seele nicht nur den Tod nicht annehmen kann, weil er das Gegenteil des Lebens ist, sondern überdies auch unzerstörbar ist. (1) 105e10–106a10: Zunächst werden die kontrafaktischen Konsequenzen für die analogen Fälle dargelegt, die sich ergeben würden, wenn die Unverträglichkeit mit dem Gegenteil ihrer essentiellen Eigenschaften ihre Unzerstörbarkeit nach sich zöge. Dass Sokrates dazu gleich drei Beispiele anführt, nämlich das des Ungeraden und der Drei, des Unwarmen und des Schnees, des Unkalten und des Feuers, um daraus zu folgern, dass sie sämtlich unzerstörbar sein müssten, wenn diese Dinge notwendig unzerstörbar wären, zeigt, dass es um die Verdeutlichung des Prinzips als solchen geht: Unter der Voraussetzung ihrer Unzerstörbarkeit würde der „Angriff“ durch mit essentiellen Eigenschaften Unvereinbares jeweils ihren unversehrten Rückzug zur Folge haben. Eben dies gilt aber in den genannten Fällen nicht. Schnee, Feuer und eine Dreizahl sind nicht unzerstörbar. (2) 106b1–106e: Der Nachweis, dass für die Seele nicht gilt, dass der „Angriff“ durch das mit ihrer Weseneigenschaft unvereinbare Prinzip zu ihrer Zerstörung führt, scheint der Sache nach nichts Neues zu bringen, sondern nur noch einmal verdeutlichen zu wollen, dass eben darin der Unterschied zu den übrigen Fällen liegt: Von der Seele gilt, dass sie den Tod nicht annehmen und somit keine tote Seele (106b4: tethnêkyia) sein kann. Wenn damit zugleich die Unzerstörbarkeit einhergeht, dann ist die Seele nicht nur untot, sondern auch unzerstörbar. Als letzter Schritt fehlt also nur noch die Erklärung, warum sich daraus, dass die Seele un-tot ist, ergeben soll, dass sie auch unzerstörbar ist. Eine Beweisführung dafür wird jedoch nicht gegeben, sondern Sokrates holt sich lediglich Kebes’ Zustimmung dazu ein, mit der Maßgabe, dass es andernfalls eines weiteren Arguments bedürfe (106d1: allou logou). Da Kebes emphatisch versichert, wenn irgendwas, so müsse doch das Unsterbliche unzerstörbar sein, „zumal es ewig ist“, kommt es zu keiner weiteren Begründung. Vielmehr bekräftigt Sokrates das Ergebnis unter Verweis auf besonders prominente Vertreter des Un-Toten: von Gott, der Idee des Lebens und was es sonst noch an Unsterblichem gibt, würden alle zugeben, dass sie niemals zugrunde gehen. Aufgrund dieser angeblichen Übereinstimmung aller zieht Sokrates die Schlussfolgerung: Wenn alles Unsterbliche unzerstörbar ist, dann ist auch die Seele, wenn sie unsterblich ist, unzerstörbar. Daraus folgert er des Weiteren: Wenn sich der Tod dem Menschen nähert, so stirbt alles, was an ihm sterblich ist, während das Unsterbliche unversehrt und unzerstörbar von dannen geht, indem es dem Tod ausweicht. An dieser Stelle wird deutlich, dass die martialische Metaphorik nicht nur ihrer Dramatik wegen gewählt wurde, die in der Rede von Angriff, Zurückweichen, Besetzung und Zerstörung bzw. Untergang liegt, sondern von vornherein auf die Seele zugeschnit-
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ten war: Sie soll dem Tod nicht widerstehen, indem sie dort bleibt, wo sie zuvor war, nämlich im Körper. Denn damit wäre die Unsterblichkeit des Lebewesens als Ganzem bewiesen. Vielmehr muss es Sokrates darum gehen, dass die Seele zurückweicht, d. h. den Körper verlässt und davongeht. Wenn die Seele der Zerstörung und dem Tod nicht unterliegt, müssen die Seelen der Menschen nach dem Tod an einem anderen Ort, im Hades, sein. Nun fragt man sich seit jeher nicht nur nach der Schlüssigkeit dieses Beweises, sondern auch nach der Stringenz der Vorgehensweise. Denn das Beweisziel, die Unsterblichkeit, ist im Prinzip bereits in 105e6 erreicht. Die gern geübte Zurückhaltung, der auch diese Darstellung gefolgt ist, athanatos zunächst nur mit „untot“ oder „nicht-sterblich“ statt mit „unsterblich“ wiederzugeben, ändert daran nichts, denn allem Anschein nach sieht Kebes darin kein Hindernis, Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit zu akzeptieren. Täuschen also die beiden weiteren Schritte nur eine Beweisfülle vor, die gar nicht gegeben ist?12 Könnte Sokrates also auch ohne Umschweife gleich von 105e zu 106e übergegangen sein, d. h. die Folgerung gezogen haben, wenn der Tod nahe, sterbe nur das am Menschen, was sterblich ist, während die Seele unversehrt davon geht? Dass Platon lediglich dem Eindruck der Kurz-Schlüssigkeit vorbauen wollte, indem er die Besonderheit der Beziehung zwischen Seele und Leben im Unterschied zu den anderen Fällen nochmals hervorhebt, lässt sich nicht von vornherein ausschließen. Liest man den Text jedoch ohne diese Ausführungen, so würde ihm etwas Wesentliches fehlen, nämlich das rechte Verständnis für die Besonderheit, die darin liegt, dass außer der Unmöglichkeit, den Tod anzunehmen auch die Unzerstörbarkeit der Seele gegeben sein soll, wie es Kebes’ ursprünglicher Forderung entspricht (88b6; 95c1). Warum aber stimmt Kebes dann hier ohne Weiteres zu? Hat er die Zweideutigkeit von „un-tot“ und „unsterblich“ nicht bemerkt, obwohl ihm Sokrates’ Argumentation diese doch vor Augen führen sollte? Dies wird in der Tat in der Sekundärliteratur oft angenommen. Dem ist jedoch Folgendes entgegenzuhalten: Im Fall von Lebendigem bedeutet jede Art von Zerstörung dessen Tod.13 Denn um welche Art von Ende es sich auch immer handeln mag, ob durch Krankheit, Unfall oder gänzliche Vernichtung wie bei Empedokles’ angeblichem Sprung in den Ätna: Jede Art von Zerstörung von Lebendigem ist dessen Tod.14 Eben 12 Dieser Schritt war bereits in der Antike Gegenstand von Kritik, so etwa bei Straton von Lampsakos (vgl. Wehrli ²1969), und hat seither zahlreiche Neuauf lagen erfahren. Vgl. u. a. Hackforth 1955, 164; Bostock 1986, 191ff.; Rowe 1993, 263f.; Kanayama 2000; Dixsaut 2001; Dorter 2001; Ebert 2004, 391–408; anders Bluck 1955, 191–194; Frede 1978, 32f.; 1999, 143f.; Denyer 2007, 94f. 13 Anders als Dixsaut voraussetzt (2001, 385 u. 396), steht nicht infrage, ob Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit als solche koextensiv sind. Vielmehr geht es darum, ob die Inkompatibilität der Seele mit dem Tod ihre Unzerstörbarkeit „mit sich bringt“. 14 Dazu Kebes (70e): „Die Seele wird zerstört und aufgelöst […] wie ein Hauch oder Rauch […] und ist nirgends mehr.“ Aus diesem Grund verfängt auch Bostocks (1986, 190–193) und Eberts (2004, 407f.) Kritik an der
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dies hätte Sokrates als „weiteres Argument“ anführen können, wenn Kebes danach verlangt hätte. Warum also unterbleibt dieser kleine aber entscheidende Hinweis, der erklären würde, warum sich hinter athanatos im Sinn von „untot“ und „unsterblich“ keine Zweideutigkeit verbirgt? Und was spricht dafür, dass Kebes die Beweisführung auch ohne Nachhilfe tatsächlich in diesem Sinn verstanden hat? Dafür spricht nicht etwa seine Gleichsetzung von Unsterblichkeit und Ewigkeit,15 sondern vielmehr die Tatsache, dass er zuvor Sokrates’ Frage verneint hat, ob auch er in dem Einwand des Anonymus eine Schwierigkeit gesehen habe, der sich auf das Prinzip der Entstehung aus Gegensätzlichem berufen hat (103c). Wie leicht zu sehen, ist dieses Prinzip nämlich in einer Richtung unkontrovers: Für alles Lebendige bedeutet der Verlust des Lebens den Tod. Problematisch ist nur die umgekehrte Richtung: Lebendiges muss nicht „aus Totem“ kommen, so wie Waches aus Schlafendem. Daher zieht Sokrates im ersten Beweis die Notwendigkeit einer zyklischen Erneuerung als weiteres Argument für das Wiederauf leben heran, um zu zeigen, dass die Natur nicht „hinkt“. Was jedoch lebt und nicht sterben kann, ist eo ipso unzerstörbar. Eine grundlegende Kritik an Sokrates’ letzter Beweisführung muss folglich an anderer Stelle ansetzen. Bevor dies geschieht, ist aber auf die Frage einzugehen, wie die Diskussionspartner selbst das Argument bewerten.
10.5 Die Tragweite des Arguments aus den essentiellen Eigenschaften (107a1–b9) Nachdem Sokrates die Gültigkeit seiner Schlussfolgerung mit allem Nachdruck bekräftigt hat (106e9), stimmt auch Kebes vorbehaltlos zu: „Ich jedenfalls kann gegen das Gesagte nichts weiter einwenden und habe auch keine Gründe, den Argumenten zu misstrauen.“ Auch Simmias bestätigt, dass er keinen Grund für ein solches Misstrauen sieht, gibt aber zu, dass er angesichts der Bedeutsamkeit der Sache und der menschlichen Schwäche nicht umhin kann, bei sich noch gewisse Zweifel zu hegen. Sokrates gibt nicht nur die Berechtigung derartiger Zweifel zu, sondern meint auch, die ersten Hypothesen, auf denen die Beweisführung beruht, bedürften noch einer sorgfältigen Überprüfung ihrer Zuverlässigkeit. Dann allerdings sollten seine Freunde dem Argument folgen, soweit es dem Menschen möglich ist, und wenn ihnen eben dies klar werde, würden sie nichts weiter mehr suchen (107b6–9). Schlüssigkeit von Platons Beweisführung nicht, denn sie liefern keine Erklärung für den Gegensatz zwischen Tod und Zerstörung der Seele. Gewöhnliche Lebewesen besitzen trotz ihres verheißungsvollen Namens nicht Leben als essentielle Eigenschaft, sondern dies gilt nur für ihre Seelen. 15 Traditionell wurden die Götter zwar als unsterblich und ewig seiend (aien eontes) bezeichnet, von Unzerstörbarkeit war nicht die Rede.
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Vor allem dieses Schlusswort des Sokrates lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Gilt der Vorbehalt der grundsätzlichen Begrenztheit des menschlichen Begriffsvermögens derartige Beweisführungen betreffend, so ist Skepsis angesagt. Gilt er nur der begreif lichen menschlichen Neigung, an Beweisen zu zweifeln, die Konsequenzen von ungeheurer Bedeutung aus bloßen Begriffszusammenhängen ableiten, so ist Skepsis zwar menschlich, der Sache nach aber nicht gerechtfertigt, wie sich bei hinreichender Prüfung zeigen würde. Beide Optionen finden immer wieder ihre Fürsprecher.16 Die skeptische Deutung unterstellt Platon, absichtlich einen nicht-schlüssigen Beweis geliefert zu haben. Demgegenüber ist aber daran zu erinnern, dass Sokrates die Argumentation mit dem Versprechen eingeleitet hat, wenn man ihm die Ideenhypothese zugestehe, hoffe er, den Grund (aitia) dafür aufzeigen zu können, dass die Seele unsterblich ist (100b3–9). Sokrates würde also, seinem Versprechen entgegen, davongehen und einer Biene gleich in seinen Freunden den Stachel der Falschheit hinterlassen (91c). Wie also steht es um die „ersten Hypothesen“, deren weitere Prüfung Sokrates empfiehlt, bis man sich ihrer hinreichend versichert hat? Es ist bemerkenswert, dass hier nochmals auf den hypothetischen Charakter zurückverwiesen wird, der sowohl die sichere wie auch die verfeinerte Vorgehensweise kennzeichnet. Nach der sicheren aber einfältigen Hypothese wäre die Seele durch nichts anderes unsterblich als durch die Teilhabe an der Idee des Unsterblichen. Diese Teilhabe gilt es jedoch zu begründen und eben dies soll offensichtlich das Raffinement des Nachweises der essentiellen Verbindung zwischen Seele und Leben leisten. Dabei drängt sich die Frage auf, ob es eine Idee der Seele gibt und eine des Lebens bzw. des Lebendigen. Beide Fragen werden manchmal verneint, allerdings zumeist ohne Angabe von Gründen. Die Frage, ob es eine Idee der Seele gibt, ist aber nicht zu verwechseln mit der, ob die individuelle Seele eine Idee ist. Letzteres ist ohne Weiteres verneinbar, denn das „Affinitätsargument“ legt zwar eine Verwandtschaft der Seele mit dem Unveränderlichen bzw. Göttlichen nahe aber keine Identität. Daraus folgt lediglich, dass die Seele als solche im Jenseits eher beheimatet ist als im Diesseits. Die „Flucht zu den logoi“ mithilfe der Ideenhypothese spricht jedoch für die Annahme einer Idee der Seele und des Lebendigen, denn nur so hat der entscheidende Schritt zu der verfeinerten, aber gleichwohl „sicheren“ Hypothese essentieller Verbindungen überhaupt einen Sinn. Und nur dann ergibt sich, dass auch die individuelle Seele notwendig mit Leben als essentieller Eigenschaft verbunden ist, sodass es tote Seelen, anders als tote Körper, nicht geben kann. Wer diese Beweisführung für unzureichend hält, muss sich also gegen die verfeinerte Hypothese wenden.
16 Für die Unentschiedenheit der Frage plädiert z. B. Dixsaut 2001, 405, während Dorter (2001, 414–419) meint, die Idee des Guten stehe als – unausgesprochene weitere – Hypothese hinter der Argumentation, und diese daher für unvollständig hält. Es gibt aber keine Hinweise im Text auf einen Hintergrund; dagegen spricht vielmehr Sokrates’ ausdrücklicher Verzicht auf Bestheitserklärungen (97c–99d).
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Diese gibt insofern Anlass zu Kritik, als sie auf bestimmten, nicht hinterfragten Voraussetzungen über die Natur der Seele beruht. Diese bestehen darin, dass die Seele ihrer Natur nach ein substantieller Gegenstand mit Eigenschaften ist, so wie Schnee oder Feuer, und bei der Geburt in den Körper wie in ein Gefäß eintritt und diesen beim Tod wieder verlässt. Diese Annahme über die Natur der Seele kann man sich zueigen machen, man muss es aber nicht. Wer unter der Seele keine selbständige Substanz mit essentiellen Eigenschaften versteht, sondern etwas wie die Lebenskraft oder Lebensfunktion eines Organismus, wird nicht zugestehen, dass dergleichen sich im Augenblick des Todes vom Körper zu lösen und ein Eigenleben zu führen vermag. Platon scheint nun aber von der „substantiellen“ Natur der Seele ganz überzeugt, wie nicht nur die Argumentation im Phaidon von Anfang an nahe legt, da sie von der Trennbarkeit von Leib und Seele ausgeht, sondern auch seine sonstigen Gegenüberstellungen von Körper und Seele, vor allem aber die „Psychologie“ der Politeia. Sein Schüler Aristoteles ist ihm in dieser Hinsicht nicht gefolgt, wenngleich auch er an seiner Definition der Seele als der Aktualität eines organischen Körpers, der potentiell Leben hat, nicht konsequent festhält, sondern gewissen Aspekten der Seele einen eigenständigen, substanzartigen Charakter zuschreibt (vgl. De anima III 5). Welche Natur die Seele haben muss, um als Träger essentieller Eigenschaften fungieren zu können, hat Platon nie näher erklärt. Vielmehr gibt er an anderer Stelle zu, dass ihre Natur in diesem Leben schwer erkennbar ist, weil die Seele – dem Meergott Glaukos ähnlich – durch allerlei irdischen Unrat so überwuchert ist, dass ihr wahres Wesen in diesem Leben unzugänglich erscheint (Rep. X 611c–d). Von dieser Unzugänglichkeit geht auch der letzte Beweis im Phaidon aus, der sich überhaupt strenge Begrenzungen auferlegt, auf die Sokrates mit den anfangs genannten Begründungen für seine Unfähigkeit im Umgang mit Ursachen aller Art hingewiesen hat. So besagt der Beweis nichts über den Zustand der Seele nach dem Tod, d. h. ob die Seele weiterhin des Denkens fähig sein und über Erinnerungen verfügen wird, wie Kebes zu Anfang gefordert hatte (70a–b). Daher besagt er auch nichts über die Art des Lebens nach der Trennung vom Körper. Denn dem Beweis ist weder zu entnehmen, an welchen anderen essentiellen Eigenschaften die Seele außer dem Leben teilhat, noch auch, welche Eigenschaft mit „Leben“ überhaupt gemeint ist. Auch ist der Beweis nicht allein auf die menschliche Seele zugeschnitten, sondern muss für alles Beseelte gelten, eine Tatsache, auf die der Text freilich nicht eigens hinweist.17 Angesichts dieser Begrenztheit sieht Sokrates ganz zu Recht in seiner Beweisführung nur eine „zweite Fahrt“, d. h. eine Art von Indizienbeweis mit Hilfe von logoi, die Begriffsverknüpfungen aufzeigen. Der letzte Beweis ist daher auch nicht etwa als der krönende Abschluss von 17 In diesem Punkt ist Bostock 1986, 189, zuzustimmen: Der letzte Beweis für die Unsterblichkeit gilt daher nicht nur für die menschliche Seele, sondern für die Seelen sämtlicher Lebewesen, einschließlich der von Pf lanzen, da auch in ihrem Fall Lebendigsein bedeuten muss, dass sie eine Seele haben.
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Sokrates’ Schwanengesang zu bewerten, der alle vorangegangenen Beweisführungen zusammenfasst oder gar überf lüssig macht. Vielmehr ergibt sich nur in Verein mit den früheren Beweisführungen, vor allem mit dem Argument aus der Ähnlichkeit Wiedererinnerung, dass die menschliche Seele die Trennung vom Körper nicht nur übersteht, sondern weiterhin „bei Verstand“ ist. Der letzte Beweis liefert folglich nur die notwendige Ergänzung, zu der Kebes Sokrates mit seiner kritischen Frage genötigt hatte, was dafür spricht, dass die Trennung der Seele vom Körper nicht letztlich ihre Zerstörung nach sich zieht, sondern dass die Seele „ganz und gar unsterblich ist“ (88b). Mehr als eine Antwort auf diese Frage hat Sokrates nicht versprochen, und mehr hat er auch nicht geliefert.
Literatur Bluck, R. S., 1955: Plato’s Phaedo. Translated with Interoduction, Notes and Appendices, London Bostock, D., 1986: Plato’s Phaedo, Oxford Denyer, N., 2007: The Phaedo’s Final Argument, in: D. Scott (Hg.): Maieusis. Essays on Ancient Philosophy in Honour of Myles Burnyeat, Oxford, 87–96 Dixsaut, M., 2001: Immortel et indestructible: le dernier problème du Phédon, in: A. Havlíček/ F. Karfík (Hgg.): Plato’s Phaedo, Proceedings of the Second Symposium Platonicum Pragense, Prag, 384–405 Dorter, K., 2001: „Deathless is indestructible, if not we need another argument.“ An implicit argument in the Phaedo, in: A. Havlíček, F. Karfík (Hg.), s. o., 406–432 Ebert, Th., 2004: Platon, Phaidon. Übersetzung und Kommentar, Göttingen (Platon. Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. I 4) Frede, D., 1978: The Final Proof of the Immortality of the Soul in Plato’s Phaedo 102a–107a, Phronesis 23, 27–41. Repr. in E. Wagner (Hg.): Essays on Plato’s Psychology, Lanham 2001, 281–296 Frede, D., 1999: Platons ‚Phaidon‘. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele, Darmstadt Gallop, D., 1975: Plato, Phaedo, transl. with notes, Oxford Greene, W. C., 1981: Scholia Platonica, Ann Arbor Hackforth, R., 1955: Plato, Phaedo, translated with Introduction and Commentary, Cambridge Kanayama, Y., 2000: The Methodology of the Second Voyage and the Proof of the Soul’s Indestructibility in Plato’s Phaedo, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, 18, 41–100 Keyt, D., 1963: The Fallacies of Phaedo 102a–107b, in: Phronesis 8, 167–172 O’Brien, D., 1967: The Last Argument in Plato’s Phaedo (I), in: Classical Quarterly N. S. 17, 198–231 O’Brien, D., 1968: The Last Argument in Plato’s Phaedo (II), in: Classical Quarterly N. S. 18, 95–106 Rowe, C., 1993: Plato, Phaedo, edited with introduction and commentary, Cambridge Scheibe, E., 1968: Über Relativbegriffe in der Philosophie Platons, in: Phronesis 12, 28–49 Sedley, D., 1998: Platonic Causes, in: Phronesis 43, 114–132 Vlastos, G., 1969: Reasons and Causes in the Phaedo, in: Philosophical Review 78, 291–325
11 Christian Schäfer
Der Mythos im Phaidon (107d–115a)
11.1 Einführung Platons Mythen lassen sich unter methodischen und kompositorischen Gesichtspunkten auch gewinnbringend in weitgehender Absehung der stets virulenten Frage betrachten, ob die narrativen Elemente in den platonischen Dialogen etwas gegenüber dem argumentativen Gedankengang Zusätzliches oder eine tiefere Einsicht für das philosophische Verhandlungsthema der jeweiligen Schrift erbringen. Für den Mythos im Phaidon eröffnet sich der dadurch entlasteten Interpretation somit die Möglichkeit, zunächst einmal seine Stellung im Dialogganzen und seine Einzelkomponenten zu untersuchen, um dann zu sehen, welche Rolle der Mythos für das Gesamt der Schrift spielt und wie er ihren Grundgedanken zuarbeitet. Wo immer Platon eine mythische Erzählung an das Ende eines Argumentationsgangs stellt, hat sie neben ihrer unterhaltsamen und ästhetischen Absicht eine resümierende und insbesondere emotional festigende Funktion für das bislang im Gespräch Erarbeitete. Der Mythos will dann zumeist etwas Bekanntes anklingen lassen, da er dazu dient, über geläufige Motive das im Dialog argumentativ Gewonnene narrativ noch einmal nahe zu bringen. Der Mythos steht somit in einem Verweiszusammenhang mit dem Argumentgang und seiner Ergebnisgewinnung, er steht nicht allein, sondern hat seinen Platz innerhalb eines Dialogganzen, das ihn erklärend und situierend umfasst, und das er kontrapunktiert, wiederholt oder, vor allem bei den sogenannten „Jenseitsmythen“, perspektivisch ausweitet. Diese Grundzüge finden sich nun zum guten Teil auch im Jenseitsmythos des Phaidon. Auch er intensiviert auf seine Art den Bedeutungsreichtum der Aussagen des Dialogs durch vielfache Auslegungsmöglichkeiten, er erleichtert die nochmalige Analyse und Darstellung des verhandelten Problems durch den Appell an Intuition und visuelles Vorstellen, indem er in Bildern redet oder bestimmte Themen kosmologisch überstei-
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gernd andeutet. Darüber hinaus regt der Mythos zum Weiterdenken in bestimmten Richtungen an, gerade auch durch seine paradoxal anmutenden oder kuriosen Darstellungselemente, er verleiht den vorangehenden Theoriestücken, die er kontrastiert oder widerspiegelt, eine gewisse Farbigkeit, wenn er deren Fazit spielerisch in Szene setzt und noch einmal mit Spannungsmomenten lädt. Nicht zuletzt ist der Mythos damit so etwas wie ein hermeneutischer Belastungstest zur Aussonderung oder Unterscheidung derer, die sich auf das Denken und die Argumentation des Sprechers einlassen wollen, und solchen, die es nicht tun (im Phaidon z. B. 108c5–d3; vgl. Pépin 1972, 479ff.; Droz 1992, 15). Solche identifizierenden Kennzeichen platonischer Mythen konkretisieren sich tatsächlich augenfällig in den Seelenmythen und insbesondere in der „Großform“ der kosmologischen Schlussmythen und Jenseitserzählungen. Außer im Phaidon finden sich solche narrativen Jenseitsdarstellungen am Ende des Gorgias und der Politeia. Mit anderen platonischen Mythen teilen diese Mythenerzählungen die große Ausführlichkeit und das wortreiche Schwelgen in der Darstellung, was die Dialogpartner auch ein ums andere Mal ansprechen und mitunter kritisch gegen den Erkenntnisertrag abwägen (so Phd. 114d6–7; vgl. Schäfer 2002, 118–122). – Allerdings soll die Besonderheit nicht außer Acht gelassen werden, dass der Mythos im Phaidon in bestimmten Aspekten eine bedeutsame Ausnahme gegenüber den anderen Mythen darstellt – doch dazu am Ende mehr. Um sich die bestimmenden Elemente der langen mythischen Darstellung im Phaidon – einer der längsten im gesamten Corpus Platonicum – vor Augen zu führen und in ihrer Bedeutung für das Dialogganze zu verstehen, wird es gut sein, damit zu beginnen, die Konstruktion des Mythos nachzuskizzieren und dabei zumindest exemplarisch auf die motivischen Bezüge zum Argumentteil des Dialogs hinzuweisen. So kann ein Gesamtbild des Mythos entstehen, das über Sinn, Funktion und Besonderheiten dieses Mythos angemessen urteilen lassen wird.
11.2 Die Wiederaufnahme des „Durchmythologisierens“ Sokrates hatte zu Anfang des Gesprächs mit Simmias und Kebes gesagt, er wolle sich gerne mit den beiden über die Reise ins Jenseits (ekeise apodêmein) und den zu erwartenden Aufenthaltsort dort (peri tês apodêmias tês ekei) erzählend austauschen (mythologein) (Phd. 61d9–e4; Ebert 2004, 425; zur jeweils durch ekeise und ekei angezeigt zutreffenden Übersetzung von apodêmia einmal im Sinne von „Reise“ und einmal im Sinne von „Aufenthaltsort“ vgl. Ebert 2004, 430f.). Das Gespräch wurde unter der Hand jedoch schnell zum Argumentaustausch über die Unsterblichkeit der Seele. Erst nach dem letzten der Argumente nimmt Sokrates dann den so früh fallengelassenen Faden wieder auf und beginnt nach einem kurzen paränetischen Teil über die rechte Seelenpf lege (107c1–d5)
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eine Erzählung von den für jeden zu erwartenden Ereignissen und Bestimmungsorten nach dem Tod. Die Schlussworte der vorangehenden Paränese sind dabei gleichzeitig so etwas wie die Überschrift zum ersten Teil der unmittelbar darauf folgenden Erzählung: „Der Beginn der Wanderung nach drüben“ (archê tês ekeise poreias, 107d5).
11.3 Der Beginn der Reise der Verstorbenen (107d5–108c5) Ein „es wird nun folgendermaßen erzählt“ (legetai de houtôs) führt das Motiv der Reise der Seelen ins Jenseits ein. Der mythische Part des Phaidon nimmt damit seinen Anfang. Daimonen (daimones) als Führer (hêgemones) begleiten die Verstorbenen jeweils einzeln „nach drüben“. Dort erwartet diese ein Gericht, das allerdings nur kurz erwähnt und fast eher schon übergangen wird, vielleicht darf man annehmen, dass die in diesem Punkt weit ausführlicheren Jenseitserzählungen des Gorgias und der Politeia in ihrer eigenen Weise das berichtend ergänzen, was hier fehlt. Von der Gerichtsstätte aus führen dann, wie von Sokrates gegen andere bekannte Meinungen betont wird, vielfach verschlungene und gegabelte Wege an diejenigen Orte, von denen die Verstorbenen erst nach nicht näher bestimmter, aber doch sehr langer Zeit wieder zurückkommen (107e3–4). Die Seelen derjenigen freilich, die schon im Diesseits allzu körperergeben gelebt haben, treiben sich noch lange bei ihrem Leichnam herum und kommen zunächst gar nicht recht von ihm weg (108a6–b3), was den Aufgriff eines Themas darstellt, das vorher im Gespräch mit Simmias und Kebes behandelt worden war (81c4–d9). Solche Aufgriffe durchziehen den Mythos insgesamt und werden im Folgenden noch öfter Gegenstand der Betrachtung sein müssen. Immerhin gibt die Jenseitserzählung gerade in diesem Zusammenhang das Unterscheidungsmerkmal für die Beurteilung der Verstorbenen vor Gericht an: Als „gut“ wird nach bekannter platonischer Kriteriologie die „gerechte“ Seele charakterisiert, die „innerlich geordnet und einsichtig“ ist (108a6) und deren Einsicht es ihr erlaubt, zu erfassen, was ihr jetzt geschieht (108a7). Davon abgehoben wird das Gebaren der schlechten, die dies nicht erfasst und daher unsinnig weiter um den gehabten Leib herumstreunt. Ergebnis der knapp angedeuteten Gerichtsszene ist jedenfalls, dass die Missetäter in den Hades kommen, die Rechtschaffenen hingegen bekommen Götter zu Führern und jeder gelangt somit an den ihm zugedachten Ort (108c3–5).
11.4 Die Kosmoskopie der Kugelerde als Ouvertüre (108c5–110b2) Was folgt, ist ein Dialogstück mit Simmias, das die bereits begonnene Erzählung stilistisch durch die Einbeziehung des Gesprächspartners unterbricht und kontrastiert, und das gleichzeitig den allgemeinen Anfangshinweis „es wird erzählt“ (legetai), der den
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Beginn der vorhergehenden Erzählung der Jenseitsreise einleitete, und der nach diesem Gesprächsstück auch wieder den Beginn der weiteren monologischen Erzählung des Sokrates markiert (110b5), durch eine neue Verbürgungsformel ablöst. Das hier Geschilderte wird somit vom Vorhergehenden und Nachfolgenden abgesetzt. Sokrates beteuert in Bezug auf das, was er zu diesem Thema zu sagen hat, zwei Mal (108c8 und 108e1), er habe sich über jene Dinge von jemandem überzeugen lassen (egô hypo tinos pepeismai).1 Nicht, dass diese Formel sehr viel konkretere Anhaltspunkte über die Quelle der Auskunft lieferte als das unbestimmte „es wird gesagt“ der spürbarer mythischen Partien; sie schneidet den Autoritätsverweis anscheinend nur nachdrücklicher ad hominem genommen auf die Person des Sokrates zu. Wer dieser „jemand“ sein könnte, bleibt dabei im Dunkeln, selbst wenn Hinweise auf pythagoreische Lehren durchaus zu plausiblen Vermutungen darüber geführt haben.2 Auch die Tatsache, dass der Philolaos-Schüler Simmias hier deutlich ausgesprochenes Interesse und eine eigene (und zwar zustimmende) Meinung bezüglich des Vorgetragenen vorbringt, mag dafür sprechen (108d1–3; 109a8). Simmias jedenfalls zeigt sich interessiert, was Sokrates über seinen ungenannten Gewährsmann vom Weltaufbau erfahren haben will, und so entwirft Sokrates zunächst in einer Art „Zwischen-Ouvertüre“ zur Fortsetzung der eigentlich mythischen Erzählung eine breit angelegte Kosmoskopie, die, glaubt man den Interpreten, weit mehr wissenschaftliche Elemente und Diskussionen der Epoche widerspiegelt als die sie unmittelbar umgebenden Textpassagen.3 Das mutet seltsam an angesichts der Kritik der naturphilosophischen Spekulation im Verlauf der biographischen Selbstauskunft des Sokrates in der Vorbereitung des letzten Unsterblichkeitsarguments, und die Fragen nach dem Grund für diese Wahl der Darstellung haben auch noch keine letztlich befriedigende Antwort gefunden. Ein Entgegenkommen gegenüber den anwesenden Philolaos-Schülern und eine Steigerung der Aufmerksamkeit der Zuhörer in der Aufnahme gängiger Diskussionen mag da mit hineinspielen. Auch ein vergleichender Hinweis auf das Lehrgedicht des Parmenides mag am Platz sein, denn auch dort wird nach dem Part mit der philosophischen Wahrheit noch die Ausführung eines Weltbilds nach kosmologischer 1 Ebert 2004, 429: „[Der Ausdruck pepeismai] kehrt noch dreimal in diesem Textstück wieder (108e1, e4, 109a7). Durch das Auftreten dieser Wortform wird dem Textstück 108d1–110a8 ein Charakter gegeben, der es von der umgebenden mythischen Erzählung unterscheidet“. Dagegenzuhalten wäre jedoch der Beleg Grg. 526d3–4, wo das pepeismai von Sokrates direkt auf den Jenseitsmythos bezogen gesagt wird. 2 Dazu Ebert 2004, 431f.; 444 u. ö., wobei Ebert allerdings dazu tendiert, die pythagoreische Hintergrundstrahlung des Dialogs überzubetonen. Interessant ist auf Seite 437 der aus Cicero gewonnene Hinweis auf Archytas als Motivquelle für die pythagoreische Kosmoskopie „von oben“ (vgl. zu Archytas auch Frede 1999, 155). 3 Darin, den Mythos im engeren Sinne erst mit 110b1–5 und dem ersten wörtlichen Hinweis des Sokrates, dass das nunmehr Folgende ein Mythos sei, beginnen zu lassen, folge ich etwas zögernd der Meinung von Ebert 2004, 422, 425 u. ö. (vgl. den Exkurs dort 445–454 mit einer ausführlicheren Zusammenfassung der naturwissenschaftlichen und kosmographischen Diskussionen der Zeit, insbesondere bei den Pythagoreern).
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Wahrscheinlichkeit nachgereicht, genauso wie hier im Phaidon nach der Darstellung der Ideenlehre jetzt eine sehr farbige Kosmologie, von der ganz am Ende unter Wahrscheinlichkeitsvorbehalt gesagt wird, „so oder so ähnlich“ (114d3) könne man sich das Ganze vorstellen. Zu diesem Vergleich würde auch passen, dass sowohl Parmenides als auch Platon trotz des Wahrscheinlichkeitsvorbehaltes darauf bestehen, damit eine bessere Auslegung zu geben als konkurrierende naturphilosophische Erklärungen (108c6–8; Schäfer 2005, 417ff.). Eine für die Auslegung bestimmende Rolle spielt aber sicherlich der Vorbehalt des Sokrates selbst, der als Selbsteinordnung des von ihm Vorgebrachten mahnt, das Folgende sei nur eine erzählende Darstellung, der Nachweis hingegen, dass es auch wahr ist (hôs mentoi alêthê), wäre hingegen allzu schwierig (108d4–6). Der Hinweis, jeder Verstorbene komme nach dem Gericht an den ihm zukommenden Ort, gibt Sokrates jedenfalls Gelegenheit, mit Zustimmung des Simmias eine wie von einem Außenstandpunkt beschriebene Ansicht (ei tis anôthen theôto) der Gestalt der Erde zu geben, welche diese Orte oder Weltregionen lokalisieren lässt – ich nenne das im Folgenden eine „Kosmoskopie“, das heißt eine in einem weiter unten noch zu spezifizierenden Sinne „kosmologische“ Gesamtschau. Grundsätzlich wird festgestellt, dass die Erde rund sei, von enormer Größe, in der Mitte des Kosmos stehe und daher nirgendwo habe, wo sie hinfallen könnte. In ihrer Oberf läche aber seien Höhlungen erkennbar, mal tiefere, mal f lachere, mal breitere, mal engere, und einer dieser Hohlräume sei die bekannte Welt zwischen dem Atlantischen und dem Schwarzen Meer, sodass die bekannten Völker um das Mittelmeer herum wohnten wie sich Frösche oder Ameisen um einen Tümpel herum finden, und ähnlich sehe es mit den anderen Vertiefungen aus (109a9–109b4). Im Vergleich zur Oberf läche der Erde befänden sich die Bewohner dieser Vertiefungen in einem Zustand wie Fische im Meer in Bezug auf die Welt über dem Meer: Könnten sie nur über die Wasseroberf läche lugen, so sähen sie eine Region schöneren Lichts, geringeren Wahrnehmungs- und Bewegungswiderstands, klarerer Formen und eines reineren luftigen Bewegungsmediums, eine Region größerer Klarheit, von der in der von Salz zerfressenen, voll Kot und Schlamm (pêlos kai borboroi) wabernden und dunklen Unterwasserwelt kaum etwas zu ahnen ist.4 Mit einem Wort: Was uns das Meerwasser ist, das ist den an der Oberf läche über der Ökumenehöhlung Wohnenden die Luft, die wir hier unten atmen. Sokrates wiederholt dies in 111a8–b1: Was für die Belange der Menschen in der Erdvertiefung Wasser und Meer seien, das ist für die Dortigen die Luft (aêr), und was für jene die Luft bedeute, sei für diese die „obere Luft“, der aithêr.
4 Der Leser denkt bei den hier verwendeten Formulierungen wie „Flügel“, „hinauf f liegen“, „das Dortige sehen“, „wenn seine Wesensverfassung stark genug wäre, die Schau zu ertragen“ (allesamt 109e3–6) usw. fast selbstverständlich an Phdr. 246a6–247c1 (vgl. Karfík 2001, 380). Tatsächlich dürften die Parallelen nicht zufällig sein und mit 111b6–c1 könnte die Kosmologie des Phaidon dann auch etwa das „Haus der Götter“ im Phaidros (241a1) erklären.
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11.5 Die „wahre Erde“ (110b5–111c3) Ein erneutes „es wird also gesagt“ (legetai toinyn) setzt das bislang Vorgebrachte ab und leitet ein langes Erzählstück über die „Oberf lächenerde“ ein, das Sokrates nun wörtlich auch als „Mythos“, näherhin als „schönen Mythos“, bezeichnet (110b1). Vorbereitet war dieses Erzählstück im Abspann der vorhergehenden Kosmoskopie, wo diese Weltregion als die sozusagen wahrhaftige Erde (hê hôs alethôs gê, 109e8) bezeichnet wurde. Die Darstellung gehorcht einem einfachen Erzählmuster, das den Vergleich von Unterwasserwelt und Luftwelt weiterprojizierend fortsetzt: Auf der „wahren Erde“5 ist alles verhältnismäßig (ana logon, 110d3–4) schöner als in der Sickergrube des Diesseits. Nicht nur die Farben sind „dort“ schöner und intensiver, auch die gewöhnlichen Bodenvorkommen etwa seien dort von der Art, wie sie die Unteren nur in Splittern als Edelsteine und Edelmetalle kennen, das Lebensmedium in dem Maße reiner wie Luft gegenüber Meerwasser, usw. Es gibt dort auch Lebewesen und darunter Menschen, nur kennen diese eben nicht die Drangsal des Lebens und Krankheiten wie die Menschen unten, sie leben auch viel länger (111b3) und sehen die Sonne und die anderen Gestirne wie sie wirklich sind, was Sokrates Anlass gibt, ihre Eudaimonie zu erwähnen, die offenbar auch aus der ungetrübten Wahrnehmung von allem entspringt, wofür nicht zuletzt steht, dass die Dortigen sich nicht mit ungenauen und in ihrer Hilf losigkeit womöglich selbstgemachten Abbildern der Götter und nur vermittelter Auskunft ihres Willens oder Wissens zufrieden geben müssen, sondern von Angesicht mit ihnen verkehren, weshalb in den Tempeln und Heiligtümern der Oberwelt die Götter wahrhaft und nicht nur als Simulakren ihre Behausung haben (111b6–c1, sicherlich in Anspielung auf die hoffnungsfrohe Aussicht des Sokrates „zu den Göttern“ zu gehen in 63b5–c4). Interessant für die Einordnung des Mythos mag dabei auch erscheinen, dass gesagt wird, die obere Erde werde von „Menschen“ (anthrôpoi, 111a4) bewohnt. Von „Seelen“ ist hier wie sonstwo gar nicht die Rede, höchstens von den „Dortigen“ (ekeinoi, 111b1 und b2). Überhaupt wird während der ganzen Kosmoskopie und während des gesamten Jenseitsreiseberichts zwischen 108b6 und 114c3, also auf ganzen sechs StephanusSeiten, das Wort „Seele“ (psychê) nur ein einziges Mal verwendet, und das eher beiläufig und so, dass man ihm einen fast schon Gogolschen Sinn unterstellen könnte (nämlich 113a2). Das ist für einen Dialog, dessen Thema die Unsterblichkeit der Seele ist, und dessen Argumentteil kaum einen Abschnitt lang ohne die Erwähnung der Seele auskommt, zumindest auffällig. Stattdessen ist im Mythos immer von den „Verstorbenen“ oder „Abgeschiedenen“ die Rede, von „Menschen“ oder „denen dort“. Dass trotzdem von Seelen ausgegangen werden kann, wenn von „Verstorbenen“ die Rede ist, zeigt 5 Sokrates selbst verwendet diesen in der Deutungstradition zum festen Begriff gewordenen Ausdruck nach 109e8 (wo er ja auch nur ungefähr gebraucht wird) nicht mehr und spricht zumeist nur noch vom „dort“ oder dem „Dortigen“. Weitere Umschreibungen der „wahren Erde“ sind etwa „die Erde unter dem Himmel“ (hê gê hypo tô ouranô, 110b2) und „die Orte auf der Erde oben“ (114c2).
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nicht zuletzt die Definition vom Tod als Trennung der Seele vom Leib in 106e5–7 (vgl. 64c3–8). Die Nomenklatur im Mythos gehorcht dementsprechend ganz deutlich der Anfassbarkeit, der sich die der Erzählung eigene Darstellungsweise verschreibt. Eine unsichtbare, materielose und letztlich ganz weltenthobene Seele kann nicht Teil eines bildlichen Weltpanoramas sein – unter anderem wird sich Sokrates am Ende genau deswegen einer Beschreibung des ewigen Jenseits außerhalb des Lebenskreislaufs enthalten (114c2–6). So stellt sich der Mythos in seinen Ausdrucksmöglichkeiten selbst am Ende nur wie eine Unterwasserperspektive auf die Wahrheit dar und bleibt, wie von Sokrates vorher angekündigt und zum Schluss noch einmal betont, dem Bereich des Wahrscheinlichen verpf lichtet. Das kann aber andererseits nicht davon ablenken, dass der Mythos in seiner eigenen Darstellungsart an der Wahrheit partizipiert, die der Argumentteil erarbeitet hatte und hier eigentlich nichts Falsches sagt, auch wenn er nicht von „Seelen“ spricht: Dass nämlich der Mensch und die Seele ein und dasselbe sind, da der Körper zum Menschsein offenbar nichts beiträgt und das „Ich“ ganz in der Seele aufgeht (vgl. 106e5–7; Karfík 2004, 82). Dazu passt der Hinweis, den Sokrates nach der Erzählung des Mythos als Antwort auf die Bedenken des Kriton bezüglich der Bestattung gibt. Kriton begreife nicht, so meint Sokrates in Absetzung seiner egologischen Identitätskonstante von seinem Leib, „dass ich nach dem Trinken des Gifts nicht mehr bei euch sein werde, sondern schon fort bin zu den Freuden der Seligen“ (115d3–4).6
11.6 Der innerirdische Kreislauf der Weltf lüsse (111c4–113c8) Im auffallenden Gegensatz zur „oberen Erde“ steht das im Anschluss so ausführlich beschriebene Gewirr der verschiedenen Flüsse, welche die zu Strafe abgeurteilten Verstorbenen zunächst in die Unterwelt hinunter transportieren und dann zur Läuterung solange von einem unterirdischen Ort zum nächsten fortspülen, bis sie bereit sind, durch das Flusslabyrinth wieder zu einer neuen weltlichen Existenz an die Oberf läche ausgestoßen zu werden. Die Flüsse tragen dabei die traditionellen mythischen Namen Okeanos, Acheron, Pyriphlegethon und Kokytos und werden als unterschiedlich und in Temperatur, Umgebung und Flüssigkeitskonsistenz auf die jeweilige Bestrafungsart abgestimmt vorgestellt. Die gesamte von ihnen durchzogene Welt wird somit wie ein 6 Dass das „Ich“ des Menschen mit seiner Seele identisch ist, zeigt sich ja allenthalben in den platonischen Schriften. Das gilt auch für den Menschen vor dem Tod, das heißt vor seiner Trennung vom Leibe. Die auffälligste Stelle ist vielleicht Alkibiades I, 130de1–3: „Sokrates redet mit Alkibiades in vernünftiger Sprache, und zwar offenbar nicht so, dass er dir nur ins Gesicht hineinredet, sondern dass er mit dir, Alkibiades, selbst redet. Und du, Alkibiades, bist die Seele“. Zum Problem der „Menschen“ in der Oberwelt vgl. auch Ebert 2004, 439, und Karfík 2004, 43, der allerdings bestimmte Aussagen des Mythos (114c2–6 und 108a6–b3) wörtlich nimmt und von einem Restbestand an Körperlichkeit bei den Verstorbenen im „Jenseits“ ausgeht. Zum Problem der körperlosen Seelen in den Jenseitsmythen vgl. auch Inwood 2009.
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riesiger, pulsierender Organismus dargestellt, anachronistisch vielleicht vergleichbar einem Blutkreislauf mit einer mittigen Herzkammer, dem Tartaros, der als der tiefste der Abgründe (megiston chasmatôn, 111e6–7) der Erde beschrieben wird, in den die Gewässer hinabfallen und aus dem sie auch wieder aufsteigen (112a4–6). Platons Text selbst bietet das Bild eines gewaltigen Atemaustauschs mit zentraler Lunge als Vorstellungshilfe an (112b3–9).7 Konstant im Hintergrund steht jedenfalls das Vergleichsbild eines in sich abgeschlossenen Wechselzyklus einer Art Weltorganismus, das über die Beschreibung der verschiedenen Kreisläufe der Flüsse eine wiederholte Bezugnahme auf den Kreislauf des Lebens und damit auf das kosmologische Kreislaufargument des vorherigen Gesprächs erlaubt (auffällig ist dies etwa, wenn Kombinationen von bestimmten Signalwörtern aus der Beschreibung des Kreislaufarguments im Mythos mehrmals wiederholt werden, wie z. B. die Verbindung von kyklô – 72b1, wiederaufgenommen u. a. in 112d6, 113b1 und 113c6 – mit katantriky – 72b2–3, wiederaufgenommen u. a. in 112d5, 112e7–8 und 113b7). Die Interpreten schrecken bisweilen davor zurück, die umständliche Beschreibung des verschlungenen Ineinanderströmens und Hin- und Herf lutens der Gewässer im Phaidon-Mythos, so zusammenhängend sie im Ganzen auch ist, als ein „System“ von Flüssen zu bezeichnen. Und soviel scheint dabei richtig zu sein: Die gesamte Beschreibung von zerklüfteten Flusslandschaften, von feurigen oder schlammigen Strömen, vom steten oder auch unsteten Hin- und Herwogen und der sorgsam durchkomponierten Ordnungslosigkeit ihres Ineinanderf ließens und Auseinandertretens kontrastiert die vorhergehende Schilderung der im Vergleich dazu so ausgesprochen „apollinischen“ oberen Welt; vielleicht darf oder sollte man in dem Gegensatz der Eindrücke, die beide Darstellungen in ihrer unmittelbaren Aufeinanderfolge im Leser erzeugen, auch eine sinnbildlich unterstreichende Ausarbeitung des unterschiedlichen Schicksals der Abgeschiedenen erkennen, und vielleicht sogar eine Widerspiegelung des inneren Seelenzustands der einen und anderen bereits im diesseitigen Leben (Dorter 1982, 171). Dass Platon sich bemüht, bei der „Beschreibung des ‚Gedärms‘ der Erde so ins Detail zu gehen, dürfte nicht wissenschaftlicher Gründlichkeit als vielmehr dem Ziel dienen, daß er damit einen Ort der Öde und der Trostlosigkeit entwerfen will, der im wahrsten Sinn des Wortes ein Gegenbild zu der harmonisch geordneten Oberwelt darstellt“ (Frede 1999, 160). Ein Schlüssel für ein richtiges Verständnis 7 Von einem „Pumpwerk“ spricht Ebert 2004, 441. Allerdings ist die Pointe bei Platons Bild, über die auch die Atemanalogie nicht hinwegtäuschen kann, dass es kein aktiv tätiges Prinzip als Antriebsherz des Ganzen gibt. Vielmehr ist der Tartaros als der Mittelpunkt der in der Mitte des Alls gelegenen Erde offenbar allein seiner Lage wegen sowohl der Abgrund, in den die Flüsse allesamt fallen, wie auch die Quelle, aus der durch den damit entstehenden Druck die Wasser wieder aufsteigen (Frede 1999, 160). Da die Flüsse auch Lehm- und Feuerbestandteile mit sich führen und ihr Fall von heftigen Windbewegungen begleitet ist, „gibt es im Erdinneren eine Zirkulation der vier Elemente“ (Karfík 2004, 32 und 41f.), was wohl vorsokratische Kosmogonien aufnimmt. Vervollständigt wird die Elementenliste in 111b1 durch den Hinweis auf den aithêr.
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des Kontrasts von Oberwelt und unterweltlicher Flusslandschaft ist das Bild von der Führung der rechtschaffenen Verstorbenen durch die Götter und die Bemerkung, diese Verstorbenen seien durch ihr diesseitiges Leben gut vorbereitet und wüssten wie in Konsequenz der Verlängerung dieses Lebens, wohin sie gehen. Bei der Beschreibung der „wahren Erde“ war schon darauf verwiesen worden, dass die Menschen dort sich durch ihre phronêsis auszeichnen und mit den Göttern in engem Kontakt sind. Im Kontrast dazu steht nun das Bild von denjenigen Verstorbenen, die ohne ihren Willen, widerstrebend und ohne ein Verständnis dafür aufbringen zu können, was mit ihnen geschieht, unter der Oberf läche in unwirtliche Gegenden hin und her und immer weiter fortgespült werden (Frede 1999, 166).
11.7 Zwischenfazit zur mythischen Kosmoskopie Die breit ausgearbeitete Kosmoskopie und insbesondere die ausführliche Beschreibung der Unterweltströme wirkt zunächst dysproportional groß im Gesamt des Mythos und angesichts der Tatsache, dass der Mythos ja einen bildhaften Einblick in das zu erwartende Schicksal der körperlosen Seelen geben soll, und es hat nicht an Interpreten gefehlt, die sich diese Auffälligkeit zum Thema gemacht haben (z. B. Frede 1999, 153). Tatsächlich trägt diese ausgedehnte Schilderung der Welt und ihres Aussehens aber in mehr als einer Hinsicht erstens zur Logik der Gesprächssituation und zweitens zum Sinn des erzählten Mythos selbst bei. So ist zum einen immer wieder auf die pythagoreischen Elemente der Darstellung des Kosmos aufmerksam gemacht worden, was bei Platon ohnehin ein bekannter Zug ist, aber im Phaidon eben auch ganz gezielt seinen „Sitz im Leben“ hat, da der Mythos ja offenbar insbesondere den beiden Schülern des Philolaos gilt, die, um es einmal so unschön pädagogisch auszudrücken, „dort abgeholt werden müssen, wo sie stehen“. Hier insbesondere zeigt sich die festigende Funktion der Mythenerzählung und ihre Eigenart, ad hominem geläufige Motive anklingen zu lassen, um das im Dialog Gewonnene narrativ noch einmal eingängig nahe zu bringen. David Sedley hat zum anderen auf die wichtigste Facette des kosmologischen Gesamtentwurfs im Phaidon hingewiesen, als er ihn als ein „psychozentrisches Weltbild“ identifizierte (Sedley 1989, 373).8 Mit Filip Karfík kann man mit Bezug auf die vorausgegangenen teleologischen Erklärforderungen des Sokrates in 96b8–99d3 sagen, dass in diesem mythischen Weltaufbau alles um der Seele willen so ist, wie es ist (Karfík 2001, 379). Macht man schließlich mit Rémi Brague einen Unterschied zwischen Kosmographie und Kosmologie, wobei jene dann schlicht und sinnneutral als „Plan oder Beschreibung der Welt […] in ihrer Struktur, ihren etwaigen Abstufungen, regionalen Unterschieden, usw.“ 8 Ähnlich Karfík 2004, 45: „Der Schlüssel zu dieser neuen Auffassung der physeôs historia ist ihre Psychologisierung“.
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anzusehen wäre, diese hingegen als eine Weltdarstellung, die unter Einrechnung des menschlichen Subjekts diesem eine sinngebende Bedeutung des Kosmos eröffnet (Brague 2006, 12 und 14), so ergibt sich für den erzählten Weltbau des Phaidon, dass er ganz dezidiert als eine Kosmologie in mythischen Farben zu verstehen ist. Diese Perspektive zeichnet sich also dadurch aus, dass die Welt als ganze zu den Dingen gezählt wird, deren deskriptiver Wert zum guten Teil auch in ihrer präskriptiven Wertigkeit liegt. Der Weltaufbau wird mithin nicht um seiner selbst willen oder eines theoretischen kosmographischen Erkenntnisgewinns wegen erzählt, und die Welt wird in Platons Betrachtungsintention weniger als ein naturwissenschaftliches Exemplar denn vielmehr als ein moralisches Exempel behandelt und verstanden. Der Mythos ist nicht wie eine naturwissenschaftliche Topographie zu verstehen und ist nicht wie ein erratischer Block besonderer Gelehrtheit in das Gesamt des Phaidon eingestreut. Vielmehr konstruiert der Mythos erzählerisch einen Kontext des Seelenschicksals, der dieses in einen sinnvollen Zusammenhang des Gefüges der Weltabläufe stellt und somit auch die Schlussbemerkung des Sokrates über die Hoffnung des Lebens kosmologisch einbettet. Dadurch sind nicht zuletzt die mythisch-bildlichen Aufnahmen von Motiven aus dem vorherigen Dialogverlauf sinnvoll auszumachen. So spielt das genauso wuchtige wie kompliziert dargebotene Bild von der Erde als einem Zirkelsystem von Flüssen, die um die Erde f ließen, abtauchen und wieder ausgespien werden, wie gesehen mit der Passage vom kosmologischen Kreislaufargument (70d7–72c3) und erklärt ebenfalls die in der Invektive gegen die Naturphilosophie aufgeworfene Frage über das Entstehen und Vergehen der Lebewesen mit dem Bild vom Abtauchen und Auftauchen (96b2–c2; Karfík 2004, 39). Auch, dass die Erde in der Mitte des Kosmos stehe und daher nirgendwo hinfallen könne, nimmt die Spitze gegen die Naturphilosophen in 99b8–c1 auf. Ganz ähnlich stellt die Bemerkung, es führten viele gegabelte Wege in die Unterwelt (107c5–108a6), über eine Kritik am bei dieser Gelegenheit namentlich genannten Aischylos hinaus eine weitere Spitze gegen Anaxagoras dar, denn Diogenes Laertios (II 11) überliefert Anaxagoras als den ersten Philosophen, der das Adagium „der Weg in die Unterwelt hinab sei immer [oder gelegentlich: für alle C. S.] der gleiche“ als ethische Lehre vertreten habe (Schäfer 2005, 412ff.). Und schließlich scheint, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die insgesamt vierteilige Gliederung von Tartaros und höhlenartigen Unterwelten einerseits und oberer Lichtwelt und den Philosophen vorbehaltenem Jenseits sensu stricto andererseits die epistemische Vierteilung des Anamnesisarguments kosmologisch aufzunehmen: Wie das Bild der Leier zur Leier selbst und der Mensch Simmias als Leierspieler zum ganz anderen Menschen Kebes der Wiedererinnerung eine Stufenfolge hinauf oder zu einem eigentlichen Zielpunkt bietet (womit die epistemische Aufteilung aus dem Liniengleichnis der Politeia für die Anamnesis nachgebaut ist), so ist der Tartaros als das Schattenreich der ewig Verdammten die unterste Stufe der vierstufigen normativen Kosmologie des Phaidon, die Oberf lächenvertiefungen der Erde bilden dann die nächste, immer noch als „unter“ der wahren Welt als Scheide-
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kriterium der mythischen Zwei-Welten-Lehre deutlich lokalisierte, Stufe, die „wahre Erde“ ist die erste Stufe oberhalb des Jenseitskriteriums, und der Philosophenhimmel die nicht zu beschreibende Region der ewig Seligen als das letzte Ziel. Diese höchste Region und der Tartaros werden mit Absicht nicht ausführlicher beschrieben, und der Verdacht liegt nahe, dass es sich hier um arrhêta handelt, um Unaussprechliches. Die beiden zeitlichen Regionen dazwischen allerdings bieten sich dem farbenfrohen mythischen Erzählen geradezu an, bei ihrer Beschreibung zu verweilen (Frede 1999, 158f.), was Sokrates ja auch dankbar annimmt. Der Mythos verarbeitet bei all dem narrativ viele interessante Einzelaspekte, die hier nicht alle erörtert werden müssen. Als einziger Beleg sei das auffällige Kompositionsprinzip genannt, die wichtigsten Elemente der Erzählung in verschiedenen Motivvariationen horizontal und vertikal zu strukturieren. Ein Beispiel dafür ist die von unten nach oben aufgebaute Anordnung der verschiedenen waagerechten Weltebenen übereinander, ein weiteres das horizontale und seenbildende Fließen der Unterweltströme gegenüber ihrem abrupten steilen Absturz in den Tartaros und das senkrechte Austreten aus ihm. Schließlich gehorcht im selben Motivrahmen diesem Anordnungsprinzip etwa auch die unter Interpreten vielbeachtete Tatsache, dass die im Mythos beschriebenen Bußzuweisungen für die Missetäter – anders als bei anderen Jenseitsmythen – nicht nur distributiv „von oben nach unten“ gehandhabt und von Richtern den Verurteilten zugeteilt werden, sondern mit der Erzählung von der Verzeihung oder deren Verweigerung durch die Geschädigten auch eine retributive Facette des Ausgleichs auf gleicher Ebene aufweisen (114a7–b6; Ebert 2004, 441ff.).
11.8 Das Schicksal der Verstorbenen (113d1–114c6) Das Wichtigste zum Schicksal der Seelen ist mit der Kosmologie bereits vorgezeichnet. Das seltsam Anmutende und Paradoxale der Weltbeschreibung bleibt auch hier ein Grundzug der Darstellung. Es regt tatsächlich zum Weiterdenken an, was Jean Pépin als wichtiges Element unter die „subjektiven Wohltaten“ der mythischen Darstellung bei Platon gezählt haben möchte (Pépin 1972, 479f.). Unter dieses seltsam Paradoxale gehört nun auch, wie stark die Erzählung des Sokrates das zeitliche Jenseits auf der „wahren“ Weltoberf läche an das zeitliche Diesseits in der uns bekannten Ökumenehöhlung der Erde annähert. Und das, obwohl – oder eben gerade weil – der beteuernde Tenor der Erzählung immer wieder auf den großen Intensitätsunterschieden zwischen den beiden Welten liegt (vgl. Schäfer 2005, 416f.; Ebert 2004, 437). Was hier ein Edelstein ist, sei dort ein gewöhnlicher Kiesel, heißt es da, und was hier eine lange Lebensdauer ist, gilt dort als kurz, was hier als scharfsinnig oder klug gilt, wird dort um ein Vielfaches überboten. Das alles gehorcht dem Darstellungsprinzip eines „genauso wie hier, nur viel besser“ und ist eigentlich eine Art Märchenmotiv. Tatsächlich scheint
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Platon dabei, ähnlich wie bei der Beschreibung der Unterweltf lüsse, gesucht mit bekannten Motiven zu spielen (vgl. Homer, Ilias 14, 201; Odyssee 10, 513; 11, 157 u. ö.), die im Bereich zwischen Mythischem und Märchenhaftem liegen. Als Beispiel diene der vergleichende Verweis auf die leicht- und langlebigen Phäaken in der Odyssee (7, 201– 206), bei denen, ähnlich wie im Oberf lächenjenseits des Phaidon, die Götter selbst mit den Menschen Umgang pf legen und nicht nur in Orakeln und Bildern präsent sind. Als Beispiele dienen des Weiteren die Bezugnahmen auf Aischylos und verbreitete religiöse Praktiken (107e4–108a6), u. a. m. Ein auffallend kurzes Textstück (dazu Frede 1999, 155) erst setzt dann die lange Erdbeschreibung knapp mit dem Schicksal der Verstorbenen in Beziehung. Die Struktur ähnelt darin dem Argumentaufbau in den Dialogteilen bei Platon: Auch Argumente werden in den platonischen Gesprächsstücken für gewöhnlich recht lang und in großer Ausführlichkeit vorbereitet, das Fazit als der Moment, in dem „der Groschen fällt“, ist demgegenüber meist knapp und prägnant gehalten. Der Kosmoskopie wird damit ihr Sinn im Ganzen zugewiesen, denn offenbar sollte sie vor allem die Belanglosigkeit des irdischen Todes im kosmischen Gesamtprospekt vor Augen führen und somit gleichzeitig die von Sokrates in der Apologie vorgebrachte Überzeugung ausmalen, es sei leichter, dem Tod zu entrinnen, als der Strafe für ein ungerechtes Leben. Ähnlich leitet Sokrates den Mythos tatsächlich in 107c1–d2 ein, wenn er für seine Erzählung angesichts der zeitlosen Gerechtigkeit für eine Ewigkeitsperspektive plädiert, statt für eine an der irdischen Lebenszeit bemessene – ein Motiv, das aus zahlreichen Wiederholungen im Gorgias sattsam bekannt ist. Diese Überzeugung der Dominanz des Moralischen über die Regelabläufe des Kosmos durchzieht den Mythos insgesamt und vielleicht baut Sokrates gerade deswegen darauf, gerade er könne über die wahre Beschaffenheit der Welt besser Rechenschaft geben als die anderen, die davon zu reden pf legen (108c5–8). Die Trennung des Moralischen vom Kosmischen, die dieser Dominanzenstruktur zuvorliegt, zeigt somit an prominenter Stelle im Verlauf der mythischen Erzählung eine Differenzierung an, die in den Argumenten des Dialogteils oft vorschnell untergeht: nämlich die Differenzierung von Seele als Lebensprinzip und Seele als Geistprinzip. So wird der in 108c5 zugunsten der Kosmoskopie losgelassene Erzählfaden an der Stelle der Führung der Verstorbenen durch die „Schutzgeister“ wieder aufgenommen (113d1). Der Spruch des Gerichts unterscheidet, soviel wird zur Situierung des Lesers noch einmal erwähnt, zunächst grundsätzlich die Guten von den Schlechten (113d3– 4) und verweist sie gemäß ihrer Lebensweise (kata tên axian, 113e1) zur Strafe oder Belohnung jeweils an einen von vier Orten: Die wegen schwerster Vergehen ewig Verdammten wirft das gerechte Geschick (prosêkousa moira) in den Tartaros, aus dem sie nie wieder auftauchen werden. Das stellt einen bemerkenswerten Ausbruch gegenüber dem Kreislaufschema dar, das ansonsten im Mythos vorherrscht, und spiegelt den Primat der moralischen Gerechtigkeit vor der kosmischen Ablaufs- oder Ausgleichsgerechtigkeit wider, die keine Endgültigkeit kennt (113e5–6). Eine zweite solche Ausnahme
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wird für die Philosophen gelten, deren ewige Belohnung ebenfalls gegen das von Sokrates vorher kritisierte „alles gleich“-Prinzip des Anaxagoreischen homou panta (72c4) spricht. Der Weltentwurf des Phaidon-Mythos dagegen versucht dadurch, dass er allem seinen verdienten Platz zuweist, das Prinzip einzulösen, alles so zu erklären, wie es der „Bestheits-“ Forderung entspricht, die für Sokrates im vorhergehenden Dialogverlauf Grundlage seiner Kritik der „Naturphilosophie“ war (91c1; Karfík 2004, 41). „So wird begreif lich, warum Platon sich um die Einzelheiten von Gericht und Strafe als solche kaum kümmert, sondern sich im wesentlichen auf die Topographie der [Weltr]egionen konzentriert“ (Frede 1999, 156f.). Die minderer oder zumindest noch verzeihbarer Vergehen Schuldigen werden je nach geforderter Intensität und Länge der Reinigung davon im System der unterirdischen Flüsse zu ihren jeweiligen Purgatorien geschwemmt, um hernach wieder an die offenen Höhlungen der Welt herausgespült zu werden. Wie in der kosmologischen Beschreibung ist auch für das Schicksal der Abgeschiedenen die Trennlinie zwischen den Welthöhlungen und der wahren Weltoberf läche eine Spiegellinie. Denn auch die von den Richtern für gut Befundenen erwartet ein unterschiedliches Schicksal: „[D]iejenigen, von denen befunden wird, dass sie richtig auf ein rechtschaffenes Leben hingelebt haben, die kommen hinauf in die reinen Wohnstätten und richten sich ihre Behausung auf der Oberf läche der Erde ein, und sie sind damit befreit aus diesen Regionen (topoi) im Inneren der Erde und sind dadurch wie aus einem Gefängnis entlassen“ (so 114b6– c2). Ist schon dieser Hinweis auf das Gefängnis ein konkretisierender Selbstbezug des Sokrates auf sein eigenes Schicksal, so vielleicht mehr noch das Folgende, wo es heißt: „Soviele von diesen sich aber mithilfe der Philosophie ausreichend gereinigt haben, die leben für alle Zukunft ganz ohne Leib und kommen in noch schönere Wohnungen als die eben genannten. Diese Wohnungen ließen sich aber weder leicht beschreiben, noch ist jetzt dafür genug Zeit übrig“ (114c2–c6). Ähnlich wie beim Hinweis auf das ewige Verweilen der schlimmsten Übeltäter im Tartaros, enthält sich Sokrates aber auch hier jeder Schilderung dieser als endgültiger Aufenthaltsort gekennzeichneten Region.
11.9 Die Schlussbetrachtung des Mythos durch Sokrates (114c6–115a6) Nach dem langen monologischen Textstück leitet eine erneute direkte Anrede an Simmias die Schlussbetrachtung des Sokrates und die Selbstbewertung des Gesagten ein. Auch wenn man das nicht zu Schildernde beiseite lasse und nur das in der Erzählung Beschriebene betrachte, sporne das doch schon zu einer tugendentsprechenden Lebensweise an, denn der zu erwartende Preis sei schön und die Hoffnung groß (114c8). Diese große Hoffnung (elpis megalê) ist wohl nicht, oder nicht nur, jedenfalls aber nicht primär, als Hoffnung auf unbestimmtes Zukünftiges zu deuten. Hoffnung ist keine Erwartung,
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dass alles gut ende, sondern das Vertrauen darauf, dass alles, was geschieht, einen Sinn hat, erklärt ein Dichter, und diese Beschreibung der Hoffnung passt gut zur Auffassung von Kosmologie, die dem Mythos im Phaidon zugrunde liegt. Die Wortwahl nimmt auch Bezug auf die zu Anfang des Dialogs geäußerte euelpis des Sokrates (63c5) und auf die bekräftigende Bemerkung des Kebes in 70a8, dass es zu großer und schöner Hoffnung Anlass geben würde, wenn man davon ausgehen dürfte, dass die Seele sich von allen Übeln des derzeitigen Lebens befreien könnte. Sicherlich kontrastiert diese Hoffnung auch die ironisch als „wunderbar“ charakterisierte Hoffnung, in der sich Sokrates bei der Lektüre der Welterklärungen des Anaxagoras enttäuscht sah (98b7). Ähnliches mag für die anschließende Qualifizierung des „schönen Wagnisses“ (kalos kindynos) gelten, denn auch bei dessen Erwähnung wird sogleich mit Verweis auf den Mythos betont, man könne all dieser erzählten Dinge wegen (toutôn) guten Mutes für die eigene Seele sein und sich durch rechten Lebenswandel sorglos auf den Weg ins Jenseits machen (114d8–e2). Das Wort „Wagnis“ verweist dabei zurück auf die Überleitung vom Gespräch zum Mythos in 107c3–4, als Sokrates anmahnt, man solle die Betrachtung der Seele in einen Ewigkeitszusammenhang stellen, um zu erkennen, wer sein Leben als mutiges Wagnis in der Hoffnung aufs Jenseits führe und wer dies waghalsig vernachlässige. All das im Mythos Geschilderte jedoch habe, nach Sokrates, angesichts der Tatsache Geltung, dass es wohl für einen vernünftigen Mann nicht angeht zu vermeinen (ou prepei noun echonti andri), dass sich alles wörtlich so verhalte, wie es die bildliche Erzählung geschildert hat. Nimmt man allerdings vernünftigerweise an, dass die Seele doch offenbar etwas Unsterbliches ist (athanaton ge hê psychê phainetai ousa), so mag es sich schon so oder so ähnlich verhalten, wie das der Mythos nahebringen will. Sokrates äußert sich hier also wesentlich differenzierter als etwa im Gorgias (523a1–3), wo er geradewegs von der Wahrheit der (dort ebenfalls: „schönen“) Jenseitserzählung spricht. Die Bildersprache des Mythos richtete sich also nicht an Tatsächlichkeitskriterien aus, sondern an der eingängigen und einfacheren Erzählbarkeit. Baut man daher auf die Argumente des bisherigen Dialogs und nimmt sie nach wiederholter Prüfung für richtig, soll das wohl heißen, dann zeige sich auch der festigende, erhebende oder eindrückliche Sinn des Mythos. Der Mythos hat somit unter anderem auch eine annahmetechnische Funktion für das argumentativ Erarbeitete. Dieser Sinn des Mythos für das vorher Gesagte rechtfertige dann auch erst das lange Verweilen bei der bunten Erzählung, ist es doch damit offenbar nicht viel anders als mit anderen Dingen, die sich erst in Wiederholungen und längerer nochmaliger Betrachtung im Geiste festsetzen. Sokrates verwendet hier das Wort epadein, das nach Auskunft der Wörterbücher soviel bedeutet wie „durch Gesang gewinnen“, „bezaubern“, oder auch „Kinder singend beruhigen“. Das Wort nimmt Bezug auf das Motiv vom Besprechen des Kinds im Manne, von dem 77d5–e2 die Rede war. Sokrates versäumt es aber auch nicht, in seine Schlussref lexion über den Sinn des Mythos eine weitere der kurzen Paränesen einzuf lechten, wie sie ja häufiger in den
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Dialog eingestreut sind. Die Lebensführung sei es, die einen festige und bereit mache für den Übertritt in die jenseitige Welt. Sokrates selbst wird durch sein Sterben eine Probe davon geben. Das geht aber nur, weil in der jenseitigen Welt offenbar die Werte und Maßstäbe keineswegs ganz verschieden von denen in der diesseitigen Lebenswelt sind, sondern dieselben und als solche auch auf beide Lebenswirklichkeiten anwendbar, nur sind sie dort viel klarer, so wie dort alles viel klarer zutage liegt. Wie bei anderen Jenseitserzählungen auch, für die Dantes Commedia vielleicht das berühmteste Beispiel hergibt, will der Blick ins Jenseits im Phaidon also keineswegs einen wörtlich zu nehmenden Fahrplan in die Totenwelt in die Hand geben, sondern ein großformatiges, ethisch aussagefähiges Bild der Menschenwelt unter einem gereinigten, erweiterten oder von allem Allzumenschlichen freigehaltenen Blickwinkel bieten.
11.10 Der schöne Mythos und der schönste Mythos Anders als der Gorgias und die Politeia endet der Phaidon nicht mit der Jenseitserzählung. Das ist für die Einordnung des Mythos von erheblicher Bedeutung. Nicht nur, dass dies Sokrates die Gelegenheit gibt, eine aussagefähige Betrachtung über den Wert und die Geltung seines Mythos nachzureichen. Etwas anderes ist von viel größerer Bedeutung: Den Schlusspunkt des Dialogs setzt die Erzählung vom Tod des Sokrates. Dieses Bild des sterbenden Philosophen, und nicht der kosmoskopische Mythos, bestimmt den abschließenden Eindruck des Lesepublikums. Und hatte der Mythos nun schon den allbekannten platonischen Anforderungen an die rechte dichterische Darstellung genügt, so tut das umso mehr die Erzählung von den letzten Augenblicken des Sokrates (Erler 2009). Dass der Philosoph hier exemplarisch als tragischer Held seiner eigenen Mythologie dargestellt werden soll, zeigt sich aus den sich im Verlauf des Dialogs zunehmend verdichtenden Anzeichen, und nicht zuletzt aus der ironischen Bezugnahme auf den „tragischen Mann“ in 115a5. Nicht nur so gesehen ist die Schilderung des sterbenden Sokrates mehr als nur ein „Epilog“, als den man sie bisweilen unterdeterminiert hat. Sie steht vielmehr ganz im Kontext einer mimetischen Ethik, die wiederum selbst die Motivation dafür ist, dass Platon so viel Wert auf die Kritik der Mimesis in Mythologie, Dichtung und bildlicher Darstellung legt. In diesem Kontext hat der Tod des Sokrates eine eigene Überzeugungsfunktion für das Verhandlungsthema des Phaidon, genauso wie das die Argumente des Gesprächsteils und der Mythos in jeweils eigener Weise haben, und zwar eine Überzeugungsfunktion ad hominem und zentriert auf den philosophischen Vorbildcharakter Sokrates. Es bedarf dazu wohl kaum des Hinweises, dass Phaidon als Erzähler des Dialogs an mehreren Stellen bekundet, das Verhalten des Sokrates habe ihn damals gefesselt und eingenommen (58e1–59b1 und 87e6–89a7, 118a15–Ende), doch nicht ein einziges Mal, die vielen Argumente oder der lange Mythos.
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Damit macht, so könnte man sagen, der Jenseitsmythos des Sokrates gegen Ende der Schrift dem Mythos Sokrates am Ende der Schrift Platz und lässt sich, was für die Einordnung der Jenseitserzählung von bedenkenswertem Belang ist, von ihm überbieten. Wenn die Interpreten recht haben, die in der Darstellung des Philosophen Sokrates die gelungenste Mythologie Platons erkennen wollen (Dönt 1995, 15f.; Dalfen 2002, 219), so ließe sich auch mit Recht behaupten, dass zum Beschluss des Phaidon der „schöne Mythos“ aus wohlüberlegtem Kalkül dem schönsten Mythos Platons weichen musste.
Literatur Dalfen, J., 2002: Platons Jenseitsmythen: Eine „neue Mythologie“?, in: M. Janka / Ch. Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt, 214–230. Dönt, E., 1995: Platon und der Mythos, in: Wiener humanistische Blätter, Sonderheft: Zur Philosophie der Antike, 7–20. Dorter, K., 1982: Plato’s Phaedo. An Interpretation, Toronto. Droz, G., 1992: Les mythes platoniciens, Paris. Ebert, Th. 2004: Platon. Phaidon, Übersetzung und Kommentar, Göttingen. Erler, M., 2009: „Denn mit Menschen sprechen wir und nicht mit Göttern“. Platonische und epikureische epimeleia tês psychês, in: D. Frede / B. Reis (Hg.): Body and Soul in Ancient Philosophy, Berlin / New York, 163–178. Frede, D., 1999: Platons ‚Phaidon‘. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele, Darmstadt. Inwood, M., 2009: Plato’s Eschatological Myths, in: C. Partenie (Hg.): Plato’s Myths, Cambridge, 28–50. Karfík, F., 2001: Seelenlehre und Kosmologie im Phaidon, in A. Havlíček / F. Karfík (Hg.): Plato’s Phaedo. Proceedings of the Second Symposium Platonicum Pragense, Prag 368–383. Karfík, F., 2004: Die Beseelung des Kosmos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios, München / Leipzig. Pépin, J., 1972: Mythe et allégorie, Paris. Schäfer, Ch., 2002: Herrschen und Selbstbeherrschung: Der Mythos des Politikos, in: M. Janka / Ch. Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt, 115–136. Schäfer, Ch., 2005: Zur Vorsokratikerdarstellung im Phaidon, in: G. Rechenauer (Hg.): Frühgriechisches Denken, Göttingen, 407–422. Sedley, D. 1989: Teleology and Myth in the Phaedo, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 5, 359–383.
12 Theo Kobusch
Wirkungsgeschichte des platonischen Phaidon
12.1 Der Phaidon im Spiegel der Übersetzung und Kommentare 12.1.1 Antike Kommentierung Zur unmittelbaren Wirkungsgeschichte des Phaidon gehört, dass die Thematik und auch einzelne Argumente aus dem platonischen Dialog (z. B. gegen die pythagoreische Überzeugung von der Seele als Harmonie) in Aristoteles’ frühem Dialog Eudemos und später auch im ersten Buch von De anima aufgenommen worden sind (Aristoteles, Fragmenta Varia, fr. 45,16f., ed. Rose, 49,27f.). Die hellenistische Philosophie stand im Allgemeinen der Gedankenführung Platons im Phaidon kritisch gegenüber. Besonders intensiv scheint sich Strato von Lampsakos mit den Unsterblichkeitsargumenten auseinandergesetzt zu haben, wie wir aus Damascius’ Darstellung und Widerlegung dieser Kritik entnehmen können (Damascius, In. Phaid., II, §§ 63–65, ed. Westerink, 321ff.). Die ersten Phaidon-Kommentare im strengen Sinne des Wortes scheinen von Atticus, dem Mittelplatoniker, und Numenius zu stammen.1 Auch Porphyrios, Jamblich u. a. haben nicht erhaltene Phaidon-Kommentare geschrieben. Erhalten sind zwei Kommentare von Olympiodor und Damascius, der letztere in zwei Fassungen. Beide Kommentare sind nach einem identischen Schema aufgebaut, wenngleich der Kommentar des Damascius ungleich ausführlicher die Gegenstände behandelt und Olympiodors Kommentar nur bis Seite 78b erhalten ist: Der erste Teil widmet sich dem Problem des Todes, sei es in der Form des Themas des Freitodes, sei es als die „Übung des Todes“. Der zweite Teil umfasst die fünf Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, das Gegensatzargument, das Wiedererinnerungsargument, das Ähnlichkeitsargument, das Harmonieargument
1 Zur Geschichte der Phaidonkommentare und zu dem des Olympiodor vgl. Westerink 1976, 7–29.
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und schließlich das Argument vom Wesen der Seele. Der dritte Teil besteht in der Kommentierung des Phaidon-Mythos.
12.1.2 Renaissance-Übersetzung Der zweite große Anschub für die Rezeption des platonischen Phaidon war die lateinische Übersetzung durch Leonardo Bruni. Im Jahr 1397 stand Bruni, wie wir aus seiner Autobiografie wissen – wie Herakles am Scheideweg – vor der Entscheidung, sein Leben dem „Bürgerlichen Recht“, d. h. der Jurisprudenz zu widmen oder nunmehr, da Chrysolaos, der byzantinische Aristokrat, zur Abhaltung von Griechisch-Kursen an die Universität Florenz eingeladen worden war, die Konversation „mit Homer, Platon und Demosthenes und den anderen Poeten, Philosophen und Rednern, über die so wunderbare Dinge erzählt worden sind“, zu beginnen (Bruni, Rerum […] gestarum Comm., ed. Di Pierro, 341f.). So begann die Karriere eines der besten Übersetzertalente des sogenannten italienischen Humanismus, welches im Kreis um Coluccio Salutati und Niccolò Niccoli gedieh. Dieser literarische Zirkel hatte es sich zur Aufgabe gemacht – durchaus in kritischer Absetzung von den „drei Kronen Florenz’“, Dante, Petrarca und Boccaccio –, die pagane Literatur wieder zu Ehren zu bringen. In diesen Zusammenhang gehört die von Petrarca (De sui ipsius et multorum ignorantia) schon eingeleitete Rehabilitierung Platons gegenüber der scholastischen Tradition, die Salutatis Kreis fortsetzt, indem z. B. auch die sokratische dialektische Methode gegen den britischen Import einer leeren, nutzlosen und uneleganten Logik und Naturphilosophie verteidigt wird.2 Die Übersetzung des Phaidon durch L. Bruni, seine erste Platon-Übersetzung, der bald diejenigen des Kriton, der Apologie und des Gorgias folgen sollten, steht im Dienst dieser Kritik an der scholastischen Logik-Tradition. Sie ist nicht die erste lateinische Übersetzung dieses Dialogs. Im 12. Jahrhundert hatte Henricus Aristippus schon eine Wort-für-WortÜbersetzung vorgelegt, die den italienischen Humanisten als barbarisch, dunkel und – am ciceronischen Maßstab gemessen – absolut unelegant erschien. Cicero, der den Dialog unter dem Titel „Über die Seele“ an die Nachwelt überlieferte, wo er in patristischer Zeit, auch in der griechischen Patristik, üblich wurde, hat den Phaidon, besonders den autobiografischen Exkurs, als Abwendung von der Naturphilosophie und Hinkehr zur Ethik verstanden. L. Bruni hat in diesem Sinne durch die lateinische Übersetzung des Phaidon dem ethischen Anliegen der Humanisten Ausdruck verliehen. Die Übersetzung hat aber noch eine andere Stoßrichtung, die aus der beigelegten Widmung an Papst Innozenz VII. hervorgeht. Sie richtet sich kritisch gegen alle, die einen Gegensatz zwischen der christlichen Wahrheit und der paganen Philosophie sehen. Der Phaidon zeigt am deutlichsten, dass Platons Lehre mit dem Christentum überein2 Über diese Zusammenhänge informiert am besten Hankins 1991, 29–36.
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stimmt. Auch wenn es chronologisch unmöglich ist, so räsoniert Bruni, kann man doch jene Meinung gut verstehen, die davon ausging, dass Platon seine Wahrheiten von den Hebräern erhalten und vielleicht Jeremiah in Ägypten persönlich getroffen habe. Der Platonismus als Christentum vor Christus – das ist die patristische Wahrheit, deren Gültigkeit Bruni vor dem Papst festzuschreiben sucht (Bruni, Schriften, ed. Baron, 4).3
12.1.3 Trostvolle Aufklärung: Mendelssohns Phädon4 Ohne Zweifel war das Zeitalter der Aufklärung ein Zeitalter des Sokrates (vgl. Böhme 1929; Trousson 1967, 16–28). Im Zuge dieser Bewegung entwickelte sich der Phaidon zu jenem Sinnbild der platonischen Philosophie, in dem die historische Figur des Sokrates und sein Philosophieren am deutlichsten sichtbar wurden. Das überragende Zeugnis der Phaidon-Begeisterung in der Aufklärung ist Moses Mendelssohns Phädon, ein Bestseller des 18. Jahrhunderts, der 1767 nach langer Vorarbeit erschien. Zwar war 1676 schon Leibniz mit einer teilweisen Übersetzung des hochgeschätzten platonischen Dialogs hervorgetreten, doch wird man eher drei andere Schriften als direkten Anstoß für Mendelssohns Phädon ansehen müssen, nämlich Johann Georg Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten, Jakob Wegelins Die letzten Gespräche des Sokrates und seiner Freunde und Diderots De la poésie dramatique. Zur Wirkungsgeschichte des Phaidon gehören aber auch zwei Anti-Phädons, die sich gegen Mendelssohns Deutung wandten. Zunächst ein anonymer, bereits aus dem Jahr 1771, in dem der Autor Mendelssohns Beweis aus dem Gesetz der Stetigkeit, seine Lehre von den kleinsten und unteilbaren Teilchen, seine Gottesvorstellung und die Theorie von der Postexistenz der Seele kritisiert, um all dem schließlich einen Entwurf aus deistischer Sicht entgegen zu halten.5 Der zweite Anti-Phädon aus dem Jahr 1785 stammt von Karl Spazier. Immanuel Kant hat trotz allgemeiner Hochschätzung des Autors in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft der „Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele“ ein eigenes Kapitel gewidmet.
3 Zum patristischen Hintergrund vgl. Kobusch 2006, 41–50. 4 Der Titel ist gewählt in Anlehnung an den Band von Altmann 1982. 5 Genaueres s. bei Gawlick 2000, 73–88.
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12.2 Philosophische Hauptmotive des Phaidon 12.2.1 Der Tod des Sokrates: Phaedo antichristianus – Phaedo christianus Auch für die französische Aufklärung war Sokrates im Allgemeinen und der Dialog Phaidon im Besonderen von überragender Bedeutung. Im Jahr 1787 erschien im Salon de Paris das Gemälde von Jacques-Louis David, das den Titel trägt: Der Tod des Sokrates. Es löste einen allgemeinen Enthusiasmus aus. Es zeigt die Szene des im Dialog Phaidon geschilderten Todestages, in der Sokrates im Kreis seiner Schüler und Anhänger, auf dem Sterbebett sitzend, die philosophische Wahrheit über die Unsterblichkeit der Seele lehrt. Einige der Anwesenden hören ihm aufmerksam zu, andere haben sich in tiefer Trauer abgewandt, Platon aber, von dem im Dialog gesagt wird, dass er, „glaube ich“, krank war, sitzt am Fuße des Bettes als Greis – was später dem Maler Kritik einbringen sollte –, aber auch, wie die am Boden liegende Pergamentrolle bezeugt, als der schreibende Philosoph, der diese Szene dokumentieren wird.6 Hinter dieser Verfälschung der historischen Wahrheit steckt der Rat des gelehrten Père Jean Adry, der in einem Memorandum an den Maler bemerkte: Ja, Platon muss unter der Gruppe der Schüler dargestellt werden. Ist es denn nicht er gewesen, der die letzten Worte des Sokrates aufgenommen und uns überliefert hat? Der Augenschein und die Angemessenheit bevollmächtigen Sie entgegen der historischen Wahrheit dazu, wenn es auch scheint, dass er bei dieser erhabenen Szene gefehlt hat. (Zitiert nach Löhneysen 2004, 129) Von besonderer Tragik ist das Thema des Todes des Sokrates für einen anderen Maler, nämlich für Pierre Peyron, der bereits 1780 erste Anregungen dafür erhielt und schließlich einen entsprechenden Auftrag des Königs unter dem Titel Der Tod des Sokrates bis zum Eröffnungstermin der Salon-Ausstellung nicht zeitgerecht erfüllen konnte. Als die inhaltliche Quelle beider Bilder ist Denis Diderots Kapitel „D’une sorte de drame philosophique“ in seinem Werk De la poésie dramatique (1758) zu betrachten, in dem er einen Entwurf für ein Stück Der Tod des Sokrates bietet, das allerdings nie geschrieben wurde. Die Todesszene steht hier gewissermaßen als ein Beispiel für eine nichtchristliche Form der Moral vor uns: [I] Die Szene ist in einem Gefängnis. Man sieht den Philosophen angekettet und auf seinem Strohlager ausgestreckt. Er ist eingeschlafen. Seine Freunde haben die Wächter bestochen; und sie kommen noch vor Anbruch des Tages, ihm seine Befreiung anzukündigen. Ganz Athen ist in Aufregung; aber gerade dieser Mensch schläft. Von der Schuldlosigkeit des Lebens. Wie köstlich es sei, gut gelebt zu haben, wenn man den Tod vor Augen hat.
6 Diese Deutungen und Beschreibungen habe ich dem hervorragenden Buch von Löhneysen 2004, 126ff. entnommen.
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[II] Sokrates erwacht; er bemerkt seine Freunde; er ist überrascht, sie so früh am Morgen zu sehen. Der Traum des Sokrates. Sie berichten ihm, was man ausgeführt hat. Er prüft ihnen, was sie zu tun haben: die Achtung, der man sich selbst schuldig sei, und die Heiligkeit der Gesetze. [III] Die Wächter kommen, man löst die Ketten. Das Märchen von der Mühe und von dem Vergnügen. Die Richter treten ein und mit ihnen die Ankläger des Sokrates, und die Menge des Volks. Er ist angeklagt, und er verteidigt sich. Die Apologie. [IV] Es ist nötig, sich der Sitte zu unterwerfen, erforderlich ist es aber auch, dass man die Anklage vorliest, dass Sokrates sie prüft, dass er sie befragt, dass er ihnen antwortet. Man muss diesen Vorgang zeigen, wie er sich zugetragen hat, und das Schauspiel wird um so wahrer, eindrucksvoller und schöner sein. Die Richter ziehen sich zurück. Die Freunde des Sokrates bleiben; sie haben die Verurteilung vernommen. Sokrates unterhält sich mit ihnen und tröstet sie. Über die Unsterblichkeit der Seele. [V] Er ist verurteilt. Man kündigt ihm den Tod an. Er sieht noch seine Frau und die Kinder. Man bringt ihm den Schierlingsbecher. Er stirbt. (Zitiert nach Löhneysen 2004, 127f.)
Die entchristlichte Form der Figurierung des Sokrates ist offenbar eine kritische Reaktion auf jene patristische, im 17. und 18. Jahrhundert wiederaufgenommene Tradition, nach der Sokrates als ein Christ „avant la lettre“ anzusehen ist (vgl. Trousson 1967, 21). Die Szene des Todestages hat Diderot so beschrieben: Den Becher in die Hand nehmend, wendete er seine Augen zum Himmel und sagte: ‚O Götter, die ihr mich ruft, gewährt mir eine friedvolle Fahrt.‘ Danach war er still und trank. Bis zu diesem Augenblick waren die Freunde stark genug, ihren Kummer zu mäßigen. Als er den Becher an seine Lippen setzte, waren sie nicht mehr dessen Meister. […] Einige hüllten sich in ihr Gewand, Kriton war gegangen und wanderte um das Gefängnis. Andere, die bewegungslos waren und standen, beobachteten Sokrates in traurigem Schweigen, Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Apollodoros setzte sich an das Fußende des Bettes, wandte seinen Rücken gegen Sokrates, verbarg den Mund hinter der Hand und dämpfte sein Schluchzen. (Zitiert nach Löhneysen 2004, 128) In den Kontext des „Todes des Sokrates“ gehören auch jene Überlegungen, die im Emile Rousseaus als das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ zusammengefasst sind. Hier werden der Tod Jesu und der Tod des Sokrates direkt miteinander verglichen. Was für ein Unterschied zwischen beiden besteht! Während Platons Bild des gekreuzigten Gerechten in der Politeia exakt der christlichen Vorstellung entspricht, fallen die Unterschiede zwischen den Todesarten Jesu und des Sokrates sofort ins Auge:
T K Als Plato seinen Gerechten malte, wie er mit aller Schmach des Verbrechens beladen und doch jedes Lohnes der Tugend würdig ist, da malte er Zug um Zug Jesus Christus. […] Wie voreingenommen, wie blind muss man sein, wollte man dagegen den Sohn des Sophroniskus mit Marias Sohn vergleichen! Welcher Abstand zwischen beiden! Sokrates, der ohne Schmerzen und ohne Schande stirbt, konnte leicht seine Rolle bis zum Tode spielen; und wenn dieser leichte Tod nicht sein Leben geehrt hätte, ob nicht Sokrates bei all seinem Geist im Grunde nichts anderes war als ein Sophist? Er erfand die Moral, sagt man: vor ihm haben sie andere gelebt. Er sprach nur aus, was sie vor ihm getan haben, er setzte nur ihre Beispiele in Lehren um. […] Aber woher nahm Jesus bei den Seinen diese hohe und reine Moral, die er selber lehrte und bezeugte? […] Der Tod des ruhig mit seinen Freunden philosophierenden Sokrates ist der süßeste, den man sich wünschen kann. Der Tod Jesu, der unter Martern, Beleidigungen, Verhöhnungen und von einem ganzen Volk verf lucht seinen Geist aufgab, ist der schrecklichste, den man fürchten kann. Während Sokrates den segnete, der ihm weinend den Giftbecher reichte, betete Jesus unter schrecklichen Foltern für seine blutgierigen Henker. Wenn das Leben und der Tod von Sokrates eines Weisen würdig sind, so sind Leben und Tod Jesu die eines Gottes. (Rousseau, Emile, 327)
An diese Tradition anknüpfend, verfasst Lamartine 1823 sein berühmtes Gedicht oder wie er selbst sagt: seine „poetischen Meditationen“ La mort de Socrate. Das ist die christliche Deutung seines Todes. Lamartine greift damit eine alte, bei den Kirchenvätern verbreitete Idee auf, die Idee des „Phaedo Christianus“. Schon Gregor von Nyssa hat seinen Dialog Über die Seele und die Auferstehung als eine christliche Version des platonischen Phaidon verstanden (vgl. Apostolopoulos 1986).
12.2.2 „Meditatio mortis“ Nach Ammonios, dem Sohn des Hermias, der in den siebziger Jahren des 5. Jh. den Lehrstuhl in Athen übernahm und bis zu seinem Tode, um 520, innehatte, ist, so wie es eine physische und eine willentliche Bindung der Seele an den Körper gibt, auch eine zweifache Loslösung, d. h. eine zweifache Bedeutung des Begriffs „Tod“ zu unterscheiden. Der „physische Tod“, den alle Menschen sterben, ist die Trennung des Körpers von der Seele. Der „willentliche Tod“ dagegen, den die Philosophen im Sinne der geistigen Übung bzw. der als Lebensform verstandenen Philosophie „üben“, ist die Trennung der Seele vom Körper. Philosophie ist in diesem Sinne die Willensübung des Todes, d. h der Loslösung der Seele vom Körper (Ammonius, In Porph. Isag., CAG IV/3, 5,11ff.). Die
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Unterscheidung der Trennung des Körpers von der Seele und der Trennung der Seele vom Körper ist auch die Sache des Christentums.7 Bisweilen wird ganz im Sinne dieser Phaidon-Exegese der „willentliche Tod“ schlicht das Leben im Sinne der Tugend genannt, während das „willentliche Leben“ das Leben des Zügellosen meint, das sittliche „Nichtsein“, das die Unterwerfung unter die körperlichen Leidenschaften bedeutet. Jedenfalls meine Platon – so seine neuplatonischen Interpreten – wenn er vom Verbot des Freitods spricht, den physischen Tod, wenn aber von der Übung des Todes, den willentlichen.8 Die Rezeption des Meditatio-mortis-Gedankens im Christentum belegt jene Grundthese, die besagt, dass die christliche Philosophie sich durchweg als die Vollendung der antiken, besonders der platonischen Philosophie verstanden hat (vgl. Kobusch 2006). Denn die Philosophie als „meditatio mortis“ zu verstehen, entspricht durchaus der Grundidee des Christentums, nur hat Paulus mit seiner Rede vom „täglichen Sterben“ (1. Kor. 15,31) diese Idee präziser ausgedrückt. Die platonische „meditatio mortis“ drückt nur den „Versuch“, das Vorhaben aus, die christliche Rede dagegen meint die konkrete Handlung des Sterbens, die tägliche geistige Übung der Befreiung von den körperlichen Einf lüssen. Eines ist es nämlich zu leben, um zu sterben, ein anderes zu sterben, um zu leben.9 Noch Cassiodor versteht die christliche Philosophie ganz im Sinne der „meditatio mortis“.10 Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass „Meditation“ in dieser Tradition alles andere als ein abstraktes Insichversenktsein meint. Wie die Philosophie des 12. Jahrhunderts es herausstellt und es auch in den Meditationen Descartes’ noch nachklingt, handelt es sich vielmehr um eine oftmalige, intensive geistige, praktische Übung, also eine Übung des Willens. Was Platon mit seinem Gedanken der „meditatio mortis“ im Phaidon in unsere Welt gebracht hat – der schließlich in Form des „willentlichen“ oder auch des „mystischen Todes“ durch die Jahrhunderte bis hin zu Hegels Philosophie und darüber hinaus leben7 Vgl. etwa Evagrius Ponticus, Practicus, 52, SC 171, 618: „Sôma men chôrisai psychês, monou esti tou syndêsantos; psychês de apo sômatos, kai tou ephiemenou tês aretês. Tên gar anachôrêsin meletên thanatou kai phygên tou sômatos hoi Pateres hêmôn onomazousin.“ 8 David, Proleg., CAG XVIII/2, 31,9–26; vgl. auch Elias, In Porph. Isag., CAG XVIII/1, 12,30–14,2. Die Stoiker dagegen sprechen gerade auch von der „Übung des physischen Todes“. 9 Hieronymus, Epist. 60, 14, CSEL 54, 566,9ff.: „Platonis sententia est omnem sapienti uitam meditationem esse mortis. laudant hoc philosophi et in caelum ferunt, sed multo fortius apostolus: cottidie, inquit, morior per vestram gloriam. aliud est conari, aliud agere; aliud uiuere moriturum, aliud moriri uicturum.“ Vgl. Ambrosius, De Exc. Frat., II, 35,1ff., CSEL 73, 268: „Cottidie morior, apostolus dicit, melius quam illi, qui meditationem mortis philosophiam esse dixerunt; illi enim studium praedicarunt, hic usum ipsum mortis exercuit, et illi quidem propter se, Paulus autem ipse perfectus moriebatur non propter suam, sed propter nostram infirmitatem. Quid autem est mortis meditatio nisi quaedam corporis et animae segregatio, quia mors ipsa non aliud quam corporis atque animae secessio definitur?“ 10 Cassiodor, Inst., II, 3, 5, FChr 39/2, 340,4ff.: „philosophia est meditatio mortis: quod magis convenit Christianis qui, saeculi ambitione calcata, conversatione disciplinabili similitudine futurae patriae vivunt, sicut dicit Apostolus: ‚In carne enim ambulantes, non secundum carnem militamus‘, et alibi ‚Conversatio nostra in caelis est‘.“
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dig blieb (vgl. dazu Kobusch 1984 u. 1991) – ist die Überzeugung, dass die Philosophie keine weltfremde, abstrakte Theorie ist, sondern eine Lebensübung, in der das Ganze des Lebens immer bewusst bleibt.
12.2.3 Wiedererinnerung Der platonische Phaidon hat jedoch nicht nur im Hinblick auf den Philosophiebegriff selbst das philosophische Denken angestoßen, sondern auch auf dem Feld der Erkenntnistheorie. Die Anamnesislehre im Phaidon ist die erkenntnistheoretische Begründung der Ideenlehre. Indem, wie Platon am Beispiel der Gleichheit der Hölzer zeigt, unser Erkennen der Dinge dieser Welt immer eine bestimmte Form der Unvollkommenheit miterkennt, muss es schon das entsprechende vollkommene Urbild des Dinges, das selbst kein Produkt des menschlichen Erkennens sein kann, erkannt haben. Aus der faktischen Erkenntnis der Unvollkommenheit der Weltdinge ergibt sich nach Platon notwendig der Schluss auf die apriorische Erkenntnis der vollkommenen Urgestalt des entsprechenden Dinges. Da aber die menschliche Erkenntnis nicht der Urheber dieser vollkommenen Urgestalt sein kann, da sie selbst unvollkommen ist, muss diese Urgestalt dem menschlichen Erkennen vorgegeben sein. Die dem menschlichen Erkennen vorgegebene, an sich seiende vollkommene Urgestalt aber nennt Platon die Idee. Das Erkennen eines Weltdinges aber vollzieht sich, indem sich die Seele der jeweiligen Idee erinnert. Erkennen ist Wiedererinnerung. Keine Theorie aus dem Phaidon hat so viele Renaissancen erlebt wie die Wiedererinnerungstheorie.11 Sie ist im Neuplatonismus zu einer eigenen Gestalt gereift. Hier wird – das ist die These – die Anamnesislehre zu einer Selbstbewusstseinstheorie, die, durch die Araber vermittelt, Grundlage aller späteren ist. Zunächst aber nimmt Plotin das platonische Anliegen auf und verteidigt den apriorischen Charakter der Erinnerung gegen die sensualistisch begründeten Gedächtnislehren des Aristoteles und der Stoa (Plotin, Enn., IV 6, 1,1–5). Die Erinnerung an die geistigen Urgestalten des Seienden ist in Wirklichkeit eine der Seele eigene „Wiedererinnerung an sich selbst und dessen, was in ihr ist“ (Plotin, Enn., I 6, 2,10f.). Gegen die Lehre der „Alten“, also auch Platons, muss die Aktualisierung des der Seele eingeborenen Wissens zeitlos sein (Plotin, Enn., IV 3, 25,27–35). Wiedererinnerung erhält hier bei Plotin jenen Sinn, den Hegel aufgenommen hat: „Sichinnerlichmachen“, „Insichgehen“ (vgl. Oeing-Hanhoff 1965, 250f.). Was in den neuplatonischen Phaidon-Kommentaren im Vordergrund steht, ist die terminologische Unterscheidung zwischen „Wiedererinnerung“ (anamnêsis) und „Erinnerung“ (mnêmê). Die Wiedererinnerung ist definitionsgemäß eine zweite, d. h. auf 11 Zum Folgenden vgl. auch Oeing-Hanhoff 1965.
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ein Vergessen folgende, theoretische Erkenntnis, die das Objekt gewissermaßen wiederaufnimmt. Die Erinnerung dagegen ist eine durchgehende, ständige Selbstpräsenz, die in der Proklosschule, offenbar in kontroverser Weise, mal dem „Geist“, mal der „Seele“ zugesprochen wurde. Auch die Tiere können sich erinnern. Und wenn sie den Gegenstand, den sie vergessen haben, wieder erkennen, kann man auch von einer Erneuerung der Erinnerung sprechen, aber sie sind sich dessen nicht bewusst (vgl. Damascius, In Phaid., I, ed. Westerink, 272: ephistanai). Die Wiedererinnerung ist, wie hervorgehoben wird, eine Funktion des theoretischen Erkenntnisvermögens. Es gibt zwar auch im praktischen Bereich ein paralleles Phänomen, indem eine verloren gegangene Tugend, d. h. eine verlorene gute Gewohnheit, wiederaufgenommen wird, aber dafür existiert kein eigener Begriff.12 Was jedoch die eigentliche Bedeutung der Wiedererinnerungstheorie in der Spätantike ausmacht, das ist die Überleitung zu einer selbstständigen Selbstbewusstseinslehre. Die Frage, die sich angesichts des Wiederaufnahme-Charakters der Wiedererinnerung stellt, betrifft den Gegenstand der Wiedererinnerung. Was ist dem Bewusstsein durch sie präsent? Gewiss, das vergessene Objekt. Aber auch die Tatsache der Erinnerung selbst? „Warum“, so fragt Damascius, „realisieren wir beim Wiedererinnern nicht, dass wir uns wiedererinnern?“. In diesem Leben ist – nach Damascius – das Bewusstsein vom Akt des Wiedererinnerns im Wiedererinnern eingeschlossen. Gleichwohl kann man diesen Bewusstseinsakt, bei dem man sich gewissermaßen daran „wiedererinnert, dass man sich erinnert“ (Damascius, In Phaid., I, ed. Westerink, 271), vom eigentlichen Wiedererinnerungsakt unterscheiden. Es ist das Selbstbewusstseinsvermögen, für das die spätantike Philosophie – offenbar seit Proklos – einen eigenen Namen gefunden hat, nämlich das „Proshektikon“. Durch diese Bezeichnung ist das Problem des Selbstbewusstseins in den weiteren Kontext der besonders von der Stoa her bekannten Aufmerksamkeitsphilosophie gestellt. Das Aufmerksamkeitsvermögen ist im Bereich des Theoretischen, was das „Gewissen“ (syneidos) im Bereich des Praktischen ist. Während durch jenes der Mensch ein Bewusstsein von seinen theoretischen Erkenntnisakten erhält, vermittelt ihm das Gewissen das Bewusstsein von dem, was er gewollt, begehrt, getan hat. Das „Aufmerksame“ in uns ist somit das theoretische Selbstbewusstsein, das Gewissen das praktische. Hatte das Christentum zweifellos schon eine besondere Sensibilität für das praktische Selbstbewusstsein entwickelt, so muss man dem späteren Neuplatonismus, namentlich der Proklosschule, das Verdienst zuschreiben, im Anschluss an die Phaidon-Exegese die Idee und den Begriff des theoretischen Selbstbewusstseins, die gewiss durch Plotins Lehre von der „Synaisthesis“, „Parakolouthesis“, „Synesis“ und „Antilepsis“ grundgelegt worden waren, in entscheidender Weise fortgeführt zu haben. Wie L. G. Westerink dargelegt hat, war es insbesondere Proklos, der, ohne die 12 Damascius, In Phaid., I, §§ 253–258, ed. Westerink, 153ff.; ebd., II, §§ 4–11, ed. Westerink, 291ff.; Olympiodorus, In Phaid., 11, §§ 1 – 5, ed. Westerink, 150ff.
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Termini des „Proshektikon“ oder des „Gewissens“ zu verwenden, doch eine Selbstbewusstseinstheorie vertreten hat, nach der das „Eine der Seele“ es bewusst macht, dass „ich wahrnehme“ oder dass „ich denke“ oder dass „ich begehre“ oder dass „ich will“.13 Es ist das, was, wie Proklos mit geradezu Kantischen Ausdrücken sagt, alle meine Vorstellungen muss begleiten können (parakolouthoun pasais tautais tais energeiais: In Parm., ed. Cousin, 958,3). Stephanus, der wohl als der Autor des unter Philoponos’ Namen laufenden Kommentars zum III. Buch von De anima des Aristoteles zu gelten hat, hat im 7. Jahrhundert offenkundig diese platonische Lehrmeinung vom Aufmerksamkeitsvermögen vor Augen, wenn er sich auf eine „neuere Exegese“ bezieht, die die aristotelische Lehre vom „Gemeinsinn“ als Erklärung des Selbstbewusstseins, aber auch Alexanders und Plutarchs (von Athen) Theorien ablehnt. Was in diesen Theorien nicht erkannt ist, ist die Selbstständigkeit des Selbstbewusstseins. Weder die fünf Sinne noch die Meinung o. ä. können das leisten, was zum eigentlichen Selbstbewusstsein notwendig ist, nämlich „sich dessen, was im Menschen geschehen ist, bewusst zu werden“ (ephistanai) um sagen zu können: „Ich habe vernommen“ oder „ich habe nachgedacht“, „ich habe die Meinung gehabt“. Daher ist das „Proshektikon“ als ein eigenes, durch alle vernunfthaften, dem Leben dienlichen, aber auch durch die bloß vegetativen Funktionen „durchgehendes“, d. h. sie begleitendes, gleichwohl aber selbstständiges, unkörperliches, ewiges Vermögen anzunehmen, das sich unmittelbar auf sich selbst beziehen kann. Stephanus hebt darüber hinaus hervor, dass dieses „Aufmerksame“ im Menschen Eines sein muss, das sich der vielen Tätigkeiten der Seele als eigener bewusst wird. Denn, so fügt der spätantike Autor bedeutungsvoll hinzu, „der Mensch ist auch nur einer“ (vgl. Stephanus [= Ps.-Philoponus], In De Anima, CAG XV, 464,13–467,12). Das „Proshektikon“ ist also auch die Einheit des Selbstbewusstseins und die Garantie seiner Selbstidentität. Eine vergleichbare Theorie ist im De anima-Kommentar des Priscian (=Ps.-Simplicius) zu finden (Ps.-Simplicius, In De Anima, CAG XI, 76,13). Hier, so behaupte ich, liegt die eigentliche Wurzel des modernen Ich-Bewusstseins, weil hier seine Einheit trotz der Vielfalt seiner Funktionen erkannt ist. Hier wird erstmals der Mensch als Ich begriffen. Die provozierende These M. Burnyeats, dass in der vormodernen Zeit, d. h. vor Descartes, nicht von einem Idealismus gesprochen werden könne, weil erst Descartes den eigenen Körper als Teil der Außenwelt und nicht mehr, wie in der Tradition vorher, als etwas mir je Eigenes betrachte, muss mit Blick auf diese spätantike Entwicklung überprüft werden (Burnyeat 1982, v. a. 43–50). Sie erweist sich aber als offenkundig falsch, wenn man auch noch jene Entwicklung innerhalb der arabischen Philosophie mit in Au-
13 Vgl. die Anmerkungen von L. G. Westerink zu Damascius, In Phaid., I, § 271, 162f.
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genschein nimmt, die pointiert und markant in einem berühmten Gedankenexperiment Avicennas Ausdruck gefunden hat.14 Wir sollen uns vorstellen, dass ein Mensch erschaffen worden sei, der von Anfang an mit einer gesunden Intelligenz und guter Disposition ausgestattet, in der Luft oder in einem leeren Raum schwebe, ohne dass er seine Körperglieder, die sich nicht berühren, sehen oder die Dichte der Luft spüren könnte. Es ist ein Mensch, der mit dem Schleier des Nichtwissens über alles körperliche Sein umgeben ist. Ein solcher Mensch, der nichts wüsste von seinem Körper und was ihn sinnlich umgibt – das will Avicenna sagen – wüsste gleichwohl, dass er existiert. Und wenn er tatsächlich in dieser Situation sich eine Hand oder ein anderes Körperglied vorstellen könnte, würde er es nicht als Teil seiner selbst auffassen. „Ich weiß nämlich allein durch den Sinn, das Gehör und die Erfahrung, dass ich ein Hirn oder ein Herz habe, nicht aber weil ich erkenne, dass ich das bin“. Daher kann das Körperglied selbst nicht wesentlich das sein, was das Ich ist. Das Ich ist vielmehr das, was ich bezeichne in Ausdrücken wie: „Ich habe empfunden“, „ich habe erkannt“ oder „ich habe gemacht“. Diese Bestimmungen sind in einem verbunden, und das ist das Ich.15 Was Avicenna hier als philosophisches Problem anpackt, ist die Frage der Einheit des Selbstbewusstseins. Wenn nicht ein einheitliches „Band“ (vinculum) gedacht wird, in dem alle Kräfte des Körpers und der Seele miteinander verbunden sind, kann nicht verstanden werden, dass jeweils „ich“ es bin, der diese Kräfte ausübt. Dieses Eine aber, in dem die verschiedenen Vermögen zusammenlaufen, ist das, „durch das ein jeder erkennt, was sein Wesen ist“. Das ist das Ich des Menschen, von dem Avicenna sagt, dass es das Wache ist, welches „bemerkt“ und nicht bemerkt, die Aufmerksamkeit, die sich als das vom Körperlichen Verschiedene entdeckt. Das Ich ist die Erweckung der Aufmerksamkeit, die die Seele zu sich zurückführt.16 Es scheint, als führe in der Spätantike ein direkter Weg von der platonischen Wiedererinnerungslehre zur Selbstbewusstseinsthematik, die selbst als Vorbereitung der neuzeitlichen Selbstbewusstseinslehren anzusehen ist.
14 Zum Argument vom „f liegenden Menschen“ und seiner Rezeption im lateinischen Mittelalter vgl. Gilson 1929, 40f., und Verbeke 1968, 36*ff.; ferner Strohmaier 1999, 69f., Marmura 1986, 383–395, und Hasse 2000, 80–92. 15 Avicenna hat das Gedankenexperiment vom „f liegenden Menschen“ vor allem an zwei Stellen seiner Seelenschrift dargestellt: am Ende des 1. Kapitels des I. Buches und in V, 7. Zitat: Avicenna, Liber de anima, V, 7, ed. van Riet, 163,74ff. 16 Avicenna, Liber de anima, V, 7, ed. van Riet, 156,62: „sensus vero ‚evigilandi‘ est ipsam ad seipsam revocari“. Vgl. auch die Anm. von S. van Riet zu 61f.: „éveiller l’attention“; vgl. ebd., 166,9–167,10: „negligit […] animadvertit“. Liber de anima, I, 1, ed. van Riet, 37,65f.: „expergefactus habet viam evigilandi ad sciendum quod esse animae aliud est quam esse corporis.“
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Personenregister Ackrill, J. L. 65 Adry, J. 178 Äsop 26f., 98 Aischines 22, 99 Aischylos 168, 170 Alexander von Aphrodisias 184 Alkibiades 25 Alkmeion von Kroton 128 Allen, R. E. 11 Altmann, A. 177 Ambrosius 181 Ammonios Hermeiou 180 Anaxagoras 56, 129, 133f., 136, 139, 143, 168, 172 Annas, J. 80 Antisthenes 22, 99 Apollo 20, 26, 98 Apolloni, D. 81 Apostolopoulos, Ch. 180 Archelaos 128f., 133 Archer-Hind, R. D. 3 Archytas 162 Arietti, J. A. 2 Aristoteles 14, 23, 30, 38, 52, 72, 102, 104, 120, 129, 135, 139, 156, 175, 182, 184 Asklepios 6, 29 Attikos 175 Avicenna 185 Baltes, M. 23 Barnes, J. 51f., 59f. Bedu-Addu, J. T. 63 Bernabé, A. 5 Blackson, T. A. 12 Blößner, N. 21, 30f. Blondell, R. 30 Bluck, R. S. H. 2f., 12, 80, 98, 102, 153 Boccaccio, G. 176 Böhme, A. 5 Böhme, B. 177 Bostock, D. 3, 64, 66–68, 71, 78, 83, 92, 120f., 124, 138, 149, 151, 153, 156 Brague, R. 167 Bruni, L. 176f. Burge, E. L. 12 Burkert, W. 49 Burnet, J. 3, 56, 98, 102, 106, 114
Burnyeat, M. 184 Byrne, C. 12 Carlini, A. 15 Casadio, G. 49 Cassiodor 181 Castañeda, H. N. 68 Chrysolaos 176 Cicero 129, 162, 176 Clark, P. M. 6 Creswell, M. J. 12 Crooks, J. 6 Dalfen, J. 19, 23, 174 Damaskios 47, 49, 94, 175, 183f. Dancy, R. M. 91, 136f., 141 Dante Alighieri 173, 176 David von Armenien 181 David, J.-L. 22, 178 Davidson, D. 135 Demosthenes 176 Denniston, J. D. 114 Denyer, N. 153 Descartes, R. 33f., 181, 184 Diderot, D. 177–179 Diodor 112 Diogenes Laertios 21, 168 Diogenes von Apollonia 128 Dixsaut, M. 3, 143, 153, 155 Dönt, E. 174 Döring, K. 22 Dorter, K. 2f., 6, 11–13, 78, 83, 100, 104, 113f., 120, 122, 125, 137, 139, 153, 155, 166 Droz, G. 160 Dunlop, C. E. M. 11 Ebert, Th. 2f., 5f., 9–12, 20f., 24, 26, 29, 49–53, 56, 60, 76, 78, 82f., 87, 90, 95, 113f., 116, 118– 125, 128, 132, 136, 140f., 147, 153, 160, 162, 165f., 169 Eccles, J. 33f. Elias von Alexandria 181 Elton, M. 75 Empedokles 49, 107, 128, 153 Epicharmos 131 Epp, R. H. 5
P
Erler, M. 4, 8, 11, 19–25, 173 Eukleides von Megara 22, 99 Euklid 80 Evagrius Ponticus 181 Ferguson, J. 13 Festugière, A.-J. 4 Fine, G. 133 Franklin, L. 11 Frede, D. 3f., 6, 9f., 16, 22, 26, 51f., 56f., 60, 87, 90, 117, 153, 162, 166f., 169–171 Frege, G. 91 Gaiser, K. 28 Gallop, D. 3, 52f., 56, 64–68, 78, 82f., 87, 92, 98, 112, 114f., 118, 120–125 Gawlick, G. 177 Gerson, L. 12 Gerth, B. 114 Gilson, E. 185 Glaukos 156 Goethe, J. W. v. 149 Goodrich, W. J. 13 Gottschalk, H. B. 118f. Gower, O. S. L. 13 Graeser, A. 81 Greco, A. 51, 53, 57, 59f. Greene, W. C. 144 Gregor von Nyssa 180 Groag, E. 81 Guardini, R. 5 Hackforth, R. 3, 85, 98, 102, 115, 128, 153 Hamann, J. G. 177 Hankins, J. 176 Hardy, J. 11 Harmonia 108f. Hasse, D. N. 185 Hegel, G. W. F. 181f. Heitsch, E. 8f., 115–117 Henricus Aristippus 16, 176 Herakleides Pontikos 21 Herakles 112, 176 Heraklit 128 Herodot 49, 112 Hieronymus 181 Homer 36, 88, 104f., 123–125, 170, 176 Horn, Ch. 13
Innozenz VII. 176 Inwood, M. 165 Iolaos 112 Jamblich von Chalkis 175 Janka, M. 6 Jesus Christus 180 Johannes Stobaios 101 Johansen, T. 15, 135 Kadmos 108f. Kahn, Ch. 49 Kanayama, Y. 11, 13, 150, 153 Kant, I. 22, 177, 184 Karfík, F. 10, 55, 57, 59, 163, 165–168, 171 Kelsey, J. 11 Keyt, D. 85 Kloss, G. 6, 29 Kobusch, Th. 16, 177, 181f. Kroisos 21, 30 Kühner, R. 114 Künne, W. 85 Kutschera, F. v. 10 Lafond, Y. 112 Lafrance, Y. 11 Lamartine, A. de 180 Leibniz, G. W. 134, 177 Löhneysen, W. v. 178f. Long, H. S. 5 Loriaux, R. 3 Lukian 22 Macrobius 119 Madison, L. A. 6 Manuwald, B. 9, 117 Marmura, M. E. 185 Matthen, M. 68 Matthews, G. B. 12 Matthey, A. 2 Menander 144 Mendelssohn, M. 16, 22, 177 Menn, S. 13, 131 Mills, K. W. 80 Minio-Paluello, L. 16 Minos von Kreta 99 Minotaurus 99 Mitscherling, J. 6
P Morgan, M. L. 11 Mormolukeia 99 Most, G. 6 Mueller, I. 72 Müller, J. 5, 14f., 81 Murphy, N. R. 13 Nails, D. 101 Nehamas, A. 64f., 106 Niccoli, N. 176 Nietzsche, F. 6f. Nilsson, M. P. 49 Numenios von Apameia 175 Odysseus 123 Oeing-Hanhoff, L. 182 Olympiodor 47, 49, 76, 94, 175, 183 Osborne, C. 11, 63 O’Brien, D. 56, 59, 118 Parmenides 162f. Partenie, C. 6 Paulus (Apostel) 181 Pausanias 112 Pépin, J. 160, 169 Petrarca 176 Peyron, P. 178 Philipp II. von Makedonien 112 Philolaos von Kroton 118f., 162, 167 Philoponos 184 Pieske, E. 112 Pindar 49 Plotin 182f. Plutarch von Athen 184 Plutarch von Chaironeia 106 Popper, K. 33f., 138 Porphyrios 175 Preus, M. 13 Pritchard, P. 64f. Proklos 183f. Prufer, T. 2 Pseudo-Simplikios 184 Pythagoras 49, 101, 119 Riedweg, Ch. 49 Riet, S. van 185 Rose, L. E. 13, 175 Rousseau, J.-J. 179
Rowe, Ch. 3, 7, 11f., 88, 92, 102, 113–116, 118f., 121, 123–125, 153 Salutati, C. 176 Schäfer, Ch. 6, 13, 160, 163, 168f. Schleiermacher, F. D. E. 19 Scott, D. 11, 63f., 66, 70 Sedley, D. 2, 5, 12, 131, 167 Shakespeare, W. 22 Shipton, K. M. W. 13 Skemp, J. R. 103 Solon 21, 30 Sophokles 21, 30, 36 Spazier, K. 177 Sprague, R. K. 4, 12 Stemmer, P. 138 Stephanus von Alexandria 184 Stewart, J. A. 6 Stough, C. L. 12 Straton von Lampsakos 153 Strobel, B. 10, 42, 85, 90 Strohmaier, G. 185 Szlezák, Th. A. 4, 12, 23, 81 Tait, W. W. 13 Taylor, C. C. W. 119, 122–124 Telle, H. 12 Thales von Milet 103f. Theodoret 29 Theseus 99, 107 Thukydides 112 Trousson, R. 177, 179 Verbeke, G. 185 Verdenius, W. J. 3 Vinogradov, J. G. 49 Vlastos, G. 12, 64f., 130, 133 Wegelin, J. 177 Wells, C. 6 West, M. 49 Westerink, L. G. 16, 47, 49, 76, 94, 175, 183f. White, D. 100 White, N. 63 Wittgenstein, L. 135 Wolz, H. G. 2 Xanthippe
1, 26
P
Xenophanes von Kolophon Xenophon 20, 23 Yonezawa, S.
12
49
Zander, H. 5 Zehnpfennig, B.
6f., 11, 16
Sachregister Ähnlichkeit, Ähnliches (homoion) 12, 40, 43, 80, 85, 88, 97 – Argument aus der Ähnlichkeit (Affinität) 4, 11, 14, 60, 75–95, 100, 116, 118f., 155, 175 – Unähnliches (anomoion) 64f. Agnostizismus, agnostisch 3f., 115 Anamnesis, s. auch Wiedererinnerung 11, 63, 111, 119f., 182 Antagonismus 123f. Apolloheiligtum 20 Apologie („zweite“) 4f., 7, 47f., 61, 84, 89, 91 Asebie 6, 27 Aufklärung 16, 177–180 auf lösbar / unauf lösbar 60, 76–82, 86, 94f. Autobiografie (des Sokrates) 13, 127–129, 138, 162, 176 Begierde (epithymia) 37, 39, 81f., 104, 109, 129 Beschwörung, Bezauberung 98f., 103, 172 Beweis (apodeixis) 8–12, 49f., 58, 60, 73, 116f., 147, 155–157, 177 Cambridge change-Lesart 85 Christentum, christlich 16, 34f., 134f., 176–181, 183 Dämonen (daimones) 161 Demiurg 13, 77, 134–136 deuteros plous (zweite Fahrt) 13, 41, 99, 137–139, 144, 151, 156 Dichtung 26f., 173 Diesseits 7, 11, 161, 169, 173 Dualismus 102f. – anthropologischer (Leib – Seele) 4f., 15, 33–37, 41–45 – metaphysischer (Zwei-Welten-Lehre) 5, 12, 39–45 Eigenschaften 72, 87, 91 – akzidentelle 51, 58, 85 – essentielle (wesentliche) 11, 51, 85, 141f., 147– 156 – gegensätzliche 51–53, 56–59, 68, 87, 145–147 – immanente 149 – natürliche 131
– relative (komparative) 52, 85, 129–131, 145 Elenchos 1, 138 Emotionen, Affekte 5, 24–27, 39, 81, 105, 123, 181 Epiphänomenalismus 101f., 109, 118 Eponymie 51, 105, 147 Erde – Kugelgestalt 163 – obere (wahre) 164f., 167–169, 171 – untere, s. auch Hades 165–169, 171 Ethos, s. auch Lebensführung 1–7 ewig (aidion) 95, 152, 154 Fehlschluss 9, 11, 15f., 56, 60, 120, 147, 153, 155 Form, literarische 11, 19f. Gegensätze (enantia), Argument aus den Gegensätzen 9, 26f., 47, 50–59, 61, 147, 154, 175 Gleiches (ison) / Ungleiches 12, 66–73, 80, 84, 89f., 133 Glück (eudaimonia), glücklich 7, 20f., 23f., 30, 164, 169 Gott, Göttliches (theion) 43, 92f., 95, 97, 100, 115, 118, 123, 125, 152, 154, 164, 167, 170 Grund, Gründe (für Handlungen), s. auch Ursache 13, 135–137 gut, das Gute (agathon) 13, 39f., 52, 85, 137, 141, 145, 161, 170 Hades 47–50, 53–56, 58, 88, 105, 153 harmonia, s. auch Seele als Stimmung 8, 100, 108f., 111, 116, 118–125, 127 Herrschen (archein) / Beherrschtwerden 92, 97, 123 Höhlengleichnis 139 Hoffnung (elpis) 1, 34f., 37f., 168f., 171 Humanismus 16, 176f. Hypothese, hypothesis-Methode 12f., 28, 48f., 56f., 99, 115, 117, 128, 137f., 140f., 144f., 150, 154f. Idee(n) 75, 79, 84–93, 97, 100, 116 – Ideenerkenntnis 39f., 65–71, 91 – Ideenlehre 12f., 15, 22, 28, 41, 63, 115, 119, 125, 128, 131f., 137–142, 144, 182 – immanente Ideen 44f., 148
S
Jenseitsgericht 161, 170f. Jenseitsmythos 7, 159–174 Katharsis (Reinigung) 4–6, 24–26, 28, 47, 171 Kausalität, s. auch Ursache 104, 109 – M-, E-, F-, T-Kausalität 13, 133–137, 139 Kind in uns 4, 10, 23, 77, 98, 105, 172 Kosmologie 57, 134, 162f., 167f., 171f. Kosmoskopie 162f., 167f., 170, 173 Kreislauf-Argument, s. auch Ähnlichkeit, Argument aus der Ähnlichkeit 8–10, 38, 47, 56f., 168 Leben (to zên, zôê) 6, 54f., 142, 147, 151–155, 172 – / Tod 58–61 lebend / gestorben 47, 49, 54–60, 95, 153–156 Lebensführung 5–7, 14, 172f., 180–182 Liniengleichnis 168 Logos, Logoi, s. auch Misologie 1–3, 6, 8–16, 27, 48, 61, 111, 115f., 139, 144, 155f. – / Mythos 5f. – antilogikoi logoi 114 – logon didonai 1 – Sokratikoi logoi 22 Lust 24–27, 37f. Materialismus 13, 101, 106f. Mathematik 67, 70, 148 Mensch, menschlich 64, 72f., 98, 104, 113, 115, 164f., 184f. – f liegender Mensch 185 Metaphysik, s. auch Dualismus, metaphysischer 15, 35, 41, 127 Misanthropie 112f. Misologie 6, 9, 27, 111–113, 116f., 125 Mysterien 36 Mythos 5f., 27, 36, 38, 159–174 Naturerklärung – physiologisch 13, 128–130, 136–138, 143, 162f., 167f., 171 – teleologisch 13, 15, 109, 128, 133–137, 139, 143, 167 Ontologie, ontologisch, s. auch Metaphysik u. Dualismus, metaphysischer 14f., 33, 42, 44, 75, 83, 97, 100f., 103, 107 Orphik 21, 49, 115
Patristik 176f., 179f. Philosoph, Philosophie 1, 4f., 7, 11, 23f., 27, 39, 44, 61, 73, 98f., 115, 169–171, 173, 180–182 – Protophilosoph 28–31 Prinzip – der bestmöglichen Natureinrichtung 134, 139 – der Gegensätze (Entstehung aus dem Gegenteil) 50–52, 54f., 57, 61, 147, 154 – der Reziprozität (Symmetrie) 9, 52–57, 61 – der Übertragungskausalität 91 Protreptik, protreptisch 4, 28 Psychologie, psychologisch, s. auch Seele 14f., 135, 156 Psychozentrismus 167 Pythagoreismus 5, 10, 20f., 23, 31, 36, 49, 101f., 107, 118, 127, 162, 167, 175
Rahmengespräch 3, 19–21, 28f. Religion 5f., 16, 20f., 34f., 104f., 107, 170
Schiff des Theseus 106f. schlecht, Schlechtigkeit 121–123, 161, 170 Schmerz (lypê) 5, 24–27, 180 schön, das Schöne (kalon) 12, 39f., 50f., 71f., 85, 95, 118, 137, 139f., 145, 164, 171–174 Seele (psychê) – als Bewegungsprinzip 14, 103–105, 108 – als individuelles (geistiges) Selbst 10–12, 14, 37–39, 63, 73, 103f., 107, 155, 165, 170 – als Lebensprinzip 11, 13, 35, 37, 108, 122, 147, 155, 170 – als Mischung (krasis) 82, 118, 121–124 – als Mittleres (metaxy) 4f., 14, 45, 87 – als Stimmung (harmonia) 8, 28, 95, 100–103, 106–109, 111, 118–122, 176 – als Substanz 105, 118, 125, 155f., 176 – als Zahl 119 – Dreiteilung der Seele 14f., 39, 81f., 104, 109, 123 – eingestaltig (monoeidês) / mehrgestaltig (polyeidês) 14f., 43f., 82, 122 – Idee der Seele 155 – Präexistenz der Seele 10, 73, 116, 125, 144 – Seele / Körper 14f., 33f., 55, 60f., 75, 81, 88–94, 100f., 103–109, 117f., 122f., 165, 180f. – Sorge um die Seele (epimeleia tês psychês) 4, 6, 14, 73, 160 – Weltseele 82, 104–106
S
Seelenwanderung, Metempsychose 5, 21, 36, 49f., 61, 118f., 170, 172 Selbstbewusstsein 103, 182–184 Selbstmord(verbot) 7, 101, 175, 181 sichtbar (horatos) / unsichtbar 42, 79, 86–89, 94, 100, 103, 105, 118 Sinne, Sinneswahrnehmung (aisthêsis) 12, 40, 64–73, 89–91, 184 Skepsis, skeptisch 1, 6, 10, 23f., 115, 154f. Sophistik 9, 114, 180 sterblich, Sterbliches (thnêton) 91f., 100, 152f. Stoa 182f. Substrat 51, 55, 58f., 118, 120
– = unzerstörbar (anôlethros) 13, 43, 58–60, 97, 152–154, 156f. Unverträglichkeit 150–152 Ursache (aition, aitia), s. auch Kausalität 127–138, 140f., 143–145, 150f., 155
technê (Kunstfertigkeit) 112–114, 116 Teilhabe(n), Partizipation (metechein) 12, 79, 83– 87, 131f., 139–141, 145–149, 155 Tod (thanatos), s. auch Leben / Tod 34–37, 115 – als Trennung von Körper und Seele 4, 10, 35– 37, 47, 49, 54f., 58f., 61, 102, 117, 156f., 164f., 180f. – als Untergang 4, 10, 48, 55f., 58–60, 77, 94f., 118, 143, 151f., 156f. – Furcht vor dem Tod 1, 4, 6, 10, 21, 48, 60, 77, 98f., 180 – meditatio mortis 175, 180–182 – physischer / willentlicher (mystischer) 181f. Tugend (aretê) 24, 104, 121–123, 181, 183
wahrscheinlich (eikos) 8, 83, 162f., 165 Weber-Gleichnis 10, 106–109, 127 Weltorganismus 166 Werden (genesis), Werdeprozesse 13, 47, 50–57, 61, 128–134, 143 Wiedererinnerung (anamnêsis), Argument aus der Wiedererinnerung 8, 10, 12, 60, 63–74, 84, 97, 116, 119f., 124f., 133, 144, 157, 168, 175, 182–185 – Lernen als Wiedererinnerung 11f., 63 – Wiedererinnerung / Gedächtnis (mnêmê) 182f. Wiedergeburt, Reinkarnation 36, 38, 48–50, 54f., 57, 60, 97, 107, 143, 154 Wissen (epistêmê) 12, 64–73, 182 – Haben / Gebrauchen von Wissen 69
Überredung (peithô) 98 Universal 71f. unsterblich – = todlos (athanatos) 58f., 151–154, 172
veränderlich / unveränderlich 51, 58, 82–85, 88– 91, 106f., 130f., 155 Vernunft (nous, phronêsis), Vernunftseele (logistikon) 13, 15, 38–40, 47, 81f., 92f., 104, 106, 108f., 123, 133–138, 143, 167, 172 Vorsokratiker 13, 128–130, 136–138, 143, 162f., 166–168, 171
Zahlen 58, 148–151 zusammengesetzt (synthetos) / unzusammengesetzt 14, 43, 78–83, 119f. Zwei-Welten-Lehre, s. auch Dualismus, metaphysischer 169
Hinweise zu den Autoren
Michael Bordt SJ, Präsident der Hochschule für Philosophie (München) und Philosophieprofessor mit den Schwerpunkten Antike Philosophie, Anthropologie und Ästhetik. Veröffentlichungen: Platons Lysis. Übersetzung und Kommentar (1998), Platon (1999), Aristoteles’ Metaphysik XII. Übersetzung und Kommentar (2006), Platons Theologie (2006). Weitere Aufsätze zur antiken Philosophie. Kenneth Dorter, Professor of Philosophy at the University of Guelph. Most important publications: Plato’s ‘Phaedo’: An Interpretation (1982), Form and Good in Plato’s Eleatic Dialogues: the ‘Parmenides’, ‘Theaetetus’, ‘Sophist’, and ‘Statesman’ (1992), The Transformation of Plato’s ‘Republic’ (2006). Many articles on ancient philosophy, esp. Plato. Michael Erler, Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Griechisch) an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen (in Auswahl): Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons (1987), Epikur – Die Schule Epikurs – Lukrez, in: Die Philosophie der Antike, Band 4/1 (1994), Römische Philosophie, in: Einleitung in die lateinische Philologie. hg. v. F. Graf (1997), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens (2002, co-ed.), Platon (2006, Beck’sche Reihe: Denker), Kleines Werklexikon Platon (2007), Die Philosophie der Antike, Band 2/2: Platon (2007). Aufsätze und Sammelbände zu Proklos, Platon, Epikur, Epikureismus, zur hellenistischen Dichtung und zur griechischen Literatur der Kaiserzeit. Dorothea Frede, 1991–2006 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg; seit 2006 Adjunct Professor, University of California Berkeley. Wichtigste Veröffentlichungen: Aristoteles und die Seeschlacht (1970), Platon: Philebos. Übersetzung und Kommentar (1997), Platons ‚Phaidon‘. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele (1999), Heideggers Tragödie (1999). Zahlreiche Aufsätze und Buchbeiträge zu Platon, Aristoteles, der hellenistischen Philosophie und zur Philosophie Martin Heideggers. Lloyd P. Gerson, Professor of Philosophy at the University of Toronto. Most important publications: God and Greek Philosophy. Studies in the Early History of Natural Theology (1990), Plotinus (1994), Knowing Persons. A Study in Plato (2004), Aristotle and Other Platonists (2005), Ancient Epistemology (2009), The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, 2 vol. (2010, ed.). Many editions and articles on ancient philosophy.
H A
Christoph Horn, Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Veröffentlichungen (in Auswahl): Plotin über Sein, Zahl und Einheit (1995), Augustinus (1995, Beck’sche Reihe: Denker), Antike Lebenskunst (1998), Augustinus, De civitate dei (1997, ed.), Wörterbuch der antiken Philosophie (2002, co-ed.), Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart (2002, co-ed.), Politische Philosophie (2003), Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen ‚Politik‘ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (2008, co-ed.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2009, coed.). Weitere Herausgaben und Artikel zur Philosophie der Antike und zur Praktischen Philosophie der Gegenwart. Filip Karfík, Professor für antike Philosophie an der Universität Fribourg. Veröffentlichungen: Plotins Metaphysik der Freiheit (2002, auf Tschechisch), Die Beseelung des Kosmos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons ‚Phaidon‘ und ‚Timaios‘ (2004). Mitherausgeber der Proceedings of the Symposium Platonicum Pragense: The ‚Republic‘ and the ‚Laws‘ of Plato (1998), Plato’s ‚Phaedo‘ (2001), Plato’s ‚Protagoras‘ (2003), Plato’s ‚Theaetetus‘ (2008), Plato’s ‚Sophist‘ (in Vorbereitung). Aufsätze zu Platon und zur antiken Philosophie. Theo Kobusch, Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Wichtigste Veröffentlichungen (in Auswahl): Studien zur Philosophie des Hierokles von Alexandrien. Untersuchungen zum christlichen Neuplatonismus (1976), Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache (1987), Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild (1993, 2 1997), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen (1996, co-ed.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte (1997, co-ed.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens (2002, co-ed.), Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2007). Zahlreiche Aufsätze zu allen Epochen der Philosophiegeschichte. Bernd Manuwald, Professor a. D. für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Universität zu Köln. Wichtigste Veröffentlichungen: Das Buch H der aristotelischen ‚Physik‘. Eine Untersuchung zur Einheit und Echtheit (1971), Der Aufbau der lukrezischen Kulturentstehungslehre (De rerum natura 5, 925–1457) (1980), Studien zum Unbewegten Beweger in der Naturphilosophie des Aristoteles (1989), Platon, Protagoras. Übersetzung und Kommentar (1999, Studienausgabe 2006). Aufsätze zu Platon und zur antiken Philosophie. Jörn Müller, Privatdozent, Akademischer Rat am Institut für Philosophie der Universität Würzburg. Veröffentlichungen (in Auswahl): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik (2006), Antike Philosophie verstehen / Understanding Ancient Philosophy (2006, co-ed.), Platon-Handbuch. Leben – Werk
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– Wirkung (2009, co-ed.), Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus (2009), Wille und Handlung in der Philosophie der Kaiserzeit und Spätantike (2010, co-ed.). Aufsätze zur Philosophie der Antike, bes. Platon, Aristoteles und Augustinus, zur mittelalterlichen und zur Praktischen Philosophie. Christian Schäfer, Professor für Philosophie an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen (in Auswahl): Xenophanes von Kolophon (1996), ‚Unde malum‘. Die Frage nach dem Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius (2002), The Philosophy of Dionysius the Areopagite (2006), Platon-Lexikon. Begriffswörterbuch zu Platon und der platonischen Tradition (2007, ed.), Kaiser Julian ‚Apostata‘ und die philosophische Reaktion gegen das Christentum (2008, ed.). Zahlreiche Artikel zur Philosophie der Antike und des Mittelalters. Benedikt Strobel, Juniorprofessor für Philosophie der Antike an der Universität Trier. Veröffentlichungen: „Dieses“ und „So etwas“. Zur ontologischen Klassifikation platonischer Formen (2007). Verschiedene Aufsätze zu Platon, Aristoteles sowie zur Philosophie der Kaiserzeit und Spätantike (insbes. Proklos).