Philosophieren in einer globalisierten Welt: Wege zu einer transformativen Phänomenologie 9783495813607, 9783495489079


122 89 3MB

German Pages [489] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Inhalt
Einleitung
I. Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus
1. Asien und das antike Griechenland
2. Plotin und Indien
3. Buddhismus und das antike Griechenland: Das Milindapanha und die ersten Bildnisse Buddhas
4. Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken
5. Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom
6. Griechisches Denken in arabischer Sprache
7. Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien im europäischen Mittelalter
8. Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte
9. Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert
10. Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert
II. Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert
1. Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert. Die Weltkongresse für Philosophie 1900–2018
2. »Comparative Philosophy« – methodische Reaktionen auf globale Verflechtungen
2.1. Zur hermeneutischen Situation »komparativer Philosophie«
2.1.1. Die Frage nach dem Philosophiebegriff in europäischen und außereuropäischen Kontexten
2.1.2. Sprache und Sprachen
2.1.3. Zwischen den Wirkungsgeschichten
2.2. Begriffe des Vergleichs in der europäischen Philosophie
2.3. Komparative Philosophie als »techne maieutike« im globalen Kontext des Denkens
3. »Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«: Zur Methodischen Transformation der Wissensordnungen im 20. Jahrhundert
3.1. Bausteine für eine Diskursanalyse interkultureller, multikultureller und transkultureller Diskurse
3.1.1. Die Entstehung »interkultureller« Diskurse bis 1980
3.1.2. Die Entstehung »multikultureller« Diskurse bis 1980
3.1.3. Die Entstehung »transkultureller« Diskurse bis 1980
3.2. »Interkulturalität« als Methodenbegriff in verschiedenen Wissenschaften
3.2.1. Medizin interkulturell
3.2.2. Recht interkulturell
3.2.3. Geschichtswissenschaft interkulturell
3.2.4. Ästhetik interkulturell
3.2.5. Philosophie interkulturell
4. Von den »Kulturen« zu den »Modernen« – Ein Beschreibungsparadigma für globale Differenzierung und Verflechtung
4.1. »Kultur« und »Kulturen«
4.2. »Modernity« und »Modernities«
4.3. »Vielfalt der Modernen« – Ein heuristischer Versuch
4.3.1. Globalisierung und Modernen im Horizont der europäischen Expansion
4.3.2. Japanische Moderne
4.3.3. Chinesische Moderne
4.3.4. Südamerikanische Modernen
4.3.5. Afrikanische Modernen
4.3.6. Islamische Modernen
4.3.7. Europa: Vielheit der Modernen und eine Moderne unter anderen
4.3.8. Wechselseitige Kritik in einer Vielfalt von Modernen
4.3.9. Philosophieren in verschiedenen Modernen
III. Philosophieren zwischen Asien und Europa
A. Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten
1. Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik
1.1. Musik und Tugend bei den alten Griechen
1.2. Tugend und Musik im antiken China
1.3. Resonanz im Buddhismus
1.4. Resonanz bei Nishida
1.5. In-Resonanz-Stehen und Antworten – europäische Perspektiven
2. »Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins
2.1. Ausgewählte Bedeutungen des Personenbegriffs in Europa
2.2. »Nicht-Ich« (anātman) im Buddhismus
2.3. »Zwischensein« in japanischen Diskursen des 20. Jahrhunderts
2.4. Der Gebrauch der Personalpronomen in der japanischen Sprache
3. »Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen
3.1. Lachenmann und Nishida
3.2. »Polyphonie« bei Nietzsche
3.3. Identität und Pluralitätserfahrung im 20. Jahrhundert
3.4. »Ich« als Einheit in Vielheit im Zhuangzi
B. »Mediale« Handlungsformen
1. Handeln jenseits von Aktiv und Passiv – Kreativität und das Phänomen des »Nichts«
1.1. Das Auftauchen des »Nichts« in kreativen Prozessen
1.2. Vergessen und Absichtslosigkeit als Phänomene des »Nichts«
1.3. Ein Beispiel aus Europa: Sextus Empiricus
1.4. Absichtslosigkeit im Huainanzi
1.5. Vergessen und Absichtslosigkeit als Gelingensbedingung für Kreativität
2. »Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«. Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme
2.1. Zwei Richtungen der Selbstzurücknahme
2.2. Selbstzurücknahme bei Dōgen
2.3. Subjektlosigkeit, Leere, Medium – Der Akt des Schreibens bei Kenkō Yoshida (1283–1350)
2.4. Selbstzurücknahme in den Zen-Künsten
3. »Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida
3.1. Ein europäischer Weg zur Philosophie Nishidas
3.2. »Reine Erfahrung« bei Nishida
3.3. Handelnde Anschauung
3.4. Denken als »handelnde Anschauung« und die grammatische Form des Mediums
C. Transformative Phänomenologie und das Philosophieren in einer globalisierten Welt
1. Die Wendung »Philosophie als Therapie«
2. Die Wendung »transformative Philosophie«
3. Phänomenologie und Transformation
4. Die Wendung »transformative Phänomenologie«
5. Grundlinien einer transformativen Phänomenologie
5.1. Phänomenologische Beschreibung und die Vielfalt der Sprachen
5.2. Phänomenologische Arbeit im Kontext der Interdisziplinarität
5.3. Phänomenologische Beschreibung und ästhetische Praxis
5.4. Körperliche Übungspraxis und transformative »Phänopraxie«
5.5. Phänomenologische Erfahrungserweiterung durch Psychoanalyse bzw. Psychotherapie
5.6. Transformative Phänomenologie und Alltäglichkeit
5.7. Transformative Phänomenologie als Weg der Übung und Arbeit am Tabu
Textnachweise
Bibliographie
Recommend Papers

Philosophieren in einer globalisierten Welt: Wege zu einer transformativen Phänomenologie
 9783495813607, 9783495489079

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Rolf Elberfeld

Philosophieren in einer globalisierten Welt Wege zu einer transformativen Phänomenologie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813607

.

B

Rolf Elberfeld Philosophieren in einer globalisierten Welt

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Rolf Elberfeld

Philosophieren in einer globalisierten Welt Wege zu einer transformativen Phänomenologie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Rolf Elberfeld Philosophising in a globalised world Paths to a transformative phenomenology The comprehensive global interconnection does not only determine our view of the present world today, but the experience of interconnection has also been changing our understanding of history over the past 30 years or more: via research interests that move away from the idea of simple national historical narrative and take interconnectedness and interwovenness centre stage. Philosophising has long reacted to this process. This book wants to open up a perspective on history in its interconnectedness onto different ways of philosophising. It reflects the methodological reactions to globalisation processes in philosophy and humanities in the 20th century. Finally, it demonstrates systematic perspectives on how philosophising can be evolved in a globalised world.

The author: Rolf Elberfeld, born in 1964, studied philosophy, japanology, sinology and history of religion, later went on to do his PhD under the supervision of Heinrich Rombach in Würzburg in 1995, where he qualified as a professor in 2001. He has been Professor of Cultural Philosophy in Hildesheim since 2008. Author of the standard reference Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung (2012, 32014) (English: Language and Languages. A basic philosophical orientation (3rd edition, 2017)).

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Rolf Elberfeld Philosophieren in einer globalisierten Welt Wege zu einer transformativen Phänomenologie Die allumfassende globale Vernetzung bestimmt heute nicht nur unser Bild von der gegenwärtigen Welt, die Erfahrung dieser Vernetzung verändert seit gut 30 Jahren zunehmend auch unsere Auffassung von der Geschichte: durch Forschungsinteressen, die sich von einfachen nationalen Geschichtsschreibungen verabschieden und Vernetzung und Verflechtung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen. Auch das Philosophieren hat längst auf diesen Prozess reagiert. Das Buch will eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive auf verschiedene Weisen des Philosophierens eröffnen. Es reflektiert die methodischen Reaktionen auf die Globalisierungsprozesse in der Philosophie und den Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Schließlich zeigt es systematische Perspektiven auf, wie Philosophieren in einer globalisierten Welt heute entfaltet werden kann.

Der Autor: Rolf Elberfeld, Jahrgang 1964, hat nach dem Studium der Philosophie, Japanologie, Sinologie und Religionsgeschichte 1995 in Würzburg bei Heinrich Rombach promoviert und sich 2001 in Wuppertal habilitiert. Seit 2008 ist er Professor für Kulturphilosophie in Hildesheim. Er ist Autor des Standardwerkes Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung (2012, 32014).

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Vincent van Gogh, Mandelblüte, Öl auf Leinwand, 1890 (Ausschnitt) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48907-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81360-7

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt. Johann Wolfgang Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Asien und das antike Griechenland . . . . . . . . . . 2. Plotin und Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Buddhismus und das antike Griechenland: Das Milindapanha und die ersten Bildnisse Buddhas . . 4. Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom . . . 6. Griechisches Denkens in arabischer Sprache . . . . . . 7. Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien im europäischen Mittelalter . . . . . . . 8. Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I.

II. 1. 2.

. . .

21 28 37

.

47

. . .

59 67 76

.

85

.

95

. 110 . 119

Globalisierung philosophischer Persepktiven im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Wege des Denkens im 20. Jahrhundert. Die Weltkongresse für Philosophie 1900–2018 . . . . . . »Comparative Philosophy« – methodische Reaktionen auf globale Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Zur hermeneutischen Situation »komparativer Philosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Die Frage nach dem Philosophiebegriff in europäischen und außereuropäischen Kontexten .

128 131 150 155 155 9

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Inhalt

3.

4.

2.1.2. Sprache und Sprachen . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Zwischen den Wirkungsgeschichten . . . . . 2.2. Begriffe des Vergleichs in der europäischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Komparative Philosophie als »techne maieutike« im globalen Kontext des Denkens . . . . . . . . . . . »Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«: Zur methodischen Transformation der Wissensordnungen im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Bausteine für eine Diskursanalyse interkultureller, multikultureller und transkultureller Diskurse . . . 3.1.1. Die Entstehung »interkultureller« Diskurse bis 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die Entstehung »multikultureller« Diskurse bis 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Die Entstehung »transkultureller« Diskurse bis 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. »Interkulturalität« als Methodenbegriff in verschiedenen Wissenschaften . . . . . . . . . . . 3.2.1. Medizin interkulturell . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Recht interkulturell . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Geschichtswissenschaft interkulturell . . . . 3.2.4. Ästhetik interkulturell . . . . . . . . . . . . 3.2.5. Philosophie interkulturell . . . . . . . . . . Von den »Kulturen« zu den »Modernen« – Ein Beschreibungsparadigma für globale Differenzierung und Verflechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. »Kultur« und »Kulturen« . . . . . . . . . . . . . . 4.2. »Modernity« und »Modernities« . . . . . . . . . . 4.3. »Vielfalt der Modernen« – Ein heuristischer Versuch 4.3.1. Globalisierung und Modernen im Horizont der europäischen Expansion . . . . . . . . . . . 4.3.2. Japanische Moderne . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Chinesische Moderne . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Südamerikanische Modernen . . . . . . . . . 4.3.5. Afrikanische Modernen . . . . . . . . . . . 4.3.6. Islamische Modernen . . . . . . . . . . . . . 4.3.7. Europa: Vielheit der Modernen und eine Moderne unter anderen . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

164 167 170 179

182 187 187 195 199 205 209 211 214 216 218

220 222 224 233 235 239 243 246 248 252 256

Inhalt

4.3.8. Wechselseitige Kritik in einer Vielfalt von Modernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.9. Philosophieren in verschiedenen Modernen .

259 271

III.

Philosophieren zwischen Asien und Europa . . . . . . . .

273

A. 1.

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten . Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik . . . . . 1.1. Musik und Tugend bei den alten Griechen . . . . 1.2. Tugend und Musik im antiken China . . . . . . . 1.3. Resonanz im Buddhismus . . . . . . . . . . . . 1.4. Resonanz bei Nishida . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. In-Resonanz-Stehen und Antworten – europäische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . »Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins . . . . . . . 2.1. Ausgewählte Bedeutungen des Personenbegriffs in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. »Nicht-Ich« (anātman) im Buddhismus . . . . . . 2.3. »Zwischensein« in japanischen Diskursen des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Der Gebrauch der Personalpronomen in der japanischen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . »Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Lachenmann und Nishida . . . . . . . . . . . . . 3.2. »Polyphonie« bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . 3.3. Identität und Pluralitätserfahrung im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. »Ich« als Einheit in Vielheit im Zhuangzi . . . . .

274 275 275 276 282 284

2.

3.

B. 1.

. . . . . .

. 287 . 294 . 295 . 298 . 300 . 306 . 309 . 310 . 314 . 317 . 322

»Mediale« Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . Handeln jenseits von Aktiv und Passiv – Kreativität und das Phänomen des »Nichts« . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Auftauchen des »Nichts« in kreativen Prozessen 1.2. Vergessen und Absichtslosigkeit als Phänomene des »Nichts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Ein Beispiel aus Europa: Sextus Empiricus . . . . . 1.4. Absichtslosigkeit im Huainanzi . . . . . . . . . . .

328 329 332 335 337 339

11 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Inhalt

2.

3.

C. 1. 2. 3. 4. 5.

1.5. Vergessen und Absichtslosigkeit als Gelingensbedingung für Kreativität . . . . . . . . . . . »Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen.« Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Zwei Richtungen der Selbstzurücknahme . . . 2.2. Selbstzurücknahme bei Dōgen . . . . . . . . 2.3. Subjektlosigkeit, Leere, Medium – Der Akt des Schreibens bei Kenkō Yoshida (1283–1350) . . 2.4. Selbstzurücknahme in den Zen-Künsten . . . »Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida . . . 3.1. Ein europäischer Weg zur Philosophie Nishidas 3.2. »Reine Erfahrung« bei Nishida . . . . . . . . 3.3. Handelnde Anschauung . . . . . . . . . . . 3.4. Denken als »handelnde Anschauung« und die grammatische Form des Mediums . . . . . .

. . . 341 . . . 342 . . . 344 . . . 346 . . . 354 . . . 361 . . . 366 . . 368 . . . 376 . . . 380 . . . 385

Transformative Phänomenologie und das Philosophieren in einer globalisierten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wendung »Philosophie als Therapie« . . . . . . . . Die Wendung »transformative Philosophie« . . . . . . . Phänomenologie und Transformation . . . . . . . . . . Die Wendung »transformative Phänomenologie« . . . . Grundlinien einer transformativen Phänomenologie . . . 5.1. Phänomenologische Beschreibung und die Vielfalt der Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Phänomenologische Arbeit im Kontext der Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Phänomenologische Beschreibung und ästhetische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Körperliche Übungspraxis und transformative »Phänopraxie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Phänomenologische Erfahrungserweiterung durch Psychoanalyse bzw. Psychotherapie . . . . . . . . . 5.6. Transformative Phänomenologie und Alltäglichkeit . 5.7. Transformative Phänomenologie als Weg der Übung und Arbeit am Tabu . . . . . . . . . . . . . . . .

Textnachweise Bibliographie

391 395 399 411 419 423 427 429 432 434 440 443 446

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

12 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

Im Jahr 1998 nahm ich erstmals in Boston (USA) an einem Weltkongress für Philosophie teil. In meiner kleinen Sektion, in die ich eingeordnet worden war, sprachen neben mir ein Professor von den Philippinen, einer aus Sibirien und ein Kollege aus Indien. Die Sektion wurde geleitet von einer indischen Philosophin, die ihre Aufgabe ganz selbstverständlich in englischer Sprache durchführte. Ich selbst hatte einen deutschsprachigen Text eingereicht, da auch Deutsch zu den offiziellen Kongresssprachen zählte. Als mir kurz vor dem Vortrag bewusst wurde, dass vielleicht nur wenige Deutsch verstehen würden, fragte ich das Publikum in englischer Sprache, wer Deutsch verstehe. Von den ungefähr 25 Anwesenden zeigte nur eine Japanerin auf, die, wie ich wusste, in Deutschland Philosophie studiert hatte. Ich stellte dann kurzfristig auf Englisch um, so dass dann die meisten meinem Vortrag folgen konnten. Nicht nur diese Situation hat mich damals in Boston angeregt, neu über die globale Lage der Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts nachzudenken. Mir wurde im Verlauf des Kongresses immer deutlicher, das keine andere philosophische Zusammenkunft die globale Situation des Philosophierens in ähnlicher Weise spiegelt, wie es die Weltkongresse tun. Ein fast unüberschaubares Feld verschiedener Themen und Menschen aus allen Teilen der Welt versammeln sich dort, um gemeinsam unter dem Dach der Philosophie nachzudenken – auch über die Situation der Philosophie in einer globalisierten Welt. Während des Weltkongresses wurde mir zudem klar, dass sich die Situation der Philosophie bereits Ende des 20. Jahrhunderts in hohem Maße globalisiert und vernetzt hatte und sich dies im 21. Jahrhundert weiter fortsetzen würde. 20 Jahre nach meinen Erfahrungen in Boston bin ich der Überzeugung, dass sich im 21. Jahrhundert eine grundsätzliche Wende für das gesamte Gebiet der Philosophie vollziehen wird, die vor allem darin besteht, dass die verschiedenen Traditionen des Denkens beispielsweise in Indien, China, Südamerika, Afrika, Europa, Japan, der islamischen und buddhistischen Welt sich 13 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

weiterhin weder einseitig noch gegenseitig marginalisieren können und dürfen. Im 21. Jahrhundert wird ein ganz neues Bild von der Geschichte der Philosophie entstehen, das vielstrahlig und durch Verflechtungen geprägt ist und das alle Tendenzen zur Monolithisierung hinter sich lassen wird. Die in allen Bereichen des Lebens zunehmende globale Verflechtung bestimmt heute aber nicht nur unser Bild von der gegenwärtigen und zukünftigen Welt, die Erfahrung dieser Verflechtung und Vernetzung verändert seit gut 30 Jahren zunehmend auch das Bild von unserer Geschichte durch Forschungsinteressen, die sich von einfachen nationalen Geschichtsschreibungen verabschieden und Verflechtung und Vernetzung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen. Das vernetzte und globalisierte Bild unserer Gegenwart wird somit zunehmend auch zur Folie für die Betrachtung der älteren Geschichte. Dabei werden laufend alte Einteilungen und Grenzziehungen durchbrochen zugunsten einer globalen Verflechtungsgeschichte, die bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreicht. Ähnliches war zu beobachten, als in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Plural Kulturen vor allem in der deutschen Sprache in Umlauf kam und zunehmend die Wahrnehmung der damaligen Gegenwart bestimmte. Mit diesem Plural veränderte sich aber auch unser Bild von der Geschichte grundlegend, so dass es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts selbstverständlich war, von den »Kulturen des Altertums« zu sprechen wie beispielsweise der ägyptischen Kultur, der griechischen Kultur, der römischen Kultur usw. Durch Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes wurde diese Rede so weit verfestigt und auf die gesamte Weltgeschichte ausgeweitet, dass sie bis in die 1980er Jahre unser Bild von den verschiedenen geschichtlichen Kulturen prägte. Dabei stellte sich Spengler »Kulturen« als abgeschlossene, organische Ganzheiten vor. Ausgehend von diesen Vorstellungen hielten sich geschichtliche Forschungen weitgehend an die scharf gezogenen kulturellen und nationalen Grenzen. Mit der Entwicklung und allgemeinen Verbreitung des Internets seit den 1990er Jahren wachsen die verschiedenen Lebenswelten zumindest in virtueller Hinsicht durch die Möglichkeit schneller digitaler Kommunikation immer stärker zusammen. Noch um 1990 war es nicht leicht, in Japan fortlaufend und aktuell die Tagesereignisse in Europa zu verfolgen. Schon zehn Jahre später war dies kein Problem mehr. Weitere zehn Jahre später waren Internetkonferenzen, bei denen Teilnehmer aus allen Erdteilen zugeschaltet wurden, keine Sel14 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

tenheit mehr. Aus diesen medialen Vernetzungen entstehen gegenwärtig nicht nur komplexe globale Synergien in der wissenschaftlichen Forschung, sondern es werden auch Flüchtlingsströme ausgelöst und politische Systeme zu Fall gebracht. Fakt ist, dass sich unsere Welt vernetzt und globalisert hat und sich dies nachhaltig auf unser Bild von der Welt, ihrer Geschichte und vom Menschsein auswirkt. Die Auswirkungen auf unser Bild von der Geschichte lassen sich allerdings erst jetzt deutlicher erkennen, nachdem verschiedene Bereiche der Geschichte neu beschrieben worden sind und das Schreiben von »Weltgeschichten« wieder aktuell ist. Auch für die Philosophie lassen sich erste Ergebnisse erkennen, wobei hier andere Bedingungen gelten als beispielsweise in den Geschichtswissenschaften. Im Gegensatz zur Philosophie hat sich die Geschichtswissenschaft bereits deutlicher von einem europäischen Überlegenheitsbewusstsein getrennt, durch das noch bis ins 20. Jahrhundert viele Darstellungen der europäischen Geschichte gesprägt waren. In der Philosophie ist man in Europa und Nordamerika hingegen noch immer verbreitet davon überzeugt, dass es keine nennenswerten Alternativen zur europäischen und nordamerikanischen Philosophie und ihren rationalen Standards gäbe. Dabei ist aber die Hightech-Philosophie der Gegenwart vor allem in den USA und Europa, die sich in unüberschaubare Miniaturdiskurse aufgespalten hat und sich selbst als Hauptstrom des gegenwärtigen Denkens begreift, in eine Sackgasse geraten. Außer den englischhörigen Eingeweihten, die sich mit den von ihnen produzierten Miniaturdiskursen beschäftigen, interessiert sich kaum jemand für die Hightech-Analysen, deren Ergebnisse oft nicht mehr als banal sind und kaum etwas beitragen können zu drängenden Fragen der Gegenwart. Die Möglichkeiten einer globalen Kommunikation in Echtzeit und das Zugänglichwerden von schier unendlichen Informationen im Internet eröffnen auch in der Philosophie Perspektiven, die bisher nur zu einem Bruchteil wahrgenommen und entfaltet werden. Zwar hat von Europa aus gesehen die Vernetzung mit Philosophierenden in Asien, Südamerika und Afrika deutlich zugenommen, gleichzeitig ist aber auch zu beobachten, dass es zwar einerseits einfach ist, in Kontakt zu treten, aber andererseits die Menschen in kultureller und philosophischer Hinsicht für diese Kontakte kaum vorbereitet sind. Denn die Bildungsvoraussetzungen und Wissensordnungen, mit denen viele akademisch und philosophisch gebildete Menschen in Europa globale Kontakte entwickeln, sind häufig nicht ausreichend, um die 15 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

Potentiale auch nur annähernd in den Blick zu bringen, die dadurch erzeugt werden könnten. Noch sind viele Menschen allein damit ausgelastet, Schritt zu halten mit neuen digitalen Möglichkeiten und der Entwicklung globaler Kontakte, so dass im Bereich der Wissenschaft und Philosophie der sich immer deutlicher ankündigende Umbruch in den globalen Wissensordnungen nur selten realsiert wird. Dass viele nicht ausreichend vorbereitet sind für diesen Wandel liegt häufig nicht an der Motiviation der einzelnen Menschen, sondern an der kulturellen Komplexität der neuen Situation. Diese Situation wird die Philosophierenden dazu zwingen, die Philosophie und ihre Geschichte neu zu denken, so die These der hier vorgelegten Überlegungen. Es wird dafür sicher nicht ausreichen, von Europa aus den Blick allein auf bestimmte Strömungen nordamerikanischer Philosophie zu heften, in der Hoffnung, dass allein dort die entscheidenden Innovationen im Denken zu finden sind. Wie komplex allein die Landschaft der Philosophie in den USA ist, ließ sich schon auf dem Weltkongress für Philosophie in Boston beobachten, wo nicht nur die auch in Europa als »große Denker« verehrten Philosophen auftraten, sondern auch die starken kontinentalphilosophischen Strömungen in den USA und viele andere Strömungen von interkultureller Prägung sichtbar wurden. Seit 2008 der erste Weltkongress für Philosophie in Asien an der Nationaluniversität Seoul in Korea stattfand, ist Chinesisch als offizielle Sprache der Weltkongresse neben Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch und Russisch anerkannt. Der nächste Weltkongress für Philosophie wird 2018 in Peking stattfinden. Hier zeigen sich richtungsweisende Verschiebungen vor allem im globalen Gefüge der Sprachen der Philosophie. Derzeit scheint es, dass vor allem die chinesische Sprache eine ersthafte Konkurrenz für das Englische im Rahmen der globalen Wissensordnung werden kann. Für das Philosophieren in einer globalisierten Welt ist die Frage nach den verschiedenen Sprachen ein Kernproblem. Dies betrifft aber nicht nur die Philosophie, sondern auch die anderen Wissenschaften. In Europa ist man vielerorts inzwischen mehr als bereit, dieses Problem dadurch zu lösen, dass Englisch unumstritten als lingua franca anerkannt wird. Diese Anerkennung geht beispielsweise in Deutschland so weit, dass immer mehr Studiengänge an deutschen Universitäten auf Englisch angeboten werden – auch in der Philosophie. Zudem gewinnt man den Eindruck, dass philosophische Tagungen inzwischen vor allem auf Englisch abgehalten werden. In Österreich ist man heute gezwungen, Forschungsanträge auf Englisch einzu16 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

reichen. Auch in Ostasien ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten. Englisch ist auch hier ein fester Bezugspunkt. Gegen diese Tendenz gibt es allerdings deutliche Widerstände in der französisch-, spanisch-, russisch- und auch der chinesischsprachigen Welt. Es ist noch nicht abzusehen, wie dieser auch politisch geführte Kampf der Sprachen ausgehen wird. Blickt man zurück in die westeuropäische Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften, so ist zu beobachten, dass sich dort über längere Zeit hinweg das Lateinische als lingua franca entwickelt hatte, wobei Sprachen wie das Hebräische und das Arabische zwar eine wichtige Rolle spielten, aber in unserem Bild vom Mittelalter eher marginalisiert wurden, obwohl in diesen Sprachen aus heutiger Sicht zentrale Innovationen des Denkens entwickelt wurden. Als dann ausgehend von Italien Lokaldialekte wie das Toskanische ein sprachliches Selbstbewusstsein zu entwickeln begannen, entfalteten sich auch andere Sprachen wie das Englische, Spanische, Französische und zuletzt auch das Deutsche, um die Philosophie und die Wissenschaften mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten zu bereichern. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen könnte man sich heute die Frage stellen, wie sich die Philosophie und die Wissenschaften entwickelt hätten, wenn sich bis heute die lateinische Sprache in Europa flächendeckend durchgesetzt hätte. Wir hätten dann zwar einen einheitlichen philosophischen und wissenschaftlichen Sprachraum, aber vermutlich wären sehr viele Entdeckungen nicht gemacht worden und auch viele Entwicklungen hätten nicht in gleicher Weise stattgefunden. In der Entwicklung der einzelnen Philosophie- und Wissenschaftssprachen manifestierte sich eine emanzipatorische Kraft, die sich ohne die Bildung neuer Sprachen und wissenschaftlicher Ausdrucksmöglichkeiten nicht hätte realisieren können. Heute, nachdem ein jahrhundertelanger Prozess der Pluralisierung von Wissenschaftssprachen stattgefunden hat, zu denen nicht nur Englisch, Französisch oder Deutsch gehören, sondern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch Japanisch und Chinesisch, ist durch den Druck der Globalisierung eine neue und auch verständliche Sehnsucht nach Vereinheitlichung und Standardisierung entstanden. So wie die christlich-mittelalterliche Welt aufgebrochen wurde durch das Erstarken verschiedener Sprachen, so versucht man heute, oft verzweifelt und ohne Zukunftsperspektive, die eigene Philosophie- und Wissenschaftssprache vor dem Hintergrund selbstverordneter ökonomischer Zwänge durch das Englische zu ersetzen, um den vermeintlichen 17 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

»Anschluss« nicht zu verpassen. Die Kurzatmigkeit dieses Handelns wirkt nicht nur für die Philosophie verheerend. Auf globaler Ebene ist ein mehr oder weniger gefühlter Zwang zur Vereinheitlichung entstanden, der vor allem in das inzwischen globalisierte universitäre System der Wissenschaften mit voller Wucht einschlägt und es verändert. Einerseits kann es in dieser Situation sicher nicht darum gehen, die Einzeltraditionen wieder allein in den Vordergrund zu rücken, um eine gemütliche Tradition zu genießen, die nie existiert hat, außer in den Köpfen derer, die sie erfunden haben. Andererseits ist der konzeptlose und unreflektierte Anschluss an eine allgemeine Vereinheitlichung nicht nur verantwortungslos, sondern er verschenkt philosophische und wissenschaftliche Potentiale, die durch globalisierte Perspektiven entstehen. Die alte, nicht nur in Europa entwickelte zentrale philosophische Frage, die sich hier in den Vordergrund drängt, ist die nach Identität und Differenz. Diese Frage verwandelt sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und kultureller Kontexte der Globalisierung in diejenige nach Vereinheitlichung und Pluralisierung. Seit dem Beginn der europäischen Expansion im Jahre 1492 war in Europa in verschiedener Hinsicht ein Pluralisierungsschub zu beobachten, der als Gegenreaktion zugleich einen bis zum Wahn gesteigerten Vereinheitlichtungsdrang erzeugte, der in Europa seinen gewaltsamen und menschenverachtenden Höhepunkt im Nationalsozialismus fand. Nach der Katastrophe wurde, nicht nur in Europa, um so deutlicher die Dimension der Pluralisierung in den Vordergrund gerückt. Heute stehen wir vor dem Hintergrund der neuen technischen Möglichkeiten im Gegenzug wieder verstärkt unter einem Vereinheitlichungsdruck, der aber so tut, als ob der erzeugte Druck im Zeichen der Pluralisierung und Individualisierung geschehe. In dieser Tendenz zeigt sich die volle Dialektik und Widersprüchlichkeit von Identität und Differenz, die sich nicht so leicht, wie es bei Hegel gedacht wird, in eine »Identität von Identität und Differenz« überführen lässt. Gewollt wird die ganze Menschheit – in höchster Differenz und Pluraliät. Wer aber gibt vor, wie viel Einheit dafür notwendig ist, und wer bestimmt die Grenzen von Differenz und Pluralität? Bei dieser Frage stehen wir inmitten der zahllosen Konflikte, von denen sowohl die Weltgesellschaft als auch die überregionalen Verbünde und auch die einzelnen Gesellschaften und Kulturen durchfurcht oder gar zerrüttet werden. Niemand hat für diese Probleme ein Patentrezept. Es gilt vielmehr, sich neu zu orientieren im Changieren zwischen globalen 18 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Einleitung

und lokalen Perspektiven. Um die Zusammenführung von global und lokal aber in den einzelnen Feldern des Lebens zu realisieren, ist ein langer Weg zu gehen, der aber nur gelingt, wenn man die eigene Geschichte neu zu sehen lernt im Angesicht einer neuen, pluralen und global situierten Zukunftsperspektive. Mit den hier vorgelegten Überlegungen sollen in aller Bescheidenheit Wege für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt mit angebahnt und gestaltet werden. Anhand verflechtungsgeschichtlicher Perspektiven soll das Bild von der Geschichte der Philosophie in ein neues Licht gerückt werden, so dass ein bis ins 16. Jahrhundert reichender Denkraum gegenseitiger Verflechtung sichtbar wird, den ich im Anschluss an andere Entwürfe »Afroeurasien« nennen möchte. Die historischen Perspektivierungen reflektieren zudem Konzepte wie »interkultureller Vergleich«, »Interkulturalität«, »Transkulturalität«, »Verschiedenheit der Modernen« etc., die in der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften als Reaktion auf Globalisierungsprozesse entstanden sind. In systematischer Perspektive wird das Selbstbild des Menschen und die Interpretation seines Handelns im Kontext zwischen Asien und Europa befragt. Zum Abschluss wird ein philosophischer Methodenvorschlag unter dem Stichwort »transformative Phänomenologie« konkretisiert, der die Entfaltung des Philosophierens in einer globalisierten Welt zu unterstützen verspricht. Wenn die politischen Rahmenbedingungen es in näherer und fernerer Zukunft erlauben, so bin ich überzeugt, dass die Praxis des Philosophierens und die Geschichte der Philosophie um 2100 ein komplett neues Gesicht erhalten haben werden.

19 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

I. Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Ein gegenwärtig verbreitetes Bild von der Geschichte der Philosophie besagt, dass die Philosophie eine europäische Erfindung gewesen sei, lange Zeit nur in Europa betrieben wurde und heute vor allem in Nordamerika – ausgehend von Entwicklungen in Europa – unter dem Namen »analytische Philosophie« ihren Höhe- und Endpunkt und den allein gültigen Maßstab für jegliches Philosophieren erreicht habe. Dabei ist zu beobachten, dass bestimmte Strömungen der analytischen Philosophie die älteren Positionen in der Geschichte der Philosophie für unwesentlich halten, so dass die Philosophie ausschließlich zu einem Projekt in systematischer Hinsicht wird. Philosophische Probleme lassen sich, so eine verbreitete Auffassung, in gemeinsamer rational-argumentativer Arbeit anhand der Mittel analytischer Philosophie am besten »lösen«, wobei die geschichtliche Entwicklung zu vernachlässigen ist bzw. gar keine Rolle mehr spielt. Zum Glück haben holzschnittartige Klischees meist wenig mit den komplexen Entwicklungen gemein, die eine Gegenwart bestimmen. Längst haben Philosophierende in der analytischen Tradition die Geschichte der Philosophie für sich entdeckt, 1 bzw. haben sich verschiedene Kombinationen und Überlagerungen entwickelt, in denen die Stärken der verschiedenen methodischen Ansätze in der langen Tradition der Philosophie synergetisch zusammengebunden werden. 2 Dies betrifft nicht nur die Ansätze in Europa und Nordamerika, sondern auch Kombinationen, die analytisches Gedankengut mit asiatischen Ansätzen zur Logik und Ethik in weiterführende Verbindungen bringen. 3 Betrachtet man die Entwicklungen in breiterer Perspektive

Vgl. Analytic philosophy and history of philosophy, hg. v. Sorell u. Rogers. Vgl. Phenomenology and Philosophy of Mind, hg. v. Smith u. Thomasson. 3 Vgl. Priest, One. Being an Investigation into the Unity of Reality and of its Parts, including the Singular Object which is Nothingness; Varela, Thompson u. Rosch, Der mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswis1 2

21 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

und nicht ausgehend von einer bestimmten Schule oder Spezialdiskussion, so ist das gegenwärtige Philosophieren mehr denn je dadurch gekennzeichnet, dass sich verschiedenste Traditionen, Positionen und Methoden miteinander verflechten. Sicher lässt sich bei vielen Philosophierenden in Europa oder Nordamerika noch immer die Überzeugung finden, dass die eigentlich »harte« Philosophie nur dort betrieben werde und man gerne bereit sei, die eigenen Ergebnisse in die Welt zu exportieren. Diese Haltung wird dadurch bestätigt, dass Menschen aus Asien, Afrika oder anderen Ländern in die USA oder nach Europa kommen, um Philosophie zu studieren, ohne dabei die eigenen Traditionen einzubeziehen. Derzeit ist es sicher noch so, dass Menschen in aller Welt die europäischstämmige Philosophie – auch die analytische Philosophie hat dort ihren Ursprung – in erheblich höherem Maße importieren als umgekehrt die europäischstämmige Philosophie bereit ist, die anderen Traditionen des Denkens zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass alle an der Philosophie Interessierten Englisch, Französisch oder Deutsch lernen, wobei umgekehrt das Erlernen einer außereuropäischen Sprache in Europa immer noch selten ist. Blickt man nur gut dreihundert Jahre zurück, so kann beobachten werden, wie nacheinander die englischsprachige, die französischsprachige und zuletzt auch die deutschsprachige Philosophie zu einem eigenständigen Bewusstsein erwachten und bis heute wirksame Impulse für das Denken und die Philosophie hervorbrachten. Dass dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in der japanischsprachigen Philosophie geschah, wird in Europa und den USA langsam zur Kenntnis genommen. 4 In Japan entwickelten sich philosophische Ansätze, die unter Einbezug der europäischen und asiatischen Perspektiven neue Gesichtspunkte des Philosophierens in die Aufmerksamkeit hoben und vor allem einen außereuropäischen Blick auf die senschaft – der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. 4 Seit 2013 erscheint in New York das The Journal of Japanese Philosophy. Seit 2016 erscheint European Journal of Japanese Philosophy« (Nagoya/Hildesheim). 2011 erschien in Honolulu das Grundlagenwerk Japanese Philosophy: A Sourcebook, hg. v. Heisig, Kasulis u. Maraldo; Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung, hg. v. Elberfeld u. Arisaka; Globalizing Japanese Philosophy as an Academic Discipline, hg. v. Cheung u. Lam.

22 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

»europäische Weltgeschichte« entfalteten, der bis heute außerordentlich lehrreich ist. 5 Berücksichtigt man diese verschiedenen Perspektiven auf die Weltgeschichte und ihre jeweilige Konzeption, so kann gesagt werden, dass jede Zeit ihr eigenes Bild von der Vergangenheit hervorbringt und zugleich jede Gegenwart im Zusammenhang mit der von ihr erinnerten und interpretierten Vergangenheit eine bestimmte Zukunft. In diesem Sinne sind weder die Vergangenheit noch die Zukunft festgelegte Größen, auf die man sich verlassen könnte. Geschichtlichkeit bedeutet, dass Vergangenheit und Zukunft stets neu im Zusammenhang mit der jeweiligen Gegenwart erzeugt werden. Menschen müssen ihre geschichtliche Herkunft und ihre geschichtliche Bestimmung zu jeder Zeit wiederholt erzeugen. So können, geschichtlich gesehen, bestimmte Prozesse für eine Zeit in Vergessenheit geraten bzw. aktiv aus der Aufmerksamkeit verdrängt werden, so dass durch dieses Vergessen bzw. Verdrängen Zukunft und Vergangenheit neu bestimmt werden können. 6 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts begann man in Europa damit, Geschichte als »Kultur« bzw. »Bildung« der gesamten Menscheit zu konzipieren, die insgesamt einer zukunftsorientierten Fortschrittslogik folgte und universale Ebenen des Menschlichen betonte. 7 »Gesamte Menschheit« bedeutete bei vielen Autoren der damaligen Zeit aber noch nicht, dass alle, die wir heute als »Menschen« bezeichnen, einbezogen wurden. Vor allem Menschen mit afrikanischer Herkunft wurden damals als Sklaven gehalten und beispielsweise in den USA bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht als Menschen behandelt. Im 19. Jahrhundert rückten zunehmend einzelne geschichtliche »Welten« in ihrer jeweiligen Eigenlogik in die Aufmerksamkeit, so dass jede einzelne Welt – die griechische, römische, germanische, italienische, chinesische, indische usw. – in sich betrachtet und beschrieben wurde. Hierbei betonte man vor allem die Differenzen, was zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem radikal relativistischen Bild der Geschichte beispielsweise bei Oswald Spengler führte. 8 Dieses relativistische Bild prägte bis in die 1980er Jahre im Zusammenhang Vgl. den Aufsatz: Suzuki, Ausblick über die europäische Weltgeschichte. Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 7 Vgl. Adelung, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, 1782; Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784–91. 8 Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 1918/22. 5 6

23 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

mit dem Plural »Kulturen« bzw. »Zivilisationen« das Bild in den Geisteswissenschaften von der Geschichte der Menschheit. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Einführung des Begriffs Akkulturation in der nordamerikanischen Ethnologie 9 gewann jedoch das Paradigma der Verflechtung als Beschreibungsmuster für geschichtliche Prozesse an Attraktivität. Mit diesem Paradigma für die Beschreibung von geschichtlichen Mikro- und Makroprozessen arbeiten seit den 1990er Jahren immer mehr Forschende in der Ethnologie, 10 der Geschichtswissenschaft 11 und inzwischen auch in der Philosophie. Wird der beschreibende und analysierende Blick in der Philosophie vom Paradigma der Verflechtung geleitet, so treten für die Beschreibung der Geschichte des Denkens und der Philosophie bisher nur wenig wahrgenommene Entwicklungen und Prozesse in die Aufmerksamkeit. Denn, sofern man ausgestattet ist mit einer besonderen Aufmerksamkeit für Übersetzungs- und Rezeptionsprozesse sowie für unerwartete Synthesen und Überlagerungen, treten Sachverhalte und Verknüpfungen in den Blick, von denen man möglicherweise bereits wusste, die aber zugunsten universalisierender oder relativierender Interessen in den Hintergrund der Aufmerksamkeit getreten sind. In der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung stand bisher vor allem ein großer Überlagerungs- und Verflechungsprozess im Vordergrund, der immer wieder mit wechselnden Bewertungen bearbeitet wurde und wird. Es handelt sich dabei um das Verhältnis und den Übergang von der antiken Philosophie – und damit ist vor allem die griechische Philosophie gemeint – zum Christentum bzw. zur christlichen Philosophie. Die einen sehen die antike Philosophie durch die christliche Okkupation geschwächt, die anderen konzipieren die christliche Philosophie als eine Steigerung und Vollendung der antiken Vorlagen. Wieder andere versuchen die Verflechtung zunächst, soweit es geht, ohne besondere Bewertung zu rekonstruieren, wobei auch diese Versuche nicht immer frei von polemischen Affekten sind. 12 Einer der ersten war: Powell, From Barbarism to Civilization, 1888. Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Conrad u. Randeria. 11 Vgl. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert; ders., Dekolonisation. Das Ende der Imperien. 12 Hier ist beispielsweise an die philosophiehistorischen Arbeiten von Kurt Flasch zu denken. 9

10

24 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Im Zusammenhang mit den verschiedenen Versuchen, die Geschichte der Verflechtung des antiken Denkens mit dem Christentum zu rekonstruieren, wird deutlich, dass dabei auch innerhalb Europas oft massive Interessen und Bewertungen im Spiel sind. Die polemischen und negativen Affekte verstärken sich in Europa häufig in den Fällen, in denen es darum geht, beispielsweise der Verflechtungsgeschichte antiker Philosophie mit dem Orient bzw. Indien nachzugehen oder das Verhältnis von christlicher, islamischer und jüdischer Philosophie im Mittelalter zu reflektieren. Zum Glück gibt es in Bezug auf diese Verflechtungsgeschichten, teilweise schon seit langem, eine Forschung, die zunächst an nüchternen historischen Bestandsaufnahmen interessiert ist. Auch wenn dies in philosophischer Hinsicht sicher nicht der letzte Schritt sein kann, so ist es bei der Betrachtung dieser Verflechtungen mehr als hilfreich, die eigenen philosophischen Interessen und Bewertungen zunächst einzuklammern. Um überhaupt ein neues Bild von den Verflechtungsgeschichten des Denkens und der Philosophie zu erzeugen, das auch über die Grenzen Europas hinaus in globale Zusammenhänge führt, ist dies ein notwendiger Schritt, da ansonsten eine Erweiterung der Perspektiven allein daran scheitert, dass man beispielsweise konfuzianisches Denken in China nicht als Philosophie anerkennt und dieses somit, ausgehend von einer stereotyp exkludierenden Bewertung, nicht in die Verflechtungsgeschichte des Denkens einbezieht. Um solche voreiligen Ausschlüsse zu vermeiden, wird im Folgenden kein allein selig machender europäischer Philosophiebegriff bestimmt und vorausgesetzt, 13 vielmehr sollen einzelne Verflechtungsprozesse des Denkens und des Philosophierens ausschnitthaft in die Aufmerksamkeit gehoben werden, deren Aufnahme in unserer Bild von einer globalisierten Philosophiegeschichte noch aussteht und daher heute dringend notwendig ist. Dabei gehe ich aus von älteren und aktuellen Forschungen, die häufig in einem Forschungsgebiet durch mühselige historische Kleinarbeit ein neues Verflechtungsbild erzeugen und damit Alternativen bieten zu den seit dem 18. und 19. Jahrhundert breit tradierten Narrativen zur Geschichte der Philosophie in Europa. In den folgenden kurzen Darstellungen und Reflexionen zu einzelnen Verflechtungsprozessen steht die leitende Frage im HinterDass der Begriff und die Bestimmung von Philosophie auch in Europa sehr verschieden ausfallen, habe ich versucht im Rahmen einer Textsammlung zu zeigen: Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida, hg. v. Elberfeld.

13

25 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

grund, wie diese Prozesse jenseits allzu einfacher Universalisierungen und allzu trennender Relativierungen in angemessener Weise in unser Bild von der Philosophiegeschichte aufgenommen werden können. Eines der größten Probleme ist dabei, dass das nötige Wissen zu den einzelnen Prozessen in sehr unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Fächern hervorgebracht wurde und wird, so dass sehr weit auseinanderliegende Wissensbestände in philosophischer Perspektive zusammengeführt werden müssen. Aus den gegenwärtigen Tendenzen der Wissensforschung könnte man daher einwenden, dass es doch besser wäre, statt von »Philosophiegeschichte« lieber von »Wissensgeschichte« zu sprechen. Hier bietet sich in der Tat eine Alternative, die ausgehend von Foucault eine neue Sicht auf die Kulturen des Wissens und ihre Entstehung erzeugt hat. In dem Forschungsschwerpunkt Hoch- und Spätmittelalter / Westeuropäische Geschichte der Universität Münster wird Wissensgeschichte beispielsweise wie folgt bestimmt: »Unter ›Wissensgeschichte‹ wird heute nicht mehr die früher übliche Bildungsgeschichte verstanden. Wissensgeschichte ist zugleich ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, geht aber über disziplinäre Engführungen hinaus, ist also auch, aber keineswegs vorrangig die Geschichte der Geschichtswissenschaft, des Geschichtsdenkens oder der Historiographie. Wissensgeschichte fragt nach den Personen, Inhalten, Vermittlungsverfahren, Institutionen, Anwendungsformen, gesellschaftlichen Kontexten, Bedingungen und Folgen gelehrten Wissens. Sie ist gleichermaßen eine Sozialgeschichte der Gelehrten und eine Ideengeschichte des gelehrten Wissens und umfasst dabei ebenso Schul- und Universitätsgeschichte wie auch das weite Feld der gelehrten (lateinischen und auch volkssprachlichen) Wissensrepertoires sowie die vielfältigen Perspektiven einer gesellschaftlich wirksamen Anwendung von Wissen. Wissen kann dabei über Inhalte orientiertes Bildungswissen oder über Nutzanwendung definiertes Handlungswissen sein. Die damit beschriebene Forschungsrichtung ist in den letzten Jahren erst entwickelt worden und sie führt heute zur Frage nach der Wissensgeschichte von Gesellschaften.« 14

Der Ansatz der Wissensgeschichte lässt auf der einen Seite zu, dass verschiedene Ebenen der Wissensentstehung in den Blick treten können, ohne durch disziplinäre Verengungen behindert zu werden. Zudem lassen sich Verflechtungen erkennen, die durch den begrenzten

https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/MA-G/L1/forschen/wissens geschichte.html (7. 11. 2016).

14

26 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Blick aus den einzelnen Disziplinen verdeckt bleiben. Auf der anderen Seite entsteht aber das Problem, dass beispielsweise alle philosophischen Sachfragen hinter komplizierten sozialen, historischen und institutionellen Strukturbeschreibungen verschwinden und jede fachspezifische Frage ihre Berechtigung verliert. 15 Es ist noch nicht abzusehen, wie sich der Zusammenhang von wissensgeschichtlichen und fachspezifischen Perspektiven weiterentwickeln wird. Im Folgenden werde ich versuchen, eine wissensgeschichtliche Fundierung der Philosophiegeschichtsschreibung vorzubereiten. Dabei sollen sowohl die sachliche Frage einer Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive wie auch die wissensgeschichtliche Perspektive der verschiedenen Verflechtungsebenen im Blick behalten werden. Es geht in erster Linie jedoch darum, Philosophierende jenseits der Abgrenzungslogik für die Verflechtungen und gegenseitigen Beeinflussungen auch über den Rahmen der europäischen Philosophiegeschichte hinaus zu sensibilisieren. Die Darstellungen und Überlegungen führen bis ins 19. Jahrhundert und damit an die Schwelle der sich globalisierenden Diskurse in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Für die Darstellung im ersten Kapitel wähle ich aus sachlichen Gründen und den genannten Schwierigkeiten ein besonderes Vorgehen. Im Text werden in ungewöhnlich hohem Maße Passagen aus Primär- und Sekundärquellen einbezogen, die an vielen Stellen nur kurz kommentiert werden. Der Text soll keine Gesamtinterpretation liefern, sondern vielmehr geht es um das Zusammentragen vieler verstreuter Mosaiksteine, die so miteinander verbunden werden, dass vor allem die verflechtungsgeschichtlichen Dimensionen in der Philosophiegeschichte in die Aufmerksamkeit treten können. Da ich Diese Probleme wurden bereits bei der Einrichtung der ersten Graduiertenkollegien in den 1990er Jahren durch die DFG deutlich. Wenn damals und häufig auch heute noch zwischen 10 und 20 Professorinnen und Professoren ein Programm entwickelten, so wurden die Stipendiatinnen und Stipendiaten mit einer unübersichtlich großen Menge von Wissensgehalten konfrontiert, so dass eine Dissertation allein an der Überfülle an Bezügen, die die einzelnen einbeziehen wollten, scheitern konnte. Erst dann, wenn man wieder einen disziplinären Standpunkt gefunden hatte, konnte wissensgeschichtlich fundiert ein Thema entfaltet werden. Heute hat sich dieses Problem weiter verschärft, wenn man einen Blick auf die Homepage Wissensgeschichte in Berlin wirft (http://www.wissensgeschichte-berlin.de/wegweiser). In diesem Verbund sind unübersichtlich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verbunden, die sich sicher noch nicht einmal gegenseitig kennen können. Der Wunsch nach Bündelung ist sicher zu begrüßen, aber es darf darüber nicht vergessen werden, dass wichtige Einsichten immer wieder auch in kleinen Zusammenhängen entstehen können.

15

27 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

selbstverständlich nicht in all diesen Gebieten spezialisiert bin, möchte ich durch dieses Vorgehen sowohl vernachlässigte Primärquellen in die Aufmerksamkeit heben wie auch die Arbeit der Spezialistinnen und Spezialisten in besonderer Weise würdigen. Meinen eigenen Beitrag sehe ich darin, den größeren Zusammenhang konzipiert und zusammengeführt zu haben. Da es im Folgenden in keiner Weise um eine detaillierte Gesamtdarstellung der globalen Verflechtungsgeschichte gehen kann, handelt es sich lediglich um einen ersten sondierenden Schritt in diese Richtung, der sicher in vielerlei Hinsicht ergänzt, korrigiert und erweitert werden kann und muss. Zu den Umschriften aus anderen Sprachen sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich mich versuche an die in den Einzeldisziplinen üblichen Umschriften zu halten, wobei ich insgesamt die vereinfachten Varianten bevorzugen werde.

1.

Asien und das antike Griechenland

Was wir heute als die Kultur des »antiken Griechenland« betrachten und erforschen, hat sich in langer historischer Imagination gebildet und durch die Jahrhunderte hindurch verändert, bis hin zu dem Bild, das Geschichtswissenschaft, Archäologie, Philologie und Philosophie uns heute präsentieren. Dieser Prozess der Imagination begann bereits bei den alten Griechen selbst. Nach einer langen Zeit verschiedenster Einflussnahmen und Amalgamierungen im Gebiet des heutigen Griechenlands waren es die Perserkriege um das 6. und 5. Jahrhundert v. u. Z., die »Hellas« und die »Hellenen« in der dichterischen Imagination des Aischylos in der Tragödie Die Perser (472 v. u. Z.) und in der historischen Imagination des Herodot zu einer Einheit werden ließen. 16 Aischylos lässt kurz vor der Schlacht mit den Persern den Ruf ertönen: »Ihr Söhne der Hellenen (Ἑλλήνων), auf! Befreiet unser Vaterland! Auf, auf, befreit Die Kinder, Weiber, unserer Stammesgötter Sitz, Der Vorfahrn Gräber; nun für alles gilt der Kampf!« 17

16 17

Burn, Persia and the Greeks. The Defence of the West, 546–478 B.C. Aischylos, Tragödien, 39.

28 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Asien und das antike Griechenland

Nach der dichterischen Verarbeitung der Kriegserfahrungen bei Aischylos, 18 der nach der Überlieferung selbst an dem Krieg teilgenommen haben soll, sind es vor allem die langen und genauen Schilderungen des Krieges bei Herodot, die den Sieg über die Perser und damit über Asien gleichsam zu einem Gründungsmythos für die »Hellenen« stilisieren, die sich dieser Erzählung zufolge im Namen der Freiheit erfolgreich verteidigt hatten. In den Verhandlungen über einen Vertrag mit den Persern, in die sich auch die Lakedaimonier einmischten, lässt Herodot die Athener abschließend das Folgende zu den Abgesandten aus Sparta sagen: »Denn da ist Vieles und Großes, das uns abhält, so zu handeln, selbst wenn wir es wollten: erstens und weit voran die Bilder und Tempel der Götter, niedergebrannt und verschüttet, für die Wiedergutmachung bis zum Letzten zu verlangen wir viel eher verpflichtet sind als etwa einen Vertrag zu schließen mit dem, der solches getan hat, sodann die Hellenen [τὸ Ἑλληνικὸν, das hellenische Volk], das gleichen Blutes ist und gleiche Sprache spricht, und die gemeinsamen Bauten für die Götter und die Opfer und die übereinstimmenden Sitten [ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσσον καὶ θεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁμότροπα, Hervorhebung R. E.] – wenn die Athener an all dem zu Verrätern würden, das wäre kaum in der Ordnung.« 19

In dieser Stimmung beginnen in Athen gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. u. Z. die großen Helden der europäischen Philosophie ihre Wirkung zu entfalten, wodurch nicht nur die griechische Sprache einen erheblichen Aufschwung erfährt, sondern auch das Bewusstsein der Griechen, etwas Besonderes zu sein, was spätestens mit dem folgenden Krieg gegen die Perser, geführt von Alexander dem Großen, der von Aristoteles seine Bildung erhalten hatte, weltgeschichtlichen Ausdruck fand. Mit dem ersten Sieg über die Perser wurde die

»Die Deutung, die Aischylos dem Geschehen von 480 gibt, zeigt einmal, daß er die griechische Lebensweise in moralischer und politischer Hinsicht als Teil göttlicher Weltordnung begreift und damit dem Bewußtsein der Griechen von ihrer eigenen Identität ein ganz neues Gewicht verleiht. Vorstufen dieses Identitätsbewußtseins findet man schon früher, bezeugt etwa in Heraklits Ausspruch, daß die Bürger ihre Gesetze mit größerem Einsatz verteidigen müßten als ihre Stadtmauer. Gerade die politische Seite jenes Selbstbewußtseins ist von entscheidender Bedeutung. Griechen fühlten sich vor allem deshalb als Griechen, weil sie in der Rechtsordnung einer Polis lebten.« Dihle, Das griechische Selbstbewußtsein und die Wahrnehmung des Fremden in Klassischer Zeit, in: ders., Die Griechen und die Fremden, 37 f. 19 Herodot, Historien VI-IX, 250. 18

29 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Unterscheidung zwischen Asien und Griechenland bzw. Europa grundgelegt, die bis heute nachwirkt und sich mit den Eroberungen Alexanders endgültig stabilisierte: »Die Europa-Asien-Antithese wurde grundlegend für die Herausbildung dessen, was schon die nachfolgenden Generationen als eine klassische, also normative Kulturphase betrachteten. Daher kommt es, dass die Konstrukte ›Europa‹ und ›Asien‹ losgelöst von, ja im Gegensatz zu jeder Realität fortexistieren konnten: Die kulturell aufgefasste Antithese der Erdteile war konstitutiv für das griechische Selbst-Bewusstsein geworden und kommende Klassiken und Renaissancen rekurrierten stets aufs Neue auf dieses Denkmuster.« 20

Ungefähr tausend Jahre später, um das Jahr 530 n. u. Z., war das große Zeitalter der Hellenen und der Philosophie mit dem Verbot und der Schließung der Platonischen Akademie in Athen zu Ende. Erst im 13. und 14. Jahrhundert wurde »Griechenland« in der Renaissance wieder als eine geistige Einheit gesehen und kam damit zu erneutem Ruhm und Glanz. Es dauerte noch einmal einige Jahrhunderte, bis Winckelmann, 21 Lessing, Goethe, Schiller, Hegel, Hölderlin, Wilhelm v. Humboldt 22 und andere literarische Größen in Europa das antike Griechenland zu der idealen Kultur und geistigen Einheit erhoben, die bis heute häufig zum einheitlichen Ausgangspunkt Europas stilisiert wird. Schlagwörter wie »Vom Mythos zum Logos« oder »Erfindung der Freiheit« sind mit diesem Ideal verbunden, das vor allem in der Philosophie der Weltgeschichte bei Hegel ein bleibendes und wirksames Denkmal erhalten hat. Die Vorgänge historischer Imagination und die ihr entsprechenden Erinnerungskulturen sind ausgesprochen wirkungsreich und erweisen sich im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen und Interpretation als zäh und langlebig. Erst mit den sich im 19. Jahrhundert schnell entwickelnden sprachwissenschaftlichen und archäologischen Forschungen wurde die Grundlage dafür geschaffen, dass im 20. Jahrhundert in bestimmten Bereichen des Wissens und der Forschung ein neues Bild von der Hartmann, Im Osten nichts Neues. Europa und seine Barbaren seit dem V. Jahrhundert v. Chr., in: Blicke auf Europa. Kontinuität und Wandel, hg. v. Michler u. Schreiber, 50. 21 Vgl. Heß, Winckelmann und die Folgen. Transformationen des Wissens über Griechenland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, hg. v. Schneider. 22 Vgl. Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945. 20

30 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Asien und das antike Griechenland

antiken griechischen Kultur entstand. Einer der ersten, die ein neues Bild entwarfen, war der Altphilologie Franz Dornseiff, 23 der bereits 1937 das bis heute virulente Problem wie folgt auf den Punkt brachte: »Viele haben sich gewöhnt, die einflußfreie Autarkie der griechischen Literatur zum Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Überzeugung zu machen. Diese Haltung kommt aber weniger aus dem Befund der antiken Überlieferungen – im Gegenteil! – als aus neuzeitlichen Lieblingsvorstellungen. Mächtige Geistesströmungen wie die Lehre des 18. Jahrhunderts und der Romantik vom schöpferischen Volksgeist und die klassizistisch-humanistische Isolierung der Griechen wirken hier nach. Auch die gymnasiale Apotheose der Schulautoren und die Zeiteinteilungen für den Geschichtsunterricht auf der Schule sind als Abdichtung des Gesichtskreises nicht zu vergessen. Das hat sich in der letzten Zeit gebessert, insofern auf den höheren Schulen in die Prähistorie eingeführt und so etwas die Meinung erschüttert wird, als habe die Welt mit den Griechen 776 v. Ch. [den ersten olympischen Spielen] angefangen. Aber vom alten Orient, der uns für Zeiten, wo die Prähistorie nur Gräberfunde hat, Mengen von literarischen Texten z. T. höchsten Ranges liefert, erfährt nur, wer sich darum kümmert. So befinden sich nicht nur Laien, sondern auch viele Forscher in Verlegenheit, da sie neue Tatsachen zur Kenntnis nehmen und sich anderen Auffassungen anpassen sollen. Aber die Literatur der Griechen kann, wie ihre bildende Kunst, ihr Schriftsystem usw., nicht mehr als autark unabhängig oder nur im Gegensatz zum älteren benachbarten Orient entstanden angesehen werden. Vielmehr sind die Griechen auch literarisch, wo wir sie von etwa 1000 ab sehen, Teilhaber an der Jahrtausende alten gemeinsam vorderasiatischmittelmeerischen Kultur, ebenso wie die neueren Völker des Abendlandes seit der Völkerwanderungszeit zunächst empfangend, dann mit wachsender Selbständigkeit in der antiken Kontinuität stehen.« 24

Inzwischen hat sich vieles getan in der Orientlistik, der Archäologie, der alten Geschichte und der Altphilologie, so dass es inzwischen selbstverständlich geworden ist, dass das alte Griechenland aus vielfältigen Einflüssen entstanden ist, die bis nach Indien reichen. So sagt Walter Burkert kurz und bündig: »Kultur baut sich auf im Kontakt mit dem Fremden und Fernen […]. Jede Ziviliation, die griechische zumal, braucht ihren interkulturellen Kontext. […] Es sieht so aus, als würden sich die interkulturellen Perspektiven neuVgl. Werner, »Die Welt hat nicht mit den Griechen angefangen«. Franz Dornseiff (1888–1960) als klassischer Philologe und als Germanist. 24 Dornseiff, Altorientalisches in Hesiods Theogonie (1937), in: ders., Antike und alter Orient, 36 f. 23

31 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

erdings endgültig durchsetzen und damit unser Bild von der griechischen Kulturschöfpung entscheidend modifizieren.« 25

Mit der Entzifferung der ägytischen Hieroglyphen und der Keilschrift im 19. Jahrhundert, die im Orient über ca. drei Jahrtausende verbreitet waren, erschlossen sich geschichtlich neue Räume, so dass ein anderes Licht auf die alten Hochkulturen geworfen werden konnte. Die Entzifferenzung von Schriften wie dem Hethitischen, dem Ugaritischen und vor allem die archäologischen Funde zeigten immer mehr, wie viele Einflüsse und Vorbilder für die Griechen aus dem Orient kamen und dort wirksam geworden sind. 26 Ihre Mathematik stammte aus Babylon, die Bildhauerei aus Ägypten, die Schrift von den Phöniziern. Homer und Hesiod sind eng verbunden mit den Literaturen des Orients, 27 so dass gerade durch diejenigen, die heute als »die« griechischen Autoren schlechthin gesehen werden, die weitere Denkttradition auf orientalischer Mythen- und Weisheitsliteratur basiert. »Es besteht soweit kein Grund, die mythischen Kosmogonien der Griechen – ob von Homer entworfen, von Hesiod oder von Orpheus – von den orientalischen Gegenstücken zu isolieren. Sie gehören offenbar der gleichen Familie an. Und daß wiederum die sogenannten Vorsokratiker in ihre Spuren treten, ist ausgemacht. Nur kurz hingewiesen sei, neben den Weisheitstexten und Mythen, auf die eindeutig rationalen Bereiche, in denen die Abhängigkeit der Griechen von Orientalischem besonders deutlich zu greifen ist – auf Mathematik und Astronomie. Der Lehrsatz des Pythagoras wird in Keilschrifttexten schon rund 1.000 Jahre vor Pythagoras routinemäßig angewandt. […] Die Einteilung des Kreises in 360 Grad samt der Unterteilung in ›Minuten‹ und ›Sekunden‹ im Sexagesimalsystem ist ein Stück babylonischer Rechentechnik, das wir nicht haben ablegen können. […] Aus alledem ergeben sich Konsequenzen, die überraschen mögen. Zum einen ist die Verbindung sogenannter orientalischer und griechischer Geistigkeit weder zeitlich noch Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, in: ders., Die Griechen und der Orient, 9 u. 11. 26 Der Orient und die Anfänge Europas. Kulturelle Beziehungen von der Späten Bronzezeit bis zur Frühen Eisenzeit, hg. v. Matthäus, Oettinger u. Schröder; Adrados, Geschichte der griechischen Sprache. Von den Anfängen bis heute: »Wenn die griechische Sprache die Fortsetzung der indogermanischen Sprache ist, genauer einer ihrer Dialekte, so ist die griechische Kultur die Fortsetzung der indogermanischen Kultur oder einer bestimmten zeitlichen lokalen Phase derselben.« Ebd., 7 f. 27 Burkert, Homer als Dichter der orientalisierenden Epoche, in: ders., Die Griechen und der Orient, 28–54. Dornseiff, Antike und alter Orient, 35–69. 25

32 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Asien und das antike Griechenland

räumlich auf einen schmalen Korridor beschränkt, der sich etwa vom nachhethitischen Kilikien und Syrien/Phönikien zu Hesiod in der Zeit um 700 erstrecken sollte. Es gibt vielmehr so etwas wie eine nahöstlich-mediterrane Koiné, eine Kulturgemeinschaft, die fortlaufend immer neue Kontakte und Anregungen hervorbrachte.« 28

Es gilt somit festzuhalten, dass Homer, Hesiod und auch die Vorsokratiker aus einer kulturellen Mischsituation hervorgegangen sind, die in ihrer Verzweigtheit zwar heute bereits sichtbar geworden ist, aber vermutlich noch einige Überraschungen für die Forschung bereit hält. Durch diesen erweiterten Blick werden auch die Leistungen von Platon und Aristoteles nicht geschmälert, sondern nur befreit von einem Griechenlandbild, das bis heute einen wenig fruchtbaren Eurozentrismus fördert. An der – mit dem einzigartigen Genie der Griechen argumentierenden – Ablösung und Isolierung der griechischen Philosophie von den »Barbaren« ist nicht erst im 18. Jahrhundert nachdrücklich gearbeitet worden, sondern bereits in der ersten großen überlieferten Historiographie der griechischen Philosophie von Diogenes Laertius. Dort heißt es gleich zu Anfang des Textes: »Die Entwicklung der Philosophie hat, wie manche behaupten, ihren Anfang bei den Barbaren genommen. So hatten die Perser ihre Magier, die Babylonier und Assyrer ihre Chaldäer, die Inder ihre Gymnosophisten, die Kelten und Gallier ihre sogenannten Druiden und Semnotheen, wie Aristoteles in seinem Buche Magikos und Sotion in dem dreiundzwanzigsten Buch seiner Sukzession der Philosophen (Daidoche) berichtet. […] Indes man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen waren es, die nicht nur mit der Philosophie, sondern mit der Bildung des Menschengeschlechts überhaupt den Anfang gemacht haben. […] So hat denn die Philosophie ihren Ursprung bei den Griechen, und auch ihr Name schon weist jede Gemeinschaft mit den Barbaren entschieden von sich ab.« 29

Der erste Satz des Zitats zeigt, dass es in damaliger Zeit offenbar ein Bewusstsein davon gegeben hat, dass Motive der griechischen Philosophie bzw. der Ursprung der Philosophie bei den heute so genannten »orientalischen Kulturen« zu suchen sind. Diogenes zählt dann viele einschlägige Bezugspunkte auf, die bis nach Indien und zu den Burkert, Ostwestliche Weisheitsliteratur und Kosmogonie: Zur Vorgeschichte der Philosophie, in: ders., Die Griechen und der Orient, 72. 29 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 3. 28

33 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Kelten reichen. Allein diese Aufzählung zeigt, wie klar das Bewusstsein von der Pluralität der Ansätze war und wie sehr man voneinander wusste. Im Anschluss macht Diogenes aber dann unmissverständlich deutlich, dass der alleinige Ursprung für die Philosophie bei den Griechen zu suchen sei. Er führt als entscheidendes Argument an, dass ja auch der Name ein rein griechischer und damit jede Verbindung mit den Barbaren zu verneinen sei. Dass es damals auch ganz anderen Stimmen gab, zeigt eine andere Quelle, die aus dem Bereich der frühchristlichen Bewegung stammt. Clemens von Alexandrien, geboren in Athen um 150 n. u. Z., war über den Platonismus zum Christenum gelangt, so dass er die platonische Tradition gut kannte. In seiner Mahnrede an die Hellenen schrieb er zu Platons Quellen das Folgende: »Woher, Platon, kannst du auf die Wahrheit hinweisen? Woher stammt die reiche Fülle von Worten, mit denen du die Gottesfurcht verkündigst? Weiser, sagt er, als diese sind der Barbaren Geschlechter. Ich kenne deine Lehrmeister, auch wenn du sie verheimlichen willst. Geometrie lernst du von den Ägyptern, Astronomie von den Babyloniern, die heilbringenden Zaubersprüche erhältst du von den Thrakern; viel haben dich auch die Assyrer gelehrt; die Gesetze aber, soweit sie wahr sind, und die Anschauung über Gott hast du von den Hebräern selbst gewonnen.« 30

Sicher können wir auch diesem Autor nicht einfach glauben und damit als gesichert ansehen, dass die griechischen Philosophen viele Gedanken und Anregungen aus dem Orient importiert haben. Aber es lassen sich Belege finden, die eine viel offenere Sicht unterstützen, und zwar auch in den Texten Platons selbst. Dort wird in dem Dialog Phaidon dem Sokrates Folgendes in den Mund gelegt: »Dieses also wollen wir versuchen zu überzeugen, daß es [das Kind] den Tod nicht fürchten müsse wie ein Gespenst. – Dieses müßt ihr, sprach Sokrates, täglich besprechen, bis ihr es herausbannt. – Woher aber, o Sokrates, sprach er, sollen wir einen tüchtigen Besprecher zu solchen Dingen nehmen, nun du doch von uns scheidest? – Hellas ist noch groß, o Kebes, sagte er, und treffliche Männer sind darin, und groß sind auch die Geschlechter der Barbaren, die ihr alle durchsuchen müßt, um einen solchen Besprecher zu finden, ohne weder Geld zu scheuen noch Mühe. [Hervorhebung R. E.]« 31

30 31

Clemens von Alexandrien, Mahnrede an die Hellenen (Protrepticus), 69. Platon, Phaidon, 77e f.

34 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Asien und das antike Griechenland

Hier empfiehlt niemand Geringeres als Sokrates selbst kurz vor seinem Tode, sich Gesprächspartner für eine zentrale philosophische Frage nicht nur bei den Griechen zu suchen, sondern auch bei den Orientalen, die damals gesammelt als Barbaren bezeichnet wurden. Hier zeigt sich im Text ein klares und deutliches Bewusstsein von den positiven Möglichkeiten, die eine Auseinandersetzung mit den Griechenland umgebenden Denktraditionen bereits für Platon gehabt hat. Platon selbst, so überliefert es eine alte europäische Tradition, soll nach Ägypten gereist sein, um dort von bedeutenden Lehrmeistern in ein geheimes Wissen eingeführt worden zu sein. Bei den Schülern Platons gibt es zudem Hinweise darauf, dass diese sich aktiv mit den orientalischen Traditionen auseinandergesetzt haben. Die Geschichte der Überlieferungen in verschiedenen europäischen Texten zu den Verbindungen von Griechenland mit den älteren und umliegenden Kulturen ist inzwischen von Udo Reinhold Jeck aufgearbeitet worden. In seinem enzyklopädisch angelegten Werk Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition aus dem Jahr 2004 verfolgt er die genannten Motive bis in den Deutschen Idealismus hinein. Er trägt zunächst »Aegyptica«, »Persica«, »Babylonica«, »Assyrica«, »Phoenicia«, »Hebraica« und »Indica« in zahlreichen Dokumenten für die Zeit der Antike zusammen. Daran anschließend rekonstruiert er die genannten und weitere Einflüsse für den Bereich der lateinischen Antike und des Mittelalters. Im dritten und letzten Teil wird die Periode von der Renaissance bis zum Deutschen Idealismus behandelt. Mit der klaren Aufmerksamkeit auf die orientalischen Motive von Ägypten bis Indien in der europäischen Philosophiegeschichte gelingt es Jeck, eine bisher wenig beachtete Überlieferungsgeschichte aufzudecken, die für die Philosophiegeschichtsschreibung von großer Bedeutung ist und eine deutliche Verschiebung in der Betrachtung der europäischen Denktradition erbringt. Bei diesen Verschiebungen geht es nicht darum, das Verdienst der europäischen Philosophie zu schmälern, sondern vielmehr darum, die Denkentwicklungen in ihren weitreichenden Verflechtungen wahrzunehmen. »Der ›orientalisierende Platonismus‹ zeigt sich demnach in seinen Dokumenten, die als zahlreiche gedruckte und bisher ungedruckte Texte unterschiedlicher Provenienz aus der Antike bis ins neunzehnte Jahrhundert hier vorliegen, als ein organisches Ganzes, das heißt, die neu zugänglichen und gesammelten Quellen besitzen aufgrund ihrer Thematik einen inneren Bezug und gehören durch diese spezifische Ausrichtung auch epochenübergreifend zusammen. Die Entdeckung dieser Tradition ist vollzogen, die wei-

35 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

tere Vertiefung und Erforschung ihrer Verzweigungen bleibt eine Aufgabe der Zukunft. Der orientalisierende Platonismus sollte im Rahmen der gegenwärtigen interkulturellen Philosophie die Beachtung finden, die er verdient.« 32

Jeck verfolgt in seiner Studie vor allem die Überlieferung des »orientalisierenden Platonismus« in der nachfolgenden europäischen Philosophiegeschichte. In dieser Traditionslinie scheint es selbstverständlich zu sein, dass die griechische Philosophie sich nicht gegen die, sondern im Zusammenhang mit den orientalischen und nordafrikanischen Kulturen entwickelt hat. Die Frage nach der Herkunft der griechischen Philosophie aus den älteren Kulturen wird in neuerer Zeit vor allem intensiv von Philosophierenden aus Afrika diskutiert. In diesen Debatten geht es um den Ursprung der europäischen Philosophie in Afrika. 33 Mit der Herausbildung der modernen afrikanischen Philosophie seit gut sechzig Jahren 34 haben sich Perspektiven für diesen Zusammenhang ergeben, die auch die griechische Philosophie und ihre Entstehung in neue geschichtliche Horizonte rücken. Spätestens mit diesen Diskussionen ist ein Denkraum markiert worden, der nicht nur die Verflechtungen zwischen Asien und Europa in den Blick treten lässt, sondern vielmehr nahelegt, Afrika, Asien und Europa als einen größeren Verflechtungszusammenhang zu sehen, so dass die Wortbildung »Afroeurasien« eine neue Perspektive für die hier vorgelegten verflechtungsgeschichtlichen Überlegungen öffnen kann. 35 Auch der nächste hier behandelte Denker, der im nordafrikanischen Alexandria geboren wurde, legt diese Erweiterung nahe.

Jeck, Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition, 545. Olela, From ancient Africa to ancient Greece. An introduction to the history of philosophy; Bernal, Black Athena. The Afroasiatic roots of classical civilization; Onyewuenyi, African Origin of Greek Philosophy: An Exercise in Afrocentrism; Asante, The Egyptian philosophers: ancient African voices from Imhotep to Akhenaten. Für die gesamte Diskussion vgl. Graness, Writing the history of philosophy in Africa: where to begin?; dies., Konzepte und Modelle der Philosophiegeschichte in Afrika heute. 34 Wiredu (Hg.), A Companion to African Philosophy. 35 Ich übernehme dieses Wort von Leonid E. Grinin und Andrey V. Korotayev: Grinin u. Korotayev, Origins of Globalization in the Framework of the Afroeurasian World-System History. Die Bezeichnung findet in der Geschichtswissenschaft und in der Welt-Systemtheorie bereits eine häufigere Anwendung, so dass durch die Erweiterung des Blicks lang Vernachlässigtes verstärkt in die Aufmerksamkeit treten kann. 32 33

36 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Plotin und Indien

2.

Plotin und Indien

Plotin (gest. 270) wird in vielen Darstellungen der Philosophiegeschichte unter »hellenistischer Philosophie« abgehandelt, die auch die Entwicklung des sogenannten »Neuplatonismus« umfassen, der gewöhnlich mit dem in Konstantinopel geborenen Proklos (411/12– 485) als beendet betrachtet wird. In anderen Einteilungen reicht der Zeitraum der »hellenistischen Philosophie« jedoch von Alexanders Tod bis zum Ende des Ptolemäerreichs in Ägypten im Jahr 30 v. u. Z. und der dortigen Machtübernahme des römischen Reichs, so dass der Neuplatonismus dann nicht mehr dazugehört. 36 Ähnliches gilt für die Bezeichnung »Hellenismus«, die von Droysen im 19. Jahrhundert für den zuletzt genannten Zeitraum eingeführt wurde. Bei den Historikern des 19. Jahrhunderts wird die Bezeichnung »Hellenismus« im Unterschied zur »originalen altgriechischen Kultur« des 5. und 4. Jh. v. u. Z. aufgebaut, wobei der Hellenismus als eine Mischkultur verstanden wird, die die schöpferischen Leistungen der originalen »griechischen Kultur« wieder verwischt. In diesem Bild wird übersehen, dass auch die griechische Kultur der klassischen Periode in hohem Maße eine Mischkultur war, wie weiter oben bereits angedeutet worden ist. Bei den Epochenbezeichnungen in Philosophie und Geschichtswissenschaft für diese Zeit ist eine gewisse Verlegenheit nicht zu übersehen. Man versucht mit »hellenistischer Philosophie« bzw. »Hellenismus« die Verbreitung und das Weiterwirken der klassischen athenischen Epoche zu fassen. Dabei bleibt der Blick aber eher auf einen vergleichsweise engen Bereich um Griechenland herum begrenzt, so dass die Entwicklungen dieser Zeit in weiten Bereichen Asiens bis nach Indien und Afghanistan gänzlich aus dem Blick geraten. Entweder müsste man den Hellenismus auf neue Weise deuten oder einen anderen Namen dafür finden. Das Erstere wird in der folgenden Charakterisierung des Hellenismus versucht: »Der Hellenismus ist dann auch hauptsächlich griechische Kultur auf vorderasiatisch-ägyptischem Boden. Die großen Zentren der hellenistischen Kultur heißen Alexandria, Antiochia, Pergamon, Ephesus; ihnen gegenüber tritt Athen sehr zurück, um von dem übrigen Griechenland zu schweigen. Die griechische Kultur setzte sich im Zweistromland fest und warf ein Netz von Kolonien und kleineren Kulturzentren über ganz Iran bis tief in Zen36

Vgl. Long u. Sedley, Die hellenistische Philosophie. Texte und Kommentare.

37 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

tralasien hinein. Griechische Kunst wandelte sich in indische um und streckte ihre Wirkungen bis nach China. Mit orientalischen Kulturen hat sich die griechische Kultur auseinandergesetzt, mit ihnen hat sie gerungen, sie hat sie beeinflußt und von ihnen ist sie befruchtet worden. […] Die eigentliche griechische Geschichte spielte sich im Orient ab.« 37

Einer dieser großen Orte war Alexandria, das von Alexander dem Großen neu gegründet worden war. Diese Stadt entwickelte sich schnell zu einem Zentrum der Philosophie und Gelehrsamkeit, in dem sich sehr verschiedene Einflüsse mischten. »Alexandria war eine weltoffene Stadt, die geradezu magnetisch Menschen aller Art aus aller Welt anzog. Vielleicht liegt hier ein Grund für die häufig aggressive Lage, die zudem von einem Grundakkord miteinander verfeindeter ethnischer Gruppierungen von erheblicher Größe geprägt war: Griechen, Juden, Ägypter und die erwähnten Fremden.« 38

Wir können in Alexandria schon vor der römischen Eroberung mit Menschen aus Persien, Kleinasien und Abessinien rechnen. Mit dem entstehenden Christentum treten auch Christen in Alexandrien auf, wie beispielsweise der bereits erwähnte Clemens von Alexandrien (um 150 – um 215), ein wichtiger griechischsprachiger Theologe der frühen Zeit. Plotin soll im Jahr 205 in Alexandria geboren und im Jahr 270 in der Nähe von Rom gestorben sein. Sein Schüler Porphyrios, der 233 in Tyros, einer der wichtigsten Städte Phöniziens, geboren wurde und zwischen 301 und 305 in Rom gestorben sein soll, hat eine Biographie zu Plotins Leben verfasst. Die Geburts- und Lebensorte der beiden Denker zeigen erneut, dass sehr wichtige Denker der europäischen Philosophie nicht in »Europa« geboren wurden, sondern aus dem »Orient« stammen. Nach den Angaben des Porphyrios begann Plotin im Jahr 232 in Alexandria Philosophie zu studieren, nachdem er länger nach einem geeigneten Lehrer gesucht hatte. Als er dem Hinweis eines Freundes folgend Ammonios Sakkas traf, blieb er bei diesem 11 Jahre für das Studium der Philosophie.

Nyberg, Das Studium des Orients und die europäische Kultur, 9 f. Siehe für weitere Zusammenhänge: Hellenism in the East. The interaction of Greek and non-Greek civilization from Syria to Central Asia after Alexander, hg. v. Kuhrt u. SherwinWhite; Geiger, Hellenism in the East. Studies on Greek Intellectuals in Palestine. 38 Clauss, Alexandria. Eine antike Weltstadt, 8. 37

38 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Plotin und Indien

»[…] als er bei diesem eintrat, und ihn sprechen hörte, da habe er zu dem Freund gesagt: ›das ist der, den ich suche‹. Und von jenem Tage an sei er ununterbrochen bei Ammonios geblieben und so tief in die Philosophie eingedrungen, daß er auch die bei den Persern und den Indern gebräuchliche und angesehene Philosophie kennenzulernen trachtete. Als daher der Kaiser Gordian sich anschickte gegen die Perser zu ziehen, begab er sich in sein Feldlager und zog mit – im Alter von schon 39 Jahren; […] als aber Gordian in der Gegend von Mesopotamien ermordet wurde, konnte er nur unter Schwierigkeiten entkommen und rettete sich nach Antiocheia durch; und als dann Philippus die Kaisermacht an sich riß, kam er, 40 Jahre alt, nach Rom.« 39

Diese kleine Passage in der Lebensbeschreibung Plotins und offensichtliche Ähnlichkeiten seines Denkens mit den upanischadischen Traditionen in Indien haben seit dem 19. Jahrhundert in der PlotinForschung zu der These geführt, dass sein Denken, vermittelt durch die Lehren des Ammonios, direkte Einflüsse aus der indischen Philosophie aufgenommen habe. Nach der Lebensbeschreibung Plotins hatten sich aber die Ammonios-Schüler Herennius, Origenes und Plotin gemeinsam dazu verpflichtet, »die Lehren des Ammonios geheim« zu halten. Dies taten sie zunächst, brachen aber später ihr Schweigen, wobei Plotin dann bekanntlich nicht einfach die Lehren des Ammonios aufgezeichnet hat, sondern seine eigene Philosophie entwickelt und niedergeschrieben hat. In den Allgemeinkenntnissen zur Geschichte der Philosophie in Europa ist das Indien-Motiv bei Plotin nur wenig bekannt. Es wurde aber auch von vielen europäischen Plotin-Forschern strikt zurückgewiesen, so dass Plotin im engsten Sinne als »griechischer« Denker gilt, der die Philosophie Platons weiterentwickelt hat. Bevor ich einige Ausschnitte der Diskussion um das Thema »Indisches bei Plotin« in Erinnerung rufen möchte, sollen zuvor noch andere Stimmen zu Wort kommen, um zu zeigen, dass »Indisches« im damaligen philosophischen Bewusstsein durchaus als geläufiger Topos angesehen werden muss. In der Lebensbeschreibung erwähnt Porphyrius, dass Plotin in seinen Vorlesungen Kommentare verschiedener Denker verlesen ließ. Unter denen, die namentlich genannt werden, ist Numenios, 40 der im 2. Jahrhundert n. u. Z. als Philosoph gewirkt haben und aus dem Gebiet des heutigen Syriens stammen soll. Seine Bücher sind 39 40

Porphyrios, Über Plotins Leben, 7. Porphyrios, Über Plotins Leben, 31.

39 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

zwar verloren, aber seine Gedanken sind durch andere, z. B. Eusebios von Caesarea, überliefert. Nach den Fragmenten bekennt sich Numenios dazu, dass es eine einheitliche Weisheitslehre gegeben hat, die nicht nur die griechischen Philosophen (vor allem Pythagoras und Platon) umfasst, sondern auch die Brahmanen, Juden, Magier (Perser) und die Ägypter. Er selbst galt als Philosoph in der pythagoreischen Tradition, wurde aber auch ein wichtiger Vorläufer der Neuplatoniker. 41 Bei Eusebios finden wir ihn in folgender Weise wiedergegeben: »Also from the Pythagorean philosopher himself, I mean Numenius, I will quote as follows from his first book On the Good: ›But when one has spoken upon this point, and sealed it by the testimonies of Plato, it will be necessary to go back and connect it with the precepts of Pythagoras, and to appeal to the nations of good repute, bringing forward their rites and doctrines, and their institutions which are formed in agreement with those of Plato, all that the Brachmans, and Jews, and Magi, and Egyptians arranged.‹« 42

Im Lichte dieser Äußerung wird verständlicher und wirkt es weniger ungewöhnlich, dass Plotin den Wunsch hatte, sich intensiver mit den indischen und persischen Ansätzen des Denkens auseinanderzusetzen. In dem Zitat kommt aber leider nur der Gedanke zum Ausdruck, dass die alten Philosophien alle einen gemeinsamen Kern besäßen, aber es wird nicht davon gesprochen, wie genau diese Inhalte der einzelnen Ansätze ausgesehen haben. Es wäre ja von großem Interesse zu wissen, wie sich die antiken Denker den Inhalt des indischen Denkens, das vor allem mit den »Brahmanen« identifiziert wurde, vorgestellt haben. Glücklicherweise hat die Überlieferung ein Buch des Hippolytus von Rom erhalten, der um 170 geboren und um 235 gestorben sein soll, in dem ein Abschnitt konkretere Angaben zu den Inhalten indischer Philosophie erhält. In Buch eins lautet der Abschnitt 24 dort wie folgt: »Bei den indischen Brahmanen gibt es eine Schule von Philosophen, die ein einfaches Leben führen, sich tierischer und am Feuer bereiteter Nahrung enthalten, mit Baumfrüchten vorliebnehmen, aber auch diese nicht pflücken, sondern nur die zu Boden gefallenen sammeln und damit ihr Leben fristen und aus dem Flusse Tagabena trinken. Sie tragen keine Kleider mit

Alt, Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin. 42 Eusebius of Caesarea, Praeparatio Evangelica (Preparation for the Gospel). 41

40 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Plotin und Indien

der Begründung, der Leib sei zur Kleidung für die Seele von Gott geschaffen. Sie sagen, Gott sei Licht, nicht ein sichtbares, wie die Sonne oder das Feuer, sondern ihnen ist Gott Logos (Wort), nicht das artikulierte, sondern das Wort der Erkenntnis, durch das die Weisen die Geheimnisse der Natur schauen. Dies Licht kennen die Brahmanen allein, weil sie allein den eitlen Schein von sich getan haben, welcher das oberste Kleid der Seele ist. Sie achten den Tod für nichts. Unaufhörlich loben sie Gott unter dem schon erwähnten eigenartigen Namen und lassen Hymnen erklingen; sie haben keine Frauen und zeugen keine Kinder. Diejenigen, die ebenso leben wollen wie sie, kommen vom jenseitigen Flußufer herüber, bleiben bei ihnen, um nicht mehr zurückzukehren; auch sie heißen dann Brahmanen. Doch ist ihre Lebensführung nicht die gleiche. Denn es gibt auch Frauen in dem Lande, von denen die dortigen Bewohner stammen und durch die sie sich fortpflanzen. Der Logos, den sie Gott nennen, ist nach ihnen körperlich, außen von einem Körper umgeben, wie wenn einer eine Hülle aus Schaffell trägt; wenn er aber seine Körperhülle ablegt, wird er den Augen sichtbar. Die Brahmanen behaupten ferner, es finde ein Kampf in ihrem Leibe statt, ja daß ihre Leiber voller Kämpfe seien; sie müßten wie gegen Feinde in Reih und Glied kämpfen, wie wir es schon dargetan haben. Alle Menschen sind, wie sie sagen, Gefangene der ihnen angeborenen Feinde, des Bauches, der Scham, der Kehle, des Zornes, der Freude, des Schmerzes, der Begierde und dergleichen. Der allein kommt zu Gott, der den Sieg über sie davongetragen hat. Deshalb nennen die Brahmanen den Dandamis, zu dem Alexander, der Makedonier, kam, Gott, weil er in dem Kampf mit dem Körper Sieger geblieben ist, und setzen den Kalanos herab, weil er ruchlos ihrer Weisheit den Rücken gekehrt hat. Haben die Brahmanen den Leib von sich getan, so schauen sie, wie auftauchende Fische, die Sonne in ihrer Klarheit.« 43

Hier bündeln sich verschiedene Motive, die an einzelnen Stellen auch an den Platonismus erinnern. Es ist somit nicht ganz ausgeschlossen, dass in der damaligen Welt noch ausführlichere Darstellungen zur indischen Philosophie, aber auch anderer orientalischer Lehren im Umlauf waren. Zudem darf wohl auch nicht unterschätzt werden, was mündlich mitgeteilt und überliefert wurde. Für die Zeit vor Plotin kann jedenfalls festgehalten werden, dass es eine durchaus gängige These war, dass sich ausgehend von einer Urphilosophie, die sich nicht nur bei den Griechen, sondern auch bei den Indern, Persern, Ägyptern, Juden usw. findet, die Weisheit verbreitet hat. Als zwei weitere Namen, die diese Lehre mit kleinen Abweichungen ver-

43

Hippolytus von Rom, Widerlegung aller Häresien (Refutatio omnium haeresium).

41 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

treten, können hier Lukian 44 und Kelsos 45 aus dem 2. Jahrhundert n. u. Z. genannt werden, von denen entsprechende Äußerungen überliefert sind. Vor diesem Hintergrund erscheint der Wunsch Plotins, nach Indien und Persien zu reisen, naheliegend und fast selbstverständlich. Dies anzuerkennen war aber für viele philosophiegeschichtliche Forscher im 19. und 20. Jahrhundert häufig nicht einfach, da nach ihrer Meinung mit der Anerkennung dieser historischen Bezüge auch die Rationalität der europäischen Philosophie selbst in Frage gestellt worden wäre: »The debate for and against Eastern sources of Plotinus’s thought was equated with a debate for and against the ›purity‹ of his philosophy. It was generally assumed that Greek tradition stood for clarity of thought, rationalism, objectivity and philosophical respectability. Anything coming from ›the East‹ was somehow a contaminating impurity, had overtones of superstition, mysticism, irrationalism and Schwärmerei. To admit ›oriental influences‹ on anyone was tantamount to besmirching his good name.« 46

Im 20. Jahrhundert vertritt – gegen die allgemeine Tendenz – als erster Antike- und Plotin-Forscher der Franzose Emil Bréhier die These,

Lukian lässt die Philosophie sagen: »Philosophie: Ich schwang mich nicht zuerst nach Griechenland herab, sondern ich wollte zuvor, was mir das Schwierigere schien, zu Stande bringen, nämlich die Barbaren belehren und bilden. Indem ich also die Griechen, die ich mit Leichtigkeit mir unterthan zu machen und an meinen Zaum zu gewöhnen hoffte, vorerst überging, begab ich mich zu den Indiern, dem zahlreichsten Volke auf der Erde, das ich ohne viele Mühe dazu brachte, von seinen Elephanten herabzusteigen und sich zu mir zu halten, so daß jetzt sogar ein ganzer Stamm desselben, die Brachmanen, Nachbarn der Nechräer und Oxydraken, sich mir ganz und gar zu eigen gegeben haben, ihr Leben nach meinen Vorschriften einrichten, auch eine besondere Weise haben, aus der Welt zu gehen: weswegen sie von allen umwohnenden Nationen in hohen Ehren gehalten werden.« Lucian’s Werke, übers. v. Pauly, Dreizehntes Bändchen, Die Entlaufenen. 45 Die Lehre ist bei Origenes überliefert in dem Text Contra Celsum. Dort lesen wir im 1. Buch, 14. Abschnitt: »Celsus nimmt ›bei vielen Völkern das Vorhandensein einer Glaubensverwandtschaft‹ an und zählt alle die Völker bei Namen auf, die nach seiner Ansicht ursprünglich eine solche Glaubenslehre gehabt haben. […] Man höre nämlich den Celsus reden: ›Es ist eine alte, aus früheren Zeiten stammende Lehre, womit sich stets die weisesten Völker und Städte und weise Männer beschäftigt haben.‹ Die Juden aber wollte er nicht als eines ›der weisesten Völker‹ bezeichnen oder auch nur ungefähr ›den Ägyptiern, Assyriern, Indern, Persern, Odrysen, Samothrakern und Eleusiniern‹ in diesem Punkt an die Seite stellen.« http://www.unifr.ch/bkv/ kapitel137–13.htm. 46 Wolters, A Survey of Modern Scholarly Opinion on Plotin and Indian Thought, in: Neoplatonism and Indian Thought, hg. v. Harris, 295. 44

42 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Plotin und Indien

dass bestimmte Gedanken bei Plotin dem griechischen Denken entgegengesetzt bzw. dort nicht zu finden seien und daher angenommen werden könne, dass er durch die indischen Upanishaden beeinflusst sei, wo all diese Gedanken zu finden seien. 47 In den 1930er Jahren wurde dieser These sogleich widersprochen von Arthur Hilary Armstrong, der sie zunächst wie folgt zusammenfasst: »To define M. Brehier’s position more closely; he holds that Plotinus’ radical innovation was a complete abandonment of the traditional Platonic and Aristotelian view of an objectively existing intelligible world knowable by discursive reason (a view which was in fact also tacitly accepted by Stoicism) for a philosophy in which the distinction between subject and object becomes meaningless. The essential feature of this philosophy is the denial of the reality of all limitation of the self, of all individual personality. The self and the One and Infinite Reality are one and the same. Hence there is no place for discursive reason, for division and classification in the intelligible world, for an arduous ascent of the soul to the truth by a long process of reasoning. All that is necessary is that the soul should turn in upon itself and recognize that it is the One Being. This idea obviously excludes not only the normal Greek rationalism but the popular Oriental religions of Plotinus’s time, with their saviours and mediators between man and a transcendent God. The origin of this revolutionary innovation M. Brehier finds in the Indian philosophy of the Upanishads.« 48

Amstrong versucht in seinem Text ausführlich zu zeigen, dass alle Auffassungen Plotins auch aus älteren griechischen Ansätzen hätten entwickelt werden können. Gleichwohl sagt er auch ganz zu Anfang, dass die Position Bréhiers nicht völlig unmöglich sei, er aber die Argumentation nicht überzeugend finde. Betrachtet man die Struktur dieser Auseinandersetzung, so fällt auf, dass Bréhier und Amstrong von der Dichotomie zwischen Griechenland und Indien ausgehen. Der eine sieht einen deutlichen Einfluss von Indien auf Plotin und der andere versucht Plotin soweit es geht als einen »rein« griechischen Denker zu »retten«. Beide Positionen sind aufgrund der einfachen Entgegensetzung problematisch. Zum einen wird Plotin vermutlich zu wenig Konkretes über die Upanishaden gewusst haben, um sagen zu können, dass bestimmte Gedanken aus diesen Texten stammen. Zum anderen ist aber auch fraglich, was genau das »rein« 47 48

Bréhier, La philosophie de Plotin, Kapitel 7, L’orientalisme de Plotin, 107–133. Armstrong, Plotinus and India, 22–28.

43 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

griechische Denken sein soll. Wie bereits gezeigt wurde, ist griechischsprachiges Denken in vielerlei Verflechtungen mit den orientalischen Sprachen und Kulturen entstanden. Johan Fredrik Staal, der eine sehr detaillierte Diskussion der Positionen bis 1962 vorlegt, tendiert daher insgesamt zu einer vorsichtigeren Position: »Our general conclusion is that it will be the task of future research on the question of Indian influence on Neoplatonism to find aspects of Neoplatonism which cannot be understood against the background of the Greek tradition. In the light of recent research, however, where the six centuries between Plato and Plotinus are no longer neglected, it seems unlikely that such aspects can be found. If they will be nevertheless found and if they are derivable from ideas occurring in the Upanisads, it will, in the light of the research of Filliozat, be very likely that the Upanisads influenced Plotinus. Apart from this it remains very well possible that Plotinus knew something of Upanisadic doctrines and was aware of their similarity to his own ideas. Another question, with which we have not occupied ourselves, is, whether Plotinus’ Greek predecessors, and thus he himself indirectly, were influenced by any aspects of Indian thought. In the case of Plato this is at any rate very unlikely. But in the case of the Pre-Socratics it is possible, though we can at present not say anything more definite about it.« 49

Staal setzt somit auf einen behutsamen Vergleich, ohne von einer direkten Einflussnahme indischer Philosophie auf Plotin sprechen zu müssen. Er gibt zudem zu bedenken, dass die Einflüsse ja nicht nur bei Plotin selbst, sondern auch schon viel früher angenommen werden können. Der Text zu Plotin und Indien ist ein Appenix zu Staals Buch Advaita and Neoplatonism. A Critical Study in Comparative Philosophy. Dort legt Staal eine ausführliche Darlegung der Positionen Plotins im Vergleich mit bestimmten Gedanken der Upanishaden vor. Durch diese ausführlichen Vergleiche zeigen sich Affinitäten und Entsprechungen, die in der vergleichenden Betrachtung ins Auge springen und mit denen weitergearbeitet werden kann. In deutlich stärkerem Maße argumentiert Heinz Robert Schlette, dessen Text im gleichen Jahr wie Staals erschienen ist, für eine indische Beeinflussung Plotins: »Fassen wir zusammen: Die Untersuchung einiger zentraler Motive des indischen Denkens in Gegenüberstellung zu Plotin hat ergeben, daß wir im Sinne der vergleichenden Geistes- und Denkgeschichte durchaus berechtigt Staal, The problem of Indian influence on Neoplatonism (Appendix), in: ders., Advaita and Neoplatonism, A Critical Study in Comparative Philosophy, 249.

49

44 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Plotin und Indien

sind, von ›Indischem bei Plotin‹ zu sprechen. Dies gestattet es – wie gesagt – nicht, aus Plotin einen indischen Denker zu machen. […] Wenngleich man also Übertreibungen zurückweisen muß, so besteht andererseits keine Möglichkeit, die sachliche und spirituelle Affinität in Abrede zu stellen. Die aufgezeigten Berührungspunkte können auch nicht rein ›punktuell‹ ausgelegt werden, sondern man wird sagen müssen, daß sie das Zentrale des indischen wie auch des plotinischen Denkens betreffen und somit eine innere Verwandtschaft aufdecken, die enger ist, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint.« 50

Man könnte nun fragen, was genau mit dem »Indischen« gemeint ist, und kritisieren, dass auch hier noch eine Dichotomisierung vorgenommen wird, die nicht angemessen ist. Durch die Diskussion wird erneut nahegelegt, für die Philosophiegeschichtsschreibung eine innovative geographische Einteilung und Bezeichnung einzuführen, die es erlaubt, einen Raum der philosophischen Verflechtung zu bezeichnen, der vor allem die Asien-Europa Opposition aufhebt. Ein in den Sprachwissenschaften geläufiger Name ist die »indoeuropäische Sprachfamilie«. Würde man von dem indoeuropäischen Entwicklungsraum von Philosophie zwischen 1500 v. u. Z. bis 1492 n. u. Z. 51 sprechen, so hätte man zwar einen kontinuierlichen Denkraum eröffnet, der sich vom frühen Indien bis zum Ende der europäischen Expansion erstreckt. Problematisch ist jedoch bei dieser Bezeichnung, dass der semitische, ägyptische und nordfrikanische Bereich nicht ausreichend mit einbezogen sind. Mir scheint auch hier die Bezeichnung »Afroeurasien« bzw. »afroeurasischer« Entwicklungsraum der Philosophie eine bessere Lösung sein, da in diese Bezeichnung auch Afrika in gleicher Weise mit einbezogen ist und sich somit ein neuer Zeitraum ergibt, der von ca. 3000 v. u. Z. bis 1492 n. u. Z. reicht. 52 Wichtig bei diesen Überlegungen ist, dass es sich dabei nicht um eine »Epoche« handelt, sondern um die geographische Bestimmung von Verflechtungsräumen, in denen sich vielfältige Epochen und Einzel-

Schlette, Indisches bei Plotin, 191. Die erste Zahl ergibt sich aus den Anfängen der vedischen Kultur in Indien. Die Zäsur 1492 ergibt sich aus dem Beginn der europäischen Expansion, wodurch eine globale Verflechtungsgeschichte ihren Anfang nimmt, die aus europäischer Sicht nicht mehr nur auf Europa, Asien und Afrika beschränkt ist. 52 Der Zeitraum beginnt dann etwa mit dem Alten Reich in Ägypten. Auch nach dem Beginn der europäischen Expansion kann zwar der Verflechtungsraum »Afroeurasien« als ein Zusammenhang betrachtet werden, wobei dann aber auch die transatlantischen Beziehungen einzubeziehen sind. 50 51

45 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

geschichten unterscheiden lassen, die aber immer auch in ihrer Verflechtung betrachtet werden müssen. Abgesehen von einer alternativen Bezeichnung scheint es dringend nötig, ein neues Bild von den frühen Entwicklungen des Denkens in Indien bis zum Ende des römischen Reiches zu entwerfen. In den neueren Forschungen zu Plotin und Indien zeichnet sich ab, dass die vielfältigen Verflechtungen, die inzwischen durch die verschiedenen Forschungen ans Licht gebracht wurden, als selbstverständlich angesehen werden: »1. Insofar as Plotinus is a Hellenist, he is under heavy Oriental influence. This applies to his teacher Ammonius Saccas also. This is particularly evident in Numenius the Neo-Pythagorean of Apamea (2nd century), with whom Plotinus shared many ideas. It is even more evident in the thought and practice of Plotinus’ successors in the Neoplatonic tradition. 2. The attempt to make Plotinus totally independent of Oriental influences seems more of an Occidental prejudice than a scholarly proposition based on the evidence. The West cannot lay any such monopoly claims to Plotinus. He belongs to the heritage of the whole of humanity, and he is rejected mainly by dualist Christians and by devotees of the European Enlightenment’s persistent superstition, the exclusive reliance on Critical Philosophy. Plotinus never belonged to the isolated Occident which in fact never existed. European culture developed historically by heavy borrowing from Babylon, India, Syria and Egypt, perhaps also from Iran and Palestine, and Plotinus drank deeply from that composite, creative, cosmopolitan culture of the Mediterranean, which today belongs to the world’s common heritage.« 53

Würden wir den afroeurasischen Denk- und Verflechtungsraum ernst nehmen, so würden daraus neue Forschungs- und Interpretationsmöglichkeiten erwachsen. Der Antikeforscher Pierre Hadot, der sich lange gegen komparative Ansätze gewehrt hat, kam am Ende seines Forscherlebens doch zu folgender Einsicht: »Wie bereits erwähnt, war ich der komparatistischen Philosophie gegenüber lange feindselig eingestellt, weil ich dachte, daß sie Verwirrung stiften und zu willkürlichen Annäherungen führen könnte. Beim Lesen der ArbeiGregorios, Does Geography Condition Philosophy? On Going Beyond the Occidental-Oriental Distinction, in: Neoplatonism and Indian Philosophy, hg. v. ders., 20 f. Für die bisher umfangreichsten Vergleiche zwischen den Philosophien im alten Griechenland und Indien, bei denen auch die historischen Verflechtungen einbezogen und diskutiert werden, vgl. McEvilley, The Shape of Ancient Thought. Comparative Studies in Greek and Indian Philosophies.

53

46 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

ten meiner Kollegen […] scheint es mir aber heute, daß es wirklich erstaunliche Analogien zwischen den philosophischen Haltungen der Antike und des Orients gibt. Diese Analogien können nicht mit historischen Einflüssen erklärt werden, erlauben aber all das vielleicht besser zu verstehen, was in den philosophischen Verhaltensweisen, die sich so gegenseitig erhellen, impliziert sein kann. […] Daher habe ich oben einen buddhistischen Text und auch einen vom Buddhismus inspirierten Text von Michel Hulin erwähnt, weil ich annahm, daß sie uns helfen könnten, das Wesen des griechischen Weisen besser zu fassen.« 54

Würden man die unberechtigte Skepsis ablegen und den Versuch machen, den afroeurasischen Denk- und Verflechtungsraum von 3000 v. u. Z. bis 1492 n. u. Z. als einen kreativen Raum vielfältiger Verflechtung anzusehen, so würde sich das Bild von der Herkunft Europas grundlegend verändern. Ob dieses veränderte Bild heute schon an der Zeit ist, bleibt abzuwarten. Die Forschungen der letzten hundert Jahre lassen jedoch kaum noch einen anderen Schluss zu, wie auch der folgende Abschnitt zeigt.

3.

Buddhismus und das antike Griechenland: Das Milindapanha und die ersten Bildnisse Buddhas

Als um das Jahr 326 v. u. Z. Alexander der Große (356–323) seinen Indienfeldzug in Gang setzte, bahnte sich eine Phase intensiver Begegnung griechischer und nordindischer Kultur an. 55 Dieses Ereignis veränderte nicht nur das Selbstverständnis der Griechen nachhaltig, sondern es verbreitete auch die griechische Stadtkultur von Griechenland bis nach Indien: »Der Feldzug Alexanders des Großen veränderte die Welt wie kaum ein anderes Ereignis der Alten Geschichte. Unendlich viel ist über diesen Vorgang und die Person des Makedonenkönigs geschrieben worden. Diese Literatur reicht von der legendären Verklärung Alexanders in einer reichen Erzähltradition bei vielen Völkern des Ostens und Westens bis hin zu den Versuchen der modernen Wissenschaft, das Phänomen Alexander historisch, soziologisch, psychologisch oder wie auch immer zu erklären.« 56

Hadot, Wege zur Weisheit – oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?, 318 f. Vgl. Alexander in Indien. 327–325 v. Chr., hg. v. Hahn. 56 Dihle, Die Veränderung des griechischen Weltbildes durch den Alexanderzug, in: ders., Die Griechen und die Fremden, 54. 54 55

47 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

In den 1960er und 70er Jahren wurde im Norden des heutigen Afghanistan die einzige bisher erhaltene griechische Stadt im östlichsten Teil des Alexanderreichs ausgegraben, die heute den Namen Ai Khanoum trägt. Bei den Ausgrabungen wurde deutlich, dass die Stadt wie eine griechische Polis aufgebaut war, versehen mit einem Theater, einem Gymnasion, Inschriften von Weisheitssprüchen des Delphischen Orakels, einem großen Festsaal usw. Es lässt sich sogar vermuten, dass gelegentlich Philosophen und Rhetoren aus Griechenland in diese Stadt gekommen sind. 57 Die archäologischen Funde zeigen, dass ein reges griechisches Leben in diesen Städten herrschte, das sicher auf das Umfeld ausstrahlte. Auf diese Weise verbreitete sich die griechische Lebensweise über weite Gebiete, was sich allerdings vor allem auf die Städte beschränkte. »Einmal sind hier die zahllosen griechischen Städte zu nennen, die er [Alexander] im Verlauf seiner Züge zwischen Anatolien und Indien, Ägypten und Afghanistan gründete. Daß sie sich durchweg auch dort, wo sie isoliert in einem großen Territorium mit nichtgriechischer Bevölkerung lagen, zu dauerhaften politischen Gemeinwesen und attraktiven Zentren griechischer Lebensweise entwickelten, läßt sich zwar nur mit der schon lange vor Alexander einsetzenden Einwanderung von Griechen in den Orient erklären. Doch verstärkte sich diese Einwanderung natürlich als Resultat des Alexanderzuges, so daß es von Anfang an gewiß nicht nur entlassene Soldaten waren, die die neuen Städte bevölkerten. Die Nachfolger Alexanders setzen die Städtegründungen in ihren Teilreichen fort. Damit war die Grundlage für eine eigentümliche Symbiose griechischer Stadtbewohner und nichtgriechischer Landbewohner geschaffen. Die griechische Stadt mit ihrem sozialen kulturellen Leben – man danke an die Theater, Bäder, Bibliotheken, Gymnasien, Feste, Wettspiele – war für die Umwohner ein Gegenstand des Befremdens oder des ständigen Anstoßes und, auf der anderen Seite, von unwiderstehlicher Anziehungskraft.« 58

Auf seinem Zug nutzte Alexander das gesamte ihm damals zur Verfügung stehende Wissen, um so weit vorzudringen, wie es bis dahin noch kein Grieche getan hatte. Er brachte aber von seinen Zügen auch viel Wissen mit nach Griechenland, das direkt in die damaligen Texte einfloss. So sind die Historia animalium des Aristoteles angereichert durch Wissen, das bis nach Indien reicht. Wenn Aristoteles im Buch IX (610a 19) über Elefanten spricht, die von den Indern auch für den Ebd., 146. Dihle bezieht sich auf einen Bericht von Robert, De Delphes à l’Oxus, inscriptions grecques nouvelles de la Bactriane, 442 f. 58 Dihle, Die Veränderung des griechischen Weltbildes, a. a. O., 59 f. 57

48 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

Krieg eingesetzt werden, so zeigt sich hier der direkte Bezug zu Alexander. Von den vielen Begegnungen zwischen Griechen und Menschen im östlichen Teil des Alexanderreichs, die auch jenseits der Kriegshandlungen stattgefunden haben müssen, ist nur wenig überliefert. In der reichen Literatur über Alexander, dem sogenannten »Alexanderroman«, 59 sticht aber eine Begegnung besonders hervor. In der Überlieferung zu Alexander taucht immer wieder sein Kontakt zu einem Brahmanen auf, mit dem er entweder direkt gesprochen oder in einem Briefwechsel gestanden haben soll: »Die Überlieferung über die Brahmanen oder Gymnosophisten läßt sich bis auf Onesikritos und andere Alexanderhistoriker zurückverfolgen. Der ausführlichste Bericht stammte von jenem kynischen Philosophen, der im Jahre 326 von Alexander zu den Gymnosophisten, die bei Taxila lebten, geschickt worden war, und über seine Unterredung mit ihnen gab er eine genaue Darstellung, die auch bei Strabon (15, 714 ff.) und Plutarch (Al. 65, vgl. Arrian 7, 2, 2) benützt ist. Als Grund für seine Sendung hatte Onesikritos den Wunsch des Königs angegeben, die Weisheit der Brahmanen kennenzulernen, und ihre Weigerung, selbst zu Alexander zu kommen. Namentlich waren von ihm Dandamis, der älteste und weiseste, genannt worden […]. Dieser Onesikritos-Bericht liegt zum Teil, aber umgestaltet, auch bei Megasthenes vor, der u. a. von einem Botenverkehr zwischen Alexander und Dandamis erzählt. […] Eine dritte Überlieferung ist ebenfalls in kynischen Kreisen entstanden, das ›Alexandergespräch‹ […]. Hier tritt uns im Gegensatz zur Onesikritos-Überlieferung eine alexanderfeindliche Stimmung entgegen. Dort zeigte sich Alexander […] als der nach Weisheit Strebende auf dem Thron, im ›Alexandergespräch‹ ist er der Eroberer, der der Weisheit der Brahmanen unterliegt. Es handelt sich hier um gefangene Brahmanen, die in dem Frage- und Antwortspiel um ihr Leben kämpfen.« 60

Die Begegnung von Alexander mit dem »nackten Weisen« aus Indien ist in zahllosen Quellen überliefert und ausgeschmückt worden. 61 Wie in dem vorherigen Zitat deutlich wird, gehen aber die Bewertungen erheblich auseinander. Festzuhalten ist jedoch, dass die Texte des Alexanderromas zu den meistgelesenen und übersetzten Texten im Mittelalter gehörten, wozu auch der Bericht über das Gespräch AleVgl. Pfister, Der Alexanderroman mit einer Auswahl aus den verwandten Texten; Merkelbach, Die Quellen des griechischen Alexanderromans. 60 Pfister, Das Nachleben der Überlieferung von Alexander und den Brahmanen, 143 ff. 61 Steinmann, Alexander der Große und die »nackten Weisen« Indiens. Der fiktive Briefwechsel zwischen Alexander und dem Brahmanenkönig Dindimus, 32 f. 59

49 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

xanders mit dem indischen Weisen zählt. 62 Um einen kleinen Eindruck aus der Überlieferung zu geben, möchte ich an dieser Stelle aus dem Bericht des Arrian (um 85/90 – um 145/46) zitieren, der eine Geschichte Alexanders geschrieben hat und zudem einen ausführlichen Bericht über Indien. »Die Brahmanen, die indischen Stammes sind, sprechen so zu Alexander: Nach Weisheit verlangend kommst du zu uns. Gerne nehmen wir Brahmanen dies an; denn dies gilt bei uns als königliche Gesinnung. […] Mannhaftigkeit ist es nicht, Menschen zu töten; das ist das Werk eines Räubers. Mannhaftigkeit ist es vielmehr, mit nacktem Körper gegen die Unbilden der Witterung zu streiten und die Begierden des Leibes zu töten und in solchem Kampf zu siegen und sich nicht von den Begierden dazu zwingen zu lassen, nach Ruhm und Reichtum und Lust zu streben. Solche Feinde, besiege zuerst, Alexander, und töte sie. […] Wie viele sinnlose Tyrannen, glaubst du, herrschen im törichten Menschen? Das Gesicht, das Gehör, der Geruchsund Geschmackssinn, der Tastsinn, die Zunge und der Bauch, die Geschlechtsteile, der ganze Leib. Viele geben auch im Innern wie erbarmungslose Herrinnen und unersättliche Tyrannen endlos Befehle: die Begierden, Habsucht, Vergnügungssucht, Mordlust, Geschlechtstrieb, Blutgier, Geiz, Streitsucht. Diesen allen und noch vielen anderen dienen die Menschen, und ihretwegen morden sie und werden gemordet. Die Brahmanen, die in den Kämpfen mit den inneren Feinden gesiegt haben, gehen gestärkt daraus hervor und hören auf zu kämpfen.« 63

Der Tenor des Textes ist im Grunde nicht befremdlich, da er insbesondere mit bestimmten stoisch-platonisch-christlichen Askesevorstellungen und Lebensweisen in hoher Übereinstimmung zu stehen scheint. Der Kampf gegen die Sinne und die Begierden ist ein grundlegendes Motiv nicht nur der antiken Philosophie, sondern auch der christlichen Askese vor allem in Form mönchischer Lebensweisen. Es scheint hier ein Kontinuum zwischen Antike und Indien auf, das sich durch viele Vergleiche erhärten lässt. Es ist natürlich fraglich, ob bestimmte antike Vorstellungen den Bericht prägen oder ob die Berichte von den indischen Lebensweisen antikes Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. In bestimmten Berichten, wie in dem Gespräch mit Dindimus, werden die griechischen Philosophen als unzureichend angesehen und Alexander wird ausdrücklich eingeladen, den Weg der indischen Weisen zu gehen:

62 63

Ebd., 3. Pfister, Der Alexanderroman, a. a. O., 116 f.

50 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

»[Dindimus sagt:] Und was sollen wir über die Epikureer sagen? Männer, die von Salböl triefen und in weichlichen Weiberkleidung zierlich einherschreiten und mit wohlriechenden Salben die Luft verpesten? Und was soll man von den Stoikern sagen, den habgierigen Philosophen, und was schließlich von den Peripatetikern? Die sind ja alle groß und bewundernswürdig bei euch. […] Du aber, Alexander, der du zu den Indern in unsere Einöde gekommen bist, wenn du zu unseren Gedanken dich bekehren willst, wohne nackt bei uns; denn anders nehmen wir dich nicht auf.« 64

Der indische Weise fühlt sich in diesem Bericht dem Alexander und der griechischen Philosophie deutlich überlegen. Darüber, welche Motive und Absichten zu diesem Bild in der Berichterstattung geführt haben, kann nur spekuliert werden. Die Tradierung dieser Geschichte und ihre Ausschmückungen zeigen aber, dass ein verstärktes Interesse daran vorhanden war, das sich durchaus mit verschiedenen Tendenzen antiken Denkens begründen und verstehen lässt. Auch wenn das Großreich Alexanders nach seinem Tode schnell wieder zerfiel, so wurden dennoch in dieser Zeit auf verschiedenen Ebenen neue Verflechtungen in Gang gesetzt, die in der Zeit nach Alexander nicht nur in Nordindien, sondern auch in Europa wirksam wurden. 65 Noch zu Lebzeiten des Alexander war der griechische Geschichtsschreiber Megastenes (um 350 – um 290) tätig, der nicht nur ein großes Werk über Indien in griechischer Sprache schrieb, sondern auch als Gesandter am Hofe des indischen Königs Chandragupta Mauryas (vermutlich um 297 v. u. Z. gest.) wirkte. Dieser indische König begründete das Mauryareich (320–185 v. u. Z.) und stand in direkter Beziehung zu den griechischen Herrschern. Durch den dritten König des Mauryareiches Ashoka (304–232), der während seiner Amtszeit (ca. 268–232) zum Buddhismus konvertierte, erhielten die Verflechtungen auf indischer Seite weitere wichtige Impulse. In den berühmten, in Fels gemeißelten Edikten des Königs Ashoka, die über sein Reich verteilt errichtet wurden, wird deutlich, dass er eine genaue Vorstellung von den damaligen Herrschern bis hin nach Griechenland besaß. 66 In der Überlieferung ist sogar die Rede von fünf Ebd., 128 f. Bongard-Levin u. Karpyuk, Nachrichten über den Buddhismus in der antiken und frühchristlichen Literatur, in: Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters, hg. v. Funck, 701–712. 66 Für eine ältere Übersetzung der Edikte vgl. http://www.palikanon.com/diverses/ asoka/asok_ndx.htm. 64 65

51 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Gesandtschaften, die nicht nur nach Sri Lanka, sondern auch nach Athen geschickt worden seien. Leider besitzen wir von diesen Vorgängen insgesamt nur wenige Nachrichten, da die Quellenlage schlecht ist. Während der Regierungszeit des Ashoka hatte sich westlich des Mauryareiches das graeco-baktrische Reich stabilisiert, das im 3. und 2. Jahrhundert im heutigen Bereich von Afghanistan lag und die griechische Besiedlung seit Alexander fortsetzte. Auf dieses Reich folgte im 2. und 1. Jahrhundert dann das indo-griechische Reich mit seinem Zentrum in Gandhara, das ebenfalls im heutigen Afghanistan gelegen war. 67 Zur Zeit des Ashoka hatte sich der Buddhismus bereits in Nordindien weiter verbreitet, 68 wo er im 6. oder 5. Jahrhundert v. u. Z. in einem lebendigen, von verschiedenen religiösen und philosophischen Strömungen geprägten Umfeld entstanden war. 69 Auf Buddha geht die Gründung einer Mönchsgemeinschaft zurück, die auch nach dem Tode Buddhas weiter wuchs und sich von Nordindien bis nach Sri Lanka ausbreitete. Zunächst wurden die Lehren Buddhas mündlich tradiert und – soweit die Forschung Auskunft geben kann – ab dem 2. Jahrhundert v. u. Z. im sogenannten Pali-Kanon erstmalig schriftlich niedergelegt. 70 Vermutlich aus dem 2. oder 1. Jahrhundert v. u. Z. besitzen wir einen Text, dessen Überlieferung ab dem 3. Jahrhundert n. u. Z. als historisch gesichert angesehen werden kann, der ein Gespräch zwischen dem indo-griechischen König Menandros I. (er regiert ca. 165–130 v. u. Z. im Nordwesten Indiens) und dem buddhistischen Weisen Nāgasena wiedergeben soll. Der Text, der den Namen Milindapanha trägt, gibt von diesem interkulturellen Gespräch nicht nur oberflächliche Eindrücke wieder, sondern handelt von den Hauptlehren buddhistischer Philosophie, die dem indo-griechischen König auf seine Fragen hin in eingehender Diskussion erläutert werden. Ob das Gespräch tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Dennoch ist der Text sehr alt und hat auch in chinesischer Übersetzung nachhaltige Wirkungen geVgl. hierzu insgesamt: Woodcock, The Greeks in India. Darüber hinaus hatte er sich bereits bis in den Bereich Afghanistans verbreitet, so dass der Buddhismus von dort aus im 1. Jh. n. u. Z. weiter nach China vermittelt werden konnte. 69 Die Lebensdaten Buddhas sind in der Forschung umstritten. Zu den Daten, grundlegenden Informationen und weiterführender Literatur vgl. Schlieter, Buddhismus zur Einführung; von Brück, Buddhismus. Grundlagen – Geschichte – Praxis. 70 In deutscher Sprache ist der Kanon zugänglich unter: http://www.palikanon.com/. 67 68

52 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

zeigt. Das Buch hat zwar im Buddhismus keinen kanonischen Status, spielt aber dennoch als eine der frühesten Ausformulierungen der buddhistischen Lehre eine wichtige Rolle. Das Buch erschien 1905 erstmalig in deutscher Sprache, übersetzt von dem Indologen Friedrich Otto Schrader. Er übersetzte nur die Teile, die er für die ältesten hielt. In einem längeren Vorwort schilderte er die Lage der griechischen Könige in Indien, die in Folge der Alexanderfeldzüge dort unter anderem das griechisch-baktrische Königreich und dann unter Menandros das indisch-griechische Königreich regierten. Menandros, der in dem Buch unter dem Namen Milinda auftritt, war selbst schon nicht mehr in Griechenland geboren worden, sondern in Baktrien, so dass er wohl auch die Sprache der dortigen Bevölkerung beherrschte. Menandros wird im Milindapanha als wissbegieriger Herrscher dargestellt, der alle Möglichkeiten nutzt, um seine Lebensfragen zu klären. In dem Buch tritt er selbst aber nicht als Wissender, sondern als Fragender auf, so dass allein buddhistisches Gedankengut dargestellt wird, ohne jede Erwähnung der griechischen Philosophie. Daraus zieht Schrader den folgenden Schluss: »[…] in dem Werk sind spezifisch griechische Gedanken schlechterdings nicht zu finden. Denn die Tatsache, daß die philosophische und religiöse Literatur der Inder nicht eine Spur griechischen Einflusses aufweist, während ein solcher in den meisten übrigen Literaturzweigen sowie in der indischen Kunst längst entdeckt worden ist und während andererseits die hellenistische Philosophie wenigstens der späteren Zeit unverkennbar indischen Einfluß zeigt – diese Tatsache, meine ich, beweist, daß die Griechen sich auf diesem Gebiete als die Schwächeren gefühlt und den Indern untergeordnet haben. Aber auch, wer hiervon ganz absieht, wird zu dem gleichen Ergebnis kommen, wenn er sich vergegenwärtigt, wie gewaltig dem eindrucksfähigen Griechen (man denke an die ägyptischen Reisen Herodots und Platons) die Geschlossenheit, die Fertigkeit, die metaphysische Tiefe der indischen Systeme, vor allem des Buddhismus, der ja in jenen Gegenden herrschte, imponiert haben muß. Wenn er diese Literatur mit der seinigen verglich, so konnte ihm unmöglich entgehen, daß sie an metaphysischem Gehalt der griechischen ebensosehr überlegen war, wie sie in formeller Hinsicht hinter ihr zurückstand.« 71

Da das indische Denken, lässt man es mit den Veden beginnen, zur Zeit des Menandros eine über 1000-jährige Geschichte aufwies und 71

Schrader, Die Fragen des Königs Menandros, zitiert nach Zenon.de.

53 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

sich über Jahrhunderte vielfältige Schulen des Denkens mit hochdifferenzierten Terminologien in altindischen Sprachen entwickelt hatten, ist nicht auszuschließen, dass die Könige mit griechischem Hintergrund hochbeeindruckt waren von den Weisheiten und Argumentationen der indischen Schulen des Denkens. Auch wenn das Milindapanha inhaltlich nicht vom griechischen Denken beeinflusst wurde, so gehen Gelehrte davon aus, dass zumindest die Form ohne griechische Einflüsse nicht zu denken ist: »Griechische Einflüsse auf die Form der Darbietung früher buddhistischer Lehren sind daher als durchaus wahrscheinlich anzusehen. Für die Dialogform des Milindapanha darf ein formaler griechischer Einfluß fast als sicher gelten. Dies gilt jedoch nur für die Form, nicht für den Inhalt der darin vorgetragenen Lehren.« 72

Die Form des Textes ist bemerkenswert, da es sich um einen philosophischen Dialog handelt und in der Rahmenerzählung immer wieder auf die Debattier- und Argumentationskunst der Inder hingewiesen wird. Dies ist als literarische Darstellungsform für die damalige Zeit einmalig und findet sich im Buddhismus ansonsten unter den alten Texten nur selten. Dies bedeutet aber nicht, dass die Debattierkunst im alten Indien nicht gepflegt wurde. Im Gegenteil, sie verbreitete sich schon seit frühen Zeiten und entwickelte sich zunehmend mit der Ausdifferenzierung der indischen Systeme der Philosophie, zu denen auch der Buddhismus gehörte. 73 Ohne diese Gesamtthematik hier erschöpfen zu können, möchte ich im Folgenden einige Passagen aus dem Milindapanha zitieren bzw. darstellen, um einen kleinen Eindruck von dieser Perle der buddhistischen Literatur zu geben. Zu Anfang werden die Situation der Stadt und der König Milinda vorgestellt: »Einst im Lande der Griechen gab es eine Stadt mit Namen Sāgalā. Sie war ein Umschlagplatz für mannigfachen Handel, in entzückender Landschaft gelegen, geschmückt mit Flüssen und Bergen und war reich an Parkanlagen, Gärten, Hainen, Seen und Teichen. […] Dicht bevölkert war die Stadt und bewohnt von vielen Adeligen, Brahmanen, Bürgern und Dienern. Überall hörte man Willkommensrufe an Asketen und Priester der zahlreichen

Bechert, Einleitung, in: Milindapanha. Ein historisches Gipfeltreffen im religiösen Weltgespräch, 15 f. 73 Vgl. Mall, Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg. Eine interkulturelle Perspektive, 103 ff. 72

54 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

Schulen erschallen. Ja, die Stadt Sāgalā war der Sammelpunkt vieler großer, weiser Männer mit mannigfachem Wissen. […] Dort nun in der Stadt Sāgalā hatte der König Milinda seinen Sitz. Er war ein weiser, erfahrener, einsichtiger und befähigter Herrscher. Er beobachtete genau die Zeit für die Befolgung der sämtlichen Andachtsübungen und religiösen Riten, die vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Dinge betrafen. Auch viele Wissenschaften hatte er erlernt, als wie: die Überlieferung, das konventionelle Gesetz, die Sānkya-, Yoga-, Nyāya- und Vaiseshika-Philosophie, Arithmetik, Musik, Heilkunde, die vier Veden, die Purānen und die Legenden, Sternkunde, Zauberei, Logik, Beschwörungskunst. Kriegskunst, Dichtkunst und die Zeichensprache. Kurz gesagt: neunzehn Wissenschaften. 74 Bei sämtlichen Glaubensstiftern galt er als der bedeutendste Redner und als ein unvergleichlicher, unbesiegbarer Gegner. Und in ganz Indien gab es nicht einen, der dem König Milinda an Körperkraft, Schnelligkeit, Heldenmut und Wissen gleichgekommen wäre.« 75

König Milinda wird als umfassend gelehrt und diskutierfreudig dargestellt, dennoch plagen ihn Fragen und Zweifel in Bezug auf den Sinn des Lebens, so dass er an seine Berater die Frage stellt, ob es nicht einen Lehrer gebe, der es vermag, mit ihm zu diskutieren, um seine Zweifel zu lösen. »Auf diese Worte sprachen die fünfhundert Griechen zum König Milinda: ›Es gibt da, o König, sechs Meister: Pūrana Kassapa, Makkhali Gosāla, Nigantha Nāthaputta, Sanjaya Belatthaputta, Ajita Kesakambalī und Pakudha Kaccāyana.‹ Dieselben sind Häupter einer Gemeinde und Jüngerschar, einer Jüngerschar Lehrer, anerkannte und berühmte Glaubensstifter und von vielen hochgeachtet. Geh, König, und stelle jenen deine Fragen, damit sie dir deine Zweifel lösen!« 76

Die Geschichte berichtet dann weiter, wie Milinda mit drei der als weise gerühmten Personen diskutiert und ihnen Fragen stellt. In diese Passagen ist auch die Geburtsgeschichte von Nāgasena eingewoben und wie er langsam zu einem allseits gerühmten Lehrer heranwächst. Als die Gespräche mit den Weisen Milinda nicht zufriedenstellen, ist er enttäuscht und fragt abermals, ob es nicht einen Weise gebe, der seine Zweifel lösen könne: »Der König Milinda jedoch, der den ehrwürdigen Ayupāla stumm dasitzen sah, klatschte in die Hände und rief aus: ›Wahrlich, nichtig ist doch dieses Indische Wissenschaften in den Upanishaden: Vgl auch Desai-Breun, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben in Indien und Europa. 75 Milindapanha. Ein historisches Gipfeltreffen im religiösen Weltgespräch, 26 u. 28. 76 Ebd., 29. 74

55 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Indien! Einer leeren Hülse gleicht es. Denn nicht einen einzigen gibt es hier unter den Asketen und Priestern, der imstande wäre, mit mir zu diskutieren und meine Zweifel zu lösen!‹ Als aber der König die gesamte Schar der Griechen überblickte und bemerkte, wie sie alle so ganz ohne Zagen und Aufregung waren, dachte er: ›Zweifellos muß es da noch irgend einen anderen gelehrten Mönch geben, der imstande ist, mit mir zu diskutieren und meine Zweifel zu lösen, denn das dürfte wohl der Grund sein, weshalb diese Griechen gar nicht in Verlegenheit geraten.‹ Und er sprach: ›Gibt es denn wohl noch irgend einen anderen gelehrten Mönch, der imstande ist, mit mir zu diskutieren und meine Zweifel zu lösen?‹« 77

Im Anschluss an seine Frage wird der zentrale Protagonist der ganzen weiteren Geschichte vorgestellt als umfassend gelehrt und allseitig redegewandt: »Zu jener Zeit nämlich war gerade der ehrwürdige Nāgasena, nachdem er viele Dörfer, Städte und Residenzen durchwandert hatte, in Sāgalā eingetroffen und wohnte dort, zusammen mit zahlreichen Mönchen, in der Sankheyya-Klause. Er hatte eine Schar von Asketen um sich versammelt, war das Haupt einer Gemeinde und Jüngerschar, einer Jüngerschar Lehrer, anerkannt, berühmt und von vielen hochgeachtet, gelehrt, klug, weise, scharfsinnig und verständig, ein überzeugender Redner, voll Beherrschung und Selbstvertrauen. Er war im Besitze umfangreicher Kenntnisse, ein Kenner des Dreikorbes, vollendet im Wissen, von durchdringendem Verstande, mit der Botschaft wohl vertraut und hatte sich das Analytische Wissen zu eigen gemacht. Die neunfache Satzung des Meisters beherrschte er und hatte in der Lehre des ›Siegers‹ die Vollkommenheit erreicht. Mit Leichtigkeit verstand er, in den Sinn und Wortlaut der Lehre einzudringen. Von unversiegbarer, vielseitiger Schlagfertigkeit war er, ein vielseitiger Redner von edler Beredsamkeit, der schwerlich zu erreichen oder gar zu überflügeln, dem schwer zu widersprechen war, dem man nicht widerstehen und ihn nicht widerlegen konnte.« 78

Nach dieser längeren Vorgeschichte kommt es zu dem Treffen zwischen König Milinda und dem buddhistischen Weisen Nāgasena. Sie begrüßen sich freundlich und König Milinda fragt den Weisen nach seinem Namen. Dieser antwortet, dass er als Nāgasena bekannt sei und ihn seine Ordensbrüder mit diesem Namen ansprechen. Den letzten Teil seiner Antwort verbindet er aber mit einem Kernproblem der buddhistischen Lehre und sagt:

77 78

Ebd., 44. Ebd., 45.

56 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Buddhismus und das antike Griechenland

»[…] immerhin ist dies nur ein Name, eine Bezeichnung, ein Begriff, eine landläufige Ausdrucksweise, ja weiter nichts als ein bloßes Wort, denn eine Person ist da nicht vorzufinden.« 79

Diese Antwort verblüfft den König. Er fragt daraufhin sogleich zurück, wer es denn sei, wenn es keine Person hinter dem Namen Nāgasena gebe, der die »Sittenregeln erfüllt, die Geistespflege übt, Pfad, Ziel und Erlösung verwirklicht«? Bzw. wer es denn sei, »der tötet, stiehlt, ehebricht, lügt« usw.? Er vermutet dann, dass es vielleicht die »Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen« usw. seien, die Nāgasena sind, was jedoch vehement verneint wird. Im Anschluss daran werden dem König vier Fragen in den Mund gelegt, die direkt Inhalte der buddhistischen Lehre aufgreifen. Er fragt, ob Nāgasena »der Körper, oder das Gefühl, oder die Wahrnehmung, oder die Geistesformationen, oder das Bewußtsein« sei, oder ob er »vielleicht Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein (zusammen genommen)« sei, oder ob er »gar außerhalb von Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewußtsein« existiere, oder ob »das bloße Wort ›Nāgasena‹ schon der Nāgasena selber« sei. Bei den ersten fünf Elementen, die aufgezählt werden, handelt es sich um die sogenannten »fünf Daseinsfaktoren«, aus denen, nach den Analysen im Buddhismus, scheinhaft ein »Ich« bzw. eine »Person« entsteht. Die vier Fragen zielen darauf zu zeigen, dass die Existenz einer Person bzw. eines Ich weder aus den einzelnen Faktoren noch aus einer Zusammensetzung der Faktoren, noch außerhalb der Faktoren (z. B. als Idee) oder nur aufgrund eines Namens abgeleitet werden kann. Um das Problem zu verdeutlichen, führt Nāgasena dann das Beispiel des Wagens an, mit dem der König gekommen ist. In gleicher Weise, wie die Fragen hinsichtlich der Existenz einer Person gestellt wurden, werden sie nun in Bezug auf die Existenz des Wagens gestellt: Besteht die Existenz des Wagens in den einzelnen Teilen, oder alle zusammengenommen, oder außerhalb der Einzelteile oder nur in dem Namen? Nun macht sich Nāgasena fast ein wenig lustig über die Tatsache, dass der König mit einem Wagen gekommen ist, aber nicht angeben kann, was ein Wagen ist. Auf diese Weise zeigt Nāgasena, dass es unabhängig von den konventionellen Bezeichnungen für etwas und dem Wesen von etwas einen Bereich der Erfahrung gibt, der mit diesen Mitteln nicht zu erreichen oder in Worte zu fas-

79

Ebd., 50.

57 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

sen ist. Im Verlauf des Buches werden dann die verschiedenen Grundfragen buddhistischer Philosophie erörtert, so dass der König am Ende zum Buddhismus übertritt, und zwar weil er mit argumentativen Mitteln überzeugt worden ist. Dass es Nāgasena um die Praxis des Überzeugens anhand von Argumenten geht, wird gleich im Anschluss an das gerade geschilderte Gespräch sehr deutlich gesagt: »Der König sprach: ›Ehrwürdiger Nāgasena, möchtest du noch weiter mit mir diskutieren?‹ ›Wenn du nach Art der Weisen diskutieren willst, o König, dann wohl; willst du aber nach Art der Könige diskutieren, dann nicht.‹ ›Wie diskutieren denn Weise, ehrwürdiger Nāgasena?‹ ›Bei den Diskussionen der Weisen, o König, zeigt sich ein Auf- und Abwickeln (des Themas), Widerlegung und Entgegnung, Differenzierung und Gegendifferenzierung. Und doch geraten die Weisen dabei nicht außer sich. So, o König, diskutieren Weise.‹ ›Wie diskutieren nun aber Könige, ehrwürdiger Nāgasena?‹ ›Wenn Könige während einer Diskussion etwas behaupten und da irgend einer widerspricht, so geben sie den Befehl, diesen Menschen zu bestrafen. So, o König, diskutieren Könige.‹ ›So will ich denn, Ehrwürdiger, nach Art eines Weisen diskutieren und nicht nach der eines Königs. Mögest du, Ehrwürdiger, ganz unbefangen mit mir diskutieren! Mögest du genau so frei mit mir reden, wie du es etwa mit einem Mönch, Novizen, Anhänger oder Klosterdiener tun würdest! Du hast nichts zu befürchten.‹ […] Da dachte der König Milinda: ›Wahrlich, dieser Mönch ist weise und ist imstande, mit mir zu diskutieren. Und über gar viele Punkte habe ich ihn zu befragen. Doch die Sonne möchte untergehen, bevor ich ihm all die Fragen gestellt hätte. Wie, wenn ich morgen im Palast meine Diskussion mit ihm fortsetzte?‹« 80

Diese Szene erinnert nicht nur deshalb an die sokratischen Gespräche, weil diese ebenfalls nicht zu einem Ende kommen und man sich auf den nächsten Tag verabredet, sondern vor allem aufgrund der Weise der Gesprächsführung, auf die man sich einigt. Es soll darum gehen, ein Thema gemeinsam zu differenzieren und verschiedene Sichtweisen abzuwägen. Durch Pro und Contra soll sich eine Sicht herausschälen, die der Sache angemessen scheint. Es soll keine der Sache äußerliche Autorität akzeptiert werden, wie sie in der Szene durch die königliche Macht repräsentiert wird. Wenn es tatsächlich stimmen sollte, dass die Darstellungsform des Milindapanha durch griechische Vorbilder mitbestimmt ist, so dass die alte Tradition des Disputierens in Indien hier eine literarische Form erhält, so könnte gesagt werden, dass durch die Übersetzung des Buches ins Chinesi-

80

Ebd., 53 f.

58 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken

sche die Einflüsse Griechenlands auf diesem Weg schon früh bis nach China reichen. Es könnte sich hier sogar die Frage stellen, ob nicht auch die paradoxen Dialoge des Chan bzw. Zen-Buddhismus hier ein Vorbild gefunden haben, was sich auch in den literarischen Darstellungen dieser Tradition niedergeschlagen haben könnte. Auch in diesem Feld der Verflechtung warten noch viele Forschungsfragen, die für die Darstellung der Geschichte der Philosophie nicht unerheblich sind. Auf einen besonderen Einfluss der griechischen Kunst auf die frühen Buddha-Skulpturen sei hier am Ende noch hingewiesen. Im Kushan-Reich (2. Jh. v. u. Z. / Höhepunkt 2./3. Jh. n. u. Z. / bis ca. 4. Jh.) entstanden im Bereich von Gandhara die ersten BuddhaSkulpturen, die zunächst noch ihren griechischen Vorbildern sehr ähnelten. 81 Das Kushan-Reich war entstanden, als in Baktrien ein nomadisches Volk einfiel, »das den Chinesen als Yuezhi bekannt war«. 82 Sie zerstörten das gräko-baktrische Reich im Norden, übernahmen aber mit der Zeit die Sprache und Kultur. Das Kushan-Reich entwickelte sich zu einem Drehpunkt zwischen Westen und Osten. Das Reich unterhielt Kontakte zum römischen Reich, zu den Sasaniden in Persien und zum Kaiser in China. Wir stoßen hier erstmals auf ein Reich, das sowohl in ostasiatischen wie auch in westlichen Quellen nachzuweisen ist und dem damit eine Brückenfunktion zukam. Durch den Vorstoß von Alexander wurde auf längere Sicht auch eine Verbindung zwischen Griechenland und Japan hergestellt, die sich in der Nara-Zeit (710–793) in Japan nachweisen lässt. 83 Dass auf diesem Weg auch der Buddhismus von Indien nach China gelangte, ist Thema des nächsten Kapitels.

4.

Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken

Die heute nachvollziehbaren Anfänge der chinesischen Philosophie gehen bis in das 10. Jahrhundert v. u. Z. zurück. Im Zentrum dieser Entwicklung stand der noch immer bedeutende Klassiker 已經 Yijing Gandhara. Das buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese, hg. v. Luczanits. 82 Klimkeit, Die Seidenstraße. Handelswege und Kulturbrücke zwischen Morgenund Abendland, 137 ff. 83 Alexander the Great. East-West Cultural Contacts from Greece to Japan, hg. v. Tokyo National Museum 2003. 81

59 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

(Buch der Wandlungen). 84 Das Buch, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat und ab dem 4. Jh. eine zunehmende Rolle in den Schulen der chinesischen Philosophie spielte, enthält deutende Sprüche zu einer Orakelpraxis, in der es um den Wandel der weltlichen Verläufe geht. Bei der divinatorischen Praxis gilt es herauszufinden, in welcher Phase der Wandlung die jeweilige Situation sich gerade befindet: ob ein Neuanfang bevorsteht, es Zeit ist für ein geduldiges Warten, das Ende naht oder man sich auf Komplikationen einzurichten hat. Diese Tendenzmeldungen waren zugleich mögliche Hinweise und Anweisungen für das menschliche Handeln in konkreten Situationen. So ist es nicht verwunderlich, dass in der chinesischen Philosophie seit dem 6. Jahrhundert die Frage nach kosmischen Verläufen und ihrer Ordnung, die es flüssig zu gestalten galt, ein Zentrum des philosophischen Nachdenkens bildete. Dieses Nachdenken bezog sich nicht nur auf natürliche Prozesse, sondern gerade auch auf soziale und politische Ordnungsverläufe nicht unähnlich dem, was uns in Europa in der Philosophie des Stoizismus begegnet. Zwischen dem 6. und 3. Jahrhundert spricht man in China von den »100 Schulen der Philosophie« (百家 baijia). 85 Aus der Fülle der damals tätigen Philosophen, die häufig als Berater im Dienste kleiner politischer Einheiten standen – vergleichbar mit der Situation im antiken Griechenland –, seien hier nur vier Namen genannt: Kongzi (551–479) und Mengzi (372–289) für den Konfuzianismus sowie Laozi (zwischen dem 4. und 3. Jh.) und Zhuangzi (zwischen dem 4. und 2. Jh.), die dem Daoismus zugerechnet werden. 86 Die Texte, die mit diesen Namen in Verbindung gebracht werden, so verschieden sie auch sind, spielen häufig im Zusammenhang mit den vielfältigen Kommentaren, deren Zahl über die Jahrhunderte hinweg stetig wuchs, eine überragende Rolle für die Entwicklung der chinesischen Philosophie. Sie sind ebenso wichtig auch für die Rezeption des Buddhismus in China. Wie weit die Verbindungen zwischen China und Indien genau zurückreichen, lässt sich heute kaum mehr eindeutig feststellen. Es können hier nur Vermutungen angestellt werden: Vgl. Yijing. Das Buch der Wandlungen, übers. u. hg. v. Schilling. Für eine erste Orientierung sei hier nur verwiesen auf: Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie. 86 Bei den beiden zuletzt Genannten spricht man auch häufig von den Büchern Laozi und Zhuangzi. Den Texten werden zwar historisch Persönlichkeiten zugeschrieben, diese lassen sich aber weit weniger klar nachvollziehen, als es bei Kongzi und Mengzi der Fall ist. 84 85

60 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken

»Trotz der relativ isolierten geographischen Lage Chinas […] waren die Grenzen zu Indien über Zentralasien ja doch keineswegs hermetisch geschlossen. Das gilt besonders für die Zeit seit der zweiten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, als der Han-Kaiser Wudi (reg. 140–86. v. Chr.) das Reich bis weit nach Zentralasien hinein ausgedehnt hatte. Im religiösen Bereich, der ja immer in den philosophischen hineinspielt […], sind die Verbindungen vermutlich sogar noch älter. So finden sich beispielsweise im religiösen Daoismus, dessen Wurzeln sicherlich bis in die erste Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. (und damit vor den philosophischen Daoismus) zurückreichen und strenggenommen gar nicht als bloß ›daoistisch‹ apostrophiert werden können, Meditationsformen und Yogapraktiken, die eine derart große Ähnlichkeit mit entsprechenden Traditionen in Indien aufweisen, daß es kaum möglich ist, sie als völlig unabhängig voneinander entstandene Entwicklungen aufzufassen. […] An einigen Stellen des Buches Zhuangzi lassen sich […] sehr leicht Verknüpfungen zum Buddhismus herstellen, vor allem solche, die den späteren Teilen des Buchs entstammen. Dieser außerordentlich komplexe Text […] bildete eine natürliche Brücke, über die der Buddhismus in das fremde chinesische Milieu einzudringen vermochte, soweit er eben nicht vielleicht selbst schon in einigen Abschnitten unter buddhistischem Einfluß entstanden ist.« 87

Abgesehen von diesen vermuteten Einflüssen lassen sich die ersten historischen Berichte über die Kenntnisnahme des Buddhismus in China für das 1. Jh. n. u. Z. nachvollziehen. 88 Die Routen, über die der Buddhismus nach China gelangte, bezeichnet man heute mit dem Sammelnamen »Seidenstraße«. 89 Diese Verbindung reichte in den ersten Jahrhunderten n. u. Z. von China bis nach Rom, wo der Seidenhandel blühte. Den Kern dieser Verflechtungsroute bildeten aber schon früh die Gebiete Persien, Nordindien und Nordchina, die durch eine kulturell und sprachlich hochdiversifizierte Landverbindung im Austausch standen. In diesem Bereich existierte keine lingua franca, so dass der Austausch mit vielfältigen Übersetzungsprozessen in Verbindung stand. Erst als im Kushan-Reich, dem Gebiet des ehemaligen graeko-baktrischen Königreichs, der Buddhismus erstarkte und eine zunehmend große Literatur hervorbrachte, kam es zu einem direkten Übersetzungsprozess zwischen Gandhara, im Gebiet des Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, 157 f. Aus der reichen Literatur zu diesem Verflechtungsvorgang sei zunächst nur verwiesen auf: Zürcher, The Buddhist Conquest of China: The Spread and Adaptation of Buddhism in Early Medieval China. 89 Vgl. Klimkeit, Die Seidenstraße; Kunst des Buddhismus entlang der Seidenstraße, hg. v. Staatliches Museum für Völkerkunde München. 87 88

61 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

heutigen Afghanistan, und dem nördlichen China entlang der Seidenstraße. Spätestens unter der Herrschaft von Kanishka I., der das Kushan-Reich von 127–163 n. u. Z. regierte, wurde der Buddhismus in diesem Gebiet zu einer zentralen Religion, die staatlich gefördert wurde. In diesem Landstrich waren nicht nur die Felsenedikte von Ashoka präsent, sondern es entstanden hier auch die ersten BuddhaSkulpturen. Zudem sind Inschriften buddhistischen Inhalts in Gandhari und Griechisch überliefert. Man kann heute nur noch erahnen, zu welcher Art von Austausch auch in philosophischer Hinsicht es in den Handelszentren und Oasenstädten in diesem Gebiet gekommen ist. Die Übertragung des Buddhismus muss man sich als einen Prozess vorstellen, der mehrere Jahrhunderte dauerte. Allein von der ersten Nachricht bis zu den ersten Übersetzungen vergingen über 150 Jahre. Bei den ersten Übersetzungen stechen vor allem zwei Namen hervor: An Shigao (安世高, Mitte bis Endes des 2. Jh. n. u. Z.) und Lokaksema (支婁迦讖, Zhi Loujiachen, Mitte bis Ende des 2. Jh. n. u. Z.). An Shigao soll der Überlieferung nach ein Prinz aus dem Partherreich gewesen sein. 90 Das Partherreich stand seit Mithridathes II. mit dem chinesischen Kaiserreich im Austausch, so dass es nicht abwegig scheint, dass ein Parther, der sich offensichtlich zum Buddhismus bekannte, nach China ging, um dort diese Lehre zu verbreiten. Er soll um 148 in Luoyang angekommen sein und in Windeseile die chinesische Sprache gelernt haben. 91 Seine Übersetzungen beziehen sich vor allem auf weit verbreitete Texte des Buddhismus. Lokaksema stammte aus Gandhara, wo König Kaniska den Buddhismus großzügig unterstützte. Der Überlieferung nach kam er als ordinierter buddhistischer Mönch nach China. 92 Er gilt als der erste Übersetzer, der mahayana-buddhistische Schriften ins Chinesische übersetzt hat. Mit dem Buddhismus gelangte eine Kloster-Kultur nach China, die es dort zuvor in dieser Art nicht gegeben hatte. Die buddhistischen Mönche waren angehalten ehelos und nur von Almosen zu leben, was für die Chinesen überaus fremd wirkte.

Forte, The Hostage An Shigao and his Offspring. An Iranian Family in China. Nattier, A Guide to Earliest Chinese Buddhist Translations. Texts from the Eastern Han 東漢 and Three Kingdoms 三國 Periods, 40. 92 Ebd., 73. 90 91

62 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken

»Das Mönchswesen freilich war von Anfang an etwas Fremdes in China, zumal die Ehelosigkeit der Mönche gänzlich unvereinbar schien mit dem [konfuzianischem] Pietätsgebot, demzufolge man Nachkommen zu haben hatte, um den Totenkult für die Ahnen durchführen zu können. […] Eine weitere Unvereinbarkeit zwischen Mönchsgemeinde und chinesischen Vorstellungen bestand darin, daß die buddhistischen Mönche, da sie sich als der Welt Entrückte betrachteten, jede Ehrbezeugung gegenüber dem chinesischen Herrscher verweigerten.« 93

Über einige Jahrhunderte durchliefen Buddhismus wie auch die chinesische Gesellschaft verschiedene Anpassungsprozesse, 94 so dass der Buddhismus in der frühen Tang-Zeit (618–907) zur Staatsreligion in China werden konnte. Spätestens ab dem 4. Jahrhundert begann ein systematischer Übersetzungsprozess, in dem zu Beginn vor allem Kumarajiva (343–413) hervorsticht, der in einer Stadt an der Seidenstraße geboren wurde. Er übersetzte zusammen mit größeren Gruppen verschiedene buddhistische Texte, die bis heute einen kanonischen Charakter im chinesischen Buddhismus besitzen. 95 In die gleiche Zeit fallen die Schriften von Seng Zhao (僧肇ca. 374–414), der erstmalig eigenständige buddhistische Texte in chinesischer Sprache verfasste. Nach gut 250 Jahren hatte der Buddhismus sich so weit mit der chinesischen Sprache verbunden, dass sich seit dieser Zeit eine wachsende buddhistisch-chinesische Literatur entwickelte, die in Teilen immer unabhängiger von den indischen Vorbildern wurde. Es entstanden buddhistisch geprägte Traktate von großem Umfang und philosophischer Tiefe. 96 In diesen Texten wurden unter anderem Termini verwendet, die aus der älteren chinesischen Philosophie stammten. Diese waren bereits in früheren Übersetzungen verwendet worden, um den chinesischen Lesern die Texte verständlich zu machen. So wurden in den frühen Übersetzungen immer wieder daoistische und konfuzianischen Konzepte herangezogen, um die buddhistische Terminologie zu übersetzen. 97 Auf diese Weise fand eine heute kaum Schmidt-Glinzer, China und der Buddhismus, in: Kunst des Buddhismus entlang der Seidenstraße, hg. v. Staatliches Museum für Völkerkunde München, 200 ff. 94 Vgl. auch für die intellektuellen und politischen Diskussionen der damaligen Zeit: Schmidt-Glinzer, Das Hung-Ming Chi und die Aufnahme des Buddhismus in China. 95 Vgl. Fuchs, Zur technischen Organisation der Übersetzungen buddhistischer Schriften ins Chinesische. 96 Vgl. Elberfeld, Leibold, Obert, Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China. Seng Zhao – Jizang – Fazang zwischen Übersetzung und Interpretation. 97 Tang, On »Ko-Yi« (= Geyi), the earliest Method by which Indian Buddhism and 93

63 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

noch entwirrbare Vermischung von buddhistischen und chinesischen Denkansätzen statt, die aber vor allem in den eigenständigen buddhistisch-chinesischen Texten fruchtbare Neuinterpretationen des Buddhismus hervorbrachte. Eine der Früchte dieser Verflechtung ist der auch im Westen viel beachtete Chan-Buddhismus, der bei uns eher unter der Bezeichnung »Zen-Buddhismus« bekannt ist. Es wurden in dieser Zeit philosophische Ansätze entwickelt, die bis heute von hoher Relevanz sind, aber aufgrund der Rezeptionsschwierigkeiten in der Philosophie kaum Beachtung finden. Um an dieser Stelle nur einen kleinen Eindruck zu vermitteln, sei aus einem Text von Fazang (法藏 643–712) eine Passage angeführt. 98 Dieser buddhistische Denker stammte aus einer sogdischen Familie, 99 die aber bereits seit drei Generationen in China lebte und vollständig sinisiert war. Dennoch beherrschte er nach der Überlieferung verschiedene Sprachen, unter anderem auch das Sanskrit. Fazang hat in seinem Denken das buddhistische Motiv des »Entstehens in Abhängigkeit« in hochkomplexer Weise philosophisch entfaltet. Sein Ansatz ist in höchstem Sinne durch ein »relationales Denken« geprägt, wie man in Anlehnung an europäische Terminologie sagen könnte. In einem kleinen Text mit dem Titel »Der goldene Löwe« entfaltet er den Gedanken, dass alles Seiende durch und durch als beziehungshaft zu bestimmen ist und in sich selbst keine Substantialität besitzt. So heißt es dort in einem Absatz: »Jedes Organ und jedes Haar des Löwen erfaßt durch das Gold den Löwen gänzlich, und so versammelt bzw. vereinigt jedes das ganze Wesen bzw. den ganzen Körper. Jedes einzelne ist von Grund auf ganz Auge des Löwen. Das Auge ist zugleich Ohr. Das Ohr ist zugleich Nase. Die Nase ist zugleich Zunge. Die Zunge ist zugleich der Leib. Sie entstehen frei und selbstChinese Thought were synthesized, in: Comparative Studies in Philosophy, hg. v. Inge. 98 Chen, Philosopher, practitioner, politician. The many lives of Fazang (643–712). 99 Sogdien lag im östlichsten Teil des alten persischen Reiches, was heute einem Bereich zwischen Afghanistan, Tadschikistan und Usbekistan entspricht. Alexander der Große eroberte diese Region und heiratete die sogdische Prinzessin Roxana. Auch Herodot war diese Gegend bereits bekannt. Samarkand war später eines der Zentren in Sogdien, eine wichtige Stadt auf der Seidenstraße. Vor allem zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert n. u. Z. pflegten die Sogdier enge Beziehungen zum chinesischen Kaiserhof. Vgl. Sims-Williams, The Sogdian Merchants in China and India, in: Cina e Iran da Alessandro Magno alla Dinastia Tang, hg. v. Cadonna u. Lanciotti; Feng, Sogdians in Northwest China, in: Monks and Merchants. Silk Road Treasures from Northern China. Gansu and Ningxia 4th-7th Century, hg. v. Juliano u. Lerner.

64 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen des Buddhismus mit chinesischem Denken

bestimmt – ohne Schaden und ohne Behinderung. Dies nennt man das Tor, in dem alle dharma füreinander ineins und zugleich frei und selbstbestimmt sind.« 100

Jedes Organ des Löwen ist das, was es ist, nur durch das Zusammenspiel mit den anderen Organen. Dieses Zusammenspiel ist das Ganze des Löwen, der aber nur dadurch ein ganzer Löwe ist, dass alle einzelnen Organe genau das tun, was sie tun. So ist jedes Organ genau dann »frei und selbstbestimmt«, wenn es als Moment des Ganzen alle anderen Momente in sich aufnimmt. Dieser Gedanke wird in dem kleinen Text Der goldene Löwe unter verschiedenen Hinsichten – Raum, Zeit, Einzelnes, Ganzes usw. – durchgespielt. Es ist leicht zu erkennen, dass sich von hier aus vergleichende Betrachtungen z. B. zur Philosophie des Cusanus anstellen lassen. Letztlich ist der Gedanke bei Fazang aber gänzlich durch den Buddhismus geprägt, der sich in seinem Denken durchaus mit den älteren Traditionen in China verbindet. So heißt es im vorletzten Absatz des Textes: »Bodhi 101 nennt man auch dao oder Gewahren. Sehen wir also den Löwen, so sehen wir, daß alles ein bedingtes dharma ist. Ohne zerstört zu werden, sind sie ursprünglich stilles Verlöschen. Befreit von allem Anhaften und Wegwerfen befindet man sich auf diesem Weg, der wie fließend eingeht in das vollkommene Wissen 102 wie [ein Strom, der] ins Meer [fließt]. Daher wird es dao genannt. Hat man dies vollständig eingesehen, [so wird klar], daß immer schon, überall wo es Verwirrungen gab, diese ursprünglich keine Realität besitzen. Dies nennen wir Erwachen [Gewahren]. Erkennen wir erschöpfend alle karmischen Samen 103, so nennen wir dies vollendete Einsicht (bodhi).« 104

Elberfeld / Leibold / Obert, Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China, 133. 101 Skrt. wörtlich: Erwachen. Dieser Begriff wird in den jeweiligen Schulen des Buddhismus unterschiedlich interpretiert. Im Hīnayāna bedeutet er die Verwirklichung der »vier edlen Wahrheiten«, im Mahāyāna bezeichnet er die Einsicht in die Nichtdifferenz von Samsara und Nirvana. Dieser ursprünglich indische Kontext wird hier mit der Vorstellung vom dao zusammengebracht, wodurch ein buddhistischer Inhalt mit einem neuen Assoziationshorizont verknüpft wird. 102 Sapo, skrt.: sarvajñāna. Im chinesischen Text handelt es sich hier um eine lautliche Wiedergabe des Sanskritwortes. 103 Im Yogācāra-Buddhismus sind die »Samen« (skrt. bija) die im Geist wirksamen karmischen Formkräfte, die den Daseinskreislauf und damit das Leiden aufrechterhalten. 104 Elberfeld, Leibold, Obert, Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China, a. a. O., 135. 100

65 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Je mehr der buddhistisch Übende das Entstehen in Abhängigkeit durchblickt und auch für die eigene Existenz realisiert, umso mehr stellt sich das Erwachen und die Befreiung im Sinne dieser Interpretation des Buddhismus ein. In dem kleinen Abschnitt fließen wie von selbst buddhistische und daoistische Terminologien und Vorstellungen ineinander. Wenn Fazang das Sanskritwort bodhi ohne jeden Umstand mit dem chinesischen Zeichen dao identifiziert, so ist dem bereits eine vierhundertjährige Verflechtungsgeschichte zwischen Buddhismus und chinesischem Denken vorausgegangen. Der Buddhismus ist als etwas Fremdes nach China gekommen. Durch ungeheure Anstrengungen ist es den dortigen Denkern und Übersetzern gelungen, eine Vielzahl von buddhistischen Schriften aus Indien in die chinesische Sprache zu übertragen. Darüber hinaus sind unzählige chinesisch-buddhistische Texte geschrieben worden, die die Lehren des Buddhismus in besonderer Weise weiter ausgelegt haben. Diese Texte sind dann von China aus nach Korea und Japan gebracht worden und haben auch dort eine ungeheure Textproduktion in koreanischer 105 und japanischer Sprache 106 ausgelöst. In China selbst wurde der Buddhismus von offizieller Seite ab dem 9. Jahrhundert mit brutalen Mitteln zurückgedrängt: »Schon im Jahr 836 verbot ein Erlaß den Chinesen jede Beziehung zu ›farbigen Leuten‹, ein Terminus, der sich auf Ausländer aus den Regionen jenseits des Pamir und aus Südostasien bezieht: Iraner, Sogdier, Araber, Indern, Malaien, Bewohner von Sumatra usw. In dem Proskriptionsdekret, das kurz darauf, im Jahr 854, verfügt wurde […] warf man dem Buddhismus als Religion der Ausländer vor, die Ursache für die moralische und wirtschaftliche Schwächung der kurzlebigen Südlichen Dynastien […] gewesen zu sein.« 107

Wie die weitere Geschichte zeigt, ist der Buddhismus zwar stark zurückgedrängt worden, aber buddhistisches Denken war bereits zu einem hochwirksamen Moment in der Philosophie Chinas geworden, ohne das beispielsweise die Entwicklung des Neokonfuzianismus (10.–14. Jahrhundert) nicht denkbar gewesen wäre. 108 Die weiteren

An encyclopedia of Korean Buddhism, hg. v. Hyewon u. Mason. Kleine, Der Buddhismus in Japan. 107 Gernet, Die chinesische Welt, 248 f. 108 Chang, Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie: Vom 10. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Roetz u. Ciaudo. 105 106

66 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

Verflechtungen in China und zwischen China, Korea und Japan sind Voraussetzung gewesen für jeweils verschieden gelagerte Rezeptionen der europäischen Philosophie ab dem 19. Jahrhundert. In China ist aus den vielfältigen Impulsen im 20. Jahrhundert eine Schule des Neukonfuzianismus entstanden. 109 In Japan wurde die europäische und nordamerikanische Philosophie breit rezipiert. Unter anderem bildete sich aus der Verflechtung von buddhistischen und westlichen Motiven die Kyōto-Schule. 110

5.

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

Die Ausbreitung der griechischen Kultur und Sprache verlief in der Zeit nach Alexander nicht nur in östliche Richtung bis nach Indien und China, sondern auch in westliche Richtung nach Rom. Dies war aber erst möglich, nachdem das damals kleine Rom, Zentrum von Latium, sich durch aufreibende Kriege und Auseinandersetzungen über Jahrhunderte hinweg gegen die Etrusker, die Punier und andere lokale Gebietsansprüche durchgesetzt hatte und seinen Herrschaftsbereich über ganz Italien ausweiten konnte. Die ältesten Zeugnisse der lateinischen Sprache gehen bis ins 6. v. u. Z. zurück, wo das Lateinische noch eine der »kleinsten Sprachgemeinschaften Italiens« war. 111 Die sprachliche Situation Italiens war überaus komplex. Zahlreiche kleine Sprachen, die sich untereinander nicht verstanden, waren in Gebrauch. Nördlich von Rom hatte sich die etruskische Sprache samt Schrift ebabliert und im Süden das Griechische. In der Frühzeit wurden die höhergestellten Römer noch in Etruskisch unterrichtet. 112 Spätestens ab dem 3. Jahrhundert fand dann eine breite Rezeption und Auseinandersetzung mit der griechischen Sprache und Kultur statt. 113 Unter massivem Einfluss des Griechischen begann sich das Lateinische 114 dann zu der Literatursprache zu entLee, Konfuzianischer Humanismus: Transkulturelle Kontexte. Vgl. Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, hg. v. Ōhashi. 111 Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, 23. 112 Zu den Entwicklungen in dieser Frühphase vgl. Leonhardt, Latein. Geschichte einer Weltsprache, 46 ff. 113 Vogt-Spira, Die Kulturbegegnung Roms mit den Griechen, in: Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, hg. v. Schuster, 11–33. 114 Wenn an dieser Stelle von »der griechischen Sprache« die Rede ist, muss immer 109 110

67 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

wickeln, die später für das Abendland eine überragende Bedeutung spielen sollte. »Die römische Literatur hat ein exaktes Geburtsdatum. Sie begann – so weiß es die allerdings nicht ganz einhellige Überlieferung – im Jahr 240 v. Chr., also unmittelbar nach dem Ende des ersten Punischen Krieges, mit der Aufführung je einer griechischen Tragödie und Komödie in lateinischer Übersetzung; sie begann, allgemeiner formuliert, als man die großen Gattungen der griechischen Dichtung, das Epos und das Drama, nachzuahmen wagte. Dieses Ereignis machte Epoche, und das enge Verhältnis zur griechischen Literatur war seither ein wichtiges Kennzeichen der römischen.« 115

Sicher waren es nicht allein die griechische Sprache und Kultur, die für die Entwicklung des Lateinischen und der römischen Kultur herangezogen wurden, aber man kann spätestens ab dem 2. Jahrhundert v. u. Z. eine klare Dominanz des griechischen Einflusses konstatieren. 116 In dieser Zeit hatte sich die römische Republik so weit stabilisiert, dass sie das Griechische nicht einfach übernahm, sondern als Ausgangspunkt nutzte, um eigene Entwicklungen voranzutreiben. »Alle Bereiche der römischen Kultur wurden stark geprägt von griechischen Einflüssen, was sich an Architektur, Politik, Religion, Philosophie und Wissenschaft ebenso wie an der ›schönen Literatur‹ deutlich zeigt. Die lateinische Sprache als deren Medium macht darin keine Ausnahme, und dessen sind sich die Dichter wie die Prosaautoren Roms durchaus bewußt, wie sich zahlreichen reflexiven Passagen in ihren Werken entnehmen läßt. Man greift literarische Gattungen, Modelle und Motive auf, wetteifert in der eigenen Sprache mit den griechischen Vorlagen und modifiziert diese so, daß etwas durchaus Neues und Besonderes zu entstehen vermag.« 117

mitbedacht werden, dass das Altgriechische in verschiedene Dialekte differenziert war: das Attische, das Dorische, das Ionische usw. Um 800 v. u. Z. hatte sich die griechische Schrift aus den Vorlagen der phönizischen gebildet. Als normbildend gilt dann das attische Griechisch, das im 5. und 4. Jh. v. u. Z. in Athen geschrieben und gesprochen wurde, also gut drei- bis vierhundert Jahre vor der Entwicklung des Lateinischen zu einer Sprache der Literatur und Philosophie. Vgl. Adrados, Geschichte der griechischen Sprache von den Anfängen bis heute; Kaimio, The Romans and the Greek Language. 115 Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, 32. 116 Dieser dominante Einfluss der griechischen Kultur dauerte etwa zweihundert Jahre. Je größer dann das römische Reich wurde, umso stärker wurden dann die orientalischen Einflüsse. 117 Fögen, Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit, 67.

68 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

Zunächst rezipierte man vor allem literarische Werke in griechischer Sprache und versuchte diese mit dem Lateinischen zu verbinden. 118 Die griechische Philosophie wurde dabei noch nicht berücksichtigt und blieb daher vorläufig unbekannt. Erst Mitte des 2. Jahrhundert v. u. Z. kam es zu einem spektakulären Ereignis, das eine nachhaltige Wirkung auf die römische Kultur ausüben sollte: »Eine direkte Kenntnisnahme philosophischer Lehren der großen hellenistischen Schulen ist in Rom erst nach Ennius mit dem Auftreten der Schulhäupter von Stoa [Diogenes von Seleukia], Akademie [Karneades] und Peripatos [Kritolaos von Phaselis] in der berühmten Philosophengesandtschaft des Jahres 155 vor Christus eingeleitet worden. Dieser Besuch der damaligen Koryphäen griechischer Philosophie galt den Römern später als der Markstein in der Entdeckung philosophischen Interesses im damals führenden philhellenischen Gesellschaftskreis um den jüngeren Scipio Africanus.« 119

Die griechischen Philosophen erhielten die Gelegenheit, Reden im römischen Senat zu halten und zeigten darüber hinaus ihr Talent in öffentlichen Reden in der Stadt. Nach dem Bericht von Plutarch wurde die Gesandtschaft in Rom mit großer Begeisterung aufgenommen. Man war fasziniert von ihrer Weise zu reden, etwas überaus Neues für die Römer der damaligen Zeit. So heißt es in einem Bericht von Plutarch über das Ereignis: »Sofort machten sich also die besonders gebildeten Jünglinge zu den Männern auf und waren mit ihnen zusammen, hörten ihnen zu und bewunderten sie dabei. Vor allem aber das Talent des Karneades, dessen Wirkungsmächtigkeit am größten war und dessen Ruhm seiner Macht nicht nachstand, zog viele Leute an, die ihn unbedingt hören wollten, und wie ein Sturmwind erfüllte er die Stadt mit seinem Lärm. Und die Nachricht machte die Runde, daß ein Grieche von zum Erstaunen übermachtigem Charakter, indem er alles verzauberte und in seine Hände brachte, den Jungen ein furchtbares Begehren einflößte, durch das sie alle anderen Freuden »Als Rom im zweiten Jahrhundert v. Chr. die Herrschaft über Griechenland übernahm und Weltmacht wurde, war Griechisch eine Weltsprache, Latein aber immer noch kaum mehr als ein Lokaldialekt. Das sich daraus ergebende Langzeitverhältnis beider Sprachen hat das römische Imperium rund 600 Jahre geprägt, und die Geschichte des Lateinischen als Weltsprache ist […] fast bis zum Ende des römischen Reiches eine Auseinandersetzung mit der Weltsprache Griechisch geblieben.« Leonhardt, Latein, a. a. O., 52. 119 Puelma, Die Rezeption der Fachsprache griechischer Philosophie im Lateinischen, 47 f. 118

69 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

und jeden Zeitvertreib sein ließen und sich nur noch für die Philosophie begeisterten.« 120

Auch wenn Cato der Ältere vor diesen neuen Redeweisen warnte und bereits die Römische Republik gefährdet sah, 121 so war mit diesem Ereignis etwas Neues nach Rom gekommen, das in der Folge zahlreiche Entwicklungen nach sich gezogen hat. Es dauerte aber noch gut hundert Jahre, bis die griechische Philosophie endgültig in der lateinischen Sprache heimisch werden konnte. Hierzu bedurfte es eines Menschen, der sprachgewaltig genug war, um eine ganz neue Terminologie für das Philosophieren in lateinischer Sprache zu schaffen. Dies leistete vor allem Cicero,122 der in seiner Wirkmächtigkeit auch für das gesamte europäische Abendland kaum zu überschätzen ist, auch wenn andere Autoren wie Lukrez mit Texten wie De rerum natura für die Frühphase der philosophischen Terminologie im Lateinischen nicht zu vernachlässigen sind. Cicero war in erstaunlichem Maße in der Lage, nicht nur neue lateinische Wörter auf der Grundlage der griechischen Terminologie zu schaffen, 123 sondern er prägte das Lateinische auch auf der Ebene der Grammtik und des Stils. Dies war nötig, da die lateinische Sprache noch im 2. Jahrhundert v. u. Z. im Vergleich zur griechischen viele Möglichkeiten nicht besaß: »In der Tat fehlte der angestammten Sprache Latiums nicht nur ein Großteil der abstrahierenden Terminologie; auch eine Reihe gerade jener Elemente der Wort- und Satzbildung waren in ihr nur schwach oder gar nicht entwickelt, die für die Geschmeidigkeit und Leistungsfähigkeit der griechischen Fachsprache Voraussetzung waren, wie die Leichtigkeit der Präfixund Suffixbildungen, die unerschöpflichen Möglichkeiten der Wortkomposition, die so gut wie unbeschränkte Fähigkeit zur Substantivierung und zur begrifflichen Abstraktion durch den im Lateinischen fehlenden Artikel, der Reichtum an Partizipialformen und -konstruktionen. Die Erfüllung der gestellten Übertragungsaufgaben erforderte demnach eine wesentliche Erweiterung und Erneuerung der gewöhnlichen Sprachmittel des Lateins.« 124

Zitiert nach: Drecoll, Die Karneadesgesandtschaft und ihre Auswirkungen in Rom: Bemerkungen zur Darstellung der Karneadesgesandtschaft in den Quellen, 83. 121 Vgl. Jehne, Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr. 122 Zimmermann, Cicero und die Griechen. 123 Widmann, Untersuchungen zur Übersetzungstechnik Ciceros in der philosophischen Prosa. 124 Puelma, Die Rezeption, a. a. O., 51 f. 120

70 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

Ciceros Wortprägungen waren später auch für die Bildung der scholastischen Terminologie von zentraler Bedeutung. In seiner schriftstellerischen Arbeit zeigte er dabei ein ausgeprägtes Bewusstsein für das, was er tat. Er reflektierte über die Weisen der Wortneubildungen und setzte diese entsprechend den Anforderungen ein: »Cicero unterscheidet, darin wohl peripatetischer Sprachlehre folgend, grundsätzlich zwei Kategorien fachsprachlich terminologischer Wort- und Begriffsschöpfung: die formale Neubildung (Wortneuschöpfung) und die Bedeutungsübertragung (Bedeutungsneuschöpfung). Eine seiner Formulierungen lautet (Ac. 1,25): ›Man muß entweder neue Wörter für neue Inhalte bilden (facere – ποιείν) oder von anderen (die Bedeutung) übertragen (transferre – μεταφέρειν).‹ Als Musterbeispiel der ersten dieser Kategorien führt Cicero seine eigene Wortprägung qualitas an, eine im Lateinischen ungewohnte Abstraktion des Pronomens qualis.« 125

Bei dem, was Cicero und andere Autoren der lateinischen Sprache taten, gab es zum griechischen Vorbild einen entscheidenden Unterschied: »Ein wesentlicher Unterschied bei der Neuschöpfung fachsprachlicher Terminologie der Philosophie bestand allerdings für den Römer darin, daß diese neue Fachsprache, anders als bei den Griechen, nicht organisch aus dem eigenen Sprachboden heranwuchs, 126 sondern nach dem Raster eines sozusagen aus der Fremde importierten Fertigproduktes kopiert werden mußte, mit anderen Worten eine entlehnte Sprachform war, die alle Probleme der Übersetzung aufwarf. Nicht zufällig hat darum Cicero vor und neben seinen lateinischen Philosophica wörtliche Übersetzungen von Musterwerken griechischer Philosophie angefertigt, vor allem von Xenophon und Platon.« 127

Die Entwicklung philosophischer Terminologien in einer Sprache schwankt, so wie man an diesem Beispiel sehen kann, zwischen denkerischen Sprachbildungen, die im Rahmen der eigenen Sprache nahegelegt werden, und Sprachbildungen, die durch den Kontakt mit fremdsprachlichen Philosophien entstehen. Natürlich ist auch das Puelma, Die Rezeption, a. a. O., 53. Für die Entwicklung der philosophischen Terminologie im Altgriechischen vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946. Eine der entscheidenden Erfindungen der altgriechischen Philosophie war die Bildung des bestimmten Artikels, der für die Entwicklung der Philosophie im Altgriechischen von hoher Bedeutung ist, wie Snell in seinem Buch herausstellt. 127 Puelma, Die Rezeption, a. a. O., 52. 125 126

71 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Altgriechische nicht aus sich selbst heraus entstanden, sondern in seinen Frühformen aus verschiedenen Sprachen des Orients hervorgegangen, so dass es Verwandtschaften auch mit dem indischen Sanskrit zeigt. Geht man noch stärker in die Makroperspektive, so erscheint die indoeuropäische Sprachfamilie als ein übergreifender Sprachraum, der von Indien bis Island reicht. Auf der Mikroebene lassen sich aber die Wandlungen an einzelnen Wörtern nachvollziehen, für die sich manchmal über Jahrhunderte hinweg verschiedene Möglichkeiten der Übersetzung ergeben, wie das griechische Wort τὁ ὄν zeigt: »Das ist beispielshalber der Fall beim Versuch eines kaiserzeitlichen Aristotelesübersetzers, den ontologischen Zentralbegriff des ›Seienden‹, griechisch τὁ ὄν, das ein Partizip Neutrum zu εἶναι ist, mit der künstlich abgeleiteten, normalsprachlich nicht existierenden Form ens als Partizip zu esse analogisch wiederzugeben; ens war eine aus pot-ens als dem Partizip zu potesse = posse rekonstruierte Parallelform zu esse, die schon Julius Caesar anscheinend in seinem grammatischen Werk De analogia erwogen, Cicero aber als sprachfremd völlig ignoriert hat; er gibt statt dessen die durch Artikel substantivierte Partizipialform τὁ ὄν, die dem lateinischen Sprachsystem fremd ist, mit einer diesem angemessenen Relativsatzumschreibung wieder: id quod est, ein Vorgehen, dem sich auch der Philosoph Seneca anschließt. Erst viel später, in einer Zeit abnehmender grammatischer Sprachpflege, wird beim christlichen Philosophen Boethius im 6. Jahrhundert (und dann in der Scholastik des Hochmittelalters etwa bei Thomas von Aquin) ens ›das Seiende‹ und entia ›die seienden Dinge‹ ohne Bedenken zur fachsprachlichen Wiedergabe des griechischen Seinsbegriffes τὁ ὄν, τὰ ὄντα verwendet.« 128

An der Begegnung von griechischer und lateinischer Sprache kann in Europa erstmalig ein philosophischer Verflechtungsprozess im Detail beobachtet werden. Dabei wird deutlich, dass Beschreibungen wie: »die griechische Sprache und Kultur hat die Lateinische ermöglicht und hervorgebracht« oder »die griechische und römische Kultur sind verschiedenen Kulturen« immer zu kurz greifen. Mit diesen Beschreibungsmustern werden Verkürzungen vorgenommen, die dem im Detail verlaufenden Verflechtungsprozess in keiner Weise gerecht werden. Auf der anderen Seite ist es aber nicht sinnlos, von griechischsprachiger und lateinischsprachiger Philosophie zu spre-

128

Puelma, Die Rezeption, a. a. O., 61.

72 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

chen, um so die jeweiligen Eigenheiten beschreiben zu können. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, zum einen die ständigen Veränderungprozesse im Kleinen im Blick zu behalten, aber zum anderen nicht die größeren Linien ganz aus dem Auge zu verlieren. Um weder das eine noch das andere zu hypostasieren, bleibt nur, fortlaufend die Perspektiven zu ändern, um so zwischen den Details und den großen Linien hin und her zu wandern. Denn beide Perspektiven implizieren einander und oft entstehen die großen Linien erst im scheinbar unbedeutenden Detail, wie beispielsweise die Entstehung des bestimmten Artikels im Altgriechischen zeigt. Bleibt man in dieser Weise in Bewegung, so werden sowohl allzu grobe Entwicklungsschemata – wie z. B. bei Hegel – ebenso verhindert wie kontraproduktive Klischeebildungen zu »den Kulturen« wie beispielsweise bei Spengler. Schaut man auf die großen Linien der Entwicklung der lateinischen Sprache, so ist der Zeitraum zwischen dem 1. Jh. v. u. Z. und dem 1. Jh. n. u. Z. als die Epoche anzusehen, wo sich das normbildende klassische Latein entwickelte. Bereits im 1. Jh. n. u. Z. hatte sich das Latein der Literatur und Philosophie, das im Laufe des 1. Jh. n. u. Z. weitgehend zum Stilland kam, deutlich von der Alltagsprache getrennt. Durch die immer weiter zunehmende Ausbreitung des römischen Reiches, das um 117 seine größte Ausdehnung erreichte, nahmen auch die Einflüsse aus anderen kulturellen Bereichen erheblich zu, die das Bild von den Römern als den Erben und Bewahrern der griechischen Kultur deutlich verschieben: »Die These von der Hellenisierung der Römer ist eine im 19. Jahrhundert aufgekommene geschichtsphilosophische Konstruktion, die besonders Jacob Burckhardt forciert hat. Sie beruht auf zwei Axiomen: (a) es gibt eine spezifisch abendländische Identität, und deren Quelle und Ursprung ist die griechische Kultur; (b) nur weil die Römer sich ›hellenisierten‹, habe diese griechische Kultur sich als immerwährender Ursprung perpetuieren können. Die Griechen seien die originalen Schöpfer gewesen, die nachfolgenden Europäer – zuvorderst die Römer – hätten vor allem rezipieren, tradieren und umformen können. […] Wenn man eine makrohistorische Perspektive wählt und die Wandlungen im Imperium Romanum über die folgenden Jahrhunderte [ab dem 1. Jh. n. u. Z., R. E.] verfolgt, dann ist es viel angemessener, von ›Orientalisierung‹ der römischen Kultur zu sprechen als von einer ›Hellenisierung‹. Das langsame molekulare Eindringen orientalischer Verehrungsformen, Kultpraktiken und religiöser Bedürfnisse hat die Kultur des Imperium Romanum weitaus tiefgreifender verändert als die hellenisch geprägte Bilder-

73 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

welt. Aber dieser molekulare Prozeß ist in den literarischen und archäologischen Zeugnissen nur ganz schwer zu fassen.« 129

Mit diesem Prozess ist die Phase angesprochen, die seit dem 20. Jahrhundert als »Spätantike« bezeichnet wird, wobei der genaue Zeitraum und die geographische Reichweite in der Forschung weiterhin umstritten sind. In diese Zeit hochgradiger kultureller Mischungen und Bewegungen fällt auch die langsame Ausbreitung des Christentums, die mit dem römischen Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert die entscheidende Wende erfuhr. Die berühmtesten Philosophen der Spätantike waren Augustinus (354–430) und Boethius (um 480/ 485–524/526). Zur Zeit des Augustinus hatte das Griechische im lateinischsprachigen Bereich des römischen Reichs bzw. Westroms bereits an Bedeutung verloren. Er schrieb alle seine Werke in lateinischer Sprache, wobei er in späterer Zeit durch ein intensives Studium der griechischen Bibel den Bezug zur griechischen Sprache vertiefte. Im Gegensatz zu Augustius war Boethius von Anfang an noch in hohem Maße vertraut mit dem klassischen Bildungsgut der griechischen Philosophie. Da dieses kaum mehr präsent war und rezipiert wurde, fasste er den Plan, die griechische Philosophie durch Übersetzungen ins Lateinische zugänglich zu machen, was ihm auch teilweise gelang. 130 In der gewöhnlichen Philosophiegeschichtsschreibung erscheint die »Spätantike« – abgesehen von Augustinus und Boethius sowie dem Neuplatonismus – wie ein leerer Raum zwischen dem Höhepunkt der römischen Philosophie vom 1. Jh. v. bis zum 1. Jh. n. u. Z. und dem langsamen Beginn der mittelalterlichen Philosophie mit der karolingischen Erneuerung im 8. Jahrhundert. In den siebenhundert Jahren scheint sich gemäß einer verbreiteten Vorstellung außer der Etablierung des Christentums und vieler theologischer Streitigkeiten philosophisch kaum etwas getan zu haben. Sicher bieten hier Spezialdarstellungen dieser Epoche deutlich mehr Namen bzw. Strömungen wie z. B. Numenios von Apameia, Hierocles Alexandrinus, Nimenius von Emesa, Simplicios, Priscian bzw. das chaldäische Orakel,

Flaig, Über die Grenzen der Akkulturation. Wider die Verdinglichung des Kulturbegriffs, in: Rezeption und Identität, hg. v. Vogt-Spira u. Rommel, 82/95. 130 Er übersetzte vor allem Werke des Aristoteles ins Lateinische wie die Kategorien, De interpretatione und das Organon. Die Metaphysik wurde durch ihn nicht überliefert, so dass sie durch andere Wege ins Mittelalter fand. 129

74 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen zwischen Griechenland und Rom

Gnosis, Alexandrinische Schule, Philosophie in Byzanz etc. 131 Die geographische Sphäre, die dabei in Betracht gezogen wird, bezieht sich allein auf den Bereich des römischen Reichs bzw. das Gebiet von West- und Ostrom. Die Grenzen Ostroms bzw. des byzantinischen Reichs scheinen im Osten die Grenzen der Beschreibung zu markieren. In den letzten Jahren beginnt man aber, diese Grenze eingehender zu untersuchen im Hinblick auf die vielfältigen Akkulturationsprozesse, die dort in kaum zu überblickender Fülle stattgefunden haben. 132 Bei diesen Untersuchungen kommt auch das Reich der Sasaniden als das neue Reich der Perser ab dem 3. Jahrhundert n. u. Z. in den Blick, wo sich unter anderem verschiedene Begegnungen von Christentum und Manichäismus vollzogen haben. 133 Für den Zeitraum ab dem 6. Jahrhundert tritt auch der Islam in den Fokus der Aufmerksamkeit. 134 In der Forschung scheint sich hier eine neue Richtung anzubahnen, in der die Spätantike vor allem geographisch deutlich weiter reicht und zumindest auch das Sasanidenreich umfasst, das sich bis in den indischen Raum erstreckte. Wird diese Perspektive mit eröffnet und gesehen, dass die Grenzen zwischen Ostrom und den Sasaniden nicht abgeschlossen waren, sondern vielfältigen Austausch ermöglichten, so reicht der Blick erneut von Rom nach Indien und darüber hinaus. Dass dies inzwischen in den Geschichtswissenschaften für den Bereich der »Spätantike« umgesetzt wurde, zeigt der Band The Oxford Handbook of Late Antiquity herausgegeben von Scott Fitzgerald Johnson aus dem Jahr 2012. Für den geographischen Bereich werden mit Artikeln wie »Central Asia and the Silk Road«, »Egypt«, »The Coptic Tradition« und »Arabia and Ethiopia« ganz neue Maßstäbe gesetzt. Dies geschieht auch in Bezug auf die Religionen durch Artikel wie »Early Islam as a Late Antique Religion« und »From Nisibis to Xi’an: The Church of the East in Late Antique Eurasia«. Für die philosophischen Entwicklungen, die sich vor allem um den großen Übersetzungsprozess vom Griechischen ins Syrische und Arabische drehen, sind die Darstellungen jedoch noch nicht ausreichend. Dies wäre aber auch Aufgabe der Philosophiegeschichtsschreibung für den Bereich der Spätantike, deren geoThe Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, hg. v. Gerson. Vgl. Sommer, Roms orientalische Steppengrenze. Palmyra – Edessa – Dura-Europos – Hatra. Eine Kulturgeschichte von Pompeius bis Diocletian; Mosig-Walburg, Römer und Perser vom 3. Jahrhundert bis zum Jahr 363 n. Chr. 133 Vgl. Inkulturation des Christentums im Sasanidenreich, hg. v. Mustafa u. Tubach. 134 Sarris, Empires of Faith. The Fall of Rome to the Rise of Islam, 500–700. 131 132

75 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

graphische Reichweite entsprechend erweitert werden müsste. Auch hier bietet sich mit Nachdruck die Bezeichnung »Afroeurasien« an, um die üblichen geographischen Grenzziehungen zu relativieren oder zu erweitern.

6.

Griechisches Denken in arabischer Sprache

Mit Alexander war das Griechische als Verwaltungssprache bis nach Indien getragen worden, so dass es als eine zentrale Bildungssprache dieser Zeit in West und Ost angesehen werden kann. Im Osten traf das Griechische auf viele andere Sprachen – beispielsweise Aramäisch, Phönizisch, Akkadisch, Hebräisch, Altpersisch und vermutlich auch auf das indische Sanskrit. Sicher konnte das Griechische all diese Sprachen nicht gänzlich verdrängen, aber es machte seinen Überlegenheitsanspruch überall deutlich. Dies drückt sich auch darin aus, dass so gut wie keine Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Griechische überliefert sind. Eine bedeutende Ausnahme bildet dabei die Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel (Septuaginta) ins Griechische, die jedoch nicht von Griechen, sondern von hellenistischen Juden ab dem 3. Jh. v. u. Z. angefertigt wurde. Die Griechen beherrschten zwar andere Sprachen, aber man sah keinen Anlass, Werke aus anderen Sprachen ins Griechische zu übersetzen. »Die Autorität griechischer Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Dichtung und Rhetorik war schlechthin erdrückend und ließ keine anderen Bildungsmächte neben sich aufkommen. Griechische Bildung war zwar unter den spezifischen Bedingungen der klassischen Polis entstanden. Sie hatte sich aber von diesen politisch-sozialen Voraussetzungen gelöst, wie sich das schon bei Isokrates und seiner Schule andeutete. Nicht wenige seiner Schüler traten in den Dienst auswärtiger Dynastien. Als selbständige Macht wurde die griechische Bildung zu einem sozialen und politischen Faktor ersten Ranges, an dem sich die Zugehörigkeit zum Griechentum entschied, der Unterschied zwischen Griechen und Barbaren bestimmt wurde. Diese Macht überdauerte die vielen Wechselfälle der politischen Geschichte zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453. Sie überdauert selbst die Jahrhunderte der Türkenherrschaft. Wie stark, wie dominierend diese Macht war, mag man daraus ersehen, daß es in ihrem Wirkungskreis niemals auch nur Ansätze gab, das Erlernen fremder Sprachen als Mittel der Erziehung zu betrachten. Zwar hören wir von vielen griechischen Individuen aus allen Jahrhunderten griechischer Geschichte, die fremde Sprachen beherrschten. Doch diente diese

76 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Griechisches Denken in arabischer Sprache

Fertigkeit immer nur praktischen Zwecken. Das galt auch später für die Lateinkenntnisse des Offiziers oder Juristen im Dienste der Kaiser. Eine Fremdsprache als Zugang zur Geisteswelt eines anderen Volkes zu betrachten und sie deshalb zur eigenen Bildung zu erlernen, ist keinem Griechen jemals eingefallen, bei allem ehrlichen Interesse an der fremden Welt. Selbst die hochentwickelte grammatische Theorie der Griechen verzichtet darauf, fremde Sprachen zum Vergleich heranzuziehen. Wenn man wie der Grammatiker Philoxenos gelegentlich das Lateinische berücksichtigt, betrachtet man es als griechischen Dialekt.« 135

Als das römische Reich sich kurz vor der Geburt Jesu bis ins heutige Ägypten ausbereitete, behielt das Griechische vor allem in den östlichen Teilen des Reichs seine zentrale Bedeutung für die Bildung, aber auch für die Verwaltung. 136 Jesus soll Aramäisch gesprochen haben. Wie wichtig und verbreitet das Aramäische damals war, zeigt sich daran, dass im altpersischen Reich (5.–3. Jh. v. u. Z.) Aramäisch als Verwaltungssprache fungierte. Dass aber die Berichte von Jesus und seinem Leben, die später zum »Neuen Testament« für das Christentum werden sollten, in griechischer Sprache verfasst wurden, zeigt, dass das Griechische ungebrochen als Sprache der Bildung galt. Die hohe Bewertung des Griechischen im gesamten römischen Reich führte dazu, dass man dort, wo Griechisch nicht selbstverständlich im Gebrauch war – und dies war in den nahen Gebieten östlich von Griechenland häufig der Fall –, Texte aus dem Griechischen in die jeweiligen regionalen Sprachen übersetzte oder selbst in griechischer Sprache schrieb.137 So entwickelte sich das Christentum im vorderen Orient zunächst vor allem in aramäischer Sprache – die seit der Christianisierung auch »Syrisch« genannt wird. Syrisch sprechende Christen, die gleichwohl das Griechische beherrschten, standen am Anfang einer Blüte der syrischen Literatur. 138 Hier stechen Gestalten wie Bardesanes (154–222) und Ephräm der Syrer (306–363) hervor, die unterschiedliche Haltungen zum griechischen Erbe zeigten. UnDihle, Die Griechen und die Fremden, 52 f. Vgl. Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, hg. v. Neumann u. Untermann. 137 Momigliano, Hochkulturen im Hellenismus. Die Begegnung der Griechen mit Kelten, Römern, Juden und Persern, 16: »Nichtgriechen machten in einem bisher nicht erlebten Maße von der Möglichkeit Gebrauch, den Griechen in der eigenen Sprache etwas über ihre Geschichte und die Überlieferung ihrer Religionen zu vermitteln. Das bedeutete, daß Römer, Ägypter, Phoenizier, Babylonier und sogar Inder (die Edikte Ashokas) mit eigenen Beiträgen die griechische Literatur bereicherten.« 138 Vgl. Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur. 135 136

77 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

bestritten ist, dass griechische Philosophie und Bildung weiterhin präsent war und Texte aus dem Griechischen ins Syrische übersetzt wurden. Mit der Reichsteilung in West- und Ost-Rom 395 setzte sich das Griechische im östlichen Teil zunehmend als dominante Sprache durch. Das sich aus der Teilung entwickelnde byzantinische Reich sprach spätestens im 7. Jh. Griechisch. 139 Bei den verschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden Schulen des frühen Christentums spielten die Nestorianer eine wichtige Rolle in der Übertragung griechischen Denkens. Sie gründeten im 4. Jh. Schulen, wo vor allem christliche Theologie, aber auch griechische Philosophie und andere Wissenschaften gelehrt wurden. Nur zwei der damaligen Gelehrten seien hier hervorgehoben: Sergius von Reschaina (gest. 536) und Severus Sebokt (gest. 667). 140 Der Erstere hatte Philosophie und Medizin in Alexandria studiert. Vor allem seine Übersetzungen Galens ins Syrische waren für die spätere Rezeption griechischen Denkens im Arabischen von Bedeutung. Er übersetzte aber auch Aristoteles und andere Schriftsteller ins Syrische. Von Severus Sebokt wird überliefert, dass er an der Schule von Nisibis lehrte und als Erster im »Westen« das indische Dezimalsystem erwähnt. Er übersetzte nicht nur Aristoteles ins Syrische, sondern auch Kommentare zu Aristoteles ins Persische. Neben den Entwicklungen im oströmischen Reich war die Entstehung des Sasanidenreichs (224/26–642/51) von großer Bedeutung für die Weitergabe griechischen Bildungsguts in persischer Sprache. Dieses Reich wird häufig auch als »neupersisches« Reich bezeichnet. Das Reich der Sasaniden avancierte nach seiner Gründung schnell zu einem zentralen Konkurrenten des römischen und später des byzantinischen Reiches. Es reichte bei seiner größten Ausdehnung von Ägypten über die Türkei bis nach Afghanistan. 141 Für die Weitergabe antiken Bildungsguts ragen vor allem zwei Herrscher hervor: Shapur I., dessen Regierungszeit in die Jahre 240/42–270 fiel, und Chosrau I., der von 531 bis ins Jahr 579 regierte. Unter der Herrschaft Shapurs I. wurde die Akademie von Gondischapur um das Jahr Vgl. Wirth, Grundzüge der byzantinischen Geschichte, 47–125: »Mittelbyzantinische Ära. Das gräzisierte Imperium«; Knotenpunkt Byzanz. Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen, hg. v. Speer u. Steinkrüger. 140 Freely, Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam, 93 f.; Schmutzer, Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam: Konsens und Widerspruch, 242 f. 141 Wiesenhöfer, Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., 205 ff. 139

78 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Griechisches Denken in arabischer Sprache

260 gegründet. 142 Das Zentrum der Akademie bildeten ein Krankenhaus und eine Bibliothek. In diesem Zentrum der Gelehrsamkeit flossen griechisches, persisches und indisches Wissen zusammen. Hummel zitiert in seinem Text den arabischen Historiker al-Qifti (1172– 1248), der in seiner großen Geschichte der Gelehrten schrieb: »Es gibt Leute, welche die Heilkunst und die Methode der Ärzte von Dschundisabur [= Gondischapur, R. E.] denen der Griechen und Inder vorziehen, weil sie die besten Erkenntnisse von jeder Gruppe übernommen und durch das, was sie selbst herausbrachten, vermehrt haben.« 143 Aus der Gründungszeit der Akademie ist nur sehr wenig überliefert. Vermutlich waren hier aber viele verschiedene Sprachen und Gelehrsamkeiten im Spiel, wobei die Akademie immer auch von der Gunst der Herrscher abhing. Sie bot aber auch ab dem 5. Jh. Zuflucht beispielsweise für verfolgte Nestorianer: »Auf ihrem Weg nach Osten gelangten die Nestorianer schließlich in die sasanidische Residenzstadt Gondischapur im westlichen Persien. Dort gehörten sie seit dem Ende des 5. Jahrhunderts der von König Schapur gegründeten medizinischen Fakultät an und lehrten griechische Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften in syrischen Übersetzungen. Die Fakultät entwickelte sich zu einem Zentrum der Übersetzung von Werken der Medizin, Kosmologie, Astronomie und der Philosophie des Aristoteles; zu verschiedenen Zeiten wurden dort Griechisch, Syrisch, Sanskrit, Pahlavi und schließlich Arabisch übersetzt.« 144

Unter Chosrau I. genoss die Akademie schließlich eine besondere Förderung. Er war ein außerordentlicher Liebhaber von Philosophie und Gelehrsamkeit. Dies ist uns sogar aus der zeitgenössischen Quelle eines byzantinischen Historikers überliefert: »Chosroes [Xuso I.] wird gepriesen und bewundert, mehr als er es eigentlich verdient, nicht nur von den Persern, sondern sogar von einigen Römern. Es wird ihm zugeschrieben, ein Liebhaber der Literatur und ein gelehriger Schüler der Philosophie zu sein; jemand soll die Werke der griechischen Literatur für ihn ins Persische übertragen haben. Es geht sogar das Gerücht, er habe sich das ganze Corpus des Stagiriten [Aristoteles] gründlicher angeeignet als der paianische Redner [Demosthenes] die Werke Hummel, Die Anfänge der iranischen Hochschule Gundischapur in der Spätantike, 1. Für eine Erzählung über die Gründung nach alten Quellen vgl. Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sasaniden. Aus der arabischen Chronik des Tabari, übers. u. hg. v. Nöldeke, 41–42. 143 Hummel, Die Anfänge, a. a. O., 2. 144 Freely, Platon in Bagdad, a. a. O. 93. 142

79 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

des Sohnes des Oloros [Thukydides] und er kenne sich aus mit den Lehren Platons, des Sohnes des Ariston.« 145

Der große Gegenspieler von Chosrau I. war Kaiser Justinian (um 482–565). Er markiert den Übergang vom römischen Reich zum byzantinischen Reich vor allem auch durch seine intensiv betriebene Christianisierung. Im Zuge dieser Aktivitäten wurde von ihm 529 in Athen ein Lehrverbot für »heidnische« Philosophie verhängt, wo vor allem die platonische Akademie noch existierte. Einige der griechischen Philosophen flohen daraufhin an den Hof Chosraus I., wo sie allerdings nicht lange blieben. 146 Die verschiedenen Ereignisse zeigen, dass im Raum zwischen Rom und Indien in der Spätantike eine Struktur der Vernetzung bestanden haben muss, die wir aufgrund der dürftigen Quellenlage heute bisher nur rudimentär nachvollziehen können. Zahlreiche geistige Strömungen und Sprachen beeinflussten sich gegenseitig in toleranten und weniger toleranten Atmosphären. Griechische Philosophie und Gelehrsamkeit, jüdische und christliche Lehren, Zoroastrismus, die Lehren Manis und viele andere Strömungen bildeten ein kaum zu überblickendes Netz von Beziehungen, die von Indien über Persien, Babylon, Alexandria, Karthago, Rom, Athen, Konstantinopel und andere damalige Zentren der Bildung reichten. 147 In die Regierungszeit von Chosrau I. fällt ein Ereignis, das in hohem Maße folgenreich sein sollte: die Geburt Mohammets in den Jahren um 570 in Mekka. Das Arabische, das sich vor der Entstehung des Islam bereits durch mündliche Überlieferungen von Poesie und Geschichten gebildet hatte, wurde durch den in arabischer Sprache verfassten Koran (Anfang des 7. Jahrhunderts) zur zentralen Sprache des Islam. 148 Mit dem Aufstieg des Islams im 7. Jahrhundert wurde Wiesenhöfer, Das antike Persien, 289. Hier wird das Werk Historien von Agathias (um 536 – um 582) zitiert. 146 Hartmann, Geist im Exil. Römische Philosophen am Hof der Sasaniden, in: Grenzüberschreitungen. Formen des Kontakts zwischen Orient und Okzident im Altertum, 135 ff.; Watts, Where to Live the Philosophical Life in the Sixth Century? Damascius, Simplicius, and the Return from Persia. 147 Zu den komplexen kulturellen Voraussetzungen des Übersetzungsprozesses griechischen Denkens ins Arabische vgl. O’Leary, How Greek Science passed to the Arabs. 148 Für eine alte Literaturgeschichte des Arabischen vgl. Brockelmann, Geschichte der arabischen Literatur. Für eine umfassende Zusammenstellung der Werke in arabischer Sprachen in allen Wissensgebieten vgl. Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, bisher 15 Bände. Diese Reihe wird am Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften der Universität Frankfurt herausgegeben. 145

80 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Griechisches Denken in arabischer Sprache

der Einflussbereich des Islams und damit der arabischen Sprache unter den Umayyaden (661–750), die ihren Sitz in Damaskus hatten, von Spanien bis zum Indus ausgedehnt. Die Dynastie der Abbasiden (750–1258) markiert dann die goldene Zeit der islamischen Gelehrsamkeit, deren Hauptsitz das im Jahre 762 gegründete Bagdad wurde. Die islamischen Herrscher machten sich die Errungenschaften ihrer Vorgänger in griechischer, persischer, syrischer Sprache zu eigen. Es begann ein Übersetzungsprozess, durch den die arabische Sprache erheblich an Größe und Gewicht gewann. 149 »Eine Aneignung griechischer Literatur durch die Übersetzung begegnet uns dann wieder bei den Arabern in einer gewiß ganz anderen, in mancherlei Hinsicht aber doch den Römern vergleichbaren Weise. Den äußeren Anstoß gab die Eroberung des hellenisierten Syriens (und Ägyptens) durch die Araber im VII. Jh. und die dadurch ermöglichte Begegnung mit griechischem Geistesgut. Bald danach erblühte eine außerordentlich starke Übersetzertätigkeit, die von berufsmäßigen Übersetzern betrieben wurde, zuerst von syrischen Christen – unter denen die sogenannten Nestorianer eine besondere Rolle spielten –, und die dann nach der offiziellen Einrichtung einer Übersetzerakademie in Bagdad (830) in Hunain ibn Ishaq ihren Höhepunkt fand, darauf aber in den folgenden Jahrhunderten deutlich abflaute. Das Ausmaß der Übersetzertätigkeit ist erstaunlich: die gesamte medizinische, wissenschaftliche und philosophische Literatur der Griechen, soweit sie zugänglich war (allen voran Aristoteles und Galen, ältere Autoren oft in spätantiken Kompendien und Exzerptensammlungen), ist ins Arabische übersetzt worden, zunächst in der Regel auf dem Umweg über eine syrische Übersetzung – weil dies die Muttersprache der ersten Übersetzer war, während diese Griechisch erst lernen mußten –, dann aber meist direkt.« 150

»Das Haus der Weisheit« in Bagdad bestand aus einer großen Bibliothek, in der das Wissen der damaligen Zeit gesammelt und in vielen Fällen ins Arabische übersetzt wurde. Die Übersetzungen wurden häufig von wohlhabenden und interessierten Menschen in Auftrag gegeben. Die Phase der intensiven Übersetzung dauerte etwa zwei Jahrhunderte. In dieser Zeit bildete sich in arabischer Sprache eine neue Terminologie, ähnlich wie dies auch in der lateinischen Sprache der Fall gewesen war. Für den gesamten Prozess vgl. insbesondere folgende maßgebliche Studie: Gutas, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society. 150 Flashar, Formen der Aneignung griechischer Literatur durch die Übersetzung, 140. 149

81 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

»Eine besondere Aufgabe erwartete die Übersetzer auf rein sprachlichem Gebiet. Die griechische und die arabische Sprache sind ihrer Wortbildung und Syntax nach bekanntlich sehr verschieden; die Wortzusammensetzungen des Indogermanischen sind dem semitischen Arabisch von Haus aus fremd, ebenso die recht freie, wort- und satzverschachtelnde Syntax des Griechischen. Vor allem aber erforderten die neuen Ideen die Prägung einer angemessenen arabischen Terminologie. […] Die frühesten Übersetzungen sind meist noch recht ungeschickt […]. Jedoch gelang es Hunain und seiner Schule, zu der sein Sohn Ishaq b. Hunain (gest. 910) und sein Neffe Hubais als prominente Mitglieder gehörten, eine maßgebliche Terminologie zu prägen und eine hohe und echt arabische Qualität des Sprachausdrucks zu erzielen.« 151

Akkulturationsprozesse vollziehen sich in vielen Fällen im Medium der Sprache. Dabei ist von großer Bedeutung, wie nah oder fern sich die jeweiligen Sprachen stehen. »Nah« bedeutet, dass Ausgangs- und Zielsprache in ihren grundlegenden grammatischen Strukturen nicht oder nur kaum voneinander abweichen, wie dies beispielsweise bei Griechisch und Latein der Fall gewesen ist. »Fern« bedeutet, dass die Sprachen – in heutiger Terminologie gesagt – verschiedenen Sprachfamilien angehören. In diesem Falle erhöht sich das Maß der Schwierigkeiten bei der Übersetzung erheblich. Satzstrukturen und das, was grammatikalisiert zum Ausdruck gebracht wird, weichen hier deutlich voneinander ab. Wenn zudem die Zielsprache, wie es bei der lateinischen Sprache im 3. Jh. v. u. Z. der Fall gewesen ist, noch keine größere Literatur hervorgebracht hat, so wird die Zielsprache durch den Übersetzungsprozess erheblich verändert und erweitert. Schon in früher Zeit wurden Reflexionen zur Praxis des Übersetzens angestellt. So unterschied man auf der einen Seite Übersetzungen, die Wort für Wort vorgingen, so dass eine möglichst wortgetreue Übertragung stattfinden konnte. Man empfand bei dieser Methode allerdings als Nachteil, dass nicht für jedes griechische Wort ein arabisches vorhanden war, so dass diese Methode schnell an ihre Grenzen stieß. Auf der anderen Seite waren es die Übersetzungen, die den ganzen Satz und seine Bedeutung im Auge hatten, um auf diese Weise entsprechende Formulierungen in der arabischen Sprache zu finden. 152 Letztlich sind immer beide Methoden zu kombinieren, denn beim

Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, 21 f. Dieses Buch versammelt Übersetzungen aus den arabischen Texten, die nach Themengebieten geordnet sind. 152 Vgl. Rosenthal, Das Fortleben, 33 f. 151

82 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Griechisches Denken in arabischer Sprache

Übersetzen schwieriger philosophischer Texte kann es kein Patentrezept geben. »Wir finden die Konkurrenz von arabischen Stammwörtern mit griechischen Lehnwörtern, ferner die Konkurrenz von Synonymen zur Wiedergabe derselben griechischen Termini durch verschiedenen Übersetzer, sodann die Entwicklung konkurrierender ›sets‹ von Termini in variablen Kontexten der übersetzten Quellen und der aus ihnen hervorgegangenen Fachliteratur. Das Streben nach Prägnanz, vor allem aber nach Eindeutigkeit führt zur Elimination abundanter und mehrdeutiger Elemente, zu Bedeutungswandel durch die Auswahl, Sonderung und Integration verschiedener Quellen und der aus ihnen hervorgehenden Oppositionspaare einfacher oder binärer Lexeme.« 153

Neben den Fragen der Übersetzung, stellt sich die Frage, welche Texte eigentlich übersetzt wurden. Hierzu kann Folgendes festgestellt werden: »[…] das antike Gut, das Eingang in die arabisch-islamische Kultur fand, umfaßte hauptsächlich die Gebiete der exakten Wissenschaften, dazu die Medizin nebst Hilfswissenschaften und die Philosophie, also eine ziemlich streng begrenzte Auswahl. Die spezifisch humanistischen Dinge, die im Rahmen der παιδεία eine Rolle spielen und die unser abendländisches Verhältnis zur Antike in erster Linie bestimmt haben: also die griechische Epik, Dramatik, Lyrik, Geschichtsschreibung, die schönen Künste – sowie übrigens auch die gesamte Literatur lateinischer Sprache – blieben von der arabischen Übernahme ausgeschlossen. […] Bei den übernommenen Gegenständen handelte es sich um das Lehrgut, das zur Zeit der islamischen Eroberung der Mittelmeeranrainer und danach in den dort noch bestehenden spätantiken, christlich geführten Lehrstätten tradiert wurde.« 154

Diese Perspektive rückt das gesamte Unternehmen in ein bestimmtes Licht. Nicht die Literatur, die schönen Künste und die Geschichten waren von Interesse, sondern vor allem die Naturwissenschaften mit einem besonderen Schwerpunkt auf Medizin und Philosophie. Der Schwerpunkt der frühen Erforschung des gesamten Überlieferungsprozesses ab dem 19. Jahrhundert in Europa lag daher auf der Galenund Aristoteles-Überlieferung. 155 Inzwischen hat sich das Bild weEndress, Arnzen, Arzhanov, Griechische Wissenschaft in arabischer Sprache. Ein griechisch-arabisches Fachwörterbuch der internationalen Wissensgesellschaft im klassischen Islam, 149. 154 Kunitzsch, Über das Frühstadium der arabischen Aneignung antiken Gutes, 269 f. 155 Es ist erstaunlich, dass die Dialoge Platons nicht ins Arabische übersetzt wurden, 153

83 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

sentlich erweitert, aber die Feststellung, dass Naturwissenschaften und Philosophie im Zentrum standen, bleibt weiterhin in Geltung. Diese Selektion zeigt zum einen, dass es vor allem diese Themengebiete waren, die auch bei den syrischen Christen und den Persern Interesse fanden, und zum anderen, dass islamische Gelehrte diese Themen mit der islamischen Tradition verbinden bzw. mit diesen eine islamische Theologie ausbauen konnten. Obwohl die Erforschung dieses Prozesses bereits im 19. Jahrhundert begann, gab es sowohl auf der Seite der muslimischen wie auch der christlich geprägten Theologen und Denker Widerstände, den Prozess insgesamt genauer zu erforschen: »So ausschließlich, wie der antike Einfluß die Domäne der exakten Wissenschaften im Islam prägte und beherrschte und von da aus auch auf andere Bereiche des geistigen und literarischen Lebens ausstrahlte, so stark blieb die Ablehnung durch die traditionellen arabischislamischen Kreise und drängte die antiken Dinge in ein Außenseiterdasein am Rande ab – ähnlich wie auch im Westen zur selben Zeit die Kirche den ›heidnischen‹ Wissenschaften aus Antike und Orient entgegentrat.« 156

In späterer Zeit wollten weder der Islam noch das Christentum ihre griechischen Quellen besonders betonen. Es solches Phänomen lässt sich in vielen Akkulturationsprozessen beobachten. Denn sobald ein bestimmtes Gedanken- oder Traditionsgut in die eigene Sprache und Denkwelt aufgenommen wurde und keine besondere Fremdheit mehr erzeugt, halten die meisten es für eine »gute alte Tradition«, die zum eigenen gehört. In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine besondere Dynamik in der Erforschung der Wirkungen griechisch-antiken Denkens in arabischer Sprache entwickelt. Als der bisherige Höhepunkt dieser Bemühungen insbesondere für die Philosophiegeschichtsschreibung muss der erste Band des Ueberwegs zum Thema Philosophie in der islamischen Welt angesehen werden. Der von Ulrich Rudolph unter Mitarbeit von Renate Würsch herausgegebene Band 8.–10. Jahrhundert thematisiert nicht nur die kulturellen Hintergründe des Rezeptionsprozesses, sondern bietet in üblicher »Ueberweg«-Manier eine sehr detaillierte Übersicht zu Werken, Inhalten und Sekundärliteraturen der verschiedenen Texte und Autoren. Spätestens mit dem Erdie neuplatonischen Texte aber sehr wohl. Vgl. Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.–10. Jahrhundert, hg. v. Rudolph, 32 f. 156 Kunitzsch, Über das Frühstadium der arabischen Aneignung antiken Gutes, 269.

84 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien

scheinen dieses Bandes ist dieser Prozess grundlegend in das Bild der europäischen Philosophiegeschichte aufzunehmen. Es ist zu erwarten, dass die drei noch ausstehenden Bände das Bild von der Geschichte der Philosophie im Zusammenhang mit der islamischen Welt nachhaltig und perspektivenreich verändern werden.

7.

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien im europäischen Mittelalter

Die Bezeichnung »Mittelalter« wurde in der Philosophiegeschichtsschreibung lange mit der lateinisch-christlichen Philosophie identifiziert. Der in der Mitte des 20. Jahrhunderts führende Experte für die Philosophie des Mittelalters Étienne Gilson erforschte diese daher schlicht unter der Bezeichnung »christliche Philosophie«. 157 Obwohl bereits im 19. Jahrhundert ausführliche Studien sowohl zu dem Übersetzungsprozess aus dem Griechischen in das Arabische 158 wie auch aus dem Arabischen in das Lateinische 159 vorlagen, wurden diese Kontexte systematisch marginalisiert oder einfach nicht beachtet. Die europäische Philosophiegeschichtsschreibung für das Mittelalter war fest in christlicher Hand. Dies führte dazu, dass nicht nur die genannten Übersetzungsprozesse wenig beachtet wurden, sondern islamische und jüdische Philosophie im Mittelalter wenig oder gar nicht erwähnt wurden. Mit einem bestimmten Abstand betrachtet zeigen sich hier deutliche Interessen, die in dem Spannungsverhältnis zwischen Judentum, Christentum und Islam ihren Grund finden. Die Entwicklung des Judentums war von Anfang an durch Vertreibung, Assimilation und die Suche nach einem festen Ort geprägt. Obwohl die hebräische Sprache der Tora einen festen Bezugspunkt bildete, verband sich das Judentum bald auch mit Sprachen wie dem Aramäischen, Griechischen, Arabischen und Lateinischen. Nicht erst im Mittelalter konnten jüdische Schriftsteller daher als Dolmetscher und Vermittler auftreten. 160 Jüdisches Denken hat sich nicht nur un-

Gilson, Christliche Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues. Müller, Die griechischen Philosophen in der arabischen Überlieferung. 159 Wüstenfeld, Die Übersetzungen Arabischer Werke in das Lateinische seit dem XI. Jahrhundert. 160 Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. 157 158

85 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

ter persischer, römischer und islamischer Herrschaft, 161 sondern auch in christlich dominierten Bereichen gebildet, wobei es zu Beginn mal gefördert und dann wieder heftig unterdrückt wurde. Das Christentum entstand aus der Mitte des Judentums, so dass von Anfang an eine Konkurrenzsituation gegeben war. Die Sprache des Christentums war anfangs nicht das Lateinische, obwohl es sich im römischen Herrschaftsgebiet entwickelte. Jesus sprach Aramäisch, das Neue Testament wurde in griechischer Sprache verfasst. Das lateinische Christentum ging aus von Karthago, wo die Kirchenväter Tertullian und Cyprian ihre Werke in lateinischer Sprache verfassten. Auch Augustinus stammte aus dem heutigen Nordafrika. Es war also gar nicht ausgemacht, dass die lateinische Sprache eine zentrale Stellung im Christentum einnehmen sollte. Die entscheidende Wende wurde durch die offizielle Ankernennung des Christentums im Jahr 313 durch den römischen Kaiser Konstantin eingeleitet. Als es dann 380 zur Staatsreligion im römischen Reich erhoben wurde, näherten sich das Amt des Kaisers und des Papstes immer weiter an. 162 Mit der Reichsteilung in Ost- und Westrom entwickelte sich allerdings auch das Christentum nicht nur sprachlich (Griechisch und Lateinisch) auseinander. Das Ende des weströmischen Reichs Ende des 5. Jahrhunderts und das Erstarken des oströmischen Reichs mit dem Zentrum Byzanz ließ zunächst erwarten, dass sich die theologische Entwicklung des Christentums vor allem weiter in griechischer Sprache und im Anschluss an die griechische Patristik vollziehen würde. Als Justinian I., Kaiser von Ostrom, 529 die Philosophenschule von Athen schließen ließ, entstand im gleichen Jahr in Montecassino ein durch Benedikt von Nursia gegründetes Kloster, das für die Bildung des lateinischsprachigen Christentums von zentraler Bedeutung werden sollte. Das Christentum hatte sich aber bereits während der Zeit der Völkerwanderung weiter nach Norden ausgebreitet, so dass Gelehrte aus England wie Alkuin (735–804) im Zusammenhang mit Karl dem Großen das lateinische Christentum von Nordern her in Europa verbreiteten. Mit dieser Bewegung konnte sich das lateinische Christentum erneut annähernd in den alten weströmischen Grenzen

Mokhtarian, Rabbis, Sorcerers, Kings and Priests. The Culture of the Talmud in Ancient Iran. 162 Im 5. Jahrhundert griff Papst Leo der Große die Bezeichnung »Pontifex Maximus« als Name für die Päpste auf, die zuvor nur dem römischen Kaiser als dem obersten Priester der römischen Religion vorbehalten war. 161

86 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien

etablieren. 163 Mit diesem Bereich ist auch das »lateinisch-christliche Mittelalter« zu identifizieren, in dem vor allem Byzanz und der muslimische Bereich z. B. in Spanien nicht dazugehören. Der Islam hatte sich seit dem 7. Jahrhundert in Windeseile im Nahen Osten, Persien, Ägypten bis hin nach Spanien verbreitet. 164 Im 8. und 9. Jahrhundert waren große Teile des antik-griechischen Gedankenguts in das Arabische übersetzt worden und man begann spätestens im 10. Jahrhundert damit, das neu Angeeignete weiterzuentwickeln im Zusammenhang mit Bildungsgut, das auch aus Persien und Indien stammte. In den vom Islam seit dem 8. Jahrhundert beherrschten Teilen Spaniens, in denen Muslime, Juden und Christen (die sogenannten »Mozaraber«) zusammenlebten, entstand eine Wissenschaftskultur eigener Art. »In Spanien standen schon im zehnten Jahrhundert die Arabischen Wissenschaften in vollster Blüthe; in mehr als zwölf Städten befanden sich höhere Unterrichtsanstalten, von denen die Hochschulen zu Toledo und Cordoba die berühmtesten waren.« 165 Als im Jahre 1085 Toledo von einem christlichen Herrscher erobert wurde, entstand dort ab den 1130er Jahren ein Zentrum für die Übersetzung arabischer Texte ins Lateinische. Noch bevor die große Übersetzungsbewegung arabischer Texte ins Lateinische vor allem in der Schule von Toledo begann, stoßen wir in der Frühphase auf zwei bedeutende Übersetzer, die nicht nur durch »Die Bildungsreform, die der fränkische König Karl mit seiner Epistola de litteris colenis (›Brief über die Pflege der Wissenschaften‹, ca. 785) und der Admonitio generalis (›Allgemeine Ermahnung‹, 789) in Gang setzte oder zumindest beförderte, bedeutete für die weitere Geschichte des Lateinischen eine grundlegende Wende. Sie führte dazu, dass die Sprache, die schon längst auf die Vermittlung im Grammatikunterricht angewiesen war, nicht das Schicksal anderer antiker Weltsprachen wie etwa der babylonischen Literatursprache erlitt und unterging, sondern noch einmal eintausend Jahre die wichtigste Sprache Westeuropas wurde.« Leonhardt, Latein, a. a. O., 125. 164 Inzwischen vermehren sich die Studien, die die Verflechtungen arabischer und islamischer Kultur mit den Griechen, Römern und Christen aus arabisch-islamischer Perspektive darstellen. Durch diese Perspektivenverschiebung stellt sich vieles anders dar im Vergleich zu den Überlieferungen bei den Autoren der griechisch-römischen Antike. Diese Darstellungen sind außerordentlich wichtig, um die gewohnte Perspektivierung auch in der Interpretation gegenwärtiger Konflikte zu befragen und zu reflektieren. Vgl. hierzu: Al-Ani, Araber als Teil der hellenistisch-römischen und christlichen Welt. Wurzel orientalischer Betrachtung und gegenwärtiger Konflikte. Von Alexander dem Großen bis zur islamischen Eroberung. 165 Wüstenfeld, Die Übersetzungen Arabischer Werke in das Lateinische seit dem XI. Jahrhundert, 8. 163

87 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

ihre Lebensleistung, sondern auch durch ihren besonderen interkulturellen Lebenslauf hervorstechen. Konstantin der Afrikaner (Constantinus Africanus) 166 wurde zwischen 1015 und 1020 in Karthago geboren, der Stadt, die seit der römischen Eroberung (146 v. u. Z.) das Zentrum der römischen Provinz Afrika war. Zum Zeitpunkt seiner Geburt waren diese Gebiete bereits fest in islamisch-arabischer Hand, so dass er sicher die arabische Sprache beherrschte. Er entstammte einer christlichen Familie und studierte der Überlieferung nach in Alexandria und Bagdad. Durch langjährige und ausgedehnte Reisen erweiterte er sein Wissen und seinen Horizont in einer auch heute noch unglaublichen Weise: »Nach dem Bericht des Petrus Diaconus in De viris illustribus wurde Constantinus Africanus in Carthago geboren. Von dort reiste er nach Babylonien, wo er die Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Mathematik, Astronomie, Nekromantie, Musik und Medizin der Chaldäer, Araber, Perser und Sarazenen vollständig erlernte. Danach erwarb er in Indien, Äthiopien und Ägypten die Kenntnisse der jeweiligen Einwohner. Diese Reisen und Studien dauerten insgesamt 39 Jahre bis zu seiner Rückkehr nach Afrika. Dort planten nun seine Landsleute, ihn, den sie so umfassend mit den Kenntnissen aller Völker gebildet sahen, zu töten. Er entfloh heimlich auf einem Schiff nach Salerno, wo er sich eine Weile unter dem äußeren Anschein von Armut verborgen hielt, bis ihn der Bruder des Königs der Babylonier bei einem Besuch in Salerno wiedererkannte. Daraufhin weilte Constantinus zunächst unter großer Ehrerweisung am Hof Herzog Roberts (Guiscard), trat dann aber als Mönch – von Abt Desiderius freudig aufgenommen – in das Kloster Montecassino ein. Dort übersetzte er schließlich zahlreiche Bücher aus verschiedenen Sprachen.« 167

Der Lebensbericht zeigt ein Bild, das die Grenzen zwischen den verschiedenen Gebieten und Einflussbereichen viel durchlässiger darstellt, als dies in herkömmlichen Darstellungen des »Mittelalters« vorstellbar wäre. Konstantin beherrschte die arabische und lateinische Sprache. Man kann vermuten, dass er auch Zugang zum Griechischen hatte, was aber nicht belegt ist. Die arabische Sprache gewährte ihm Zugang zu islamischen, griechischen, persischen und jüdischen Autoren, die er dann ins Lateinische übersetzen konnte. Konstantin ist vermutlich 1085 im Benediktinerkloster Montecassino

Vgl. Hettinger, Zur Lebensgeschichte und zum Todesdatum des Constantinus Africanus. 167 Veit, Quellenkundliches zu Leben und Werk des Constantinus Africanus, 124 f. 166

88 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien

gestorben und hat einen wichtigen Anstoß für weitere Übersetzungstätigkeiten gegeben. In England stoßen wir auf einen weiteren Übersetzer, der ebenfalls durch ausgedehnte Reisen seinen Horizont erweiterte: Adelard von Bath (um 1070 – um 1160), in der Nähe von York in England geboren, war eine Ausnahmegestalt der damaligen Zeit. 168 Auf einer mehrjährigen Reise nach Sizilien, Kleinasien und vermutlich auch Jerusalem und Spanien soll er Arabisch und Griechisch gelernt haben. Ein besonderes Interesse für diesen Übersetzer hat Charles Burnett entwickelt, der Adelard von Bath im Kontext von Antiochia am Orontes sieht, ein Ort, der wiederum die Durchdringung verschiedener kultureller und philosophischer Strömungen besonders unterstreicht. »The ancient city of Antioch embraced several cultures and religions. The population included Greek orthodox, Arabic Melchite (= Syrian) and Jacobite Christians, Muslims and Jews. After its conquest in the First Crusade in 1098, a Latin Frankish element was added. While Arabic was the dominant language, Christianity was the dominant religion. This would seem to provide ample opportunities for exchange between Arabic and Latin culture. And yet scholarship has persistently denied, or at least, conceded little, in respect to such exchange. […] While fully admitting that there was never developed a systematic program for translating Arabic texts in Antioch, […] as there did in Toledo […], I would still claim that there was a significant cultural exchange, which up to now has been largely overlooked.« 169

Burnett argumentiert dann im Folgenden dafür, dass auch Adelard von Bath ein wichtiger Akteur in diesem Kontext gewesen sein soll. Seine Ausführungen zeigen, wie schwierig es vor allem durch die Verschiedenheit der Namen und Bezeichnungen ist, den historischen Kontext zu rekonstruieren. Es wird aber auch deutlich, dass es einer bestimmten Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Verflechtung und Austausch bedarf, um entsprechende Hypothesen zu entwickeln. Wir können also vermuten, dass der Übersetzungsprozess nicht nur im Westen betrieben wurde, sondern auch in ganz anderen Gebieten wie in Kleinasien und dem Nahen Osten.

Adelard of Bath. An English Scientist and Arabist of the Early 12th Century, hg. v. Burnett. 169 Burnett, Antioch as a Link between Arabic and Latin Culture in the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: ders., Arabic into Latin in the Middle Ages. The Translators and their Intellectual and Social Context, Text Nr. IV, 1. 168

89 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Als man in Toledo begann, Übersetzungen in lateinischer Sprache aus dem Arabischen in systematischer Weise anzufertigen, war eine überragende Gestalt dieser neuen Übersetzungsbewegung Gerhard von Cremona (1114–1187), der in vierzig Jahren Arbeit um die 70 Werke philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalts vom Arabischen ins Lateinische übersetzte. Neben dem Genannten war Dominicus Gundisalvi (um 1110 – nach 1181), der vor allem auch mit jüdischen Gelehrten zusammenarbeitete, von zentraler Bedeutung. »The translation movement was also influenced by the philosophical preferences of Jewish scholars. Gundisalvi worked together with the Jewish scholar Avendauth when translating Avicenna’s De anima, which Avendauth had recommended for translation, and Gundisalvi’s other translations may also go back to such recommendations. The impressive Spanish translation movement was motivated and fostered by several factors: the personal interest of individual translators; the demand for scientific texts by the French schools; the availability of Arabic manuscripts in cities newly conquered by the Christians; the patronage of the archbishop of Toledo; and by clerical interests in promoting Latin scientific culture in an Arabic-speaking Christian environment.« 170

In Toledo wurden nicht nur philosophische und naturwissenschaftliche Schriften aus dem Arabischen übersetzt, sondern durch den Auftrag von Petrus Venerabilis (um 1092–1156) wurde auch die erste lateinische Übersetzung des Korans angefertigt, die im Weiteren als eine Grundlage für die Auseinandersetzungen zwischen Islam und Christentum diente. Neben den Übersetzungen aus dem Arabischen wurden zunehmend auch viele griechische Texte wieder zugänglich. 171 Für die Übersetzung griechischer Texte in die lateinische Sprache sticht vor allem Wilhelm von Moerbeke (um 1215–1286) heraus, der ab 1277 Bischof von Korinth war, wo die römische Kirche einen Außenposten im byzantinischen Reich unterhielt. Wilhelm von Moerbeke ist vor allem durch seine Übersetzungen von Schriften des Aristoteles und griechischsprachiger Kommentare zu diesem Philosophen bekannt. Da auch Denker wie Thomas von Aquin kein Griechisch beherrschten, ist gut vorstellbar, dass die neu erschlossenen Werke aus dem GrieHasse, Influence of Arabic and Islamic Philosophy on the Latin West. Vgl. Berschin, Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues; Geschichte der antiken Texte. Autoren- und Werklexikon, hg. v. Landfester.

170 171

90 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien

chischen, ohne Umweg über das Syrische und Arabische, wichtige denkerische Impulse freisetzten. »The Arabic-Latin translation movements in the Middle Ages, which paralleled that from Greek into Latin, led to the transformation of almost all philosophical disciplines in the medieval Latin world. The impact of Arabic philosophers such as al-Fārābī, Avicenna and Averroes on Western philosophy was particularly strong in natural philosophy, psychology and metaphysics, but also extended to logic and ethics.« 172

Der Einfluss, den diese Übersetzungen auf die Entwicklungen der Philosophie im Mittelalter gehabt hat, ist noch nicht ausreichend erforscht. Erst seit gut 30 Jahren hat man begonnen, diese Entwicklungen nicht nur als marginale Randbedingungen zu bewerten, sondern in ihrer philosophischen Relevanz zu erforschen. 173 Darüber hinaus wird auch die Rezeption islamischer Philosophie im Mittelalter untersucht, die vor dem Hintergrund der arabischen Übersetzungsbewegung entstanden ist. 174 Inzwischen beginnen sich Terminologien zu verschieben, so dass vom »Arabischen Mittelalter« 175 und »Jüdischen Mittelalter« 176 in Differenz zum »Christlichen Mittelalter« gesprochen wird. Ob diese Terminologie hilfreich ist, werden zukünftige Forschungen zeigen. Sicher helfen diese Unterscheidungen, die Bedeutung der drei Religionen für das Mittelalter zu unterstreichen. Auf der anderen Seite wird durch die Dreiteilung die hochgradige Verflechtung der Denktraditionen im Mittelalter aber auch in den Hintergrund gedrängt. In der Mittelalterforschung der Geschichtswissenschaften hat man daher versucht, mit anderen Terminologien zu operieren. Der Band Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa 177 versteht die Situation wie folgt: Hasse, Influence of Arabic and Islamic Philosophy on the Latin West. Ein Forscher, der hier besonderes hervorsticht, ist Charles Burnett, der zahlreiche Publikationen zu diesem Thema verfasst hat. Einige Aufsätze sind gesammelt in: Burnett, Arabic into Latin in the Middle Ages. The Translators and their Intellectual and Social Context. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich auch die internationale Forschungssituation stark verändert, was sich in den beiden folgenden Bänden mit großem Nachdruck zeigt: Wissen über Grenzen: arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, hg. v. Speer; Knotenpunkt Byzanz, hg. v. Speer u. Steinkrüger. 174 The Arabic, Hebrew and Latin Reception of Avicenna’s Metaphysics, hg. v. Hasse u. Bertolacci. 175 Arnzen, Arabisches Mittelalter. 176 Schubert, Jüdische Geschichte, 30 f. 177 Hg. v. Borgolte u. Schneidmüller. 172 173

91 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

»Im Fokus stehen die wechselseitigen Prozesse der Integration und Desintegration von Kulturen im mittelalterlichen Europa. Heute verstehen wir diese Kulturen nicht mehr als unverrückbare Einheiten, sondern erkennen immer deutlicher die changierenden Prozesse von Durchdringung, Austausch, Adaption, Kopie, Beeinflussung, Abstoßung, Symbiose wie Osmose als historische Grundmuster. Ohne Differenzen zu leugnen, unterscheiden wir jetzt nicht mehr in parataktisch ordnender Manier zwischen mittelalterlichen Romanen, Germanen oder Slaven, nicht mehr zwischen den unvermittelten Welten der Juden, Christen, Muslims oder Heiden, nicht mehr im Sinne früherer Akkulturationsmodelle zwischen Hochzivilisierten und Barbaren.« 178

Michael Borgolte hat bereits in seinem Buch Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250 aus dem Jahr 2002 eindringlich auf die Dimension der Beziehungen in der europäischen Geschichte hingewiesen: »Jedwede Historie ist genau genommen Beziehungsgeschichte, da der Mensch als Einzelwesen nicht existieren kann. Im Hinblick auf das hohe Mittelalter wird Beziehungsgeschichte umso wichtiger, als die Forschung mindestens im okzidentalen Europa eine erhöhte horizontale Mobilität beobachtet. Unüberschaubar sind die vorliegenden Studien zu Handel und Verkehr, zum Reisen überhaupt, zu Pilgerschaft und zu ›diplomatischem‹ Austausch, zur Migration der Schüler und Studenten, zur Verbreitung der Ordensleute mit ihren spezifisch geprägten Klöstern, zu Heiratsverbindungen in Königshäusern und Adel, zum Transfer von Lebensstilen, oder auch zur Frage der Abgrenzung des Eigenen vom Fremden mit der Problematik von Diskriminierung und ›Toleranz‹.« 179

Mit diesem programmatischen Ansatz wird »die klassische Mediävistik mit ihrer Neigung, die lateinische Welt mit Europa überhaupt zu identifizieren« 180, nicht nur relativiert, sondern in einen grundsätzlich neuen Horizont gestellt. Diese neuen Horizonte können nicht nur in den Geschichtswissenschaften einschneidende Veränderungen hervorrufen, sondern auch in anderen Wissenschaften. 181 Borgolte und seine Schule sind inzwischen noch einige Schritte weitergegangen, was sich vor allem in dem Buch Transkulturelle Verflechtungen Ebd., 7. Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, 378. 180 Ebd., 378. 181 Dies zeigt sich beispielsweise an dem Buch von Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. Belting versucht in seinem Buch zu zeigen, dass ohne mathematische Theorien, die aus dem arabischen Raum noch Florenz vermittelt wurden, die Zentralperspektive in der Malerei nicht entstanden wäre. 178 179

92 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen jüdischer, christlicher und muslimischer Philosophien

im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika 182 zeigt. In den Pilotstudien werden die Beziehungen Europas bis hin nach Ostasien und Afrika verfolgt, wodurch wiederum überraschende Perspektiven in den Blick treten, die auch für die Darstellung der Philosophiegeschichte in Europa von besonderem Interesse sind. In der Philosophiegeschichtsschreibung für das europäische Mittelalter hat Alain de Libera bereits zu Beginn der 1990er Jahre die Tür zu einer Neukonzeption der Darstellung »mittelalterlicher Philosophie« aufgestoßen und so das »vergessene Erbe« wieder in Erinnerung gerufen. In seiner Darstellung von 1993 werden byzantinische, arabisch-islamische, jüdische und lateinisch-christliche Denktraditionen im Verhältnis zueinander neu gewichtet. 183 Das Werk beginnt mit einem Kapitel über Philosophie in Byzanz. Die beiden folgenden Kapitel behandeln die islamische Philosophie im Orient (Umayyaden und Abbasiden) und im Okzident (Spanien). Darauf folgt ein Kapitel über jüdische Philosophie. Die letzten sechs Kapitel widmen sich dann dem lateinischen Mittelalter vom 11. bis zum 15. Jahrhundert. Vergleicht man die Darstellung von de Libera mit der kompakten Darstellung von Kurt Flasch in seinem Werk Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus bis Machiavelli aus dem Jahre 1986, so wird der Unterschied deutlich. Obwohl Flasch als eingefleischter Gegner der christlich-theologischen Mittelalterinterpretation nicht in Verdacht steht, das christliche Abendland in besonderer Weise stilisieren zu wollen, bleibt die Darstellung doch weitgehend auf die lateinischsprachige Philosophie konzentriert. Auf gut 18 Seiten werden »Die islamische Herausforderung« und auf gut 8 Seiten »Jüdische Anregungen« abgehandelt, wobei der Text insgesamt gut 600 Seiten umfasst. Er selbst hat kurze Zeit später die neue Darstellungsform bei de Libera sehr begrüßt. 184 Es bleibt abzuwarten, wann eine deutschsprachige Darstellung der Philosophie im Mittelalter erfolgt, die die komplexen Beziehungs-, Verflechtungs- und Übersetzungsprozesse in ein neues Licht rücken wird. 185 Vielleicht führt der UmTranskulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika, hg. v. Borgolte u. Tischler. 183 De Libera, La Philosophie médiévale. 184 Flasch, Pluralität philosophischer Welten. 185 Die Bücher von Alain de Libera La Philosophie médiévale (1989) und Penser au Moyen Âge (1991), die jeweils als Vorstufen und Ergänzungen für die neue Darstellungsform angesehen werden können, wurden bereits ins Deutsche übersetzt: Die mittelalterliche Philosophie; Denken im Mittelalter. 182

93 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

weg für eine komplexere Durchdringung der Philosophie im Mittelalter zunächst über Einzeldarstellungen zur arabischen und jüdischen Philosophie im Mittelalter. 186 Nicht nur die Darstellungen mittelalterlicher Philosophie neigen dazu, sich auf ausgewählte »Gedanken« und »Aussagen« zu beschränken, die sich auf eigentümliche Weise stabilisiert haben und dann als die »Lehre« von XY einen Platz in der Philosophiegeschichte erhalten. Es stellt sich also nicht nur für das Mittelalter die Frage, wie eine Philosophiegeschichtsschreibung aussehen könnte, die die Verschiedenheit der Sprachen, relevante Übersetzungsprozesse, soziokulturelle und religiöse Unterschiede und andere Faktoren als zentral für die philosophische Gedankenbildung ansieht. Vielleicht ist zunächst nur eine Verschiebung der Aufmerksamkeit nötig, so dass daraus neue Sicht- und Darstellungsweisen entstehen können. Schon jetzt ist klar, dass sich unser Bild vom Mittelalter durch die verflechtungsgeschichtlichen Betrachtungen weiterhin rasant verändert, was auch in einer neuen Philosophiegeschichtsschreibung zum Ausdruck kommen wird. Auch für die Erforschung der mittelalterlichen Philosophie bietet es sich besonders an, von Afroeurasien auszugehen als dem Verflechtungsraum, in dem sich vielfältige Denkströmungen verbunden haben. Nicht nur das lateinische Christentum hat geographisch wichtige Bezugspunkte in Nordafrika und im vorderen Orient, sondern auch der Islam und das Judentum haben ihre Wirkungen in einem Raum zwischen Asien, Europa und Afrika entfaltet. Der afroeurasische Verflechtungsraum erhält erst mit dem Beginn der europäischen Expansion eine erhebliche Erweiterung, so dass hier auch für die europäische Philosophiegeschichtsschreibung eine einschneidende Zäsur zu markieren ist. 187 Mit der europäischen Expansion kommen in Europa ganz neue philosophische Fragen und Interpretationen auf, die zum einen den Denkhorizont erheblich erweitern, ihn aber zum Für die arabische Philosophie vgl. The Cambridge companion to Arabic philosophy, hg. v. Adamson u. Taylor. Für die jüdische Philosophie vgl. Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Kolcher u. Fraisse. 187 Aus amerikanischer Perspektive kann man auch den amerikanischen Raum als eigenen verflechtungsgeschichtlichen Raum vor der europäischen Expansion betrachten. Dies zu tun, bringt eigene methodische Schwierigkeiten mit sich. Vgl. Schelkshorn, Widerhall der Alten Welt oder ein verpflanzter Baum? Zur Debatte über die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika im 20. Jahrhundert. 186

94 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

anderen auch signifikant verengen und nationalisieren. Für die Entfaltung eines Philosophierens in einer globalisierten Welt ist es daher von hoher Wichtigkeit, die philosophischen Entwicklungen in Europa seit dem 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der europäischen Expansion zu verstehen. Erst aus diesem Zusammenhang wird auch die hohe Ambivalenz der Aufklärung deutlich, die zum einen die Idee einer universellen Freiheit entwickelte, zum anderen aber auch Ausgangspunkt für ein europäisches Überlegenheitsbewusstsein war, das Imperialismus und Rassismus zur Folge hatte.

8.

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

In der bisherigen europäischen Philosophiegeschichtsschreibung spielt die europäische Expansion keine oder wenn überhaupt nur eine sehr marginale Rolle. Gewöhnlich bringt man die philosophischen Entwicklungen seit dem 16. Jahrhundert in Europa in keinen relevanten Zusammenhang mit den Diskussionen, die sich in Amerika und in anderen Teilen der Welt mit den Eroberungen und Inbesitznahmen verbinden. Dabei wird übersehen, dass in den vielfältigen Auseinandersetzungen, die damals in Europa, aber auch in vielen anderen Teilen der Welt stattgefunden haben, Fragen angestoßen wurden, die eine wichtige philosophische Grundlage der Aufklärung im 18. Jahrhundert bilden. Erst in jüngerer Zeit erschienen Arbeiten, die die Bedeutung dieser Eroberungs- und Auseinandersetzungsgeschichte für die europäische Philosophiegeschichte herausgestellt haben. 188 Die geschichtlichen Hintergründe für die europäische Expansion waren vielfältig. 189 Im 10. Jahrhundert war die islamische Kultur weit bis auf die Iberische Halbinsel vorgedrungen. Seit dieser Zeit versuchten christlich geprägte Herrscher immer wieder, Gebiete in diesem Bereich zurückzugewinnen. Dies gelang endgültig erst im Jahr Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte; Elberfeld, Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität; Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie; Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, hg. v. Lüsebrink. 189 Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015; Vom Mittelmeer zum Atlantik: die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion, hg. v. Feldbauer et al. 188

95 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

1492, so dass hier die Grenzen Europas, die bis heute gelten, festgelegt wurden. Im östlichen Bereich Europas zielten die Kreuzzüge der katholischen Kirche 190 nicht nur auf die Sicherung eines Weges nach Jerusalem ab, sondern sie waren auch eine kämpferische Auseinandersetzung mit dem Islam und dem byzantinischen Reich, das durch das Schisma von 1054 vom westlichen, römischen Teil abgespalten wurde. In Kleinasien entwickelte sich seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts das osmanische Reich, das mit der Eroberung Konstantinopels 1453 und der ersten Belagerung Wiens 1529 seinen Herrschaftsanspruch gegenüber Europa mit Nachdruck unterstrich. Die Eroberung Konstantinopels wurde in Europa wie eine Apokalypse wahrgenommen. 191 Europäische Herrscher waren somit im 15. Jahrhundert intensiv mit der Sicherung der südwestlichen und südöstlichen Grenzen Europas befasst. Mit den Siegen des osmanischen Reichs im Osten waren aber dann die Hauptverbindungen in den Orient für Europa abgeschnitten. Neben diesen geschichtlichen Kontexten spielten als Voraussetzung für die Expansion auch neue technische Entwicklungen eine zentrale Rolle. Im 15. Jahrhundert entwickelten sich in Europa die Schifffahrtstechnik 192 und die Kartographie 193 in eine Richtung weiter, die Voraussetzungen für die Überquerung des Atlantiks darstellten. Als Kolumbus im August 1492 seine erste Reise antrat mit dem Ziel, einen Seeweg nach Indien zu finden, war die Verbindung nach Indien und China über den Landweg bereits längere Zeit abgebrochen. Da aber aus diesen Gegenden schon jahrhundertelang wertvolle Güter wie Seide und Gewürze geliefert wurden, versuchte man nun über den Seeweg neue Möglichkeiten der Verbindung zu erkunden. Mit dieser ersten Reise des Kolumbus begann eine Geschichte der zunehmend systematischen Eroberung der Weltmeere und Kontinente durch europäische Seefahrer und Heere, 194 von deren Folgen auch die heutige Welt noch weitestgehend bestimmt ist.

Jaspert, Die Kreuzzüge; Gabrieli, Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht. Vgl. Brandes, Der Fall Konstantinopels als apokalyptisches Ereignis. 192 Venzke, Der Entdecker Amerikas. Aufstieg und Fall des Christoph Kolumbus, 145 ff. 193 Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. 194 Vgl. Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung; Die Entdeckung und Er190 191

96 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

Kolumbus war zeit seines Lebens der Überzeugung, einen Seeweg nach Indien gefunden zu haben, wohingegen Amerigo Vespucci (1451–1512) in seinem berühmten Reisebericht Mundus Novus von einer »Neuen Welt« sprach und der neue Kontinent dann erstmals 1507 auf einer Karte von Martin Waldseemüller den Namen »America« erhielt. In dem 1504 veröffentlichten Reisebericht von Vespucci heißt es über die neue Welt: »In vergangenen Tagen schrieb ich Dir sehr ausführlich von meiner Rückkehr aus den neuen Ländern, die auf Kosten und mit Hilfe der Schiffe und unter dem Befehl des allerdurchlauchtigsten Königs von Portugal gefunden und erforscht worden waren. Und mit Recht nennt man sie eine Neue Welt, denn keines dieser war unseren Ländern, war unseren Vorfahren bekannt; und allen, die von ihnen hören, werden sie völlig neu sein. Denn die Meinung der Alten ging dahin, daß der größte Teil der Welt jenseits der Äquatorlinie nach dem Süden hin nicht aus Land bestehe, sondern aus Meer, das sie Atlantik nannten. Und wenn sie zugaben, daß dort ein Kontinent liege, dann fanden sie doch viele Gründe zu leugnen, daß er bewohnt sei. Aber diese ihre Meinung ist falsch und vollkommen gegen die Wahrheit. Meine letzte Reise hat es bewiesen, denn ich habe in diesem südlichen Teil der Welt einen Kontinent gefunden; stärker mit Menschen bevölkert und von Tieren belebt als unser Europa oder Asien oder Afrika, ja sogar gemäßigter und angenehmer als irgendeine andere uns bekannte Gegend, wie weiter unten noch erklärt werden soll. Ich werde in gedrängter Kürze nur von den hauptsächlichsten Dingen erzählen, die besonders bemerkenswert sind, wie ich sie durch eigenen Augenschein oder vom Hörensagen in dieser Neuen Welt erfuhr, wie es jetzt offenbar werden soll.« 195

Als immer neue Fahrten deutlich machten, dass wirklich ein neuer Kontinent für Europa entdeckt worden war, den man noch nicht kannte und den auch die antiken Autoren in keiner Weise erwähnten, löste das eine Welle von weiteren Schiffsfahrten aus. Vasco da Gama (1469–1524) fand auf einer Reise, die 1497 begann, von Portugal aus den Seeweg um die südliche Spitze Afrikas herum nach Indien und Ferdinand Magellan (1480–1521) war der Erste, der auf einer Reise, die 1519 begann, mit einem Schiff um die Südspitze Südamerikas herum die ganze Welt umsegelte. Die Andersartigkeit der Menschen und Sprachen, auf die man stieß, war so groß, dass man in Europa viele Überzeugungen grundlegend überdenken musste. Ausgehend oberung der Welt. Dokumente und Berichte, erster Band: Amerika und Afrika, hg. v. Bitterli. 195 Vespucci, Die Neue Welt, 81.

97 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

vom Horizont des damaligen Denkens stellte man die philosophische Frage, ob die »Wesen«, die man in der »Neuen Welt« kennenlernte, eine »Seele« besitzen oder nicht, was gleichzusetzen war mit der Frage, ob es sich um Menschen handele oder nicht. Für diesen Zusammenhang wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts der Disput von Valladolid zwischen Bartolomé de Las Casas (1484/5–1566) und Juan Ginés de Sepúlveda (1490–1573) von zentraler Bedeutung. In den Jahren 1550 und 1551 fanden zwei philosophische Debatten zwischen den beiden Gelehrten statt, die klären sollten, ob die »menschenähnlichen Wesen« in Amerika eine Seele besitzen oder nicht. Las Casas hatte bereits in den Jahren zuvor immer wieder die Gräueltaten der Europäer in Amerika angeklagt und folgende Fragen gestellt: »Sagt, mit welcher Berechtigung und mit welchem Recht haltet ihr diese Indios in so grausamer und schrecklicher Sklaverei? Was ermächtigt euch, so verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen zu führen, die friedlich und ruhig in ihrem eigenen Lande lebten, Kriege, in denen ihr unendlich viele von ihnen mit nie gehörtem Mord und Zerstörung vernichtet habt? Warum haltet ihr sie so unterdrückt und erschöpft, ohne ihnen etwas zu essen zu geben, noch ihre Krankheiten zu heilen, die sie wegen dem Übermaß an Arbeit befallen, das ihr ihnen auferlegt; und sie sterben euch weg, oder besser, ihr tötet sie, nur um jeden Tag Gold herauszupressen und zu erhalten? Und was kümmert euch, wer sie im Glauben unterweist, damit sie ihren Gott kennenlernen, getauft werden und die Messe hören, die Feiertage und die Sonntage einhalten? Sind sie keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? Versteht ihr dies nicht? Fühlt ihr dies nicht?« 196

Da die Europäer die Menschen in Amerika von Anfang unterwarfen und durch unvorstellbare Gräueltaten ausrotteten, demütigten und versklavten, war für einige Missionare der Widerspruch zwischen christlicher Lehre und der gewaltsamen Eroberung immer mehr zum Anlass für Kritik geworden. Gegen diese Bedenken versuchte Juan Ginés de Sepúlveda als Aristoteliker mit philosophischen Argumenten in einem fiktiven Gespräch, das bereits im Jahr 1544/5 verfasst wurde, das kriegerische Vorgehen der Spanier und die Versklavung der »Indianer« zu rechtfertigen: »Im übrigen wirst Du Dich daran erinnern, daß die Herrschaft nicht von einer Art ist, sondern vielfältig; anders nämlich und auf anderer Rechts-

196

Las Casas, Die Schrecken der Eroberung, 98.

98 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

grundlage erteilt der Vater seinen Söhnen Befehle, anders wiederum der Mann seiner Frau, wieder anders der Herr seinem Sklaven, anders den Bürgern der Beamte, anders auch der König den Völkern und Menschen, die seinem Befehl unterworfen sind, und obwohl all diese Herrschaftsformen unterschiedlich sind, basieren sie dennoch alle auf dem Naturrecht, wenn sie auf rechter Begründung beruhen; mag es auch unterschiedlich erscheinen, wie die Weisen lehren, es reduziert sich auf ein einziges Prinzip und auf eine natürliche Einrichtung: das Vollkommene soll über das Unvollkommene befehlen und herrschen, das Tapfere über das Schwache und was sich tugendhaft hervorhebt, soll über das herrschen, was ihm ganz und gar unähnlich ist. Dies ist so natürlich, daß wir in allen Dingen, die aus vielen anderen Teilen bestehen, sei es unmittelbar oder geteilt, sehen, daß es eines gibt, welches die Macht innehat, und ein anderes, das unterlegen ist – wie die Philosophen erklären. […] Es gibt eine Art von Menschen, die von Natur aus Herren sind, die anderen, die von Natur aus Sklaven sind; denn diejenigen, die den anderen durch ihre Klugheit und Begabung, nicht aber durch Körperkräfte überlegen sind, die sind von Natur aus Herren; demgegenüber sind die Trägen und Schwerfälligen, mögen sie auch körperlich kräftig sein, um notwendige Aufgaben auf sich zu nehmen, von Natur aus Sklaven; die Weisen erklären, daß es nicht nur gerecht, sondern auch nützlich ist, daß sie von Natur aus den Herren dienen; dies ist – wie wir wissen – auch durch göttliches Gesetz sanktioniert. Es steht nämlich im Buch der Sprüche geschrieben: ›Wer dumm ist, soll dem Weisen dienen.‹ So sind die barbarischen und unmenschlichen Völker, die von einem zivilisierten Leben und friedlichen Sitten nichts wissen wollen. Für diese Völker wäre es ein Vorteil, der von Natur aus gerecht ist, daß sie sich der Herrschaft solcher Fürsten oder Völker unterwerfen, die menschlicher und tugendhafter sind, damit sie durch deren Tugend, Gesetzgebung und Klugheit ihre Wildheit ablegen und zu einem menschlicheren Leben, zu friedlicheren Sitten und zur Pflege der Tugenden angeleitet werden. Wenn sie eine derartige Herrschaft ablehnen sollten, können sie mit Waffengewalt gezwungen werden, und nach dem Naturgesetz handelt es sich um einen gerechten Krieg, wenn es heißt: ›So kommt es, daß die Methode, sich durch Krieg Macht zu verschaffen, auch in gewisser Hinsicht ihren Ursprung in der Natur hat, denn ein Teil davon ist die Jagdkunst, die man nach allgemeiner Auffassung sowohl gegen wilde Tiere als auch gegen solche Menschen anwenden darf, die zum Gehorsam geboren sind und die die Herrschaft ablehnen: denn ein solcher Krieg ist von Natur aus gerecht.‹ Dies sagt Aristoteles, dem Augustinus beipflichtet.« 197

197

Sepúlveda, Dialog über die gerechten Kriegsgründe, 226 ff.

99 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Sepúlveda beruft sich hier auf den Gedanken des Aristoteles vom »natürlichen Sklaventum« 198 bestimmter Menschen und auf die Lehren vom »gerechten Krieg«. 199 Es ist naheliegend, dass in diesen Diskussionen der schon aus der Antike überlieferte Gedanke eines »Naturrechts« von zentraler Bedeutung war, da man durch diese Argumentationsfigur einen überzeitlich gültigen Rahmen meinte in Anspruch nehmen zu können. Dass aber diese vermeintlich substanzielle »Natur« des Menschen hochgradig von normativen Setzungen der damaligen Zeit bestimmt war, wurde so gut wie nicht diskutiert. 200 Nach dem Disput von Valladolid wurde den »Indianern« von der katholischen Kirche eine »Seele« zugesprochen, so dass zumindest aus offizieller Sicht die Menschen nicht mehr versklavt und abgeschlachtet werden durften. Dafür kam es nun zur Zwangschristianisierung, da die neue »Definition« auch die »Rettung« dieser Seelen durch das Christentum vorsah. 201 Eine weitere Folge der Diskussionen war, dass nun zwar nicht mehr die »Indianer« als Sklaven behandelt werden durften, dafür aber Menschen aus Afrika vermehrt als Sklaven nach Amerika »importiert« wurden, was bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Die Geschichte der Sklaverei seit der europäischen Expansion 202 und ihr Zusammenhang mit dem philosophischen Denken in Europa ist noch weit davon entfernt, ausreichend aufgearbeitet zu sein. 203 Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich in dem überaus einflussreichen Buch Vom Geist der Gesetze von Montesquieu aus dem Jahre 1748 folgende Einschätzung zur Sklaverei: »In manchen Ländern entnervt die Hitze den Körper und schwächt die Tatkraft so sehr, daß die Menschen nur durch Furcht vor Strafe zur Übernahme einer mühseligen Pflicht zu bringen sind. Hier ist daher die Sklaverei für unseren Verstand nicht so ungereimt; […] Da indessen alle Menschen als Aristoteles, Politik, Buch V, 1254a. Vgl. auch: Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der spanischen Spätscholastik, hg. v. Justenhoven u. Stüben. 200 Vgl. Montaigne, Über die Menschenfresser, 109 ff. 201 Für eine populärgeschichtliche Aufarbeitung vgl. Paczensky, Verbrechen im Namen Christi. Mission und Kolonialismus. Für weitere Diskussionen und Rechtfertigungen vgl. Muldoon, The Americas in the Spanish World Order: The Justification for Conquest in the Seventeenth Century. 202 Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum. 203 Zeba, Das Erbe transatlantischer Sklaverei. Zu den notwendigen menschenrechtlichen und zivilisatorischen Folgen heute. 198 199

100 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

Gleiche geboren werden, muß eingeräumt werden, daß Sklaverei widernatürlich ist, obgleich sie in gewissen Ländern einen natürlichen Grund hat. Diese Länder sind streng von denen zu trennen, wo sich ihr sogar natürliche Gründe widersetzen, wie etwa in den europäischen Ländern.« 204

Anderen damals sehr einflussreichen Autoren fallen hingegen einige Zeit später die eklatanten Widersprüche auf, die das Handeln der Europäer in Bezug auf die Sklaverei prägten: »Europa erschallt seit einem Jahrhundert von den gesundesten und erhabensten moralischen Grundsätzen. Die brüderliche Liebe gegen alle Menschen ist auf die rührendste Art in unsterblichen Werken vorgetragen. Man ist unwillig über die geistlichen und weltlichen Grausamkeiten unserer wilden Voreltern und wendet seine Blicke von diesen abscheulichen und blutigen Jahrhunderten ab. Diejenigen unserer Nachbarn, welche von den barbarischen Staaten mit Fesseln belegt sind, werden von uns durch Hilfe und Mitleiden unterstützt. Selbst eingebildetes Unglück entreißt uns in der Stille unsers Kabinetts und vorzüglich auf dem Theater Tränen. Nur das unglückliche Schicksal der Neger ist uns gleichgültig. […] Der erste Schritt zu einer Verbesserung bestünde darin, daß man den natürlichen und sittlichen Menschen kennenlernte. […] Die Seele der Verwalter ist jeder Empfindung von Mitleiden verschlossen, kennt keine anderen Triebfedern als Furcht und Gewalt und braucht sie mit aller Unmenschlichkeit einer erbettelten Herrschaft. Wenn die Eigentümer der Pflanzungen aufhörten, die Sorge für die Sklaven für zu gering zu achten, und sich einem Geschäft unterzögen, das in allem Betracht eine Pflicht für sie ist, so würden sie bald diese grausamen Irrtümer ablegen. Die Geschichte aller Völker würde ihnen beweisen, daß man die Sklaverei wenigstens gelinde machen muß, wenn sie einträglich sein soll, daß die Gewalt die innere Widerspenstigkeit der Seele nicht hemmet, daß der Vorteil des Herrn es erfordert, daß der Sklave Luft zum Leben habe und daß man nichts mehr von ihm zu erwarten hat, sobald er sich nicht mehr vor dem Tod fürchtet.« 205

In den USA kam es erst 1865 dazu, dass die Menschen und Familien, die aus Afrika nach Amerika in die Sklaverei verschleppt worden waren, »offiziell« und dem Gesetz nach aus der Versklavung befreit wurden. Die Bürgerrechte erhielten diese Menschen erst durch den Civil Rights Act von 1964. Erst in den 1970er Jahren wurde dann der Zusammenhang diskutiert, dass die »Freiheit Amerikas« auf der »Ver204 205

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 268. Raynal u. Diderot, Die Geschichte beider Indien, 225 ff.

101 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

sklavung der Schwarzen« gegründet war. 206 Erst im Jahr 2016 wurde in den USA von Barack Obama das erste Museum für die Geschichte der Schwarzen in Amerika eröffnet. 207 Zurück zu den Anfängen der europäischen Expansion und der Bildung eines internationalen See- und Völkerrechts: Mit fortschreitender Kolonialisierung und dem regen Schiffsverkehr auf den Weltmeeren kam es seit dem Ende des 16. Jhs. immer wieder zu Konflikten zwischen den europäischen Mächten auf offener See. So war der gewaltsame Konflikt zwischen einem niederländischen und einem portugiesischen Handelsschiff, dem ein längeres Gerichtsverfahren folgte, Anlass für ein Rechtsgutachten, das bei Hugo Grotius in Auftrag gegeben wurde. Aus diesem Gutachten wurde 1609 ein Kapitel unter dem Titel Mare Librum veröffentlicht, in dem Grotius für die Freiheit der Weltmeere eintrat. 208 Heute gilt dieses Buch als Klassiker des Völkerrechts. Der Text zeigt aber nur die kleine Spitze eines riesigen Eisberges von rechtlichen Regelungen und Verträgen, die seit dem 16. Jahrhundert in unzähligen Streitfällen zwischen den europäischen Mächten und den Gemeinwesen getroffen wurden, die die Europäer in Übersee einnehmen wollten. Aus diesen hochverflochtenen geschichtlichen Kontexten ist langsam ein Völkerrecht erwachsen, das im 20. Jahrhundert zur Einrichtung eines »Internationalen Gerichtshofs« geführt hat. Die europäische Rechtsgeschichte und auch die Rechtsphilosophie haben diese Entwicklungen lange marginalisiert: »Daß die Völkerrechtsgeschichte das Stiefkind der Rechtsgeschichte war und ist, ist nachgerade ein Gemeinplatz. Und innerhalb der Geschichtsschreibung des Völkerrechts nimmt die Behandlung überseeischer Rechtsfragen traditionell einen besonders geringen Platz ein. Zentral ist Europa. Die europäische Expansion und ihre Rückwirkung auf Europa werden wenig beachtet.« 209

Nimmt man beide Kontexte in die Reflexionen zur Entstehung des Völkerrechts auf, so zeigt sich, wie aus einer Situation, in der noch Vgl. Morgan, American Slavery, American Freedom. National Museum of African American History & Culture, Washington. 208 Grotius, Mare Liberum. Zur Aktualität eines Klassikertextes. 209 Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht: die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 28. Vgl. auch Fisch, Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. 206 207

102 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

keine Kontakte oder Beziehungen bestanden, über Jahrhunderte hinweg ein Rechtsrahmen entstanden ist, der zunächst ausschließlich die Interessen der Europäer sicherte, da sie die Rechte setzten und neu bestimmten. »Die Ausgangssituation der europäischen Expansion war gekennzeichnet durch Beziehungslosigkeit und damit gegenseitige Unabhängigkeit und negativ umschriebene Gleichheit. […] Beziehungslosigkeit bedeutete, daß keine Seite gegenüber der andern irgendwelche Rechte ausübte. Man konnte aus dem Verhältnis selber, das ein Nicht-Verhältnis war, auch nicht ableiten, daß die eine Seite gegenüber der anderen Ansprüche auf Rechte besaß, die der Gegenseite nicht zukamen. Ohne Zusatzannahmen oder Zusatzgründe ließ sich nur ableiten, daß jede Seite genau so viele und genau so wenige Ansprüche auf Rechte hatte wie die andere.« 210

In dieser Situation stritten die europäischen Staaten darum, wie die Gebietsannexionen, die Verteidigungskriege in den neuen Gebieten, die Passierrechte auf den Meeren, die Rechtsverhältnisse in den neuen Gebieten usw. auszusehen hatten. Innerhalb dieser vielfältigen Interessenkonflikte trat immer deutlicher der Gedanke von »universalen Rechten« zutage, d. h. von Rechten, die allen Völkern von Natur aus zukommen sollten. Aus heutiger Sicht kann man viele Diskussionen der damaligen Zeit nur als zynisch ansehen, da im Namen »universaler Rechte« in den meisten Fällen allein die Interessen der Europäer gesichert wurden. »Universale Rechte kommen allen Subjekten eines bestimmen Verkehrs zu, hier also allen europäischen und überseeischen Staatswesen. Sollten sie europäische Angriffe absichern können, so mußten zusätzliche, nicht mehr rechtliche, sondern faktische Bedingungen erfüllt sein, die sicherstellten, daß im Normalfall sich nur die Europäer ihrer bedienten, sich auf sie berufen konnten. Die von der Expansion geschaffenen Verhältnisse sorgten für solche Bedingungen. So gab z. B. ein angenommenes Recht zur humanitären Intervention jedem Staat gegen jeden anderen unter bestimmten Bedingungen ein Interventionsrecht. Doch war unwahrscheinlich, daß die überseeischen Staatswesen es jemals gegen die Europäer in Anspruch nehmen würden. Denn die Europäer standen in Übersee, nicht umgekehrt, und sie definierten auch, was Humanität sei.« 211

Unter diesen Bedingungen wurden für die Europäer zusätzlich vielfältige Sonderrechte eingeführt, die bestimmten Akteuren nur unter 210 211

Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 11. Ebd., 485.

103 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

bestimmten Bedingungen zukommen konnten, so dass sie sich bei ihrem Vorgehen dann auf geltendes Recht berufen konnten. Es ist leicht erkennbar, dass diese Fragen nicht nur die historischen Kontexte betreffen, sondern auch gegenwärtig von hoher Relevanz sind. Wenn die Völkerrechtsphilosophie heute den Horizont der europäischen Expansion nicht in ihre Überlegungen mitaufnimmt, läuft sie Gefahr, alte Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte zu perpetuieren. 212 Neben dem Völkerrecht, das sich aus den unzähligen Verträgen und Konflikten im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt hat, entstand ein weiteres, folgenreiches Diskursfeld im Zusammenhang mit den in Europa neu zugänglichen Informationen über Menschen und Regionen in der Welt. Die sich seit dem Beginn der europäischen Expansion immer weiter verbreitende literarische Gattung der Reisebeschreibung führte in Europa dazu, dass im 17. und 18. Jahrhundert verstärkt über den »Urzustand« der Menschheit und deren Bedeutung für die damals gegenwärtige Situation spekuliert wurde. Die Phantasie der Philosophen erhielt durch die Reisebeschreibungen reiches Futter, so dass zahlreiche Bilder von »bösen Wilden« und von »edlen Wilden« entworfen wurden, die jeweils passend zu den philosophischen Entwürfen ihre Funktion für die Herleitung politischer Utopien und Programme erfüllten. Hobbes, Locke, Pufendorf und Rousseau gehören zu den bekanntesten Autoren, die ihre politische Philosophie im Zusammenhang mit den damals sehr lebendigen Imaginationen hinsichtlich der Menschen entwickelten, die für die Europäer im »Naturzustand« lebten. 213 Nicht nur die anwachsenden Debatten um das Naturrecht, sondern auch die beginnenden Debatten um die Kulturgeschichte gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind ohne den Kontext der europäischen Expansion nicht zu denken. Zu diesem Zeitpunkt verbanden sich die kulturgeschichtlichen EntwicklungsEine neue Publikation bezieht diese Kontexte mit ein: Völkerrechtsphilosophie der Frühaufklärung, hg. v. Altwicker, Cheneval u. Diggelmann. Vgl. in dem Band u. a. die Aufsätze von Zurbuchen, Eigenes und Fremdes im Völkerrecht der Frühen Neuzeit: Rechtfertigung und Kritik der Unterwerfung der Völker der Neuen Welt; Räber, Das Eigene und Fremde bei John Locke. Lockes Legitimation von Eigentumsrechten und der britischen Kolonialisierung Amerikas. Im Weiteren sei verwiesen auf: Williams, The American Indian in Western Legal Thought. The Discourses of Conquest; Anaya, Indigenous Peoples in International Law. Dass die europäische Expansion bis heute schwierige Rechtslagen hat entstehen lassen zeigt: Anaya, International human rights and indigenous peoples. 213 Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, 95 ff. 212

104 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

geschichten zunehmend mit dem Narrativ der »menschlichen Rassen«, 214 das durch die Schrift Von den verschiedenen Racen der Menschen aus dem Jahre 1775 von Immanuel Kant in nüchtern-philosophischer Weise in die Philosophie eingeführt wurde. 215 Die hochgradige Verflechtung der Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung in Europa mit rassistischen Motiven, die nicht immer bis an die Oberfläche der Texte vordringen, tritt in letzter Zeit zunehmend in den Blick. 216 Vertieft man sich in die Verflechtungen von Philosophie und europäischer Expansion seit dem 16. Jahrhundert, so wird der dunkle und oft bis heute verdrängte Schatten sichtbar, der die Erzählung von der Aufklärung und Befreiung der Menschheit in Europa und den USA teils bis heute begleitet. 217 Durch die Ethnologie, die im 19. Jahrhundert als eigenes wissenschaftliches Fach in Folge der europäischen Expansion in Europa und Nordamerika entstand, wurde die Philosophie zunächst davon entlastet, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die durch das Bekanntwerden der vielfältigen Kulturen in Amerika, Afrika und Südostasien entstanden waren. Im 20. Jahrhundert vermehrten sich dann in der Ethnologie die Bemühungen, den »Primitiven« – wie sie im 19. Jahrhundert häufig auch in »positiver« Absicht genannt wurden – ein eigenes Weltbild zuzugestehen, das eigenen Gesetzen und einer eigenen inneren Logik folgt. Hier sind vor allem die Schriften von Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) zu nennen wie Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (Paris 1910) 218 und L’âme primitive (Paris 1927), die sehr bald auch ins Deutsche übersetzt wurden. 219 LévyFarr, Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins, in: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, hg. v. Eggers et al. 215 Zu den verschiedenen Rassekonzepten und zeitgenössischen Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen Kant und Forster vgl. die in einer eigenen Reihe zusammengestellten Schriften der damaligen Zeit: Concepts of race in the eighteenth century, hg. v. Bernasconi, 8 Bde. 216 Race and Racism in Continental Philosophy, hg. v. Bernasconi u. Cook; Park, Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon: 1780–1830. 217 Für den Kontext der USA vgl. Morgan, American Slavery, American Freedom. In seinem Buch zeigt Morgan auf, wie die »Freiheit« und »Unabhängigkeit« Amerikas nur möglich wurde in direktem Zusammenhang mit der Sklaverei. 218 Dieses Buch erschien 1922 unter dem neuen Titel La mentalité primitive. 219 Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, 1921; ders., Die Seele der Primitiven, 1930. 214

105 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Bruhl setzte sich in seinen damaligen Interpretationen ab von Autoren wie Edward Tylor, der in seinem epochemachenden Buch Primitive Culture aus dem Jahr 1871 diese Kulturen als unterentwickelt und defizitär im Vergleich zur Kultur Europas deutete. Lévy-Bruhl betonte in seinen Interpretationen die Differenzen der Weltbilder und weniger die Ähnlichkeiten. Die Interpretationsansätze von Lévy-Bruhl wurden später von Claude Lévi-Strauss (1908–2009) mit neuer Richtung fortgesetzt unter anderem in seinem wirkungsreichen Buch La pensée sauvage aus dem Jahre 1962. 220 Die neuesten Ansätze in diese Richtung stammen unter anderem von Philippe Descola, der in seinem Buch Par-delà nature et culture 221 versucht, verschiedene Weltbilder des Animismus als konsistente Lebenswelten zu deuten. Philosophiegeschichtlich stellen sich hier schwierige Fragen vor allem in Hinblick auf die philosophische Konzeptualisierung von Lebenswelten, in denen in vielen Fällen selbst keine Texte verfasst werden, sondern Wissen und Lebensweisen in oralen Traditionen und durch praktische Anwendung weitergegeben werden. 222 Im 20. Jahrhundert hat es daher immer wieder Versuche gegeben, verschiedene Lebensweisen als »Philosophie« zu lesen und zu interpretieren. 1927 erschien das Buch Primitiv Man as Philosopher von Paul Radin. Zu diesem Buch schrieb John Dewey ein Vorwort, in dem es heißt: »Dr. Radin’s work opens up an almost new field.« Die Familie Radins stammte aus Polen und war in den 1880er Jahren in die USA ausgewandert. Radin studierte bei Franz Boas, der seinerseits aus Deutschland in die USA emigriert war und dort die Ethnologie revolutionierte. Sein Ansatz versuchte die Eigenlogik der Kulturen zu betonen im Gegensatz zur entwicklungsgeschichtlichen Sicht, in der den »Primitiven« all das nicht zugesprochen wurde, was den »Zivilisierten« ihre eigene Überlegenheit über alle anderen sicherte. Radin beschreibt diese Probleme in seinem Buch genau und schlägt demgegenüber eine andere Sicht vor: »That it is important to the ethnologist, the historian, the sociologist, and the psychologist to understand the true nature of the mentality of primitive

Auch dieses Buch erschien bald in dt. Sprache: Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Zur neueren Debatte um diesen Ansatz vgl. Wirkungen des wilden Denkens – Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, hg. v. Kauppert u. Funcke. 221 Dt. Übers. Descola, Jenseits von Natur und Kultur. 222 Encyclopédie Philosophique Universelle, Bd. 4, Le Discours Philosophique, hg. v. Jacob. 220

106 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

man is, of course, self-evident. But practical questions of far more general import are also involved. In Asia, Africa, the islands of the Pacific, Mexico, and South America there exist today millions of so called primitive peoples whose relation to their white and Mongolian conquerors is of vital importance both to the conquerors and to the conquered, or semi-conquered, aborigines. Up to the present all attempts that have been made to understand them, or to come to any reasonable adjustment with them, have met with signal failure, and this failure is in most instances due to the scientifically accredited theories of the innate inferiority of primitive man in mentality and capacity for civilization quite as much as to prejudice and bias. […] The most pressing need in ethnology, then, is to examine anew the older assumptions which, wittingly or unwittingly, ethnologists themselves have harbored for two generations and which threaten to become fixed traditions among psychologists, sociologists, and historians. Among the more important of these assumptions is the notion that there is a dead level of intelligence among primitive peoples, that the individual is completely swamped by and submerged in the group, that thinkers and philosophers as such do not exist in short, that there is nothing even remotely comparable to an intellectual class among them.« 223

In seinem Buch versammelt Radin Materialien und Beschreibungen, anhand derer er aufweist, dass in den von ihm beschriebenen Kulturen immer auch Menschengruppen und Menschen existieren, die als sogenannte »Intellektuelle« bzw. als »Philosophen« angesprochen werden können. Damit versucht Radin zu betonen, dass es sehr wohl möglich ist, unter den »Primitiven« Philosophen zu finden, so dass eine gemeinsame Basis für das Gespräch gegeben ist. Radin hebt im Gegensatz zu Lévy-Bruhl, den er für eine zu starke Betonung der Differenzen kritisiert, die Gemeinsamkeiten hervor und verleiht bestimmten Menschen unter den »Primitiven« den Titel »Philosophen«, was bereits im Titel des Buches Primitiv Man as Philosopher zum Ausdruck kommt. Die Bezeichnung »Primitive« wird in dem Buch jedoch nicht weiter hinterfragt und im Sinne des damaligen Wortgebrauchs affirmiert. Radin selbst argumentiert in dem klaren Bewusstsein, durch seine Ausführungen Vorurteile abzubauen, um so die Welt der »Primitiven« besser verstehen zu können. Zu dem Gedanken, dass die von ihm verstehend eingeordneten Menschen selbst zu Gesprächspartnern werden könnten, kommt es in dem Buch nicht. Diese Situation hat sich heute deutlich verändert. Die Neuerun223

Radin, Primitiv Man as Philosopher, IXf.

107 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

gen wurden aber in vielen Fällen durch lange Leidenswege im Kampf um Anerkennung errungen. Menschen, die an den sich weltweit verbreitenden Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise »Philosophie« studierten, wurden in vielen Fällen früher oder später mit den massiven Bewertungen europäischer Philosophen und Wissenschaftler konfrontiert. So schreibt Kwasi Wiredu (geb. 1931), der heute zu den weltweit bekanntesten aus Afrika stammenden Philosophen zählt, im Vorwort des von ihm herausgegebenen Companion to African Philosophy das Folgende über seine Studienzeit: »Philosophy departments tended not to develop the impression that there was any such thing [as African Philosophy]. I graduated from the University of Ghana in 1958 after at least five years of undergraduate study. In all those years I was not once exposed to the concept of African philosophy. […] I do not now remember what else in the literature relevant to African philosophy I knew by the time of graduation (1958) either by the grace of God or by the play of accident, except for the bare title of Radin’s ›Primitive Man as Philosopher‹. However, when I ran across or stumbled over it, the word ›primitive‹ in the title put me off, and I stayed away from its pages until a long time after graduation.« 224

Die Konzeptualisierung des »primitiven Menschen« bei Radin musste für Wiredu wie ein Schlag ins Gesicht sein. Denn er selbst als Afrikaner musste sich wohl unter die rechnen, die Radin in seinem Buch als »Primitive« beschrieb. Spätestens mit dem Buch Orientalism von Edward Said (1935–2003) aus dem Jahre 1978 hat sich eine postkoloniale Kritik und Theoriebildung entwickelt, die die europäischen Bewertungsmuster und Machtansprüche in den Wissenschaften auf vielfältige Weise durchleuchten. In dieser Theorieströmung sind häufig Menschen tätig, die aus verschiedenen Gegenden der Welt stammen und die die normativen Widersprüche nicht nur der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung in Europa am eigenen Leibe erfahren haben. Dipesh Chakrabarty (geb. 1948) brachte im Jahr 2000 die Stoßrichtung der theoretischen Bemühungen mit dem Titel seines Werkes auf den Punkt: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historial Difference. Konfrontiert mit dieser Kritik ziehen sich viele Philosophierende in Europa und Nordamerika noch immer zurück in das Gebiet der formalen philosophischen Analyse von Argumenten und Theorien. Auch im Bereich der Ethik wird diese Kritik kaum beachtet, da auch hier in den meisten Fällen ausschließlich for224

A Companion to African Philosophy, hg. v. Wiredu, 1.

108 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die europäische Expansion als Eroberungs- und Verflechtungsgeschichte

male Argumente und ethische Begründungstheorien ausgetauscht und entwickelt werden, die selbst keine Notwendigkeit sehen, einen Zusammenhang zwischen ethischer Theoriebildung und europäischer Expansion herzustellen. Die Probleme, die sich hier zeigen, sind in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher hervorgetreten und auch in der Philosophie thematisiert worden. 225 Wie sich diese Fragen und Probleme im Rahmen einer Philosophiegeschichtsschreibung beschreiben und aufnehmen lassen, ist bisher nur selten thematisiert worden und bleibt damit eine dringende Aufgabe für zukünftige Entwürfe. Fakt ist, dass sich die Philosophie in Europa seit 1492 in vielen Bereichen in bisher nicht ausreichend erforschtem Maße verflechtungsgeschichtlich im Horizont der europäischen Expansion entwickelt hat. Hier sind nicht nur Fragen nach dem Status des Menschseins betroffen. Vielmehr sind auch Fragen nach politischer Macht, den Menschrechten, dem Völkerrecht, kultureller Entwicklung usw. seit dem 16. Jahrhundert nicht ohne diesen Horizont zu verstehen. Dies betrifft aber nicht nur die Philosophie im engeren Sinne, sondern auch viele schwierige Fragen, die unsere gegenwärtige politische Situation betreffen. So sind viele Migrationsbewegungen, Rassen- und Religionskonflikte sowie wirtschaftliche Ungleichgewichte direkte Folgen der europäischen Expansion, die Ungerechtigkeiten und Widersprüche erzeugt hat, die bei zunehmender Selbstbestimmung der Regionen der Welt an die Oberfläche treten in Form von Kriegen, Anklagen und blankem Hass. Im Grunde stehen wir immer noch am Anfang einer Aufarbeitung dieser Zusammenhänge in der Philosophie. Dies kann aber nur dann in grundlegender Weise geschehen, wenn sich ein Philosophieren weiter etablieren kann, das diese globalen Zusammenhänge grundsätzlich im Blick behält und damit auch die Ambivalenzen der Aufklärung philosophisch neu durchdringen kann. 226 Mit der fortschreitenden europäischen Expansion ist ein globaler Verfechtungsraum entstanden, der eine große Vielfalt von einzelnen Es sei hier vor allem auf folgende Zeitschrift verwiesen: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. 226 Im deutschsprachigen Raum sind seit den 1990er Jahren hierzu vielfältige Bemühungen unter dem Namen »Interkulturelle Philosophie« unternommen worden. Aber auch unter anderen Bezeichnungen und Hinsichten ist in diesem Gebiet einiges geschehen. Wichtig ist, dass der Sache nach an neuen Perspektiven für den Zusammenhang von Philosophie und europäischer Expansion gearbeitet wird, der Name dafür ist letztlich unwichtig. 225

109 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Verflechtungsgeschichten hervorgebracht hat, die kaum noch zu überblicken sind. Für die europäische Philosophie sind dabei vom 17.–19. Jahrhundert vor allem zwei Verfechtungsgeschichten besonders relevant, die im Folgenden noch reflektiert werden sollen.

9.

Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert

Als Jacques Benigue Bossuet im Jahre 1681 seinen Discours sur l’histoire universelle der Öffentlichkeit präsentierte, war das Bild von der Geschichte der Menschheit in Europa noch durch und durch von der christlich-biblischen Überlieferung bestimmt. Seine Darstellung beginnt im Jahre 4004 vor Christus, dem Jahr, in dem nach biblischer Chronologie die Welt durch Gott erschaffen wurde: »Die erste Epoche gewährt Ihnen gleich Anfangs ein großes Spektakel; Sie sehen da Gott, wie Er Himmel und Erde durch sein Wort erschafft, und den Menschen nach seinem Bilde macht. Damit beginnt Moses, der älteste aller Geschichtsschreiber, der erhabenste aller Philosophen, und der weiseste aller Gesetzgeber.« 227

Dieses Bild von der Schöpfung und der Geschichte der Menschheit, verankert in der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung, behält für die christlich geprägten Teile des Abendlandes bis ins 17. Jahrhundert und in vielen Fällen darüber hinaus seine Gültigkeit. Obwohl damals weitgehend unbestritten, war die christliche Chronologie ein besonderer Gegenstand der damaligen Auseinandersetzungen (etwa von 1630 bis 1750), 228 denn die damals bekannt werdenden chronologischen Berechnungen der Chinesen standen im offenen Widerspruch zur Bibel: »Desgleichen behaupteten so gelehrte Astronomen und so urteilsfähige Köpfe wie die Chinesen, wohlausgerüstet mit Kalendern und Zeittafeln, sie existieren seit einer so weit zurückliegenden Epoche, dass, wenn man diesen Unverfrorenen glauben wollte, sie schon vor dem Augenblick, in dem Gott das Licht schuf, dagewesen sein müßten. Neben dem ersten Kaiser von China erschien Adam nur wie ein Nachkömmling.« 229 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1827: Bossuet, Universal-Geschichte vom Anfang der Welt bis auf das Kaiserreich Karl’s des Großen, 9. 228 Vgl. hierzu besonders Pinot, La Chine et la Formation de l’esprit philosophique en France (1640–1740). 229 Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, 70. 227

110 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert

Mit China und dem christlichen Europa trafen zwei grundsätzlich verschiedene ›Weltchronologien‹ bzw. hypothetische ›Weltanfänge‹ aufeinander, die sich jeweils als das Zentrum der Welt verstanden. Beide Welten konstruierten ihren eigenen Weltanfang ausgehend von ihrem Geschichtsverständnis, und – was damals wichtig war – beide waren in der Lage, dies mit historischen Chronologien und astronomischen Argumenten zu belegen. Dieses Aufeinandertreffen brachte umwälzende Wirkungen für das europäische Selbstbild und stellte unhinterfragte Voraussetzungen in der geschichtlichen Herleitung grundsätzlich in Frage. 230 Vor dem genannten Hintergrund lässt Voltaire sein 1756 erschienenes Werk Essay sur l’histoire général et sur les moers et l’esprit des nations mit China beginnen, da China die älteren Chronologien aufzuweisen habe. Nach China folgt die Darstellung Indiens. Diese Reihenfolge hat in der Tat etwas Revolutionäres, da in ihr die abendländisch-christliche Tradition durch fremde Traditionen überboten wird. Auf diesem neuen Bild vom Ablauf der Geschichte fußt auch die Geschichtsphilosophie Hegels, der die Entwicklung philosophisch zu begründen versucht und letztlich vor dem Hintergrund seines Entwicklungsschemas wieder zugunsten Europas zurechtrückt. Bei Hegel heißt es in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Mit dem Reiche China hat die Geschichte zu beginnen, denn es ist das älteste, soweit die Geschichte Nachricht gibt.« 231 Im Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert wurde die in Europa konzipierte Weltgeschichte »umgeschrieben«, angestoßen durch Auseinandersetzungen zwischen chinesischen und europäischen Gelehrten. Durch diese Begegnung war eine neue Chronologie der Weltgeschichte fällig geworden, die zugleich eine erhebliche Relativierung der Geschichte Europas bedeutete. Das Beispiel verdeutlich mit Nachdruck, dass das »moderne« Europa nicht einfach aus sich selbst, sondern vor allem durch seine gewaltsamen Verwicklungen, aber auch durch die horizontverschiebenden Begegnungen mit dem, was es seit 1492 mehr und mehr als ein »Vormodernes« und damit nicht ernstzunehmendes »Anderes« konstruiert hat. 232 Für eine ausführlichere Diskussion der Zusammenhänge vgl. Rudolf Weinmann, Denken und Gesellschaft Chinas im philosophischen und politischen Diskurs der französischen Aufklärung, 68–76, 271–318; Li, Leibniz, der Chronologienstreit und die Juden in China. 231 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 147. 232 »In den systematischen Sozialwissenschaften wurde die imperiale Trennung zwi230

111 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

Die Auseinandersetzungen mit China bezogen sich aber nicht nur auf die Chronologien, sondern auch auf andere Bereiche der europäischen Kultur. China wurde in vielen Texten zu einer idealen Utopie stilisiert, von der die Europäer zu lernen hätten: »Führten die eingeführten chinesischen Waren zur Chinamode in der Kunst, so beflügelten die Chinaberichte, namentlich der jesuitischen Missionare, andere Seiten der europäischen Kultur, nämlich die Philosophie, die Staats- und Religionslehre, ja sogar den politischen Roman und die Dichtung. Die Berichte der seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in China lebenden Jesuiten hatten die Europäer mit einer ihnen fremden Kultur- und Geisteswelt bekannt gemacht. Wurden die Jesuitenberichte zunächst aus der Sicht der Theologie betrachtet, fanden sie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch in den Kreisen der weltlichen ›Res publica litteraria‹ zunehmenden Widerhall. Dazu trug vor allem das von den Jesuiten entworfene Bild des chinesischen Staates Entscheidendes bei. Die Höhe der chinesischen Kultur, die friedliche Geordnetheit des zivilen Lebens, die Praktizierung einer vernunftbezogenen Ethik und ein auf Moral und persönlichen Verdienst gegründetes Staatswesen – aus der Flut der jesuitischen Publikationen tauchte China als ein realexistierender philosophischer Idealstaat auf. Im Vergleich zu dem von den Jesuiten gezeichneten Chinabild befand sich Europa in einem geradezu erbärmlichen Zustand: Am Ende des 17. Jahrhunderts, rund vierzig Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und zu Beginn des Pfälzischen Krieges (1688–1697), stand das politisch zersplitterte und uneinige Europa vor dem Ausbruch von zwei neuen, großen Kriegen, dem Nordischen und dem Spanischen (Erbfolge-)Krieg. Und noch während der ›Mars christianissimus‹ – indem er erst 1685 durch die Aufhebung des Edikts von Nantes eine neue Welle von Intoleranz und politischer Verfolgung ausgelöst hatte – ganz Europa in Atem hielt, erließ der chinesische Kaiser Kangxi 1692 sein bereits erwähntes Toleranzedikt,

schen Europa als Subjekt und der kolonialisierten Welt als Objekt dann institutionell fixiert: Die entscheidenden Disziplinen der Soziologie, der Nationalökonomie und der Politikwissenschaft behandelten die europäische Welt der Moderne, während die Untersuchung ›vormoderner‹ Kulturen der Anthropologie und Ethnologie vorbehalten blieb. Die alten Hochkulturen, deren Geschichte inzwischen jedoch ohne jede Dynamik zu sein schien und die sich daher zu ›Reichen der Dauer‹ (Hegel) degradiert sahen, waren in den Fächern der Indologie, Sinologie und Japanologie aufgehoben. Diese Separierung der akademischen Disziplinen brachte es mit sich, dass für die Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen geographischen Regionen kein methodischer Platz existierte. Die Ausgliederung des ›Anderen‹ aus der Moderne wurde somit durch die Organisation des europäischen Wissens auch theoretisch festgeschrieben.« Conrad u. Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichte – Europa in einer postkolonialen Welt, 21.

112 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert

durch das dem Christentum die gleichen Rechte wie dem Buddhismus und dem Taoismus eingeräumt wurden.« 233

In der damaligen Zeit waren es nicht nur zweit- oder drittrangige Philosophen, die in China eine besondere Herausforderung für die europäische Geisteswelt gesehen haben. Kein geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz veröffentlichte 1697 ein Buch mit dem Titel Novissima Sinica. Dieses Buch war nur eine der damals zahlreichen Veröffentlichungen zu China, die direkt mit der philosophischen Entwicklung in Zusammenhang standen. In der Schrift von Leibniz ist das Folgende über China zu lesen: »Aber wer hätte einst geglaubt, daß es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu allein feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft? Und dennoch erleben wir dies jetzt bei den Chinesen, seitdem jenes Volk uns vertrauter geworden ist. Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen – was zu bekennen ich mich beinahe schäme – auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind. Es ist nämlich mit Worten nicht zu beschreiben, wie sinnreich bei den Chinesen – über die Gesetze anderer Völker hinaus – alles angelegt ist auf den öffentlichen Frieden hin und auf die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen, damit sie sich selbst so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich verursachen.« 234

Neben den Chronologien wird bei Leibniz mit aller Deutlichkeit das Feld der Ethik im Zusammenhang mit der chinesischen Philosophie hervorgehoben. Die damaligen Berichte über China, die Leibniz in großem Umfang bekannt waren, brachten ihn zu der Überzeugung, dass praktische Philosophie der Chinesen in gesellschaftlicher Hinsicht deutlich erfolgreicher gewesen war als die praktische Philosophie der Europäer. Neben den Berichten der Missionare war 1687 erstmalig eine lateinische Übersetzung des Textes erschienen, der in chinesischer Sprache als die Aussprüche des Kongzi bzw. Konfuzius

Lee, »Anti-Europa«. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung, 39. 234 Leibniz, Novissima Sinica, 11. 233

113 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

(Lunyu) überliefert wurde, 235 so dass europäische Gelehrte erstmalig Zugang zu den Quellentexten erhielten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Übersetzung des Textes vom Chinesischen in die lateinische Sprache mit vielen terminologischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Der Übersetzer Philippe Couplet (1623–1693), der viele Jahre in China gelebt hatte, verband den Text des Konfuzius mit lateinisch-christlicher Terminologie, so dass er für die damaligen europäischen Leser nicht mehr so fremd erschien. Eine vollständige Übersetzung der vier konfuzianischen Klassiker (Kongzi, Mengzi, Daxue, Zhongyong) erschien dann im Jahr 1711 unter dem Titel Sinensis Imperii Classici sex realisiert durch François Noël (1651– 1729). 236 Diese Übersetzung versuchte die christliche Terminologie zu vermeiden und lehnte sich dagegen vor allem an die lateinische Terminologie an, die für die Nikomachische Ethik des Aristoteles entwickelt worden war. 237 Schon im Jahr 1712 wurde diese Übersetzung von Christian Wolff gelesen, dem damals führenden Philosophen im deutschsprachigen Gebiet. 238 In seinem Werk finden sich immer wieder Äußerungen zur chinesischen Philosophie. Als Höhepunkt seiner Auseinandersetzung ist aber seine berühmte Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (Oratio de Sinarum Philosophia Practica) aus dem Jahr 1721 anzusehen, die er an der Universität Halle gehalten hat. In dieser Rede heißt es unter anderem: »Kein geringes Lob scheinen mir die Chinesen auch dafür zu verdienen, daß sie jede Einrichtung ihrer Studien auf einen gewissen Zweck bezogen und dabei nur das zuließen, was zu diesem führen sollte. Nicht weniger Lob scheinen sie mir dafür zu verdienen, daß sie diese Einrichtung ihrer Studien auch auf das Leben bezogen und dabei nur das zuließen, was dazu diente, die Glückseligkeit zu erreichen; dies war die Ursache dafür, daß in diesem in höchster Blüte stehenden Zeitalter in ganz China niemand zu finden war, der sich nicht dem Studium gewidmet hätte, soweit es sein Talent zuließ und seine Lebensumstünde verlangten. Ja, auch darin scheinen mir die Chinesen lebenswert zu sein, daß sie die Sittenlehren nicht nur mitteilten, son-

Vgl. Meynard, Confucius Sinarum Philosophus (1687). The First Translation of the Confucion Classics. 236 Ein Reprint dieses Textes ist vor kurzem erschienen: Sinensis Imperii Classici sex, mit einer Einleitung von Henrik Jäger. 237 Dies sind die jüngsten Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Übersetzung von Noël, das an der Universität Hildesheim seit 2014 durchgeführt wird. 238 Jäger, Konfuzianismusrezeption als Wegbereiter der deutschen Aufklärung. 235

114 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert

dern die Schüler auch im Streben nach der Tugend übten und ihre Sitten ausbildeten.« 239

Ein Ergebnis dieser Rede war, dass Wolff aus Halle vertrieben wurde und seine Lehre nur in Marburg fortsetzen konnte. Leibniz und Wolff waren davon überzeugt, dass die philosophische Auseinandersetzung mit der chinesischen Philosophie von zentraler Bedeutung ist, um das eigene philosophische Denken zu erweitern und zu prüfen. Sie bildeten aber nur die Spitze des Eisberges in den damaligen Auseinandersetzungen, wie das Kapitel Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa von Iso Kern in der jüngsten Ausgabe des Ueberwegs für das 17. Jahrhundert zeigt. 240 Mit dieser Darstellung zentraler Texte zu China und zur chinesischen Philosophie in lateinischer Sprache in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht ist in der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung bereits 1998 Neuland betreten worden. Dort heißt es zu der Begegnung zwischen Europa und China: »Zur Situation der europäischen Philosophie des 17. Jahrhunderts gehört, dass zum ersten Mal genauere Informationen über die Philosophie Chinas verfügbar wurden. Das bedeutet zugleich, dass in Europa zum ersten Mal Informationen über ein philosophisches Denken verbreitet wurden, das mit der eigenen Tradition in keiner erkennbaren Verbindung stand.« 241

Neben den Chronologien und der Ethik waren es die chinesische Sprache und die chinesische Schrift, die die Gelehrten und Philosophen in ihre Überlegungen miteinbezogen und zu neuen Gedanken inspirierten. Schon seit dem 16. Jahrhundert gab es immer wieder Berichte über die chinesische Sprache und Schrift, die auch von den Philosophen zur Kenntnis genommen wurden. »The new awareness of the Chinese language by seventeenth-century Europeans was one of the most important influences behind the movement for a universal language which developed during that time. First of all, because of their awareness of the common written symbols of the Chinese, a number of Europeans proposed a universal language for Europe. Later on in the

Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, 43. Kern, Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 1, Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien, hg. v. Schobinger. 241 Ebd., 229. 239 240

115 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

century, a number of artificial universal languages were devised by Europeans, behind which the Chinese influence was strongly at work.« 242

So war einer der großen Philosophen, die in damaliger Zeit vor allem von der chinesischen Schrift fasziniert waren, der in England wirkende Francis Bacon (1561–1626). Er schöpfte aus den damaligen Berichten und war für seine Zeit gut informiert über die chinesische Schrift, die er im Hinblick auf ihre sprachenübergreifende Qualität wie folgt beschreibt: »Ehe wir zur Grammatik und ihren Teilen kommen, ist noch von der Mitteilung im allgemeinen zu sprechen. Denn offenbar gibt es noch andere Arten der Mitteilung als Wörter und Buchstaben. Dies muß eindeutig festgestellt werden: alles, was Differenzierungen erlaubt, die zahlreich genug sind, um die Mannigfaltigkeit der Begriffe auszudrücken (wenn nur diese Unterscheidungen für die Sinne wahrnehmbar sind), kann zum Vehikel der Vorstellungen von Mensch zu Mensch gemacht werden. […] Es ist auch inzwischen bekannt geworden, daß in China und in Ländern des Fernen Ostens heutzutage gewisse reale, nicht nominelle Schriftzeichen im Gebrauch sind, die nämlich nicht Buchstaben oder Worte bezeichnen, sondern Sachen und Vorstellungen. Daher können eine ganze Reihe von Völkern mit ganz verschiedenen Sprachen, aber mit diesen gemeinsamen Schriftzeichen (die bei ihnen weite Verbreitung gefunden haben), sich schließlich verständigen; so daß jedes Volk ein beliebiges Buch, das mit diesen Zeichen geschrieben ist, in seiner Sprache lesen und wiedergeben kann.« 243

Die hier von Bacon beschriebene Qualität der chinesischen Schrift ist vermutlich bis heute den meisten, die die chinesische Schrift nicht erlernt haben, fremd. Die chinesischen Schriftzeichen lassen sich für verschiedene Sprachen verwenden, da sie in phonetischer Hinsicht nicht wie Buchstaben funktionieren. Sie können zwar auch phonetische Bestandteile enthalten, sind aber grundsätzlich nicht an eine bestimmte Aussprache gebunden. So werden im Chinesischen, Koreanischen und Japanischen die chinesischen Schriftzeichen verwendet, diese aber im jeweiligen Sprachkontext verschieden ausgesprochen. Die Schriftzeichen sind daher prinzipiell auch ohne Aussprache verständlich, so dass beispielsweise Chinesen und Japaner zwar nicht miteinander sprechen, aber sich durch Schriftzeichen verständigen Cornelius, Languages in Seventeenth- and Early Eighteenth-Century Imagery Voyages, 28. 243 Zitiert nach: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Arens, 66 f. 242

116 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Chinas mit Europa seit dem 17. Jahrhundert

können. 244 Bacon interpretiert diese Qualität so, dass die chinesischen Zeichen »Sachen« und »Vorstellungen« ausdrücken und eben keine »Wörter« sind. Leibniz hat diese Überlegungen wiederaufgenommen und in seine allgemeinen Überlegungen zum Gebrauch von »Zeichen« und in der Suche nach einer »characteristica universalis« einbezogen. Schon in seiner Dissertatio de arte combinatoria aus dem Jahre 1666 ging es dem jungen Leibniz um die Suche nach einer »scriptura universalis«, die sich einreihte in die damaligen Versuche, eine Universalsprache zu finden, in der alle Gedanken der Mathematik ausgedrückt werden können. Bereits in dieser Schrift bezieht Leibniz Informationen über die chinesische Schrift mit ein, so dass gesagt werden kann, dass er sich seit seinen frühesten philosophischen Schriften mit der chinesischen Schrift und China beschäftigt hat und zwar in systematischer Absicht. In seiner Beschäftigung können drei Phasen unterschieden werden, die jeweils mit verschiedenen Quellen in Verbindung stehen, die Leibniz nutzen konnte: »1. Leibniz’ Kenntnisse über die chinesische Schrift aufgrund der Informationen von und Gottlieb Spizel, 2. Leibniz im Bannkreis der Clavis Sinica von Andreas Müller und Christian Mentzel, 3. Leibniz’ Wissenserweiterung im direkten Kontakt mit den Jesuiten-Missionaren in China.« 245

Seine Ansichten über die Möglichkeit, die chinesische Schrift in seine Überlegungen zu einer Universalsprache einzubeziehen oder gar als Vorbild zu nehmen, haben sich im Laufe seines Lebens aufgrund der neuen Informationen laufend verändert. 246 Vor allem der spätere Briefwechsel mit den Jesuiten in China hat für Leibniz die Möglichkeit eröffnet, seine Fragen direkt zu stellen und Informationen aus erster Hand zu erhalten. Erst langsam werden all diese Quellen zugänglich, so dass immer deutlicher wird, wie sehr Leibniz gehofft hat, im Zusammenhang mit der chinesischen Philosophie seine eigenen Gedanken weiterentwickeln zu können. 247 Es ist ein Symptom nicht Vgl. zu diesem Kontext insgesamt: Elberfeld, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung. 245 Widmaier, Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie, 82. 246 Dies hat Widmaier in ihrer Schrift in gut nachvollziehbarer Weise quellennah aufgearbeitet. Die Einbeziehung neuer Quellen in diesen Forschungszusammenhang bietet: Li, Leibniz und das europäische Interesse an der chinesischen Sprache und Schrift. 247 Leibniz, Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714), hg. v. Widmaier. In Aussicht steht jetzt: Leibniz, Briefe über China (1694–1716). Die Korrespondenz 244

117 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

nur in der Leibniz-Forschung, dass derartige Ausgriffe und Verflechtungen erst seit gut dreißig Jahren ernsthafter in die Forschungen einbezogen werden. 248 Viele ältere Arbeiten zur Universalsprache bei Leibniz halten es nicht für nötig, seine Auseinandersetzung mit dem Chinesischen zu erwähnen. Eine dezidiert verflechtungsgeschichtliche Perspektive auf die Philosophiegeschichte kann hier neue Akzente setzen. Leibniz war aber nicht nur Philosoph, sondern auch unermüdlich in der Wissenschaftspolitik tätig. Er plante und gründete die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften im Jahre 1700, deren erster Präsident er war. Leibniz dachte aber weiter und formulierte in einem Brief an den Jesuiten Jean de Fontaney die folgende Idee: »Wäre es nicht möglicherweise denkbar, daß der Kaiser von China selbst sich veranlaßt sehen könnte, einige Kollegien oder Akademien zu begründen, die dazu dienen könnten, die Wissenschaften und die Gelehrsamkeit nach europäischer Art zu pflegen, und deren Mitglieder Tararen [Manjuren], Chinesen und Europäer sein könnten?« 249

Leibniz machte immer wieder Vorstöße, um einen solchen Austausch zu befördern und zu institutionalisieren, was aber nicht gelang. Nach dem Tod von Leibniz verlor die europäische Philosophie einen Beförderer über Europa hinausgehender philosophischer Auseinandersetzungen. Spätestens im 19. Jahrhundert wurde China dann gewaltsam gezwungen, sich der europäischen Welt zu unterwerfen, so dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in China eine intensive und fundierte philosophische Reflexion entfaltete, die, unterbrochen durch die Zeit Maos, heute in – für europäische Verhältnisse – unvorstellbaren Ausmaßen fortgesetzt wird. 250 Für das 17. und 18. Jahrhundert kann mit Fug und Recht von einer China-Begeisterung in Europa gesprochen werden, vor allem zwischen 1650–1740. 251 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts schlägt mit Barthélemy Des Bosses S.J. und anderen Mitgliedern des Ordens, hg. v. Babin u. Widmaier. 248 Hier ist insbesondere auf die vielen Publikationen zum Thema »Leibniz und China« von Wenchao Li hinzuweisen, der sowohl die europäische wie auch die chinesische Seite außerordentlich gut kennt. 249 Leibniz, Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China, a. a. O., 453. 250 Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie zur Einführung; Contemporary Chinese Philosophy, hg. v. Cheng u. Bunnin. 251 Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung.

118 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert

aber die Begeisterung um in geradezu direkte Ablehnung und Abwertung, 252 so dass China zunehmend aus dem Fokus gerät und stattdessen Indien in den Blick der europäischen Gelehrten und Philosophen tritt.

10. Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert Kam die verflechtungsgeschichtliche Auseinandersetzung mit China – nicht nur in der Philosophie – im 18. Jahrhundert in Europa zu einem Höhepunkt, so kann Ähnliches für die indische Kultur und Philosophie im 19. Jahrhundert gesagt werden. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte man einen sprachgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den alten europäischen Bildungssprachen Griechisch und Latein und der alten indischen Gelehrtensprache Sanskrit. Durch die Verwandtschaft dieser Sprachen, die sich in den sprachwissenschaftlichen Forschungen des 19. Jahrhunderts immer weiter erhärtete, entstand das Bild einer neuen »Sprachfamilie«, die von Indien über Persien, Griechenland, Italien, Frankreich, England und Deutschland bis nach Island reichte, die sogenannte »indoeuropäische« Sprachfamilie, die bis heute eine paradigmatische Rolle für die Bestimmung von »Sprachfamilien« in den Sprachwissenschaften spielt. 253 Denn man kann sehr genau bis hin zu einzelnen Wörtern und grammatischen Strukturen die Verwandtschaft dieser verflechtungsgeschichtlich verbundenen Sprachen studieren. 254 Auf der Ebene der Sprachwissenschaft werden somit Vermutungen und Sichtweisen gestützt, die in der verflechtungsgeschichtlichen Betrachtung der Philosophiegeschichte seit der Antike zunächst nicht unserem gewöhnlichen Bild entsprechen. Sprachengeschichtlich ist inzwischen

Dieser Umschwung lässt sich in den Primärtexten nachvollziehen: Deutsche Denker über China, hg. v. Hsia. Vgl. auch in Berger, China-Bild, das Kapitel »Sinophobie«, 86–134. 253 Für eine umfassendere Darstellung dieses Zusammenhangs vgl. Elberfeld, Sprache und Sprachen, »Die indoeuropäische Sprachfamilie«, 102 ff. 254 Der erste, der dies durchführte war Franz Bopp (1791–1867) in seinem Werk von 1816 Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. 252

119 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

klar, dass Indien und Europa eng zusammengehören. 255 Gesteht man dies zu, dann ist es möglicherweise leichter, die oft frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Platon und Plotin auf der einen Seite und upanischadischem Denken auf der anderen Seite zu verstehen. Im Jahre 1803 begann Friedrich Schlegel (1772–1829) in Paris Sanskrit zu studieren. So war und wurde er nicht nur einer der zentralen Figuren der Frühromantik, sondern auch der europäischen Indologie. 256 Auch wenn die »indologische« Phase seines Lebens nicht sehr lange dauerte, so war die Wirkung seiner Studien durch sein 1808 veröffentlichtes Werk Über die Sprache und Weisheit der Indier im deutschen Sprachraum doch erheblich. Da er mit vielen Geistesgrößen der Zeit – zu denen Herder und Goethe ebenso zählten wie Fichte, Schelling und Schleiermacher – freundschaftlich verbunden war, kann man davon ausgehen, dass auch diese für die indische Philosophie und das Sanskrit sensibilisiert wurden. Sein Buch bestand aus drei Teilen. Der erste Teil behandelt ausführlich die Struktur und Grammatik des Sanskrit und die Verwandtschaft verschiedener Sprachen. Der zweite Teil umfasst einen Einblick in Grundlehren der alten indischen Philosophie. Im dritten Teil wird ein indischer Text kommentierend vorgestellt. Schlegel war sich bewusst, dass sein Buch nur einen ersten Versuch darstellte, die Gelehrten, Philosophen und Dichter auf das Denken und die Poesie im indischen Altertum aufmerksam zu machen: »Und so mußte ich mich denn fürs erste darauf beschränken, durch den gegenwärtigen Versuch nur einen Beweis mehr zu liefern, wie fruchtbar das indische Studium dereinst noch werden könne, die Ueberzeugung allgemeiner zu verbreiten, welche reiche Schätze hier verborgen seien, die Liebe für dieses Studium, wenigstens vorläufig, auch in Deutschland anzufachen, und für die Ansicht des Ganzen einen festen Grund zu legen, auf welchem sich nachher mit Sicherheit weiter fortbauen liesse.« 257

Selbstverständlich betrifft dies nicht »alle« indischen und europäischen Sprachen, sondern nur ganz bestimmte. 256 Vgl. zu diesem Zusammenhang insgesamt das Kapitel »Indien und die Gegenwartskritik der Romantik« in: Halbfass, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, 86 ff. Das Buch von Halbfass bietet einen bis heute nicht überbotenen Einblick in die philosophischen Beziehungen zwischen Indien und Europa und kann daher immer als Standardwerk für dieses Thema gelten. 257 Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier, 1808, IX. 255

120 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert

Im Rückblick auf die Ergebnisse seines Buches öffnet Schlegel eine Perspektive, die auch für die vorliegenden Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte von zentraler Bedeutung ist: »Ein Vorurtheil, was in dieser Rücksicht viel geschadet hat und noch schadet, ist die Trennung, die man sich zwischen dem orientalischen und dem griechischen Studium und Geist mehr selbst erbracht und willkührlich angenommen hat, als daß diese gänzliche Verschiedenheit in der Wahrheit gegründet wäre. In der Völkergeschichte sind die Bewohner Asiens und die Europäer wie Glieder einer Familie zu betrachten, deren Geschichte durchaus nicht getrennt werden darf, wenn man das Ganze verstehen will. […] So wie in der Völkergeschichte die Asiaten und die Europäer nur eine große Familie, Asien und Europa ein unzertrennbares Ganzes bilden, so sollte man sich immer mehr bemühen, auch die Literatur aller gebildeten Völker als eine fortgehende Entwicklung und ein einziges innig verbundenes Gebäude und Gebilde, als Ein großes Ganzes zu betrachten, wo denn manche einseitige und beschränkte Ansicht von selbst verschwinden, vieles im Zusammenhange erst verständlich, alles aber in diesem Lichte neu erscheinen würde.« 258

Schlegel stand mit seiner Ansicht zwar nicht allein – man denke beispielsweise an Goethes Konzept einer »Weltliteratur« 259 –, dennoch hat sein Ausblick auf die verschiedenen Verbindungen in der Geistesgeschichte der Menschheit etwas Bemerkenswertes und ist außergewöhnlich nicht nur für seine Zeit. Er kann mit Recht als ein Vorläufer einer philosophischen Verflechtungsgeschichte und einer komparativen Philosophie angeführt werden. Einige Jahre nach Schlegels Buch über Indien begann ein anderer Denker sich für diesen Zusammenhang zu interessieren. Der Philosoph der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der die Verbindung von Europa und Indien auch für sein Philosophieren in zentraler Weise genutzt hat, war Arthur Schopenhauer (1788–1860). Er ist einer der sehr wenigen anerkannten europäischen Philosophen der Neuzeit – neben Leibniz vielleicht der einzige –, die ihr Denken in direktem Zusammenhang mit asiatischem Denken entwickelt haben. In seinem handschriftlichen Nachlass lässt sich dazu das Folgende lesen: »Ich gestehe übrigens, daß ich nicht glaube, daß meine Lehre je hätte entstehen können, ehe die Upanischaden, Platon und Kant ihre Strahlen

258 259

Ebd., 213; 217 f. Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere.

121 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten.« 260 In diesem Satz ist das Wort »zugleich« bemerkenswert, da Kant, Platon und die Upanischaden gemeinsam zur Quelle seines Denkens geworden sind. Eine solche Rezeption verschiedener Denkansätze über vermeintliche Grenzen hinweg war in der Antike in gewisser Hinsicht nicht unüblich, wobei wir diese Prozesse häufig nur indirekt verfolgen können, wie beispielsweise bei der Darstellung der Rezeption indischen Denkens bei Plotin deutlich geworden ist. Bei Schopenhauer ist es hingegen möglich, nicht nur auf eigene Äußerungen zurückzugreifen, vielmehr lässt sich hier der Prozess der Rezeption einer außereuropäischen Philosophie bei einem europäischen Philosophen detailliert nachvollziehen. 261 Schopenhauers Lieblingsbuch war eine aus dem Persischen angefertigte lateinische Übersetzung upanischadischer Texte, die auf das 7. Jh. v. u. Z. zurückgehen und eine All-Einheitslehre indischer Prägung enthalten. Schopenhauer schrieb zu diesem Buch: »Denn, wie athmet doch der Oupnekhat durchweg den heiligen Geist der Veden! Wie wird doch Der, dem durch fleißiges Lesen, das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches geläufig geworden, von jenem Geist im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede Zeile so voll fester, bestimmter und durchgängiger zusammenstimmender Bedeutung! Und aus jeder Seite treten uns tiefe, ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen, während ein hoher und heiliger Ernst über dem Ganzen schwebt. Alles athmet hier Indische Luft und ursprüngliches, naturverwandtes Daseyn.« 262

Das Oupnekhat, von dem hier die Rede ist, erschien in zwei Bänden in lateinischer Sprache erstmals in Europa in den Jahren 1801/02. Die Vorgeschichte zu dieser Übersetzung ist in verflechtungsgeschichtlicher Sicht ebenso interessant wie die Wirkung, die sie bei Schopenhauer später in philosophischer Hinsicht gehabt hat: »Im Jahre 1656 liess der Sultan Mohammed Dara Schakoh indische Gelehrte aus Benares nach Delhi kommen und durch dieselben eine Sammlung von fünfzig Upanishad’s unter dem Titel Oupnekhat ins Persische überset-

Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, 422. App, Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philosophie. In diesem Buch werden alle Details der Rezeption indischer Philosophie bei Schopenhauer zusammengetragen und es wird gezeigt, in wie engem Austausch mit bestimmten indischen Texten das Denken Schopenhauers entstanden ist. Vgl. auch: »Das Tier, das du jetzt tötest, bist du selbst …«. Arthur Schopenhauer und Indien, hg. v. Stollberg. 262 Zitiert nach: App, Schopenhauers Kompass, 3 f. 260 261

122 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert

zen; aus diesem übertrug sie Anquetil Duperron Wort für Wort, mit Beibehaltung der persischen Satzkonstruktionen, ins Lateinische (2 vol., Argentorati 1801–1802).« 263

Schopenhauer lieh diese Übersetzung erstmalig im März 1814 in der Weimarer Bibliothek aus. Im Sommer desselben Jahres kaufte er sie und studierte sie bis zum Ende seines Lebens. 264 Für die Entstehung seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung spielt dieses Buch eine erhebliche Rolle, wie Urs App überzeugend dargelegt hat. Vor diesem Hintergrund ist dann auch die Bemerkung Schopenhauers im Vorwort zur ersten Auflage seines Hauptwerks zu verstehen: »Ist er aber gar noch der Wohlthat der Veda’s theilhaft geworden, deren uns durch die Upanischaden eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte Vorzug ist, den dieses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen hat, indem ich vermuthe, daß der Einfluß der Sanskrit-Literatur nicht weniger tief eingreifen wird, als im 15. Jahrhundert die Wiederbelebung der Griechischen: hat also, sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangen und empfänglich aufgenommen; dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hören, was ich ihm vorzutragen habe.« 265

Bekanntlich hat die Philosophie Schopenhauers viele Denker und Kunstschaffende des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst, zu denen beispielsweise Wagner und Nietzsche gehörten. Schopenhauer löste durch sein Denken und seine philosophische Verbindung nach Indien vielfältige Interessen und Bemühungen aus, die heute kaum zu überblicken sind. Eine der zentralen Figuren für die Philosophie und auch für die Philosophiegeschichtsschreibung, die von Schopenhauer stark beeinflusst wurden, war der Philosoph und Indologe Paul Deussen (1845–1919). 266 Aufgrund der besonderen persönlichen und geisteswissenschaftlichen Konstellation zeigte sich hier erstmalig eine neue Weise des Philosophierens, die auch heute noch vorbildhaft sein kann. Aus diesem Grunde sollen im Folgenden einige Stationen aus dem Leben Duessens erinnert werden. Deussen besuchte zusammen mit Nietzsche das Internat in Schulpforta, woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte. Durch Nietzsches Begeisterung für Schopenhauer lernte auch Deus263 264 265 266

Deussen, Sechzig Upanishads des Veda, 535. Für die Details vgl. App, Schopenhauers Kompass, 137 ff. Vorwort zur ersten Auflage des Werkes Die Welt als Wille und Vorstellung. Vgl. Feldhoff, Nietzsches Freund. Die Lebensgeschichte des Paul Deussen.

123 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

sen seine Philosophie kennen, die er später auch in seiner Lehre vertrat, und gründete 1911 die bis heute bestehende »SchopenhauerGesellschaft«. Für das Studium der Theologie und Klassischen Philologie ging er zunächst im Jahr 1864 zusammen mit Nietzsche nach Bonn, wo er bereits ab dem ersten Semester auch Sanskrit studierte, das ähnlich wie das Altgriechische als Literatursprache erlernt wurde. 267 In Bonn war 1818 der erste Lehrstuhl für Indologie mit August Wilhelm Schlegel besetzt worden, 268 so dass man bereits auf eine längere indologische Forschungstradition zurückblicken konnte. Gleichzeitig studierte Deussen auch Philosophie, die ihn aber in der Form, wie sie in Bonn gelehrt wurde, nicht besonders inspirierte. Rückblickend schreib Deussen, dass er in den ersten drei Semestern vor allem Hebräisch und Sanskrit studiert hätte, wobei er das Studium des Sanskrit als »Luxusstudium« empfand und nicht wusste, was er später damit machen solle. Ende 1868 reichte er seine Dissertation über Platons Sophistes in Marburg ein. Etwa zur gleichen Zeit las Deussen erstmals Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer, was aber zunächst keine größeren Auswirkungen hatte. 1873 begann Deussen nach verschiedenen Umwegen in Genf, wo im gleichen Jahr die alte Akademie zu einer Universität geworden war, Philosophie und Sanskrit zu lehren. Nun war er hin und hergerissen zwischen zwei sehr verschiedenen Perspektiven: »Wie ehemals in meiner ersten Studentenzeit zwischen Theologie und Philosophie, so schwankte ich jetzt zwischen Philosophie und Sanskrit wie zwischen zwei Geliebten hin und her, bis mir auf einmal – es war am 14. November 1873 – plötzlich wie durch eine Eingebung von oben der Gedanke kam: Wenn ich nun solche Freude am Sanskrit habe und doch niemals von der Philosophie lassen kann, warum sollte ich nicht die Hütte meines Lebens da bauen, wo beide Linien sich schneiden, und die eben wieder nach zweijähriger Depression neuerwachende Schaffenskraft dem so sehr vernachlässigten und eben darum so lohnenden Studium der indischen Philosophie widmen! Jetzt war ein großer Entschluß gefaßt. Ein Nagel war eingeschlagen, an welchem ich das Seil meines Lebens fortspinnend heften konnte, ich hatte eine Lebensaufgabe gefunden.« 269

Vgl. Deussen, Mein Leben, 81 ff. Bhatti, August Wilhelm Schlegels Indienexperiment. Kulturtransfer und Wissenschaft, in: Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten, hg. v. Mix u. Strobel. 269 Deussen, Mein Leben, 165 f. 267 268

124 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert

Deussen begann daraufhin, alle Bücher und Informationen, die er über indische Philosophie finden konnte, zu sichten und zu sammeln. Als erste Frucht seiner Studien erschien 1877 das Buch Die Elemente der Metaphysik, in dem er griechisches, christliches und indisches Denken zu einem systematischen Gesamtentwurf der Metaphysik verband, und zwar in der Nachfolge von Schopenhauer. Dieses Buch wurde immer wieder angefeindet, fand aber auch Zustimmung und eine breite Aufnahme. Es sollte dann noch einige Jahre dauern, bis er in Berlin bei den Professoren Albrecht Weber (1825–1901), ab 1867 ordentlicher Professor für Indologie in Berlin, und Eduard Zeller (1814–1908), ab 1872 ordentlicher Professor für Philosophie in Berlin, seine Studien und Forschungen wieder intensivierte. Zu Beginn der 1880er Jahre arbeitete er an einem Werk über die Philosophie des Vedanta, in dem das Denken Shankaras im Zentrum stand, das er im Mai 1881 als Habilitationsschrift an der Universität in Berlin einreichte. Am 28. Juli konnte Deussen mit einem Probevortrag über Descartes seine Habilitation abschließen und wurde kurz darauf Privatdozent für das Fach Philosophie an der Berliner Universität. Bei seinen vielfältigen Antrittsbesuchen bei den Ordinarien und anderen Privatdozenten lernte Deussen auch den Orientalisten, Sinologen und Sprachforscher Wilhelm Schott (1801–1889) kennen, der seit 1833 unter vielen anderen Sprachen in Berlin auch Chinesisch unterrichtete und über chinesische Philosophie Veranstaltungen anbot. 1883 erschien dann die Habilitationsschrift Das System des Vedanta als Buch und 1887 eine größere Übersetzung aus dem Sanskrit bei Brockhaus in Leipzig: Die Sutra’s des Vedanta oder die CarikaraMimansa des Babarayana nebst dem vollständigen Commentare des Cankara. Deussen setzte seine Lehrtätigkeit in der Philosophie in Berlin fort, bis er 1889 auf eine ordentliche Professur für Philosophie an die Universität Kiel berufen wurde. Seit dieser Zeit nahm er regelmäßig an den internationalen Kongressen der Orientalisten teil, wo er nicht nur viele Kollegen aus ganz Europa kennenlernte, sondern auch Gelehrte aus Indien. 1892 reiste Deussen erstmalig nach Indien 270 und 1896 empfing er Swami Vivekananda in Kiel und reiste mit ihn danach in verschiedene europäische Städte. Vivekananda war der Hauptvertreter des Hinduismus auf dem »Welt-

270

Deussen, Erinnerungen an Indien.

125 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungsgeschichten des Denkens in »Afroeurasien« und darüber hinaus

parlament der Religionen« von 1893 271 in Chicago und vertrat die philosophischen Lehren des Vedanta, über die Deussen seine Habilitation geschrieben hatte. In den folgenden Jahren arbeitete Deussen bis zu seinem Tod 1919 an seiner Geschichte der Philosophie, die zunächst drei Bände über indische Philosophie enthält, dann die griechische und christliche Philosophie behandelte und im letzten Band den Bogen von Descartes zu Schopenhauer schlägt. Deussen war wohl der erste europäische Philosophieprofessor, der sich nicht nur aus zweiter Hand Informationen über die asiatische Philosophie aneignen konnten wie Leibniz, Wolff, Hegel, Schelling, Schopenhauer und andere, sondern selbst aus den Sanskrit-Quellen übersetzte und so das indische Denken in systematischer Perspektive in sein Philosophieren einbeziehen konnte. Zudem war er wohl der erste europäische Philosoph des 19. Jahrhunderts, der selbst nach Indien reiste und mit indischen Gelehrten einen persönlichen Kontakt pflegte, so dass er die Philosophie der alten indischen Texte mit diesen erörtern konnte. Diese neue Dimension der Verflechtungsgeschichte, in der das Denken nicht nur über alte Texte vermittelt wird, sondern durch persönliche Beziehungen und Gespräche, nahm im 20. Jahrhundert immer größere Ausmaße an und ist heute in keiner Weise mehr zu überblicken. Für das 20. Jahrhundert gibt es jedoch einen guten Indikator für den sich zunehmend globalisierenden Diskurs der Philosophie: die Weltkongresse für Philosophie, die 1900 in Paris begannen und auch heute noch alle fünf Jahre durchgeführt werden. Bevor im Folgenden die Weltkongresse für Philosophie zum Thema werden, möchte ich hier am Ende dieses Kapitels über die verschiedenen Verflechtungsgeschichten auf eine besondere Konstellation der Philosophiegeschichtsschreibung in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufmerksam machen. In den Jahren 1863 bis 1866 erschien erstmals eine Philosophiegeschichte, die das Bild von der Philosophiegeschichte sehr lange – teilweise bis heute – grundlegend geprägt hat. Der von Friedrich Ueberweg verfasste Grundriss der Geschichte der Philosophie teilte sich in drei Bände: 1. Die vorchristliche Zeit, 2. Grundriss der Geschichte der Philosophie der patristischen und scholastischen Zeit, 3. Grundriß der Geschichte der Philosophie der Neuzeit: von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die GeLüddeckens, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert.

271

126 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Verflechtungen Indiens mit Europa seit dem 19. Jahrhundert

genwart. Mit diesem Dreischritt – Antike, Mittelalter, Neuzeit bis zur Gegenwart – wird auch heute noch häufige die europäische Philosophiegeschichte erzählt. Ueberweg schließt in einem sehr kurzen Abschnitt am Anfang die Behandlung »orientalischer Philosophie« mit folgender Begründung aus: »Der sogenannten Philosophie der Orientalen fehlt die Tendenz zu strenger Beweisführung und daher der wissenschaftliche Charakter. Was sich bei ihnen von philosophischen Elementen findet, ist mit den religiösen Anschauungen so ganz verschmolzen, dass die Mitteilung füglich der Religionsgeschichte überlassen werden darf. Dazu kommt, dass auch nach den verdienstlichen Forschungen der Neuzeit unsere Kenntnis des altorientalischen Denkens (besonders bei den Aegyptern) für eine von willkürlichen Voraussetzungen freie zusammenhängende Darstellung noch viel zu lückenhaft und ungesichert ist. Es dürfte angemessen sein, in diesem ›Grundriss‹ von der sogenannten ›orientalischen Philosophie‹ abzusehen.« 272

Ueberweg entscheidet kurzerhand, alle orientalischen Philosophien der Religionsgeschichte zu überlassen, so dass er sich nicht weiter darum kümmern muss. Da es sich bei Ueberweg um einen »Grundriss« handelt, gibt er die Geschichte der Philosophie in kompakter Form wieder, so dass alles von Ueberweg für unwichtig Gehaltene weggelassen und so die »Geschichte der Philosophie« in ein übersichtliches und handhabbares Maß überführt wird. Diese Auffassung von der Geschichte der Philosophie, die das 20. Jahrhundert weitgehend geprägt hat, ist erst in neuer Zeit grundlegend in Frage gestellt worden. Dies zeigt sich beispielsweise in der vollständigen Neubearbeitung des Ueberweg seit 1983, wo in den letzten zehn Jahren neue Themengebiete aufgenommen worden sind wie beispielsweise die »Philosophie in der islamischen Welt«, die in vier Bänden erscheinen wird. Weitere Bände zur außereuropäischen Welt sind in Planung. Man kann gespannt sein, wie sich in den nächsten Jahrzehnten das Bild von der »Geschichte der Philosophie« weiter verändern wird. 273

272 273

Ueberweg, Die vorchristliche Zeit, Berlin 1863, 14. Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive, hg. v. Elberfeld.

127 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

II. Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Im ersten Teil wurden verschiedene Geschichten des Denkens bzw. verschiedene Denker unter der Perspektive der Verflechtung betrachtet. Dabei ist deutlich geworden, dass sich in den Forschungsperspektiven zur Geschichte der Philosophie ein grundlegender Wandel bereits vollzogen hat oder sich zumindest grundlegende Veränderungen für zukünftige Forschungen andeuten. Die Betrachtungen reichten von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wo die Weltordnung und Weltinterpretation entstanden ist, die in weiten Bereichen des 20. Jahrhunderts gültig war bzw. weiterentwickelt worden ist: Die Vorherrschaft der Naturwissenschaften forderte die Geisteswissenschaften auf allen Ebenen heraus. Europäische Migranten verließen Europa in Richtung USA, da hier für sie das Land der Zukunft lag. Die Erfindung des Autos und anderer Transportmittel veränderten die Lebensweise der Menschen grundlegend. Internationale Kongresse in den Wissenschaften wurden zu einer Selbstverständlichkeit. 1 Diese Veränderungen prägten auch bestimmte Themen und Methoden in der Philosophie, die vielleicht erst heute unter dem Stichwort »Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert« in eine zusammenhängende Perspektive gerückt werden können. Um in die Globalisierung philosophischer Perspektiven historisch und methodisch einzuführen, sollen im Folgenden vier grundlegende Kontexte näher betrachtet werden, die sich teilweise unabhängig und teilweise überlappend entfaltet haben. Dabei werden auch unterschiedliche Sprachspiele innerhalb der philosophischen Globalisierung thematisiert, die bis heute verwendet werden und in den Wissenschaften und der Philosophie in mehr oder wenig starker Konkurrenz stehen. Auf institutioneller Ebene waren es die Internationalen Kongresse für Philosophie ab 1900, die immer neue Globalisierungsschü1

Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.

128 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

be in die sich langsam globalisierende Philosophielandschaft brachten und daher auch von vielen Philosophen als »Jahrmarkt der Philosophie« abgetan wurden und werden. Auf diesen Kongressen zeigte sich bereits zu Anfang mit Nachdruck, dass sich auch in den USA durch ausgewanderte Europäer eine eigene universitäre Philosophie entwickelt hatte, die damals wie selbstverständlich nach Europa blickte, um die neuesten Forschungen zu verfolgen. In der Abfolge der Kongresse lässt sich zudem beobachten, wie nach und nach Philosophierende aus Indien, China, Japan, Lateinamerika, Afrika und anderen Gegenden der Welt im internationalen Feld der Philosophie debütierten. Erst in den 1980er Jahren war ungefähr das geographische und inhaltliche Spektrum erreicht, das sich auch heute auf den Weltkongressen finden lässt und in bestimmten Bereichen noch weiter ausdifferenziert. Vor allem in den USA entwickelte sich zudem – teilweise im Anschluss an die Weltkongresse – ein im Vergleich zum damaligen Mainstream randständiges Themengebiet der Philosophie, das auf die Globalisierungsschübe reagierte. Mit der Comparative Philosophy, die man seit den 1930er Jahren vor allem in Hawai’i unter anderem auf den großen East-West Philosophers Conferences entwickelte, reagierte man erstmalig durch immer neue methodische Reflexionen und durchgeführte Vergleiche auf die Erweiterungen des Diskurses, die sich insbesondere auf Indien, China und Japan bezogen. Das große Schlagwort dieser Bewegung war Philosophy East and West, so dass es vorrangig um Auseinandersetzungen zwischen europäischer und asiatischer Philosophie ging. Bis heute ist das Institut für Philosophie der Universität Honolulu mit der entsprechenden professoralen Ausstattung auf diese Themengebiete spezialisiert und weltweit dafür bekannt. Die 11. große East-West Philosophers Conference fand 2016 statt. Neben diesen Erweiterungen in der Philosophie entstanden in den USA weitere Diskursfelder, die mit den Adjektiven »intercultural«, »multicultural« und »transcultural« verbunden waren. Zunächst bezog sich das Adjektiv »intercultural« in den 1930er Jahren vor allem auf die Pädagogik, da die amerikanische Gesellschaft sich mit der kulturellen Vielfalt der vor allem aus Europa gekommenen Migranten auseinandersetzen musste. In den 1940er und 50er Jahren entstanden zudem Diskurse um die Adjektive »multicultural« und »transcultural«. In Europa begannen diese Diskussionen sehr zaghaft erst in den 1960er Jahren. Als dann in der deutschen Sprache das 129 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Substantiv »Interkulturalität« gebildet und Anfang der 1990er Jahre popularisiert wurde, führte dies vor allem in Österreich und Deutschland zu einer philosophischen Strömung mit dem Namen »interkulturelle Philosophie«, die seit 1999 auch ein eigenes Publikationsorgan besitzt: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Eine weitere Reaktion in verschiedenen Geisteswissenschaften auf die Globalisierung im Zusammenhang mit den Prozessen der Dekolonialisierung war die Einführung des Plurals »Modernities« bzw. »Modernen« in den 1960er Jahren, durch den der Plural »Kulturen« Konkurrenz erhielt. Man versuchte mit der pluralisierten Vorstellung von der Moderne die allzu einfachen Modernisierungstheorien zu kritisieren, die letztlich nichts anderes waren, als den Kolonialismus der Vorkriegszeit unter anderem Namen fortzusetzen. An diesem Diskurs beteiligten sich nicht nur Philosophierende aus Europa und den USA, vielmehr ist zu beobachten, dass beispielsweise Philosophierende in Asien schon in den 1940er Jahren über die »Überwindung der (europäischen) Moderne« diskutierten, die als monolithisches Projekt der Vereinheitlichung abgelehnt wurde. 2 Im Rahmen des Diskurses über die Vielfalt der Modernen wurde auch die Funktion der Philosophie erneut befragt und im Zusammenhang mit anderen Geisteswissenschaften in eine postkoloniale Perspektive versetzt, die es bis heute weiterzuentwickeln gilt. Im Folgenden werden die vier genannten Zusammenhänge durch einzelne historisch-systematische Studien in Erinnerung gerufen und im Hinblick auf die Gegenwart des Philosophierens befragt. Dabei wird deutlich, dass sich ein Philosophieren in einer globalisierten Welt abzeichnet, das möglicherweise einige Bezeichnungen, die für diesen Kontext im 20. Jahrhundert erfunden und erarbeitet wurden, hinter sich lassen kann, um sich in methodisch offener und integrativer Weise erneut den Sachfragen zuwenden zu können. Die Darstellung wird in den Abschnitten zwei, drei und vier versuchen, insbesondere die Stärken der jeweiligen methodischen Ansätze und der jeweiligen Sprachspiele durchzuspielen, um nicht methodisches Potential durch unnötige Abgrenzungen zu verschenken. Bei all dem soll auch deutlich werden, dass heute weniger denn je eine einzige Methode oder ein einziges Sprachspiel in der Lage wären, der Komplexität der verwickelten Gegenwartsfragen gerecht zu werden. In Japan entstand seit dem Anfang des 20. Jahrhundert eine eigenständige japanische Philosophie, die sich zunehmend in den Diskurs einbrachte.

2

130 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

1.

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert. Die Weltkongresse für Philosophie 1900–2018

Lange bevor sich im deutschsprachigen Raum Ansätze einer »Interkulturellen Philosophie« 3 als Suche nach methodischen Öffnungen philosophischen Denkens über die europäischen und nordamerikanischen Grenzen hinaus verbreiteten, hatte die Geschichte der Philosophie schon globale Wege eingeschlagen, die zu reflektieren sich aus philosophischen Gründen lohnt. Noch immer ist das Bild von der Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert in Europa fast ausschließlich von europäischen und nordamerikanischen Denkern geprägt, wobei die Dominanz Nordamerikas sich in den letzten zwei Jahrzehnten hierzulande deutlich verstärkt hat. 4 Die diesem Bild gänzlich entgegenlaufende Vorstellung, dass im 21. Jahrhundert die Philosophie in zentraler Weise beispielsweise von chinesisch-, japanisch- oder arabischsprachigen Denkern geprägt werden könnte, scheint heute zumindest in Europa noch vollkommen abwegig zu sein. Wirft man jedoch einen Blick zurück auf bisher wenig beachtete Entwicklungen im 20. Jahrhundert, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für diese Möglichkeit erheblich. So wie die alten Griechen sich kaum vorstellen konnten, wie »ihre« Philosophie in lateinischer Sprache transformiert wurde, konnten auch die Römer kaum antizipieren, wie sich philosophisches Denken unter christlichem Einfluss Das erste Buch im deutschsprachigen Raum zu diesem Thema stammt aus dem Jahre 1990: Wimmer, Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie. 4 In dem Buch Philosophie der Gegenwart, hg. v. Nida-Rümelin, kann dies gut abgelesen werden. In über 100 behandelten Namen werden nur zwei außereuropäische Denker behandelt: Kitarō Nishida und Juan Carlos Scannone. In der 3., neubearbeiteten und aktualisierten Ausgabe von 2007 ist der Artikel zu Nishida getilgt worden und der gebürtige Südkoreaner Jaegwon Kim, der in den USA lebt, als Philosoph in der analytischen Tradition aufgenommen worden. In der ersten Auflage heißt es bereits, dass der Band sich auf die »europäische und amerikanische Philosophie« (genauer müsste es heißen: nordamerikanische Philosophie) konzentriere und »buddhistische, hinduistische, islamische oder konfuzianische Philosophie« nicht mit einbezogen seien »mangels der entsprechenden Fachkompetenz«. Wenn bereits ein Wissen um diese anderen Traditionen vorhanden war, ist nicht wirklich einsehbar – auch wenn der Mangel an Fachkompetenz ein griffiges Argument zu sein scheint –, warum das Buch dann nicht konsequenterweise den Titel »Philosophie der Gegenwart in Europa und Nordamerika« trägt. Gerade politisch sensibilisierte Philosophen sollten merken, dass mit dem Titel »Philosophie der Gegenwart« mit den gegebenen Einschränkungen ein kolonialer Gestus fortgesetzt wird, der heute in der Philosophie nicht mehr unkritisiert bleiben darf. 3

131 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

verwandelt hat. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vollzieht sich erneut eine grundlegende Wende in der Geschichte der Philosophie. Noch ist nicht abzusehen, was es bedeutet, dass Chinesisch, Japanisch, Arabisch und andere Sprachen zu Medien zeitgenössischer Philosophie geworden sind und an Instituten für Philosophie in Asien, Afrika und Südamerika Menschen in der Philosophie ausgebildet werden. Längst haben sich durch diese Situation neue Wege des Denkens eröffnet, die aber hierzulande noch kaum Gehör gefunden haben. Sicher ist, dass sich die Philosophie auch in Europa diesen Herausforderungen stellen muss. Tut sie dies nicht, bleibt sie hoffnungslos hinter ihrem eigenen, auf Allgemeinheit zielenden Anspruch zurück. Denn soll es um »den« Menschen gehen, dann sollten zumindest alle diejenigen in das Nachdenken darüber einbezogen werden, die bereit sind, einen konstruktiven Beitrag zum Thema zu leisten. Denn aus philosophischen Gründen wird wohl kaum noch jemand behaupten, dass dazu nur Europäer und Nordamerikaner in der Lage seien, obwohl dies manchmal implizit bei einigen Denkern noch mitzuklingen scheint. Dass das zeitgenössische Philosophieren außerhalb Europas und Nordamerikas bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wenn auch nur selektiv und sporadisch – hierzulande wahrgenommen werden konnte, war ein Beitrag der international angelegten Kongresse für Philosophie seit 1911. Philosophische Konsequenzen wurden daraus jedoch kaum gezogen. Dies scheint mir eine zentrale Aufgabe der gegenwärtigen Philosophie zu sein. Um diese Aufgabe in ihrer geschichtlichen Reichweite weiter bestimmen zu können, ist ein genauerer Blick auf die Geschichte der Weltkongresse hilfreich. Dieser Blick kann beitragen, unser Bild von der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts zu verändern und zu erneuern. Im August 2008 fand der Weltkongress für Philosophie zum ersten Mal in Asien statt. 5 Die Tradition dieser zu Anfang »internationalen« und inzwischen global angelegten Kongresse geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. 1900 wurde der erste unter dem Titel Congrès international de philosophie in Paris ausgerichtet. 6 Zu diesem Zeitpunkt war das Adjektiv »inter-national« bereits zu einem Vgl. den Bericht von Ortland, Horizontverschiebungen des Denkens. Der 22. Weltkongress für Philosophie in Seoul 2008. 6 Die Akten des Kongresses sind in vier Bänden veröffentlicht worden: Bibliotheque du Congrès International de Philosophie: I. Philosophie generale et Metaphysique, II. Morale, III. Logique et Histoire des Sciences, IV. Histoire de la Philosophie, Paris 1900–1903. 5

132 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

Teil der Wissenschafts- wie der politischen Sprache geworden. 7 In der Philosophie wurde damit eine Richtung eingeschlagen, die der sprachlichen Nationalisierung der Philosophie in Europa seit dem 17. Jahrhundert entgegenwirkte, die durch die Relativierung der lateinischen Sprache entstanden war. Unterstützt von der Entwicklung einer eigenständigen Philosophie in Nordamerika seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 8 kam das Bedürfnis auf, mit jeweils anderssprachigen Philosophietraditionen in Kontakt zu treten und diesem Austausch ein eigenes Forum zu geben. Zunächst bewegte man sich ausschließlich im Rahmen der europäischen 9 und nordamerikanischen Denkräume, 10 so dass der Grad der Fremdheit in der Begegnung sich in Grenzen hielt. Blickt man aber auf die Liste der beteiligten Länder, so konnte das Adjektiv »international« mit Recht verwendet werden. Obwohl bereits Leibniz, Hegel und Schopenhauer lange zuvor der europäischen Philosophie weitaus fremderen Denktraditionen – vor allem aus China und Indien – Beachtung geschenkt hatten, bezog sich der »internationale« Austausch in der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auf verschiedene alte und klassische Traditionen wie die in Indien oder China, sondern auf lebende Philosophen, 11 die über die Grenzen ihrer jeweiligen Länder hinaus das Gespräch suchten. Asien, Afrika und Südamerika traten auf dem ersten Internationalen Kongress der Philosophie noch nicht in den Blick, da in diesen Gebieten eine institutionalisierte Philosophie an den vielen neu gegründeten Universitäten gerade erst Fuß zu fassen begann. Zwei verschiedene philosophische Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten im Hinblick auf diese anfängliche Situation nachhaltige Veränderungen in Gang. Zum einen war es die Rezeption der europäischen und nordamerikanischen Philosophie in Japan und später auch in anderen außerFür die Gebrauchsgeschichte des Adjektivs »international« vgl. den Abschnitt »Intercultural – Multicultural – Transcultural« in diesem Kapitel. 8 Kuklick, A History of Philosophy in America: 1720–2000. 9 Wie aus der nächsten Fußnote deutlich wird, muss »europäisch« so weit verstanden werden, dass selbstverständlich auch Ost- und Nordeuropa beteiligt waren. 10 Für den Pariser Kongress waren Philosophen aus folgenden Ländern beteiligt: Frankreich, Deutschland, England, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, USA., Niederlande, Italien, Russland, Schweden, Schweiz. Philosophen wie Bergson, Natorp, Simmel und Russell spielten auf diesem Kongress eine Rolle. 11 Philosophinnen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht beteiligt. 7

133 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

europäischen Ländern wie China, Indien und Korea, die dazu führte, dass spätestens 1911 mit der Veröffentlichung der Studie über das Gute von Kitarō Nishida (1870–1945) eine moderne japanischsprachige Philosophie mit dem Anspruch auf Eigenständigkeit entstand. 12 Inzwischen sind in vielen außereuropäischen Ländern originelle Denkentwürfe entstanden, die in jeweils verschiedener Weise die Philosophie verändern und mit neuen Fragen und Kontexten in Verbindung bringen. Eine Geschichte dieser Entwicklungen, die die Philosophie im 20. Jahrhundert nicht auf Europa und Nordamerika beschränkt, muss noch geschrieben werden. 13 Zum anderen entwickelte sich in den USA und dann auch in Europa die so genannte »komparative Philosophie«, die in vergleichender Perspektive vor allem alte indische und chinesische Denktraditionen mit europäischen Philosophieansätzen in Verbindung zu bringen versuchte. 14 Diese Konzentration auf die alten, klassischen Autoritäten hat in Europa immer wieder dazu geführt, dass die zeitgenössischen philosophischen Entwicklungen in außereuropäischen Ländern aus der Aufmerksamkeit verdrängt wurden. Man kennt zwar Laozi, Konfuzius und Buddha, die man scheinbar leicht aus der Philosophie ausschließen kann, indem man sie allein dem Bereich der Religion zuschlägt, aber man kennt kaum Denker wie Kitarō Nishida,

Vgl. Hamada, Japanische Philosophie nach 1868; Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführung, hg. v. Ōhashi; Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. v. Elberfeld u. Arisaka. 13 Eine Ausnahme bildet die Darstellung in: Sandvoss, Geschichte der Philosophie, Mittelalter – Neuzeit – Gegenwart. Sandvoss bezieht in seiner Darstellung des 20. Jahrhunderts fast 40 verschiedene nationale Kontexte mit ein, u. a. Finnland, Rumänien, Mexiko, Südafrika, Israel, Tibet, Süd-Korea usw. Die Darstellungen sind im Einzelnen nicht sehr detailliert, aber dennoch in ihrem Weitblick zu begrüßen. Sandvoss beschließt seine Philosophiegeschichte mit dem Abschnitt »Philosophie im globalen Zeitalter«. Dort heißt es: »Philosophie im globalen Zeitalter erscheint nicht mehr glaubwürdig in Verbindung mit dem Absolutheitsanspruch eines Systems, einer Richtung oder einer Schule. Das egozentrische, ethnozentrische, speziell das eurozentrische Denken hat seine Zeit gehabt, es wird von einem polyzentrischen, pluralistischen und globalen Denken abgelöst« (ebd., Bd. II, 579). Zur Entwicklung im modernen China vgl. Contemporary Chinese Philosophy, hg. v. Cheng u. Bunnin, sowie neuerdings, History of Chinese Philosophy, hg. v. Mou, Kap. 15–18 und Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie zur Einführung. 14 Vgl. den nächsten Abschnitt in diesem Buch. 12

134 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

Zongsan Mou, 15 Bimal Krishna Matilal, 16 Kwasi Wiredu 17 oder Enrique Dussel, 18 die in Japan, China, Indien, Afrika und Südamerika für die neueste Philosophie eine bedeutende Rolle spielen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es selbstverständlich, dass in nahezu allen Ländern der Welt nicht nur Universitäten entstanden, sondern auch Institute für Philosophie. 19 Vielfach handelt es sich bis heute um eine schlichte Rezeption europäischer oder nordamerikanischer Philosophie. In vielen anderen Fällen hingegen entstanden eigenständige Ansätze, die erst jetzt langsam internationale Beachtung erfahren. Im Anschluss an diese Entwicklung geht es heute in interkulturell und global orientierter Philosophie nicht mehr nur vorrangig darum, in Europa auch »traditionelle« Denkweisen zu rezipieren, sondern um das Gespräch mit zeitgenössischen philosophischen Ansätzen, die auch aus anderen als den europäischen und nordamerikanischen Quellen entstanden und hergeleitet sind. Die Geschichte der bis 1968 so genannten »Internationalen Kongresse für Philosophie« und der »Weltkongresse für Philosophie« von 1973 bis heute zeigt, wie der Diskurs der Philosophie sich langsam immer weiter über den europäischen und nordamerikanischen Raum hinaus erweitert hat – anfangs nur zögerlich, aber nach dem Zweiten Weltkrieg immer entschiedener. Im Folgenden werden alle dokumentierten Kongresse vor allem daraufhin untersucht, welche Neuerungen und Erweiterungen sie jeweils in globaler Perspektive erbracht haben. Dabei werden Themen und Personen benannt, die auch in systematischer Hinsicht für die philosophischen DiskursentgrenzunVgl. den Aufsatz von Schmidt, »Der grosse Chinese von Königsberg«. Kants Rolle und Funktion im Kontext der Modernisierung konfuzianischen Denkens im 20. Jahrhundert. 16 Matilal hat verschiedene Bücher zur Logik und Sprachphilosophie in Indien publiziert wie z. B.: The Character of Logic in India. 17 Wiredu ist einer der bekanntesten zeitgenössischen afrikanischen Philosophen. Er hat unter anderem das Buch A Companion to African Philosophy herausgegeben. 18 Dussel ist einer der bekanntesten Philosophen Lateinamerikas. Eine seiner wichtigen Publikationen ist: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne. 19 Man kann diese Entwicklung natürlich einerseits selbst als ein wichtiges Instrument der Kolonialisierung kritisieren. Diese Kritik trifft in vielen zentralen Punkten sicher zu. Auf der anderen Seite sind aber dadurch weltweit Zentren der Reflexion entstanden, die immer wieder auch im Rahmen der Philosophie zur kritischen Reflexion der eigenen Situation im Besonderen und der wissenschaftlichen Ansätze im Allgemeinen führen. Auch eine Geschichte des globalen Systems der Universitäten ist noch nicht geschrieben worden. 15

135 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

gen von Bedeutung waren. Eine genaue historische und systematische Untersuchung dieser Entwicklungen im 20. Jahrhundert steht noch aus. Die Situation der ersten drei internationalen Kongresse von 1900 in Paris, 1904 in Genf 20 und 1908 in Heidelberg 21 waren von innereuropäischen Diskussionen geprägt, die erweitert wurden durch Gäste aus den USA. Die Hauptvorträge in Heidelberg wurden von Josiah Royce, Benedetto Croce, Henri Bergson und Theodor Lipps gehalten. Präsident des Kongresses war Wilhelm Windelband. Der heute weitgehend vergessene Hegelianer Josiah Royce war Professor für Philosophie an der Harvard University und vertrat die USA. Sein Denken wurde bereits in den 1910er Jahren von Kitarō Nishida fruchtbar rezipiert. 22 In dieser Zeit deuten sich somit globale Rezeptionswege in der Philosophie an, die im Laufe des 20. Jahrhunderts von nachhaltiger Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie wurden. Auf dem 4. Internationalen Kongress für Philosophie im Jahre 1911 in Bologna findet die erste Einbeziehung nicht-europäischer und -nordamerikanischer Ansätze statt. Unter dem Sektionstitel Filosofia generale e metafisica ist in den Kongressakten der Vortrag von Paul Masson-Oursel über Objet et méthode de la philosophie comparée dokumentiert. 23 Der französische Philosoph und Indologe Masson-Oursel ist der Erste, der auf der Grundlage bestimmter philosophischer Ansätze eine Methode komparativer Philosophie entwickelte, die auch klassische indische Denkansätze einbezog. Neben diesem Vortrag finden sich in den Akten die Vorträge The doctrine of Màyà in Indian Philosophy von Prabhu Dutt Shastri, einem Inder,

Der Kongress in Genf verstand sich selbst noch als »2. Sitzung« des ersten Internationalen Kongresses für Philosophie: Congrès International de Philosophie, II. Session tenue à Genève 1904, hg. v. Claparède. 21 Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1908, hg. v. Elsenhans. 22 Vgl. Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen japanischen Philosophie, 27 f. 23 Atti del IV. Congresso internazionale di Filosofia Bologna MCMXI, Bd. 2, 165– 172. Unter dem gleichen Titel erschien der Aufsatz auch in: Revue de Métaphysique et de Morale 19 im Jahr 1911. Später trat Masson-Oursel mit seinem Buch La Philosophie comparée (Paris 1923) hervor, das bereits 1926 in die englische Sprache übersetzt wurde. 20

136 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

der 1910 in Kiel bei Paul Deussen 24 promoviert wurde, und È il Buddhismo una religione o una filosofia? von Carlo Formichi, einem bekannten italienischen Indologen an der Universität Rom. Die drei Genannten repräsentieren bis heute verschiedene Möglichkeiten, sich mit asiatischen bzw. außereuropäischen Philosophieansätzen zu beschäftigen. Masson-Oursel war ein europäischer Philosoph, der auch indologische Kompetenzen besaß; Prabhu Dutt Shastri stammte aus Indien, hatte in Europa studiert und schrieb über ein Thema seiner eigenen Denktradition; Carlo Formichi war ein Indologe, der auch an philosophischen Themen interessiert war. Der erste Fall, dass primär in der Philosophie Ausgebildete sich zusätzlich in einer außereuropäischen Philologie qualifizieren, ist immer noch selten. Auf dem fünften Kongress 1924 in Neapel gab es erneut Vorträge zur indischen Philosophie. 25 Helmuth von Glasenapp, der später sehr berühmte Indologe und Religionswissenschaftler, 26 trug vor zum Thema Die Philosophie der Jainas und ihr Verhältnis zu den metaphysischen Systemen des Hinduismus, und Surendranath Dasgupta, der gerade eine englischsprachige Geschichte der indischen Philosophie publiziert hatte, 27 sprach zum Thema Indian Philosophy in relation to the contemporary Italian thought. Die Themenstellung des zuletzt genannten Vortrages ist insofern bemerkenswert, als darin eine ältere außereuropäische Tradition mit Strömungen zeitgenössischen Philosophierens in Italien verbunden wird und somit die auf Abtrennung zielende Unterscheidung der alten, klassischen Traditionen in Indien oder China auf der einen Seite und des zeitgenössischen Denkens in Europa auf der anderen Seite relativiert wurde. 1926 fand der Internationale Kongress für Philosophie erstmalig außerhalb Europas statt: an der Harvard-Universität in den USA. 28 In der General Session der Abteilung D mit dem Titel The Role of Philosophy in the History of Civilization trat neben den europäischen (Étienne Gilson, Benedetto Croce) und nordamerikanischen Denkern (John Dewey, Henry Osborn Taylor) auch ein Inder auf: Sarvepalli Radhakrishnan. Der in den 1960er Jahren zum Präsidenten Indiens Zu Paul Deussen vgl. den letzten Abschnitt im ersten Teil über die Verflechtungsgeschichten des Denkens. 25 Atti del V. Congresso internazionale di Filosofia Napoli 1924, hg. v. Valle. 26 Eines seiner bekanntesten Bücher ist: Die Philosophie der Inder. Eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren. 27 Dasgupta, A History of Indian Philosophy. 28 Proceedings of the Sixth International Congress of Philosophy, hg. v. Brightman. 24

137 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

gewählte Radhakrishnan spielte im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle nicht nur für die internationale Anerkennung der indischen Philosophie – er war ein bedeutender Sanskrit-Gelehrter –, sondern auch für die politische Anerkennung Indiens. Neben Radhakrishnan waren auch wieder Dasgupta und von Glasenapp mit Vorträgen zu indischen Themen vertreten. Auf dem Kongress an der Harvard-Universität gab es noch eine weitere Neuerung: Erstmals stellte ein Japaner zeitgenössisches Denken in Japan vor. Genyoku Kuwaki sprach in der Sektion Contemporary Philosophy. Reports on Present Tendencies in Different Countries über Philosophical Tendencies in Japan, 29 wobei er auch auf die neu entstehende Philosophie von Nishida hinwies. Der Kongress bot somit erstmalig auch außereuropäischen Denktraditionen ein öffentliches Forum, um die eigenen zeitgenössischen Strömungen darzustellen, was zwar zu keinen größeren philosophischen Wirkungen in Europa und Nordamerika führte, aber dennoch in eine neue Richtung der philosophischen Entwicklung wies. Als Besonderheit am Rande kann für den Bereich der Ästhetik hervorgehoben werden, dass ein Vortrag mit dem Titel L’art du drame japonais »No« zu hören war, zu einer Zeit, als die Künste Japans bereits seit längerem von europäischen Künstlern rezipiert worden waren. 30 Im Programm des 7. Internationalen Kongresses von 1930 in Oxford lassen sich keine Vorträge zu Themen außereuropäischer Philosophie finden. 31 Erst auf dem 8. Kongress in Prag 1934 begannen auch Chinesen teilzunehmen. 32 Der später sehr berühmte Philosoph und Philosophiehistoriker Youlan Feng hielt einen Vortrag zum Thema Philosophy in contemporary China. 33 Auch ein Inder war vertreten mit dem Vortrag: The Message of Sankara Vedanta to our Times. Inder, Chinesen und Japaner reihten sich somit ein in das Konzert zeitgenössischer Philosophie. Als ernstzunehmende Partner in der Der Vortrag erschien zunächst in den Akten des Internationalen Kongresses im Jahre 1927 und ein Jahr später auch in deutscher Sprache an prominenter Stelle in den Kant-Studien: Kuwaki, Die philosophischen Tendenzen in Japan. 30 Vgl. Elberfeld, Komparative Ästhetik – Eine Hinführung, in: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart. 31 Proceedings of the Seventh International Congress of Philosophy, hg. v. Ryle. 32 Actes du Huitième Congrès International de Philosophie Prague 1934, hg. v. Comité d’Organisation du Congrès. 33 Zu Feng vgl. Möller, Die philosophischste Philosophie. Feng Youlans Neue Metaphysik. 29

138 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

philosophischen Auseinandersetzung wurden sie freilich nicht wahrgenommen. Dies veränderte sich erst langsam nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahre 1937 fand der 9. Internationale Kongress für Philosophie in Paris statt. 34 Er war einem einzigen Philosophen gewidmet: René Descartes. Naturgemäß gab es auf diesem Kongress nur wenige Vorträge zur außereuropäischen Philosophie. Dennoch lassen sich Beiträge finden, die die internationale Entwicklung der Philosophie reflektieren. Der Japaner Genyoku Kuwaki sprach über L’état actuel des études cartésiennes au Japon. Hatte er 1926 in Harvard über die Situation der Philosophie in Japan im Allgemeinen gesprochen, so berichtete er nun über die Descartes-Forschung in Japan. Zum damaligen Zeitpunkt war es sicher für viele überraschend, dass überhaupt eine japanischsprachige Descartes-Forschung existierte. Auch heute noch spielt die japanischsprachige wie inzwischen auch chinesischsprachige Forschung zu einzelnen europäischen und nordamerikanischen Philosophen in Europa keine Rolle, was sicher zunächst ein Sprachproblem ist. Dies wird sich vermutlich dann ändern, wenn die Diskurse der Philosophie außerhalb Europas und Nordamerikas im 20. Jahrhundert selbstverständlich zu unserem Bild von der Geschichte der Philosophie gehören werden. 35 Ein weiteres unerwartetes Thema wurde von Ralph Tyler Flewelling aufgebracht. Unter dem Titel Chinese influences in late cartesianism wird deutlich, wie bereits im 17. Jahrhundert Berichte aus China in der europäischen Philosophie wirksam wurden. 36 Nach einer kriegsbedingt längeren Unterbrechung fand erst 1948 der 10. Internationale Kongress für Philosophie in Amsterdam Travaux du IXe Congrès International de Philosophie – Congrès Descartes, hg. v. Bayer. 35 In der Heidegger-Forschung ist dies bereits vor fast 20 Jahren geschehen. In dem Buch Japan und Heidegger, hg. v. Buchner, stellt sich dabei heraus, dass die erste Sekundärliteratur zu Heidegger von 1924 ein japanischsprachiger Aufsatz von Hajime Tanabe ist mit dem Titel: Die neue Wende der Phänomenologie – Heideggers Phänomenologie des Lebens. Tanabe, der 1923 die Vorlesung Hermeneutik der Faktizität in Freiburg gehört hatte, ordnet den neuen Ansatz von Heidegger in die damalige philosophische Situation ein. Die Rezeption deutscher Philosophen außerhalb Europas rückt inzwischen stärker in den Blickpunkt der Diskussion. So wurde beispielsweise im Mai 2009 eine Konferenz in Hong Kong abgehalten zum Thema: Kant in Asia. 36 Vgl. hierzu den Abschnitt neun im Kapitel über die Verflechtungsgeschichten des Denkens. 34

139 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

statt. Er wurde von der frisch gegründeten UNESCO unterstützt, was sich auch als Programmpunkt unter Entretiens de l’Unesco niederschlug. 37 Der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Ansätzen wurde nun eine eigene Sektion gewidmet unter dem Titel East and West / L’Orient et l’Occident. In dieser Sektion wurden Vorträge zur chinesischen, indischen, vergleichenden und erstmals auch zur islamischen Philosophie gehalten. Explizite Vorträge zur zeitgenössischen Situation asiatischer Philosophie wurden nicht präsentiert. Obwohl es sicher zu begrüßen ist, dass eine eigene Sektion für den Dialog zwischen »Ost und West« eingerichtet wurde, ist die Bezeichnung dieser Sektion durchaus ambivalent. Wenn im Kontext der Philosophie vom »Osten« gesprochen wird, dann werden bis heute darunter vor allem die alten Denktraditionen Asiens verstanden. Wie aber bereits deutlich geworden sein sollte, bemühte man sich in Asien und auch in anderen Gebieten um eine eigenständige zeitgenössische Philosophie und um die Erforschung der Philosophie im Allgemeinen. Die Einteilung in den »Osten« und den »Westen« verhindert bis heute, dass wirklich sichtbar werden kann, dass einerseits viele asiatische Philosophen der europäischen und nordamerikanischen Philosophie nacheifern und andererseits asiatische Philosophien spätestens seit Leibniz auch in Europa durchaus ihre Wirkung haben. Schopenhauer und Heidegger jedenfalls hätten ohne ihren Kontakt zu Asien andere Philosophien entwickelt. 38 Seit 1948 finden die Konferenzen alle fünf Jahre an verschiedenen Orten statt. Dies verdankt sich der Tatsache, dass in diesem Jahr die FISP (Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie / International Federation of Philosophical Societies) gegründet wurde und ihre Arbeit aufnahm. Bis heute werden die Kongresse von dieser Organisation initiiert und organisatorisch begleitet. Die FISP ist der Dachverband aller philosophischen Gesellschaften weltweit. 39 Während auf dem 11. Internationalen Kongress 1953 in Brüssel kaum Außereuropäisches auf der Tagesordnung stand, 40 zeigen die

Proceedings of the Xth International Congress of Philosophy, hg. v. Beth et al. Zu Schopenhauer vgl. den Aufsatz von Schayer, Indische Philosophie als Problem der Gegenwart. Zu Heidegger vgl. Elberfeld, Heidegger und ostasiatisches Denken. Annäherungen zwischen fremden Welten. 39 Agazzi, A Short History of the International Federation of Philosophical Societies (FISP). 40 Actes du XIeme Congrès International de Philosophie. 37 38

140 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

Kongressakten des 12. Internationalen Kongresses 1958 in Venedig das bis dahin breiteste Spektrum der über die Grenzen Europas und Nordamerikas hinausgehenden Auseinandersetzung. 41 In der Sektion Eastern Philosophies and Western Thought wurden Themen diskutiert wie Moslem Philosophy, Pensée egyptienne contemporaine, Europäisierung des türkischen Geistes, Language and Philosophy in India, Zen und Heidegger, Comparative Philosophy in Japan, Buddhist Philosophy, Ninety Years of Japanese Philosophy (1868–1958), Westernization of Japanese Philosophy, Tao-Theory of Chuangtze, Indian and Western Logic usw. Über diese Themen wurde von Türken, Ägyptern, Japanern, Chinesen, Indern, Europäern und US-Amerikanern vorgetragen – eine bunte Mischung, die sehr zufällig scheint. Der Titel der Sektion ist durchaus erstaunlich. Wird doch dem »Osten« das Wort »Philosophien« zugeordnet und dem »Westen« das Wort »Denken«. Bemerkenswert ist dies, weil bis heute immer wieder Diskussionen darüber aufflackern, ob die alten Denktraditionen Asiens zur »Philosophie« zu rechnen seien, oder eben nur das, was in Europa unter diesem Namen entstanden ist. 42 Häufig wird dann – auch von Asiaten selbst – dafür argumentiert, dass es sich bei den alten Ansätzen zwar um ein »Denken« mit philosophischen Komponenten handele, aber nicht um »Philosophie« im engeren Sinne. Bei diesen Diskussionen wird dann vor allem die Tatsache kaum berücksichtigt, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert eigenständige Philosophie-Traditionen unter dem Einfluss Europas in Japan, China, Indien, Südamerika und in anderen Ländern entstanden sind. Heute kann niemand mehr diese Entwicklungen vollständig überblicken und mit Sicherheit sagen, ob nicht bereits jetzt – an vermeintlich »abgelegenen« Orten – Ansätze des Denkens und der Philosophie entwickelt werden, die für die Zukunft der Philosophie insgesamt von großer Bedeutung sein könnten. Wenn man europäische Philosophen im 18. Jahrhundert gefragt hätte, ob sie sich vorstellen könnten, dass die Philosophie in den USA in Zukunft einmal zentral für das Denken in europäischen Ländern werden würde, hätten sie dies vermutlich vehement zurückgewiesen oder gar für unmöglich gehalten. 1963 fand der 13. Internationale Kongress erstmalig in einem Atti del XII Congresso Interazionale di Filosofia. Für diese Diskussion vgl. den nächsten Abschnitt in diesem Buch zum Thema »Comparative Philosophy«.

41 42

141 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Land außerhalb Europas und Nordamerikas statt. 43 In Mexiko, an der seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Universidad de México, kamen Philosophen aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen. 44 In einem der Hauptvorträge reflektiert Herbert W. Schneider unter dem Titel Global Orientation die massiven Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg: »The world-wide situation into which mankind has been thrown by revolution in communication systems, politics, and markets, and by the creation of many new international institutions and relations demands that those who seek to understand this new world should metaphore their categories into it and thus test the adequacy of their accustomed orientation concepts to guide them in making their analyses of this transformed human environment with its many cultures and its varied attempts at integration.« 45

Diese Beschreibung trifft auch für unsere Gegenwart noch immer zu, nur die Geschwindigkeit der Veränderung hat sich weiter verschärft. Unter den Vorträgen gab es einen, der ein damals noch ganz neues Stichwort für die globale Situation verwendete, das heute wieder in anderer Bedeutung im deutschsprachigen Raum Konjunktur hat. Niels C. Nielsen aus den USA sprach zum Thema: Freedom as a transcultural Value. Wie allein aus dem Titel deutlich wird, meint »transcultural« hier »universal« – ein Wortgebrauch, der bereits einige Jahre vorher entstanden war. 46 Die Vorträge von Schneider und Nielsen beschreiben zwar die globalen Veränderungen und Erfordernisse im Allgemeinen, beziehen die Konsequenzen für die Entwicklung der Philosophie jedoch nicht mit ein. Auf dem Kongress selbst wurden zwar immer wieder Vorträge zu vergleichenden Studien zwischen Ost und West gehalten, aber es gab keine eigene Sektion für diese Themen. Naturgemäß findet man viele spanischsprachige Beiträge, und es fällt auf, dass die Beiträge aus Russland in russischer Sprache gehalten und in kyrillischer Schrift abgedruckt wurden. Aus den Beiträgen zur außereuropäischen Philosophie sei nur einer hervorgehoben: Dale Riepe sprach über Some influences of indian philosophy on american thought after the civil war. In dem Vortrag wird deutlich, dass vor allem Josiah Royce, der auf dem Heidelberger KonMemorias del XIII Congreso International de Filosofia, hg. v. Larroyo u. Curiel. Ein Bericht über diesen Kongress findet sich in: Rusker, Der XIII. internationale Philosophie-Kongress in Mexico. 45 Memorias, a. a. O., Bd. 1, 195. 46 Vgl. zur Wortgeschichte dieses Adjektivs den dritten Abschnitt in diesem Kapitel. 43 44

142 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

gress 1908 eine wichtige Rolle gespielt hatte, nachhaltig von indischer Philosophie beeinflusst war. 47 Die Erwartung, dass nordamerikanische Philosophen seit dem 19. Jahrhundert von asiatischen Philosophien lernen und profitieren, ist bis heute in Europa gering. Dass gerade gegenwärtig umso mehr damit gerechnet werden muss, liegt allein daran, dass in Nordamerika viel selbstverständlicher als in Europa Philosophierende mit den verschiedensten kulturellen Hintergründen und Muttersprachen an Universitäten lehren. Im Jahr 1968 wurde der 14. Internationale Kongress in Wien veranstaltet. 48 Neben den vielen Sektionen zu den verschiedensten Themen der Philosophie wurde auch eine spezielle Veranstaltung zur »östlichen Philosophie« durchgeführt. Im Vergleich zu Amsterdam und Venedig trat dieses Thema aber eher wieder zurück. Besonders bemerkenswert war die Reihe Öffentliche Vorträge bedeutender Denker der Gegenwart. Die Liste der ausgewählten Denker spiegelt die damalige geistige und politische Situation. Es sprachen: Georg Lucács (Ungarn), Willard Van Orman Quine (USA), Ernst Bloch (BRD) 49, Ernesto Grassi (BRD), Michele Federico Sciacca (Italien), Fritz-Joachim von Rintelen (BRD), Gabriel Marcel (Frankreich), P. T. Raju (Indien/USA), Fedor W. Konstantinov (UdSSR), Hermann Ley (DDR), Viktor E. Frankl (Österreich), Raymond Panikkar (Indien/ USA), Keiji Nishitani (Japan) 50. England und China sind nicht vertreten, Westeuropa dominiert Osteuropa, Frauen fehlten gänzlich. Ähnlich internationale Besetzungen von Plenarvorträgen sind seither auf den Weltkongressen für Philosophie an der Tagesordnung. Der 1973 erstmals in Osteuropa stattfindende Kongress hieß nun nicht mehr »Internationaler Kongress«, sondern »Weltkongress für Philosophie«, eine Bezeichnung, die bis heute beibehalten wird. 51 In Varna, einer Stadt in Bulgarien, versammelte sich die internationale Gemeinschaft der Philosophen zum 15. Weltkongress für Philosophie, wobei die starke Präsenz russischsprachiger Vorträge sogleich ins Auge springt. Auch lässt sich schnell bemerken, dass die damaligen ideologischen Unterschiede die Diskussionen deutlich prägten. Philosophierende aus asiatischen Ländern verteilten sich Vgl. Leidecker, Josiah Royce and Indian Thought. Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie, Wien 1968. 49 So lautete die Abkürzung im Programmheft. 50 Ob Nishitani gesprochen hat oder doch sein Kollege Yoshinori Takeuchi, geht aus dem Programm nicht hervor. In den Akten erscheint ein Text von Takeuchi. 51 Proceedings of the XVth World Congress of Philosophie. 47 48

143 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

auf die verschiedenen Sektionen, ohne dass die außereuropäischen Philosophien dabei besonders berücksichtigt wurden. Erstmalig ist jedoch ein Beitrag zur afrikanischen Philosophie zu verzeichnen. Claude Sumner hielt einen Vortrag mit dem Titel A Thought Pattern of Ethiopian Philosophy. Der gebürtige Kanadier Sumner war einer der ersten, die in englischer Sprache Philosophen aus Afrika rezipierten. 52 Dieses neue Thema sollte vor allem auf dem nächsten Kongress weiter ins Zentrum rücken. Der 16. Weltkongress für Philosophie fand 1978 in Düsseldorf statt. 53 Auf dem Kongress, der unter der Leitung von Alwin Diemer stand, gab es eine besonders bemerkenswerte Neuerung und Erweiterung. Zum ersten Mal trat im Rahmen der Plenarsitzungen ein Philosoph aus Afrika auf. Tshiamalenga Ntumba (Kinshasa/Zaire) sprach zu dem Thema Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas. 54 Ntumba war 1973 in das Exekutivkomitee der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie gewählt worden und konnte dort seine Stimme erfolgreich einbringen. Das Exekutivkomitee ist seit dieser Zeit ein weitgehend global besetztes Gremium, das dafür sorgt, dass weltweit verschiedene Stimmen der Philosophie auf den Weltkongressen zu Wort kommen. Mit dem Auftreten eines Philosophen aus Afrika, der zur zeitgenössischen Situation der Philosophie in Afrika sprach, war nun neben den Stimmen aus Indien, China, Japan, der islamischen Welt und Südamerika auch eine Stimme aus Afrika in das globale Gespräch der Philosophie eingebunden. Die Tatsache, dass Ende der 1970er Jahre das Gespräch globale Dimensionen angenommen hatte, sagt sicher noch nichts über die Qualität desselben aus. Dennoch wurde es bereits zu diesem Zeitpunkt immer schwieriger, aus philosophischen Gründen die Vielfalt der Philosophien weltweit und deren Fruchtbarkeit für das philosophische Denken zu negieren und auf das »westliche« Denken einzuengen. In diesem Sinne sagte der Präsident des damaligen Kongresses in seinem Vortrag vor über dreißig Jahren: »Zunächst kann und muss gesagt werden, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Gleichwertigkeit aller Kulturen der Welt […] anerkannt wird. […] Dieses Faktum erfordert den inter- wie transkulturelSumner, The Source of African Philosophy: The Ethiopian Philosophy of Man. 16. Weltkongress für Philosophie, hg. v. Diemer. 54 Der Vortrag wurde ein Jahr später auch in einer philosophischen Zeitschrift veröffentlicht: Ntumba, Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas. 52 53

144 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

len geistigen Dialog, in dem der idio-kulturelle Horizont überschritten werden muss. […] Es ist dies nur möglich in einem philosophischen Bemühen, das transkulturell, 55 transnational und transideologisch ist; es wäre ein philosophisches Bemühen, das vielleicht als eine Art Dritte Aufklärung zu verstehen ist.« 56

Der 17. Weltkongress für Philosophie fand 1983 in Montréal statt. 57 Er hatte das allgemeine Thema Philosophie und Kultur. Mit dieser Hinwendung zum Thema »Kultur« im Rahmen der Weltgemeinschaft der Philosophierenden wurde eine Tendenz der Zeit aufgegriffen, die danach zunehmend zahlreiche Diskurse bestimmt hat – bis heute. 58 An dem Kongress nahmen viele damals führende Philosophen teil wie Lévinas, Klibansky, Danto, Quine, Putnam, Kripke und Strawson. Neben diesen bekannten Namen aus der europäischen und nordamerikanischen Diskussion waren aber auch eine große Anzahl von Philosophierenden aus Asien, Afrika und Südamerika beteiligt, die über viele Sektionen verteilt ihre Vorträge auch oft ohne Bezug auf ihre kulturellen Hintergründe hielten, so z. B. der Japaner Nomoto über Frege on Indexicals. Eine Sektion beschäftigte sich jedoch eigens mit der Rolle der Philosophie in der Geschichte der Kulturen. Eine andere Sektion stand unter dem Titel Verständigung und Kampf zwischen den Kulturen, ein Thema, das in den 1990er Jahren eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit gewann und 1983 bereits von Philosophierenden in globaler Perspektive diskutiert wurde. Man sprach von »intercultural understanding« und »intercultural values«, Stichwörter, die sich erst gut ein Jahrzehnt später im deutschsprachigen Raum verbreiteten. Der Vortrag von Yuen-Ting Lai aus Kanada zum Thema Leibniz on Chinese Language macht deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt in Nordamerika kaum noch Themenzuordnungen gemäß der Herkunft gemacht werden konnten, da die Institute für Philosophie bereits selbst multikulturell geworden waren. Zudem

Unter »transkulturell« versteht Diemer »universal«, wie er an einer Stelle betont. 16. Weltkongress für Philosophie, a. a. O., 136 u. 143. 57 Philosophie et culture, Actes du XVIIe congrès mondial de philosophie, hg. v. Cauchy. 58 Das Wort Kultur ist heute auch in der Bildung neuer Wissenschaften (z. B. Kulturwissenschaft im Singular) und für die Bezeichnung einzelner Wissenschaftsbereiche (Kulturwissenschaften) von besonderer Bedeutung. Kaum ein Begriff ist zugleich aber auch umstrittener. 55 56

145 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

gab es aber auch Sektionen zur Östlichen Philosophie – wo nun auch Vorträge zur Philosophie in Indonesien und in Korea zu finden waren –, zur Islamischen Philosophie, zum Afrikanischen Denken und Podiumsdiskussionen zum Thema Classical Indian Philosophy, Posibilidades y limites de la Filosofia Latinoaméricana, La Négritude: concept éthique ou mode de vie, The Challenge of Chinese Philosophy in the Modern World, Émergence de la nouvelle pensée sociale en Asie, en Afrique, en Amérique latine et dans le monde arabe. Eine neue Perspektive, die im Rahmen der Podiumsdiskussionen integriert wurde, war die feministische. Unter dem Titel Perspectives féministes sur l’histoire de la philosophie hielt beispielsweise Christine Allen aus Kanada den Vortrag: Women Philosophers before 1300. Die genannten Themen machen deutlich, dass sich spätestens 1983 mit dem Weltkongress in Montréal weitgehend das Themenspektrum etabliert hatte, von dem auch heute noch die Weltkongresse bestimmt werden. Der 18. Weltkongress für Philosophie wurde 1988 in der englischen Stadt Brighton durchgeführt und der 19. Weltkongress für Philosophie fand 1993 in Moskau statt. Von beiden Kongressen existieren keine gedruckten Kongressakten, so dass das Programm nur schwer nachvollzogen werden kann. Der 20. Weltkongress für Philosophie, der zugleich der letzte des 20. Jahrhunderts war, fand 1998 unter dem Gesamtthema Paideia in Boston statt. 59 Dieser Kongress war der bis heute größte aller Weltkongresse. An den zahlreichen Veranstaltungen waren über 3500 Philosophierende aus über 90 Ländern beteiligt. Das Themenspektrum war kaum zu überschauen und die Vielfalt der Vorträge sprengte alle Grenzen. In interkultureller Perspektive ist neben dem Band 12 der Kongressakten, der den Titel Intercultural Philosophy trägt, vor allem zu erwähnen, dass eine große Anzahl von Podiumsdiskussionen interkulturell besetzt war mit Philosophierenden aus den verschiedensten Ländern und Kulturen. Es wurden zwar auch Themensektionen zu Asien, Afrika, Südamerika und zum Islam durchgeführt, aber wichtiger und interessanter waren letztlich die Dialogveranstaltungen, die eine lebendige Anschauung von den Schwierigkeiten gaben, die entstehen, wenn Philosophierende aus sehr unterschiedlichen Kontexten aufeinandersto-

Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, hg. v. Hintikka, Neville, Sosa u. Olson. Das Programm und die Vorträge der Sektionen sind noch immer im Internet einsehbar: http://www.bu.edu/wcp/ (12. 11. 2016).

59

146 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

ßen. In diesem Sinne war eindrücklich, wie Karl-Otto Apel seinen Letztbegründungsanspruch gegen Enrique Dussel zu verteidigen suchte, der als lateinamerikanischer Befreiungsphilosoph die sozialen Verhältnisse in Südamerika zum Ausgangspunkt seines Philosophierens machte. In Boston wurde überdeutlich, dass Philosophie im 20. Jahrhundert zu einem weltweit institutionalisierten Fach geworden ist. Was dies letztlich für die Philosophie und das zukünftige Philosophieren bedeutet, wird zunehmend überall in der Welt reflektiert werden müssen. Der erste Weltkongress für Philosophie im 21. Jahrhundert und zugleich der 21. in der Folge der Weltkongresse wurde 2003 in Istanbul unter dem Titel Philosophy Facing World Problems durchgeführt. Istanbul übt seit jeher eine Brückenfunktion zwischen Europa und Asien aus, was von den Veranstaltern nachdrücklich erwähnt wird. Mit dem Generalthema wurde erstmalig der globalen Reichweite der Philosophie auch im Titel der Veranstaltung Rechnung getragen. Wichtige Themen auf diesem Kongress waren Angewandte Ethik, Bioethik und Menschenrechte, aber auch – aus damals sehr aktuellem Anlass – das Problem des Terrorismus. Der Titel der Veranstaltung war bewusst gewählt, um die philosophischen Bemühungen auf die globalen Fragestellungen zu konzentrieren. Neben den zahlreichen thematischen Plenarveranstaltungen und Sektionen gab es nun selbstverständlich Sektionen zu den Regionen der Welt mit Betonung auf die gegenwärtige Situation. Sektionsnamen wie Philosophy in Africa: Contemporary Issues, Philosophy in Asia and the Pacific: Contemporary Issues, Philosophy in Latin America: Contemporary Issues, Philosophy in North America: Contemporary Issues verdeutlichen, dass es auf der Weltebene der Philosophie zur Normalität geworden war, dass sich in allen Teilen der Welt Diskurse der Philosophie mit zeitgenössischen Fragestellungen auseinandersetzen. Der 22. Weltkongress für Philosophie fand 2008 erstmalig in Asien statt. In Seoul versammelten sich über 2000 Philosophierende unter dem Gesamtthema Rethinking Philosophy today. Auch auf diesem Kongress wurde eine große Anzahl von Themen diskutiert, wobei die Teilnehmer aus Asien in besonders hoher Zahl vertreten waren. Die koreanischen Organisatoren hatten sich bereits im Vorfeld sehr darum bemüht, Ergebnisse koreanischer Philosophie im 20. Jahrhundert und aus ihrer Geschichte zusammenzutragen. Neben den Sprachen Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und Russisch waren erstmalig asiatische Sprachen – Chinesisch und Koreanisch – 147 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

offizielle Sprachen eines Weltkongresses für Philosophie. Diese Neuerung unterstreicht, dass die zukünftigen Entwicklungen in der Philosophie sicher nicht auf die europäischen Sprachen begrenzt sein werden, was sie im Grunde schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr sind. Abgesehen von der Auseinandersetzung mit den alten indischen, chinesischen und anderen außereuropäischen Texten wird mit dieser Erweiterung der Konferenzsprachen eine Entwicklung manifest, die auf der Konferenz selbst in philosophischer Hinsicht thematisiert wurde. In einer Podiumsdiskussion wurde der Frage nachgegangen, was es für die zukünftige Entwicklung bedeuten könnte, wenn zunehmend kreative und zeitgenössische Philosophieansätze sich in chinesischer Sprache entwickeln. Sicher ist, dass die zeitgenössische chinesische Philosophie auf eine ebenso alte Tradition des Denkens zurückgreifen kann wie die europäische. Im chinesischsprachigen Raum wird es dabei immer selbstverständlicher – und in Japan ist dies bereits seit über hundert Jahren der Fall –, dass Philosophierende nicht nur auf europäische und nordamerikanische Philosophie, sondern auch auf chinesische und indische Traditionen zurückgreifen. Wie der Weltkongress in Seoul deutlich gezeigt hat, entwickeln sich zahlreiche zeitgenössische philosophische Diskurse in Südamerika, Afrika, Indien, China, Korea, Japan und in anderen Ländern auf hohem Niveau. Um diese Entwicklungen zu verstehen und in ihren Auswirkungen auf die zukünftige Entfaltung der Philosophie einschätzen zu können, bedarf es eines erheblichen hermeneutischen Aufwandes. Es wird dabei nicht genügen, sich auf einen universalen Geltungsanspruch logischer Gesetze oder eine die Vielfalt der Sprachen transzendierende Sprachphilosophie zurückzuziehen, da so vor allem in hochbrisanten Bereichen der Ethik, Ästhetik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie keine den gegenwärtigen und globalen Bedürfnissen entsprechenden Perspektiven entwickelt werden können. Im Jahr 2013 fand in Athen der 23. Weltkongress unter dem Titel Philosophy as Inquiry and Way of Life (Η ΦΙΛΟΣΟΦΙΑ ΩΣ ΕΡΕΥΝΑ ΚΑΙ ΤΡΟΠΟΣ ΖΩΗΣ) statt. Neben einer starken russischen Delegation nahm auch wieder eine große Zahl von Chinesen teil. Die Vielfalt der Themen war ähnlich wie auf den vorhergehenden Kongressen, so dass keine Neuerungen auf dieser Ebene zu beobachten waren. Es gab nur eine Auseinandersetzung, die im Vorfeld des Kongresses bereits für Diskussionen sorgte. Einige Stimmen im Führungskomitee der Fédération Internationale des Sociétés de Phi148 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert

losophie 60 hielten es für sinnvoll, die deutsche Sprache als obligatorische Sprache der Kongresse neben Englisch, Französisch, Russisch, Chinesisch und Spanisch abzuschaffen. Als Argument brachten sie vor, dass die Deutschen weitgehend auch in Deutschland in der Philosophie Englisch sprechen würden und daher keine Notwendigkeit bestehen würde, diese Sprache weiter als offizielle Sprache des Kongresses zuzulassen. Letztlich konnte die Streichung der deutschen Sprache abgewendet werden, unter anderem mit dem Argument, dass eine doch beachtliche Zahl an Philosophinnen und Philosophen aus anderen Ländern als Deutschland in deutscher Sprache auf dem Athener Kongress vorgetragen hätten. Die betreffenden Personen sind philosophisch in Deutschland ausgebildet worden und pflegen Deutsch als Sprache der Philosophie. Der zunehmende Zwang – vor allem in den USA und Europa – in der Philosophie Englisch zu sprechen lässt die Sprachenvielfalt in der Philosophie dramatisch zurückgehen. Wenn man bedenkt, dass einige Philosophen in den USA – vor allem die analytischen Philosophen – keine andere als die englische Sprache beherrschen, so zeigt sich hier eine hochwidersprüchliche Situation auch im Hinblick auf die Geschichte der Philosophie. Zum einen ist es sicher gut, eine mögliche Bezugssprache in globalen Kontexten des Philosophierens zu besitzen. Wenn dies aber dazu führt, dass in den USA und Europa nur noch in englischer Sprache philosophiert wird und allein die englischsprachigen Texte zählen, so entsteht in philosophischer Hinsicht eine gravierende Schieflage. Derzeit gibt es aus meiner Sicht vor allem eine zentrale Konkurrenzsprache für das Englische. Diese Sprache ist das Chinesische. Seit dem Kongress in Seoul ist Chinesisch als offizielle Sprache der Kongresse zugelassen. Der 24. Weltkongress wird 2018 in Peking stattfinden unter dem Titel Learning to be Human (chin. 学以成人, xue yi cheng ren). In Peking wird auch erstmalig die arabische Sprache als offizielle Sprache des Kongresses zugelassen sein. Die Planungen für das Programm umfassen ein beeindruckendes Spektrum gegenwärtigen Denkens. Der Hauptorganisator Weiming Du, gegenwärtig der berühmteste chinesische Philosoph, ist in jeder Hinsicht darum bemüht, ein in bisher noch nicht dagewesener Weise globalisiertes Die Organisation trägt zuerst einen französischsprachigen Namen und zudem auch einen englischen. Träger von offiziellen Funktionen müssen Französisch und Englisch beherrschen. Inzwischen wird aber das Englische immer mehr zur offiziellen Sprache der »FISP«.

60

149 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Spektrum der Themen zu präsentieren. Dabei erhält er Rückenwind von den rasanten Entwicklungen der Philosophie im chinesischsprachigen Bereich, wozu auch Taiwan zu zählen ist. Vermutlich sind es die Chinesen, die gegenwärtig am meisten Geld in die akademische Entwicklung der Philosophie investieren. Wohin sich in China das Denken entwickeln wird, ist noch nicht abzusehen. 61 Sicher ist aber, dass die chinesische Tradition versuchen wird, sich mit dreitausend Jahren chinesischer Philosophiegeschichte im Rücken gegenüber der englischsprachigen Dominanz des Diskurses zu behaupten. Auch in dieser Hinsicht wird der globale Diskurs der Philosophie die chinesischsprachige Philosophie berücksichtigen müssen, wobei auch noch andere Diskursräume an Bedeutung gewinnen werden. In Peking wird erstmalig die arabische Sprache als offizielle Sprache des Kongresses zugelassen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Islam lassen vermuten, dass auch diese Sprache in Zukunft eine größere Rolle in der Philosophie spielen wird. Als Fazit ist festzuhalten: Philosophie kann im 21. Jahrhundert weniger denn je auf die Diskurse in Europa und Nordamerika eingeschränkt werden. Dies bedeutet nicht, dass wahllos alles mit einbezogen werden muss. Aber um beurteilen zu können, was für die Zukunft des Philosophierens von Bedeutung sein wird, muss der Horizont der Betrachtung erheblich erweitert werden.

2.

»Comparative Philosophy« – methodische Reaktionen auf globale Verflechtungen

»Komparative Philosophie«, die im 20. Jahrhundert als methodische Reaktion auf Globalisierungsprozesse in der Philosophie entstand, ist eine philosophische Disziplin, die in Indien, China, Japan, Frankreich und den USA bereits auf eine längere Forschungstradition zurückblicken kann. 62 Sucht man dieses Stichwort im Historischen WörterFür eine neue Analyse vgl. Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie. Das erste Buch mit dem Titel La Philosophie comparée (Paris 1923) stammt von dem Franzosen Paul Masson-Oursels. Das Buch erschien drei Jahre später in englischer Sprache. Der Pionier komparativer Philosophie in Amerika war Charles A. Moore, der 1939 die erste East-West Philosophers’ Conference in Hawaii einberief und 1946 den Band Philosophy – East and West herausgab. Neben dieser Entwicklung in der westlichen Welt entfaltete sich in Indien, China und Japan seit der ersten Begegnung mit der europäischen Welt in Rückbindung an die jeweiligen Traditionen

61 62

150 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

buch der Philosophie, so findet man anstatt der deutschen als Haupteintrag die englische Form comparative philosophy und dahinter in Klammern die französische philosophie comparée. Diese Tatsache weist darauf hin, dass komparative Philosophie in der deutschen Denklandschaft nicht im gleichen Maße etabliert worden ist, obwohl sie der Sache nach inzwischen auf eine mindestens 300-jährige 63 und der Bezeichnung nach international auf eine mindestens hundertjährige Geschichte 64 zurückblicken kann. In anderen Disziplinen ist die über den europäischen Rahmen hinausführende vergleichende Perspektive längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Vergleichende Sprachwissenschaft, 65 vergleichende Religionswissenschaft, 66 vergleichende Literaturwissenschaft, 67 vergleichende Soziologie, 68 vergleichende Geschichtswissenschaft 69 und andere Wissenschaften haben die Fruchtbarkeit und dieser Länder eine philosophische Forschung, die stark durch die komparative Perspektive bestimmt war. Zum Beispiel: Indien: Radhakrishnan; China: Youwei Kang, Shuming Liang; Japan: Tetsujirō Inoue, Kitarō Nishida. Einen Einblick in die Situation komparativer Philosophie konnte man auf dem 20. Weltkongress für Philosophie 1998 in Boston erhalten. Dort fanden nicht nur fünf Sektionen unter dem Titel Comparative philosophy statt, sondern auch drei Sektionen zum Thema Philosophy in a Global Context und zahlreiche weitere Veranstaltungen zur Philosophie in Asien, Afrika, Südamerika und zur Philosophie in interkultureller Perspektive. 63 Vgl. hierzu Kapitel neun im ersten Teil zur Verflechtungsgeschichte. 64 Halbfass gibt in seinem Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie als erste Fundstelle für den Begriff »comparative philosophy« das Buch des Inders B. N. Seal an, Comparative studies in Vaishnavism and Christanity, Calcutta 1899, VII ff. 65 Hier sind zunächst Namen zu nennen wie W. v. Humboldt, F. Schlegel und F. Bopp, die schon sehr früh ihren Blick über den europäischen Sprachhorizont hinaus erweiterten. Heute bezieht sich der Begriff »vergleichende Sprachwissenschaft« vor allem auf den Vergleich der Sprachen in der indoeuropäischen Sprachfamilie. Vgl. O. Szemerényi, Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 66 Müller, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Er sagt dort zur Begründung dieses neuen Ansatzes: »Wer eine [Religion] kennt, kennt keine.« 14; Frick, Vergleichende Religionswissenschaft; Kippenberg, Die Relativierung der eigenen Kultur in der vergleichenden Religionswissenschaft«, in: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, hg. v. Matthes. 67 Kaiser, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand – Kritik – Aufgaben. Für einen neueren Ansatz vgl. Zima, Komparatistik. 68 Durkheim, Regeln der soziologischen Methode. Dort sagt er: »Die vergleichende Soziologie ist nicht etwa nur ein besonderer Zweig der Soziologie; sie ist soweit die Soziologie selbst, als sie aufhört, rein deskriptiv zu sein, und danach strebt, sich über die Tatsachen Rechenschaft zu geben«, 216. Matthes, The Operation Called ›Vergleichen‹. 69 Vergleichende Geschichtswissenschaft. Methode, Ertrag und ihr Beitrag zur Uni-

151 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Notwendigkeit ihres Vorgehens bereits vielfältig unter Beweis gestellt. Zwar gab es auch in Deutschland immer wieder Versuche, komparative Aspekte in die philosophische Forschung einzubeziehen, 70 dies führte aber bisher nicht dazu, dass sich eine eigene Disziplin innerhalb der Philosophie für dieses Sachgebiet etablierte. 71 Ein wichtiger Grund für diese Tatsache ist wohl darin zu sehen, dass sowohl Kant 72 als auch Hegel 73 ein negatives bzw. rassistisches Verhältnis zu außereuropäischem Denken besaßen. 74 Die kantischen und hegelschen Kriterien der Ablehnung asiatischer Philosophien und anderer Denktraditionen zeigen auch heute noch bei vielen deutschen Philosophen ihre Wirkung und gelten als Standard in der Beurteilung außereuropäischen Denkens. Zudem bekräftigten Edmund Husserl 75 versalgeschichte, hg. v. Hampel u. Weiler; Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität, hg. v. Rüsen, Gottlob u. Mittag. In diesem Band sind Ergebnisse gesammelt der Forschungsgruppe »Historische Sinnbildung – Interdisziplinäre Untersuchungen zur Struktur, Logik und Funktion des Geschichtsbewußtseins im interkulturellen Vergleich«. 70 Misch, Der Weg in die Philosophie, 1926; Schweitzer, Die Weltanschauung der indischen Denker, 1935; Dempf, Selbstkritik der Philosophie und vergleichende Philosophiegeschichte im Umriß, 1947; Jaspers, Die großen Philosophen, 1957. 71 Vor gut zwanzig Jahren gab es eine kurze Phase, in denen drei Bände zur komparativen Philosophie publiziert wurden, an denen auch der Autor beteiligt war: Komparative Philosophie. Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen, hg. v. Elberfeld et al.; Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart; Komparative Ethik. Das »Gute Leben« in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart. Statt der »Komparativen Philosophie« hat sich im deutschsprachigen Raum die »Interkulturelle Philosophie« seit Anfang der 1990er Jahre etabliert. Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. 72 »Unter allen Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophieren.« Kant, Logik, in: Schriften zur Metaphysik und Logik, hg. v. Weischedel, 450. Vgl. auch: Glasenapp, Kant und die Religionen des Ostens, 1944. 73 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Abschnitt: Orientalische Philosophie. »Wir finden daher nur trockenen Verstand bei den Orientalen, ein bloßes Aufzählen von Bestimmungen …«, 141. 74 Park, Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon. 1780–1830. 75 Husserl fragt, ob nicht mit »der Geburt der griechischen Philosophie« und damit im »griechischen Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekommen ist, was als Entelechie im Menschentum als solchem wesensmäßig beschlossen ist«. Somit wäre die Geburt der griechischen Philosophie der Ausgangspunkt für die »historische Bewegung der Offenbarmachung der universalen, dem Menschentum als solchem ›eingeborenen‹ Vernunft«. Würde dies umgesetzt werden können, »wäre entschieden, ob das europäische Menschentum eine absolute Idee in sich trägt und nicht ein bloß

152 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

und Martin Heidegger 76 im 20. Jahrhundert die Position, es gäbe außerhalb Europas keine Philosophie. Diese Ansichten einflussreicher deutscher Philosophen haben wesentlich dazu beigetragen, dass eine komparative Philosophie, die den philosophischen Diskurs über den westlichen Horizont hinaus zu erweitern versucht, ohne dabei die europäische Philosophie zu vernachlässigen und geringzuschätzen, immer noch nicht als Chance für das gegenwärtige Philosophieren in Deutschland begriffen wird und sich demgemäß noch keine institutionellen Voraussetzungen dafür gebildet haben. Angesichts des immer noch oft zu hörenden Einwandes, es gäbe Philosophie nur in Europa, muss erneut die Frage gestellt werden: Ist Philosophie auch außerhalb Europas entstanden? Lassen sich Argumente finden, um diese Frage positiv zu beantworten? Was hier wiederholt in Frage steht, ist die Reichweite und der Umfang des Begriffs der Philosophie selber. Schlösse man heute eine mögliche positive Beantwortung der genannten Frage von vornherein und ohne erneute Untersuchungen aus, so würde sich eine solche Ansicht angesichts der gegenwärtig immer noch wachsenden philosophischen Bewegungen in den verschiedenen Bereichen der Welt einem Dogmatismusverdacht aussetzen. Zudem ist geschichtlich gesehen der Begriff der Philosophie in der europäischen Tradition weit davon entfernt, einheitlich zu sein. Weder die Antike noch das Mittelalter und auch nicht die Neuzeit besitzen ein einheitliches Verständnis von Philosophie. 77 Zudem gerieten im 19. und 20. Jahrhundert althergebrachte Grundüberzeugungen über den Sachbereich der Philosophie ins Wanken. Seit dem 19. Jahrhundert traten sehr unterschiedliche Phänomene als prinzipielle Ausgangspunkte für das Philosophieren ins Zentrum (Arbeit, Leib, Unbewusstes, Sprache, Gesellschaft, Macht). Ein kurzer empirischer anthropologischer Typus ist wie ›China‹ oder ›Indien‹«. Zitate in: Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 15 f. Husserl ist zwar sicherlich von der Universalität und Einzigkeit der europäischen Philosophie überzeugt, dennoch steht die ganze Passage im Konjunktiv. Husserl ist vorsichtiger als Kant und Hegel. 76 Für Heidegger ist Philosophie immer die abendländische-europäische »es gibt keine andere, weder eine chinesische noch eine indische«. In: Heidegger, Wegmarken, 136. Zugleich ist es aber auch Heidegger, der das »unausweichliche Gespräch mit der ostasiatischen Welt« (Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 43) für sehr wichtig erachtet und es mit verschiedenen Ostasiaten immer wieder in Gang zu bringen versucht. Heidegger ist noch vorsichtiger als Husserl und zugleich offener für das Gespräch. 77 Vgl. hierzu insgesamt: Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida, hg. v. Elberfeld.

153 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Blick auf diese Vielfalt erlaubt es heute nicht mehr, von der »europäischen« oder »westlichen« Philosophie zu sprechen. Die genannte Frage lässt sich somit nicht mit ja oder nein beantworten, vielmehr ist man zunächst darauf verwiesen, die Philosophiebegriffe im Einzelnen zu untersuchen, um zu sehen, wie sich diese zu denkerischen Entwürfen in anderen Traditionen des Denkens verhalten. Es wird sich dabei herausstellen, dass in Einzelanalysen die »westliche« Philosophie – gemessen an den Klischeevorstellungen über West und Ost – an manchen Stellen »östlicher« ist als die »östliche« Philosophie und umgekehrt. Die Zeit der denkerischen Großraumvergleiche ist sicher vorbei. Es gilt vielmehr, philosophische Auseinandersetzungen zu führen, die, philologisch ernüchtert, philosophische Grundlagen für ein Philosophieren erarbeiten mit dem Ziel einer Öffnung der je eigenen philosophischen Wirkungsgeschichte für den globalisierten Kontext der Philosophie, wobei in Bezug auf die eigene Wirkungsgeschichte auch nicht von einer monolithischen Einheit auszugehen ist. Neben der grundsätzlichen Frage nach der Reichweite der Philosophie selber stellt sich in verschärfter Weise die Frage nach Funktion und Methode komparativer Philosophie. Überblickt man die bisherige Literatur zur komparativen Philosophie, so ist zuzugeben, dass »much of what has been done so far in this area has been premature and naïve. ›Comparative philosophy‹ as an open-minded, methodically rigorous, hermeneutically alert, and yet existentially committed comparative study of human orientations is still in the nascent stage. A clarification of its methodological, historical, and hermeneutical foundations should be one of its major, though still preliminary, concerns.« 78

Ähnlich wie wir heute in verschiedenen Gebieten der Wissenschaften erst begonnen haben, das Phänomen der Globalisierung in seiner geschichtlichen Prägekraft fruchtbar werden zu lassen, ohne es in seiner nivellierenden Gefahr zu verharmlosen, so steht auch die Philosophie inhaltlich und methodisch bei der Entdeckung der geschichtlichen Möglichkeiten erst am Anfang. Im Folgenden soll die Reichweite »komparativer Philosophie« philosophisch erörtert werden als eine Möglichkeit des Philosophierens in einer globalisierten Welt. Dafür ist es zunächst notwendig, den Begriff der Philosophie in geschichtlicher Perspektive innerhalb 78

Halbfass, India and the comparative method, 14.

154 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

der europäischen Tradition zu sichten. Daran anschließend sind vor allem das Problem der Sprache und die Frage nach der Begegnung verschiedener Wirkungsgeschichten 79 des Denkens im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen komparativer Philosophie zu erörtern. Als methodische Vorüberlegung ist es zudem angezeigt, den Begriff des Vergleichs in seiner philosophischen Verwendung näher zu untersuchen, um von dort aus vorsichtige Schritte in Richtung eines Philosophiebegriffs zu entwerfen, der wesentlich mit einer über Europa und den Westen hinausgehenden komparativen Perspektive verbunden ist. Um Anschlusspunkte dafür zu finden, den Begriff des Vergleichs in philosophischer Perspektive zu erörtern, soll exemplarisch auf vier Denker aus der europäischen Tradition zurückgegriffen werden: Cusanus, Kant, Hegel und Humboldt.

2.1. Zur hermeneutischen Situation »komparativer Philosophie« 2.1.1. Die Frage nach dem Philosophiebegriff in europäischen und außereuropäischen Kontexten Gibt es überhaupt Philosophie außerhalb der europäischen bzw. westlichen Tradition? Oder: Ist Philosophie auch außerhalb Europas entstanden? Mit diesen oder ähnlichen Fragen werden immer noch viele indische, chinesische, japanische, afrikanische und Philosophierende anderer Herkunft konfrontiert. Aber auch Philosophierende, die sich als Europäer mit sogenannten »außereuropäischen Philosophien« beschäftigen, müssen sich immer noch rechtfertigen angesichts der Zweifel, die ihrer Arbeit entgegengebracht wird. Wird diese Frage mit der Gegenfrage, was denn unter Philosophie zu verstehen sei, beantwortet, so tritt daraufhin zumeist ein Vorverständnis von Philosophie zutage, das geprägt ist von jeweils bestimmten Traditionen europäischen Denkens. Der Plural des Wortes Traditionen ist zu betonen, denn als Ergebnis verschiedener Gespräche dieser Art zeigt

Gadamer entwickelt diesen Begriff nur in Bezug auf die europäische Tradition, so dass Phänomene, die sich zwischen verschiedenen Wirkungsgeschichten ereignen, nicht in den Blick treten. Unter dem Aspekt »komparativer Philosophie« kann dieser Begriff pluralisiert und damit wesentlich modifiziert werden, so dass er nicht mehr nur im Rahmen der Gadamer’schen Hermeneutik verstanden werden kann und zudem mit dem Gedanken der Verflechtungsgeschichte verbunden werden muss.

79

155 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

sich, dass der Begriff der Philosophie in der europäischen Tradition keineswegs einheitlich ist. In der europäischen Philosophie tritt diese Vielheit erstmalig vor allem bei Hegel als philosophisches Problem ins Bewusstsein. 80 Er versucht in seiner Geschichte der Philosophie die Verschiedenheit der Philosophien als eine notwendige zu deuten, im Sinne einer Einheit des sich selber teleologisch hervorbringenden Geistes, der nur im Rahmen der Geschichte als der sich selbst explizierenden Verschiedenheit zum absoluten Selbstbewusstsein gelangt. Die Verschiedenheit wird jedoch in gewissem Sinne wieder neutralisiert, indem sie fortlaufend als aufgehobene mit in die sich selbst hervorbringende absolute Einheit der Vernunft hineingehört. Auch wenn Hegel – insbesondere in der Phänomenologie des Geistes – den Wegcharakter dieses denkenden Hervorgangs betont, bei dem es keinen einfachen Blick auf das Ganze geben kann, so legt er doch in seinen späteren Entwürfen immer wieder nahe, dass sein Denken die Vollendung der weltgeschichtlichen Selbstentfaltung des Geistes sei. Gerade durch diese triumphale Selbsteinholung des Geistes, die jedoch nicht unumstritten blieb, trat in Folge die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie und der Verschiedenheit der Philosophien umso schärfer als philosophisches Problem hervor. »Die Antinomie zwischen dem Anspruch jeder Lebens- und Weltanschauung auf Allgemeingültigkeit und dem geschichtlichen Bewußtsein« 81 trieb im 19. Jahrhundert einen spitzen Keil in die Grundüberzeugung der neuzeitlichen Philosophie von der Einheit der Vernunft. Dementsprechend lautet die Diagnose Diltheys in Bezug auf die Situation der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Zwischen dem geschichtlichen Bewußtsein der Gegenwart und jeder Art von Metaphysik als wissenschaftlicher Weltanschauung besteht ein Widerstreit. Viel stärker als jede systematische Beweisführung wirkt gegen die objektive Gültigkeit jeder bestimmten Weltanschauung die Tatsache, dass eine grenzenlose Zahl solcher metaphysischer Systeme sich geschichtlich entwickelt hat, dass sie einander zu jeder Zeit, in welcher sie bestanden, ausgeschlossen und bekämpft haben und bis auf den heutigen Tag eine Entscheidung nicht herbeigeführt werden konnte.« 82 Er vergleicht auch explizit verschiedene Philosophien miteinander. Vgl. in: Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. Vergleichung des Schellingschen Prinzips der Philosophie mit dem Fichteschen. 81 Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, 3. 82 Ebd. 80

156 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

Diltheys Zustandsbeschreibung ist, mit einigen terminologischen Modifikationen, auch heute noch gültig. Noch immer hat sich nicht eine einzelne Philosophie als die einzig wahre durchsetzen können. Vielmehr hat die Überzeugung an Boden gewonnen, dass gerade die Vielheit der Philosophien ein Signum der Lebendigkeit und des Reichtums der Geschichte des Menschen ist, wobei sich diese Geschichte zentral nicht mehr nur in Europa ereignet. Über Dilthey hinausgehend sollte diese Vielheit heute gerade auch über den europäischen Horizont hinaus wahrgenommen werden. Argumente für diesen Schritt lassen sich aus dem Vergleich verschiedener Philosophiebegriffe europäischer Denken herleiten. Die europäische Philosophiegeschichte 83 lässt man in Europa spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gewöhnlich mit den ionischen Naturphilosophen beginnen, bei denen allerdings das Substantiv Philosophie in engerer Bedeutung selber noch nicht nachweisbar ist. Aus diesem einfachen Faktum lässt sich zunächst ableiten, dass die Sache Philosophie eher beginnt als das erste Auftreten des Wortes »Philosophie«. Mit diesem Argument kann auch der Einwand gegen das Vorkommen außereuropäischer Philosophie, der sich vornehmlich auf das Fehlen dieser Bezeichnung in außereuropäischen Kulturen stützt, zurückgewiesen werden. Man ist somit für die vorsokratische Philosophie auf eine rein sachliche Auseinandersetzung verwiesen, bei der noch kein Philosophiebegriff mit langer Tradition vorausgesetzt werden kann. Es bietet sich also gerade in diesem Bereich an, Ausgangspositionen des Philosophierens, jenseits eines festgelegten Philosophiebegriffs, in globaler Perspektive zu vergleichen. 84 Die folgenden geschichtlichen Einteilungen in Bezug auf die europäische Philosophiegeschichte sind heuristischer Art und versuchen bestimmte Probleme im Zusammenhang mit der Frage nach komparativer Philosophie zu verdeutlichen. Zur Geschichte der Philosophiegeschichte in Europa vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte. 84 Vgl. hierzu z. B. Wohlfart, Wordless Teaching – Giving signs: Laozi and Heraclitus – A Comparative Study. Diese Konzeption vertrat auch Georg Misch in seinem interkulturell angelegten Lesebuch der Philosophie Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel von 1926, nämlich: »[…] dass die Entwicklung der Philosophie in Griechenland bis zum Auftreten von Sokrates mit dem gesamten Ablauf der Entwicklung in Indien und China zu vergleichen ist, als Anfang und ›erster Gang‹ der Philosophie.« V. Danach beginnt für Misch allerdings »das eigentümlich abendländische Werk«, das offenbar in seiner Gesamtheit unvergleichlich dasteht in der Geschichte des Denkens. Vgl. auch: Mall u. Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa. 83

157 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Mit Platon beginnt der Begriff der Philosophie schärfere Konturen bei den Griechen zu gewinnen, obwohl auch hier die Einheitlichkeit fehlt und ein gewisses Befremden aus heutiger Perspektive nicht beiseitezuschieben ist, wenn Platon dem Sokrates in seiner Apologie z. B. folgende Worte in den Mund legt: »Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die andern merken, nach gar nichts anderem streben, als nur zu sterben und tot zu sein.« 85 Diese Auffassung vom Sinn und Ziel der Philosophie passt wohl kaum zu einem heute verbreiteten Philosophieverständnis. Es weist demgegenüber vielmehr Ähnlichkeiten auf zu indischen Vorstellungen, die vermutlich auch in Platons Philosophie einflossen. 86 Wenn es Platon in der Philosophie darum ging, »jenes Sein, welches immer ist und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird« (Politeia 485b), zu untersuchen, so ist dies immer mit dem Ziel verbunden, den befreienden Akt der »Seelenumwendung« (psyches periagoge, Politeia 521c) zu vollziehen. So lässt sich bereits im Zusammenhang mit der platonischen Philosophie der Einwand entkräften, das Denken außerhalb Europas sei wesentlich Religion und nicht Philosophie. Bei Platon und anderen altgriechischen Denkern verschwimmen die Grenzen von Religion und Philosophie – in der Bedeutung, wie sie heute zumeist verstanden werden –, so dass das eine nicht vom anderen getrennt werden kann, ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich diese Unterscheidung bei den Griechen noch gar nicht gebildet hatte. 87 Wir haben uns daran gewöhnt, das platonische Denken Philosophie zu nennen und finden es nicht besonders anstößig, dass es sich dabei auch um eine Lehre handelt, in der es zentral um die »Angleichung an Gott« (homoiosis theo, Politeia 500c, 613b, Theaitetos 176b) geht. 88 Platons Denken lässt es zu, Philosophie jenseits des heute üblichen Gegensatzes von »Religion« und »Philosophie« zu bestimmen, so dass von hier aus leicht Brücken geschlagen werden können zu anderen Denk-

Platon, Phaidon, 64a. Vgl. hierzu Nakamura, Indo to gririsha to no shisokoryu (Die geistigen Beziehungen zwischen Indien und Griechenland); West, Early Greek Philosophy and the Orient; Vitaxis, Plato and the Upanishads. 87 »Religion« ist ein Wort, dass sich aus der lateinischen Sprache ableitet und nicht aus dem Griechischen wie das Wort »Philosophie«. 88 Vgl. Szlezák, Platon lesen, 152 ff. 85 86

158 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

traditionen, da sich auch dort dieser terminologisch fixierte Gegensatz in alter Zeit nicht findet. Aristoteles setzt neue und andere Maßstäbe. Bei ihm gewinnt das theoretische Wissen einen neuen Status als Wissen um des Wissens willen, das keinen außer ihm liegenden Nutzen verfolgt (Metaphysik, 982b). Philosophie ist dann in ihrer allgemeinsten Form das Wissen um die ersten Prinzipien und Ursachen der Wesen in ihrer reinsten Form (Metaphysik, 1003b). Sie untersucht das Seiende als Seiendes und ist damit die Wissenschaft, die allen anderen Wissenschaften Grundlage ist (Metaphysik, Buch 4, 1003a). Diese reine theoretische Haltung ist schon des Öfteren als Kriterium herangezogen worden, um außereuropäisches Denken aus dem Rahmen der Philosophie »im engeren Sinne« auszuschließen. Und es trifft tatsächlich zu, dass die Haltung, Wissen nur um des Wissens will zu erlangen, in asiatischen Denktraditionen kaum oder gar nicht anzutreffen ist. Bei der Wendung »rein theoretische Haltung« ist jedoch Vorsicht geboten, da bei Aristoteles die höchste Form der Betrachtung (theoria) zugleich die höchste Form der Glückseligkeit (eudaimonia) ist und zudem auch die Tätigkeit Gottes als theoria gedeutet wird. 89 In dieser Perspektive zeigt auch die aristotelische Philosophie eine deutlich größere Offenheit als manch enge Philosophiedefinition uns heute glauben machen will. Im Hellenismus treffen wir wieder auf verschiedene Begriffe von Philosophie, die aber dadurch miteinander verbunden sind, dass das Philosophieren wesentlich mit der Lebenspraxis verbunden ist. 90 Theorie ist eine Übung, die nur Sinn macht, um ein gutes Leben zu realisieren. »Das motivierende Prinzip der Skepsis nennen wir die Hoffnung auf Seelenruhe.« 91 Weder Epikur noch Sextus bieten eine rein theoretisch fundierte Ontologie, sie sind vielmehr daran interessiert, die menschliche Lebenspraxis durch Philosophie zu einer guten Praxis zu transformieren. Ähnliches kann auch über die Funktion der Philosophie in der römischen Kultur gesagt werden. In dieser Grundintention treffen sich diese Denker mit vielen Philosophien in Asien, für die das theoretische Wissen vorrangig der ethischen Transforma-

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 10, 1178b. Vgl. hierzu die eindringlichen Interpretationen in: Foucault, Hermeneutik des Subjekts. 91 Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, 95. 89 90

159 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

tion des Menschen zu dienen hat. 92 Legt man die Philosophiebegriffe dieser beiden Epochen in der Diskussion um die Existenz von Philosophie außerhalb Europas zugrunde, so hat man nur wenig Schwierigkeiten, der Sache nach überall in der Welt Philosophie zu finden, und man findet dort sogar wesentlich mehr Verbündete als z. B. in der Philosophie der Neuzeit in Europa. In Bezug auf die mittelalterliche Philosophie ist auch in Europa selber schon vielfach bestritten worden, dass es sich bei den Entwürfen dieser Epoche um »Philosophie« handele. Zu nah sei die Verbindung mit der Religion in Gestalt des Christentums. 93 Diese Ansicht konnte sich aber bisher nicht durchsetzen, was man sich in fast allen Philosophiegeschichten bestätigen lassen kann. Wenn die mittelalterliche Philosophie Philosophie ist, so kann der Vorwurf, bei außereuropäischem Denken handele es sich nur um Religion oder Weisheit, nicht aufrechterhalten werden. An vielen Stellen ist im Mittelalter die Philosophie nicht zu unterscheiden von der Theologie. Philosophie ist in vielen Fällen zugleich Theologie, da das zentrale Thema Gott und seine Schöpfung ist. 94 Eine weitere Besonderheit in der philosophischen Denklandschaft des Mittelalters ist, dass sowohl arabisch-islamische als auch jüdische Philosophie, die ihrem Ursprung nach und unter geographischen Kriterien nicht Europa zuge-

Vgl. hierzu McEvilley, Pyrrhonism and Madhymika; Garfield, Epoche and Sunyata: Skepticism East and West. 93 Die mittelalterliche, scholastische bzw. christliche Philosophie ist einem ähnlichen Verdacht ausgesetzt wie die Philosophien in außereuropäischen Kulturen, nämlich, dass es sich dabei gar nicht um eigenständige Philosophie handele (Philosophie als ancilla theologiae). Vgl. zu dieser in den letzten Jahren wieder vielfältig behandelten Frage: Schrimpf, Bausteine für einen historischen Begriff der scholastischen Philosophie; Aertsen, Gibt es eine mittelalterliche Philosophie?; Schulthess, Mittelalterliche Philosophie oder Philosophie im Mittelalter?; Was ist Philosophie im Mittelalter?, hg. v. Aertsen u. Speer. Das Urteil Hegels über die mittelalterliche Philosophie insgesamt fällt ähnlich vernichtend aus wie das über außereuropäisches Denken: »Und doch ist das Ganze eine ganz barbarische Philosophie des Verstandes, ohne realen Stoff, Inhalt; […] Es liegt hinter uns als Vergangenheit, es muss uns für sich unbrauchbar bleiben.« Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19, 587. 94 Es ist vielleicht nicht zufällig, dass 1977 in Bonn eine Mittelaltertagung der Société Internationale pour l’Étude de la Philosophie Médiévale stattfand, auf der eine Sektion den Titel »Vergleichende Philosophie – Fern-östliches und mittelalterliches Denken« trug. Vgl. Nakamura, Hikaku-shisō no kiseki (Spuren komparativer Philosophie), 161. 92

160 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

rechnet werden, eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. 95 Hier zeigt sich nachhaltig – ähnlich wie schon in der griechischen Philosophie –, dass eine introvertierte, monolithische Konstruktion einer europäischen Philosophie- und Wirkungsgeschichte nicht den vielfältigen Auseinandersetzungen mit nichteuropäischen Denktraditionen Rechnung trägt, die das Denken in Europa von Anfang an begleitet und mithervorgebracht haben. Erst mit der neuzeitlichen Philosophie entwickelt sich eine Verbindung von Philosophie und naturwissenschaftlich-mathematischen Wissenschaften, die in dieser Weise vermutlich nicht außerhalb Europas gefunden werden kann. Auch wenn der Traum von einer mathesis universalis unverwirklicht bleiben musste, so blieb ein wesentlicher Teil der Philosophie seit dem Beginn der Neuzeit mit dem Anspruch verbunden, Philosophie als strenge Wissenschaft zu betreiben. Diese Linie, die von Descartes bis Husserl reicht, entwickelt sich als »Egologie« 96, da sie das Denken in verschiedenen Weisen wesentlich mit dem »Ich« verbindet. Descartes zog das »Ich« als Ausgangspunkt für den ersten unumstößlichen Grundsatz der Philosophie heran und leitete das Denken damit in eine Richtung, die sich gegen Ende des 19. und im gesamten 20. Jahrhundert einer immer schärfer werdenden Kritik ausgesetzt sah und sieht. Wenn im 18., 19. und 20. Jahrhundert die Existenz von Philosophie außerhalb Europas geleugnet wurde, so ging man dabei häufig von dieser neuzeitlichen Form der Philosophie als Wissenschaft aus, die auf dem Prinzip des Ich und der Vernunft gründet. Umgekehrt wurde »die europäische Philosophie« aber auch von außen häufig mit dieser Form der Philosophie identifiziert und man warf dieser vor, sie sei nur wissenschaftlich und habe die Menschen spirituell verkümmern lassen. 97 Die Philosophie seit der Neuzeit mag eine besondere Rolle beanspruchen, überblickt man aber die Geschichte der Philosophie, wie sie sich heute in globaler Perspektive darstellt, so kann auch sie nicht als die einzige und allein gültige Philosophie gelten. Man könnte sogar die provokative These aufstellen, dass gerade die neuzeitliche Philosophie mit ihrem Ideal der strengen Wissenschaftlichkeit die eigentlichen Hierzu vgl. die Vorträge der Sektionen Arabische Philosophie und Jüdische Philosophie in: Was ist Philosophie im Mittelalter, a. a. O., 841–938 und die Ausführungen zu diesem Thema im ersten Teil dieses Buches. 96 Zu diesem Wort Husserls vgl. z. B. Die Pariser Vorträge, in: Husserliana, Bd. 1, 12. 97 Dieser Vorwurf ist sowohl von indischen wie auch von chinesischen Denkern erhoben worden. 95

161 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Aufgaben der klassischen Philosophie, wie z. B. die Liebe zur Weisheit, das Sterbenlernen und die Aufgabe ethischer Transformation, aus den Augen verloren hat und somit nicht im engeren Sinne Philosophie sei. 98 Gerade im Hinterfragen der grundlegenden Prinzipien der großen Philosophien seit der Neuzeit ergeben sich für die globale Perspektivenöffnung virulente Kritikmöglichkeiten. 99 Es ist daher nicht zufällig, dass Vergleiche zwischen asiatischen Denkern und z. B. Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein und Derrida offenbar ein weites Arbeitsfeld bieten und viele »Familienähnlichkeiten« zwischen diesen Denkern hervortreten lassen. Durch komparative Philosophie kann somit im europäischen Horizont das Unternehmen der »Vernunftkritik« weitergeführt werden, so dass sich neue Kritik- und Diskussionsfelder eröffnen. Als Ergebnis der kurzen Erörterung verschiedener Philosophiebegriffe in der europäischen Tradition in Bezug auf die Frage nach der Existenz von Philosophie außerhalb Europas kann festgehalten werden: Setzt man einen bestimmten Begriff der Philosophie als den einzig möglichen an, so müssen je nach Definition selbst verschiedene europäische Denker aus der europäischen Philosophiegeschichte gestrichen werden, oder es ergibt sich sogar die Konsequenz, dass man mehr Philosophien außerhalb Europas findet als in Europa selber (z. B. wenn man die Philosophie in rein transformativer Absicht versteht). Der kurze Überblick lässt skeptisch werden gegenüber jeder einfachen und vorschnellen Antwort in Bezug auf die Frage nach der Philosophie in Europa und außerhalb Europas. Er macht es zudem unmöglich, weiterhin Großraumvergleiche zwischen »Ost« und »West« durchzuführen, da sich diese Bezeichnungen als irreführend herausstellen. Vielmehr legt er nahe, zunächst die jeweiligen Grenzen von Philosophie in den verschiedenen Kontexten des Denkens eingehend zu orten und zu bedenken. Die Frage, ob es überhaupt Philosophie außerhalb der europäischen bzw. westlichen Tradition gibt, sieht sich somit verwiesen auf eine langwierige Auseinandersetzung mit den Denktraditionen der Welt, wobei es immer auch um die Grenzen und die Ziele der Philosophie selber geht. Die Auseinandersetzung bringt verschiedene Wege des Denkens in ein kontrastives Vgl. hierzu Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Vgl. hierzu z. B. die Kritik Nishitanis an der Neuzeitlichen Philosophie in: Nishitani, Was ist Religion?, 55 ff.

98 99

162 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

und vielleicht sich fruchtbar erweiterndes Verhältnis. Die Bedingungen und Möglichkeiten solcher Bezugnahme sind Thema einer komparativen Philosophie, die selber zunächst versucht – in guter skeptischer Tradition –, sich keiner einzelnen Philosophie in dogmatischer Weise zu verschreiben, aber auch andererseits keiner Beliebigkeit das Wort zu reden, sondern global orientiert Möglichkeiten des Menschund des Wirklichseins zu erkunden. Man kann sich hier Leibniz anschließen, der beispielsweise in Bezug auf die chinesische Philosophie feststellt und wünscht: »Es wäre daher von uns, die wir im Vergleich mit den Chinesen neu hinzugekommen und der Barbarei kaum entwachsen sind, sehr unklug und anmaßend, wollten wir eine so alte Lehre [die chinesische Philosophie] verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind übereinzustimmen scheint. […] So ist es nur angemessen, zu prüfen, ob man ihr nicht einen der Vernunft entsprechenden Sinn geben kann. Ich wünschte nur, wir hätten umfangreichere Zeugnisse und viele genau übersetzte Auszüge aus den klassischen chinesischen Büchern, in denen von den Ursprüngen der Dinge gesprochen wird.« 100

Leibniz stand fest auf dem Boden der universalen Vernunft. Vielleicht wäre dieser Boden selber bei Leibniz mehr in Frage gestellt worden, hätte er eine vertiefte Auseinandersetzung mit chinesischen Philosophen führen können, wie es heute möglich ist. Dennoch bleibt zu betonen, dass Leibniz keine Schwierigkeiten hatte, von »chinesischer Philosophie« zu sprechen, und diese sehr ernst nahm im Hinblick auf die Weiterentwicklung der eigenen Tradition. Gerade die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass lang gültige und letzte Kriterien – wie z. B. der Rekurs auf die »Vernunft« – selber erneut in eine grundsätzliche Kritik geraten sind, 101 so dass sich die Frage stellt, ob nicht gerade in anderen Wirkungsgeschichten andere Kriterien entwickelt worden sind, die den Begriff der Philosophie und der Vernunft in ihren Grenzbereichen und an ihren Bruchstellen neu thematisierbar machen. Wenn die Philosophie sich also im Horizont der Geschichtlichkeit vollzieht, so ist sie nicht

Leibniz, Abhandlung über die chinesische Philosophie, 148. Die Kritik der Vernunft ist natürlich bereits seit Kant ein unumgängliches Thema der Philosophie selber, bei dem sie sich vor allem mit ihren eigenen Grenzen konfrontiert. Grundlinie der Vernunftkritik, hg. v. Jamme; Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft.

100 101

163 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

statisch, sondern immer wieder gefordert, ihre eigene Zeit neu zu fassen. »So ist es nur angemessen, zu prüfen«, ob die Philosophie in komparativer Perspektive zu anderen Wirkungsgeschichten neue Wege finden kann, z. B. für die Erörterung von Mensch- und Weltsein. Das entscheidende Argument, das hier für die Erweiterung des Begriffs der Philosophie in Bezug auf die komparative Perspektive starkgemacht wird, ist die Geschichtlichkeit der Philosophie selber. Geschichtlichkeit bedeutet, auf ihre Zukünftigkeit hin betrachtet, der Hervorgang neuer geschichtlicher Horizonte, wobei dies nicht in teleologischer Perspektive geschehen muss. Anstatt der von Gadamer inaugurierten »Horizontverschmelzung« könnte man somit von einer »Erneuerung« oder »Verschiebung« der Horizonte sprechen, die sich durch die »Wiederholung« 102 der denkerischen Ansätze in globalisierter Ausrichtung ergibt. 2.1.2. Sprache und Sprachen Bisher vollzog sich komparative Philosophie, das wird auch auf den Weltkongressen für Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg sehr deutlich, vor allem unter dem Stichwort »Philosophie – Ost und West«, wobei auf der einen Seite an Indien, Tibet, China, Korea und Japan gedacht wurde und auf der anderen an Europa und Nordamerika. Im Folgenden möchte ich mich für die Exposition der Fragestellung auch auf diese Traditionen beschränken. Damit soll aber nicht ausgeschlossen werden, dass komparative Philosophie nicht auch bezogen auf andere Denktraditionen fruchtbar betrieben werden kann, wobei dann jedoch erneut die jeweils spezifische hermeneutische Situation zu klären ist. Die philosophischen Traditionen der genannten Gebiete besitzen jeweils einen schriftlichen Überlieferungszusammenhang des Denkens, wodurch das Medium komparativer Philosophie dann gesichert scheint: Sprache in Textform. Hiermit werden jedoch spezifische Grenzen gezogen, die selber in die philosophische Auseinandersetzung mit eingreifen. In der komparativen Perspektive stellt sich so zunächst die Frage nach den verschiedenen Sprachen und ihrer je eigentümlichen Struktur in ihrer Bedeutung für das Denken. Daraus ergibt sich das Problem der Übersetzbarkeit von philosophi-

Elberfeld, Laozi-Rezeption in der deutschen Philosophie. Von der Kenntnisnahme zur »Wiederholung«.

102

164 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

schen Gedanken; weiterhin stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Philosophie und Textualität. Die unterschiedlich strukturierten Sprachen in den verschiedenen philosophischen Wirkungsgeschichten der Welt, in denen sich vielfältige philosophische Entwürfe explizieren, bringen hermeneutische Schwierigkeiten mit sich, die wesentlich komplexer sind als die gegenseitigen Beziehungen der Sprachen z. B. in der europäischen Wirkungsgeschichte. Es treffen im globalen Kontext unterschiedliche Sprachfamilien aufeinander, wodurch der weitgehend gemeinsame grammatikalische Boden des Denkens nicht mehr gesichert ist. 103 Seit Humboldt ist nun der Gedanke nicht mehr einfach von der Hand zu weisen, dass gerade die unterschiedlichen Formen der Sprache dem Denken bestimmte Wege nahe legen – man beachte den entscheidenden Unterschied zwischen nahelegen und determinieren –, 104 so dass es bei der Übersetzung von Sprachen der einen Sprachfamilie (z. B. flektierender Sprachen) in Sprachen anderer Sprachfamilien (z. B. isolierender Sprachen) manchmal zu scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten kommen kann. Es ist in Bezug auf indische Schulen des Denkens schon des Öfteren festgestellt worden, dass sie in vielen Punkten bestimmten westlichen Denkwegen ähnlicher sind als z. B. denkerische Überlieferungen aus China. Als ein wesentlicher Grund hierfür kann die Sprachverwandtschaft zwischen den europäischen Sprachen und der wichtigen indischen Philosophiesprache, dem Sanskrit, angeführt werden. Die vergleichende Sprachwissenschaft beschäftigt sich heute gewöhnlich mit der indoeuropäischen Sprachfamilie, wobei auch hier philosophische Implikationen, wie sie noch Humboldt im Blick hatte, zumeist außer Acht gelassen werden. Komparative Philosophie müsste aufgrund der Einsichten moderner Sprachphilosophie die verschiedenen philosophischen Implikationen zunächst der einzelnen Sprachfamilien und dann der einzelnen Sprachen untersuchen. Dieses Unternehmen könnte direkt an Humboldts Versuche anknüpfen unter Einbezug der Ergebnisse der verschiedenen Einzelwissenschaften, die die Sprache in unterschiedlichen Hinsichten untersuchen. 105 Vgl. Elberfeld, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung. Vgl. hierzu Schlieter, Versprachlichung und Entsprachlichung. 105 Es ist eine sehr erfreuliche und radikale Neuorientierung, wenn im 4. Band Le Discours Philosophique (1998) der Encyclopédie Philosophique Universelle in der 1. Sektion mit dem Titel Les langues et les cultures mehr als 15 verschiedene Sprache im Hinblick auf ihre philosophische Bedeutung behandelt werden. Für die gegenwär103 104

165 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Neben der Untersuchung der einzelnen Sprachen in Bezug auf ihre philosophischen Implikationen für das Denken ergibt sich für die philosophische Auseinandersetzung im globalen Kontext ein weiteres grundlegendes Themenfeld: die Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen. Bereits in Bezug auf die griechische Sprache liegt die philosophische Relevanz dieses Problems auf der Hand. Heideggers Übersetzungen aus dem Griechischen mögen vielleicht nicht immer »richtig« gewesen sein, sie entfalteten jedoch in seinem Denken eine philosophische Fruchtbarkeit. Am Beispiel seiner Philosophie wird deutlich, dass die Frage nach der Übersetzung im philosophischen Kontext nicht auf die Frage nach der Richtigkeit einer Übersetzung reduziert werden kann. Zu oft ist gerade durch ein Missverständnis oder eine kreative Umdeutung ein neuer philosophischer Weg erschlossen worden, so dass ein Text, je öfter er übersetzt wird, um so reicher seine inhaltliche Fruchtbarkeit entfalten kann. Urtext und Übersetzung treten hier in ein neues Verhältnis. 106 Die philosophische Untersuchung von großen Übersetzungsprozessen, die wir überall in den verschiedenen Geschichten der Philosophie finden, belegen die nachhaltige Bedeutung dieser Prozesse für die Philosophie selber. Auch die europäische Philosophiegeschichte ist wesentlich eine Geschichte der Übersetzung, und es ist noch viel zu wenig untersucht worden, was bei diesen Übersetzungen unterdrückt, verstellt, hinzugekommen und neu entstanden ist. 107 Wenn sich komparative Philosophie bisher vor allem auf textlich fixierte Traditionen bezogen hat, so hat dies bereits Auswirkungen darauf, was unter Philosophie zu verstehen ist. Die Auseinandersetzung um die Verschriftlichung der Philosophie ist ja ein wichtiges Thema gerade am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte. Wenn Platon im Phaidros bedenkenswerte Argumente findet gegen jede Verschriftlichung der Philosophie, so ist zumindest zuzugeben, tige hermeneutische Situation der Philosophie im globalen Kontext ist dies eine grundlegende Voraussetzung für die fruchtbare Auseinandersetzung. 106 Vgl. zu einem Übersetzungsbegriff in diesem Sinne: Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege. 107 Vorbildlich und richtungsweisend ist auch hier der weiter oben erwähnte 4. Band der Encyclopédie Philosophique Universelle. Unter dem Titel Les Chemins de la traduction werden dort wichtige Übersetzungsprozesse von philosophischen Traditionen (insgesamt 12 verschiedene) in historischer und philosophischer Hinsicht behandelt. Sehr begrüßenswert ist dabei, dass z. B. auch der Übersetzungsprozess vom Sanskrit ins Chinesische in die philosophische Betrachtung mit einbezogen wird.

166 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

dass die Philosophie nicht notwendig an das Medium der Schrift gebunden ist. Es führt einen wesentlichen Schritt über die bisherige Konzeption der komparativen Philosophie hinaus, wenn auch orale Traditionen mit in die philosophische Auseinandersetzung einbezogen werden. 108 Auch in Europa ist es keineswegs einheitlich, in welcher Form sich Philosophieren vollzieht, so dass zum einen die Formen des philosophischen Gesprächs und zum anderen die Formen philosophischer Texte in der Bedeutung für die Philosophie selber eingehend im Rahmen komparativer Philosophie untersucht werden müssen. 109 2.1.3. Zwischen den Wirkungsgeschichten Komparative Philosophie arbeitet daran – allgemein und neutral formuliert –, Bezüge zwischen philosophischen Entwürfen herzustellen, die aus unterschiedlichen Wirkungsgeschichten stammen. Damit bezieht sie sich auf einen Sachbereich, der durch keine der traditionellen Disziplinen der Philosophie thematisiert wird. Das Phänomen, dass Texte einer wirkungsgeschichtlichen Tradition in einer anderen rezipiert werden, hat es in der Geschichte zwar immer wieder gegeben, so dass die philosophische Wirkungsgeschichte in keiner Kultur als monolithischer Block gedacht werden darf. 110 In einer komparativen Philosophie gilt es zunächst zu untersuchen, wie es um die hermeneutischen Bedingungen der Möglichkeit einer Begegnung und Befruchtung von philosophischen EntwürDieses Diskussionsfeld entwickelt sich gegenwärtig vor allem im Rahmen interkulturell orientierter Philosophie. Vgl. hierzu Kimmerle, Philosophie in Afrika – afrikanischen Philosophie; ders., Die Dimension des Interkulturellen. Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Zweiter Teil: Supplemente und Verallgemeinerungsschritte; The African Philosophy Reader, hg. v. Coetzee u. Roux. 109 Im 4. Band der Encyclopédie Philosophique Universelle ist der dritte Teil in zwei Kapiteln dem Thema Les Formes de la Philosophie gewidmet. Unter den Sektionsthemen Les genres et les commentaires und Les textes et les contextes werden die Fragen nach den Ausdrucksformen der Philosophie im interkulturellen Kontext behandelt. 110 Wiederum vorbildlich im 4. Band der Encyclopédie Philosophique Universelle finden wir unter dem Sektionstitel Les voies du comparatisme zum einen den Leitartikel La philosophie comparée und daran anschließend die verschiedenen Rezeptionsgänge des Denkens (insgesamt 12) in interkultureller Perspektive und in ihrer philosophischen Bedeutung behandelt. Vgl. hierzu auch insgesamt das erste Kapitel dieses Buches. 108

167 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

fen steht, die unterschiedlichen Wirkungsgeschichten entstammen. Hiermit ist eine systematische Perspektive komparativer Philosophie benannt, die vor allem umzugehen hat mit der Vielfalt der Philosophien, ohne diese einfach in einer Totalperspektive aufgehen zu lassen. Noch immer scheint es heute für viele Philosophierende in Europa so zu sein, dass nur Europäer die nicht-westlichen Philosophien interpretieren. Diese einseitige Perspektive ist aber mindestens seit über hundert Jahren bereits durchbrochen durch die vielfältigen Interpretationen zur europäischen Philosophie, die vor allem in Indien, China und Japan geleistet wurden. 111 Vielfach fielen die philosophischen Analysen sehr kritisch aus, was in Europa zumeist noch gar nicht wahrgenommen wurde. 112 Somit ist das europäische Denken selber zum Gegenstand der Analyse und Bewertung geworden. Die hermeneutische Situation komparativer Philosophie ist somit nirgends die gleiche, sondern immer auch geprägt durch die eigene Sprache, Wirkungsgeschichte und Lebenswelt, durch die das jeweilige Denken in seinen grundsätzlichen Motivationen ausgerichtet wird. Es ergibt sich somit eine »polylogische« Situation der gegenseitigen Auslegung in globaler Ausrichtung, in der keine einzelne Position von vornherein ein irgendwie »angeborenes« Wahrheitsprivileg besitzt. 113 In der komparativen Philosophie ist es selbstverständlich, dass japanische Denker afrikanische Philosophie, chinesische europäische, europäische indische, indische japanische usw. auslegen und untereinander vergleichen. 114 Die Situation wird inzwischen dadurch noch Heute treten auch immer mehr südamerikanische, afrikanischen und Philosophen aus anderen Kulturen und Ländern der Welt in dieses Interpretationsgeschehen ein. 112 Das immer noch virulente Paradebeispiel für eine solche Auslegungstradition findet sich in der Philosophie der »Kyōto-Schule«, deren Denker auf sehr unterschiedliche Weise einen Blick auf Europa geworfen haben. Vgl. Die Philosophie der KyōtoSchule. Texte und Einführung, hg. v. Ōhashi; Elberfeld, Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. 113 Dies zu realisieren ist das erklärte Ziel der Zeitschrift Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, deren erste Nummer 1998 in Wien erschienen ist. Vgl. in diesem Heft vor allem die Aufsätze von Wimmer, Thesen, Bedingungen und Aufgaben einer interkulturell orientierten Philosophie und von Mall, Das Konzept einer interkulturellen Philosophie. 114 Mall spricht in Bezug auf das Gespräch zwischen den verschiedenen Denktraditionen von einer »vierdimensionalen hermeneutischen Dialektik. Erstens geht es um ein Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter dem Einfluß außerphilosophischer Faktoren als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nicht111

168 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

komplizierter, dass sich z. B. Japaner natürlich heute nicht nur auf »das Japanische« festlegen lassen, sondern die Situation auftreten kann, dass ein Japaner – aus traditioneller Perspektive – eine »europäischere« Position als ein Deutscher und ein Deutscher dagegen eine »japanischere« als der Japaner vertreten kann. So wird man Zeuge einer Auseinandersetzung, die jede Hypostasierung geographischer und nationaler Kriterien entlarvt als unzulässige Verallgemeinerung. Geographische und nationale Kriterien sind heute mehr denn je mit Vorsicht zu behandeln, gleichwohl sie in der Auseinandersetzung immer noch eine Rolle spielen können. Obwohl die verschiedenen philosophischen Traditionen der Welt inzwischen hochgradig durchdrungen sind von den unterschiedlichen Einflüssen anderer Denktraditionen, so bleibt doch ein kontinuitätsbildendes Moment in den einzelnen, durch Vielfalt geprägten Traditionen die Sprache, in der philosophiert wird. Einzelne Wirkungsgeschichten sind bisher vor allem durch bestimmte terminologische Verwandtschaften und durch kulturell stark aufgeladene »Grundworte« miteinander verbunden, die das Denken in bestimmte und vorgeprägte Bahnen leitet. 115 Diese Grundworte sind wiederum von Erfahrungen geprägt, die sich nicht einfach auf die Sprachlichkeit reduzieren lassen. Um diese Vorstrukturen in den Blick nehmen zu können, bedarf es der Untersuchung präreflexiver Erfahrungsstrukturen, durch die jede einzelne philosophische Wirkungsgeschichte in besonderer Weise geprägt ist. Hier ist zum einen zu erinnern an die Analyse der Lebenswelt bei Husserl und zum anderen an die Grundstimmungen bei Heidegger. Beide Analysen versuchen in einen vorreflexiven Bereich einzudringen, der bei Husserl noch durchaus rational strukturiert ist und bei Heidegger in einen Bereich ontologischer Fundierung existentieller Strukturen führt. Husserl und Heidegger thematisieren damit Bereiche, die in der nur sprachorientier-

europäischen Kulturen, Religionen und Philosophien. Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies. Drittens sind da die nicht-europäischen Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies nicht den anderen überlassen. Viertens ist da das Verstehen Europas durch die außereuropäischen Kulturen. In dieser Situation stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten? Es mag Europa überraschen, dass Europa heute interpretierbar geworden ist.« Mall, Das Konzept einer interkulturellen Philosophie, 55. 115 Dieses von Heidegger entlehnte Wort meint z. B. Begriffe wie »logos«, »Vernunft«, »dao«, »brahman«, »mono no aware« usw.

169 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

ten Philosophie nicht in den Blick treten. 116 Die Methode, die hier angewendet werden kann, ist die Phänomenologie, die aber im Kontext komparativer Philosophie nicht auf den Rahmen der Husserlschen Phänomenologie verengt werden darf, sondern gerade aufgrund der Vielfalt ihrer methodischen Entfaltung für die Erschließung verschiedener Phänomene in globalisierten Kontexten herangezogen werden sollte. 117 Die hermeneutische Situation komparativer Philosophie lässt sich somit vorläufig durch drei Schwerpunkte charakterisieren: 1. Die Geschichtlichkeit der Philosophie, die sich heute, ohne teleologische Vorherbestimmung, in globalisierten Kontexten entfaltet. 2. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprachfamilien mit ihren jeweils spezifischen Weltansichten, die dem Denken bestimmte Wege nahelegen (nicht festlegen!). 3. Das globale Aufeinandertreffen verschiedener wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge, die unterschiedlichen Lebenswelten entstammen und von unterschiedlichen Wirkungsgeschichten geprägt sind.

2.2. Begriffe des Vergleichs in der europäischen Philosophie Sucht man das Stichwort »Vergleich« in verschiedenen philosophischen Lexika, so stellt man erstaunt fest, dass dieser Begriff zumeist nicht verzeichnet ist. Sollte demnach das Vergleichen philosophisch unbedeutend sein? Oder könnte man demgegenüber erwägen, dass Vgl. hierzu Held, Europa und die interkulturelle Verständigung. Ein Entwurf im Anschluß an Heideggers Phänomenologie der Grundstimmungen. Ich selbst habe eine solche Analyse für das Thema »Zeit« durchgeführt: Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens. 117 Es ist nicht zu bestreiten, dass die Phänomenologie inzwischen in verschiedenen Kulturkreisen heimisch geworden ist (vor allem z. B. in Japan) und ihre Fruchtbarkeit für die komparative Philosophie bereits unter Beweis gestellt hat. Als Beispiele seien genannt: Phenomenology of Life in a Dialogue between chinese and occidental philosophy, hg. v. Tymienciecka; Yamaguchi, Ki als leibhafte Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit; Tsujimura, Ōhashi u. Rombach, Sein und Nichts. Grundbilder westlichen und östlichen Denkens; Ōhashi, Kire. Das ›Schöne‹ in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne. Das Buch von Yamaguchi versucht die Leiblichkeit, in der auch die Sprachlichkeit fundiert ist, in interkultureller Perspektive zu untersuchen. Die beiden letztgenannten Publikationen versuchen eine Analyse vorreflexiver Strukturen vor allem anhand des Bildmediums. 116

170 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

Vergleichen ein philosophischer Grundakt ist, der jeder inhaltlichen philosophischen Erkenntnis zugrunde liegt und in seiner philosophischen Relevanz unbeachtet geblieben ist? Zu vermuten wäre, dass abhängig vom ontologischen Grundmodell der Wirklichkeitserschließung der Vergleich eine philosophische Relevanz erhält oder nicht. In Bezug auf die europäische Philosophie möchte ich folgende Forschungshypothese aufstellen, ohne sie an dieser Stelle voll entfalten zu können: In Europa gewann der Begriff des Vergleichs erst dann eine grundlegende Bedeutung, als die Kategorie der Substanz, die bei Aristoteles an erster Stelle stand, von der Kategorie der Relation als der zentralen Kategorie für die Erschließung der Wirklichkeit abgelöst wurde. 118 Diese These wird vor allem von Cusanus bestätigt, der dem Vergleich eine zentrale Bedeutung zumisst. Sätze wie: »Alles Forschen geschieht also durch Vergleichen. Es bedient sich des Mittels der Verhältnisbeziehung« und »Alles Forschen besteht also in einer leichten oder schwierigen vergleichenden Verhältnisbeziehung« 119 weisen den Vergleich als die zentrale Forschungsmethode aus. Wenn nach Cusanus Forschung in der vergleichenden Verhältnisbestimmung besteht, so ist dies ein einschneidender Bruch mit der Tradition. Forschen besteht im Anschluss an Aristoteles im Fragen nach dem substanziellen Wesen (ousia), das aber gerade nicht in einem Verhältnis zu etwas anderem steht, sondern die Eigenständigkeit eines jeden einzelnen Etwas gewährleistet. »Denn von den ersten Substanzen ist es wahr, dass sie nicht relativ sind.« 120 Relativ (pros ti) kann nur Akzidentelles sein, das in der vergleichenden Verhältnisbestimmung sein Profil gewinnt. 121 Cusanus bezieht sich aber, wenn er von Forschung spricht, nicht nur auf den Bereich der Akzidenzien, vielmehr deutet sich hier ein Umbruch im Begriff des substanziellen Wesens an, der die Kategorientafel des Aristoteles gleichsam auf den Kopf stellt. 122 Zum Gesamtzusammenhang dieses Übergangs vgl.: Rombach, Substanz System Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft; Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. 119 Cusanus, De docta ingnorantia, Buch I, Kapitel 1.: »Comparativa igitur est omnis inquisitio medio proportionis utens.« und »Omnis igitur inquisitio in comparativa proportione facili vel difficili existit«. 120 Aristoteles, Kategorien, 8a. 121 Ebd., 6b. 122 Nach Aristoteles steht die Relation ganz am Ende der Kategorientafel, weil ihr, aus den genannten Gründen, am wenigsten Sein zukommt. 118

171 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

»Nur das einzelne nämlich ist aktuell wirklich. In ihm ist das Allgemeine in zusammengezogener Weise es selbst.« 123 Cusanus stimmt in dieser Äußerung mit den Peripatetikern darin überein, dass das Allgemeine außerhalb der Dinge keine Wirklichkeit besitze. Zu dieser Einsicht gelangt er aber gerade nicht dadurch, dass er das Allgemeine in den Einzelnen als Substanz annimmt, sondern indem er sagt, in den Einzelnen ziehe sich das Allgemeine selbst zusammen. Was bedeutet hier aber »zusammenziehen«? Um dies für den Zusammenhang des Einzelnen und des Allgemeinen zu verstehen, muss der ontologische Zusammenhang von Individuum und Welt beachtet werden. »Wirklich jedoch sind allein die Individuen, in denen sich [jeweils] das Universum zusammenzieht« 124 Wenn jedes Individuum die Welt in je eigener Weise zusammenzieht, so geschieht dies durch eine universale Relationalität, in der sich das Einzelne aus den Gesamtbezügen der Welt jeweils individuell bestimmt. Durch diesen universalen Bezug zieht es in individueller Weise die ganze Welt zusammen. Jedes Individuum ist somit identisch mit dem Ganzen, durch seine universale Bezogenheit, ohne die es wiederum nicht individuell wäre. Unsere Welt ist also dadurch gekennzeichnet, dass immer nur Individuelles gegeben ist und nie das Ganze. Das Ganze kann sich immer nur individuell geben als die jeweilige Zusammenziehung und Verhältnisbeziehung der ganzen Welt. Arten und Gattungen und das jeweils Allgemeine können aus den universalen Verhältnisbeziehungen der Welt erkannt werden. Forschen bedeutet also nicht mehr Fragen nach der Einzelsubstanz, sondern ist ein Offenlegen der universalen Beziehungsverhältnisse, die immer nur individuell und im vergleichenden Vorgehen gegeben sind. Durch Vergleichen lassen sich Arten von Verhältnisbeziehungen zum Ganzen finden, die sich aber immer schon als wirkliche vollziehen und durch unser Erkennen gleichnishaft nachvollzogen werden können. Die vergleichende Verhältnisbestimmung rückt somit ins Zentrum einer jeden Forschung und damit der intellektuellen Erkenntnisleistung überhaupt. Auch bei Kant findet sich eine zentrale Stelle, wo er dem »Vergleich« eine zentrale Rolle für die Bildung von Begriffen zuweist. Auch wenn der Begriff des Vergleichs nicht zu den grundlegenden Cusanus, De docta ignorantia, Buch II, Kapitel 6: »Solum enim singulare actu est, in quo universalia sunt contracte ipsum.« 124 Ebd.: »Individua vero sunt actu, in quibus sunt contracte universa.« 123

172 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

Begriffen der Kantischen Philosophie zählt, so weist er hier doch hin auf eine grundlegende Operation unseres Erkenntnisvermögens, ohne die Erkenntnis nicht möglich wäre. »Die logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden, sind: 1. die Komparation, d. i. die Vergleichung der Vorstellungen unter einander im Verhältnisse zur Einheit des Bewußtseins; 2. die Reflexion, d. i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können; und endlich 3. die Abstraktion oder die Absonderung alles übrigen, worin die gegebenen Vorstellungen sich unterscheiden. Um aus Vorstellungen Begriffe zu machen, muss man also komparieren, reflektieren und abstrahieren können; denn diese drei logische Operationen des Verstandes sind die wesentlichen und allgemeinen Bedingungen zur Erzeugung eines jeden Begriffs überhaupt.« 125

Die Begriffsbildung geht aus von Vorstellungen, die aus sinnlich Gegebenem resultieren, und setzt diese vergleichend zueinander in Beziehung, um die Unterschiedenheit der einzelnen Gegebenheiten zu eruieren. Im nächsten Schritt wird durch Reflexion das Gemeinsame der Unterschiedenen abgehoben. Im letzten Schritt erfolgt dann die Absonderung aller inhaltlichen Zufälligkeiten, so dass ein rein formaler Begriff durch Abstraktion gebildet werden kann. Die Begriffsbildung führt ausgehend von der vergleichenden Verhältnisbestimmung der einzelnen untereinander zu einem formal-begrifflichen System der Vorstellungen. Die drei Stufen bewegen sich somit immer von einer gegebenen Vielheit zu einer formalen Einheit als dem jeweiligen Begriff. Cusanus expliziert den Begriff des Vergleichs auf der Ebene der ontologischen Verfasstheit des Individuums. Kant weist auf die zentrale Bedeutung des Vergleichs für die Begriffsbildung hin. Beide thematisieren somit den Vergleich auf unterschiedlichen Ebenen, die jeweils unterschiedliche Strukturen implizieren. Eine grundsätzliche Kritik am Vergleich, der in äußerlicher Weise durchgeführt wird und so eine Einheit hervorbringt, findet sich bei Hegel, der dies als »äußerliche Reflexion« zurückweist, die mit den Dingen selber nichts zu tun habe. Denn die Einheit, die durch diesen Vergleich erzeugt wird, hebe sich durch die äußerliche Vergleichung von den Dingen ab und ist nicht wirklich aus der logischen Struktur der Dinge selber entwickelt.

125

Kant, Logik, 524.

173 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

»Es ist hierbei noch das sozusagen unglückliche Wort ›Einheit‹ besonders zu erwähnen; die Einheit bezeichnet noch mehr als die Identität eine subjektive Reflexion; sie wird vornehmlich als die Beziehung genommen, welche aus der Vergleichung, der äußerlichen Reflexion entspringt. Insofern diese in zwei verschiedenen Gegenständen dasselbe findet, ist eine Einheit so vorhanden, dass dabei die vollkommene Gleichgültigkeit der Gegenstände selbst, die verglichen werden, gegen diese Einheit vorausgesetzt wird, so dass dies Vergleichen und die Einheit die Gegenstände selbst nichts angeht und ein ihnen äußerliches Tun und Bestimmen ist.« 126

Der entscheidende Kritikpunkt ist, dass beim äußerlichen Vergleichen ein Standpunkt außerhalb der verglichenen Gegenstände angesetzt wird, so dass die Dinge nicht ausgehend von ihren internen Bezügen verstanden werden, sondern nur Teilaspekte der Verglichenen herausgerissen werden, um auf einer subjektiven Ebene des Vergleichs eine Einheit herzustellen. Diese Einheit selber ist aber keine reflexive Einheit, sondern nur äußerliche Einheit, die nichts mit der Individualität der Verglichenen als einzelnen Momenten in der Einheit zu tun hat. Wenn durch den Vergleich eine begriffliche Einheit hergestellt wird, so hebt sich diese ab von den Verglichenen und bleibt ihnen äußerlich. 127 Es lässt sich bei Hegel jedoch noch eine andere Verwendung des Begriffs Vergleich finden, wodurch die Vergleichung einen positiven Sinn erhält. Inwieweit die Kritik der äußerlichen Vergleichung auch diese positive Auswirkung des Vergleichs trifft, bleibt bei Hegel unerörtert. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen systematisch eingebundenen Begriff. »Wer dagegen einer Sprache mächtig ist und zugleich andere Sprachen in Vergleichung [Hervorhebung R. E.] mit ihr kennt, dem erst kann sich der Geist und die Bildung eines Volks in der Grammatik seiner Sprache zu fühlen geben; dieselben Regeln und Formen haben nunmehr einen erfüllten, lebendigen Wert. Er kann durch die Grammatik hindurch den Ausdruck des Geistes überhaupt, die Logik, erkennen.« 128

Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 5, 94. Der systematische Ort der Kritik an der äußerlichen Vergleichung innerhalb der spekulativen Logik ist die Wesenslogik, wo im Kapitel über die Reflexionsbestimmungen Identität, Unterschied und Widerspruch behandelt werden. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 6, 49 ff. 128 Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 5, 53. 126 127

174 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

Auch wenn Hegel an verschiedenen Stellen über verschiedene Sprachen berichtet, so hat er die Verschiedenheit der Sprachen selber nicht in systematischer Perspektive für die Philosophie fruchtbar gemacht. Für seine Philosophie und ihr Verhältnis zur Sprache ist der Bezug von spekulativer Wahrheit und der Möglichkeit einer Versprachlichung derselben von weit höherer Wichtigkeit. Derjenige, der die philosophische Sprengkraft der Verschiedenheit der Sprachen systematisch entfaltet hat, ist Wilhelm von Humboldt. Sein Begriff des Vergleichs soll hier als letzter und entscheidender Anknüpfungspunkt für die Entfaltung einer komparativen Philosophie herangezogen werden. Noch bevor Humboldt die Verschiedenheit der Sprachen in umfassender Weise philosophisch fruchtbar machte, entwarf er bereits 1795 den Plan einer vergleichenden Anthropologie, die den »moralischen Charakter der verschiedenen Menschengattungen neben einander aufstellen und vergleichend beurtheilen« 129 sollte. Humboldt geht davon aus, dass der Charakter einer einzelnen Nation nicht zu begreifen ist, ohne die »contrastierende Verschiedenheit« 130 zu den anderen mit einzubeziehen. Er versteht das vergleichende Vorgehen dabei nicht nur als etwas Äußerliches, sondern als wesentlich für die Realisierung des Ideals der Menschheit. Dieses »Ideal der Menschheit aber stellt so viele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen.« 131 Das Ideal existiert nicht als abstrakt-formaler Begriff, vielmehr zeigt es sich nur in individualisierter Weise. Es ist immer nur wirklich als individuierte, konkrete und geschichtliche Gestalt. Dieses ist aber nach Humboldt kein Nachteil, vielmehr ist die Vielfalt der individuellen Gestalten des Ideals noch zu fördern und zu erweitern, da es nur auf diese Weise realisiert wird und lebendig bleibt. »Nicht genug, dass eine vergleichende Anthropologie die Verschiedenheit menschlicher Charaktere kennen lehrt; sie trägt auch selber dazu bei, eine größere hervorzubringen, und die schon wirklich vorhandene zweckmäßiger zu leiten.« 132 Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass der Begriff des Menschen und der Menschheit durch die Vergleichung an die Zeit und damit an den geschicht129 130 131 132

Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, 337. Ebd., 339. Ebd., 340. Ebd., 345.

175 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

lichen Hervorgang gebunden wird. Der Begriff des Menschen existiert nicht schon vor seiner individuellen und geschichtlichen Realisierung im zeitlosen Raum der Vernunft. Vielmehr ist gerade seine individuell-geschichtliche Realisierung zugleich die Realisierung neuer Möglichkeiten des Menschseins. Die Möglichkeit des Menschen geht seiner Aktualität nicht voraus, vielmehr erzeugt seine Aktualität neue Möglichkeiten. 133 Da die Vielfalt der individuellen Gestaltung in ihrer geschichtlichen Ausprägung keine Grenze kennt, ist auch die Vergleichung niemals endgültig abschließbar. »Da es [der vergleichenden Anthropologie] vorzüglich darum zu thun ist, zu erforschen, wie die idealische Vollkommenheit, die Einem Individuum unerreichbar ist, sich in mehreren gesellschaftlich ausdrückt, so wird sie hauptsächlich durch diese Absicht bei der Wahl der Charaktere zu ihrem Studium geleitet werden. Sie wird soviel als möglich solche aufsuchen, die entweder den Begriff der Menschheit erweitern, oder sich so gegenseitig gegen einander verhalten, dass sie Züge, die zusammen nicht in gleicher Stärke verträglich seyn würden, einzeln darstellen.« 134

Der vergleichenden Anthropologie geht es nach Humboldt um die Erweiterung und die Differenzierung des Begriffes der Menschheit im Kontext der individuell-geschichtlichen Kulturgestaltungen der Welt. Der Prozess der Erweiterung und Differenzierung ist jedoch selber an die individuell-geschichtlichen Rahmenbedingungen seines eigenen Hervorgehens gebunden. Je mehr jedoch eine individuelle Gestalt durch den Vergleich einen Bezug zu anderen geschichtlichen Gestaltungen herstellen kann – wodurch sie sich selber in ihrer individuellen Gestalt vertieft –, um so umfassender erscheint das Ideal in je individueller Form. Humboldt fordert gerade nicht eine umfassende Synthese aller Differenzen, sondern eine Vertiefung der Individualität durch das Fruchtbarwerden der Differenzen, die vor allem im Vergleich hervortreten. In Entsprechung zur vergleichenden Anthropologie entwirft Humboldt die Leitlinie zu einem »vergleichenden Sprachstudium«. Die philosophische Prämisse, die Humboldt diesem zugrunde legt, ist: »Die Sprache ist durchaus kein bloßes Verständigungsmittel, sondern

Vgl. hierzu Borsche, Die Säkularisierung des tertium comparationis. Eine philosophische Erörterung der Ursprünge des vergleichenden Sprachstudiums bei Leibniz und Humboldt, 114. 134 Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, 355. 133

176 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

der Abdruck des Geistes und der Weltsicht der Redenden.« 135 Sprache und Denken stehen demnach in einem engen Verhältnis und bringen sich gegenseitig hervor. Eine grammatisch isolierende Sprache leitet demnach das Denken in andere Bahnen als eine flektierende. Jede einzelne Sprache bringt die Sprachlichkeit des Menschen in individueller Gestalt hervor, so dass nur durch das vergleichende Studium »die Sprachfähigkeit des Menschengeschlechts auszumessen« 136 ist. Ähnlich wie beim Begriff der Menschengattung ist die Sprachlichkeit des Menschen immer nur als individuelle Sprache mit einer bestimmten Grammatik gegeben und aktuell. Sprachlichkeit als solche spiegelt sich in der individuellen Gestalt einer Sprache. Dabei ist die einzelne Sprache selber wiederum nur im aktiven Vollzug, d. h. im Sprechen und Schreiben, wirklich und real. Denn die Sprache »ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)«. 137 Der Begriff der Sprachlichkeit ist somit nur individuell-geschichtlich real und erweitert sich im Vollzug der Sprache in genetischer Weise. »[…] und da der in der Welt sich offenbarende Geist durch keine gegebene Menge von Ansichten erschöpfend erkannt werden kann, sondern jede neue immer etwas Neues entdeckt, so wäre es vielmehr gut die verschiedenen Sprachen so sehr zu vervielfältigen, als es immer die Zahl der den Erdboden bewohnenden Mensch erlaubt.« 138

Für Humboldt ist die Vielfalt kein Makel, sondern Zeichen für die höhere, differenziertere und lebendigere Einheit, denn die Einheit lebt nur als Vielfalt. Diese Vielfalt kann durch den »fruchtbaren Vergleich« erhöht und lebendiger werden. Im Begriff des Vergleichs bei Humboldt lassen sich zum einen wesentliche Züge des Vergleichsbegriffs bei Cusanus (Individualität) und Kant (Vergleich als Grundlage der Begriffsbildung) wiederfinden und zum anderen kann darin ein Ansatz gesehen werden, die Kritik Hegels am äußerlichen Vergleich positiv aufzunehmen. Das wesentlich Neue in Humboldts Vergleichsbegriff ist die Dimension der Geschichte, die den Vorgang des Vergleichs an die Entfaltung neuer geschichtlicher Möglichkeiten bindet. Das tertium comparationis ist nicht mehr eine überzeitliche, dem Denken absolut vorausliegende Humboldt, Über den Dualis, 135. Vgl. auch Borsche, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. 136 Humboldt, Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, 14. 137 Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, 36. 138 Humboldt, Über die Natur der Sprache im allgemeinen, 8. 135

177 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Potenz (Gott, transzendentale Bedingungen, absolute Idee), sondern es besteht in den individuellen Gestalten der Geschichte selber, die in ihrem Hervorgehen das Ideal mit- und umgestalten. Vergleichen bedeutet somit, geschichtlich aktiv zu sein und neue Möglichkeiten des Wirklichseins zu entdecken. Die radikal gedachte Individualität bei Cusanus als Identität des Einzelnen mit dem Universum wird bei Humboldt befreit zur geschichtlichen Individualität. Die Abstraktion bei Kant, die aus Komparation und Reflexion hervorgeht, wird zurückgebunden an die aktuelle Individualität. Der Vorwurf der Äußerlichkeit der Vergleichung von Hegel wird dadurch entkräftet, dass die einzelnen Begriffe und Phänomene in der Vergleichung innerlich, jeweils an ein heuristisches Ideal gebunden, hervorgehen, ohne jedoch eine strenge Teleologie in sich zu tragen, so dass auch kreativ Neues hervortreten kann. Vergleichen wird somit zu einer genuin philosophischen Tätigkeit. Sie ist bei Humboldt geschichtsbildende Tätigkeit im Umgang mit Differenz und Identität in der Wirklichkeit. Humboldt weist den Weg des Vergleichens ansatzweise für die Anthropologie und in vertiefter Weise für die Sprachphilosophie. Dieser Weg scheint mir noch immer als eine Möglichkeit gangbar zu sein für die Philosophie und das Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wie bereits für den Begriff der Philosophie angedeutet wurde, ist dieser auch in Europa weit davon entfernt einheitlich zu sein. In Anlehnung an Humboldt könnte schlussfolgernd gesagt werden, dass es nicht den Begriff der Philosophie gibt, sondern Philosophie immer nur individuell und geschichtlich real ist als die konkrete Tätigkeit des Philosophierens. Aus diesen individuellen Gestaltungen lässt sich ein heuristischer Bedeutungsrahmen ableiten, der aber selber geschichtlich und kreativ erweiterbar ist durch den Umgang mit den bisherigen Entwürfen der Philosophie. Im gegenwärtigen Wirklichkeitsrahmen steht das Philosophieren im globalen Kontext, in dem der Vergleich weit größere Bedeutung gewinnt als noch in früheren Zeiten der Philosophiegeschichte. Ähnlich wie Humboldt die Vielfalt der Sprachen in ihrer Bedeutung für die Philosophie entdeckte, ist es heute die Vielfalt der Philosophien selber, die – rückgebunden an ihre jeweilige Sprache – durch den Vergleich neue Räume des Denkens zu eröffnen vermag. Dieses geschieht aber heute nicht mehr nur von einer philosophischen Tradition aus, sondern die verschiedenen Traditionen eröffnen jeweils für sich Neues, so dass z. B. die Philosophie Hegels neue Möglichkeiten bei japanischen Denkern eröffnet und umgekehrt die Philosophie des japanischen Zen-Meisters Dōgen europäi178 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

sche Denker herausfordert, die eigenen Grundlagen kritisch-kreativ zu bedenken. Was hier immer wieder neu in Frage steht ist die Reichweite des Denkens, der Sprache und des Mensch- und Naturseins. Der Vergleich arbeitet somit an den Grenzen der jeweiligen Ansätze, was jeweils auch den eigenen Ansatz fruchtbar und kritisch aufs Spiel setzt.

3.

Komparative Philosophie als »techne maieutike« im globalen Kontext des Denkens

Auch wenn Philosophierende in allen Kulturen und Zeiten ihr eigenes Denken mit anderem verglichen haben, so ist es wohl erst die geschichtliche Epoche, die mit der europäischen Expansion beginnt, in der der Vergleich eine umfassende Bedeutung erhalten hat. Nicht nur lässt sich in jeder Kultur, in die die Europäer eindrangen, beobachten, dass gleichzeitig ein Prozess der Vergleichung begann, durch den sich das Bewusstsein in den einzelnen Kulturen wesentlich veränderte. Umgekehrt hielt aber auch in Europa die vergleichende Perspektive in fast allen Wissenschaften immer größeren Einzug, so dass das europäische Selbstverständnis wesentlich durch diese Vergleiche umgeprägt wurde. Zunächst diente der Vergleich in Europa dazu, sich selber an die Spitze der Weltgeschichte zu setzen. Im 19. und 20. Jahrhundert jedoch erhielt der Vergleich immer mehr die neue Funktion, sich kreativ in Bezug auf das eigene Selbstverständnis mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen, um so das kritische Potential der Vielfalt zu nutzen. Der Begriff einer »komparativen Philosophie«, der hier in Anlehnung an Humboldt entwickelt wird, sieht die Vielfalt der Philosophien als Möglichkeit philosophischer Entfaltungen. Somit ist sie keine Einheitsperspektive, sondern zeitigt in verschiedenen Denktraditionen unterschiedliche geschichtliche Gestaltungsmöglichkeiten. Um dies erreichen zu können ist allerdings eine weitreichende fächerübergreifende Zusammenarbeit notwendig. Ohne fundiert aufgearbeitetes historisches und philologisches Material bleibt der Vergleich an der Oberfläche der philosophischen Ansätze, die er behandelt. Diese Anbindung an die einzelnen kulturwissenschaftlichen Fächer wie z. B. Indologie, Sinologie, Japanologie usw. bereitet immer noch Schwierigkeiten, da es in der philosophischen Auseinandersetzung nicht in erster Linie um philologische und historische Aufarbei179 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

tung gehen sollte, wie es in den einzelnen Philologien gefordert ist. Es ist daher in der Zusammenarbeit notwendig, die jeweiligen Erkenntnisinteressen darzulegen, um sowohl die historisch-philologische Arbeit als auch das gegenwartsbezogene philosophische Weiterdenken füreinander fruchtbar zu machen. Der bekannte Indologe Stanislaw Schayer hatte diese Möglichkeit deutlich vor Augen, als er im 15. Jahrbuch der SchopenhauerGesellschaft, das unter dem Thema Europa und Indien stand, folgendes über den Wert der indischen Philosophie für die europäische Gegenwart schrieb: »[Den] Hauptwert [der indischen Philosophie] für unsere Gegenwart erblicke ich darin, dass das Studium der indischen Gedanken zu einer ›techne maieutike‹ werden kann, dass es uns zwingt, die überkommenen Anschauungen einer allseitigen Revision zu unterziehen, die Einseitigkeiten der abendländischen Tradition auf dem Gebiet des Erkennens aufzudecken, und endlich: dass es uns vor neue Probleme stellt und das geistige Leben des Abendlandes um neue Möglichkeiten bereichert.« 139

Wichtig ist hier, dass ein Indologe, dessen Aufgabe traditionell in der philologischen Aufarbeitung von Texten besteht, die kreative und gegenwartsbezogene Ausrichtung seiner Arbeit hervorhebt. Dies ist unter Philologen heute immer noch nicht selbstverständlich, so dass die verschiedenen Ansprüche von Philosophen und Philologen das interdisziplinäre Gespräch oft zum Scheitern bringen. So ist es einerseits wichtig, dass die Philosophen die philologischen Grundlagen beachten, andererseits ist es aber auch unumgänglich, dass die Philologen – insbesondere bei philosophischen Texte – gegenwartsbezogene Aspekte mit einbeziehen und nicht nur in historistischen Detailerörterungen steckenbleiben. Die philosophischen Möglichkeiten eines erweiterten Blicks deutete auch Max Scheler in seinem Aufsatz Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs von 1927 an. Auch wenn seine Rede vom »Ausgleich« zu stark an eine Einheitskultur denken lässt, so bringt sein Gedanke doch etwas anderes zum Ausdruck. Es geht ihm nicht um eine Supersynthese der Kulturen, sondern vielmehr um die kreative Auseinandersetzung mit anderen Traditionen des Denkens, so dass etwas Neues zum lebendigen Moment in der je eigenen Kultur werden kann:

139

Schayer, Indische Philosophie als Problem der Gegenwart, 60.

180 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Comparative Philosophy«

»Ein weiterer Ausgleich größten Maßstabes, der die Formung des Menschen betrifft, ist der auch längst eingeleitete Ausgleich zwischen Europa und den drei großen asiatischen Zentren, Indien, China und Japan, vermittelt durch die Welt des Islam – ein Ausgleich, der in Zukunft noch erheblich fortschreiten wird. Auch hier hat Europa längst aufgehört, der nur Gebende zu sein. […] Eine wahrhaft kosmopolitische Weltphilosophie ist im Werden – mindestens ist die Grundlage für die Bewegung im Werden, die auch uns lange völlig fremden obersten Daseins- und Lebensaxiome der indischen Philosophie, der buddhistischen Religionsformen, der chinesischen und japanischen Weisheitstümer nicht nur historisch registriert, sondern gleichzeitig sachlich prüft und sie zu einem lebendigen Element im eigenen Denken gestaltet.« 140

Wenn Scheler hier von einer »kosmopolitischen Weltphilosophie« spricht, so ist damit keineswegs eine bloße Einheitsphilosophie gemeint, sondern ein Philosophieren, das die durch Globalisierung entstandene Verknüpfung der Kulturen zur kreativen Entfaltung des eigenen Denkens nutzt. Scheler knüpft mit diesen Äußerungen – wenn auch nicht explizit – direkt an Leibniz an, der bereits über zweihundert Jahre zuvor in den direkten Dialog mit der chinesischen Philosophie eingetreten war. Es ist eigentlich verblüffend, dass seit Leibniz die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit der Auseinandersetzung von Philosophen mit verschiedenkulturellen Denkentwürfen immer wieder betont worden ist, aber bisher in Deutschland keine entsprechende Umsetzung erfolgt ist. 141 Kuno Lorenz schreibt hierzu: »Das geschichtliche Bewußtsein, das unsere geistige Kultur prägt, ist trotz aller Beteuerungen, dass die Gegenwart ein Denken in globalen Zusammenhängen verlange, nahezu uneingeschränkt eurozentristisch geblieben. In der Philosophie mehr noch als in anderen Disziplinen, weil Philosophie und Wissenschaft, anders als etwa Kunst und Religion, noch immer häufig für etwas typisch Westliches gehalten werden.« 142

Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, 160. Ein neuer Versuch, das Gespräch zwischen östlichen und westlichen Denkern in Gang zu bringen, zeigt besonders deutlich, wie einseitig das Gespräch zwischen japanischen und deutschen Philosophen sein kann. Vgl. All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, hg. v. Henrich. In der Dokumentation der Vorträge wird sehr deutlich, dass die Japaner immer vergleichend vorgehen, während die deutschen Beiträge nur auf die eigene Denktradition bezogen bleiben. 142 Lorenz, Indische Denker, 9. 140 141

181 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Diese Einsicht eines analytischen Philosophen ist wohl auf seine intensive Beschäftigung mit indischen Denkern zurückzuführen. Die Beschäftigung mit Philosophien aus anderen Denktraditionen bleibt heute immer noch zumeist dem persönlichen Interesse und Engagement überlassen. Ein wesentlicher Grund, warum die Selbstbezogenheit der deutschen Philosophie oft nur schwer zu durchbrechen ist, ist die Fixierung der deutschen Philosophenausbildung auf europäische Sprachen (Griechisch, Latein, Französisch, Englisch und Deutsch). Ohne die Wichtigkeit dieser Sprachen und deren Kenntnis für das Philosophieren bestreiten zu wollen, kann aber gerade mit Humboldt, dem großen Vertreter humanistischer Bildung, darauf verwiesen werden, dass jede Sprache eine Weltansicht in sich trägt und die Grenzen meiner Sprache wesentlich die Grenzen meiner Wirklichkeit mitbestimmen. In einer Disziplin wie der »komparativen Philosophie« ergäbe sich die Notwendigkeit auch außereuropäische Sprachen zu erlernen, so dass der Stoff des Philosophiestudiums sich wesentlich erweitern und modifizieren würde. Diese Erweiterung geschieht jedoch nicht willkürlich oder aus Mangel an Stoff, sondern aus philosophischen Gründen, wie ich sie versucht habe darzulegen. »Komparative Philosophie« kann heute noch immer ein erster und wichtiger Schritt sein – jenseits aller polemischen Abwertungen –, durch den sich Verbindungen ergeben, die das Philosophieren in seiner kritischen und wirklichkeitserschließenden Funktion im globalen Kontext vorantreiben. Methodisch gesehen kann man allerdings hierbei nicht stehenbleiben, da noch weitere Ebenen einzubeziehen sind, die sich unter anderem in dem, was seit den 1990er Jahren im deutschsprachigen Bereich »interkulturelle Philosophie« heißt, beobachten lassen.

3.

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«: Zur methodischen Transformation der Wissensordnungen im 20. Jahrhundert

Das Substantiv Interkulturalität ist in der deutschen Sprache erst zu Beginn der 1980er Jahre geprägt worden. Mit diesem Wort wurde eine geschichtliche Geschehensform auf den Begriff gebracht, die es in gewisser Hinsicht, wenn man die Geschichte als Verflechtungsgeschichte betrachtet, bereits seit alters her gegeben hat. Denn Austausch und Durchdringung von kulturellen Mustern sind im Grunde 182 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

so alt wie das kulturelle Schaffen des Menschen. Durch Völkerwanderungen, Nachbarschaften, Missionierungsbewegungen, Eroberungen und andere geschichtliche Bewegungen gab es schon immer kulturelle Diffusionen oder Auseinandersetzungen zwischen menschlichen Gemeinschaften. Dieser Kontakt und Austausch zwischen kulturell verschieden geprägten Menschen nahm aber erst seit dem Beginn der europäischen Expansion im Jahre 1492 mehr und mehr eine weltumfassend globale und bewusste Form an. Es steht heute außer Frage, dass sich im Laufe der europäischen Eroberungen die Kulturen außerhalb Europas massiv und oft unter Gewaltanwendung verändert haben. Aus Europa stammende kulturelle Muster haben sich im Rahmen der europäischen Expansion über die Welt verbreitet. Vielfältig ist untersucht worden, wie spätestens seit dem 20. Jahrhundert überall in der Welt Nationalstaaten, europäisch geprägte Rechts-, Medizin- und Wirtschaftssysteme entstanden sind und wie sich diese im neuen kulturellen Kontext verändert haben. Es ist hingegen weniger erforscht worden, welche grundlegenden Veränderungen sich durch diesen globalen Prozess in Europa selbst ergeben haben und noch ergeben könnten. Denn die Wissensordnungen des modernen Europa wären ohne – neutral formuliert – seine Beziehungen zur außereuropäischen Welt nicht entstanden. 143 Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein war in der europäischen Forschung zu den Entwicklungen in außereuropäischen Kulturen der Gedanke keineswegs selbstverständlich, dass durch diese Forschungen die Grundlagen der eigenen Wissensform grundsätzlich in Frage gestellt werden könnten. Die Möglichkeit der innovativen Transformation der Wissenschaftsinhalte und ihrer Ordnungen ist somit erst am Ende des 20. Jahrhunderts selbst zu einer Forschungsperspektive der Wissenschaften in Europa geworden. Durch neuere Formen des wissenschaftlichen Austauschs – beispielsweise durch das Studium verschiedener Wissenschaften von Ein neuer Beleg für diese These bietet folgendes Buch: Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. In seinem Buch versucht Belting zu zeigen, dass die Zentralperspektive in der europäischen Renaissance entstehen konnte durch die Kombination einer optischen Theorie auf der Grundlage arabischer Mathematik von Ibn Al-Haitham und der Kunstentwicklung in der italienischen Renaissance. Jeder der beiden Kontexte hätte vermutlich allein nicht zur Zentralperspektive geführt. Abgesehen von der positiven oder negativen Beurteilung der Zentralperspektive gehört sie zum Kernbestand der sogenannten »europäischen« Tradition seit der Neuzeit.

143

183 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

europäischen Studierenden an asiatischen Universitäten – ist bei einigen europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern inzwischen die grundlegende Einsicht gewachsen – obwohl dies sicher noch nicht zum Standard gehört –, dass die Auseinandersetzung beispielsweise mit den Wissenskulturen Asiens eine grundlegende und ergebnisoffene Revision der meisten humanwissenschaftlichen Theorien samt ihrer philosophischen Grundlagen zur Folge haben könnte. Asien ist somit nicht mehr nur ›Objekt‹ europäischer Wissenschaften, sondern in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Asien bieten sich Möglichkeiten innovativer und postkolonialer Theoriebildung, die über das hinausgehen, was Vergleiche in den Wissenschaften leisten können. Im Folgenden soll an diese Entwicklung anschließend die Forderung vertreten werden, dass den bisherigen, häufig ambitionierten Forschungsprojekten, die über den europäischen Rahmen hinausreichen, theoriebildungsrelevante Veränderungen und Reflexionen folgen müssen, die die Ordnung des Wissens und der Wissenschaften in Europa selbst betreffen. Unabhängig von einseitiger Verengung auf Schlagworte muss es darum gehen, die Wissensordnungen für die Auslegung des Menschen, der Kulturen und der globalen Welt in historisch und systematisch detaillierten, aber zugleich theoretisch paradigmatischen Forschungen in postkolonialer Perspektive zu überprüfen und neu zu entwerfen. Die von mir in den Blick genommene Ebene unterscheidet sich von der nicht hinreichenden Forderung, z. B. im Rahmen der Geschichtswissenschaft auch über die Geschichte Asiens informiert zu sein, einzelne Rechtssysteme kennenzulernen oder in der Philosophie zur Kenntnis zu nehmen, dass es in alter Zeit auch in Indien und China Denker wie Nagarjuna oder Zhuangzi gegeben hat, die man mit europäischen Denkern vergleichen kann. Nimmt man die über Europa hinausführende Auseinandersetzung ernst – so lautet meine These –, werden sich die Struktur des Wissens und die Ordnung der Wissenschaften in Europa selbst nachhaltig verändern. Mit der Veränderung der Struktur des Wissens meine ich die Veränderung in dem, was unter Wissen – im Unterschied zu NichtWissen – verstanden wird und wie Typen von Wissen differenziert werden. Ausgehend von asiatischen Wissenskulturen kann beispielsweise die Theorie-Praxis-Unterscheidung neu bestimmt oder sogar gänzlich aufgelöst bzw. irrelevant werden, mit der in Europa meist immer noch mit großer Selbstverständlichkeit ganze Wissensberei184 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

che voneinander abgetrennt werden. Mit der Veränderung der Ordnung der Wissenschaften meine ich, dass neue Disziplinen, Teilgebiete von Disziplinen oder zentrale neue Themenschwerpunkte im Rahmen der europäischen Wissenschaften z. B. in der Auseinandersetzung mit Formen des Wissens in Asien entstehen können. Diese Veränderungen, die auf das Engste mit den Bewegungen der europäischen Expansion zusammengesehen werden müssen, haben spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu signifikanten Veränderungen auch im Rahmen der Wissenschaften in Europa geführt. Um diese seit über hundert Jahren voranschreitende Neuordnung, nicht nur der Wissenschaften, ist im 20. Jahrhundert ein Wortfeld entstanden, das in vielen Fällen ausgeht von dem Wort ›Kultur‹, welches seinerseits als Begriff in den europäischen Sprachen der Geistes- und Kulturwissenschaften kaum älter als 300 Jahre ist. 144 In diesem Sinne ist die Bildung des Wortes ›Kultur‹ und seiner Ableger selbst zentraler Reflex sich transformierender Wissensordnungen. Die Bildung neuer Wörter ist in der Geschichte der natürlichen Sprachen eher die Regel als die Ausnahme. Neu entstandene Wörter verschwinden entweder bald aus dem Sprachgebrauch oder sie entfalten ein so bewegtes und oft widersprüchliches Leben wie das deutsche Wort Kultur. Heute, weit über zweihundert Jahre nach dem Geläufigwerden des Wortes Kultur in der deutschen und in vielen anderen Sprachen, besitzt es immer noch hohe Aktualität. Vom Fremdwort, das nur in akademischen Zirkeln gebraucht wurde, hat es sich zum Schlüsselwort für die Selbstbeschreibung der Menschheit entwickelt, das mit größter Selbstverständlichkeit auch in der Alltagssprache verwendet wird. 145 Seit seiner Einführung in die deutsche Sprache der Literatur und Wissenschaft hat es neue Formen angenommen, ist zahlreiche Verbindungen eingegangen und hat verschiedene Ableger gestreut. Eine zentrale Neuerung in seinem Gebrauch war die Bildung des Plurals Kulturen, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den Einfluss Nietzsches in der deutschen Wissenschaftssprache geläufig wurde. 146 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts explodierte die Zahl der Zusammensetzungen mit dem Wort Kultur. 147 Bereits im

Selbstverständlich ist das lateinische Wort cultura viel älter, aber es spielte nie eine ähnlich bedeutende Rolle wie z. B. das deutsche Wort Kultur seit dem 18. Jahrhundert. 145 Vgl. zur Geschichte des Wortes vgl. Fisch, Zivilisation/Kultur. 146 Elberfeld, Durchbruch zum Plural. Der Begriff der Kulturen bei Nietzsche. 147 Baur, Geschichte des Wortes »Kultur« und seiner Zusammensetzungen. 144

185 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

19. Jahrhundert kündigte sich durch die Bildung des Wortes international eine Wortbildungsform an, 148 die zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer beliebter wurde. Die Adjektive inter-kulturell, multi-kulturell und trans-kulturell sowie die Substantive Inter-kulturalität, Multi-kulturalität und Trans-kulturalität bilden nur einen Teil der neuen Wortbildungen und -verbindungen. Man spricht von melting pot, cultural pluralism, Akkulturation, Inkulturation, subcultures, cross-cultural, bicultural, hyperculture, transnationalism, Hybridität, cross-fertilization of cultures usw. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben ein Vokabular zur Verfügung gestellt, das heute in der Gefahr steht, den kulturellen Reflexionsprozess durch wachsende Unübersichtlichkeit eher zu behindern als voranzutreiben. Immer häufiger kommt es vor, dass die verschiedenen, auf bestimmte Schlagwörter eingeschworenen Schulen sich um die Abgrenzung gegen die jeweils anderen Schulen mehr bemühen als um die zur Debatte stehenden Sachprobleme. Es scheint daher an der Zeit, die verschiedenen Diskurse und ihre jeweiligen Reflexionsbegriffe einer Analyse zu unterziehen, um auf diese Weise mit größerer Unabhängigkeit von Schlagwörtern auf die Sachprobleme zurückzukommen. Es wäre lohnend und für die Diskussionen hilfreich, wenn die verschiedenen Bezeichnungen jenseits der ideologischen Grenzen übergreifend in ihrer Entstehung und ihrem Wirkungskreis erforscht würden. 149 Eine derartige Diskursanalyse kann helfen, sich dem Sog akademischer Moden zu entziehen, um wissenschaftlich und gesellschaftlich drängende Fragestellungen nicht aus den Augen zu verlieren. Die folgenden Ausführungen setzen sich zwei Ziele. Erstens soll Einer der bisher frühesten Belege für das englische Adjektiv »international« stammt aus dem Jahr 1837: Chesney, A General Statement of the Labours and Proceedings of the Expedition to the Euphrates, 432. 149 Neuere Bemühungen darum finden sich in zwei Büchern: Identität und Differenz. Eine interdisziplinäre Bilanz der Interkulturalitätsforschung in Deutschland und Frankreich, hg. v. Fischer et al. Vor allem der Aufsatz von Vatter, Interkulturalitätsforschung in Deutschland – eine Bestandsaufnahme, in dem Band liefert einen Überblick über die Entstehung des Faches Interkultureller Kommunikation, geht daher aber nicht auf die Debatten vor dem 2. Weltkrieg ein. Der Band Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Theorie der Transdifferenz, hg. v. Allolio-Näcke et al., liefert erstmalig eine Auseinandersetzung mit den vier Schlagwörtern Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität und Hybridität. Für alle vier Schlagwörter werden wichtige Quellentexte erschlossen, wobei in der historischen Herleitung der ersten drei Schlagwörter zentrale Diskursstränge nicht erwähnt werden. 148

186 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

der Versuch unternommen werden, Bausteine für eine Diskursanalyse interkultureller, multikultureller und transkultureller Diskurse jeweils bis Ende der 1970er Jahre zusammenzutragen. Ausgehend von den bisher ältesten Belegstellen, die bis in die 1910er Jahre zurückreichen, soll gezeigt werden, welche Sachthemen und Wissensfelder prägend für die drei genannten Diskurse waren und wie die neuen Wörter die Ordnungen des Wissens in eine veränderte Perspektive gerückt haben. Dieses Vorgehen ist nicht nur von historischem Interesse, sondern gerade auch für die Reflexion der aktuellen Diskurse von Bedeutung, in denen oft der ältere Wortgebrauch ganz ausgeblendet bleibt. Zweitens soll anhand von ausgewählten Wissenschaften verdeutlich werden, wie sich ›Interkulturalität‹ als Forschungsperspektive bereits etabliert hat und noch etablieren kann. Dabei soll gezeigt werden, wie sich die interkulturelle Transformation einzelner Wissenschaften bzw. Wissensfelder aufgrund der verschiedenen Anforderungen jeweils vollziehen kann.

3.1. Bausteine für eine Diskursanalyse interkultureller, multikultureller und transkultureller Diskurse 3.1.1. Die Entstehung »interkultureller« Diskurse bis 1980 Am Anfang der Entwicklung des Diskursfeldes stand das englische Adjektiv »intercultural«. Es taucht nach meinen bisherigen Recherchen zum ersten Mal 1916 in einem Text aus dem Bereich der Biologie auf. Dort heißt es: »Thus inter-clonal variation would mean variation in different clones. These might, however, be mixed in the same culture, or be in separate pure cultures; and again interclonal selection would refer to the ordinary selection of clones from a mixed culture, or might mean selection from different cultures, each representing a pure clone. The terms intracultural and intercultural, referring to variation or selection, are descriptive of definite conditions or processes, but are less specific than the other terms suggested.« 150

Überraschend ist, dass in diesem Text nicht nur das Adjektiv »intercultural«, sondern auch die Wörter und Wendungen »intracultural«, »mixed culture« und »different cultures« auftauchen. Hier zeigt sich erneut die Nähe der biologischen Terminologie und der Semantik des 150

Cole u. Wright, Application of the Pure-Line Concept to Bacteria, 212.

187 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Kulturellen, die sich metaphorisch auf den Menschen bezieht. Die Übertragung der genannten Wörter und Wendungen auf menschliche Kontexte fand aber erst einige Zeit später statt. Bisher lässt sich das Adjektiv »intercultural« in seiner Übertragung auf geisteswissenschaftliche Themen erst im Jahr 1927 belegen. 151 Bereits 1929 ist eine erstaunliche und klare Bedeutungserweiterung festzustellen. Archibald G. Baker schreibt in einer Rezension zu einem Buch über die Beziehung des Christentums zu anderen Religionen: »Fourth, how successfully do the ideals and the ethics of each [religion] measure up to the requirements of that newer idealism and world conscience which is actually in process of formation as an inevitable result of the intercultural relationships of the modern world?« 152

1934 erschienen die ersten Aufsätze, 153 in deren Titel das Adjektiv intercultural enthalten war. 154 In einem Buch aus dem gleichen Jahr über moderne Tendenzen in den Weltreligionen trägt Kapitel III die Überschrift World-Religions and Intercultural Contacts. 155 Das vermutlich erste Buch, in dessen Titel das Wort »intercultural« auftaucht, stammt von Philleo Nash aus dem Jahre 1937. 156 Bei genauerer Betrachtung der genannten Publikationen ergibt sich, dass die meisten der genannten Autoren an der University of In einer kurzen Rezension zu einem Buch über die zoroastrische Religion von Y. P. Mei (University of Chicago) heißt es: »This is another contribution toward intercultural appreciation.« Zitat in: International Journal of Ethics, 37:3, 1927, 333. 152 Baker [University of Chicago], How shall wie relate Christianity to other religions?, 480. 153 1931 taucht das Adjektiv »interkulturell« auch beiläufig in der deutschen Sprache auf, ohne größere Wirkungen zu hinterlassen. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil, 1929–1935, hg. v. Kern, 234. 154 Kaplan, The Effect of Intercultural Contacts upon Judaism; Joshi, Hinduism and Intercultural Contacts; Hocking, Christianity and Intercultural Contacts. Hocking war 1902 der erste amerikanische Schüler, der bei Husserl in Göttingen studierte. Ob dieser Kontakt später für das Auftauchen des Adjektivs »interkulturell« bei Husserl eine Rolle gespielt hat, müsste eigens untersucht werden. 155 Modern Trends in World-Religions, hg. v. Haydon [University of Chicago]. Die Aufsatztitel in Kapitel III lauten: »Islam and intercultural Contacts« (Henry E. Allen), »Buddhism and intercultural Contacts« (James Bissett Pratt), »Christianity and intercultural Contacts« (William Ernest Hocking), »Hinduism and intercultural Contacts« (S. L. Joshi), »Confucianism and intercultural Contacts« (Lewis Hodous), »Judaism and intercultural Contacts« (Mordecai M. Kaplan). 156 Nash, The Pace of religious Revivalism in the Formation of the intercultural Community on the Klamath Reservation, Chicago 1937. 151

188 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

Chicago lehrten oder mit ihr verbunden waren über das Thema interkulturelle Beziehungen zwischen verschiedenen Religionen. Dass dieses Thema in Chicago aufkam, war kein Zufall, da 1893 im Rahmen der Weltausstellung das erste Weltparlament der Religionen in Chicago stattgefunden hatte. 157 Vermutlich haben sich die Diskussionen des Parlaments fortgesetzt und zur Bildung und Verbreitung des Adjektivs »intercultural« im Rahmen der US-amerikanischen Geisteswissenschaften geführt. Ein Erfinder oder eine Erfinderin des Wortes kann aus dem bisherigen Material nicht eruiert werden. Um weitere Zusammenhänge aufzudecken, müssten die Folgediskussionen zum Weltparlament der Religionen an der Universität Chicago genauer untersucht werden. Neben dem Dialog der Religionen ist es das Gebiet der Pädagogik, in dem das Wort »intercultural« seit den 1930er Jahren einen festen Platz erhalten hat. 158 Die verstärkte Immigration aus Europa und anderen Gegenden der Welt in die USA seit 1880 brachte erhebliche Schwierigkeiten im Zusammenleben der verschieden Kulturen mit sich. 159 Noch bevor das Wort »intercultural« aufkam, war es das Stichwort »Melting Pot«, 160 das 1908 durch ein gleichnamiges, sehr erfolgreiches Schauspiel 161 zu einer geläufigen Wendung wurde, nach der die verschiedenen kulturellen Gruppen sich synthetisch zu einer neuen Einheit verbinden sollten. In den folgenden Jahren sprach man zunehmend von »Americanization«, 162 worunter man die vollständige Assimilierung an die dominante angelsächsische Kultur verstand, und von »Cultural Pluralism«, 163 womit das tolerante Nebeneinander Vgl. hierzu Lüddeckens, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert. 158 Es ist durchaus erstaunlich, dass in dem Standardwerk Einführung in die Interkulturelle Pädagogik von Georg Auernheimer noch in der 3., neu bearbeiteten u. erweiterten Auflage aus dem Jahre 2003 behauptet wird, dass »die Diskussion über interkulturelle […] Erziehung nicht weiter als bis in die 70er Jahre zurückreicht« (25). Zur »interkulturellen Erziehung« seit den 1920er Jahren in den USA vgl. Montalto, A History of the Intercultural Educational Movement. 159 American Education and the European Immigrant: 1840–1940, hg. v. Weiss. 160 Vgl. Harper, The Course of the Melting Pot Idea to 1910. 161 Israel Zangwill, The Melting Pot. Das Stück wurde zuerst 1908 in Washington und dann an verschiedenen Orten in den USA aufgeführt. 162 Vgl. Aronovici, Americanization: Its Meaning and Function (1920). Aronovici verwendet in seinem Aufsatz häufiger die Wendung »cross-fertilization of cultures«. 163 Erstmalig in: Kallen, Culture and Democracy in the United States, 1924. In diesem Buch, das aus verschiedenen Aufsätzen des Autors besteht, werden auch die Idee des »Meltingpot« und das Konzept der »Amerikanisierung« ausführlich diskutiert. Einen 157

189 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

verschiedener Kulturen bezeichnet wurde. Beide Konzepte konnten jedoch angesichts der gigantischen kulturellen Probleme nicht befriedigen, die durch die wachsende kulturelle Verschiedenheit vor allem in Großstädten wie New York immer drängender wurden. Anfang der 1930er Jahre verdichtete sich die Diskussion um die Methoden der Erziehung im Rahmen der Lehrerausbildung in New York. Im Laufe dieser frühen Diskussionen stach vor allem ein Name hervor: Rachel Davis-DuBois. Ab 1935 hielt sie Vorträge zum Thema Intercultural Education. 1938 erhielt die von ihr drei Jahre zuvor initiierte Organisation Service Bureau for Education in Human Relations den Namen Service Bureau for Intercultural Education. 1940 wurde unter der neuen Leitung von Steward Cole der Name verkürzt zu Bureau for Intercultural Education, das im Jahre 1956 seine Arbeit wieder einstellte! Davis-DuBois und Cole veröffentlichten Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre die ersten Aufsätze zum Thema Intercultural Education. 164 1938–39 produzierte Davis-DuBois zudem ein 26 Sendungen umfassendes Radioprogramm mit dem Titel Americans All – Immigrants All, das vom Columbia Broadcasting System ausgestrahlt wurde und vom Innenministerium der USA unterstützt wurde. 165 Durch diese Sendungen wurde das Stichwort Intercultural Education einer breiteren Zuhörerschaft bekannt. Im Rahmen der Diskussionen um die Methoden interkultureller Erziehung zeigt sich somit ein zweites Zentrum für die Entstehung des interkulturellen Diskurses, das vor allem mit der Columbia Universität in New York verbunden ist. Mit dieser Bewegung verändern sich nicht nur akademische Diskurse, sondern die interkulturellen Fragestellungen werden über den akademischen Rahmen hinaus zu

Überblick bietet: Matthews, Cultural Pluralism in Context. External History, Philosophical Premises, and Theories of Ethnicity in Modern America. 164 Davis-DuBois, Can We Help to Create an American Renaissance?, 1938. In diesem Aufsatz wird sie als »Consultant on intercultural education for the U.S. Office of Education« (733) bezeichnet. Dies., Adventures in Intercultural Education: A Manual for Secondary School Teachers, 1939. Dies., Build together Americans. Adventures in Intercultural Education for the Secondary School, 1945. Dies., All this and something more. Pioneering in intercultural education. An autobiography, 1984. Cole, Intercultural Education: Outlines of the Problem, 1941. Ders., Intercultural Education: Cultural Diversity and Education«, 1941. Vickery u. Cole, Intercultural education in American schools. Proposed objectives and methods, 1943. 165 Auf diese Versuche reflektiert bereits 1939 der Aufsatz von Brown, Sociology and Intercultural understanding.

190 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

politischen Angelegenheiten mit hoher Dringlichkeit im Rahmen der Auseinandersetzungen mit den Fragen der Migration. 166 Vermutlich durch Anregungen aus dem Bereich der interkulturellen Erziehung wurde das Adjektiv »intercultural« auch in der anthropologischen 167 Szene in New York gebräuchlich. Rückblickend schreibt Margaret Mead zur damaligen Gründung des Council for Intercultural Relations: »The Council for Intercultural Relations, founded in 1940 and renamed the Institute for Intercultural Studies, Inc., in 1944, is a small research organization, originally founded by Gregory Bateson, Lawrence Frank, Harold Wolff, the late Ruth Benedict, Lyman Bryson, Edwin Embree, and myself. Its primary purpose is ›to stimulate or conduct scholarly or scientific research and writing dealing with the behavior, customs, psychology and social organization of the various peoples and nations of the world, with special attention to those peoples and those aspects of their life which are most likely to affect intercultural and international relations.‹ This group did pioneer the work on studies of national character through anthropological methods, and Geoffrey Gorer’s original memorandum on Japanese character was issued jointly by the Institute for Intercultural Studies and the Committee for National Morale, a wartime institution devoted to the application of the social sciences to wartime problems.« 168

In diesem Zitat zeichnet sich ein im Nachhinein hoch problematischer Anwendungsbereich interkultureller Studien ab. Denn die damaligen anthropologischen Forschungen sollten für die weltweiten Kriegseinsätze der USA genutzt werden. Man versprach sich durch Informationen zu den »nationalen Charakteren« Vorteile in der Kriegsführung. Das genannte Institut besteht bis auf den heutigen Tag, jedoch mit verändertem Forschungsprofil. 169 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich in der ersten Phase der Verwendung des Adjektivs »intercultural« drei wissenschaftliche Disziplinen abzeichnen, in denen das Wort diskursverändernde Kraft entfaltet hat: Religionswissenschaft, Pädagogik und Ironischer Weise fanden in den USA vor gut hundert Jahren Diskussionen statt, die den gegenwärtigen Migrationsdebatten in Europa sehr ähnlich sind, aber damals vor allem durch europäische Migranten in den USA ausgelöst wurden. 167 Gemeint ist hier das Fach »Anthropology«, wie es sich vor allem im US-amerikanischen Sprachraum entwickelt hat. 168 Mead, Letter to the Editor. The Institute for Intercultural Studies and Japanese Studies. 169 http://www.interculturalstudies.org/index.html (28. 12. 2016). 166

191 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Anthropologie. In allen genannten Diskussionszusammenhängen, die sich vor allem in Chicago und New York bündeln, reagiert man auf brisante gesellschaftliche und politische Problemlagen, die in Zusammenhang stehen mit den damaligen Migrationswellen. Hinter dem neu gebildeten Wort »intercultural« verbergen sich die komplexen Schwierigkeiten und Probleme, die in einer Gesellschaft entstehen, wenn die Mitglieder dieser Gesellschaft aus vielen Gegenden der Welt stammen und ein Zusammenleben immer neue Reibungsflächen und darüber hinaus Gewalt erzeugt. Wissenschaftlich gesehen sind die lebensweltlichen Probleme von Anfang an interdisziplinäre Herausforderungen. Die Dynamik der Diskussionen war in der weiteren Entwicklung groß genug, um den Fächerkanon zu sprengen und neue Fachrichtungen entstehen zu lassen. Dies geschah 1950 mit der Einrichtung der ersten Professur für Intercultural Relations an der Albany Universität in New York, die mit William E. Vickery besetzt wurde, der sich bereits zu Beginn der 1940er Jahre in der Diskussion um die »intercultural Education« hervorgetan hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Wort »intercultural« vermehrt im Rahmen politischer Initiativen verwendet. Im Jahre 1947 entstand in den USA das Foreign Service Institute, das Diplomaten und andere offizielle Gesandte für ihre Auslandsaufenthalte vorbereiten sollte. Von 1950–55 entwickelte Edward T. Hall zusammen mit seinem Kollegen George L. Trager an diesem Institut interkulturelle Trainingsprogramme, die letztlich dazu führten, dass das heute so genannte Fach Intercultural Communication entstand. In der ersten bedeutenden Publikation Halls The Silent Language aus dem Jahre 1959 wird in der Einleitung eher beiläufig von »intercultural communication« gesprochen. Heute ist dies die Bezeichnung für ein wissenschaftliches Fach, das auch an deutschen Universitäten studiert werden kann. 170 Ein weiterer wichtiger Kontext für das Wort »intercultural« waren die neuen internationalen Organisationen wie die 1945 gegründete UNESCO, wo es in einem Sitzungsbericht von 1948 auftaucht. 171 Im Rahmen dieser Organisation gewann das Problem globalen Cha-

Vgl. Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer wissenschaftlichen Disziplin, hg. v. Moosmüller. 171 Erstmalig in: Records of the General Conference of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Third Session, Beirut 1948. 170

192 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

rakter, 172 da es politisch jetzt nicht mehr um eine einzelne kulturell heterogene Gesellschaft ging, sondern um die Weltgemeinschaft, die sich in der UNO versammelte. Auch wenn im Rahmen der Wissenschaften das Adjektiv »intercultural« nach dem 2. Weltkrieg vor allem in der Pädagogik eine fortgesetzte Anwendung fand, tauchte es auch in anderen Disziplinen immer wieder auf. In der Philosophie stammt einer der frühen Belege aus dem Jahr 1947, wo es heißt: »Current intercultural interest is reflected in C. A. Moore (ed.), Philosophy-East and West (1944), which is noteworthy for essays by Japanese scholars as well as for new information and analysis by scholars of distinction.« 173

Im folgenden Jahr erschien ein Text in der gleichen Zeitschrift mit dem Titel How Can the Philosophies of East and West Meet?, in dem es heißt: »What is the solution of the problem in intercultural philosophic understanding thus challenging us?« 174 In dieser Wendung wird die bereits geläufige Kombination »intercultural understanding« um das Wort »philosophic« erweitert, so dass sich hier bereits die Wendung »intercultural philosophy« nahelegt. Der nach meinem Wissen erste Beleg dafür stammt aus dem Jahr 1954. In einer Rezension zu dem Buch Making of the Mexican Mind von Patrick Romanell aus dem Jahr 1952 schreibt der Rezensent als abschließendes Urteil: »The final judgment, however, must be that the defects of Professor Romanell’s contribution are slight in comparison with the truly enormous service he has rendered to the cause of intercultural philosophy.« 175

Diese Wendung konnte sich jedoch in den USA in den nächsten Jahrzehnten gegen die Bezeichnung »comparative philosophy« 176 nicht durchsetzen. Das global ausgerichtete Programm wird bereits 1947 in Aufsätzen beschrieben: D’Andrea, World Education and UNESCO. D’Andrea spricht in seinem Text von »intercultural exchange of artists« (27) als einer wichtigen Aufgabe der UNESCO. Vgl. auch Niebuhr, The Theory and Practice of UNESCO, 1950. 173 Brightman, Philosophy in the United States 1939–1945, 399. Die in diesem Zitat erwähnte Publikation umfasst die Vorträge der ersten »East-West Philosophers Conference« auf Hawai’i aus dem Jahre 1939. 174 Burtt, How Can the Philosophies of East and West Meet, 602. 175 Buchbesprechung von Alexander zu: Romanell, Making of the Mexican Mind, 119. 176 Vgl. den vorherigen Text in diesem Buch. 172

193 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Auch wenn der vermutlich erste deutschsprachige Beleg für das Adjektiv »interkulturell« weit früher angenommen werden muss, konnte sich das Wort doch erst Mitte der 1960er Jahre langsam in der deutschen Sprache verbreiten. 177 Der eigentliche Durchbruch für das Adjektiv »interkulturell« und auch für das Substantiv »Interkulturalität« kann Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre beobachtet werden. Im Jahr 1990 erschien die erste Buchpublikation, in deren Titel das Wort »Interkulturalität« zu finden ist. 178 Erst ein Jahr später erscheint ein entsprechendes englischsprachiges Buch. 179 In der deutschen Sprache häufen sich seit dieser Zeit die Buchpublikationen zum Thema »Interkulturalität«. Eine ähnliche Zunahme lässt sich für den englischsprachigen Bereich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten. Im deutschen Sprachraum wurde seit dieser Zeit das Wort »Interkulturalität« in den politischen, gesellschaftlichen und medialen Alltagswortschatz implementiert. Wie sich die Geschichte des Wortfeldes »Interkulturalität« in den Wissenschaften und der Gesellschaft weiter entwickeln wird, ist heute noch nicht abzusehen. Der Diskurs scheint derzeit zu stagnieren, da er sich weiter ausdifferenziert hat durch andere konkurrierende Begriffe wie »Multikulturalität« und »Transkulturalität«, die in ihrer Adjektivform nur wenig jünger sind als das Adjektiv intercultural.

Maletzke, Interkulturelle Kommunikation und Publizistikwissenschaft, 1966; Hesse-Quack, Der Übertragungsprozess bei der Synchronisation von Filmen: Eine interkulturelle Untersuchung, 1967; Binder, Probleme interkultureller Beziehungen. Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Arbeit des Amazonas-Hospitals, Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, 1971; Rosental, Wechselbeziehungen zwischen der russischen und deutschen Psychiatrie vor 1917: ein Beitrag zur interkulturellen Psychiatrie, 1974; König, Die Familie der Gegenwart. Ein interkultureller Vergleich, 1974; Schweizer, Methodenprobleme des interkulturellen Vergleichs: Probleme, Lösungsversuche, exemplarische Anwendung, 1978. 1980 entsteht eine Zeitschrift mit dem Titel: Ausländerkinder. Forum für interkulturelles Lernen in Schule u. Sozialpädagogik, Forschungsstelle Ausländische Arbeiterkinder an der PH Freiburg. Im gleichen Jahr wird folgende Schriftenreihe gegründet: Konkrete Fremde. Interkulturell vergleichende Studien der Arbeitsgruppe Entwicklungsländer an der Universität Konstanz. 178 Interamerikanische Beziehungen. Einfluß – Transfer – Interkulturalität, hg. v. Breinig, 1990. 179 Interculturality and the historical study of literary translations, hg. v. Kittel u. Frank, 1991. Dieses Buch ist Band 4 der Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung. Es ist somit eher dem deutschen Kontext zuzuordnen. 177

194 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

3.1.2. Die Entstehung »multikultureller« Diskurse bis 1980 Das vermutlich erste Auftreten des Adjektivs multicultural geht auf das Jahr 1941 zurück. Es taucht in dem Roman von Edward F. Haskell mit dem Titel Lance. A Novel About Multicultural Men direkt im Titel auf. Der Roman ist nicht sonderlich bekannt geworden und gehört zu einer literarischen Strömung, die heute »ethnic Modernism« genannt wird. 180 Ich möchte an dieser Stelle zwei kleine Szenen zitieren, da dieses Buch vor allem im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannt ist. An einer zentralen Stelle sagt ein wichtiger Protagonist des Buches zu einer jungen Frau: »›You are very young, Margaret. You’ve lived twenty-four years, but you don’t know things that other people know at ten: They know that men in all climes and all times live by the narrow little things they know. They organize their societies by individual interest and family feeling and national patriotism and class solidarity and religious faith. This must be so and cannot be otherwise. Their contact has been with one language, one faith, and one nation. They are unicultural. You, Margaret and John, are like them, no different. You and thousands like you live by the things you know, just as they do. But we, being children of the great age of transportation and communication, have contacts with many languages, many faiths, and many nations. We are multicultural‹.« 181

In einer Schlüsselszene heißt es dann später in einer Gerichtssituation: »›Such a person,‹ he said, picking up a heavy legal volume, ›is bound to have a way of thinking and behaving not provided for in this written law, a law which was developed before fast trains, airplanes, and wireless; before ultramodern multicultural people‹.« 182

Mit diesen »multikulturellen Menschen« sind im Zusammenhang des Buches Personen gemeint, die nicht nur in einer Kultur aufgewachsen sind, sondern durch verschiedene kulturelle Herkünfte geprägt sind und sich somit nicht nur auf eine Kultur oder Nation festlegen lassen. Dieser Wortgebrauch von »multikulturell« in Bezug auf einzelne Menschen ist bisher in der deutschen Sprache unbekannt geblieben. In der englischen Sprache findet er sich hingegen immer wieder. In dem Aufsatz Beyond Cultural Identity: Reflections on 180 181 182

Vgl. Sollors, Ethnic Modernism. 1910–1950. Edward F. Haskell, Lance. A Novel About Multicultural Men, 1941, 320 f. Ebd., 331.

195 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Multiculturalism von Peter Adler aus dem Jahre 1977 heißt es zusammenfassend: »A new type of person whose orientation and view of the world profoundly transcends his or her indigenous culture is developing from the complex of social, political, economic, and educational interactions of our time. The various conceptions of an ›international,‹ ›transcultural,‹ ›multicultural,‹ or ›intercultural‹ individual have each been used with varying degrees of explanatory or descriptive utility. Essentially, they all attempt to define someone whose horizons extend significantly beyond his or her own culture.« 183

Gerade für Identitätskonzepte in der Psychologie, aber auch in der Philosophie, scheint hier eine Möglichkeit vorzuliegen, Identität ohne monokulturelle Festlegungen zu beschreiben. Im Jahr 1946 ist dann ein anderer, interessanter und heute ebenso wenig üblicher Wortgebrauch im Rahmen der Literaturwissenschaft zu belegen. In einem kleinen Text über zeitgemäßen Literaturunterricht heißt es: »Awareness of the cross-fertilization of cultures is another insight militating against provincialism that can be fostered through the study of literature. Interchange from society to society has been one of the important factors in cultural growth and enrichment. […] A reason frequently stated for studying the foreign works which have contributed to our own cultural heritage is that we shall thus inculcate a respect and sympathy for the peoples who produced these great writings: the Bible will demonstrate oneness in ethical and religious ideals with the Jews; Dante will lead to a sense of fraternity with the Italians; Homer, the Greeks; and so on. Such an increased appreciation and sympathy for specific peoples should surely be fostered. But should there not be an equal emphasis on the fact of our common indebtedness to a multi-national, or multicultural ancestry? The Bible, Homer, Shakespeare, Moliere, Goethe, Ibsen, and the others are not only bonds between us and the people whose national pride they are.« 184

Wenn in diesem Text von »multicultural ancestry« gesprochen wird, so ist damit ein Gedanke gefasst, der es ermöglicht, nicht nur die

Culture learning: Concepts, applications, and research, hg. v. Brislin, 25. Vgl. auch Lazo, The Making of a Multicultural Man. The Missionary Experiences of E. T. Williams. Kürzlich ist dieser Wortgebrauch erneut in der Psychologie aufgetaucht. Dort bezeichnet man mit der Wendung »multicultural personality« Menschen, die erfolgreich im Rahmen verschiedener Kulturen leben und diese in sich fruchtbar verbinden können: Encyclopedia of Multicultural Psychology, hg. v. Jackson, 326 ff. 184 Rosenblatt, Toward a Cultural Approach to Literature, 1946, 462 f. 183

196 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

Literatur anderer Kulturen als Vorläufer für gegenwärtige Entwicklungen anzusprechen. Auch die Kunst- oder Ethik-Traditionen könnten nach dieser Konzeption quer zu den geläufigen Traditionssträngen in verschiedenen Kulturentwicklungen wirksam werden. In der Kunst war dies bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa längst geschehen. 185 Beide Wendungen – »multikulturelle Persönlichkeit« und »multikulturelle Vorfahren« – sind heute in der Diskussion nicht geläufig, obwohl sie ein fruchtbares Potential für weiterführende Reflexionen bieten könnten. 186 Neben diesem heute kaum üblichen Sprachgebrauch ist in den 1940er Jahren auch die heute übliche Verwendung nachzuweisen, die »multikulturell« auf ganze Gesellschaften bezieht. Es ist wieder der Kontext der UNESCO, der den Sprachgebrauch begünstigt hat. So heißt es in einem Aufsatz von 1946: »It is now clear that UNESCO could perform an important function as a semantic clearinghouse. Its vitalizing concept of unity and its multicultural approach should enable us to fill in the blind spots of modern cultures and establish a new logic between the parts and the whole. We have not had such a logic before, although often we assumed it to be there.« 187

Nach diesem Auftakt wird der Wortgebrauch erst wieder Ende der 1960er Jahre virulent im Rahmen der Erziehungsdebatte in den USA und der Einwanderungsdebatte in Kanada. In einem Aufsatz zur Erziehungsdebatte aus dem Jahre 1969 heißt es: »Bilingual, bicultural education, with its focus on the linguistic and cultural needs of America’s multicultural population, is emerging as a potential type of educational curriculum. Since advocates present different perspectives on the educational needs of American children from cultures other than the

»Für mich setzt im Westen eine tiefgreifende Veränderung, der Beginn der Moderne ein, als die japanischen Holzdrucke auf einmal von neugierig bewunderten Gegenständen zu Objekten des Einflusses werden. […] Monet sammelte japanische Drucke, Matisse und Derain bevorzugten afrikanische Masken und Figuren. Aber van Gogh und Gauguin beschlossen, die Meister des Ukiyo-e-Drucks zu ihren Vorläufern zu machen, so wie Picasso entschied, dass eine Tradition im Völkerkundemuseum des Palais du Trocadero die passende Vergangenheit für Les Demoiselles d’Avignon darstellte.« Danto, Formen künstlerischer Vergangenheit – Ost und West, 152 f. 186 Beide Gedanken werden bereits bei Nietzsche in exemplarischer Form gefasst im Zusammenhang mit seiner Verwendung des Plurals »Kulturen«. Vgl. Elberfeld, Durchbruch zum Plural. Der Begriff der Kulturen bei Nietzsche. 187 Cherrington, A Dynamic UNESCO, 1946, 12. 185

197 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

middle-class Anglo-American culture, the underlying objective of this scheme must be examined.« 188

Bei den Diskussionen um multikulturelle Erziehung ist auffallend, dass die älteren Diskursstränge zur »interkulturellen« Erziehung nicht aufgenommen werden, sondern bereits wieder in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. 189 Das Adjektiv »multikulturell« und das Substantiv »Multikulturalismus« wurden dann aber vor allem durch die offizielle multikulturelle Politik in Kanada zu einem auch international beachteten Thema. Im Jahre 1971 wurde durch die Federal Multicultural Policy eine Entwicklung in Kanada angestoßen, die unter anderem bereits 1973 dazu führte, ein Ministry of Multiculturalism einzurichten, um multikulturelle Initiativen zu entwerfen und zu koordinieren. Diese Bewegung fand 1988 ihren Höhepunkt im Multiculturalism Act, in dem man Multikulturalismus als Charakteristik nationaler Politik in Kanada prinzipiell anerkannte und der 1988 vom Parlament beschlossen wurde. 190 Seit 2002 wird jährlich am 27. Juni der Canadian Multiculturalism Day begangen. 191 Im deutschen Sprachraum scheint der Gebrauch des Wortes »Multikulturalität« zurückgegangen zu sein, seit man vor allem in politischen Debatten die Vision dieses Konzeptes unter dem diskreditierenden Schlagwort »Multikulti« für gescheitert erklärt hat. 192 Ob das Wort »Multikulturalität« ähnlich wie das Wort »Postmoderne« Valencia, Bilingual/Bicultural Education. A Prospective Model in Multicultural America, 321. 189 Zentrale Publikationen für diesen Debatte sind: Baker, Multicultural training for student teachers, 1973; Baker, Multicultural education: Two inservice approaches, 1977; Banks, The African American Roots of Multicultural Education. 190 Immigration and the Rise of Multiculturalism, hg. v. Palmer, 1975; From ›Melting Pot‹ to Multiculturalism. The Evolution of Ethnic Relations in the United States and Canada, hg. v. Lerda; 1990. Multikulturelle Gesellschaff: Modell Amerika?, hg. v. Ostendorf, 1994; Multiculturalism and the American Self, hg. v. Boelhower, 2000; Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, 1990. 191 Für detaillierte Informationen vgl. http://canada.pch.gc.ca/eng/1449085266752 (9. 1. 2017). 192 In der Neuausgabe seines alten Buches reflektiert Leggewie in einem neuen Vorwort auf die Entwicklungen: Leggewie, Multi. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, 2011. Dort heißt es: »Der Attentäter von Oslo gab als Grund für seinen Massenmord an, er wolle sein Land und das christliche Europa vor dem Multikulturalismus bewahren. […] Eine seltsame Reaktion auf den Terroranschlag in einem liberalen Blatt war, man solle nun den Begriff Multikulturalismus endlich fallen lassen.« Ebd., 7. An anderer Stelle heißt es in der Neuauflage dann noch in einem Interview mit Leggewie: 188

198 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

weitgehend aus dem wissenschaftlichen Vokabular verschwindet oder ob man auch auf den älteren Wortgebrauch für neue, fruchtbare Beschreibungen zurückgreifen wird, ist bisher noch offen. Derzeit lässt sich feststellen, dass das Wort in Titeln von Büchern stark zurückgegangen ist. Sicher ist, dass uns das Wort als ein im 20. Jahrhundert entstandener Reflexionsbegriff und Indikator für kulturelle Sachfragen noch länger beschäftigen wird und mit seiner politischen Marginalisierung die Probleme, die damit angezeigt werden, weder gelöst noch verschwunden sind. 3.1.3. Die Entstehung »transkultureller« Diskurse bis 1980 Die transkulturellen Diskurse, die nach der bisherigen Lage der Belege in den 1940er Jahren beginnen, sind widersprüchlicher als die beiden bisher reflektierten Diskurse. Dies hängt vermutlich mit der Bedeutungsstruktur des Präfix »trans« zusammen. Die Grundbedeutungen sind in der lateinischen Sprache »hinüber«, »hindurch bzw. quer durch«, »darüber hinaus, jenseits«. Nach dieser Bedeutungslage kann »transkulturell« – egal ob in der deutschen, englischen oder französischen Fassung – »über das Kulturelle hinaus«, »quer durch das Kulturelle hindurch« oder »über dem Kulturellen stehend« bedeuten. Anders als in den beiden Präfixen »inter« und »multi«, die in sich eine pluralische Bedeutung tragen – »zwischen Verschiedenem«, »gemeinsam« bzw. »viele« –, bezieht sich das Präfix »trans« in dem genannten Adjektiv auf eine einheitliche Dimension, die entweder überstiegen oder durchdrungen wird. In der substantivierten Form, die erst in neuerer Zeit aufgekommen ist, heißt das Wort »Transkulturalität«. Da das Nomensuffix »-ität« Zustände bezeichnet, wäre es ausgehend von der Wortbildung naheliegend, dass »Transkulturalität« entweder den Zustand benennt, der über das Kulturelle hinausgeht, oder den Zustand, in dem das Kulturelle insgesamt von etwas durchdrungen wird. Beide Bedeutungen lassen sich so verstehen, dass möglicherweise alle Vielheit des Kulturellen überstiegen oder durchdrungen wird. Wenn man mit diesem Befund an die Belegstellen für das Adjektiv bis Ende der 1970er Jahr herangeht, so zeigt sich genau dieser Wortgebrauch. Man verweist mit der Be-

»MultiKulti hat bei uns eine symptomatische Konversion durchlaufen: vom Schmusewort zum Schimpfwort«, 193.

199 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

zeichnung »transcultural« auf eine universale Ebene jenseits des Kulturellen und reagiert damit möglicherweise auf den Kulturrelativismus in der damaligen Ethnologie. Die bisher erste Belegstelle für das Adjektiv »transcultural« geht auf das Jahr 1944 zurück. Dort heißt es in einer Rezension zu einem sozialpsychologischen Buch von Cora Dubois: »The final section of the volume consists of four chapters, each one devoted to results of a particular psychological test believed to have transcultural value.« 193 Von Dubois selbst wird das Adjektiv nicht verwendet. Sie spricht vielmehr von »cross-cultural comparisons« 194, durch die sie zu kulturenübergreifenden Ergebnissen in ihren Forschungen kommen möchte. Auch wenn Dubois das Wort nicht verwendet, so bestätigt aber die Wendung »transcultural value« in der Rezension die gerade entwickelte Annahme für die Wortbedeutung. Denn bei den Forschungsergebnissen soll es sich um universal anwendbare Ergebnisse handeln. Erst in den 1950er Jahren verbreitet sich das Adjektiv langsam in der Psychologie und der Philosophie. Ich werde zunächst die psychologische Linie verfolgen und dann die philosophische. Im Jahre 1956 erscheint ein der psychiatrischen Forschung gewidmeter »Newsletter« mit dem Titel Transcultural Research in Mental Health Problems. Ab 1964 erhielt die neue Serie dann den Titel Transcultural Psychiatric Research Review, die bis heute an der Abteilung Social and Transcultural Psychiatry der McGill University in Montreal erscheint. 195 Seit dieser Zeit ist »Transcultural Psychiatry« ein fester Begriff, der auch heute noch verwendet wird. 1959 wurden die transkulturellen Forschungen dieser Zeit wie folgt beschrieben: »The still unresolved question of what is abnormal cross-culturally speaking appears several times in the period under review. One tendency favors a transcultural or ›metaethnographic‹ conception of abnormality.« 196

Der Begründer der genannten Zeitschrift, Eric D. Wittkower, schreibt im Jahr 1965 in einem Buch mit dem Titel Transcultural Psychiatry zu seiner Arbeit:

Buchbesprechung von McCord, 1944, 226. Die Wendung ist zur Zeit bis auf das Jahr 1935 zurückzuverfolgen: Dollard, Needed Viewpoints in Family Research, 112. 195 Vgl.: http://www.mcgill.ca/tcpsych/publications/tprr (9. 1. 2017) 196 Honigmann, Psychocultural Studies, 1959, 70. 193 194

200 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

»I define my own position in the fields of cultural and transcultural psychiatry as the contribution which I, as a psychiatrist, can make to the understanding of mental abnormality against different cultural backgrounds. […] Methodologies of transcultural psychiatric research consist of application of the same investigative technique to persons of contrasting cultures.« 197

Im Jahr 1971 wird Wittkowers Position dann in dem ersten deutschsprachigen Buch mit dem Titel Transkulturelle Psychiatrie wie folgt beschrieben: »Nach Wittkower […] stellt die transkulturelle Psychiatrie den Zweig der sozialen Psychiatrie dar, der sich mit dem kulturellen Aspekt der Entstehung, Häufigkeit, Form und Therapie der psychischen Störungen in verschiedenen Kulturen befaßt. Darunter fällt auch die vergleichende Betrachtung, für die im Englischen der Terminus ›crosscultural‹ gebräuchlich ist, ins Deutsche wohl am besten mit ›interkulturell‹ zu übersetzen ist.« 198

Bis auf das letzte deutschsprachige Zitat wird das Wort »transcultural« als etwas über das Kulturelle Hinausgehende bzw. durch die Verschiedenheit des Kulturellen Hindurchgehende verstanden. Im letzten Zitat wird dann die Verschiedenheit der Kulturen in den Vordergrund gerückt, wobei nicht ganz klar wird, ob es auf die Verschiedenheit der Kulturen ankommt oder auf etwas, das diese Verschiedenheit überbrückt. Im philosophischen Begriffsgebrauch liegen die Dinge noch klarer. In einem Text über Mythen und Wahrheit heißt es 1955: »Normative, critical, and scientific thought provides the only self-correcting means of combating the diffusion of myth, but it may do so only on condition that we retain a firm and uncompromising faith in the integrity of reason and in the transcultural validity of the scientific enterprise.« 199

»Transkulturelle Gültigkeit« bezeichnet eindeutig etwas über das Kulturelle Hinausgehende im Sinne einer universalen Ebene. Im Jahr 1956 zeigt kein geringerer als Arthur C. Danto in einer Rezension einen ganz ähnlichen Wortgebrauch: »This does not, however, commit us either to ›ethical nihilism‹ or to ›cultural relativism,‹ both of which positions the author repudiates on the grounds that there are in fact universal, transcultural values, termed by him

197 198 199

Wittkower, Recent Developments in Transcultural Psychiatry, 7 f. Pfeiffer, Transkulturelle Psychiatrie. Ergebnisse und Probleme, 3. Bidney, Myth, Symbolism, and Truth, 1955, 392.

201 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

›authentic‹ or ›rational,‹ which express certain ›primal drives‹ of all men everywhere and always.« 200

Noch deutlicher kommt es 1959 bei einem anderen Autor zum Ausdruck: »Why should we turn to science as a foundation for ethical norms? Because, among the many aspects of cultures – religion, language, art, law, – science is trans-cultural in the objectivity of its results. […] So I suggest as a starting point for the discovery of transcultural ethical norms the practice of science.« 201

In einem Text von 1972 heißt es dann immer noch im gleichen Tenor unter dem Titel Transcultural Philosophy: »While waiting for a plane at Kennedy Airport an old lady, a chemist by profession, thus commented on my interest in the transcultural problem. ›Chemists all over the world can understand one another wonderfully. Why do you not apply to philosophy the clarity and precision of our methods?‹ The implications of her remark underline the importance of the transcultural problem.« 202

Diese Belege sollten genügen, um zu verdeutlichen, dass das Wort »transcultural« in fast allen angeführten Fällen eine universale Ebene bezeichnet, die die Verschiedenheit des Kulturellen übersteigt bzw. transzendiert. 203 Buchbesprechung von Danto zu Feuer, Psychoanalysis and Ethics, 120. Schmidt, Ethical Norms in Scientific Method, 1959, 645 f. 202 Perez Valera, Toward a Transcultural Philosophy, 1972, 39. In der Fortsetzung des Textes lautet die erste Überschrift: »Zen Enlightenment in Transcultural Categories«. Ebd., 175. 203 Der neuere Wortgebrauch in der deutschsprachigen Philosophie will gerade diese Bedeutung nicht in den Vordergrund stellen. Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, 5–20. Welsch hat diesen Aufsatz weiter ausgearbeitet und in verschiedenen Versionen publiziert. Welsch schreibt Herder den Gebrauch des Plurals »Kulturen« zu, was schlicht falsch ist. Herder verwendet den Plural »Kulturen« an keiner Stelle. Die äußerst schlechte und an bestimmten Stellen falsche Rekonstruktion des Kulturbegriffs durch Welsch hat inzwischen in dieser falschen Form Schule gemacht. Viele Autoren und Autorinnen schreiben von Welsch ab oder nehmen ihr Wissen aus Sekundärquellen zu Welsch auf, ohne nachzuverfolgen, woher die Behauptungen stammen. Ausgehend von den verschiedenen Versionen seines Aufsatzes zur Transkulturalität hat sich die Kritik an Herder und seiner vermeintlichen Vorstellung von den Kulturen so verselbständigt, dass inzwischen ohne Bezug auf Welsch dieser Topos weiter reproduziert wird. Offenbar betreibt man hier Wissenschaft vom Hörensagen und hält es nicht für nötig, die alten Texte selbst zu lesen. Die Verbreitung des Adjektivs »transkulturell« in der Deutung von Welsch ist 200 201

202 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

Als das Adjektiv »transcultural« in den 1940er Jahren aufkam, war bereits kurz zuvor ein Begriff geprägt worden, der in einer neueren deutschsprachigen Publikation mit dem Begriff »Transkulturalität« gleichgesetzt wird. 204 Es handelt sich um den 1940 erstmalig in einer Publikation auftauchenden spanischsprachigen Begriff »transculturación« von Fernando Ortiz. 205 Der weltbekannte Ethnologe Malinowski schrieb zu dem Buch ein Vorwort und verwendete den Begriff dann kurze Zeit später in einer englischsprachigen Publikation: »We shall, in a moment, have a closer look at the general principles of this cultural transformation – or transculturation, as we might call it – following the great Cuban scholar, Dr. Fernando Ortiz, whose name may well be mentioned here, for he is one of the most passionate friends of the Africans in the New World and a very effective spokesman of their cultural value and sponsor of their advancement.« 206

Wie Malinowski interpretierend hinzufügt, verweist transculturation auf »kulturelle Transformationen« oder, wie man es in der deutschen Sprache noch einfacher sagen könnte, auf Kulturwandel. Der Begriff hat sich nicht wirklich durchgesetzt und verbreitet, kommt aber immer wieder auch in deutschsprachigen Publikationen vor. 207 Bei der bedenkenlosen Gleichsetzung von Transkulturalität und Transkulturation 208 werden vor allem die verschiedenen Bedeutunleider ein Lehrstück für schlechte Wissenschaftskultur. Dies ist gerade darum umso schlimmer, da die von Welsch gestellten kritischen Fragen durchaus berechtigt und wichtig sind. Um die Kritik aber zur vollen Entfaltung zu bringen, ist eine gründliche Rekonstruktion verschiedener Semantiken des Kulturellen nötig. 204 Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, hg. v. Allolio-Näcke et al., 343. 205 Dieser Begriff geht seinerseits auf den Begriff Akkulturation zurück, den er ersetzen soll. Das Wort Acculturation war bereits im 19. Jahrhundert gebildet worden, um einen Kulturwandel zu bezeichnen, der durch den Kontakt mit anderen Kulturen zustande gekommen ist: »Dynasties were changed from within rather than from without, and progress was autogenous rather than by acculturation.« Powell, From Barbarism to Civilization, 1888, 112. Der zitierte Text ist zudem einer der ersten, in dem in der englischen Sprache der Plural cultures (112) verwendet wird. Der Begriff der Akkulturation erhielt vor allem durch das Buch von Herskovits, Acculturation. The Study of Culture Contact, 1938, eine größere Verbreitung. 206 Malinowski, The Pan-African Problem of Culture Contact, 1943, 650. 207 Husmann, Transkulturation bei den Nuba: ethnohistorische Aspekte des kulturellen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert, 1984; Leims, Die Entstehung des Kabuki. Transkulturation Europa – Japan im 16. und 17. Jahrhundert, 1990. 208 Für das Substantiv »Interkulturalität« ist Ähnliches zu beobachten. Bereits 1980 wurde das englische Wort »interculturation« gebildet: Blomjous, Development in

203 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

gen der Nomensuffixe »-ität« und »-ation« nicht beachtet. Das erste bezeichnet – wie bereits weiter oben erwähnt – einen Zustand und das zweite einen Vorgang oder eine Handlung. In dem Wort Transkulturation erhält somit das Präfix »trans« eine andere Bedeutung als in dem Wort Transkulturalität. Im Zusammenhang mit dem Nomensuffix -ation gewinnt das Präfix »trans« eine dynamische Komponente, ähnlich wie in dem Wort Transformation. Festzuhalten bleibt, dass im älteren Wortgebrauch von transkulturell die Ebene einer universalen Geltung im Zentrum der Bedeutung steht. Es ist erstaunlich, wie reich und phantasievoll die Wortbildungen sind. Zum einen entstammen sie einzelnen Wissenschaftsbereichen, wo sich dann entsprechende Forschungstraditionen entwickelt haben, ohne dass diese weiter aufeinander reagieren oder überhaupt Notiz voneinander nehmen. Da sich der über verschiedene Bereiche erstreckende Sprachgebrauch weder wissenschaftlich durch einfache Definitionen regeln lässt, noch politische Sprachverbote helfen, sehen wir uns heute mit einem Überangebot an Bezeichnungen konfrontiert, was die Arbeit an verschiedenen Fragestellungen nicht erleichtert. Diese Situation wird dadurch erschwert, dass sich die verschiedenen Bezeichnungsstränge bekämpfen oder ignorieren. Argumente gegen die jeweils andere Bezeichnung lassen sich leicht finden. Zudem spielen politisch motivierte Angriffe – wie z. B. auf das Wort »Multikulturalität« und seine Kurzform »Multikulti« – eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Dynamik seiner Verwendung. Die Unübersichtlichkeit, Brisanz und Dynamik des Wortfeldes zeigt aber auch, dass die Probleme und Fragestellungen insgesamt die Menschen sehr bewegen, unabhängig davon, ob sie es unter den Bezeichnungen interkulturell, multikulturell oder transkulturell tun. Dies soll nicht bedeuten, dass es egal wäre, wie man die Sachverhalte bezeichnet. Vielmehr ist es in der gegenwärtigen Lage von zentraler Bedeutung, immer wieder zurückzublicken auf die Entwicklung des Wortes Kultur und seiner Ableger, um die damit verbundenen Fragestellungen auch für die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften in eine sinnvolle und historisch fundierte Perspektive rücken zu können. Eine ausführliche Diskursanalyse der verschiedenen BeMission Thinking and Practice 1959–1980: Inculturation and Interculturation, 1980. 1981 ist das deutsche Wort »Interkulturation« zu finden: Endruweit, Integration oder Interkulturation?, 1981. Weder die englische noch die deutsche Wortbildung konnte sich in den Wissenschaften durchsetzen.

204 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

zeichnungstraditionen könnte hier sicher helfen und bleibt bis heute ein Forschungsdesiderat. Im Folgenden werde ich paradigmatisch allein die Linien des Wortes »Interkulturalität« in verschiedenen Wissenschaften verfolgen, um zu verdeutlichen, wie unter diesem Stichwort die Ordnungen des Wissens in Europa herausgefordert wurden und sich verschiedene Neuerungen und Perspektiven daraus ergeben haben. Damit möchte ich nicht behaupten, dass allein das Wort »Interkulturalität« weiterverfolgt werden sollte. Wie bereits mehrfach deutlich geworden ist, sollte es nicht vorrangig darum gehen, bestimmte Wörter oder Begriffe zu verteidigen, sondern darum, Sachfragen im Kontext der Globalisierung auszuloten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger soll der folgende Abschnitt leisten.

3.2. »Interkulturalität« als Methodenbegriff in verschiedenen Wissenschaften Die Karriere des Wortes »Interkulturalität« hat in den 2010er Jahren einen Höhepunkt erlebt, durch den seine anhaltende Bedeutung in Wissenschaft und Gesellschaft unterstrichen worden ist. In der 21. Auflage des Brockhaus von 2006 ist es, obwohl es in den Auflagen zuvor nicht verzeichnet war, mit einem eigenen Artikel vertreten und direkt zum »Schlüsselwort« erhoben worden. Ein weiterer Höhepunkt bestand darin, dass es an herausgehobener Stelle in der Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt der UNESCO auftaucht, die nach jahrelangen Diskussionen am 18. März 2007, nachdem bereits über 50 Staaten die Konvention ratifiziert haben, in Kraft getreten ist. 209 In Artikel 4 Punkt 8 heißt es in der deutschen Übersetzung: »8. Interkulturalität: ›Interkulturalität‹ bezieht sich auf die Existenz verschiedener Kulturen und die gleichberechtigte Interaktion zwischen ihnen sowie die Möglichkeit, durch den Dialog und die gegenseitige Achtung gemeinsame kulturelle Ausdrucksformen zu schaffen.«

Abgesehen von der inhaltlichen Bestimmung, die getroffen wird, ist mit dem Auftauchen in diesem Dokument eine gewichtige sprachpolitische Bedeutung verbunden. Denn die Konvention erscheint als Urfassung in verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Spa209

Deutschland hat sie am 12. März 2007 ratifiziert.

205 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

nisch, Russisch, Arabisch und Chinesisch, darüber hinaus auch in allen anderen Sprachen der Länder, die die Konvention ratifizieren. Selbst wenn es das Wort zuvor in bestimmten Sprachen noch nicht gegeben haben sollte, wird es durch die Übersetzung des Textes gebildet werden müssen. Dies bedeutet für die Verbreitung des Wortes in verschiedenen Sprachen einen kaum zu unterschätzenden Schub. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen soll im Folgenden der Begriff Interkulturalität geschärft werden. Das Präfix »inter-« verbindet verschiedene Bedeutungsebenen: Zeitliches Zwischen (Intermezzo, intermenstrual), räumliches Zwischen (intergalaktisch, interozeanisch), Gegenseitigkeit (interaktiv, interagieren, interdependent), das Zwischen von zwei oder mehreren Polen (interpersonal, interindividuell, international), die Kombination aus Verschiedenem (intermodal), Verbindung, Gemeinsamkeit (internationale Symbole), Vermittlung (intervenieren), Zusammenarbeit (interdisziplinär). Die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten der Wörter »interkulturell« und »Interkulturalität« erschließen sich somit erst, wenn das »inter« zumindest im Sinne von »zwischen«, »Wechselseitigkeit/Gegenseitigkeit«, »Vermittlung«, »Zusammenarbeit« und »Gemeinsamkeit« verstanden wird. 210 Erst dann lässt sich eine Wissensdynamik profilieren, die auf der einen Seite mit kulturellen Differenzen rechnet – auf welchen Ebenen auch immer – und auf der anderen Seite die mögliche gemeinsame und vermittelnde Zusammenarbeit betont. Es ist insbesondere die zuletzt genannte Ebene, die interkulturelle Prozesse von der vergleichenden Forschung unterscheidet. Die Bedeutung des Präfix inter im Sinne von zwischen verbindet die vergleichenden Wissenschaften zwar mit dem Vollzug der heute so genannten Interkulturalität. Zugleich setzt das Programm interkultureller Wissenschaftsentwicklung aber durch die anderen Bedeutungsebenen wesentlich anders an. Die Differenz zum vergleichenden Vorgehen, das zumeist von einzelnen Forschern durchgeführt wurde und wird, sei an einem Beispiel aus dem 19. Jahrhundert verdeutlicht. Als sich 1893 in Chicago auf dem ersten Weltparlament der Religionen hohe Würdenträger verschiedener Religionen der Welt trafen, sprengte das die einfache vergleichende Perspektive der Religionswissenschaft. Auf dem Weltparlament waren die Vertreter der In folgendem Aufsatz werden »zwischen«, »wechselseitig« und »gemeinsam« als die Hauptbedeutungsebenen herausgearbeitet: Scheiffele, Interkulturelle germanistische Literaturwissenschaft und Komparatistik. Eine Abgrenzung.

210

206 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

verschiedenen Religionen nicht mehr Objekte des Vergleichs, vielmehr ergriffen sie als selbstbewusste Gesprächspartner das Wort, das ein wechselseitiges Verstehen und ein gemeinsames Gespräch forderte. Bis sich ähnliche Gesprächssituationen auch in anderen Geisteswissenschaften ergaben, dauerte es noch geraume Zeit. Vorreiter waren sicher japanische Wissenschaftler, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts europäische Wissenschaftstraditionen im Zusammenhang mit den eigenen Traditionen des Wissens weiterentwickelten. 211 In diesem Sinne ist der Sozialwissenschaftlerin Shalini Randeria zuzustimmen, die für das Fach Soziologie bemerkt: »Von den indischen / nicht-westlichen Wissenschaftlern wird eine doppelte hermeneutische Leistung verlangt, [nämlich die eigene und die fremde Tradition zu studieren, eine Leistung] die man sich auf westlicher Seite selbst nicht zumutet.« 212 Denn: »Die Beschäftigung mit der Soziologie einer nicht-westlichen Gesellschaft bedeutet mehr als nur eine weitere, regionale Spezialisierung innerhalb der Sozialwissenschaften. […] Es gilt vielmehr, empirisch wie theoretisch neue Konsequenzen zu ziehen.« 213

Diese Beobachtung gilt nicht nur für die Soziologie, sondern mit Nachdruck auch für andere Fächer wie die Philosophie. Im Kontrast zu den vergleichenden Wissenschaften, die ein breites Grundlagenwissen der Verschiedenheit und Gemeinsamkeit in verschiedenen Sachfeldern bereitstellen, überführt der Vollzug von Interkulturalität das Zwischen in einen wechselseitigen Verstehensund Auseinandersetzungsprozess und ein gemeinsames Fragen. Die ehemaligen Objekte des Vergleichs werden zu Subjekten des Gesprächs. Dies bedeutet auch, dass von keiner Position mehr das Ganze zu überblicken ist, sondern an den Rändern, aber auch inmitten des eigenen Horizontes, das Nichtverstandene und Fremde wirksam bleiben kann. 214 Das nach »zwischen«, »Wechselseitigkeit/Gegenseitigkeit«, »Vermittlung«, »Zusammenarbeit« und »Gemeinsamkeit« differenzierte »inter« im Vollzug der Inter-kulturalität hat weitreichende Bedeutung für die Ordnung des Wissens im Rahmen der Wissenschaften. Nimmt man alle Ebenen ernst, so ist das Wissen und Verstehen Für die Philosophie vgl. Japan und Heidegger, hg. v. Buchner. Randeria u. Fuchs, Konfigurationen der Moderne: Zur Einleitung, 9 f. 213 Ebd. 214 Vgl. zum Motiv des »Fremden«: Waldenfels, Der Stachel des Fremden; ders., Topographie des Fremden – Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. 211 212

207 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

in den einzelnen Wissenschaftstraditionen nicht in der Weise universal, dass es keine grundlegend anderen Verstehensalternativen mehr geben könnte. Zur Vielfalt der bereits in jeder einzelnen Wissenschaftstradition vorhandenen Ansätze tritt die Vielfalt der verschiedenen Wissenschafts- und Wissenstraditionen, wodurch die Art der Differenz sich erheblich verschiebt und schwerer zu durchschauen ist. »Interkulturalität« kann in diesem Sinne selbst zu einer Forschungsperspektive für die Wissenschaften in Europa werden, die in der interkulturellen Auseinandersetzung erneuert und ergebnisoffen reflektiert werden können. Diese, – auch an europäischen Universitäten zunehmend realisierte Perspektive – sei im Folgenden anhand ausgewählter Wissenschaften (Medizin, Recht, Ästhetik, Philosophie) exemplarisch belegt und angedeutet. Bei jeder der angeführten Wissenschaften gibt es Eigenheiten zu beachten, die das interkulturelle Auseinandersetzungsprofil bestimmen. Die Medizin gehört in Europa seit langem zu den Wissenschaften, obwohl sie sich mit der Gesundheit des Menschen vor allem in praktischer Hinsicht beschäftigt, ohne dies von den theoretischen Forschungen abtrennen zu können. In der Rechtswissenschaft sind die praktischen Belange der Rechtsumsetzung ebenso von starker Bedeutung, so dass sie sich aus guten Gründen nicht allein als eine theoretische Wissenschaft entwickeln kann. Die Geschichtswissenschaft hat längst eingesehen, dass sie selbst Teil der geschichtlichen Prozesse ist und somit keinen Standpunkt beziehen kann, der jenseits der kulturellen Prägungen liegt. Die Ästhetik, auch wenn sie zu Anfang bei Baumgarten als rein philosophisches Projekt entworfen wurde, hat sich in ihren theoretischen Entwürfen sehr schnell mit den Entwicklungen in den Künsten verbunden, denen sie im 20. Jahrhundert häufig aufgrund der vielen wegweisenden interkulturellen künstlerischen Prozesse hoffnungslos hinterherzuhinken scheint. Die Philosophie hat seit dem 18. Jahrhundert immer stärker auf ihre Sprachabhängigkeit reflektiert. Erst im 20. Jahrhundert wurde aber deutlich, wie sehr z. B. die chinesische Sprache und ihre Traditionen der Reflexion eine grundsätzliche Herausforderung für die Philosophie in Europa sein kann. Es scheint mir von zentraler Bedeutung zu sein, die genannten Differenzen in den verschiedenen Wissenschaften im Rahmen der interkulturellen Wissenstransformation im Auge zu behalten, so dass im Grunde von interkultureller Transformation der Wissenschaften nicht im Allgemeinen die Rede sein kann, sondern

208 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

diese sich immer in konkreten Wissenskontexten mit je eigenem Profil vollzieht. 215 3.2.1. Medizin interkulturell Schon in den frühesten Zeiten der europäischen Universität bildete die Medizin neben der Theologie, Philosophie und dem Recht eine der vier Fakultäten. Die Medizin gehört aber nicht erst seit der Gründung von Universitäten zum Grundbestand des Wissens vom Menschen in Europa, sondern spielte bereits bei den Griechen eine zentrale Rolle, auch für die Philosophie. Ganz Ähnliches zeigt sich in asiatischen Traditionen wie der chinesischen. Die chinesische Medizin hat eine mit der chinesischen Philosophie eng verbundene eigenständige Sicht von Gesundheit und Krankheit des Menschen entwickelt, die bis auf den heutigen Tag nicht nur in China weit verbreitet ist. 216 Dieses Beispiel zeigt uns heute immer deutlicher, dass es einen eigenen und unabhängigen Ansatz für das Bild von der Gesundheit des Menschen gibt, der sich inzwischen auf seine Weise neben der naturwissenschaftlich orientierten »westlichen« Medizin behaupten kann. Lange wurde die chinesische Medizin in Europa und auch in China mit dem Verweis auf das Fehlen »wissenschaftlicher Nachweisbarkeit« zurückgewiesen. Inzwischen haben sich aber die Wirkungen als so positiv und »kostengünstig« erwiesen, dass man auch ohne die zum medizinischen Standard gehörigen naturwissenschaftlichen Nachweise die Methoden der chinesischen Medizin zu akzeptieren gelernt Dass es sich hierbei um ein sehr viel breiteres Feld handelt, als man gewöhnlich denkt, zeigt der Aufsatz von Földes, Interkulturelle Linguistik. Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata (Wien 2003, http://www.foeldes.eu/sites/ default/files/Interkult.Linguistik.pdf, Abruf 20. 3. 2017). Er führt 28 Wissensfelder (inklusive des Aufsatztitels 29) mit dem Adjektiv interkulturell auf: interkulturelle Germanistik, interkulturelle Literaturwissenschaft, interkulturelle Philosophie, interkulturelle Medienwissenschaft, interkulturelle Theologie, interkulturelle Psychologie, interkulturelle Pädagogik, interkulturelle Sprachdidaktik, interkulturelle Hermeneutik, interkulturelle Publizistik, interkulturelle Stilforschung, interkulturelle Geschlechterforschung, interkulturelle/transkulturelle Psychiatrie, interkulturelle Soziologie, interkulturelle Ethik, interkulturelle Ästhetik, interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Wissenskommunikation, interkulturelle Ökonomie, interkulturelles Management, interkulturelles Marketing, interkulturelle Ethnologie, interkulturelle Mediation, interkulturelle Ikonographie, interkulturelles Strafrecht, interkulturelles Weltkriminalrecht, interkulturelle Depressionsforschung, interkulturelle Zahnmedizin. 216 Porkert, Die chinesische Medizin; Unschuld, Traditionelle Chinesische Medizin. 215

209 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

hat. Die inzwischen existierenden Studien über die Wirksamkeit bei Schmerztherapien ergeben zwar erste positive naturwissenschaftliche Nachweise der Wirkung, sie können aber das Spektrum der Wirkung insgesamt nur anhand von Wahrscheinlichkeiten beschreiben. Am Beispiel der chinesischen Medizin zeigen sich nicht nur die Grenzen sogenannter »naturwissenschaftlicher« Methoden und deren Erklärungsparadigmen, sondern auch die Möglichkeit, auf einer anderen kulturellen Basis Universalisierungen durchzuführen. Im Falle der chinesischen Medizin basiert die Universalisierung nicht primär auf naturwissenschaftlichen Methoden. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass sie prinzipiell auch ohne die entsprechenden Nachweise bei allen Menschen – seien es Europäer, Afrikaner oder andere – mit Erfolg angewendet werden kann. 217 Die Unterschiede, die sich an diesen beiden Traditionen der Medizin zeigen, reichen bis in die grundlegenden kulturellen, sozialen und philosophischen Voraussetzungen des Menschseins selbst. Dies war vermutlich auch der Grund, warum die chinesische Medizin, als sie vermittelt über Japan im 16. und 17. Jahrhundert in Europa bekannt wurde, 218 bald wieder in Vergessenheit geriet. Man hielt sich selbst für »modern« und verortete die fremdartigen Vorgehensweisen auf der Stufe eines veralteten Typs von Medizin, den man gerade überwunden zu haben meinte. Seit etwa dreißig Jahren verbreitet sich die chinesische Medizin mehr und mehr auch in Europa. Die erste deutsche Klinik für TCM wurde bereits 1991 in Bad Kötzting (bei Regensburg) gegründet. Diese Klinik hat sich inzwischen nachhaltig etabliert und konnte 2016 ihr 25-jähriges Bestehen feiern. 219 2010 wurde ein Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin am Universitätsklinikum HamburgEppendorf gegründet. 220 Seit 2012 bietet die Universität Witten/Herdecke ein Studienprogramm Chinesische Medizin an. 221 Im Jahr 2015 erschien von Lin Cong das Buch Chinesische psychosomatische Medizin. In seiner Darstellung verknüpft der Autor naturwissenschaftliche Argumente mit denen aus dem Bereich der traditionellen chineHsu, Chinese medicine in East Africa and its effectiveness, 22. Michel, Far Eastern Medicine in Seventeenth and Early Eighteenth Century Germany; Michel, Engelbert Kaempfer und die Medizin in Japan. Beide Aufsätze sind im Internet zugänglich. 219 http://www.tcm-klinik-koetzting.de/tcmde/index.php (9. 1. 2017) 220 http://www.tcm-am-uke.de/ (9. 1. 2017) 221 http://www.uni-wh.de/gesundheit/lehrstuhl-medizintheorie/lehre/studienpro gramm-chinesische-medizin/ (9. 1. 2017) 217 218

210 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

sischen Medizin (= TCM). Er selbst studierte TCM und europäische Schulmedizin, so dass beide Ansätze nicht mehr gegeneinanderstehen, sondern von innen her miteinander verflochten werden, was beispielsweise in Japan und China schon seit längerem gängige Praxis ist. Die Entwicklung in Deutschland scheint mir ein gewichtiges Anzeichen dafür zu sein, dass die Ordnung des Wissens im Bereich der Medizin sich auch bei uns langsam, aber signifikant zu verschieben beginnt. Möglicherweise ist es eine Frage der Zeit, bis Elemente chinesischer Medizin auch in der europäischen Medizinausbildung zum Standard werden. Was dies für die Medizin insgesamt für Auswirkungen hätte, ist nicht abzusehen. Die derzeit gebräuchliche Rede von »Komplementärmedizin« wird für die Auseinandersetzung in Zukunft sicher nicht ausreichen, da die Fragestellungen bis in das philosophische Selbstverständnis auch der europäischen Medizin selbst hinabreichen. 222 Allein um das Problempotential zu sichten, bedürfte es erheblicher interdisziplinärer Anstrengungen. Dies gilt auch für die folgenden Beispiele. 3.2.2. Recht interkulturell Seit etwa drei Jahrzehnten ist in Deutschland eine intensive Diskussion zu Möglichkeiten außergerichtlicher Streitbeilegung im Zivilrecht zu beobachten. Versucht man die Diskussion zu strukturieren, so stößt man bald auf verschiedene Begriffe, die sich teilweise überschneiden, wie Mediation, ADR (Alternative Dispute Resolution), Schlichtung, Vergleich usw. Die Weiterentwicklung von Theorie und Praxis in diesem Bereich wurde im 20. Jahrhundert aus verschiedenen Motivationen heraus vor allem in den USA und Japan vorangetrieben. Tatsache ist, dass in Deutschland seit 2002 das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung in Kraft getreten ist, in der zum Beispiel »Streitschlichtung« und »Mediation« zu Schlüsselqualifikationen erhoben wurden. Die veränderte Situation von Juristen wird in einem Papier für die Justizministerkonferenz der Länder aus dem Jahr 2001 auf den Punkt gebracht: Bruchhausen, Medizintraditionen in der Weltgesellschaft. Gesundheit, Krankheit und Heilung im Kulturvergleich. In die vergleichende Perspektive muss sicher auch die alte indische Tradition des Ayurveda einbezogen werden. Vgl. hierzu auch die Bemühungen im Medicinicum Lech (Österreich), die sich bereit seit einigen Jahren mit den Verbindungen von Ayurveda, Traditioneller Chinesischer Medizin und westlicher Schulmedizin befassen.

222

211 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

»Die Berufswelt der Juristinnen und Juristen hat sich verändert: In den Vordergrund sind rechtsgestaltende Tätigkeiten der Anwälte, der Wirtschaftsjuristen und der Verwaltungsjuristen getreten. Streitvermeidung gewinnt, Streitentscheidung verliert an Bedeutung; die Anforderungen an die interdisziplinären Fähigkeiten und Kenntnisse der Juristinnen und Juristen, wie Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften, Rhetorik, Verhandlungsmanagement, Streitschlichtung oder Mediation, wachsen. Neben der nationalen Rechtsordnung ist zunehmend supranationales und internationales Recht anzuwenden: Nicht nur im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr wird der vergleichende Blick auf fremde Rechtsordnungen und fachspezifische Fremdsprachenkenntnisse immer wichtiger. Plausibilität und Akzeptanzfähigkeit rechtlicher Entscheidungen setzen voraus, dass sich Juristinnen und Juristen auch weiterhin der geschichtlichen, philosophischen, sozialen und wirtschaftlichen Bezüge der zentralen Gebiete unserer Rechtsordnung bewusst sind.« 223

Nach wie vor dominiert – zumindest in Deutschland – im Rahmen der juristischen Konfliktbewältigung das Gerichtsverfahren, in dem es gewöhnlich einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Bereits Ende der 1980er Jahre konnte man aber in Japan auf deutschsprachige Juristen treffen, die an dortigen Universitäten zum japanischen Schlichtungsrecht forschten. Hochrangige Kontakte gehen aber noch weiter zurück: »Der Verfasser [Dieter Strempel, ehemaliger Ministerialrat im Bundesjustizministerium der Bundesrepublik Deutschland] will an dieser Stelle auch öffentlich gestehen, wie sehr ihn Kitagawa [Theoretiker des japanischen Rechts] anläßlich eines Japan-Besuchs im Auftrag des Bundesministers der Justiz zu Fragen außergerichtlicher Beilegung von Konflikten in der Ziviljustiz 1982 in Denken und Handeln beeinflußt hat.« 224

Offenbar hat es bereits in den frühen 1980er Jahren hochrangige deutsch-japanische Kontakte gegeben, die durch den Beitrag japanischer Juristen zumindest in Deutschland nicht wirkungslos für die Diskussion um die außergerichtliche Streitbeilegung geblieben sind. Die Möglichkeit zu dieser Beeinflussung hat ihren Grund darin, dass das Schlichtungsverfahren in Japan auf eine lange Tradition zu-

http://www.justiz-nrw.de/Karriere/landesjustizpruefungsamt/2_jur_staatspr_alt/ pdf/gesetzentwurf.pdf (20. 3. 17). Dieser Textbaustein findet sich an in anderen juristischen Texten. 224 Strempel, Der japanische Beitrag zur Fortentwicklung außerforensischer und vermittelnder Konfliktregelung in der Bundesrepublik Deutschland, 789. 223

212 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

rückblicken kann. Die Schlichtung (jap. chōtei) wurde ohne Anlehnung an europäisches Recht im Rahmen der »modernen« Rechtsentwicklung in Japan ab 1922 systematisch gesetzlich verankert. Damit schloss man an eine Entwicklung der Edo-Zeit (1600–1867) an, in der bereits verschiedene Schlichtungsverfahren zur Konfliktlösung entwickelt worden waren. 225 Es ist vor allem die Schlichtung im weiten Sinne, die in der modernen japanischen Rechtspraxis eine hohe Bedeutung besitzt. Vor einigen Jahren wurde noch »etwa die Hälfte aller Eingänge in Zivilsachen im chōtei-Verfahren erledigt« 226. Dass diese Tatsache im Hinblick auf das Verständnis von »Recht« und »Gerechtigkeit« insgesamt nicht nur akzidentell ist, scheint eine besondere theoretische Herausforderung im Rahmen der Rechtstheorie darzustellen. Denn wenn der Ort, an dem Recht gesprochen wird, nicht zentral das Gerichtsverfahren ist, müssen neue philosophische Begründungsformen für die Rechtsprechung und Rechtsumsetzung entwickelt werden. Bereits 1937 stellte Nishida in einem Aufsatz das Folgende fest: »Um wirklich japanisches Recht zu organisieren, müssen wir tief in den Grund der Geschichtsphilosophie eindringen und von dort aus einen formell japanischen Rechtsbegriff hervorbringen. Dies ist nicht möglich, indem man nur die Besonderheiten herausarbeitet oder einfach feststellt, dass die Vergangenheit so und so war. Hier muss eine harte theoretische Auseinandersetzung geführt werden.« 227

Diese Auseinandersetzung würde, wie in den anderen Beispielen auch, in die philosophischen Deutungsgrundlagen des Menschseins führen, von wo aus die grundlegenden Differenzen sichtbar würden. 228 Auch wenn Nishida selbst die Auseinandersetzung im Rahmen des Rechts nicht mehr führen konnte, so hat er doch maßgeblich zur philosophischen Auseinandersetzung um den Begriff des Mensch-

Bereits in der Edo-Zeit entwickelte Konzepte sind: aitai sumashi-rei – Dekret zur persönlichen Streitlösung ohne Beteiligung offizieller Stellen; naisai – Streitlösung unter vier Augen, private Schlichtung; kankai Ermutigung zum Vergleich, entspricht dem heutigen chōtei. 226 Strempel, Der japanische Beitrag, 790. 227 Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), 19 Bde., Tōkyō 31978– 1980, Bd. 12, 388 f. Übersetzung v. Rolf Elberfeld. Zum Problem der Rezeption des Rechts in Japan vgl. Kroeschell, Das moderne Japan und das deutsche Recht. 228 In den Diskussionen um die »Menschenrechte« werden diese Fragestellungen immer wieder virulent. Vgl. Menschenrechte interkulturell, hg. v. Wolf. 225

213 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

seins und der Geschichte beigetragen, die immer noch auf eine entsprechende Rezeption in Europa warten. 229 3.2.3. Geschichtswissenschaft interkulturell Der Geschichtswissenschaftler Jörn Rüsen stellt in einem Aufsatz zu Möglichkeiten der interkulturellen Orientierung in den Geschichtswissenschaften fest, dass »die meisten Arbeiten über historiographisches Denken und Geschichtskultur in einem nationalhistorischen Rahmen erfolgen«. 230 Er selbst verfolgt den Weg der interkulturell vergleichenden Erforschung verschiedener Geschichtskulturen, wodurch die Vielfalt der Geschichtsauffassungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden könne. Wie bereits weiter oben diskutiert worden ist, reicht dieses vergleichende Vorgehen aus der Perspektive anderer Kulturen gerade nicht mehr aus, da es vielmehr um ein gemeinsames Gespräch über die grundsätzlichen Möglichkeiten der Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie gehen müsste, was letztlich über den Rahmen eines interkulturellen Vergleichs hinausführt. Für dieses interkulturelle Gespräch ist es dann notwendig, Partner mit eigenen und herausfordernden Ansätzen zu finden, die zu einer solchen Grundsatzdiskussion bereit sind. Ein möglicher Partner könnte in einer japanischen Philosophieströmung gefunden werden, die im 20. Jahrhundert entstanden ist. Die Philosophie der Kyōto-Schule, die durch Nishida begründet wurde, ist einer der ersten Versuche, Weltgeschichte im modernen Sinne ausgehend von einer außereuropäischen Perspektive neu zu reflektieren und auszuarbeiten. Ausgehend von ihren philosophischen Entwürfen entwickelten die Denker dieser Schule eine grundsätzliche Eurozentrismuskritik. Sie sahen in den 1930er und 40er Jahren mehr und mehr die Notwendigkeit, die europäische Vormachtstellung und das Überlegenheitsbewusstsein geschichtsphilosophisch zu relativieren und zu überwinden. Ein wesentliches Motiv, das die Denker dieser Schule bewegte, ist die Frage nach der Weltgeschichte im Zusammenhang mit der Neuordnung der Welt im Sinne einer Pluralität der Welten. GeSiehe Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung, hg. v. Elberfeld u. Ariska. 230 Rüsen, Theoretische Zugänge zum interkulturellen Vergleich historischen Denkens, 37. 229

214 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

schichtlich und philosophisch war dies der Versuch einer Überwindung der [europäischen] Moderne (kindai no chōkoku) in ihrem globalen Herrschaftsanspruch. Denker der Kyōto-Schule betonten damals, dass mit Japan neben Europa eine Kraft herangewachsen sei, die inzwischen im asiatischen Bereich ein ebenso großes Überlegenheitsbewusstsein besitze wie Europa der ganzen Welt gegenüber. In dieser Hinsicht sei aber ein enger Patriotismus hinderlich und damit abzulehnen. Vielmehr gelte es, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass die Welt von heute viele Zentren besitze. In diesem Zusammenhang müsse der Entwicklungsgedanke, die Bewegungsweise der Geschichte in Ost und West, der Gedanke der Individualität, die Entstehung Europas und die Rolle Amerikas neu diskutiert werden. 231 Shigetaka Suzuki bringt die Ausgangslage der Diskussion in einem Aufsatz von 1939 deutlich auf den Punkt: »In der Vergangenheit umfaßte Europa auch, was ›Nicht-Europa‹ war. Europa beherrschte Nicht-Europa. […] Dies stellte nichts anderes dar als die Expansion des modernen Europas, als eine Stufe in dem weltweiten Prozess einer Europäisierung, welche mit der Entdeckung Amerikas begann. […] Europa war die Welt, welche die übrigen Welten ›umfaßte‹ ; als solches war es nicht eine Welt, sondern war die ganze Welt. In unserer heutigen Zeit aber geht ein solcher Gültigkeitsanspruch verloren. Vor unseren Augen können wir eine Entwicklung Wirklichkeit werden sehen, die zeigt, daß die europäische Ordnung schon nicht mehr den Anspruch einer weltweit gültigen erheben kann. […] ›Europa‹ steht in der heutigen Zeit […] nicht länger als Synonym für die Welt«. 232

Die damaligen Diskussionen spiegeln die existentielle Betroffenheit der Beteiligten. Für sie ging es damals in einer geschichtlich schwierigen Zeit um eine neue Sicht der Weltgeschichte. Das Beispiel zeigt deutlich, dass es nicht nur um den Vergleich verschiedener Geschichtsbilder in historischer Perspektive geht, sondern um die Auseinandersetzung geschichtsphilosophischer Entwürfe, die in der Reaktion auf die Dominanz Europas inzwischen an vielen Orten der Welt entstanden sind und immer noch entstehen. Die angeführten Diskussionen im Japan der 1930er und 40er

Vgl. Elberfeld, Kitarō Nishida. Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. 232 Zitiert nach: Die Philosophie der Kyōto-Schule, hg. v. Ōhashi, 392. Der Aufsatz ist betitelt: »Ausblick über die europäische Weltgeschichte«, der in dem Band Ranke und das Studium der Weltgeschichte (Ranke to sekaishigaku) 1939 erschien. 231

215 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Jahre sind gegenwärtig noch immer hochbrisant, da sie parallel gelesen werden müssen zu dem, was nicht erst heute in der islamischen Welt zu Fragen der Moderne diskutiert wird. 233 Als am 6. bzw. 7. Dezember 1941 die japanische Armee ihren Angriff auf Pearl Harbour startete, wurden die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte ernsthaft von außen angegriffen. Das zweite Mal geschah dies gut sechzig Jahre später am 11. September 2001. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die geschichtsphilosophischen Diskurse zur Überwindung der Moderne im Japan der 1930er und 40er Jahre und die Modernediskurse in der islamischen Welt nach dem 2. Weltkrieg bis zum 11. September systematisch zu erforschen. Sicher scheint mir, dass diese Forschungsfragen geschichtsphilosophische Perspektiven eröffnen können, die für die Erörterung der europäischen Moderne und der heute möglich werdenden verschiedenen Modernen von hoher Relevanz sind. Die Rede von den verschiedenen Modernen hat möglicherweise das Potential, das eurozentrische Bild von der Geschichte auch in den Geschichtswissenschaften grundsätzlich zu transformieren. 234 3.2.4. Ästhetik interkulturell 235 »Ästhetik« ist als Disziplin der europäischen Philosophie noch vergleichsweise jung. Die Neubegründung dieser Disziplin durch Baumgarten im Jahre 1750 schien damals einen Nerv der Zeit zu treffen. In schneller Folge entwickelten sich verschiedene Theorieentwürfe ausgehend von verschiedenen philosophischen Ansätzen, eine Entwicklung, die bis heute anhält. Vergleicht man aus heutiger Perspektive die Entwicklung der Theorien und die der Künste, so kann man im Hinblick auf die interkulturelle Perspektive einen eigentümlichen Eindruck gewinnen. Denn lange bevor die immer noch sehr seltenen theoretischen Auseinandersetzungen mit ästhetischen Erfahrungen aus anderen Kulturen begannen, war unter den bildenden Künstlern Hendrich, Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. 234 Vgl. zu diesem Motiv den nächsten Abschnitt. 235 Wenn hier die Ästhetik von der Philosophie als eigene Disziplin unterschieden wird, so spiegelt dies beispielsweise die Realität der japanischen Wissensordnung, wo Philosophie (tetsugaku) und Ästhetik (bigaku) häufig als eigenständige Disziplinen nebeneinander betrieben werden. In Europa ist die Unterscheidung vieldeutiger, wobei Ästhetik gewöhnlich als Disziplin der Philosophie betrachtet wird. 233

216 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

in Europa bereits eine hochgradige Beeinflussung durch verschiedene Kulturen der Kunst wirksam geworden. Beispiele wie die Chinoiserie in der Aufklärung, 236 der Japonismus in der Zeit des Impressionismus, 237 der sogenannte »Primitivismus« zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 238 der Zen-Buddhismus seit Mitte des 20. Jahrhunderts 239 etc. zeigen das deutlich. Künstler ließen sich schnell und tiefgreifend von den ästhetischen Erfahrungsdimensionen anderer Kulturen berühren und setzten diese oft direkt in ihren künstlerischen Prozessen um. 240 Philosophierenden in Europa scheint es hingegen oft nur nach langwierigen Abarbeitungen an der eigenen Tradition möglich zu sein, zu der Einsicht vorzustoßen, dass sich in anderen Kulturen horizonterweiternde und -erneuernde ästhetische Phänomene und wesentlich andere Realisationsformen von Kunst zeigen, die an Rang und Lebendigkeit den europäischen in keiner Weise nachstehen. 241 Dabei ist es frappierend engstirnig, wenn durch eine bestimmte, europäisch zugespitzte philosophische Definition von Ästhetik behauptet wird, außerhalb Europas gebe es keine »Ästhetik«. Gerade weil die Disziplin der Ästhetik auch in Europa verhältnismäßig jung ist, gilt es vor allem zu beachten, dass diese spätestens seit dem 19. Jahrhundert im engeren philosophischen Sinne auch in Japan, China und Indien rezipiert und weiterentwickelt wurde. In diesen Ländern ist die Ästhetik, den damaligen Machtverhältnissen entsprechend, zunächst in komparativer Perspektive und dann sehr schnell in Rückbezug auf die eigene Tradition ästhetischer Erfahrungen weiter entfaltet worden. Inzwischen kann die Ästhetik als Disziplin in Indien, China und Japan auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurückblicken. 242 Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass so große und alte Berger, China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung. Berger, Japonismus in der Westlichen Malerei, 1860–1920. 238 »Primitivism« in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern, hg. v. Rubin. 239 Westgeest, Zen in the fifties. Interaction in art between east and west; Zen und westliche Kunst, hg. v. Golinski u. Hiekisch-Picard. 240 Zum gesamten Komplex der Beeinflussung europäischer Kunst durch Außereuropäisches vgl. die vielfältige und informative Dokumentation: Weltkulturen und moderne Kunst. Die Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika, hg. v. Wichmann. 241 Göpper, Aspekte des traditionellen chinesischen Kunstbegriffs; Seubold, Schein und Nichts. Begriff und Geist japanischer Kunst. 242 Geiger, Philosophische Ästhetik im China des 20. Jahrhunderts: Ihre Stellung zwischen Tradition und Moderne; Marra, Modern Japanese Aesthetics. A Reader. 236 237

217 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

künstlerische Traditionen wie Indien, China oder Japan, die zugleich ein hohes Maß an theoretischer Reflexion aufweisen, auch in neueren Darstellungen der Ästhetik nicht einmal nebenbei erwähnt werden. Dass beispielsweise die theoretischen Einsichten der Malereitraktate in China seit dem 4. Jahrhundert für die gegenwärtigen Debatten um das »Bild« eine grundlegende Erweiterung darstellen könnten, kann an dieser Stelle nur angedeutet und behauptet werden. 243 Es geht in der interkulturellen Ästhetik nicht vorrangig darum, Kunstobjekte anderer Traditionen zu sichten, sondern darum, theoretisch-praktische Horizonte grundlegend neu zu bestimmen, ein Vorgehen, das in den Künsten selbst längst gängige Praxis ist. 244 3.2.5. Philosophie interkulturell Es ist noch immer nicht selbstverständlich, dass in der universitär verankerten Philosophie in Europa auch außereuropäische Denktraditionen einbezogen werden. 245 Ähnlich wie in der interkulturellen Ästhetik geht es auch in der Philosophie insgesamt nicht darum, exotische Denktrophäen zu sammeln, sondern eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung zu führen. Interkulturelles Philosophieren 246 bezieht daher, um innovativ und gegenwartsbezogen philosophische Sachfragen zu bearbeite, über die europäische Wirkungsgeschichte hinaus Ansätze des Denkens Obert, Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert. 244 Vgl. zum Gesamtkontext: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart. 245 Dass dies nicht notwendig so sein muss, zeigen Lehrpläne in Taiwan. Auf der Homepage des Instituts für Philosophie an der »National University of Taiwan« heißt es dazu: »Owing to the increasing need for more professional research and teaching, our graduate program was divided into an Eastern philosophy track and a Western philosophy track in 2000. […] Our future goal is to keep and deepen the concurrent coverage of Eastern and Western thought. The Eastern philosophy track aims to deepen the exploration of Confucianism, Taoism and Buddhism. The Western philosophy track intends to advance the comprehensive coverage of both traditional and modern philosophy.« (http://homepage.ntu.edu.tw/~philo/ENintro.htm, 20. 3. 2017) 246 Das Gebiet der interkulturellen Philosophie ist inzwischen ein verzweigtes Forschungsfeld, das methodisch nicht auf einen Nenner gebracht werden kann, sondern in sich verschiedene Wege entwickelt hat. An dieser Stelle seien nur drei exemplarische Publikationen erwähnt: Kimmerle, Interkulturelle Philosophie zur Einführung; Wimmer, Interkulturelle Philosophie; Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Wien 1998 ff. 243

218 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Intercultural«, »Multicultural«, »Transcultural«

und Erfahrens ein, wobei diese Auseinandersetzungen nicht bei einem Vergleich stehenbleiben. In der Verschiebung der Perspektiven entstehen fruchtbare Reibungen, erstaunliche Übereinstimmungen und überraschende Unterscheidungen, die es erlauben, den eigenen Ort des Denkens offen aber zugleich mit aller Präzision im Zusammenhang mit kulturell anders geprägten Denkerfahrungen neu zu bestimmen. Das Vorgehen interkulturellen Philosophierens ist dabei in keiner Weise exotisch. Dies bringt der französische Repräsentant interkulturellen Philosophierens François Jullien mit folgenden Worten auf den Punkt: »Man weiß, dass die Philosophie in ihren Fragen verwurzelt ist und sogar regelmäßig in ihrer Tradition erstarrt. Um zu versuchen, in der Philosophie wieder neuen Spielraum zu finden, oder anders gesagt, um zu versuchen, wieder eine theoretische Initiative zu ergreifen, habe ich mich entschieden, mich von dem Geburtsland der Philosophie – Griechenland – zu entfernen und einen Umweg über China zu machen: Ein strategischer Umweg mit dem Ziel, die verborgenen Vorentscheidungen der europäischen Vernunft neu zu befragen und bis zu unserem Nicht-Gedachten [Hervorhebung R. E.] zurückzugehen. Die Anfangsentscheidung soll also darin bestehen, durch einen Seitensprung Abstand zu schaffen, und dadurch eine Perspektivierung des Denkens zu ermöglichen. Ein solcher Umweg ist alles andere als exotisch, er ist methodisch.« 247

Jullien hat inzwischen in verschiedenen Publikationen gezeigt, wie diese Auseinandersetzung an konkreten Sachthemen entfaltet werden kann. 248 Auch wenn seine bisherige Arbeit sich vor allem auf den klassischen chinesischen und antiken europäischen Rahmen beschränkt, so werden durch sein Vorgehen viele Grundentscheidungen europäischen und chinesischen Denkens offengelegt, so dass daran anschließend neue Denkspielräume eröffnet werden können. Interkulturelles Philosophieren steht noch immer am Anfang, da die methodischen Probleme vor allem angesichts der großen Sprachenvielfalt noch kaum in den Blick getreten sind. Dennoch zeichnet sich, ähnlich wie in den anderen angeführten Wissenschaften, schon jetzt ab, dass sich über kurz oder lang grundsätzliche Verschiebungen in den Wissensstrukturen ergeben werden.

Jullien, Der Umweg über China. Ein Ortswechsel im Denken, 171. Jullien, Eine Dekonstruktion von außen – Von Griechenland nach China, oder: Wie man die festgefügten Vorstellungen der europäischen Vernunft ergründet.

247 248

219 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Abschließend möchte ich festhalten, dass »Interkulturalität« im Rahmen der Wissenschaften als Methodenbegriff aufgefasst werden kann. Das Wort bezeichnet kein einzelnes Themenfeld in bestimmten Wissenschaften, sondern eine methodische Vorgehensweise in sehr verschiedenen Themenfeldern, die von Thema zu Thema variiert. Bei Interkulturalität im Rahmen der Wissenschaften kann es darum gehen, interkulturelle Verschiedenheit in ein theoriewirksames Spannungsfeld zu bringen, wobei es weder um einfache Vergleiche noch um exotisierende Darstellungen des Fremden geht. Zentral für Interkulturalität als wissenschaftliche Methodenperspektive ist, dass sie von Anfang an auf konkrete interkulturelle Erfahrungen angewiesen ist und gezielt das Gespräch mit Menschen aus verschiedenen Wissenschafts- und Wissenstraditionen sucht, um die immer wieder neu entstehenden blinden Flecken der eigenen Wissensordnungen aufzuklären und zu transformieren. Ob dieses Vorgehen »interkulturell« oder »transkulturell« genannt werden kann, ist letztlich eine Frage arbiträrer Bezeichnungen. Durch beide Wörter kann eine methodische Vertiefung vom Diskurs des Vergleiches hin zum interkulturellen Polylog angezeigt werden. Die Vertiefung und Verschiebung besteht vor allem darin, dass nicht nur Texte aus anderen Kulturen zu Wort kommen, sondern Menschen gemeinsam im Gespräch die verschiedenen Perspektiven und Möglichkeiten ausloten. Hierdurch nimmt die Vielfalt der Ansätze zu und es entstehen unerwartete Perspektiven, die sogar den Anspruch einer Wissenstradition insgesamt betreffen können. Dieses interkulturelle Gespräch ist eingelagert in das, was wir die »moderne Welt« nennen. Dass die Vorstellung von der »einen europäischen Moderne« selbst vor allem durch interkulturelle Kritik aus verschiedenen Denktraditionen in Frage gestellt und in pluralere Perspektiven gerückt werden kann, ist das Thema des nächsten Kapitels.

4.

Von den »Kulturen« zu den »Modernen« – Ein Beschreibungsparadigma für globale Differenzierung und Verflechtung

Die grammatische Unterscheidung von Singular und Plural bei Substantiven ist für die englische, französische und deutsche Sprache eine Selbstverständlichkeit. Gerade weil sie so selbstverständlich und unscheinbar ist, verwenden wir sie in der Sprache der Wissenschaften 220 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

häufig ohne eine Reflexion darüber, welche Bedeutung diese Unterscheidung für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch besitzt. Wird man darauf aufmerksam, so wird deutlich, dass der Vorgang der wissenschaftlichen Begriffsbildung fast ausschließlich mit der Singularform von Substantiven verbunden ist. Wenn wir einen Begriff bestimmen, so definieren wir ihn in der Singularform, so dass auch diese lexikalisiert wird: »Wahrheit«, »Mensch«, »Idee«, »Wissenschaft«, »Philosophie«, »Theorie« usw. Mit dieser eher unreflektierten Praxis werden zentrale Bedeutungsverschiebungen im Rahmen der Singular- und Pluralbildung von »Begriffen« in den Hintergrund gedrängt, die für den jeweiligen Begriff jedoch von zentraler Bedeutung sein können. Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Begriff als Singularetantum ausschließlich im Singular verwendet oder ob er ohne besondere Bedeutungsveränderung in den Plural gesetzt werden kann. Immer dann, wenn es in »der Wissenschaft« um »die Wahrheit« geht, sind letztlich verschiedene »Wahrheiten« nicht erlaubt. Wie sehr wir uns an der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, einen Plural zu bilden oder nicht zu bilden, seit Jahrhunderten reiben, macht gerade das Beispiel des Wortes »Wahrheit« deutlich. Das Beispiel zeigt aber auch, dass grundsätzliche geistesgeschichtliche Veränderungen in Europa dadurch angezeigt werden, dass Begriffe immer selbstverständlicher einen Plural bilden, wie eben z. B. der Begriff »Wahrheit«. Tritt dies ein, so entsteht eine neue sprachliche Schwierigkeit, die nicht leicht durchschaubar ist. Denn letztlich ergeben sich durch den Prozess der Pluralbildung ausgehend von einem Singularetantum zwei verschiedene Begriffe: einmal der Begriff der »Wahrheit« und einmal der Begriff der »Wahrheiten«. Hier ist besonders zu beachten, dass der Singular »Wahrheit«, der zum Plural »Wahrheiten« gehört, eine andere Bedeutung besitzt als das Singularetantum »Wahrheit«, von dem kein Plural gebildet werden kann. Als Konsequenz müssten sowohl das Singularetantum »Wahrheit« als auch der Plural »Wahrheiten« als zwei verschiedene Begriffe im Lexikon verzeichnet werden. Das benannte Problem erschwert heute in hohem Maße das Verständnis der Begriffe »Kultur« und »Moderne«. Um sprachlich präziser verstehen zu können, was geschehen ist, als neben dem Begriff »modernity« im Sinnes eines Singularetantum der Plural »modernities« entstanden ist, ist es hilfreich, kurz den gleichen Prozess bei dem Begriff der »Kultur« zu verfolgen, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hat. Im Folgenden soll zunächst die Pluralbildung 221 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

»Kulturen« und dann die Pluralbildung »Modernen« geschichtlich hergeleitet und reflektiert werden.

4.1. »Kultur« und »Kulturen« Wie allgemein bekannt, gewinnt der Begriff der »Kultur« ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in wichtigen europäischen Wissenschaftssprachen erheblich an Bedeutung. Vor allem in der deutschen, englischen und französischen Sprache entwickelte sich dieser Begriff zu einem Zentralbegriff verschiedener Wissenschaften bis auf den heutigen Tag. Auf die jeweiligen besonderen Entwicklungen im Verhältnis zum Begriff der »Zivilisation« kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. 249 Was in den Darstellungen zur Wortgeschichte häufig nicht bemerkt wird, ist die Tatsache, dass der Begriff der »Kultur« in der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften im strikten Sinne als Singularetantum eingeführt wurde und bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften nur in der Singularform vorkommt. Herder, Adelung und andere wichtige Autoren der Kulturgeschichte im 18. Jahrhundert verwenden den Begriff ausschließlich im Singular, was für das Verständnis von Kultur bei diesen Autoren von erheblicher Bedeutung ist. Gerade in der Darstellung der Herder’schen Position wird immer wieder behauptet, dass Herder der Erfinder der »Kulturen« gewesen sei, was auf der sprachlichen Ebene schlicht falsch ist. 250 Herder schafft mit dem Singularetantum Kultur vielmehr ein tertium comparationis für alle gestaltenden Tätigkeiten der verschiedenen Menschen und Völker, wobei dieses tertium selbst nicht göttlichen Ursprungs ist. Es wurzelt in der zeitlichen und kontingenten Tätigkeit und Wirksamkeit des Menschen. In dem Singularetantum Kultur als einem substantivum actionis wird die gesamte Menschheit im Horizont ihrer kulturellen Tätigkeit zu einer Wirkgemeinschaft, indem alle gestaltenden und pflegenden Tätigkeiten als Kultur bzw. als Kultivierung bezeichnet werden. Im strengen Sinne sind mit Kultur keine Resultate gemeint, sondern allein die Prozesse der Gestaltung, der Bildung und des Fortschritts als Kultivierung in Bezug auf die einzelnen Menschen, verVgl. zur Geschichte des Kulturbegriffs: Fisch, Zivilisation, Kultur. Auf die falsche Rekonstruktion durch Welsch habe ich bereits weiter oben hingewiesen.

249 250

222 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

schiedene Gruppen und die ganze Menschheit. 251 Dieser Bezeichnung geht ein umfassender Vergleichsprozess der Länder, Völker, Sprachen, Religionen voraus, der für das Wort Kultur die Grundlage bildet, da Kultur im Sinne eines strikten Sigularetantum 252 alles Verglichene in sich umfasst und nun vielmehr den Vergleichshorizont bildet für alle Vergleiche. Kultur ist somit das, worin sich und als das sich menschliches Tätigsein vollzieht, so dass sich überall auf der Welt »Kultur« finden lässt. Das umfassende tertium comparationis Kultur stellt somit die kulturellen Tätigkeiten aller Menschen erstmalig in einen kulturellen Vergleichshorizont, der als solcher alle endlichen Tätigkeitsformen der Menschen umfasst. In diesem Rahmen werden Völker und Nationen im Plural verglichen, aber nicht die Kulturen, die als Begriff in diesem Zusammenhang noch nicht gebildet worden waren. Erst als die Pluralform gebildet wurde, traten die Resultate im Sinne der verschiedenen Kulturen in den Vordergrund. Die erste Bildung des Plurals »Kulturen« an wissenschaftsgeschichtlich wirksamer Stelle ist bei Jacob Burckhardt im Jahre 1868 zu beobachten. 253 In seinen Manuskripten zu der Vorlesung Über das Studium der Geschichte unterscheidet Burckhardt die drei Potenzen der Geschichte: Staaten, Religionen und Kulturen. 1871 hört Nietzsche diese Vorlesung in der ersten Wiederholung und nimmt den Plural Kulturen in seinen Sprachgebrauch auf. Letztlich ist es vermutlich Nietzsche, der den Plural Kulturen in der deutschen Sprache und möglicherweise darüber hinaus verbreitet hat. Ab den 1870er Jahren ist ein vermehrter Gebrauch des Plurals Kulturen auch in der englischen Sprache zu beobachten. Edward Tylor verwendet den Plural jedoch in seinem berühmten Werk Primitive Culture von 1871 noch nicht, obwohl seine Definition von Kultur bereits den Plural sehr nahelegt. Mit der Bildung des Plurals Kulturen wird ein Weg gesucht, dem eurozentrischen und universal orientierten Fortschrittsgedanken in der Geschichte zu entkommen. Vor allem die Ethnologie und die GeNur an einigen Stellen, wo das Wort Kultur mit geographischen Regionen verbunden wird – z. B. europäische Kultur –, erhält es bei Herder eine Bedeutung, die verstärkt zwischen Kultur als Prozess und Resultat zu changieren beginnt. 252 Ein gutes und leicht nachvollziehbares Beispiel für ein Singularetantum in der deutschen Sprache ist das Wort »Butter«. Dieses lässt sich nicht in den Plural setzen. In gleicher Weise muss man sich dies im 18. Jahrhundert im geisteswissenschaftlichen Sprachgebrauch für das Wort »Kultur« vorstellen. 253 Vgl. Elberfeld, Durchbruch zum Plural. Der Begriff der »Kulturen« bei Nietzsche. 251

223 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

schichtsschreibung bemühten sich zunehmend, die jeweilige Kultur in ihrer spezifischen Eigenart zu verstehen und zu beschreiben, ohne einen allgemeinen und universalen Fortschrittsmaßstab anzulegen. Demgegenüber war das Singularetantum Kultur im 18. und 19. Jahrhundert auf das Engste mit Gedanken einer fortschreitenden Kulturgeschichte verbunden, der im 19. Jahrhundert vom Imperialismus als kriegerischer Europäisierung der Welt begleitet wurde. Allen Menschen sollten »Kultur« und »Fortschritt« gebracht werden. Die Pluralbildung Kulturen reagiert somit auch kritisch auf geistesgeschichtliche Prozesse, die unter dem gleichen Wort – in der Form des Singularetantum – vorangetrieben wurden. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich hier ein geistesgeschichtlicher Kampf in den Wortformen Kultur (als Singularetantum) und Kulturen bündelt, der bis heute wirksam ist und keineswegs an Aktualität verloren hat. Joseph Niedermann schreibt zu diesem Gegensatz in seiner immer noch lesenswerten Studie zum Kulturbegriff von 1941: »Der Kulturbegriff wird sich bleibend spalten in einen relativen ethnischhistorischen Begriff, der sich aus dem Sachkulturbegriff entwickelt und einen Plural bilden wird, und in einen Wert- und Formungsbegriff, der nur im Singular vorkommt und besonders stark dem Wechsel und Wandel der Denksysteme und der ethischen Anschauungen folgen wird, da er sich besonders auf die Persönlichkeitskultur bezieht, des Einzelnen sowohl als der Menschheit.« 254

Diese fundamentale Aufspaltung in zwei verschiedene Begriffe wird bis heute in vielen Diskussionen nicht berücksichtigt, was immer wieder zu allerlei Missverständnissen führt. Im Grunde lässt sich gut hundert Jahre später – in strenger Parallele – der gleiche Prozess bei dem Begriff der Moderne beobachten.

4.2. »Modernity« und »Modernities« Das englische Substantiv modernity und das deutsche Substantiv Moderne kamen um die 1880er Jahre in Gebrauch. Auf die Geschichte des Wortes Moderne, die ausgeht von dem lateinischen Adjektiv modernus mit der Bedeutung »neu, gegenwärtig«, kann ich an dieser

Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 170.

254

224 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Stelle nicht eingehen. 255 Als »die Moderne« wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Strömungen vor allem im Bereich der Künste bezeichnet. Die Wortbedeutung Moderne als Epochenbegriff, der in Europa vor allem mit der Aufklärung und der Industrialisierung verbunden wurde, entwickelte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Neben dem Substantiv Moderne als einem Singularetantum entstand gleichzeitig die Wortform Modernization im nordamerikanischen Sprachgebrauch, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete. 256 In genauer Entsprechung zu den Begriffen Kultur und Kultivierung sind Moderne und Modernisierung in hohem Maße normative Begriffe. Vor allem das Wort Modernisierung bezeichnet einen Prozess, der einen bestimmten angezielten normativen Standard voraussetzt. Dieser Standard wurde von Europa und den USA im 20. Jahrhundert definiert. Ausgehend von diesem Standard sollten sich dann Europa und die USA selbst und auch alle anderen Länder der Welt »modernisieren«. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezog sich Modernization in den USA und in Europa zunächst auf einzelne gesellschaftliche Bereiche wie die Industrie, das Bildungswesen, das Recht, die Medizin und zudem auf einzelne geographische Gebiete außerhalb Europas und den USA wie China, Korea und Japan. Normgebend für die »Modernisierung« wurden im 20. Jahrhundert zunehmend die Entwicklungen in den USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sowohl die Begriffe Kultur und Kultivierung wie auch die Begriffe Zivilisation und Zivilisierung zunächst diskreditiert, so dass nicht nur in den Wissenschaften die große Zeit der Modernisierungstheorien gekommen war. Ausgehend von nordamerikanischen Maßstäben mit europäischem Hintergrund, versuchte man in den USA für die Bereiche Industrie, Technik, Wirtschaft und Politik einen Entwicklungsrahmen für die gesamte Welt zu entwerfen. Eines der großen Probleme für die Modernisierung war jedoch, dass nach dem 2. Weltkrieg immer noch eine kaum zu überblickende Zahl von Menschen in Kolonien lebte. In der Diskussion um diese Frage taucht in einem relevanten Kontext bereits im Jahr 1949 auch der Plural modernities auf: Vgl. Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne. Bereits 1895 wird beispielsweise von »modernization of Korea« gesprochen: Griffis, Korea and the Koreans: In the Mirror of Their Language and History, 10.

255 256

225 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

»Among these problems one which stands out as of indisputably central importance is the future development of the many millions of peoples who remain in a colonial status or have recently emerged from it into a precarious independence. To these peoples there must be assimilated others – notably the Chinese – who, although they have never come under explicit colonial rule, are in the same general position of emerging suddenly from an ancient world into the complex modernities which are essentially the creation of Western Europe and its descendants overseas.« 257

An dieser Stelle wird die Erzeugung von »complex modernities« den Europäern und ihren Nachfahren in den USA zugeschrieben. Es wird hier bereits ein Plural modernities konstatiert, der aber noch nicht als positive Möglichkeit gesehen wird. In den 1960er Jahren verstärkte sich dann die Kritik gegen den normativen Kern der Modernisierungstheorien, die die aus Europa und den USA abgeleitete »eine Moderne« in Frage stellten. Erst in diesem Kontext wurde der Plural modernities zu einer positiven Möglichkeit der Deutung der komplexen historischen Vorgänge nach dem 2. Weltkrieg, so dass die Wendung »multiple modernities« entstehen konnte. Sie wurde vermutlich erstmalig in dem Buch International Systems and the Modernization of Societies von John Peter Nettl und Roland Robertson aus dem Jahre 1968 verwendet. Im ersten Kapitel, das den Titel Modernization, Industrialization or Development? trägt, wird der Terminus beiläufig in einer Fußnote eingeführt. Zunächst wird die Gegenposition angeführt, die die Autoren kritisieren wollen: »Bendix defines modernization as a ›type of social change since the eighteenth century, which consists in the economic or political advance of some pioneering society and subsequent changes in follower societies‹.« 258 Gegen diese Sicht bringen Nettl und Robertson dann das Folgende vor: »[…] this […] maintains the notion of modernity as an objective process in which any advanced country achieves certain politico-economic changes and where other countries specifically set themselves to follow the same paths. We depart from this analysis in that we stress the notion of multiple simultaneous modernities, and also the functional division of modernity into different goals and different references for different purposes at any one time […].« 259 Emerson, Problems of Colonialism, 533. Nettl u. Robertson, International Systems and the Modernization of Societies, 45. Der Text, auf den sich die Autoren beziehen, ist erschienen in: Bendix, Tradition and Modernity Reconsidered, 330 f. 259 Ebd., 45. 257 258

226 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Etwas später heißt es dann im Haupttext: »Once more we are faced with multiple modernities.« 260 In einer Vorfassung dieses Textes von 1966 findet man die Wendung »multiple modernities« noch nicht. 261 Die mit der Pluralbildung modernities verbundene Absicht ist deutlich. Es soll dem normativen Alleingültigkeitsanspruch der »einen Moderne« und des einzig möglichen Weges der Modernisierung widersprochen werden. In dem Text wird die Wendung »multiple modernities« nur beiläufig eingeführt und letztlich kein Begriff des Plurals »Modernen« entwickelt, der dem Singularetantum »Moderne« gleichberechtigt an die Seite hätte gestellt werden können. Dennoch unterstreicht die Wendung »multiple simultaneous modernities«, dass die Pluralbildung an dieser Stelle die entscheidende Neuerung ist. Die Wendung »multiple modernities« bleibt in den 1960er und 1970er ohne direkte Nachwirkung. Ein Text aus dem Jahre 1973 mit dem Titel Political Traditions of the Maghrib von Elbaki Hermassi im Daedalus zeigt aber, dass bereits damals die Pluralbildung modernities auch in nichtwestlichen Kontexten auftauchte. Elbaki Hermassi schreibt am Endes seines Aufsatzes: »This paper should have thrown into doubt the theoretical utility of employing simplistic contrasts between ›tradition‹ and ›modernity‹ in the study of societies such as those of the Maghrib. Variations in the ›problemstructures‹ of these societies, the range of their potential response to these problems, the choices which are actually made, and their consequences can only be explained by referring to other variations: those in pre-colonial social, cultural, and political orders, in colonial policies and their impacts, in patterns of interelite conflicts, and in leadership commitments and resources. By focusing upon variables such as these, the comparative study of regional and cross-national, societal transformations can enrich sociological theories by putting them to the test of the plurality of histories that is to say, the plurality of traditions, if not of modernities.« 262

An dieser Stelle wird eine »plurality of modernities« nahegelegt und damit die Pluralbildung schon in der Ausdrucksform unterstrichen. In den folgenden Jahren bleiben die zitierten Überlegungen ohne nennenswerte Folgen. Erst in den 1990er Jahren taucht die Wendung »multiple modernities« wieder an wichtigen Stellen auf und wird 1995 unter anderem 260 261 262

Ebd., 53. Nettl u. Robertson, Industrialization, Development or Modernization. Hermassi, Political Traditions of the Maghrib, 222.

227 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

prominenter durch einen Aufsatz von Michael Geyer and Charles Bright mit dem Titel World History in a Global Age. Dort heißt es: »At the end of the twentieth century, we encounter not a universalizing and single modernity but an integrated world of multiple and multiplying modernities. As far as world history is concerned, there is no universalizing spirit, no Weltgeist, to be re/presented working its way out in history. There are, instead, many very specific, very material and pragmatic practices that await critical reflection and historical study. […] Fundamentally, then, our basic strategies of historical narration have to be rethought in order to make sense of practices and processes of global integration and local differentiation that have come into play. Lacking an imagination capable of articulating an integrated world of multiple modernities, globality is enveloped in an eery silence, which, however, cannot mask its powerful effects […].« 263

In der Passage wird deutlich, wie die Weltgeschichtsschreibung nach Wegen sucht, dem einen linearen Entwicklungsprozess als Beschreibungsmuster zu entkommen, und auf die fehlenden Imaginationsräume für eine »world of multiple modernities« hinweist. In dem Text selbst werden keine genauen Hinweise gegeben, wie man den Plural Modernen in der Weltgeschichtsschreibung denken kann. Der Plural Modernen verbreitetet sich in den Geisteswissenschaften erst seit 1999 vor allem durch Aufsätze von Shmuel Eisenstadt wie Multiple Modernities in an Age of Globalization 264 und seinen Aufsatz Multiple Modernities im Winterheft der Zeitschrift Daedalus im Jahr 2000. Mit diesem Themenheft verbreitete sich die Wendung als Schlüsselwort in den Geistes- und Kulturwissenschaften. 265 Bisher habe ich die Geschichte des Plurals modernities in der englischen Sprache verfolgt. Ein ganz anderer Zweig in der Pluralbildung findet sich in den japanischen Diskussionen um die »Überwindung der Moderne« (kindai no chōkoku 近代の超克) bereits 1939. In einer damals sehr umstrittenen Reihe von Diskussionen formulierte Iwao Kōyama den Gedanken von den »zwei Modernen« in Japan. Er meinte damit zum einen die »Moderne«, die in Japan bereits in der Edo-Zeit (1600–1868) existierte, und zum anderen diejenige, die durch den Einfluss der Nordamerikaner und Europäer in Japan Geyer u. Bright, World History in a Global Age, 1058. Eisenstadt, Multiple Modernities in an Age of Globalization. 265 Die deutsche Übersetzung des Aufsatzes erschien ein Jahr später: Eisenstadt, Vielfältige Modernen. 263 264

228 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

kreiert wurde. Der japanische Ausdruck für Moderne ist kindai (近 代), was zunächst nur eine Epochenbezeichnung ohne besonderen normativen Gehalt ist. Vor allem in den 1930er und 1940er Jahren wurde dieses Wort stark aufgeladen durch das Schlagwort »Überwindung der (einen europäischen) Moderne« (kindai no chōkoku). Als Alternative sah man, durchaus im Sinne Kōyamas, Japan als eine andere Moderne im Vergleich zu der Moderne in Europa. Dies führte auch in der Nachkriegszeit dazu, dass führende Intellektuelle wie Yoshimi Takeuchi die Wendung »japanische Moderne« (nihon no kindai, nihonkindai) verwendeten. In dieser Tradition und in diesem Sinne sprach Rudolf Wolfgang Müller bereits 1989 in einem deutschsprachigen Aufsatz zur Situation Japans im 20. Jahrhundert von »je spezifischen Modernen«: »Die Auseinandersetzung findet statt zwischen schwer vereinbaren, gegensätzlichen, widersprüchlichen Elementen der beiden Seiten, von Tradition und Moderne, aber sie finden statt, und das Resultat ist nicht ›die Moderne‹, ist nicht ›Modernisierung‹, sondern sind je spezifische ›Modernen‹. In Japan, in Korea usw. ist etwas – durch Europäisches, Amerikanisches usw. vermitteltes – Neues entstanden, das nicht europäisch usw. ist, das modern und doch nicht westlich ist.« 266

Bereits zu diesem Zeitpunkt wird in der deutschen Sprache der Plural Modernen gebildet. Das dies nicht selbstverständlich ist, zeigt sich noch bei der Übersetzung eines Textes von Eisenstadt aus dem Jahre 2005: Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den »Multiple Modernities«. 267 In einer Fußnote merkt der Übersetzer an: »Der Begriff der ›multiple modernities‹ ist nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen. Am ehesten ist er mit ›Pluralität der Moderne‹ bzw. ›Vielfalt der Moderne‹ wiederzugeben.« 268 Der Übersetzer hält es nicht für möglich, den Plural Modernen in der deutschen Sprache zu bilden, obwohl 2001 das Motiv bereits mit »Vielfältige Modernen« übersetzt worden war. Anhand des bisher Entwickelten zeigt sich, dass nicht nur die Herleitung von Wörtern aus anderen Sprachen – Kultur aus cultura, Müller, Tradition und Moderne. Zum Verhältnis von Vorurteil und sozialwissenschaftlichem Begriff, 269. 267 Die Druckversion des Essays findet sich in: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, hg. v. Hohls, Schröder u. Siegrist. 268 http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__113/mid__12049/ 40208705/Default.aspx (6. 12. 2016). 266

229 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Moderne aus modernus –, sondern auch die Bildung von Pluralformen bei Begriffen der Wissenschaftssprache Aufmerksamkeit verdient. Denn es macht einen entscheidenden Unterschied, ob wir von »der Moderne« ausgehen und Globalgeschichte treiben oder ob wir »verschiedene Modernen« annehmen und damit zugleich besondere Differenzen in der Weltgeschichtsschreibung erzeugen. Dass diese beiden Alternativen auch in Zukunft eine Rolle spielen werden, scheint mir sicher zu sein. In der bisherigen Darstellung wurde noch nicht danach gefragt, welches die richtige Alternative ist. Zunächst ging es darum, in möglichst klarer Weise die Alternativen, die sich an einer grammatischen Unterscheidung entzündet haben, in die Aufmerksamkeit zu heben. Durch die Parallelisierung der Pluralisierungsprozesse Kultur/ Kulturen und Moderne/Modernen hat sich gezeigt, dass sich ein bestimmtes Muster in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert wiederholt hat. Es stellen sich nun Fragen wie: Kann der Begriff der Modernen den der Kulturen ablösen? Entwickeln sich beide Deutungsmuster nebeneinander weiter? Unabdingbar scheint mir zu sein, dass, wenn sich der Plural modernities in verschiedenen Sprachen und auch in der deutschen durchsetzt, der Sinn dieses Plurals genauer zu bestimmen ist. Möglicherweise entstehen dann, wie bei den Begriffen Kultur als Singularetantum und dem Plural Kulturen, zwei sehr verschiedene Begriffe: Zum einen die Moderne als Singularetantum mit besonderen normativen Implikationen und die Modernen mit ihrem dazugehörigen Singular der je spezifischen Moderne als deskriptiver Ausdruck einer pluralistischen Gegenwart verschiedener Modernen. Gegenwärtig ist in den Texten, die sich sich auf Moderne oder Modernen beziehen, noch eine unübersichtliche Vieldeutigkeit des Gebrauchs dieser Wörter zu beobachten. 269 So stellt Wolfgang Knöbl in einem Aufsatz aus dem Jahr 2016 dazu fest: »Wenn ich es recht sehe, so gibt es in der ›multiple-modernities‹-Debatte mehrere ungelöste Probleme, wobei ich vorausschicken möchte, dass mir selbst immer unklarer wird, was man eigentlich unter ›Moderne‹ oder ›Modernen‹ zu verstehen habe. […] Jeder fasst etwas völlig Unterschiedliches Man vergleiche die verschiedenen Verwendungen in: Global modernities, hg. v. Featherstone, Lash u. Robertson, 1995; Multiple Modernities and Postsecular Societies, hg. v. Rosati u. Stoeckl, 2012; Varieties of multiple modernities. New research design, hg. v. Preyer u. Sussman, 2016.

269

230 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

darunter und begründet dies auch unter Heranziehung völlig heterogener empirischer Belege. Wie auch immer, ›Moderne‹ ist im Sprachschatz der Sozialwissenschaften mittlerweile derart verankert, dass man den Begriff kaum mehr loswerden wird, weshalb es mir sinnvoll erscheint gewissermaßen mitzuspielen und von ›Modernen‹ im Plural zu reden, dies freilich zunächst ohne großen theoretischen Anspruch und nur mit dem Ziel, vorschnelle Konvergenzannahmen und Teleologien zu vermeiden.« 270

In dem Zitat kommt eine gewissen Resignation zum Ausdruck im Hinblick auf die Mehrdeutigkeit der Wörter Moderne und Modernen. War bereits das Singularetantum Moderne in den normativen oder deskriptiven Auslegungsrichtungen überaus vieldeutig, so steigert sich diese Vieldeutigkeit mit der Einführung des Plurals Modernen noch einmal. 271 Trotz der Vieldeutigkeit oder vielleicht auch gerade wegen der Vieldeutigkeit besitzen diese beiden Begriffe eine hohe Attraktivität, um neue Perspektiven für die Beschreibung einer globalisierten Welt auszuloten. In der Entwicklung der Semantik des Kulturellen ist in ganz ähnlicher Weise immer wieder die Vieldeutigkeit der verschiedenen Semantiken festgestellt und kritisiert worden. Diese Kritik hat sich in den letzten Jahren so weit gesteigert, dass man in der Ethnologie unter dem Schlagwort »Writing against culture« das Wort Kultur ganz aus dem ethnologischen Wortschatz herausstreichen wollte. 272 Leider entstehen auf diese Weise Wortgefechte und Gegnerschaften in den Geisteswissenschaften, die zeigen, dass zu wenig auf die Arbitrarität von Sprache reflektiert wird und kein ausreichendes Bewusstsein für die geschichtlichen Dynamiken des Sprachgebrauchs in verschiedenen Wissenschaften besteht. Denn gerade die Geisteswissenschaften sind darauf angewiesen, immer wieder neue sprachliche Wendungen und Begriffe zu finden und zu erfinden, um den Reflexionsrahmen zu erweitern oder zu verändern. Häufig ist zu beobachten, dass dann der Streit allein um Wörter und Bezeichnungen Jahrzehnte dauert, bis sich bestimmte Beschreibungsoptionen durchsetzen, um dann bald wieder von ganz anderen Optionen abgelöst zu werden. 273 Ich bin der Überzeugung, dass sich zum Knöbl, Die neuere Globalgeschichte, Max Weber und das Konzept der ›multiple modernities‹, 412. 271 Vgl. auch: Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, hg. v. Schwinn; Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika. 272 Abu-Lughod, Writing Against Culture. 273 Die Diskussionen um das Wort »Postmoderne« in den 1980er und 90er Jahren sind 270

231 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

einen die Vieldeutigkeit der Wörter und Begriffe nicht durch eindeutige Definitionen tilgen lässt und zum anderen diese Vieldeutigkeit auch in präzisierender Weise eingesetzt werden kann. Philosophischer und geisteswissenschaftlicher Sprachgebrauch ist immer eine Art sprachliche Suchbewegung, um die komplexen Bewegungen einer Zeit in bestimmter Perspektive reflektierbar und besprechbar zu machen. Diese sprachlichen Prozesse sind immer Teil der komplexen geschichtlichen Bewegungen, wir können die Sachfragen aus diesen niemals ganz herauslösen, um dann in rein objektiver Haltung festzustellen, was der Fall ist. 274 So scheint es mir von zentraler Bedeutung zu sein, die Vorläufigkeit und das Experimentelle eines jeden Sprachgebrauchs von Anfang an im Auge zu behalten, so dass dann verschiedene Optionen ohne substanzialisierende Verfestigung positiv durchgespielt werden können, ohne dabei das Bemühen um Präzision und Trennschärfe im Sprachgebrauch aus den Augen zu verlieren. In diesem Sinne lassen sich in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der Moderne-Semantik verschiedene weitere Suchbewegungen in den Wortbildungen und Zusammensetzungen beobachten. Eine möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben. Die Wendung »entangled modernity« 275 kommt sowohl in der Singularform wie auch in der Pluralform »entangled modernities« vor. 276 Wie ich zu zeigen versucht habe, handelt es sich im strengen Sinne um zwei verschiedene Begriffe. An dieser Stelle ist Genauigkeit gefragt. Ähn-

hierfür ein schönes Beispiel. Diese Beschreibungsoption hat sich nicht durchgesetzt, weil sie wohl zu eurozentrisch war. Stattdessen hat dann Ende der 1990er Jahre die Debatte um die »Modernen« an Fahrt aufgenommen. »Modernity has not collapsed under the weight of postmodern criticisms. On the contrary, it has rebounded with greater vigour as witnessed by the emergence of new terms such as reflexive modernization, liquid modernity and multiple modernities. These terms suggest that modernity can no longer be conceptualized in the singular. Yet the pluralization of modernity does not necessarily imply that there is a new consensus about the meaning of modernity. The appearance of these terms can be regarded as specific attempts to transcend postmodern critiques.« Lee, Reinventing Modernity Reflexive Modernization vs. Liquid Modernity vs. Multiple Modernities, 355. 274 Vgl. hierzu den modernen Klassiker Nagel, Der Blick von nirgendwo. 275 Die Wendung im Singular ist in Texten und im Internet vielfältig verbreitet, taucht aber bisher noch nicht als alleinstehender Buchtitel auf. 276 Auch der Plural taucht bisher noch nicht in einem Buchtitel auf. Als Text sei verwiesen auf: Therborn, Entangled Modernities.

232 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

liches gilt für die Wendungen »entangled history« 277 und »entangled histories«. 278 Auch hier handelt es sich, streng genommen, um zwei verschiedene Begriffe: Geschichte und Geschichten. Man könnte nun einwenden, dass es doch nur um einen kleinen sprachlichen Unterschied gehe. Aus philosophischer Perspektive ist dieser Unterschied jedoch an dieser Stelle entscheidend. Denn es geht um das Ausgehen von »Einheit« oder von »Vielheit«. Die jeweiligen Konsequenzen für die Interpretation sind gewaltig, zeichnen sich aber nicht gleich an der Oberfläche ab. Inzwischen hat sich noch eine weitere Wendung in der englischen und deutschen Sprache entwickelt, die auch im Titel von Büchern zu finden ist: »Cultures of Modernity« 279 oder »Kulturen der Moderne«. 280 Diese Lösung – oder sollte man besser sagen Notlösung – scheint das von mir entwickelte Problem des Plurals wieder an den älteren Begriff der Kulturen zurückzuspielen, womit allerdings wenig gewonnen ist. So einfach werden wir die Probleme wohl nicht lösen können.

4.3. »Vielfalt der Modernen« – Ein heuristischer Versuch Wenn heute, mit der Absicht, das Bild von der Geschichte der Menschheit »umzuschreiben«, nach einer Vergangenheit und Zukunft gefragt wird, die unserer Gegenwart entspringen kann, 281 ist Manufacturing Middle Ages. Entangled history of medievalism in nineteenthcentury Europe, hg. v. Geary u. Klaniczay. 278 Entangled histories and negotiated universals. Centers and peripheries in a changing world, hg. v. Lepenies; Entangled histories: reflecting on concepts of coloniality and postcoloniality, hg. v. Epple. 279 World War I and the cultures of modernity, hg. v. Mackaman. 280 Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, hg. v. Bonacker u. Reckwitz. 281 Ich gehe davon aus, dass jede Gegenwart in einem komplexen Prozess des Erinnerns ihre Vergangenheit hervorbringt. Im gleichen Zuge wird eine Zukunft entworfen, in deren Erwartungshorizont Menschen ihr Handeln zu entfalten vermögen. In dieser Spannung von Erinnern und Erwarten geht »geschichtliche Zeit« hervor, die sich gemäß ihrer eigenen Bewegtheit von Generation zu Generation anders konstituiert und den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils neu bestimmt. Mit diesem Gedanken schließe ich mich an die Untersuchungen von Reinhart Koselleck an, der in seinem Buch Vergangene Zukunft sein Vorhaben wie folgt umschreibt: »Alle Zeugnisse stehen dafür ein, wie in einer konkreten Situation Erfahrungen der Vergangenheit verarbeitet, Erwartungen, Hoffnungen oder Prognosen 277

233 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

ein Horizont notwendig, der die Widersprüchlichkeit, Verschiedenheit und Komplexität gegenwärtiger Geschichtsbewegungen ebenso ernst nimmt wie das Bemühen um das Gemeinsame und Verbindende. Um die Deutung geschichtlicher Zeiten im Kontext der Globalisierung philosophisch zu reflektieren, soll im Folgenden das Konzept eines einheitlichen, von Europa ausgehenden Begriffs der Moderne erneut kritisch hinterfragt und die Möglichkeit eines Plurals der Modernen weiter reflektiert werden. 282 Dieser Gedanke wurde, wie erwähnt, bereits durch die Kritik an der Moderne als Singularetantum in Ländern wie Japan seit den 1940er Jahren nahegelegt. Der Versuch, verschiedene Modernen zu denken, versteht sich als eine mögliche Antwort auf einschlägige Kritiken an der Moderne, die in Europa und den USA lange nur im Singular denkbar war. Im Sinne einer geschichtsphilosophischen Heuristik, die sich grundsätzlich von einem einheitlichen Entwicklungsschema zu befreien versucht, ohne dabei einem bloßen Relativismus zu verfallen, soll gegenwärtige Zukunft im Horizont einer Vielfalt der Modernen gedacht werden. Die europäische Philosophie und Wissenschaft kann es sich längst nicht mehr leisten, beharrlich die in verschiedenen Modernen entwickelten Bilder von der Geschichte der Menschheit zu ignorieren. Moderne Deutungen der Geschichte in Japan, Indien, China, Iran, Argentinien, Nigeria etc. haben längst gezeigt, dass diese Entwürfe grundsätzliche Veränderungen in den theoretischen Ansätzen der europäischen Geschichts- und Kulturwissenschaften erforderlich machen. Ähnlich wie die Auseinandersetzung zwischen chiin die Zukunft hinein zur Sprache gebracht worden sind. Durchgängig wird danach gefragt, wie in einer jeweiligen Gegenwart die zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft aufeinander bezogen worden sind.« Kosseleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 11. Im Gegensatz zu Koselleck geht es mir nicht um eine »Vergangene Zukunft«, sondern um eine mögliche »gegenwärtige Zukunft«. Zur philosophischen Grundlegung des Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in interkultureller Perspektive vgl. Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens. 282 »What we have before us as contemporary history grates against the familiar explanatory strategies and analytic categories with which scholars have traditionally worked. […] this is a crisis, above all, of Western imaginings, but it poses profound challenges for any historian: the world we live in has come into its own as an integrated globe, yet it lacks narration and has no history. […] World history at the end of the twentieth century must therefore begin with new imaginings.« Geyer u. Bright, World History in a Global Age, 1037.

234 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

nesischen und europäischen Gelehrten um die Chronologien im 17. und 18. Jahrhundert zu einer grundlegenden Revision der Weltgeschichte geführt hat, so kann heute davon ausgegangen werden, dass durch die immer stärker werdenden außereuropäischen Wissenschafts- und Kunsttraditionen ein neues Bild von der Weltgeschichte geprägt werden wird, in dem sich das Schema einer monolithischen Universalgeschichte europäischer Prägung nicht mehr wiederholt. 283 In diesem Sinne geht der folgende Entwurf aus von den außereuropäischen Kritiken an den eurozentrischen Deutungen der Moderne, um das Beschreibungsmuster einer Vielheit der Modernen weiter aus verschiedenen Perspektiven durchzuspielen. Jeder Abschnitt des folgenden Textes bleibt dabei eher Fragment, an das thematisch quer und offen angeknüpft werden kann. Jedes Fragment versucht eine Perspektive zu fassen, die jeweils für sich eine größere Abhandlung ermöglicht. Aus der Konstellation der verschiedenen Fragmente, deren Reihenfolge nicht systematisch festgelegt ist, soll sich ein Zusammenhang ergeben, der den Horizont gegenwärtiger Zukunft im Sinne einer Vielfalt der Modernen auf eigene Weise erschließt und möglicherweise ein Stück weit in Bewegung bringen kann. Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist eine philosophische, so dass nicht die empirischen Belege im Zentrum stehen, sondern vor allem bestimmte konzeptionelle Konsequenzen, die dann, falls dies fruchtbar sein sollte, auch empirisch durchgespielt werden könnten. Diese philosophische Perspektive ist mitnichten die eine, »wahre« Perspektive. Dennoch kann sie mit ihren Mitteln dazu beitragen, die Fragen und Probleme weiter zu differenzieren und zu reflektieren. 4.3.1. Globalisierung und Modernen im Horizont der europäischen Expansion Die Relativierung von Entfernungen im 20. Jahrhundert durch digitale Medien auf der einen Seite sowie grenzenlose Fahr- und Flugverbindungen auf der anderen Seite sind zentrale Kennzeichen der Globalisierung. 284 Die geschichtliche Bewegung, die letztlich zu dieser Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference; Bhambra, Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination. 284 Für eine einführende Perspektive vgl. Osterhammel u. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen. Für eine ältere Interpretation vgl. Robertson, Globalization. Social Theory and Global Culture. In dem Buch von Ro283

235 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

umfassenden Vernetzung der Lebensräume geführt hat, 285 geht vor allem zurück auf ein Ereignis, das in der europäischen Philosophie nur selten in den Blick tritt. Als Kolumbus 1492 begann, Amerika zu erobern, und Vasco da Gama den südlichen Seeweg nach Indien entdeckte, war dies der Beginn einer weltgeschichtlichen Epoche, in der – begleitet von unsäglichen Leiden und eurozentrischer Fixierung – ein Gesamtbild der Erde und der Menschheit entstand, das noch immer wirksam ist und unser Leben prägt. 286 In zahllosen Eroberungszügen verbreiteten die Länder Europas ihre Kultur(en) über den Erdball, so dass inzwischen allerorts in sich widersprüchliche Lebenswelten existieren, die in den meisten Fällen noch immer mit den einschneidenden Folgen der Kolonialisierung kämpfen oder weiterhin die mehr oder weniger gewollte Übernahme »moderner« Lebensformen zu verarbeiten haben. Aber zur gleichen Zeit entstand durch die Rückwirkung der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen weltgeschichtlichen Zentren in Form der »europäischen Moderne« selbst eine in hohem Maße selbstwidersprüchliche Moderne. Denn die Moderne in Europa entstand nicht aus sich selbst heraus, sondern aus den Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Lebenswelten und vor dem Hintergrund der Eroberungen von Gebieten außerhalb Europas. 287 In diesen Auseinandersetzungen bildeten sich beispielsweise Rechtsvorstellungen innerhalb Europas wie das Völker- und Menschenrecht, die aber in den meisten Fällen nur zugunsten der Entwicklungen Europas in Anschlag gebracht wurden.

bertson stehen noch Wendungen und Wörter wie »Cultural Turn«, »World-System Theory«, »Civilization«, »Modernity« (im Singular) und »Postmodernity«. Vergleicht man die beiden Bücher, so sind die Diskursverschiebungen deutlich zu erkennen. 285 Auch wenn zu diesem Zeitpunkt andere Gebiete wie China und Indien den europäischen Reichen wirtschaftlich und kulturell weit überlegen waren, so ist doch nirgendwo anders ein solch systematischer Expansionsdrang zu beobachten – ob dieser als gut oder schlecht zu beurteilen ist, ist eine andere Frage – wie in Europa. Dieser Expansionsdrang verbindet sich in Europa mit vielfältigen Entwicklungen, so dass er gewiss nicht monokausal erklärt werden kann. 286 Vgl. Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. 287 Für eine neue Beschreibung dieser Wechselwirkungen, in denen Europa nicht allein im Zentrum steht, vgl. Marks, Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte.

236 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

»Die Moderne ist für die Errungenschaften der europäischen Kultur und Geschichte verantwortlich, hat aber gleichzeitig neue strukturelle Bedingungen geschaffen, die die weitere Entwicklung Europas beeinflussten. Die imperialen Ansprüche Europas sind ein Beispiel für solche strukturellen Bedingungen und für die widersprüchliche Antwort der Europäer: Sklavenhandel und Menschenrechte, Selbstbestimmung und Kolonialismus, freier Handel und Protektionismus usw. – sie dürfen nicht als Abweichungen bzw. einzelne Auswüchse betrachtet werden: Zur Moderne gehören all diese Aspekte in ihrer Gesamtheit.« 288

In dieser Perspektive werden die tiefen Widersprüche der europäischen Moderne sichtbar, an denen auch die hier vorgelegten Texte arbeiten. Dabei stellt sich die Frage, wie heute ausgehend von der europäischen Moderne eine Antwort aussehen kann, die den imperialistischen Gestus europäischen Fortschrittsdenkens nicht fortsetzt und sich – im Zusammenhang mit den Reflexionen aus anderen Modernen – der massiven Selbstwidersprüche der europäischen Moderne annimmt. Obwohl das Ende des 2. Weltkrieges zugleich den Beginn der Bemühungen um eine Dekolonisation markiert, 289 waren es die Modernisierungstheorien westeuropäischer und US-amerikanischer Provenienz der 1950er und 60er Jahre, 290 die die alten Vorstellungen von einer umfassenden »Zivilisierung« der Menschheit im Rahmen von Wirtschaft und Politik perpetuierten. Leitend war die Vorstellung von einer einheitlich kapitalistischen und demokratischen »Moderne«, die es nur in die verschiedenen Gegenden der Welt zu übertragen galt und die von dem Bild ausging, alle anderen, die jene ans Kapital gebundenen Formen von Demokratisierung nicht sogleich mitvoll-

Macamo, Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en) Mensch zu sein, 149 f. Zur Einführung in das Thema vgl. Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen; Jansen u. Osterhammel, Dekolonisation. Das Ende der Imperien. 290 »Konstitutiv für die Modernisierungstheorien der 50er und 60er Jahre war eine globalisierte, unhistorische und abstrakte Dichotomie von ›Modernität‹ und ›Tradition‹. Aus der Abstraktheit dieser Dichotomie resultiert der tautologische Charakter fast aller Versuche, ›Modernisierung‹ zu definieren […]: Sie wird begriffen als der Prozeß sozialen Wandels, durch den ›traditionale‹ zu ›modernen‹ Gesellschaften werden. Diese inhaltsleere Dichotomie war jedoch nicht nur für die entwicklungstheoretischen Modernisierungstheorien konstitutiv; an ihr konkretisierte sich nach 1945 auch das Selbstbewußtsein der westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften als ›modern‹ und ›rational‹.« Wehling, Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien, 117. 288 289

237 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

zogen, seien unterentwickelt. Die kommunistischen Länder versuchten ihrerseits eine Gesellschaftsform und Ideologie über die Welt zu verbreiten, die in ähnlicher Weise von einem einheitlichen Bild der Entwicklung ausging. Neben diesen beiden »Blöcken« waren es die sogenannten »blockfreien« Staaten wie Indien, die aus heutiger Sicht als Vorzeichen eines multizentrischen Weltbildes gelten können. Die genannten Modernisierungstheorien waren lediglich ein anderer Name für »Europäisierung« und »Verwestlichung«, so dass der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts unter verändertem Namen weitergedacht wurde. Man ging davon aus, dass unter Moderne nur die europäische Moderne zu verstehen sei. Insbesondere in Japan wurde diese Annahme schon früh und radikal in Frage gestellt, so dass die kritische Befragung der einen europäischen Moderne in Japan in den 1990er Jahren auf den Punkt gebracht wurde: »Wenn die Moderne durchaus von europäischem Wesen ist, erhebt sich eine interkulturelle Frage: wie verhält es sich mit der Moderne in nichteuropäischen Ländern? Ob und inwieweit ist die Modernisierung für diese Länder zugleich die Europäisierung? Gibt es überhaupt eine nicht-europäische Moderne? Die Frage nach der nicht-europäischen Moderne blieb weder für die europäischen noch für die nicht-europäischen Länder wichtig, solange Europa als Vorbild gelten konnte.« 291

Europa hat längst die unbestrittene Vorbildrolle als die »eine Moderne« verloren. Dennoch sind viele Lebenswelten immer noch von Einflüssen durchdrungen, die aus Europa stammen, wie beispielsweise im Fall moderner Technologien, die einen zentralen Teil der europäischen Moderne ausmachen. Diese Situation lässt sich wohl kaum umkehren im Sinne eines vollständigen Zurück zur alten Kultur vor der Europäisierung. 292 Welche Entwicklungen zeigen sich in dieser Situation? Kann es sinnvoll sein, diese komplizierten und widersprüchlichen Prozesse als verschiedene Modernen zu verstehen, bei denen nicht feststeht, wie sie zum einen die aus Europa stammenden Elementen der europäischen Moderne transformieren und zum anderen wie sie ihren Weg als jeweils eigenständige Modernen gestalten? Soll die Deutung der Gegenwart nicht nur Parolen überlassen werden, wie der Rede vom »Clash of Civilizations« (Huntington) oder vom »Ende

Ōhashi, Reflexion der nicht-europäischen Moderne, 148. Ob dies erstrebenswert wäre oder nicht, ist eine eigene Frage, die nur im Rahmen eines bestimmten geschichtlichen Kontextes erörtert werden könnte.

291 292

238 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

der Geschichte« (Fukuyama), gilt es alternative Denkwege zu erproben, um andere Gestaltungs- und Deutungsmöglichkeiten der globalen Vernetzung zu entwerfen. 293 4.3.2. Japanische Moderne In der modernen japanischen Philosophie ist seit den 1930er Jahren ein intensiver Diskurs zu den verschiedenen Modernen zu beobachten. 294 Mein Versuch, die Vielfalt der Modernen ausgehend von außereuropäischen Interpretationen zu erschließen, nimmt daher seinen Ausgang von einer Interpretation des japanischen Philosophen Keiji Nishitani (1900–1990), der den Prozess der Moderne in Japan bereits 1941 auf folgende Weise analysiert hat: »Das, was wir gewöhnlich als modern bezeichnen, ist etwas Europäisches. Moderne, das sind – egal ob politisch, wirtschaftlich oder kulturell – die letzten Züge der ›Neuzeit‹, in der die europäische Welt sich selbst über die Gesamtheit aller Welten ausbreitete. Auch Modernes in Japan beruht auf Europäischem, welches seit der Meiji-Restauration [d. h. ab 1868] eingeführt wurde. Eine auffallende Besonderheit dieses Kulturimportes aus Europa liegt darin, dass die einzelnen Bereiche der Kultur fast ganz ohne Zusammenhang untereinander eingeführt wurden. […] Die Kultur des Westens, die wir einführten, hatte bereits selbst ihren Zusammenhalt verloren. Es war nicht nur so, dass bereits alles in Spezialgebiete aufgefächert worden war, vielmehr gab es gar kein Zentrum mehr, welches die Fülle von »Despite the abuses of historiographic fashions, this [die Kritik am Orientalismus der westlichen Geschichtsschreibung] has had a liberating effect, especially in an emergent non-Western scholarship and for a growing number of scholars from East and South Asia, the Middle East, Africa, and Latin America. Yet there is no context within the world historical tradition to position these new histories, because world history, especially in its truncated form, has remained intimately linked to totalizing Western world images and stereotypes. The very act of mapping and thinking the world implicated historians from around the world in a nexus of histories of imperial power from which their ›other‹ worlds and histories were either excluded entirely – subaltern to the point of nonexistence – or rendered subordinate.« Geyer u. Bright, World History in a Global Age, 1036. 294 Elberfeld, Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. In dem Buch wird anhand der Genese »moderner japanischer Philosophie« zum einen gezeigt, wie die europäische Moderne in Japan implementiert wurde, und zum anderen analysiert, wie in der philosophischen Reflexion der geschichtlichen Situation Japans ein Selbstbewusstsein der »japanischen Moderne« entstanden ist. Thesen zur »Vielheit der Modernen« habe ich erstmals in der Abgabefassung der Dissertation von 1994 vorgelegt. 293

239 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Erscheinungen zusammengehalten hätte; die [europäische] Kultur hatte [seit der Neuzeit] ihre Einheit als Ganzes verloren.« 295

Nishitani betont, dass die Kultur Europas nicht als einheitliches Ganzes nach Japan übertragen wurde, sondern vielmehr das politische, wirtschaftliche, rechtliche und militärische System, die Künste, die Technik und vieles mehr in relativer Unabhängigkeit voneinander implementiert worden sind. Der Erfolg dieser Implementierungen rief in Europa bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts Verwunderung hervor, da die Entwicklungen auch ohne das Christentum zu gelingen schienen, das in Japan weder nennenswert existierte noch im großen Maßstab übernommen wurde, aber in Europa immer wieder als unabdingbare Voraussetzung der Moderne gesehen worden war. Japan schien modern zu sein, aber anders als man sich dies in Europa vorstellen konnte. Um dieses Anderssein genauer zu bestimmen, lassen sich aus Nishitanis Analyse zwei zentrale Punkte herauslösen, die für die Bestimmung der Multimodernität 296 von entscheidender Bedeutung sind. Nishitani weist auf den Differenzierungsprozess hin, durch den sich die europäische Kultur so weit in einzelne Bereiche aufgespalten hatte, dass diese sich zunehmend unabhängig voneinander entwickelten. So lösten sich die Künste, die Philosophie, die Politik und die Wirtschaft mehr und mehr von der Religion und deren Wertvorstellungen ab. Diese Differenzierungsprozesse sind inzwischen durch Niklas Luhmanns Analysen auf hohem Niveau reflektiert worden und gelten beispielsweise in bestimmten Strömungen der Soziologie als zentrales Kennzeichen der Moderne. Luhmanns Interpretationen beziehen sich allerdings nur auf Europa und die USA, so dass sich zum Beispiel für die Analyse der Moderne in Japan die Frage stellt, ob die europazentrierten Deutungen Luhmanns ausreichen. Nishitanis Analyse geht einen Schritt weiter und sieht, dass die einzelnen Bereiche nicht nur in Europa voneinander unabhängig wurden, sondern sich auch unabhängig voneinander über die ganze Welt verbreitet haben. Dies bedeutet, dass in einzelnen Ländern mit der Einführung der Demokratie nicht notwendig auch das europäiEbd. 256 f. Diesen Terminus verwende ich parallele zu dem Wort »Multikulturalität«. Er versucht die Wendung »Vielfalt der Modernen« in einem Wort zu fassen. Die Wortbildung liegt nahe und wird bereits sporadisch an verschiedenen Stellen verwendet, wie die Suche im Internet zeigt.

295 296

240 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

sche System der Künste übernommen wurde oder mit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht notwendig auch die Religion des Christentums eingeführt werden musste. Somit haben sich unterschiedliche Bereiche der ausdifferenzierten europäischen Moderne (Staatssystem, Wirtschaftssystem, Kunstsystem, Religionssystem, Rechtssystem, Technik usw.) mit einzelnen Lebenswelten außerhalb Europas neu verbunden. Durch die Ausdifferenzierung innerhalb Europas ist ein »Moderne-Set« entstanden, dessen Einzelsysteme auch unabhängig voneinander in andere Lebenswelten übertragen werden können. Beispielsweise ist Japan zwar in hohem Maße europäisiert, zugleich sind aber auch Momente der alten japanischen Kultur und Religion wirksam geblieben. So unterscheidet sich die japanische Moderne von der europäischen dadurch, dass in ihr neben einzelnen aus Europa importierten Bereichen ein eigenes Religionssystem, ein eigenes Kunstsystem, eine eigene Ausprägung der Rechtsstrukturen, das Kaiserhaus und anderes mehr existieren. Wie die einzelnen Systeme und ihr Zusammenhang zu bewerten sind, ist eine Frage, die selbst in kritischer Perspektive behandelt werden kann. Festzuhalten gilt, dass gerade in dieser spannungsreichen Überlagerung von sehr Heterogenem das entsteht, was man japanische Moderne nennen kann, das ein eigenes Gepräge angenommen hat, welches sich jedoch ständig in weiteren Wechselbeziehungen und geschichtlichen Verschiebungen verändert. Durch den selektiven Prozess der Implementierung einzelner Bereiche entstehen eigene Gestalten der Moderne, in denen die älteren Lebenswelten ihrerseits aufgespalten werden und nicht mehr als umfassende Orientierungssysteme erhalten bleiben. Alte Lebenswelten und neu übernommene Bereiche existieren oft gleichzeitig und ohne direkten Zusammenhang. 297 Wenn wir diesen jeweiligen Spaltungs- und Differenzierungsprozess und die eigenständige Reflexion

Dieses Auseinandertreten war auch in der konkreten Lebenswelt zu beobachten. Karl Löwith, der von 1936–41 Philosophie in Japan lehrte, beschrieb die Situation wie folgt: »Die Studenten studieren zwar mit Hingabe unsere europäischen Bücher und verstehen sie auch dank ihrer Intelligenz, aber sie ziehen aus ihrem Studium keine Konsequenzen für ihr eigenes, japanisches Selbst. […] Sie leben wie in zwei Stockwerken: einem unteren, fundamentalen, in dem sie japanisch fühlen und denken, und einem oberen, in dem die europäischen Wissenschaften von Platon bis zu Heidegger aufgereiht stehen, und der europäische Lehrer fragt sich: wo ist die Treppe, auf der sie vom einen zum andern gehen?« Löwith, Der europäische Nihilismus, 537.

297

241 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

auf die jeweilige Lebenswelt und Tradition mit »Moderne« bezeichnen, liegt es nahe, von verschiedenen »Modernen« zu sprechen. Viele dieser Modernen sind zwar von der Europäisierung betroffen, haben aber im Rahmen dieses Prozesses nur bestimmte Bereiche wie z. B. die technischen und wirtschaftlichen rezipiert und andere außer Acht gelassen, wie das Beispiel islamisch geprägter Länder wie Saudi-Arabien oder Oman zeigt. Dort wird ohne Zögern die technische, aber keineswegs die politische und religiöse Ordnung aus Europa übernommen. Die innere Zusammensetzung der verschiedenen Modernen ist somit je anders, was heute in vielen Ländern jedoch erst in Ansätzen bemerkbar wird, denn die verschiedenen Modernen sind keine Endgestalten, sondern umgekehrt oft widersprüchliche und komplexe Versuche, mit der Situation der Globalisierung auf eigene Weise umzugehen. Die Brüche und Widersprüche, die mit den jeweiligen Umwälzungen einhergegangen sind und immer noch einhergehen, sind erheblich und werden die Menschen vermutlich noch über Jahrhunderte beschäftigen. Alle Versuche, diese Entwicklungen im Rahmen einer einheitlichen Modernisierungstheorie zu beschreiben, dürfen inzwischen als gescheitert gelten. Vielmehr zeigt sich heute ein Bild verschiedener Modernen, die zunehmend vor dem Hintergrund älterer Denktraditionen eigene Beschreibungs- und Reflexionsformen entwickeln. Die verschiedenen Modernen, allen voran Japan und inzwischen auch China, entfalten ihren Deutungsanspruch für die eigene Moderne, so dass mehr und mehr kritische Alternativentwürfe zu den monolithischen Modernisierungsvorstellungen europäischer Provenienz entworfen werden: »Ist [also] die Moderne, vom Standpunkt ihrer Globalisierungstendenzen betrachtet, etwas ausschließlich Abendländisches? Nein, das kann sie nicht sein, denn hier sprechen wir ja von neu auftauchenden Formen der Weltinterdependenz und des planetarischen Bewußtseins. Die Art und Weise, in der man an diese Probleme herangeht und sie löst, wird […] unweigerlich Konzepte und Strategien ins Spiel bringen, die von nicht-abendländischen Umfeldern herrühren. Denn weder bei der radikalen Durchsetzung der Moderne noch bei der Globalisierung des sozialen Lebens handelt es sich um Prozesse, die in irgendeinem Sinne abgeschlossen wären.« 298

Um in der Analyse der Situation in unterschiedlichen Modernen nicht schon zu Anfang äußerliche Kriterien von »Entwicklung« an298

Giddens, Konsequenzen der Moderne, 215.

242 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

zulegen, müssen Reflexionen an Gewicht gewinnen, die von Menschen entwickelt werden, die jeweilig eigenständige Modernen gestalten und reflektieren. Dass diese Reflexionen inzwischen überall in der Welt angestellt werden und auch gerade dort, wo es der »europäische Intellektuelle« nicht erwartet, ist noch viel zu wenig ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Noch immer kann es Erstaunen auslösen, wenn von »afrikanischer Philosophie« gesprochen wird oder Menschen mit afrikanischem, indischem, chinesischem Kulturhintergrund Reflexionen über ihre eigene Moderne entwickeln. Allein die Tatsache, dass dieses nicht im Erwartungshorizont des europäischen Durchschnittsintellektuellen liegt, sagt viel aus über die Vorurteilsstruktur, die in Europa noch immer an der Tagesordnung ist. Heute ist längst in allen Gegenden der Welt Ähnliches wie in Japan zu beobachten. Im Folgenden seien als Schlaglichter einige Beispiele verschiedener Modernen und ihrer Reflexion in aller Kürze angeführt, um die Verschiedenheit der Ausgangslagen und Interpretationsansätze anzudeuten. Die einzelnen Modernen werden nicht immer nach dem gleichen methodischen Muster eingeführt, sondern jeweils anhand verschiedener Autoren und wechselnder Perspektiven. Da es lediglich darum geht, philosophische und geschichtliche Perspektiven zu öffnen für das Deutungsmuster einer Vielheit von Modernen, muss dieses Vorgehen an dieser Stelle genügen. 4.3.3. Chinesische Moderne In seinem Buch Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne kommt Oskar Negt bereits 1988 zu dem Schluss: »Es gibt nicht nur einen Weg der Modernisierung. Auf der Grundlage jenes gewaltigen Laboratoriums sozialer Experimente, die es in China seit 1949 gegeben hat, zeichnen sich mehrere und sehr verschiedene Wege der Modernisierung ab, freilich noch unbefestigte Wege. Es sind eher Schneisen, die ins Dickicht einer Traditionsgesellschaft geschlagen sind, Modernisierungspfade ohne Randbefestigungen.« 299

In diesem Zitat fällt zunächst eine alternative Redeweise zur Vielheit der Modernen auf. Es ist von verschiedenen »Wegen der Moderni-

Negt, Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos von der Moderne, 391.

299

243 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

sierung« die Rede, wobei der Akzent auf dem Plural der verschiedenen Wege liegt. Die verschiedenen Wege können aber dennoch zu der »einen Moderne« führen, auch wenn die Weisen, wie diese realisiert wird, verschiedenen sind. Dennoch scheint hier eine Pluralisierung auf, die man leicht mit dem Plural Modernen verbinden kann. Die von Negt ins Auge gefassten »Modernisierungspfade« wurden in China – und dies hat Negt nicht im Blick – spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts von chinesischen Philosophen mitgestaltet, in jeweils verschiedenem Umgang mit der eigenen Tradition. 300 Der Weg verlief dabei nicht so gradlinig wie in Japan, was durch die japanischen Expansionsinteressen wesentlich mitbestimmt wurde. 301 »Die Einflüsse des westlichen Denkens waren bis um 1900 äußerst diffus und nahezu unerfaßbar. Sie hatten keine unmittelbaren Auswirkungen, scheinen aber die chinesische Welt dazu angeregt zu haben, in den eigenen Traditionen nach Elementen zu suchen, die mit den auf den verschiedensten Wegen nach China eindringenden ausländischen Konzeptionen eine Affinität aufwiesen.« 302

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nimmt die Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne dann eine deutlichere Gestalt an, die zudem auf eine breitere Kenntnis Europas zurückgreifen konnte, die teilweise auch durch Japan nach China vermittelt wurde. So urteilt der chinesische Historiker Yu über die Prozesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Nach allgemeiner Auffassung scheinen chinesische Kultur und modernes Leben zwei völlig verschiedene, einander entgegengesetzte Dinge zu sein. Erstere sei die in China in Jahrtausenden zusammengekommene alte Kulturtradition, letzteres dagegen ein Satz erst in den vergangenen über hundert Jahren aufgetretener neuer Lebensweisen, der seinen Ursprung im Westen habe. Daher wird der Konflikt zwischen beiden im wesentlichen als Angriff der modernen Kultur des Westens auf die traditionelle Kultur Chinas und deren Herausforderung durch jene begriffen. Seit der 4.-Mai-

Vgl. z. B. Wesolowski, Lebens- und Kulturbegriff von Liang Shuming (1893– 1988). Dargestellt anhand seines Werkes Dong-Xi wenhua ji qi zhexue (Die Kulturen in Ost und West und deren Philosophien). 301 Chinas erster Anlauf zur Modernisierung scheiterte letztlich mit dem Krieg gegen Japan (1894), den China verlor. 302 Gernet, Die chinesische Welt, 499. 300

244 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Bewegung von 1919 kreisen alle Kontroversen bezüglich der Kulturproblematik um dieses Leitmotiv.« 303

Yu geht dann auf die Möglichkeiten ein, dieser Situation zu begegnen. Er unterscheidet zwischen drei Positionen, die eingenommen werden können: 1. Totale Verwestlichung, 2. Verteidigung der chinesischen Kultur, 3. vermittelnde Auffassungen. Nach einer längeren Erörterung des chinesischen Wertesystems und seiner Wandlungen hofft er, dass seine Darstellung »die am Anfang des Textes geäußerte These, dass chinesische Kultur und modernes Leben einander nicht ausschließen, zu erklären vermochte«. 304 Denn: »In der Realität existiert kein abstraktes modernes Leben, sondern lediglich die konkreten modernen Leben der verschiedenen Völker. Das moderne Leben der Chinesen ist also der konkrete Ausdruck der chinesischen Kultur im gegenwärtigen Stadium.« 305

Yu vertritt somit einen dynamischen Kulturbegriff, durch den das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne als ein fortlaufender Prozess verstanden wird. Eine andere Untersuchung über die Modernisierung der chinesischen Kultur kommt zu dem Fazit: »Es ist erkannt worden, dass die Moderne der westlichen Industriegesellschaft modern und westlich ist. Daraus ergibt sich für die nichtwestlichen Kulturen die Möglichkeit einer anderen, nichtwestlichen Moderne.« 306 Die zitierte Studie über die Modernisierungsdebatte in China gibt verschiedene Beispiele für die Möglichkeit einer »Sinisierung der Moderne«. China und die chinesische Kultur, mit der auch Japan aufs engste verbunden ist, bieten ein breites Feld, um die Konfliktzonen zwischen Moderne und Tradition zu untersuchen. Chinas Weg im Prozess der Modernisierung war von Anfang an dadurch geprägt, Vermittlungsformen

Deutsche Übersetzung aus: Miller, Die Modernität der Tradition. Zum Kulturverständnis des chinesischen Historikers Yu Yingshi, 60. 304 Ebd., 118. 305 Ebd., 118. Zur Reaktion Chinas auf den Westen im 19. Jahrhundert vgl. Teng u. Fairbank, China’s Response to the West; Zur Modernisierungsdebatte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. Birk, Totale Verwestlichung. Eine chinesische Modernisierungsdebatte der dreißiger Jahre; Meißner, China zwischen nationalem ›Sonderweg‹ und universaler Modernisierung. Zur Rezeption westlichen Denkens in China. 306 Geist, Die Modernisierung der chinesischen Kultur. Kulturdebatte und kultureller Wandel im China der 80er Jahre, 252. 303

245 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

zwischen beiden Polen zu entwickeln. Ein Weg, der in vielerlei Hinsicht auch blutig verlaufen ist. Heute schickt sich China an, zur quantitativ größten Moderne weltweit zu werden, in einem Tempo, in dem bisher vielleicht noch nie eine »Modernisierung« vorangetrieben wurde. Die chinesische Moderne wird das Bild der Moderne insgesamt nachhaltig verändern. Es bleibt abzuwarten, wie das Experiment, Marktwirtschaft mit Kommunismus und Konfuzianismus zu verbinden, weiter verlaufen wird. 307 Schon jetzt ist sicher, dass sich durch die Entfaltung der chinesischen Moderne das Machtgefüge im Hinblick auf die verschiedenen Modernen gewaltig verschoben hat und weiter verschieben wird. 4.3.4. Südamerikanische Modernen 308 Einer der wichtigen Protagonisten in der Diskussion um eine südamerikanische Moderne ist der argentinische Philosoph und Theologe Enrique Dussel, der dieses Thema zugleich in eigener Weise ausund umdeutet. 1992 hielt er in Frankfurt eine Vorlesung, die unter dem Titel Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne erschienen ist. Seine Ausführungen haben ihren zentralen Punkt darin »die Notwendigkeit der ›Überwindung‹ der Moderne« im Sinne der einen monolithischen europäischen Moderne aus der Sicht eines außereuropäischen Philosophen zu begründen und herzuleiten: 309 »Die Moderne fand ihren Ursprung in den freien Städten des Mittelalters, den Zentren einer enormen Kreativität. Geboren wurde sie jedoch, als Europa sich mit ›dem Anderen‹ Europas auseinanderzusetzen und dies zu kontrollieren, zu besiegen, zu vergewaltigen vermochte, sich als entdeckendes, eroberndes, kolonisierendes ›Ich‹ dieser konstitutiven Alterität der Moderne selbst definieren konnte. Dieses Andere jedenfalls wurde nicht als Ande-

Dabei kann festgestellt werden: »Das staatliche Bild einer sozialistischen Moderne mit chinesischer Prägung orientiert sich nicht an westlichen Vorbildern.« Dabringhaus, China, 61. Der Artikel von Dabringhaus zeichnet die Moderne-Diskussion in China seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise für diese Debatte. 308 Es ist Renato Ortiz zuzustimmen, wenn er sagt: »It is impossible to speak of Latin America as a unity; it is more prudent to speak of Latin Americas.« Ders., From Incomplete Modernity to World Modernity, 249. 309 Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne, 9. 307

246 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

res ›entdeckt‹, sondern ›verdeckt‹ als ›Dasselbe‹, was Europa von jeher gewesen war. So wird 1492 der Augenblick der ›Geburt‹ der Moderne als Entwurf; der ›Ursprung‹ eines ›Mythos‹ von ganz besonderer Gewalt und zugleich ein Prozeß der ›Verdeckung‹ des Nicht-Europäischen.« 310

Wie sofort erkennbar ist, wird die philosophische Auseinandersetzung mit der Moderne in Südamerika im Vergleich zu Japan und China von anderen Erfahrungen mit der europäischen Moderne getragen. Dussel schätzt zum einen die emanzipatorische Bedeutung der Moderne im Sinne der Aufklärung, zugleich deckt er aber ihren herrschsüchtigen und auf Machtgewinn ausgerichteten Anspruch auf. Er zeigt zudem sehr deutlich, dass eine rein europäische Definition der Moderne nicht einbezieht, dass der Konstitutionsprozess der europäischen Moderne nur im Zusammenhang mit der europäischen Eroberung der Welt zu sehen und verstehen ist. »Eine europäische Definition der Moderne zu geben – wie dies Habermas beispielsweise tut –, heißt nicht zu verstehen, daß die Moderne Europas alle anderen Kulturen als ihre Peripherie konstituiert. Es handelt sich [bei Habermas] darum, zu einer ›weltweiten‹ Definition der Moderne zu gelangen, in welcher der Andere Europas geleugnet und zur Nachfolge eines Modernisierungsprozesses gezwungen wird, obwohl er nicht identisch ist mit der Moderne.« 311

In diesem Sinne kritisiert Dussel Habermas, mit dem er sich in der emanzipatorischen Absicht verbunden fühlt, sehr heftig: »Ob Lateinamerika, Afrika, Asien existieren oder nicht, hat für den Frankfurter Philosophen überhaupt keine Bedeutung! Er schlägt eine exklusiv ›innereuropäische‹ Definition der Moderne vor – die darum sich selbst zum Mittelpunkt hat, also eurozentrisch ist, in der die europäische ›Partikularität‹ sich mit der weltweiten ›Universalität‹ identifiziert, ohne sich des bezeichneten Übergangs bewußt zu sein.« 312

Dussel versucht durch seine »Befreiungsphilosophie« einen grundlegenden blinden Fleck im Projekt der Moderne aufzudecken. Er zielt letztlich auf eine Pluralisierung, in der der Andere als Anderer das sein kann, was er ist. In diesem Sinne kritisiert er die »eurozentrischen (oder auch nordamerikanischen) Philosophien ohne Welt-

310 311 312

Ebd., 10. Ebd., 37. Ebd., 41.

247 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

bewußtsein« sowohl der »Moderne« wie auch der »Postmoderne«. 313 Für seine neue Sicht führt er das Wort »Transmoderne« ein: »So möchte der präzise Begriff der ›Trans-moderne‹ diese radikale Neuheit anzeigen: diesen gleichsam aus dem Nichts, aus der alternativen Exteriorität des stets Verschiedenen kommenden Einbruch von Kulturen, die sich entwickeln und die Herausforderungen der Moderne und sogar der europäisch-nordamerikanischen Post-Moderne auf sich nehmen, aber von einem anderen Ort her antworten. Sie antworten vom Ort ihrer eigenen kulturellen Erfahrung aus. Diese unterscheiden sich von den europäisch-nordamerikanischen und haben deshalb die Fähigkeit, zu Lösungen zu gelangen, die der modernen Kultur allein absolut unmöglich sind.« 314

Dussel ist nur eine Stimme im differenzierten Geflecht des Moderne(n)-Diskurses in Lateinamerika. Es lässt sich insgesamt keine einheitliche Richtung ausmachen, aber genau das scheint mir ein zentrales Kennzeichen dafür zu sein, dass sich verschiedene lateinamerikanische Modernen entwickeln und auf dem Weg sind, neue Reflexionsmöglichkeiten für ihre eigene Gegenwart zu entdecken. 315

4.3.5. Afrikanische Modernen 316 Bei den Diskussionen in den verschiedenen Modernen kommt es immer wieder vor, dass Japan als Modell und Vorbild für andere Modernen als die europäische gedeutet und gesehen wurde. Im Sinne einer solchen paradigmatischen Funktion der japanischen Moderne für eine außereuropäische – in diesem Fall afrikanischen – Moderne Ebd., 183. Interessant ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Postmoderne-Debatte, obwohl sie den Pluralismus ins Zentrum der neuen Epoche stellte, eigentlich nicht auf die Realität nicht-westlicher Kulturen eingegangen ist. 314 Dussel, Transmoderne und Interkulturalität – aus Sicht der Philosophie der Befreiung, 166 f. 315 Zur Geschichte der Moderne-Diskurse in Lateinamerika vgl.: Costa, Lateinamerika. Für eine Interpretation aus der Perspektive Luhmanns vgl. Mascareño, Die Moderne Lateinamerikas. Weltgesellschaft, Region und funktionale Differenzierung. Für einen Vergleich zwischen Nord- und Südamerika vgl. Globality and Multiple Modernities. Comparative North American and Latin American Perspectives, hg v. Roniger u. Waisman. 316 Ebenso wie Südamerika nicht als eine homogene Ganzheit existiert, müssen die verschiedenen Gebiete und Staaten Afrikas als verschiedene Modernen gesehen werden. Für eine kritische Diskussion der Moderne als Beschreibungsparadigma im Zusammenhang mit Afrika vgl. Eckert, Afrika. 313

248 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

schreibt Janheinz Jahn bereits Ende der 1950er Jahre, der Hochzeit der eurozentrierten Modernisierungstheorien, 317 in seinem bekannten und heute durchaus umstrittenen Buch Muntu: »Das Beispiel Japans lehrt, daß ein Volk sich moderne Technik und moderne Organisationsformen aneignen kann, ohne seine überlieferte Kultur aufzugeben; daß sich das Moderne in eine nicht-europäische Kultur einbauen läßt, ohne diese zu zerstören. Könnte sich in Afrika Ähnliches vollziehen?« 318

Jahn bejaht diese Frage dann emphatisch: »Die afrikanische Intelligenz will aber aus der afrikanischen Vergangenheit das bewahren und in die moderne Gegenwart einbauen, was ihr wertvoll erscheint. Das Ziel ist weder der traditionelle Afrikaner noch der ›schwarze Europäer‹, sondern der moderne Afrikaner. Das heißt: in eine rational gesichtete Tradition, deren Werte man bewußt macht und erneuert, werden jene europäischen Elemente aufgenommen, welche die moderne Zeit erfordert, und dabei werden die europäischen Elemente so umgeformt und angepaßt, daß aus dem Ganzen eine moderne, lebensfähige afrikanische Kultur entsteht. Es handelt sich also um eine echte Renaissance, die ja nicht nur formal Erneuerung und Kopie der Vergangenheit bleibt, sondern etwas Neues entstehen läßt. Dieses Neue ist bereits vorhanden; wir nennen es die neoafrikanische Kultur.« 319

Jahn argumentiert im Rahmen des Beschreibungsparadigmas verschiedener Kulturen. Man könnte an dieser Stelle auch von afrikaniIn polemischer Absicht beginnt er sein Buch mit folgenden Worten: »Afrika tritt in die Weltgeschichte ein. Viele Veröffentlichungen beschäftigen sich mit den politischen, wirtschaftlichen, soziologischen und psychologischen Aspekten dieses Prozesses. Ihnen gemeinsam ist die Überzeugung, daß sich ein Kulturwandel nach einem einfachen Schema vollziehe: durch Einwirkung Europas paßt sich Afrika an, gebe seine Traditionen auf und übernehme fremde Glaubensvorstellungen, Arbeitsmethoden, Staatsformen, Wirtschaftsprinzipien. Die Zeit des Übergangs, ob kurz oder lang, sei eine Zeit der Krise, die alle Afrikaner vor die Entscheidung stelle, entweder die moderne Zivilisation anzunehmen und zu überleben, oder mit der Tradition unterzugehen. Die Befürworter eines allmählichen wie die eines plötzlichen Übergangs sind sich einig, daß am Ende des Prozesses ein völlig europäisiertes Afrika stehe. Europa gebe das Modell, Afrika kopiere; Europa sei geistig der gebende, Afrika der empfangende Partner.« Jahn, Muntu. Die neoafrikanische Kultur, 11. 318 Jahn, Muntu, 12. Auch wenn an der Sicht Jahn vieles zu kritisieren ist im Hinblick auf die Stereotypen, die er mit seinen Interpretationen bedient und erzeugt, so hat er doch immer auch die moderne Gegenwart der afrikanischen Kulturen im Blick, was nicht häufig der Fall war und ist. 319 Ebd., 16 f. 317

249 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

scher Moderne oder von afrikanischen Modernen sprechen. Bei aller Kritik an den Interpretationen von Jahn kann heute dennoch beobachtet werden, dass die Ansätze immer zahlreicher werden, die in eine ähnliche Richtung zielen. Inzwischen bemühen sich afrikanische Philosophen in den verschiedenen Ländern Afrikas darum, die eigenen Traditionen zu reflektieren und neu in den Blick zu bringen. Zugleich versuchen sie eine afrikanische Moderne zu denken und mitzugestalten, die jedoch selbst noch einmal in verschiedene Modernen zergliedert werden muss. »So ergibt sich, daß die afrikanischen Philosophen, indem sie die afrikanische Identität, ihrem Beruf angemessen, definieren, ipso facto dazu beitragen, die Identität Afrikas in der gegenwärtigen Welt zu definieren und zu befestigen.« 320 Kwasi Wiredu, gegenwärtig einer der bekanntesten afrikanischen Philosophen aus Ghana, sieht in der Arbeit an einer »afrikanischen Identität« eine seiner zentralen Aufgaben als Philosoph. Seine Überlegungen stehen dabei in der Spannung zwischen den eigenen afrikanischen Traditionen und den Erfordernissen der Modernisierung. »So entwickelt sich in der Zeit nach der Befreiung eine Spannung zwischen dem kulturellen Nationalismus und den Erfordernissen der Modernisierung. Auf der einen Seite besteht ein starkes Verlangen, zu den Ursprüngen und den alten Lebensformen zurückzukehren; auf der anderen Seite besteht ein ebenso starkes Verlangen, die alten Wege nach Maßgaben zu verändern, die in einigen Fällen von fremden Völkern vorgegeben wurden.« 321

Direkt im Anschluss an diese Feststellung geht Wiredu auf das Beispiel Japans ein und sagt: »Offensichtlich ist diese Nation zur Modernisierung fähig gewesen und hat zugleich ihre eigene, besondere Kultur erhalten.« 322 Wiredu setzt sich dann kritisch mit dem Beispiel Japan auseinander, indem er sagt, dass die Voraussetzungen in Japan – keine Eroberung, eine einzige Nationalsprache, lange Tradition der Schrift – sich stark von den Voraussetzungen in Afrika unterscheiden. Dennoch sieht er Japan darin als Vorbild, dass man weder nur an der alten Tradition festhalten noch die Tradition vollständig zugunsten der Modernisierung aufgeben müsse. »Durch Analogieschluß läßt sich folgern, daß die Lösung für Afrikas Identitätsproblem in der gegenwärtigen Welt nicht im kulturellen TraditionalisWiredu, Probleme des afrikanischen Selbstverständnisses in der gegenwärtigen Welt, 41 f. 321 Ebd., 30. 322 Ebd., 30. 320

250 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

mus, sondern in einer kritischen und rekonstruktiven Selbstbewertung liegt.« 323

Der kritische Rückbezug auf die eigene Geschichte ist dabei in Afrika nicht nur von den Erfahrungen der Kolonialisierung in Afrika geprägt, sondern insbesondere auch von der Geschichte der transatlantischen Sklaverei. Die Erfahrungen, die hiermit zusammenhängen, sind bis heute traumatisch. Reflexionen zur Moderne in Afrika sind teilweise aus diesen Erfahrungen entstanden. Ohne diese Erfahrungen einzubeziehen, kann auch der Modernediskurs in Afrika nicht verstanden werden. »Afrika wurde zunächst von zurückkehrenden Sklaven thematisiert, die eine Antwort auf eine existentielle Frage finden wollten. Daraus entstand ein Bild von Afrika, das durch einen Prozess der Institutionalisierung bzw. Systematisierung eine soziale Wirklichkeit entfaltete, die heute als Afrika bekannt ist. Die existentielle Frage bestand darin, die Begegnung mit Europa, vor allem durch die Sklaverei und die abwertenden Theorien über Afrikaner, die im 19. Jahrhundert in Europa salonfähig waren, zu deuten und zu verstehen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich so ein Diskurs von Afrikanern über Afrika, der bis zum heutigen Tag die Grundlage für die Historisierung der afrikanischen Wirklichkeit darstellt.« 324

In den Auseinandersetzungen zu der/den afrikanischen Moderne(n) wird vor allem klar, dass die innerhalb der europäischen Moderne entstandene Beschreibungsterminologie für das Moderne, die bis heute in hohem Grade wirksam ist, äußerst problematisch ist. Die Unterscheidungen von »Moderne« und »Tradition«, »zivilisiert« und »unzivilisiert/primitiv«, »Kulturmenschen« und »Wilde/Naturmenschen«, »Nation« und »Stamm«, »Recht« und »Brauchtum« zeigen in sich eine hierarchische Bewertungsstruktur, wobei das Andere zur »Moderne« in Europa von Grund auf deskreditiert und abgewertet wird. 325 Es stellt sich somit die paradoxe Aufgabe, ein Verständnis von Moderne und Modernen zu erzeugen, worin diese normativen Hierarchisierungen und Unterscheidungen unterlaufen werden und eine gegenseitige Kritik der verschiedenen Modernen möglich wird. Für jede Moderne bleibt somit die Aufgabe, sich selbst kritisch zu bestimmen vor dem Hintergrund der eigenen geschichtlichen Kontexte und im Kontext der verschiedenen Modernen. 323 324 325

Ebd., 33. Macamo, Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en) Mensch zu sein, 151 f. Vgl. Kuper, The Invention of Primitive Society. Transformation of an Illusion.

251 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

4.3.6. Islamische Modernen Die Frage nach dem Islam und seiner Beziehung zur Moderne zieht in vielen Diskussionen nicht zuletzt seit dem 11. September 2001 die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Seit Jahren gehen heftige Gegenbewegungen zu dem, was in islamisch geprägten Ländern als »die Moderne« gilt, von gewaltbereiten Gruppen aus. 326 Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre wurden diese Gegenbewegungen in Europa unter dem Stichwort »Fundamentalismus« heftig diskutiert. Die Fundamentalisten wurden als die zentralen Gegner einer »modernen Welt« identifiziert, gegen die es im Namen der Moderne anzugehen galt. 327 Inzwischen hat sich die Diskussion differenziert und man erkennt, dass es weder den »Islam« gibt noch eine einheitliche Reaktion des Islams auf die Moderne jemals geben kann. 328 Vor allem unter den Intellektuellen in verschiedenen islamisch geprägten Ländern – Türkei, Iran, Ägypten, Marokko, Indonesien – hat eine Reflexion der Moderne auf verschiedenen Ebenen eingesetzt. Für viele Intellektuelle ist der Eindruck entstanden, den Sadik J. Al-Azm für das arabische Leben festhält: »Alle Einflüsse, die das arabische Leben in den letzten ungefähr 150 Jahren maßgeblich geprägt haben, waren europäischer Herkunft. Erinnert sei an Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus, Nationalismus, Säkularismus und Liberalismus, oder an die theoretischen wie angewandten Wissenschaften und Technologien (sowohl ziviler wie militärischer Natur). Erinnert sei auch an den Aufbau des modernen Nationalstaates mit all seinen Institutionen und Dienstleistungen. Diese Einflüsse setzen sich be-

Zu einer gegenwärtigen Deutung des islamischen Terrorismus vgl. Gray, Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne. Dort heißt es: »Die westlichen Gesellschaften werden von dem Glauben getragen, die Moderne sei ein ganz bestimmter Zustand, überall gleich und unbedingt gut, und die Gesellschaften werden in dem Maße, in dem sie moderner werden, einander auch ähnlicher. Gleichzeitig werden sie besser. Modern zu sein bedeutet, unsere Werte durchzusetzen – die Werte der Aufklärung, wie wir sie gerne nennen. Kein Klischee trägt mehr zur allgemeinen Verdummung bei als die Behauptung, al-Qaida sei ein Rückfall ins Mittelalter. Al-Qaida ist eine Begleiterscheinung der Globalisierung.« Ebd., 11. Und, so könnte man ergänzen, eine Auswirkung der Bildung verschiedener Modernen, worin sich ein hohes Gewaltpotential ansammeln kann, wie bereits der Fall Japans in der Mitte des 20. Jahrhunderts gezeigt hat. 327 Vgl. hierzu Fundamentalismus in der modernen Welt, hg. v. Meyer. 328 Vg. Islam in the Modern World, hg. v. Kenney u. Moosa. 326

252 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

kanntlich gleichermaßen über politische und ethnische wie über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg.« 329

Vor diesem Hintergrund ist daran zu erinnern, dass die Unabhängigkeit vieler heute vom Islam geprägter Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte. Die großen und schwierigen Reibungen und Widersprüche, die aus der Perspektive der verschiedenen Schulen des Islam mit dem modernen Säkularisierungsprogramm europäischer Prägung verbunden sind, wurzeln auch in dem umfassenden Anspruch, den der Islam als Religion und Lebensweg erhebt. Ohne auch nur annähernd die Vielfalt der Reaktionen islamischer Autoren auf die Moderne benennen zu können, 330 sollen Stimmen aus zwei Kontexten – Iran und Türkei – angeführt werden, um den Grundkonflikt, an dem viele Intellektuelle und Politiker sich abarbeiten, zu markieren. Der iranische Philosoph Jahanbegloo beschreibt die Grundstimmung des Konfliktes wie folgt: »The agonizing question is how to have an autonomous experience of modernity when dominated by a process of global modernity that brings to the Iranian the sentiment of superiority. This complex sentiment of inferiority mixed with that of the loss of the Iranian self through the global domination of the West has been the foundation for theoretical elaborations on the two concepts of tradition and modernity among four generations of Iranian intellectuals«. 331

In diesen vier Generationen von Intellektuellen liegt ein breites Spektrum der Positionen vor, die sich vor allem auf vier Grundrichtungen verteilen: 1. Die allein vom Islam ausgehenden Intellektuellen, die sich in scharfer Opposition zur »westlichen Moderne« sehen. 2. Die religiösen Modernisten, die versuchen, den Islam mit bestimmten Ebenen der als westlich gesehenen Moderne zu verbinden. 3. Die MoAl-Azm, Fundamentalismus – Neubewertet, 77. Die englischsprachige Fassung des im gleichen Jahr erschienen Buches trägt bezeichnenderweise den Titel: »Islams and Modernities«. Sowohl der Islam wie auch die Moderne werden in den Plural gesetzt. 330 Für eine ausführlichere Darstellung der Moderne-Diskussionen in islamisch geprägten Ländern vgl. Krämer, Arabische Welt und Preckel, Muslimisches Südasien; Stutz, Islam und Moderne. Ein Abriss über die innermuslimische Diskussion im 20. Jahrhundert. Für eine historische Perspektive, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, vgl. Schäbler, Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883. 331 Jahanbegloo, Introduction, in: Iran. Between Tradition and Modernity, hg. v. Jahanbegloo, xii. 329

253 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

dernisten, die große Teile der Moderne als erstrebenswert sehen und diese mit islamischen Elementen zu verbinden versuchen. 4. Die Modernisten, die einer säkularisierten Version der Moderne anhängen. 332 Ein Autor mit türkischem Hintergrund sieht den Zusammenhang zwischen Islam und Moderne als eine Bewegung, deren Möglichkeiten noch längst nicht ausreichend in den Blick getreten sind: »The question that needs to be asked is not whether Isalm is compatible with modernity but how Islam and modernity interact with each other, transform one another, reveal each other’s limits. Neither Islam nor modernity can be taken as a static project.« 333

Da es sich beim Islam um eine Religion handelt, die einerseits einen Universalitätsanspruch vertritt und andererseits eine Lebensordnung umfasst, in der sich letztlich Religion und Politik kaum trennen lassen, bleibt abzuwarten, wie die verschiedenen Vermittlungsbemühungen im Rahmen der Politik, aber auch im Rahmen intellektueller Entwürfe verlaufen werden. Vor allem ist daran zu arbeiten, das Gewaltpotential, das in dem Konflikt auf verschiedenen Seiten immer wieder hervorbricht, durch die politischen und intellektuellen Bemühungen zu vermindern. Auf der Publikationsebene ist jedenfalls ein aktives Engagement wahrzunehmen, um Gegengewichte zu Vorurteilen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zu bilden. 334 Im Rahmen der Diskussion um die islamischen Modernen treten unter anderem auch verschiedene Sprachen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das deutsche Wort Moderne stammt aus dem Lateinischen und ist durch eine über hundertjährige Gebrauchsgeschichte in den europäischen und US-amerikanischen Wissenschaften mit Bedeutungen angereichert worden. Wenn dieses Wort nun in andere

Die Einteilung richtet sich nach der Analyse von Jamshid Behnam in seinem Aufsatz Iranian Society, Modernity, and Globalization, in: Iran. Between Tradition and Modernity, hg. v. Jahanbegloo, 10 f. 333 Göle, Snapshots of Islamic Modernities, 94. Zu einer weiteren Interpretation der türkischen Moderne vgl. Göksel, In Search of an Non-Eurocentric Understanding of Modernization: Turkey as a Case of ›Multiple Modernities‹. 334 Muslim Modernities, hg. v. Sajoo; Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, hg. v. Cavuldak et al.; Kamali, Multiple modernities and mass communications in Muslim countries; Possamai, Shari’a and multiple modernities in Western countries: toward a multi-faith pragmatic modern approach rather than a legal pluralist one?; Jung u. Sinclair, Multiple modernities, modern subjectivities and social order: Unity and difference in the rise of Islamic modernities. 332

254 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Sprachen übersetzt wird, dann ist zu erwarten, dass sich erhebliche Schwierigkeiten ergeben. »Es ist aufschlussreich, den Begriff der ›Moderne‹ auf seiner Wanderung durch die Sprachen zu verfolgen, die von Muslimen gesprochen werden. Im Arabischen wurden bereits zahlreiche Versuche von Akademikern und Nicht-Akademikern unternommen, sich auf einen weniger problematischen Begriff zu einigen. Der Begriff der Moderne ist nämlich aufgrund seiner Konnotation eng mit einer dem Propheten zugeschriebenen Tradition verbunden, die als ›Hadith der Innovation‹ bekannt ist. Der Begriff, auf den man sich einigte, lautet im Arabischen ›al-hadâtha‹. Seine Wurzel verweist auf die Vorstellung von Neuheit und Innovation. Im Persischen wird zumeist der Begriff ›Tajaddud‹ verwendet, der Erneuerung bedeutet. Im Bahasa-Indonesischen und in der malaysischen Sprache hat der Begriff seine Form bewahrt: ›Modernitas‹. Im Türkischen nimmt der Begriff ›Modernizm‹ deutlich die Bedeutung des europäischen Begriffs von Moderne auf. In Swahili wird eher ein anderer Begriff bevorzugt: ›utamaduni‹. Dieser knüpft an das arabische ›tamaddun‹ an, dessen Bedeutung zwischen ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ liegt.« 335

Ausgehend von diesen Beobachtungen wäre es aufschlussreich, wenn wir über eine Übersetzungsgeschichte des Wortes Moderne in verschiedene Sprachen verfügen würden. Wie aus dem Zitat geschlossen werden kann, sind sicher verschiedene Übersetzungen des Wortes mitverantwortlich für die verschiedenen Diskussionsverläufe. Wird das Wort in seiner Übersetzung an ältere Traditionen des Denkens angebunden, so ruft es in seiner Verwendung diese älteren Bedeutungen unwillkürlich mit auf. Wird es hingegen als Fremdwort in die jeweilige Sprache übernommen, so bedarf es einer längeren Gebrauchsgeschichte, um es in der Sprache heimisch zu machen. Zudem kann es in diesem Falle auch Gegenreaktionen allein dadurch auslösen, dass mit diesem Fremdwort unterschwellig eine kolonialistische Grundstimmung transportiert und Moderne von Anfang an negativ besetzt wird. Die Aufarbeitung dieser Übersetzungsgeschichte stellt somit ein dringendes Forschungsdesiderat dar, um die Diskussionen zur Vielfalt der Modernen zum einen durchsichtiger zu machen und zum anderen weiter vertiefen zu können.

335

Abdeljelil, Die Moderne aus der Perspektive muslimischer Kulturen denken, 65

255 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

4.3.7. Europa: Vielheit der Modernen und eine Moderne unter anderen Betrachtet man die Erzählungen über die Entstehung der Moderne in Europa, so wird bald sichtbar, dass auch die Entstehung der Moderne in Europa keineswegs als etwas Einheitliches angesehen werden kann. 336 Vergleicht man die unterschiedlichen Bedingungen in England, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland so kann auch hier jeweils von verschiedenen Modernen die Rede sein, die in der europäischen Geschichte eine eigene Form der Synergie entfaltet haben. 337 Im Grunde kann erst mit der Bildung der EU von einer europäischen Moderne die Rede sein, die sich selbst als Staatenbund im Sinne einer eigenständigen Moderne konstituiert. Im Licht der Multimodernität wäre heute die europäische Moderne in diesem Sinne als eine Moderne oder verschiedene Modernen unter anderen zu beschreiben. Europa ist längst nicht mehr die Moderne, die vorrangig den Export ihrer autonom gewordenen Bereiche wie Recht, Wirtschaft, Technik usw. betreibt. Sie selbst nimmt als eine Moderne unter anderen auch Einflüsse aus anderen Modernen auf, auch wenn dies aus bestimmten Blickrichtungen noch immer eine eher marginale Entwicklung zu sein scheint. Einzelne Bereiche aus anderen Modernen, die sich ihrerseits mehr oder weniger »universalisiert« haben und in Konkurrenz zu europäischen Konzepten treten, machen sich in der europäischen Moderne geltend. Wenn die USA als eigenständige Moderne betrachtet werden können, so steht die europäische Moderne bereits in ihrer Beziehung zu den USA unter dem Einfluss einer anderen Moderne. 338 Aber auch andere gewichtige Beispiele wie die chinesische Medizin, auf die bereits im letzten Abschnitt ausführlicher Bezug genommen wurde, zeigen einen eigenen und unabhängigen Ansatz für das Bild von der Gesundheit des Menschen, so dass beispielsweise in einer chinesischen Moderne verschiedene Weisen der Es existiert nicht eine lineare Erzählung der Moderne in Europa, vielmehr haben sich in verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Erzählungen etabliert. Vgl. hierzu insgesamt: Handbuch der Moderneforschung, hg. v. Jaeger, Knöbel u. Schneider. 337 Strath, Multiple Europes. Integration, Identity and the Demarcation of the Other; Blokker, Multiple Democracies in Europe; Delanty, Multiple Europes, multiple modernities. Conceptualising the plurality of Europe. Die zuletzt genannte Ausgabe der Zeitschrift Comparative European Politics steht unter dem Thema Many Europes. 338 Vgl. Pells, Not like Us: How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture since World War II. 336

256 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Medizin selbstverständlich nebeneinander Anwendung finden können. An diesem Beispiel zeigen sich nicht nur die Grenzen bestimmter wissenschaftlicher Methoden, sondern auch die Möglichkeit, auf einer anderen Basis Universalisierungen durchzuführen. Als weitere Beispiele können die Diskussionen um Managermethoden in Ostasien, die hochgradige Ausdifferenzierung des Schlichtungsrechts in Japan, der Einfluss außereuropäischer Kunsttraditionen und anderes angeführt werden. 339 In Europa ist noch immer – auch in den Wissenschaften und der Philosophie – das Bild vorherrschend, dass außerhalb Europas und den USA verschiedene »Traditionen« existieren und diese nun in eine Auseinandersetzung mit der »modernen Welt« treten können. 340 Diese eurozentrische Sicht trifft aber schon lange nicht mehr zu. Die Reflexionen der verschiedenen Modernen haben bereits ganz andere Bilder der Vernetzung entwickelt, die in Europa aber noch immer nicht zum Allgemeingut geworden sind. Erst wenn die Europäer beginnen, die verschiedenen Modernen ernst zu nehmen und in ihrem eigenen Profil zu erkennen, wird sich auch das immer noch latent oder auch ganz offen wirksame Überlegenheitsbewusstsein verändern. Dafür muss sich das Bild von der Geschichte der Menschheit grundsätzlich lösen von einer alles durchherrschenden einheitlichen Teleologie, die im Rahmen des europäischen Geschichtsdenkens entstanden ist. Erst dann kann die Beschreibungsmöglichkeit einer Pluralität der Modernen ein neues Bild von der Zukunft zeichnen. In der Perspektive der Multimodernität ergeben sich nicht nur neue Analyseperspektiven für die Moderne in Japan, China, Argentinien und anderen Ländern, sondern auch für die verschiedenen Modernen in Europa und den USA. »The first radical transformation of the premises of cultural and political order took place with the expanison of modernity in the Americas. There, distinctive modernities, reflecting novel patterns of collective consciousness, Vgl. hierzu die Ausführungen im vorhergehenden Text. Dieses Schema ist demütigend, da es die moderne »westliche Welt« als entwickelt ansieht und die »Traditionen«, die vor allem mit der »dritten Welt« identifiziert werden, als unterentwickelt betrachtet. Gegen dieses Schema wenden sich immer wieder Autoren in der Diskussion um die verschiedenen Modernen: »If this book has one principal aim, it is to diminish the dim spots surrounding the history of the encounter of Iran with modernity and its political, social, and cultural consequences by overcoming the fallacious dichotomy of tradition/modernity and the related evolutionist view on unilinear progress of cultures.« Jahanbegloo, Introduction, xxiii.

339 340

257 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

emerged. To say this is to emphasize that practically from the beginning of modernity’s expansion multiple modernities developed, all within what may be defined as the Western civilizational framework.« 341

Die alte Bezeichnung »der Westen« hat ausgedient bzw. ist bereits jetzt erheblich relativiert worden, 342 da diese Vorstellung einer anderen Zeit entstammt und mit ihr die gegenwärtige Situation in ihrer Differenziertheit nicht gebührend zum Ausdruck gebracht werden kann. 343 Letztlich kann man heute davon ausgehen, dass bereits mit der Unabhängigkeitserklärung der USA eine eigenständige Moderne in Nordamerika entstanden ist, die der Herkunft gemäß viele Gemeinsamkeiten zeigt zu den Modernen in Europa, aber dennoch von Anfang an verschiedene Strukturen entwickelt hat. Hervorzuheben ist beispielsweise die Bedeutung der Religionen, die in der US-amerikanischen Moderne vor allem auch durch die europäischen Immigranten Ende des 19. Jahrhunderts bis heute eine weitgehend andere Rolle spielten im Vergleich zu der Moderne in Europa. 344 Es ist inzwischen nicht nur im Hinblick auf die politische Ebene klar, dass die Vorstellungen von der Moderne in Europa und den USA verschieden sein können, was jedoch zu keinem Bruch führen muss, sondern vielmehr dem Dialog und der Partnerschaft ein klares Profil verleiht. Im Dialog der verschiedenen Modernen haben Fragen wie die nach der Todesstrafe und den Menschenrechten, den Strategien zur sozialen Absicherung, der Beziehung zwischen Staat und Religion, dem Um-

Eisenstadt, Multiple Modernities, 13; Vgl. auch ders., Die Vielfalt der Moderne, 46 ff. 342 Das Seltsame dieser Bezeichnung kam immer dann besonders zum Ausdruck, wenn Japan in verschiedenen Zusammenhängen zu den »westlichen Nationen« gezählt worden ist, wie dies regelmäßig bei den ehemaligen G7-Gipfeltreffen zu beobachten war. »Westen« ist in diesem Falle nur dann eine geographische Bezeichnung, wenn man Japan als »westlich« von den USA gelegen ansieht. Im Grunde bezeichnet »Westen« aber eher eine europazentrierte Sicht, zu der dann auch die USA und Japan gezählt werden. 343 Vgl. beispielsweise das Kapitel »A post-Western World« in: Europe and Asia beyond East and West. Towards a new cosmopolitanism, hg. v. Delanty. 344 »American civil religion transformed the original Puritan vision into the republican ›founding myth‹ of a virtuous, freedom-loving, egalitarian, self-governing people. Thus a utopian, transcendental dimension was created that constantly demanded, as Robert Bellah has called it, ›an understanding of the American experience in the light of ultimate und universal reality‹.« Heideking, The Pattern of American Modernity from the Revolution to the Civil War, 236. 341

258 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

gang mit Minderheiten, dem Recht auf Kriegsführung usw. ihren Ort. 4.3.8. Wechselseitige Kritik in einer Vielfalt von Modernen Durch die bewusste Einführung und Betonung des Plurals Modernen wird die Aufmerksamkeit auf die Verschiedenheit der jeweiligen Modernestruktur gelenkt. Mit dieser Schärfung des Blicks gehen die Erwartung und der Wunsch einher, Positionen aus verschiedenen Modernen zu hören und als gewichtige Stimmen wahrzunehmen. Solange die Moderne nur als Singularetantum verstanden wird, liegt die Deutungsmacht nur in Europa und den USA als den Gebieten, die »die Moderne« in ihrer Selbstdeutung maßgeblich erzeugt haben und in bestimmter Form exportieren. Erst wenn eine Vielzahl von Modernen anerkannt wird, kann eine Wahrnehmung der Multimodernität entstehen, die zum Beispiel in der japanischen, chinesischen, indischen, islamischen, brasilianischen Moderne jeweils eigene Antworten auf die Probleme der Gegenwart erkennt, so dass der Gegensatz von Tradition und Moderne weltweit in ein neues Licht gerückt wird. Die Wahrnehmung einer anderen Moderne lässt kaum noch den exotisierenden Blick zu, sondern wird von Anfang an mit den komplizierten Widersprüchen und politischen Schwierigkeiten konfrontiert, wie sie in jeder Moderne auftreten. In der sich zunehmend polyzentrisch entwickelnden Welt, im Sinne der Globalisierung, hat gerade auch die Philosophie die Aufgabe, diesen Prozess der Modernen zu reflektieren, wobei auch die europäische Moderne als eine Moderne stets unterwegs bleibt. In der europäischen Selbstgestaltung muss die Kritik der anderen Modernen an der europäischen Moderne, die inzwischen vielerorts vernehmbar ist, einbezogen werden. 345 Die anderen Modernen sind auf anderem geschichtlichen Boden gewachsen, so dass es für Europas Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, sich auch mit dem außereuropäischen Denken in Vergangenheit und Gegenwart zu befassen. Es ist somit notwendig, Methoden einer intermodernen Kritik Viele Formen der postkolonialen Kritik an Europa können verstanden werden als Kritik an den inneren Widersprüchen der europäischen Moderne, die zugleich auch die Widersprüche der Aufklärung mit in den Blick nimmt. Diese Widersprüche sind vor allem aus politischen und deutungstheoretischen Machtansprüchen entstanden, was sich geschichtlich beispielsweise in dem Zugleich von Menschenrechtsdiskussion und Imperialismus gezeigt hat.

345

259 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

zu entwickeln, die davon ausgeht, dass verschiedene Modernen neben der europäischen existieren, und gerade darin ein fruchtbares Dialogpotential erblickt. Vor diesem Hintergrund ist es besonders aufschlussreich, die Kritik der anderen Modernen an der europäischen Moderne zu studieren und ernst zu nehmen. 346 Denn wie sich die Geschichten der verschiedenen Modernen weiterentwickeln, wird schon lange nicht mehr nur in Europa oder den USA entschieden. In dieser Perspektive wird der immer noch häufig beschworene Dialog zwischen der Moderne (in Europa und den USA) und den verschiedenen Traditionen überführt in einen Dialog zwischen verschiedenen Modernen. Damit verliert Europa die letzte Bastion seiner weltgeschichtlichen Deutungsmacht, was als eine Konsequenz der europäischen Moderne und der sich daraus ergebenden Multimodernität angesehen werden kann. Vielleicht lässt sich dadurch auch auf neue Weise wiederentdecken, was in Europa durch die »aufgeklärte« Moderne verdrängt wurde und erst heute wieder neu als europäische Tradition wiedergewonnen werden kann. 347 In der heute in Europa verbreiteten Geschichtsschreibung beginnt »die Moderne« für die verschiedenen Gebiete der Welt mit der Eroberung durch die Europäer oder der mehr oder weniger freiwilligen Übernahme der europäischen Moderne. Dieses Bild legt nahe, dass vor der Eroberung bzw. Übernahme der europäischen Moderne in den einzelnen Gebieten »Traditionen« existiert hätten, in denen als solche keine kulturelle Differenzierung vorhanden gewesen wäre, bzw. dass alle nichteuropäischen Länder als rückständig zu betrachten seien. Die neuere globale Weltgeschichtsschreibung hat diese Sicht grundlegend relativiert. »Viele Historiker stellen sich die Welt nicht mehr als einfache Fortsetzung universeller und alternativloser Entwicklungen vor, die Jahrhunderte zuvor in Europa ihren Ursprung hatten. Sie glauben stattdessen eine Welt zu erkennen, in der Bevölkerung, Industrie und Agrarproduktion bis 1750 beziehungsweise 1800 ihren Schwerpunkt in Asien hatten.« 348

Als stellvertretendes Beispiel sei genannt: Suzuki, Ausblick über die europäische Weltgeschichte. 347 In der Philosophie gehört hierzu beispielsweise die Wiederaufnahme und Aktualisierung antiker Deutungsmuster menschlichen Lebens: Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. 348 Marks, Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte, 19. 346

260 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Insbesondere die Forschungen zur japanischen Geschichte haben gezeigt, dass in Japan vor der Übernahme der europäischen Moderne bereits ein komplexer Differenzierungsprozess in Gang gekommen war, in dem sich eigenständige Modernestrukturen entwickelt haben wie beispielsweise die Vorstellung von einem »Staat« (kokka), soziale Differenzierungen, Urbanisierung, Ausdifferenzierung eines Kunstsystems und Ähnliches, ohne dass diese Entwicklungen durch eine direkte Übernahme aus Europa ausgelöst worden wären. Die neueren Beobachtungen erweitern die These von einer Vielheit der Modernen dahin, dass »die Moderne« nicht allein in Europa ihren Ursprung hatte, sondern in verschiedenen Gegenden der Welt geschichtliche Bedingungen entstanden sind, die zum Beispiel in Japan einerseits die Übernahme einzelner Bereiche der europäischen Moderne erleichtert haben und andererseits Impulse für deren Transformation in der eigenen Geschichte enthielten. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Gestaltung der verschiedenen Modernen sich mit einem unterschiedlichen Herkommen und verschiedenen Voraussetzungen verbindet. 349 Dabei ist die Kompatibilität mit den bis heute oft gewaltsam hereinbrechenden modernen Strukturen sehr unterschiedlich. Im Falle Japans ergaben sich in vielen Feldern Synergien. In anderen Gebieten ringt man noch heute darum, die fast lebensvernichtenden Brüche lebbar zu machen. In den verschiedenen Deutungen der unterschiedlichen Modernen wird immer wieder auf zwei Faktoren zurückgegriffen: Kultur und Religion. Zum einen sind es kulturelle und zum anderen religiöse Deutungsmuster, durch die die jeweilige Moderne eine neue Interpretation erfährt. 350 Die Transformatoren »Kultur« und »Religion« sind bisher in der Modernisierungsdebatte weitgehend unterschätzt worden. Noch in den 1970er Jahren hatte man vermutet, dass ReliEisenstadt schreibt dazu: »If there are multiple modernities, then the question arises: To what extend have they been shaped by the historical experience of their respective societies? The very posing of this question invites another: Are the concepts developed in Western social science, and above all in the social-scientific literature on moderity and modernization, adequate for the analysis of these historical experiences?« Eisenstadt u. Schluchter, Introduction: Paths to Early Modernities – A Comparative View, 5 f. 350 In dieser Perspektive könnte man die Konflikte zwischen Europa und den USA auf der einen Seite und bestimmten islamischen Staaten auf der anderen Seite so deuten, dass kulturelle und religiöse Deutungsmuster tiefe Widersprüche erzeugen. Denn es stehen hier nicht einfach »Kulturen« bzw. »Zivilisationen« einander gegenüber, sondern kulturelle und religiöse Deutungsmuster. 349

261 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

gionen im Rahmen des globalen Modernisierungsprozesses gänzlich verschwinden würden. Heute sehen wir uns ganz entgegen dieser Annahme mit einem verstärkten Zurückgreifen auf kulturelle und religionsbezogene Sinndeutungen oder deren bloßen Formhülsen konfrontiert, die in ihrem Anspruch sehr unterschiedlich auftreten. 351 Beide Faktoren, die als Deutungsmuster selbst Produkt der sich ausdifferenzierenden europäischen Moderne sind, konkurrieren häufig in ihrer Deutungsperspektive und führen in der gegenwärtigen Gestaltung verschiedener Modernen zu erheblichen Schwierigkeiten und Verwerfungen. Wenn in einer bestimmten Moderne religiöse Deutungsmuster ins Zentrum rücken, so hat das zentrale Konsequenzen für alle Ordnungen der jeweiligen Moderne. Stehen kulturelle Deutungsmuster im Vordergrund, entstehen andere Spielräume, die in religiöser Perspektive oft verdeckt oder tabuisiert bleiben. 352 Gewöhnlich verwenden wir die Begriffe Tradition und Moderne als Gegensatzpaar, so dass Tradition die Vergangenheit repräsentiert und Moderne die Gegenwart und Zukunft. Nimmt man aber den eingangs angeführten Gedanken, dass jede Gegenwart ihre Vergangenheit hervorbringt, ernst, so folgt daraus, dass jede Moderne ihre »Tradition« auf neue Weise bestimmt und hervortreten lässt bzw. »erfindet«. 353 Dies ist an verschiedenen Stellen zu beobachten. Geht man zunächst von der europäischen Geschichte aus, zeigt sich, dass die für die europäische Moderne signifikanten Wörter »Tradition«, »Moderne«, »Kultur«, »Religion«, »Staat«, »Individuum« usw. selbst im Prozess der europäischen Moderne gebildet wurden und noch heute für die Interpretation der Vergangenheit verwendet werden. Als im 18. Jahrhundert das Wort Kultur von Denkern wie Herder und Adelung zur Deutung der gesamten Menschheitsgeschichte verwendet wurde, wurde die Vergangenheit im Sinne einer »Geschichte der Kultur« gedeutet und damit in eine neues Licht gerückt. Als im Offutt, Multiple Modernities: The Role of World Religions in an Emerging Paradigm. 352 Für die Analyse der Verschiedenheit dieser beiden Deutungsebenen ist immer noch die Auslegung Jacob Burckhardts in seinen Vorlesungen Über das Studium der Geschichte – erstmals 1868 gehalten und 1905 unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen veröffentlicht – von hoher Aktualität. Burckhardt unterscheidet drei »Potenzen« – Staat, Religion, Kultur –, die er in ihrer Wechselbeziehung in verschiedenen geschichtlichen Konstellationen untersucht. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹. 353 Hobsbawm u. Ranger, The Invention of Tradition. 351

262 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

19. Jahrhundert von Burckhardt und Nietzsche der Plural Kulturen in der deutschen Sprache verankert wurde, griff man dies schnell in der Ethnologie und Altertumswissenschaft auf, um beispielsweise von den »Kulturen Afrikas« und den »Kulturen des Altertums« zu sprechen. Im Rahmen dieses Deutungsmusters wurden kulturelle Traditionen bestimmt und beschrieben, die zugleich ein neues Bild von der Vergangenheit hervortrieben. Heute ist es für den alltäglichen und teilweise auch wissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht leicht, wie wir ohne das Wort Kultur und den Plural Kulturen die Verschiedenheit menschlicher Gewohnheiten und Lebenswelten beschreiben sollten. Eine ähnliche Revision dessen, was die »eigene Tradition« sei und wie sie zu beschreiben ist, vollzog sich auch in anderen Modernen. So kann im 19. Jahrhundert in Indien beobachtet werden, wie beispielsweise durch die Arbeit des deutschen Indologen Max Müller die indischen Gelehrten ihre »eigene Tradition« neu sehen und beschreiben lernten. 354 Müller edierte die alten Texte der indischen »Tradition« und erzeugte damit ein neues und »modernes« Bild von der Vergangenheit Indiens. In einem noch höheren Maße vollzog sich dieser Prozess in Japan. Im Zuge der Übernahme der europäischen Moderne ab 1868 wurden die damals auch in Europa gerade entstehenden Wissenschaften wie Ethnologie, Soziologie, Sprachwissenschaft usw. eingeführt. Mit den neuen Methoden begann man sofort, auch die eigene Vergangenheit zu untersuchen und zu ordnen. Schon bald hatte die Erforschung der japanischen Geschichte hohe Differenziertheit erreicht. Das Bild, das in diesen Forschungen erzeugt wurde, trug seinerseits dazu bei, ein »modernes« Bild von der japanischen »Tradition« zu erzeugen, das nicht nur in Japan verschiedenste Wirkungen hatte, sondern auch in Europa und den USA. Wenn wir heute von der »Tradition« oder »Kultur« Japans sprechen, so handelt es sich hierbei um eine neu entworfene Vergangenheit, die – ähnlich wie in Europa –, erst aus der Bildung der japanischen Moderne hervorgegangen ist. Dabei wurde immer wieder auch etwas zur »alten Tradition«, was in dieser Form nie zuvor existiert hat. 355 Chaudhuri, Friedrich Max Müller. Ein außergewöhnliches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert. 355 Diese Zusammenhänge werden in Bezug auf Japan inzwischen ausführlich untersucht. In dem Band Mirror of Modernity: Invented Traditions of Modern Japan, hg. v. Vlastos, heißt es auf Seite 1 f.: »Readers will be surprised to discover the recent origins of ›age-old‹ Japanese traditions. Examined historically, familiar emblems of Japanese 354

263 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Schon bei der Bestimmung, was eine bestimmte Kultur zu einer Kultur neben anderen Kulturen macht, trat und tritt das Problem der Kriterien auf. Soll eine Kultur durch ihre lang zurückreichende »einheitliche Tradition«, durch eine bestimmte Sprache, durch ein erst in der Neuzeit entstandenes Staatsgebiet, durch eine Religion usw. bestimmt werden? Eine einheitliche Lösung ist nicht in Sicht. 356 Das gleiche Problem stellt sich bei der Bestimmung verschiedener Modernen. »Ein zentrales Problem der ›multiple-modernities‹-Debatte ist die Frage, wie viele ›Modernen‹ es denn bitteschön sein dürfen. Eine, drei 15, 200? Dies ist ja keine triviale Frage, vor allem deshalb nicht, weil der Begriff Moderne noch immer – und zwar fast überall – normativ hochgradig positiv besetzt ist, weshalb man eine Vielzahl von Sozialwissenschaftlern aus verschiedensten nationalen Kontexten findet, die für ihr Land am liebsten eine eigene Moderne reklamieren würden. Gerade bei manchen Vertretern des ›entangled modernities‹-Ansatzes scheinen alles und alle, weil verwoben, schon immer modern zu sein, wobei man sich dann als Beobachter dieser so geführten Debatte unwillkürlich fragt, wozu der Begriff überhaupt noch dienen soll.« 357

Einheitsbezeichnungen für soziale Gebilde und deren Pluralisierung bringen immer die Frage nach der Anzahl dieser nebeneinander existierenden Gebilde mit sich. Bei der Bestimmung verschiedener Modernen müssen die Kriterien von Anfang an flexibler sein, da es sich culture, including treasured icons, turn out to be modern. Much of the ritual and the rules of Japan’s ›ancient‹ national sport, sumo, are twentieth-century creations. Prince Shōtoku’s enshrinement as an icon of Japanese communal harmony dates from the 1930s and wartime spiritual mobilization.« Zur Bedeutung des Wortes Tradition heißt es auf Seite zwei: »Social scientists have conventionally used tradition in two overlapping and somewhat contradictory senses. First, tradition designates a temporal frame (with no clear beginning), which marks off the historical period preceding modernity. Used in this way tradition aggregates and homogenizes premodern culture and posits a historical past against which the modern human condition can be measured. […] Tradition in the second and more frequent usage represents a continuous cultural transmisson in the form of discrete cultural practices of ›the past‹ that remain vital in the present. […] The core of tradition is strongly normative; the intention (and the effect) is to reproduce patterns of culture. […] tradition is what modernity requires to prevent society from flying apart.« 356 Ein Versuch, die »Kulturen« der Erde zu inventarisieren und zu zählen, findet sich bei George Peter Murdock in seinem Buch Outline of World Cultures, das in verschiedenen Ausgaben seit 1954 erschienen ist. Ein ähnlicher Versuch ist für die verschiedenen »Modernen« noch nicht unternommen worden. 357 Knöbl, Die neuere Globalgeschichte, Max Weber und das Konzept der ›multiple modernities‹, 414.

264 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

bei einer Moderne nicht um einen anthropologischen Kollektivbegriff wie im Falle verschiedener Kulturen handelt, sondern vielmehr um ein durch bestimmte Kriterien abgrenzbares Systemgebilde mit verschiedenen Subsystemen, das in sich kein einheitliches Zentrum haben muss und auch nicht auf eine bestimmte kulturelle Herkunft festgelegt ist. Es muss weder eine bestimmte Religion oder Sprache im Zentrum stehen, noch ein klares Staatsgebiet. Für die aus Gründen der Beschreibung zu unterscheidenden Modernen ergeben sich vielmehr unterschiedliche Anbindungs- und Verbindungsmuster ausgehend von den verschiedenen Subsystemen 358 in diesen Modernen. Es kann sich ein bestimmtes Subsystem als dominant erweisen, je nach Struktur der einzelnen Moderne. Die japanische, chinesische und indische Moderne sind als eigene Moderne vor allem durch ihre Staatsgrenzen erkennbar. Die jüdische und islamische Moderne sind vor allem durch ihre zentrale Rückbindung an eine Religion zu unterscheiden. Die europäische Moderne in ihrer heutigen Form ist als ein Staatenbund mit bisher noch unterschiedlichen Zugehörigkeitsebenen und als Wirtschaftsgemeinschaft erkennbar. Die USA ist als Moderne durch ihr Staatsgebiet und durch ihren militärischen und wirtschaftlichen Führungsanspruch zu differenzieren. In diesem Sinne könnte man allgemeiner von einer Kontinuität bestimmter Geschichtsräume sprechen, die unabhängig von der Qualifizierung als »Kulturen«, »Zivilisationen«, 359 »Staaten« oder anderer Kollektivbegriffe die Möglichkeit besitzen, eine Moderne zu bilden. Ich übernehme hier bewusst ein Wort aus der Systemtheorie. Ausgehend von dem Vergleich zwischen »Kulturen« und »Modernen« ist bei diesem Wort zu beobachten, dass auch in Bezug auf eine Kultur vermutlich seit 1947 von verschiedenen »Subkulturen« gesprochen wurde: »Broadly speaking, we have been content to stop the concept of culture at national boundaries, and engage in our intra-national analyses in terms of the discrete units of ethnic background, social class, regional residence, religious affiliation, and so on. It is the thesis of this paper that a great deal could be gained by a more extensive use of the concept of the sub-culture – a concept used here to refer to a sub-division of a national culture, composed of a combination of factorable social situations such as class status, ethnic background, regional and rural or urban residence, and religious affiliation, but forming in their combination a functioning unity which has an integrated impact on the participating individual.« Gordon, The Concept of the Sub-Culture and Its Application, 40. In der deutschen Sprache hat sich das Wort »Subkultur« in den 1970er Jahren eher im Sinne von »Gegenkultur« zur herrschenden Kultur etabliert. Vgl. Schwendter, Theorie der Subkultur. 359 Der Plural Zivilisationen bildet vor allem im englischen Sprachraum eine Alternative zum Plural Modernen. Allein in der Frage, ob wir besser von Zivilisationen oder Modernen sprechen sollten, um die Probleme der Globalisierung zu theoretisie358

265 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

In diesem Sinne ist die Unterscheidung der verschiedenen Modernen dem Prozess der Konstitution der einzelnen Modernen überantwortet. Es lassen sich keine übergeordneten Kriterien angeben, die für alle gelten. Vielmehr ergeben sich in der fortlaufenden Reflexion der jeweiligen Modernen immer wieder neue Perspektiven für die Deutung, Abgrenzung und Gestaltung der jeweiligen Moderne. In diesem Sinne ist der Plural Modernen ein Reflexionsbegriff und kein Substanzbegriff. Denn es gibt diese Modernen nicht als bestehende Entitäten, sie werden aus Gründen der Beschreibung und Reflexion vielmehr als solche bezeichnet. Bei diesem Vorgehen ist, so wie es Knöbl auf den Punkt bringt, der normative Überschuss des Wortes Moderne immer wieder problematisch, da er nicht nur positive, sondern eben auch negative Reaktionen auslöst. So kann die Beschreibung der globalen Welt im Rahmen verschiedener Modernen selbst wieder als ein eurozentrisches Projekt zurückgewiesen oder als emanzipatorische Perspektive begrüßt werden. Sicher kann es zudem problematisch sein, wenn auch die kleinste Gemeinschaft sich versucht als eine Moderne zu verstehen. Andererseits ist dies aber möglicherweise auch unproblematisch, wenn dadurch Reflexionsgewinne erzielt werden für die Bestimmung der jeweils eigenen Situation im Rahmen der Globalisierung. Da sprachliche Bezeichnungen in der Beschreibung sozialer Kontexte immer auch normative Implikationen mit sich bringen, ist mit diesen normativen Ansprüchen reflexiv umzugehen. So kann die Beschreibung als eine bestimmte Moderne sowohl als Selbstbeschreibung wie auch als Fremdbeschreibung durchgeführt und erprobt werden, da es nicht um substanzielle Zuschreibungen, sondern um den Gewinn von Reflexionsmöglichkeiten geht. Wenn in diesem Sinne das Leben der Amish People als eine Moderne beschrieben wird, so kann man damit verstehen, dass Moderne nicht unbedingt mit der Technik (oder einer beren und zu besprechen, zeigen sich die Schwierigkeiten, eine unbelastete Sprache für diese Themen zu finden. Beide Wörter sind durch ihre europäische Gebrauchsgeschichte hochgradig vorbestimmt (bzw. kontaminiert) und damit in vielerlei Hinsicht problematisch. Dies zeigt vor allem auch das Buch von Samuel Huntington The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, 1996, in dem die Schwierigkeiten des Wortes Zivilisation deutlich vor Augen treten. Es zeigt sich hier, dass eine grundlegende Neubefragung der Kollektivbegriffe vor dem Hintergrund der Globalisierung notwendig ist. In diese Neubefragung müssen nicht nur europäische, sondern auch viele außereuropäische Sprachen einbezogen werden, um so gemeinsam nach Lösungen suchen zu können.

266 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

stimmten Auslegung derselben) verbunden sein muss. 360 So wie bestimmte Modernen die Religion ausschließen, so können anderen Modernen sich gegen die Technik stellen. In diesem Sinne bezeichnet Moderne eine bestimmte manifeste Lebensform, die sich in Bezug setzt zu den Differenzierungsoptionen der Gegenwart. Dies kann in Staaten, Religionen oder kleinen Gemeinschaften geschehen. Wenn hierbei normative Ansprüche – beispielsweise im Falle von Nationalstaaten, die sich selbst als eigenständige Moderne verstehen wollen – ins Spiel kommen, so sind diese Ansprüche selbst ein Ausdruck dieser Moderne. Auch dies kann am Beispiel verschiedener Modernen studiert werden. Ein weiteres zentrales Beschreibungskriterium für die Bestimmung »einer Moderne« ist die Differenzierung oder, negativ formuliert, die Aufspaltung einer Lebenswelt in verschiedene autonome Bereiche, die jeweils weitgehend ihre eigenständigen Entfaltungsund Durchsetzungsformen besitzen. Als mögliche Bereiche der Modernen können als Beispiel folgende genannt werden: Politik, Recht, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Technik. In der europäischen Geschichte kann beobachtet werden, wie sich diese Bereiche immer mehr in ihrer Begründungsform voneinander ablösten: Die Theologie entwickelt seit der mittelalterlichen Scholastik und dann mit der Reformation den Glauben als eigene Ordnung der Religion, die selber nicht mehr mit philosophischen Argumenten begründet werden muss, sondern im Akt des Glaubens ihre Gewissheit findet. Die Naturwissenschaft entwickelt in Verbindung mit der empirisch fundierten Methode von Hypothese und Experiment einen systematisch-mathematischen Weltzusammenhang. In ihr haben nur noch wissenschaftliche Hypothesen und empirische Beweise Gültigkeit, wodurch sie sich immer mehr von den anderen Ordnungen trennt und in ihrer Entwicklung sogar die anderen Ordnungen in den empirischen Beweiszwang mit hineinreißt. Die Politik hält sich nicht mehr länger an religiöse oder philosophische Vorgaben, sondern entwickelt die Gesetze der Macht und Machterhaltung aus den konkreten Gegebenheiten des Regierens. Politik ist nicht mehr moralisch gebunden, sondern entfaltet ihre Macht gemäß den Beschreibungen Machiavellis oder anthropologischen Sätzen à la Ester, Die Amish People. Überlebenskünstler in der modernen Gesellschaft. Vgl. insbesondere das dritte Kapitel Kulturelle Abgrenzung: Auseinandersetzung mit Modernität. Durch eine solche Auseinandersetzung kann eine eigene »Moderne« als Produkt von Auseinandersetzung und Reflexion entstehen.

360

267 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Rousseau. Die Wirtschaft entwickelt den Aspekt von Kosten und Nutzen zu einer umfassenden Wirklichkeitsinterpretation, so dass jeder Lebensbereich unter diesem Aspekt gedeutet und auf seine Effizienz hin überprüft werden kann. Der heutige Kapitalismus treibt die Ökonomisierung der Wirklichkeit so weit, dass Argumente aus anderen Ordnungen kaum noch Überzeugungskraft besitzen und alle anderen Ordnungen hiervon bestimmt werden. Die Kunst erobert sich im Laufe der Neuzeit immer mehr Bereiche, in denen sie ihre eigene Autonomie verwirklichen kann, bis hin zur l’art pour l’art. Die Technik wird im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften mehr und mehr für eine Machbarkeit und Herstellbarkeit der Wirklichkeit verwendet. Durch virtuelle Realitäten und Gentechnologie werden die Grenzen zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit aufgehoben. Die Autonomisierung der Einzelbereiche ist wohl noch nicht abgeschlossen und eine differenzierte Analyse dieses Spaltungsprozesses vor allem auch im Zusammenhang mit der Globalisierung bleibt weiterhin eine Aufgabe der Wissenschaften. 361 Der von den verschiedenen Subsystemen einer Moderne ausgehende Analyseansatz hat in Bezug auf die Transformationsprozesse in globaler Perspektive einen entscheidenden Vorzug. Es geht in der Analyse nicht einfach um »ganze« Kulturen, sondern um einzelne Subsysteme in verschiedenen Modernen. Auf diese Weise bleibt die Fragestellung spezifisch und einigermaßen übersichtlich. Zudem ist offensichtlich, dass sich Begegnungen zwischen verschiedenen Modernen – man könnte vielleicht auch von »intermodernen« Begegnungen sprachen – im Bereich der Wirtschaft anders vollziehen als im Bereich der Kunst und der Philosophie. Für jeden Bereich gilt es, die Verwobenheit der verschiedenen Modernen zu analysieren und durchsichtig zu machen, denn eine jeweilige Moderne existiert nur als ein Gewebe dieser verschiedenen Subsysteme, die mehr oder weniger unabhängig voneinander ihre eigenen Wirklichkeiten erzeugen und die anderen Subsysteme beeinflussen. Wie bereits die Analyse Nishitanis nahelegt, sind durch die Übertragung einzelner Subsysteme der europäischen Moderne in verschiedene Lebenswelten neue Modernen entstanden, die ihr jeweils eigenes Niklas Luhmann hat in verschiedener Hinsicht die autonomen Subsysteme der Gesellschaft trennscharf beschrieben. Sein Ansatz reicht aber nicht aus, um die globalen Verflechtungsmechanismen der einzelnen Subsysteme seit dem 19. Jahrhundert zu verstehen.

361

268 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Gepräge besitzen. Die Übertragung stößt in jeder einzelnen Lebenswelt auf andere Bedingungen und Kontexte. Die Übertragung des europäischen Wirtschafts- und Kunstsystems ruft möglicherweise jeweils andere Reaktionen und Antworten hervor, die zur Transformation der Systeme und Subsysteme führen kann. Wie diese Verbindungen und Neubestimmungen verlaufen, bleibt dem Kontext jeder einzelnen Moderne überlassen. Der Blick kann sich dabei auch auf die Beziehung der einzelnen Bereiche untereinander richten, die sich in den verschiedenen Modernen vermutlich je anders gestalten werden. Die Wirtschaft spielt in der Gestaltung der Modernen eine eigentümliche Rolle, da durch multinationale Konzerne die einzelnen Modernen über sich selbst hinausgreifen und in vielen Fällen der Kolonialismus, der inzwischen weitgehend aus dem Bereich der Politik zurückgedrängt werden konnte, auf dem Gebiet der Wirtschaft mit anderen Mitteln oft hemmungslos fortgesetzt wird. Die multinationalen Konzerne verfolgen häufig Universalisierungsstrategien, die sich jeweils mit einer bestimmten Moderne verbinden. 362 In Europa und den USA werden die Ideologien von »westlicher Freiheit« und dem »liberalen Markt« immer auch instrumentalisiert, um Widerstand zu brechen und zu unterminieren. Längst geht die wirtschaftliche Expansion nicht mehr nur von Europa und den USA aus. Die Diskussionen um die japanische Wirtschaftsexpansion gegen Ende der 1980er Jahre legen ein Zeugnis davon ab. 363 Gegenwärtig ist es vor allem die chinesische Moderne, die für eine Neugewichtung im internationalen Wirtschaftssystem sorgt. 364 Mit den Mitteln der Wirtschaft werden Machtansprüche und Einflussmöglichkeiten gesichert, was allerdings nur von den Modernen und deren Staaten ausgehen kann, die eine über entsprechende Mittel verfügende Wirtschaft entwickeln konnten. Ritzer, Die McDonaldisierung der Gesellschaft. Man erinnere sich an die Bilder, auf denen US-amerikanische Bürger japanische Waren zerstörten. 364 »Der Welthandel ist seit den 1950er Jahren fast regelmäßig schneller gewachsen als die globale Wirtschaftsleistung. China ist inzwischen zum Exportweltmeister aufgestiegen. Möglich wurde dies durch kontinuierliche multilaterale Handelsliberalisierungen, die allerdings seit Beginn dieses Jahrhunderts stocken. Derzeit dominieren regionale Abkommen die globale Handelspolitik. Die Abkehr vom Multilateralismus ist auch als Hinwendung zu einem machtbasierten System zu verstehen. Die Interessen der schwächeren Handelsnationen werden dabei weniger berücksichtigt.« Die Zukunft des Welthandels, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2015/5/die-zukunftdes-welthandels/#res0 (1. 12. 2016). 362 363

269 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

Im Rahmen der Übertragung des Kapitalismus als Wirtschaftsform in verschiedene Modernen kann danach gefragt werden, ob es inzwischen möglich ist, von verschiedenen Formen des Kapitalismus zu sprechen. Gibt es Anzeichen dafür, dass der Kapitalismus in verschiedenen Modernen sich jeweils auf andere Weise entfaltet hat? Es ist wieder das Beispiel Japan, von dem man ausgehen kann. Inzwischen ist die Wendung »Japanese Capitalism« in der Literatur durchaus gängig. Unter dieser Bezeichnung versucht man, die Eigenheiten des Kapitalismus in Japan herauszustellen, um zu zeigen, wie die Verschiedenheit auch des historischen Kontextes die Form der Wirtschaft beeinflusst. 365 Auch in diesem Bereich hat inzwischen China die Rolle Japans als Vorreiter übernommen mit dem Versuch, eigene Formen des Kapitalismus zu entwickeln. 366 Bisher wurde versucht, die Modernen jeweils als in sich pluralistische und teilweise höchst widersprüchliche Gestalten herauszustellen, wobei kein normativ aufgeladener hierarchischer Unterschied mehr zwischen der bzw. den europäischen und den anderen Modernen gesehen wurde. Geht man den multimodernen Strukturen weiter nach, so ist man verwiesen auf die einzelnen Bereiche bzw. Subsysteme wie Politik, Wirtschaft, Religion, Technik, Wissenschaft usw., die jeweils eine eigene Innenanalyse wie auch die Analyse ihrer jeweiligen Verbreitung und Verflechtung im Rahmen verschiedener Modernen nötig macht. Die Einteilung und Unterscheidung der Bereiche müsste dabei selbst im Rahmen der verschiedenen Modernen reflektiert und nötigenfalls kritisiert werden. Denn die Wahrnehmung und Kritik anderer Modernen vollzieht sich zumeist im Rahmen einzelner Subsysteme der verschiedenen Modernen. So basiert beispielsweise die Kritik im Rahmen der Menschenrechtsdebatte auf der Grundlage des jeweiligen Rechtssystems, wobei zu beobachten ist, dass die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Modernen diese Kritik immer wieder unterminiert. In dem Buch Japanese Corporate Finance and International Competition. Japanese Capitalism versus American Capitalism von Ide, heißt es auf Seite 55 f.: »Japan has developed its own unique system of priority setting and resource allocation, including formal and informal networks of information sharing and consensus building, and interlocking, multiple, long-term relationships among financial and non-financial firms, all under strong governmental and bureaucratic guidance and close consultation between the government and the private sector.« 366 Keith, Scott, Arnoldi u. Rooker, China constructing capitalism. Economic life and urban change. 365

270 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Von den »Kulturen« zu den »Modernen«

Sicher ist, dass dieser Ansatz nicht alle Probleme lösen kann. Wenn die Rede von den verschiedenen Modernen es aber ermöglicht, bestimmte Fragen und Probleme reflektierbar und adressierbar zu machen, so ist allein dadurch dieser Ansatz gerechtfertigt. 367 Dabei darf allerdings nicht aus den Augen verloren werden, dass es sich bei der Rede von den »Modernen« um einen Reflexionsbegriff bzw. um eine bestimmte »Optik« handelt, die keine substanziellen Bestimmungen zulässt, sondern Ausdruck einer sprachlichen Suchbewegung ist, die darauf abzielt, die globalisierten Strukturen unserer Welt zu reflektieren. 4.3.9. Philosophieren in verschiedenen Modernen In den kurzen Darstellungen einzelner Modernen wurde immer wieder auf philosophische Analysen zurückgegriffen, die in verschiedenen Modernen entstanden sind. Diese Reflexionen sind im hiesigen Diskurs wenig bekannt, da es in der europäischen und deutschen Philosophie noch immer weitgehend unbekannt ist, dass inzwischen überall auf der Welt eigenständige Philosophietraditionen mit eigener Geschichte existieren, deren Themen häufig durch den geschichtlichen Raum, in dem sie sich entfalten, bestimmt werden. 368 Diese Entwicklungen und Diskurse zeigen sich zumeist nur auf den Weltkongressen und anderen interkulturell ausgerichteten Konferenzen für Philosophie einer breiteren philosophischen Öffentlichkeit. Auch wenn viele europäische Philosophen noch den Eindruck haben, dass die Globalisierung an der Philosophie vorbeigegangen sei, so sprechen die Fakten doch andere »Sprachen«, die aber nicht verstanden werden, da sie im europäischen Kanon nicht vorgesehen sind. Ernst Sandvoss bemerkte bereits vor fast dreißig Jahren mit vollem Recht: »Die Zeit, da einige wenige Länder, Schulen oder Denker bestimmten, was als Philosophie zu gelten habe, ist endgültig vorbei. Im Spektrum der modernen Philosophie haben jedes Land, jede Richtung und jeder Denker, wie

Der Ansatz wird inzwischen für verschiedene Regionalwissenschaften durchgespielt: Social Theory and Regional Studies in the Global Age, hg. v. Arjomand. 368 Vgl. hierzu: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Themenheft Philosophie im 20. Jahrhundert, 10/11, 2004. In dem Heft werden nicht die Entwicklungen in Europa und den USA behandelt, sondern die in Indien, China, Japan, Afrika und Südamerika. 367

271 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Globalisierung philosophischer Perspektiven im 20. Jahrhundert

in einem großen Orchester, ihren unverwechselbaren Platz, sofern sie weiterführende Ideen, Modelle und Konzeptionen hervorbringen.« 369

Dies zu begreifen und dementsprechend zu handeln, fällt in Europa nicht leicht. Ähnlich wie andere Bereiche der Kultur und Gesellschaft, steht die Philosophie im 21. Jahrhundert vor der Aufgabe, wesentliche Umstrukturierungen in ihrem Selbstbild und Lehrkanon vorzunehmen, die der neuen multimodernen Weltlage gerechter werden. Dabei sind es alte europäische Unterscheidungen wie Sein/Nichts, Jenseits/Diesseits, Leib/Seele, Denken/Sinnlichkeit, Subjekt/Objekt, Theorie/Praxis, Aktiv/Passiv und zudem auch ganz andere Unterscheidungen, die vor dem Hintergrund der philosophischen Entwicklung in verschiedenen Modernen als Sachthemen neu zur Disposition stehen. Durch diese Auseinandersetzung zwischen den Philosophien in verschiedenen Modernen hat jede Moderne zudem die Chance, in der eigenen Tradition längst Verdrängtes oder noch Unbekanntes in die Bestimmung der eigenen Gegenwart aufzunehmen. Prozesse grundlegender geistesgeschichtlicher Umstrukturierungen dauern erfahrungsgemäß lange. So zeigen die einzelnen Abschnitte in diesem Kapitel, wie sich über ein Jahrhundert im Rahmen der Weltkongresse und durch verschiedene methodische und sprachliche Entwicklungen spätestens im 20. Jahrhundert eine globale Situierung des Philosophierens entfaltet hat. Versucht man gegenüber dieser globalisierten Situation die eigenen nationalsprachlichen Philosophien oder methodischen Ansätze als den alleinigen Gipfel der Philosophie zu stilisieren, so gibt man sich leicht der Lächerlichkeit preis. Es gilt vielmehr, die multimodernen Strukturen des Philosophierens sichtbar zu machen. Dies kann in sehr verschiedener Weise geschehen. Ein Weg, der die komplexen Strukturen gegenwärtigen Philosophierens mit in die Aufmerksamkeit zu heben verspricht, ist die Konzeption einer globalen Philosophiegeschichtsschreibung, für die zunächst die Philosophiegeschichten, die längst in verschiedenen Modernen (Indien, China, Japan usw.) entstanden sind, gesichtet werden müssen, um den Horizont zu erweitern. Dabei zeigt sich ein großer Forschungsbereich, den es zu bearbeiten gilt, um ein Philosophieren in einer globalisierten Welt jenseits aller Schlagwörter, enger Zentrismen und voreiliger Abwertungen besser verstehen und realisieren zu können. 370 369 370

Sandvoss, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 578 f. Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive, hg. v. Elberfeld.

272 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

III. Philosophieren zwischen Asien und Europa

In den vorhergehenden Teilen wurden historische Zusammenhänge entwickelt, die zum einen sensibilisieren sollen für verflechtungsgeschichtliche Perspektiven in einer global orientierten Geschichte der Philosophie (Teil I) und zum anderen wurden methodische Reaktionen auf die Globalisierungsschübe in der Philosophie des 20. Jahrhunderts in die Aufmerksamkeit gehoben (Teil II). Im folgenden letzten Teil werden drei systematische Fragen im euro-asiatischen Kontext des Philosophierens entfaltet. Bei der ersten Frage geht es um die Selbstauslegung des Menschen in pluralisierten Lebenswelten, bei der zweiten Frage um die Auslegung menschlichen Handelns jenseits der Unterscheidung von Aktivität und Passivität und bei der dritten Frage um eine philosophische Methode, die das Philosophieren in einer globalisierten Welt zu orientierten und zu öffnen verspricht. Die beiden ersten Fragen werden unter Bezug auf europäische und asiatische Denk- und Sprachkontexte behandelt. Durch die Überlegungen zwischen diesen Kontexten sollen Wege angestoßen werden, die es zulassen, die dort auftauchenden Sachfragen auch im Zusammenhang mit ganz anderen Denk- und Sprachkontexten weiter zu entfalten. Wie diese Weiterführungen methodisch geleitet werden könnten, ist Thema des dritten Fragekontextes. Dort werden unter dem Stichwort »Transformative Phänomenologie« Vorgehensweisen erörtert, wie das Philosophieren in einer globalisierten Welt zwischen verschiedenen Sprachen, Wissensschaftsdisziplinen, Wissensordnungen, Künsten, Kulturen und Modernen an den jeweiligen eigenen Grenzen arbeiten kann.

273 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

A. Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Eine der großen Erzählungen in der europäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts ist die Rede vom »autonomen Subjekt«. Das Subjekt soll selbstbestimmt, verantwortungsvoll und frei sein. Vor allem die kantische Philosophie präparierte ein autonomes und persönlich für all seine Handlungen verantwortliches Subjekt heraus, das in der europäischen Philosophie vorher so noch nicht gedacht worden war. Zudem wurde dem Menschen ab dem 15. Jahrhundert eine Würde (dignitas) zugeschrieben, die jeden einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes Einzigartigkeit zusprach und später auf dieser Grundlage mit unveräußerlichen Rechten versah. Diese Gedanken, die sich zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert in Europa entfaltet haben, waren auch für die großen philosophischen Entwürfe des deutschen Idealismus zentral, wobei bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kritik laut wurde, die die alleinige Zentrierung auf das »Ich« durch die Dimension des »Du« aufzubrechen versuchte. Im gleichen Zuge geriet das »autonome Subjekt« unter kulturellen Pluralisierungsdruck, da im 19. Jahrhundert in Europa eine Fülle von historischen Kontexten sichtbar und erfahrbar wurde, die jede vorherige Imagination von Vielfalt überstieg. Dies mag auch dazu geführt haben, dass dieser Pluralisierungsdruck von Europa aus mit einem umso stärkeren Machtbewusstsein und mit imperialistischer Eroberung der anderen Kulturen beantwortet wurde. Dieser Pluralisierungsdruck bewegt letztlich bis heute die Gemüter. Noch immer suchen wir Antworten darauf, wie Menschen die gestiegenen Pluralitätsanforderungen in sich selbst und in der Gesellschaft ohne ständige Eskalationen von Gewalt und unerträglicher Machtausübung bestehen können. Die folgenden drei Anschnitte sondieren die Frage nach der Pluralisierung auf verschiedenen Ebenen des Menschseins zwischen europäischen und asiatischen Ansätzen des Denkens. Dabei werden Motive und Tendenzen zusammengeführt, die jenseits kultureller

274 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

Unterschiede vor allem helfen sollen, die zunehmende innere Pluralität der Menschen zu reflektieren und zu begleiten.

1.

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

1.1. Musik und Tugend bei den alten Griechen Die besondere Bedeutung der Musik für die ethische Erziehung des Menschen ist uns durch die griechische Kultur gut bekannt. 1 Musik galt im alten Griechenland als ein wesentliches erzieherisches Mittel, um Tugend in der Seele des Menschen zu erzeugen. Der Grundgedanke hierfür ist durch die Pythagoreer und ihre Lehre von den Zahlen entstanden: »An der Spitze unserer Quellen für die Kenntnis des musikalischen Ethos steht die Schule der Pythagoreer. Ihre Ästhetik ergiebt sich folgerichtig aus ihrer Zahlentheorie. Gleich den Gestirnen des Himmels befindet sich auch die menschliche Seele in einer beständigen, nach bestimmten Zahlenverhältnissen geordnete Bewegung. Diese Zahlenverhältnisse aber entsprechen, einem Wort des Ptolemäus gemäß, den ἁρμονικοὶ τῶν φϑόγγων λόγοι. Daraus ergiebt sich, dass bestimmte Melodien z. B. bestimmte Seelenbewegungen bei dem Hörer hervorzurufen und dementsprechend sein Gemütsleben zu beeinflussen imstande sind.« 2

Diese Lehren nimmt auch Platon auf und legt dem Sokrates folgende Worte in den Mund: »Ist nun, mein Glaukon, die Erziehung durch Musik nicht darum von entscheidender Wichtigkeit, weil Rhythmus und Harmonie am meisten in das Innere der Seele eindringen und sie am stärksten ergreifen, indem sie die rechte Haltung mit sich bringen und den Menschen demgemäß gestalten.« 3

Rhythmus und Harmonie gelten dabei als die Prinzipien der Ordnung in der Bewegung, die unter den Lebewesen nur der Mensch zu verstehen in der Lage ist. Die durch die musische Erziehung zu erreichende Ordnung ist aber nicht irgendeine Ordnung, sondern letztendlich die dem logos, d. h. der allgemeinen Vernunft entsprechende Raptis, Den Logos willkommen heißen. Die Musikerziehung bei Platon und Aristoteles. 2 Abert, Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik, 5. 3 Platon, Politeia, 401d, Übers. nach Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, 101. 1

275 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Ordnung in der Seele des einzelnen Menschen. Die Bewegungen der Einzelseele stimmen nach gelungener Erziehung mit der Vernunft, d. h. dem logos überein, noch bevor der erzieherische Prozess diese Übereinstimmung später durch Philosophieren zu vertiefen vermag. »Bildung (paideia) also nenne ich die Tugend (arete), wie sie zuerst bei den Knaben sich einstellt; wenn also Lust und Freundschaft und Unlust und Haß auf richtige Weise in den Seelen entstehen, noch bevor sich diese darüber Rechenschaft geben können, und wenn dann aber, nachdem dies der Fall ist, diese Empfindungen mit der Vernunft (logos) darin übereinstimmen (symphonesosis), dass sie durch die passenden Gewohnheiten richtig geformt worden seien, so liegt gerade in dieser Übereinstimmung (symphonia) die ganze Tugend beschlossen.« 4

Festhalten möchte ich aus dem genannten Kontext zwei Momente: 1. Die erzieherische Bedeutung der Musik bezieht sich bei Platon ausschließlich auf die Einzelseele. 2. Die Musik erzeugt in der Einzelseele eine Übereinstimmung (symphonia) der Empfindungen mit dem logos, der in jeder Einzelseele verborgen gegeben ist und sie zugleich übersteigt. 5

1.2. Tugend und Musik im antiken China Auch im alten China wurde der Musik eine überragende Bedeutung für die ethische Erziehung der Menschen beigemessen. 6 Im Liji 禮記, 7 dem Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, finden wir unter den grundlegenden Abhandlungen das Yueji 樂記, die Abhandlungen über die Musik, die aus dem 3. Jh. v. Chr. stammen 8 und somit ein ähnliches Alter aufweisen wie die platonischen Schriften. Dort heißt es:

Platon, Nomoi, 653b, übers. v. Rudolf Rufener, Zürich/München 1974. Zur Interpretation des Logos-Gedanken vgl. auch: Held, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, 174– 194. 6 Vgl. Shyu, Wechselbeziehungen von Musik und Politik in China und Taiwan, 7–88. 7 Zum Liji vgl. Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide, hg. v. Loewe, 293–297. Die erste Kompilation des Buches stammt vermutlich aus dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. 8 Man vermutet, dass die Gedanken im Yueji eine Weiterentwicklung der Musiktheorie Xunzis sind, der von ca. 313–238 gelebt hat. 4 5

276 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

[für die Erziehung] »machten die früheren Könige die Musik, um durch dieses Vorbild Ordnung zu schaffen. War sie gut, so glich der Wandel der Menschen der Tugend (xiang de 相德)«. 9

Dieser Gedanke scheint sich zunächst nicht von der platonischen Vorstellung zu unterscheiden, denn auch bei Platon geht es um das Etablieren von Ordnung. Betrachtet man den chinesischen Text genauer, so ist im letzten Satz »so glich der Wandel der Menschen der Tugend« im chinesischen Text nicht ausdrücklich vom Menschen die Rede. Wörtlich heißt es dort: »gut (die Musik), dann Wandel gleicht Tugend (de 德)«. Das chinesische Wort für Wandel (xing 行) steht nicht nur für den Wandel des Menschen, sondern kann auch heißen: »gelingen, sich vollziehen, vor sich gehen« – bezogen auch auf die Geschehnisse in der Natur. Die Einzelseele des Menschen allein kann somit nicht der Ort der Tugend sein. Bezieht sich der Wandel und damit die Ordnung aber nicht nur auf den einzelnen Menschen, so stellt sich die Frage: In welcher Weise etabliert sich nach den chinesischen Vorstellungen die Ordnung? An anderer Stelle heißt es: »Wenn sich die Musik vollzieht (xing 行), so werden die sozialen Pflichten bzw. die natürlichen Beziehungen der Menschen untereinander klar« 10

Hier wird schon deutlicher, dass die Erziehung durch Musik sich nicht auf den Einzelnen bezieht, sondern auf den Vollzug der zwischenmenschlichen Beziehungen. In diesem Sinne heißt es im Text: »die Mitmenschlichkeit entspricht der Musik« 11, wobei hier besonderes Augenmerk auf das chinesische Zeichen für Mitmenschlichkeit ren 仁 gelegt werden muss, das sich aus den zwei Bestandteilen »Mensch« und »zwei« zusammensetzt. Das heißt, Menschlichsein konstituiert sich mindestens aus zwei Menschen, die miteinander umgehen. Aber wiederum beschränken sich die Beziehungen nicht nur auf zwischenmenschliche Situationen, denn das Zeichen lun 倫, das vom Übersetzer wiedergegeben wurde mit »soziale Pflichten« (und damit den Aspekt auf den Menschen verschiebt) bzw. von mir mit »die natürliche Beziehung der Menschen untereinander«, kann auch alle natürlichen und regelmäßig ablaufenden Beziehungen bedeuten. Das heißt, wenn sich die Musik vollzieht (xing), werden nicht Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, übers. und hrsg. v. Wilhelm, 79, Abschnitt 32. 10 Ebd., 82, Abschnitt 45. 11 Ebd., 77, Abschnitt 21. Bei Wilhelm heißt es: »Die Liebe entspricht der Musik«. 9

277 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

nur die zwischenmenschlichen Beziehungen geordnet, sondern auch die natürlichen Beziehungen in der Natur und mit der Natur. Somit kann gesagt werden, dass die Musik als Vorbild im Unterschied zum griechischen Modell bei Platon nicht primär der Einzelseele zugedacht ist, sondern ein Vorbild ist für das Zusammenklingen der Menschen, das Zusammenklingen der Dinge, aber auch für das Zusammenklingen von Menschen und Dingen, wobei dieses Zusammenklingen allerdings nicht durch ein allgemeines Gesetz im Hintergrund geregelt wird, sondern vielmehr aus der zusammenklingenden Beziehung selbst seine Stimmung erzeugt. Das konkrete Bild für eine musikalische Ordnungssituation im chinesischen Kontext, die zugleich den Vollzug des Ethischen zeigt, ist folgender Textstelle aus dem Yueji zu entnehmen: »Der Grundton 12 ist der Fürst (jun君), die Sekunde 13 ist der Beamte (chen 臣), die Terz 14 ist das Volk (min 民), die Quinte 15 sind die Aufgaben/Situationen (shi 事), die Sexte 16 sind die Gegenstände (wu 物). 17 Wenn diese fünf nicht in Verwirrung sind, so gibt es keine unharmonischen Töne. Wenn aber der Grundton unrein ist, so entsteht Not, weil der Fürst hochmütig ist. Wenn die Sekunde unrein ist, so entsteht Verfall, weil die Beamten verdorben sind. Wenn die Terz unrein ist, so entsteht Trauer, weil das Volk grollt. Wenn die Quinte unrein ist, so entsteht Schmerz, weil die Aufgaben zu mühsam sind. Wenn die Sext unrein ist, so entsteht Gefahr, weil die Güter Mangel zeigen. Wenn alle fünf unrein sind und miteinander disharmonieren, so ist das die allgemeine Auflösung, und wo es so ist, da steht der Untergang des Volkes in allernächster Zeit bevor«. 18

Das Bild macht deutlich, dass jedes einzelne Moment im sozialen Gefüge – wobei sozial hier im erweiterten Sinne zu verstehen ist – im Zusammenklang der Töne jeweils seinen Ton in den Gesamtklang einzugeben hat, wobei die Grenze zwischen Mensch und Natur fließend ist. Um diesen Zusammenklang harmonisch (he 和) zu gestalten, muss jeder Einzelton auf den Anspruch der verschiedenen Klangbeziehungen eingehen, um so resonierend den Eigenklang in den gong 宮, Grundton der pentatonischen Skala, f. shang 商, die große Sekunde über dem Grundton, g. 14 jue 角, die große Terz über dem Grundton, a. 15 zhi 徵, die reine Quinte über dem Grundton, c. 16 yu 羽, die große Sexte über dem Grundton, d. 17 Es handelt sich hier um eine frühe chinesische pentatonische Tonleiter. Die Zahl Fünf spielte im klassischen chinesischen Denken eine bedeutende Rolle. 18 Li Gi, 72, Abschnitt 4. 12 13

278 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

Zusammenklang einzubringen. Um aber ein völliges Verfließen zu vermeiden, sind die Beziehungen durch die Sitten und den Anstand hierarchisch geordnet: »Die Musik bewirkt Vereinigung (tong 同), die Sitten (li 禮) bewirken Trennung (yi 異). In der Vereinigung sind die Menschen einander nahe, durch die Trennung achten die Menschen einander. Wenn die Musik überwiegt, so entsteht die Gefahr des Zerfließens (liu 流). Wenn die Sitte überwiegt, so besteht die Gefahr der Zersplitterung (li 離).« 19

Sehr deutlich wird hier betont, dass die Einzelmomente sich zwar vereinigen, aber zugleich auch getrennt bleiben. Das chinesische Zeichen, das dieses Zugleich von Vereinigung und Trennung in der Beziehung zum Ausdruck bringt, ist das Zeichen ying 應, das als ein Grundmotiv der chinesischen Kultur gelten kann. Das Zeichen ist in seiner Bedeutung ausgesprochen schillernd: Im ersten Ton bedeutet es 1. müssen, sollen, erforderlich, 2. passend, passen, gehörig, 3. zutreffend, zweckentsprechend, 4. im modernen Chinesisch auch: zustimmen, zusagen, versprechen, annehmen; im vierten Ton bedeutet es: 1. entsprechend, Folge leisten, erfüllen, erwidern, sich anpassen, sich nach etwas richten, 2. vergelten, 3. Antwort, antworten, Erwiderung, Echo, Resonanz, 4. im modernen Chinesisch auch: begegnen, mit etw./jem. umgehen, mit etw. fertig werden. In der Bedeutungsbreite von ying sind drei Momente enthalten: 1. das antwortende Eingehen auf eine Sache, 2. die Zusage auf eine Sache hin, 3. das resonierende Aufgehen in einer Sache. Aus diesen drei Momenten konstituiert sich ein Sollen, das sich aus konkreten Zusammenhängen ergibt. Somit sind alle drei Momente für die Konstitution des Ethischen von Bedeutung, wobei das Ethische immer als ein Vollzug bzw. Geschehen aufgefasst wird, bei dem konkret eine Ordnung gelingt (xing) oder nicht, wie in dem gerade angeführten Beispiel. Der Fürst, die Beamten, das Volk, die Aufgaben bzw. Situationen und die Dinge sind Momente in einem sich selbst regelnden Prozess, in den sich jedes Moment in der Weise des ying, des antwortenden Resonierens, einzubringen hat. Jedes einzelne hat zwar seinen Ort und seine Aufgabe, aber dieser bzw. diese verändert sich jeweils nach Stimmungslage der Gesamtordnung, die selber auch vom antwortenden Resonieren der einzelnen abhängig ist. Das antwortende Resonieren ist dabei durchaus leiblich, da es aus einem kon19

Ebd., 75, Abschnitt 13.

279 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

kreten Handlungsvollzug hervorgeht, an dem der Mensch geistig und leiblich beteiligt ist, wobei im chinesischen Kontext die Trennung von Geistigem und Leiblichem zu keiner Zeit so folgewirksam und philosophisch bestimmend war wie in der europäischen Tradition. Das Sollen im ethischen Sinne ist hier weder gebunden an ein Individuum noch an einen logos, der den universalen Hintergrund für ethisches Verhalten bildet. Die Entstehung des Sollens umfasst im angeführten chinesischen Modell immer Mensch und Natur als eine einheitliche Struktur, wobei die Übergänge fließend sind. Ein anderer chinesischer Text, in dem das Motiv des ying in umfassender Weise entwickelt wird, ist das Buch Huainanzi 淮南子 aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. In ihm versammeln sich verschiedenste Strömungen des klassisch chinesischen Denkens und werden in einer umfassenden Kosmologie zusammengebunden. Der Sinologe Charles Le Blanc fasst in seinem Buch HuaiNan Tzu. Philosophical Synthesis in Early Han Thought. The Idea of Resonance (ganying 感應) die Grundintention des Huainanzi wie folgt zusammen: »The most perfect of government is that of non-action (wuwei), for it operates through the natural (ziran) resonance (ganying) of all things. The perfect ruler is the True Man (zhenren) who, being one with Dao is in a state of mutual resonance with all things.« 20

Der Vollzugsraum der umfassenden Resonanz liegt »zwischen Himmel und Erde« (tian di zhi jian 天地之間), wobei es über die Ordnungsvorgänge in diesem Zwischen-Raum hinaus keine andere leitende Instanz gibt, die von außen die Welt, die Menschen und die Dinge bestimmen könnte. Das Zusammenspiel in diesem ZwischenRaum wird allein durch das Resonieren bzw. Antworten bestimmt. Im Huainanzi heißt es daher: »Also ist, wer Dao erlangt in der Intention schwach, in der Sache (shi 事) aber stark, im Herzen leer, im Antworten bzw. Resonieren (ying 應) aber treffend. […] mit den Dingen herumgehen, freischwebend sich drehen, Le Blanc, Huai-Nan Tzu. Philosophical Synthesis in Early Han Thought. The Idea of Resonance (Kan-Ying). With an Translation and Analysis of Chapter Six, 192. An dieser Stelle sei eine Nebenbemerkung erlaubt: Wer den Himmelstempel in Beijing besichtigt, kann diese Formen der Resonanz in architektonischer Umsetzung erleben. In diesem Tempel richtete der Kaiser seit dem 15. Jahrhundert alljährlich Raum und Zeit neu ein, was unterstützt wurde durch die Resonanzphänomene, die insbesondere an zwei zentralen Orten des Tempels in einzigartiger Weise baulich realisiert sind.

20

280 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

nicht den Vorsänger machen, sondern erst auf Anregungen antworten bzw. resonieren (ying). […] Was ich ›in seiner Sache stark sein‹ nenne, heißt: der Veränderung begegnen, dem Plötzlichen antworten bzw. resonieren (ying).« 21

Die angeführten Beispiele sollen verdeutlichen, dass Ethik im alten China zum einen immer auf Handlungsvollzüge und zum anderen immer auf Situationen des Zwischen bezogen ist, sei es zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Ding oder das Zwischen von Himmel und Erde, in dem sich all dies vollzieht. In den Handlungsvollzügen, die im Yueji als Zusammenklingen verschiedener Töne gedeutet werden, ist der Menschen, und auch alles andere immer leiblich eingebunden, so dass jedes konkrete Handeln qua antwortendem Resonieren zum Gelingen (xing) der Ordnungsprozesse beiträgt. Als oberstes Evidenzkriterium für das Wahre und Gute gilt dabei, ob etwas unmittelbar und konkret zu einer gelingenden Ordnung führt oder nicht. Im klassisch chinesischen Denken ist nur der Wandel aller Dinge selber unwandelbar, so dass es vorrangig darum geht, diese konkreten Wandlungsvollzüge in eine gelingende Ordnung zu bringen. In den denkerischen Bemühungen, die wir in China finden, geht es seit alters darum, Wandlungsprozesse gelingen zu lassen, wobei sich diese nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen beschränken, sondern gerade auch die verschiedenen Vollzüge in der Natur, wie z. B. der Lauf der Jahreszeiten, mit einbezogen sind. Ein gelingendes Handeln ist immer auf ein antwortendes, resonierendes Eingehen auf verschiedene Situationen und Ebenen angewiesen, da keine absolut übergeordnete Regelinstanz angenommen wird, von der aus alles beurteilt werden könnte. Wissen in verschiedenen Formen ist damit primär wichtig für das konkrete, praktische Gelingen eines Ordnungsprozesses. Obwohl es im klassisch-chinesischen Denken auch Reflexionen zur Logik gibt – wie z. B. bei Hui Shi 惠施 (ca. 370–310) und Gongsun Long 公孫龍 (325–250) –, bleiben diese Wissensformen aber eingebunden in die besondere Betonung der Bewältigung des praktischen, konkreten Wandels. Kontrastierend zu bestimmten Traditionen des westlichen Denkens könnte man sagen: Erste Philosophie besteht nach Aristoteles darin, das Seiende als Seiendes zu erkennen und in seinem unveränderlichen Wesensbau zu bestimmen, um so Sein und Denken in Kraft, Zum Hua-Nan-Tzu. Einführung, Übersetzung (Kapitel I und II) und Interpretation, 228.

21

281 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Übereinstimmung bringen zu können. Wenn es erlaubt ist, analog zu konstruieren, so gehören zur Ersten Philosophie im klassisch chinesischen Denken alle Mittel, die das Gelingen eines konkreten und praktischen Ordnungsprozesses fördern, wobei das Wissen nur ein Mittel unter anderen ist. Ein anderes gleichwertiges Mittel für die Etablierung einer Ordnung wäre beispielsweise die Übung (xing 行), der im ostasiatischen Kulturkreis eine eminente Bedeutung zukommt. In diesem Sinne ist Erste Philosophie im klassisch chinesischen Denken im weiten Sinne des Wortes Ethik, d. h. ein Wissen um das praktische Gelingen von Wandlungsvollzügen, das allerdings nicht gebunden ist an einen alles umfassenden Logos. Im alten China hat sich ein Ansatz für Ethik entwickelt, der zugleich auch ontologische Bestimmungskraft besitzt und den ich hier idealtypisch als Resonanz-Ethik bezeichnen möchte. 22 Die ResonanzEthik ist in der chinesischen Geistesgeschichte in unterschiedlichsten Formen entwickelt worden, wobei die konfuzianischen Ausprägungen stärker das Regelhafte, die daoistischen stärker die ästhetische Eingelassenheit in den Wandel betonen.

1.3. Resonanz im Buddhismus Aber nicht nur Konfuzianismus und Daoismus benutzen das Konzept der Resonanz (ying), sondern auch im Buddhismus, der seit dem ersten Jh. n. u. Z. in China eingeführt wurde, hat dieses Konzept in der Übertragung nach China eine zentrale Bedeutung. An dieser Stelle sei nur auf zwei Termini verwiesen, die unter anderem die besondere Stellung des Leibes im Konzept der Resonanz hervorheben. Erstens handelt es sich um den chinesisch-buddhistischen Terminus yingshen 應身, der als Übersetzungsterminus für das Sanskritwort nirmanakaya 23 im Chinesischen gebildet wurde und vom chinesischen TermiHermann Köster verfolgt in seinem Aufsatz Über eine Grundidee der chinesischen Kultur einen ähnlichen Ansatz. »Welches ist die überragende Grundidee der chinesischen Kultur? Es ist die Idee der Entsprechung.« 9. Köster übersetzt das chinesische Wort ying mit Entsprechung und zeigt in seinem Aufsatz auf, wie das »Zusammengehören, das Aufeinanderbezogensein, eben das Ent-sprechen, das Sich Antwort-Geben« die Grundsituation des Menschen in der klassischen chinesischen Kultur in grundlegender Weise kennzeichnet. 23 Wandlungsleib, Transformationsleib; nirmana: formen, kreieren, aufbauen, Komposition; buddh.: transformieren. 22

282 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

nus ausgehend ins Deutsche übersetzt werden kann mit »Resonanzbzw. Antwort-Leib«. Durch die Übersetzung des Sanskritwortes ins Chinesische wird die ursprünglich indisch-buddhistische Vorstellung durch die klassisch-chinesische Tradition überformt. Zusammen mit dem zweiten Terminus ji shen cheng fo 即身成仏, was wie folgt übersetzt werden kann: »mit dem irdischen Leib unmittelbar Buddha werden«, erhält der Leib als yingsheng, d. h. Resonanz- bzw. Antwortleib eine zentrale Bedeutung für die Realisation des Erwachens. Hier werden somit die klassisch-chinesischen Vorstellungen bedeutsam, um das höchste Ziel im ostasiatischen Buddhismus neu zu interpretieren. Dies kommt beispielsweise bei dem chinesisch-buddhistischen Denker Seng Zhao wie folgt zum Ausdruck: »Die geistige Kraft hat die Wirkung des resonierend (應 ying) tätigen Versammelns, ohne dabei zu überlegen. Weil die geistige Kraft ohne Überlegung ist, kann sie die Welt der Erscheinungen allein beherrschen. Und weil Wissen Nicht-Wissen ist, vermag es die Angelegenheiten in ihrer Äußerlichkeit auf geheimnisvolle Weise zu reflektieren. […] Deshalb haben Auf und Ab ihren strömenden Wandel und Resonieren (ying) und aufeinander Beziehen (接 jie) sind unerschöpflich.« 24

In dieser Passage wird angedeutet, dass die hier gemeinte Resonanz sich nicht primär auf die Ebene des analysierenden Denkens bezieht, sondern auf Handlungsvollzüge, die sich im »strömenden Wandel« und in konkreter Resonanz mit den Situationen bilden. Es liegt kein vorgefertigter Plan für die Auführung vor, sondern die konkreten leiblich-geistigen Resonanzen bestimmen das Handeln. Viel später wird diese Auslegung auch zur Grundlage verschiedener buddhistisch fundierter Künste, in denen die eigentliche Kunst im Nicht-Handeln besteht. Die Übungen für diese Künste bestehen darin, den eigenen Körper in einen umfassenden Resonanz-Leib zu verwandeln, so dass auch kleinste Regungen in das eigene Handeln und Gestalten mit einbezogen werden. 25

Elberfeld, Leibold, Obert, Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China, 28. Übersetzung leicht verändert. 25 Für eine entsprechende Interpretation der Berg-Wasser-Malerei in China vgl. Obert, Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-WasserMalerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, 216 ff. 24

283 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

1.4. Resonanz bei Nishida Die Wirkungen der Resonanz-Ethik bzw. des Konzeptes der Resonanz beschränken sich in ihrer grundlegenden philosophischen Bedeutung nicht nur auf China, sondern sind auch in Japan deutlich zu erkennen. Um dies zu zeigen, möchte ich im Folgenden auf einen Text von Kitarō Nishida eingehen. Nishida thematisiert um 1930 die Frage nach dem Verhältnis von Ich und Du in einem gleichnamigen Aufsatz. Er greift dabei in seinen Erörterungen auf das Motiv des ying, das antwortende Resonieren, zurück – vermutlich ohne die klassisch-chinesischen Bezüge zu kennen. Deutlich wird durch diesen Bezug auch, dass Nishida nicht nur ein buddhistischer Denker ist, sondern verschiedene ostasiatische Gedanken aufgenommen hat. Sein Denken entfaltet sich zwischen östlicher und westlicher Tradition, wobei er nicht auf einzelne Strömungen innerhalb der Traditionen festzulegen ist. Auch im folgenden Zitat überlagern sich östliche und westliche Motive, die in Nishidas Denken immer wieder in verschiedenen Weisen ineinander gedacht werden: »Das wahre Selbstbewußtsein (shin no jikaku 真の自覚), das in sich selbst den absolut Anderen sieht, muss gesellschaftlich sein. Es muss in der raumhaften Beziehung von Mensch und Mensch gründen. […] Ich kann durch die Resonanz (hankyō 反響) meines persönlichen Handelns dich wissen und du kannst durch die Resonanz deines persönlichen Handelns mich wissen. Dass wir im jeweilig eigenen Grunde den absolut Anderen suchen und gegenseitig aus dem jeweiligen Innern heraus in den Anderen übergehen, kann als das wahre selbstbewußte persönliche Handeln gedacht werden. In einer solchen Handlung berühren Ich und Du einander, d. h. durch die Antwort (ōtō 応答) von Handlung auf Handlung wissen Ich und Du einander. […] Ich weiß dich dadurch, dass du mir antwortest, und du weißt mich dadurch, dass ich dir antworte. Wir wissen nicht dadurch voneinander, dass mein Akt und dein Akt vereinigt werden, sondern wir wissen einander dadurch, dass wir einander gegenüberstehen bzw. widersprechen und einander antworten (sōōtō 相応答). Hier muss es immer ein Beziehung von Tat und Reaktion geben. […] Ich weiß dich nicht dadurch, dass ich in deine Gefühle hinübergehe, sondern ich weiß dich dadurch, das ich als Persönlichkeit dir als Persönlichkeit unmittelbar antworte. Ich weiß dich nicht so sehr dadurch, dass ich mit dir mitfühle, sondern eigentlich kann ich dich immer besser dadurch erkennen, dass ich mit dir streite. Und gleichzeitig damit, dass ich dich und du mich durch eine solche Antwort weißt, kann ich ohne deine Antwort mich selber nicht wissen und auch kannst du ohne meine

284 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

Antwort dich selber nicht wissen. […] Die Beziehung von Mensch zu Mensch muss ein miteinander Reden und ein einander Antworten sein. Auch wenn ich das Denken und das Gefühl des anderen Menschen weiß, so ist dies nicht eine bloße Vereinigung von mir mit dem anderen Menschen, mein Bewußtsein und das Bewußtsein des anderen müssen absolut voneinander unterschieden bleiben. In dem Sinne, dass mein Bewußtsein nicht zum Bewußtsein des anderen werden kann, kann ich das Bewußtsein des anderen absolut nicht wissen. Die gegenseitige Beziehung absolut Entgegengesetzter ist ein wechselseitiges Resonieren (hankyōshiau 反響し合 う), bzw. ein Antworten (ōtō 応答). Das Bestimmen seiner selbst in durchgehender Eigenständigkeit und das einander Vereinigen in der Spitze der Selbstbestimmung ist ein Antworten. Hier liegt eine Einheit von Ich und Du und zugleich ein wirklicher Gegensatz vor.« 26

Nishida legt in den zitierten Passagen besonderen Wert darauf, dass das Berühren von Ich und Du realisiert wird durch einen antwortenden bzw. resonierenden Vollzug, der sich sowohl auf den sprachlichen als auch auf den handelnden Umgang bezieht. Ich und Du konstituieren sich gegenseitig im antwortenden Umgang miteinander, ohne jedoch dabei einfach miteinander zu verfließen, denn gerade auch die absolute Unerreichbarkeit des anderen ist wesentlich für die Berührung von Ich und Du im antwortenden Umgang. Bei Nishida bleibt das Problem allerdings an dieser Stelle stark gebunden an die Frage nach dem Wissen und im Zusammenhang damit an die Frage nach dem Selbstbewusstsein, wodurch das Konzept der Resonanz nicht voll in seiner leiblichen Dimension zum Tragen kommt. Er benutzt das Konzept der Resonanz in späteren Texten zwar nicht mehr, dafür rückt aber das Motiv des Leibes ins Zentrum seines Denkens. Deutlich ist jedenfalls zu erkennen, dass der Ansatz für die Lösung des IchDu Problems bei Nishida dem klassisch-chinesischen Modell entspricht. Nishida greift europäisch-philosophische Fragestellungen auf, um dann in ihrer Ausarbeitung – bewusst oder unbewusst – asiatische Motive zu verarbeiten, so dass sein Philosophieren selber ein Antworten bzw. Resonieren auf Europäisches ist, wobei weder das Europäische noch das Asiatische unverändert bleiben. Genau hierin ist aber auch die Bedeutung und der Sinn einer Auseinandersetzung zwischen europäischer und asiatischer Philosophie zu erblicken. Nishida ist ein Beispiel dafür, wie in Japan auf einen europäischen Anspruch hin und in Rückbezug auf die eigenen Traditionen eine neue Nishida Kitarō Zenshū, 1988 ff., Bd. 6, 391 f. Übersetzung aus: Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, 178 ff.

26

285 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Antwort formuliert wurde. Ähnliches ist natürlich auch von Europa aus möglich, wobei der Antwort aus Europa zunächst die Aufnahme des Anspruchs aus Asien vorangehen muss. Um dabei weder vorschnellen Identifizierungen zu erliegen noch dem Aufbau von unüberwindlichen Differenzen zu verfallen, bedarf es immer neuer Versuche, sich dem Anspruch zu stellen, um neue Antworten vorzubereiten. Die drei vorgestellten Ansätze aus Ostasien – antikes China, Buddhismus, Nishida – sind im Hinblick auf die Konstitution der Resonanz nicht in jeder Hinsicht identisch. Der klassisch chinesische Ansatz betont in besonderer Weise das Gemeinschaftsmotiv, wodurch das Individuelle in den Hintergrund tritt. In der buddhistischen Interpretation der Resonanz ist das Individuelle stärker betont, da es im Buddhismus zunächst um das Erwachen des je Einzelnen in den Situationen seines Lebens geht. Bei Nishida hingegen wird sowohl das Gemeinschaftliche als auch das Individuelle hervorgehoben, ohne dass das eine das andere überschatten würde. Im Kontrast zum Motiv der Musik in seiner Bedeutung für die ethische Erziehung bei Platon habe ich versucht, entsprechende ostasiatische Überlegungen zu einer Resonanz-Ethik vorzustellen. Dabei hat sich gezeigt, dass diese Ansätze ausgehen von zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich konstituieren durch das handlungsbezogene Prinzip der Resonanz bzw. der Antwort, so dass eine zentrale Ebene der Ethik an situative Vollzüge gebunden bleibt. Das Prädikat »gut« kommt demnach nicht einem Einzelnen zu, sondern das Gute konstituiert sich in einem gelungenen Wandlungsprozess, wobei alle beteiligten Momente in resonierender Weise zusammenklingen müssen, jedoch ohne ihr jeweils Eigenes gänzlich aufzugeben. Um ein ethisches Gelingen zu fördern, bedarf es daher konkreter Übungen, die Leib und Geist als Resonanzräume des Lebens entfalten. 27 Sicher können nicht alle ethischen Fragen und Dimensionen durch eine Resonanz-Ethik gelöst werden. Sicher ist aber auch, dass Ethik sich nicht nur in Begründungsfragen für richtiges Handeln erschöpfen kann, da sie dann weitgehend ohne jede Wirkung für das konkrete Handeln Vgl. hierzu insbesondere: Yamaguchi, Ki als leibhafte Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit; Hisayama, Erfahrungen des ki – Leibsphäre, Atmosphäre, Pansphäre; Rudolf zur Lippe, Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik.

27

286 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

bleibt. 28 Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten zu neueren Ansätzen in Europa finden. Einige dieser Anschlüsse sollen im Folgenden genannt werden.

1.5. In-Resonanz-Stehen und Antworten – europäische Perspektiven Der heute weitgehend vergessene jüdische Philosoph Fritz Heinemann (1889–1970) hat Ende der 1920er Jahre die Idee einer »Resonanztheorie« entwickelt, die er nach dem 2. Weltkrieg weiter verfolgt hat. Mit seiner Resonanztheorie versucht er zum einen die geschichtlichen Phasen europäischer Philosophie zu interpretieren und zum anderen die Existenzphilosophie im Lichte des Phänomens der Resonanz und des Antwortens zu kritisieren und zu erneuern. In seinem 1929 erschienenen Werk Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz beschreibt er seine damals neue Idee wie folgt: »Der in Resonanz mit Menschen, All und Gott stehende Mensch ist der Schlüssel des Verständnisses der Menschenwelt, der Geschichte und des Alls selbst. Es ist nun bei dem beschränkten Raum unmmöglich, hier diese Resonanztheorie, die sich auf den empirischen Fakten der biologisch-psychologischen Resonanz aufbaut, als Verstehens- und Seinstheorie auszuführen. Das In-Resonanz-Stehen in seinen verschiedenen Formen des in Sympathie- und Antipathie-, in Synergie- und Antiergie-Stehens konstituiert die Formen des menschlichen In-der-Welt-Seins. Je nach dem, was den Menschen anspricht, ob Gott, die Welt, ob der Mensch, antwortet ein anderer Mensch und eine andere Schicht in ihm. Und je nach dem, wie es spricht, ist das Wie der Antwort verschieden. Daraus folgen unsere drei Hauptsätze, aus denen wir die abendländische Philosophie verstehen: der antike Mensch spricht primär mit dem Kosmos, der mittelalterliche mit Gott, der moderne mit dem Menschen. […] für uns beruhen die typischen Differenzen der Weltanschauung auf Unterschieden der Resonanz.« 29

In dem Zitat stellt Heinemann zwei verschiedene Perspektiven in Aussicht, die er direkt miteinander verknüpft. Zum einen benennt er die Möglichkeit einer allgemeinen »Resonanztheorie«, mit der er Sein und Verstehen erschließen möchte. Zum anderen wendet er die-

Varela, Ethisches Können. Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, XXI.

28 29

287 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

se Möglichkeit auf die Interpretation der drei Grundphasen der europäischen Philosophiegeschichte und darüber hinaus auch auf das Verständnis verschiedener Weltanschauungen an. Der Ansatz dieser Resonanztheorie selbst wird in dem Buch nicht weiter entfaltet. Erst am Ende in dem Kapitel über Heidegger zeigt sich, dass sich seine Idee wohl an der Lektüre von Sein und Zeit, das zwei Jahre zuvor erschienen war, gebildet hatte: »Der Mensch ist kein vernünftiges Tier, sondern ein gestimmtes, verstehendes, sprechendes Wesen. Der letzte Sinn dieses Ansatzes enthüllt sich wiederum erst dann, wenn wir zu unserer Theorie der Resonanz übergehen und die Stimmung im Sinne der tieferliegenden Phänomene interpretieren, die in dem Verbundensein des Einzelnen mit der Umwelt im weitesten Sinne gegeben sind, also der Phänomene des in Sympathie- und AntipathieStehens ›mit‹ irgend etwas, der Resonanzphänomene, auf Grund deren so etwas wie ›Sich-angehen-lassen-von‹ überhaupt erst möglich ist. Dann könnten wir dieses in ein musikalisches Weltbild transponieren und die Stimmung […] als Gestimmtsein im Sinne der Resonanzfähigkeit überhaupt verstehen. […] Damit aber rücken für uns die Resonanzbeziehungen noch tiefer als das Besorgen und die Fürsorge, die selbst nur Modi des InResonanz-Stehens sind.« 30

Es ist unverkennbar, dass Heinemann mit seinem Resonanz-Ansatz das besser und tiefer verstehen möchte, was Heidegger das »In-derWelt-sein« genannt hat. Er verspricht sich, die Phänomene »Stimmung«, »Besorgen« und »Fürsoge« in dem noch grundsätzlicheren Phänomen der Resonanz fundieren zu können. Heinemann, der von 1930–33 außerordentlicher Professor an der Universität Frankfurt war, musste ins Ausland emigrieren und verfolgte seinen Ansatz in deutscher Sprache erst nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. In der Zwischenzeit verschiebt sich der Akzent seines Antsatzes weg von der Resonanz hin zum Antworten. Diese Verschiebung wird 1950 erstmalig in deutscher Sprache wie folgt auf den Punkt gebracht: »Deshalb beginne ich nicht mit dem cogito ergo sum, sondern mit dem respondeo ergo sum. Ich antworte, also bin ich. Dieser Satz wird nicht als eine Wahrheit von unbezweifelbarer Gewißheit ausgegeben, aus dem ebenso unbezweifelbare Sätze abgeleitet werden könnten. Er ist, wie Descartes’ erstes Axiom, eine Tatsachenwahrheit und keine Vernunftwahrheit. Er gibt uns eine Schlüsselformel für die Koordination der verschiedenen Sphären unserer Erfahrung, indem er auf eines der Geheimnisse unserer Existenz 30

Ebd., 380 f.

288 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

hinweist. Ich bin insofern, als ich antworte. Ich gewinne die Existenz in allen Sphären meines Seins (Körper, Sinnesorgane, Seele und Geist) nur dadurch, daß ich antworte. Der Mensch kommt zum Sein durch einen Akt des Antwortens; seine Entwicklung besteht aus einer Kette komplizierter und untereinander verbundener Akte des Reagierens und Antwortens. Er antwortet so lange, wie er lebt. Wer nicht mehr antwortet, ist tot.« 31

Diesen Ansatz vertieft Heinemann in seinem Hauptwerk Jenseits des Existentialismus aus dem Jahre 1957. 32 In den Kapiteln Das Prinzip des Antwortens, Die antwortende Innerlichkeit und Die schöpferische Antwort gelingt es ihm, sein Grundanliegen zu differenzieren, aber letztlich muss er hinter seinem hohen Anspruch zurückbleiben. 33 Zu viele Ebenen und Analysen werden nur in Aussicht gestellt, ohne eigens entfaltet zu werden. Dennoch lohnt es sich, diesen Denker wieder in Erinnerung zu rufen, da er als Emigrant zum einen selbst Betroffener der nationalsozialistischen Herrschaft war und zum anderen durch die Motive der »Resonanz« und des »Antwortens« ein neues »ver-antwortliches« Prinzip gefunden hatte, von dem ausgehend die Philosophie ihre geschichtliche Situation einzubeziehen hat, um so aus der zum Solipsismus neigenden bewusstseinstheoretischen Verengung von Philosophie einen Ausweg zu finden. Das Motiv der »Resonanz« ist im deutschen Sprachraum in neuerer Zeit von zwei Autoren als allumfassende Kategorie wieder aufgegriffen worden, ohne das diese Ansätze auf Heinemann zurückgreifen oder an ihn anschließen würden. Der Chemiker und Genforscher Friedrich Cramer (1923–2003) zog in seinem Buch Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie das Fazit langjähriger und vielfältiger Forschungen im Bereich der Chemie und Medizin. Der Soziologe Hartmut Rosa macht einen ähnlich umfassenden Versuch in seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Es ist bemerkenswert, dass das Motiv der Resonanz sowohl ausgehend von naturwissenschaftlichen wie auch ausgehend von geistewissenschaftlichen Forschungen zu einer Grundkategorie des Lebens überhaupt werden kann. Es ist aber auch bemerkenswert,

Heinemann, Was ist lebendig und was ist tot in der Existenzphilosophie?, 21 f. Heinemann, Jenseits des Existentialismus. Studien zum Gestaltwandel der gegenwärtigen Philosophie. 33 Für eine ausführlichere Interpretation des Denkweges von Heinemann vgl. Wisser, Vom Weg-Charakter philosophischen Denkens. Geschichtliche Kontexte und menschliche Kontakte: »Fritz Heinemann – lebendig oder tot?«, 311–371. 31 32

289 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

dass beide Autoren die Ausprägungen des Resonanz-Gedankens im alten China überhaupt nicht miteinbeziehen. Friedrich Cramer baut das Motiv der Resonanz vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Neuinterpretationen der Quantentheorie und des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik im Zusammenhang mit einer spezifischen Interpretation von Zeit auf: »Resonanz ist nun der Mechanismus, um Ganzheit herzustellen, um komplexe, in sich rückgekoppelte Strukturen zu verstehen, denn diese halten ja durch Resonanz zusammen. […] Resonanz ist eine Form der Wechelwirkung, ja, es ist die Form der Wechselwirkung schlechthin, über die alle raumzeitlichen Strukturen in Beziehung treten können. Damit ist ein integrierender Mechanismus gefunden, der eine ganzheitliche Weltsicht ermöglicht. […] wenn alles im Sinne dieses Dualismus auch als Schwingung aufgefaßt werden kann, so kann eben alles miteinander schwingen, in Resonanz treten. Resonanz verbürgt den Zusammenhang der Welt.« 34

Cramer entwickelt das Phänomen der Resonanz in verschiedenen Kapiteln im Rahmen der Physik, Chemie, Biologie, Medizin bis hin zur »Weltresonanz«. Dabei bezieht er vielfältige Bezüge zu den Geisteswissenschaften und Künsten mit ein. Seine zentralen Evidenzen schöpft er jedoch aus den Naturwissenschaften, deren Neuerungen er mit seinem Buch begegnen möchte: »In den letzten Jahren ist vieles umgebrochen. Also muß auf neue Weise philosophiert werden.« 35 Vieles bleibt auch bei Cramer nur Andeutung. Dennoch ist sein Versuch, ausgehend von den neuesten naturwissenschaftlichen Forschungen dem gegenwärtigen Weltbild eine neue philosophische Fundierung zu geben, beachtlich. Die Resonanztheorie von Hartmut Rosa geht aus von phänomenologisch fundierten Analysen zu leiblichen Dimensionen menschlicher Weltbeziehung. Im letzten Kapitel des ersten Teils wird dann das Motiv der »Resonanz« eingeführt und normativ positiv aufgeladen, im Gegensatz zu dem, was Rosa »Entfremdung« nennt. Diese normativ positive Aufladung von »Resonanz« scheint mir die Interpretationsperspektive insgesamt zu tragen und zu strukturieren. Man steht entweder in Resonanz mit Menschen, Situationen, der Gemeinschaft, den Institutionen usw., oder man empfindet sich als »entfremdet«. Hieraus schöpft Rosa die entscheidenden Kriterien für eine Cramer, Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, 9, 14, 21. 35 Ebd., 12. 34

290 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

Fortführung der »Kritischen Theorie« mit positiven Mitteln und einer weitreichenden Interpretation der Situation der Moderne. »Eine Kritik der Resonanzverhältnisse richtet sich somit zunächst und zuerst auf die Frage, ob und in welchem Maße, mit welcher Stabilität und bis zu welcher Tiefe eine soziale Formation oder ein institutionelles oder kulturelles Arrangement die Herausbildung und Sicherung von Resonanzachsen ermöglicht und fördert oder hemmt, verhindert oder blockiert. Darüber lässt sich dann vielleicht sogar ein Maßstab für die Resonanz- oder Entfremdungsqualität einer Lebensform als ganzer gewinnen. Das Verstummen aller Resonanzachsen bezeichnet dabei die Extremform existentieller individueller oder kultureller Entfremdung, während die solide Stabililtät von Resonanzachsen und den dadurch ermöglichten Resonanzerfahrungen so etwas wie existentielle Resonanzgewissheit hervorzubringen vermag, die auch außerhalb und jenseits von je aktualisierten Resonanzerfahrungen Bestand hat und es erlaubt, die Weltbeziehung einer Lebensform als ganze als resonant zu beschreiben.« 36

Rosa spielt in erfahrungsbezogener Weise die Vielfalt von Resonanzen im zweiten Teil an Phänomenen wie Familie, Freundschaft, Politik, Dingresonanzen, Arbeit, Schule und Sport sowie der Religion, der Natur und der Kunst durch. Mit diesen Analysen liefert er das, was bei Heinemann und Cramer fehlte. In den beiden letzten Teilen entwickelt er eine »resonanztheoretische Rekonstruktion der Moderne«, die in der Pointe gipfelt, dass die Moderne eigentlich vielfältige Resonanzen verspricht, diese aber im gleichen Atemzug auch verhindert und zum Verstummen bringt. Durch seine Analysen verspricht sich Rosa diesem Paradox entgegenzuwirken. »Im Begriff der Resonanz aber hoffe ich einen Schlüssel dafür gefunden zu haben, dem Umbau eine Richtungsidee zu geben, die sich aus der Sozialformation der Moderne selbst rekonstruieren lässt. Die Grundangst der Moderne vor dem Weltverstummen lässt sich mit seiner Hilfe ebenso erschließen wie die sie treibende Hoffnung, ihr kardinales Versprechen auf eine gelingende Form des Daseins.« 37

Es ist bemerkenswert, wie Cramer und Rosa das Phänomen der Resonanz jeweils als theoretischen Schlüssel zum einen für den Zusammenhang von Welt überhaupt und zum anderen für ein grundsätzlich gelingendes Lebens aufbauen. Beide Ansätze zeigen sich fasziniert von der metaphorischen Kraft ihres Grundbegriffs, der jeweils in un36 37

Rosa, Resonanz, 297. Ebd., 739.

291 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

terschiedlicher Perspektive das Ganze zu erklären verspricht. Insbesondere der Ansatz von Rosa umfasst ein normatives Versprechen, das den Optimismus seiner Hoffnung nicht verleugnet. Ein anderer, im engeren Sinne phänomenologischer Ansatz, der nicht das Motiv der Resonanz, sondern dasjenige des »Antwortens« ins Zentrum stellt, stammt von Bernhard Waldenfels. Ausgehend von Husserl, Merleau-Ponty, Foucault und Levinas hat Waldenfels in intensiven Analysen zum Phänomen der Fremdheit eine Phänomenologie des Antwortens entwickelt, die selbst in keiner Weise normativ auftritt, sondern vielmehr den Anspruch erhebt, die Genese und Entstehung von Normativität im Handeln zu durchleuchten. 38 Die vielfältigen inzwischen vorliegenden Analysen, die von unterschiedlichen leiblichen und sprachlichen Dimensionen ausgehen, 39 versuchen in keiner Weise direkt, wie es bei Rosa zu beoachten ist, eine normative Schlüsselkategorie für die Bearbeitung der Entfremdungserfahrungen in der Moderne vorzuschlagen. Waldenfels Schriften können allenfalls indirekt als Hinweise dienen, sich jeweils selbst anhand seiner Analysen mit den Erfahrungen der Fremdheit auseinanderzusetzen, um so dem eigenen Antworten eine Kontur zu verleihen. Die Schriften von Waldenfels bleiben in normativer Hinsicht strikt neutral. Sie versuchen vielmehr zu zeigen, wie Normativität entsteht. Dabei gelingt Waldenfels in einer bisher nicht erreichten Fülle zwischen Phänomenologie, Psychologie, Sprachwissenschaft, literarischen Beispielen und anderen Bezugspunkten Phänomenstrukturen aufzuzeigen, die auch für die konkrete Ausdifferenzierung von dem, was bei Cramer und Rosa Resonanz heißt, zentral und wichtig sind. Heinemann, Cramer, Rosa und Waldenfels sind verbunden in dem Anliegen, durch Motive wie »Resonanz« und »Antworten« neue Dimensionen von Mensch- und Weltverhältnissen aufzustoßen, die sich jenseits von einfachen Substanzialisierungen bewegen. Bei allen vier Autoren ist eine zentrale Dimension der Auslegung die Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit von Welt und Leben. Durch die jeweiligen Bemühungen versuchen sie die Interpretation der grundlegenden Resonanz- und Antwortverhältnisse theoretisch mit einer neuen Grundlage zu versehen. Bei allen vier Autoren kommt letztlich nicht Waldenfels, Antwortregister. Vgl. hierzu beispielsweise die vier Bände Studien zur Phänomenologie des Fremden, die zwischen 1997 und 1999 erschienen sind.

38 39

292 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik

die Frage auf, durch welche Formen von Übung sich Menschen in Resonanz bringen können bzw. durch welche Formen der Übung ich selbst meine Responsivität entfalten und erfahren kann. Genau an diesem Punkt könnte eine vielversprechende Auseinandersetzung mit asiatischen bzw. ostasiatischen Philosophien einsetzen. Denn in vielen asiatischen Philosophien ist das theoretische Bemühen nicht abgetrennt von den praktischen Entfaltungsformen der theoretischen Einsichten. So ist die theoretische Begründung und Analyse des gelingenden Lebens höchstens der erste Schritt, der ohne die Überlegungen zur Entfaltung des entsprechenden Könnens nicht ausreicht. Der Biologe Francisco J. Varela hat vor einiger Zeit in seinem kleinen Buch Ethisches Können 40 diesen Zusammenhang eindrucksvoll entwickelt und für eine Neuorientierung der Theoretisierung im Bereich des Ethischen plädiert, wobei auch das Phänomen der Resonanz von besonderer Bedeutung ist. In dem Buch wird deutlich, dass die Einbeziehung asiatischer Übungsformen auch erhebliche theoretische Gewinne erwarten lassen. Vor diesem Hintergrund wäre es nötig, die Phänomene von »Resonanz« und »Antworten« erneut und auch in praktischer Hinsicht zu durchleuchten unter Einbeziehung der ostasiatischen Texttraditionen, die das Grundmotiv des Resonierens ying (應) und des empfindungshaften Resonierens ganying (感應) ins Zentrum stellen und unter Einbeziehung der ästhetischen Traditionen Ostasiens, die in vielfältiger Weise das Phänomen »ästhetischer Resonanz« auch praktisch entfaltet haben. 41 Dabei sind vor allem die vielfältigen leiblichen und geistigen Übungsformen besonderes zu berücksichtigen, die sich in Asien entwickelt haben und bis heute praktiziert werden. 42 Dabei wäre es selbstverständlich, dass auch die alten Kultivierungsdiskurse und -formen aus Europa Beachtung finden müssten und auch das, was seit dem 18. Jahrhundert unter dem Stichwort »Bildung« entwickelt wurde. Dabei entstehen sicher keine schnellen Lösungen, wie Varela, Ethisches Können. Einen anderen, sehr wichtigen Ansatz für die Zusammenführung von Theorie und Praxis hat Rudolf zur Lippe bereits 1978 vorgelegt: Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens. In diesem Buch wird in eindrucksvoller Weise der japanische Übungsweg Aikidō in seiner praktischen sowie theoretischen Bedeutung für individuelle wie gesellschaftliche Prozesse analysiert. 41 Obert, Welt als Bild; für die interkulturelle Rezeption vgl. Klawitter, Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte. 42 Carter, The Japanese Arts and Self-Cultivation. 40

293 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

dies in einer Generaltheorie dem Anschein nach viel zügiger in Aussicht gestellt werden kann, sondern eher lange und individuelle Übungswege, die immer wieder neu beschritten und entfaltet werden müssen. 43

2.

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

Um die Phänomene Resonanz und Antworten im asiatischen und ostasiatischen Kontext weitergehend zu verstehen und zu bedenken, ist es nötig, die Auslegungen von Mensch- und Subjektsein in Ostasien klarer in den Blick zu bringen. Bevor aber die asiatischen und ostasiatischen Perspektiven im Hinblick auf das Zwischensein verfolgt werden, soll zunächst als Kontrast und Vergleichsfolie das Wort Person in seiner Gebrauchsgeschichte in Europa in Erinnerung gerufen werden. Das Wort gehört zum lateinischen Wortschatz der deutschen Sprache und ist eines jener Wörter, die im Laufe ihrer Verwendungsgeschichte gegensätzliche Bedeutungen angenommen haben. Anhand dieser verschiedenen Bedeutungen lässt sich eine Geschichte der Auslegung von Menschsein in Europa nachvollziehen. Um diese Vorstellungen nicht schon von Anfang an auch auf die ostasiatischen Denktradition zu übertragen, sollen wichtige Stationen der Bedeutung von Person erinnert werden, so dass deutlich wird, in welcher Weise Personsein eine besondere Auslegung des Menschen in Europa darstellt. Der Begriff Person wurde Ende des 19. Jahrhunderts ins Japanische übersetzt und in Verbindung mit den Denktraditionen Ostasiens neu gedeutet. Für die Neudeutung von Personsein in Japan spielen die Wörter Zwischen, Mensch und Selbstsein eine wichtige Rolle. Eine Besonderheit an diesen Neuinterpretationen ist, dass sie in überraschender Entsprechung stehen zu den frühen Bedeutungsebenen des Wortes Person in Europa. Durch eine solche Spiegelung von Japan her können diese Ebenen neu gelesen werden, so dass fruchtbare Anknüpfungen an den frühen Wortgebrauch möglich werden. Die Perspektive der Gedankenführung ist eine philosophische und keine soziologische oder kulturhistorische. Ich möchte nicht darüber schreiben, wie »die Menschen« in Ostasien sind, sondern aufVgl. Elberfeld, Kants Tugendlehre und buddhistische Übungspraxis. Auf dem Weg zu einer kulturoffenen und kritischen Kultivierungspraxis.

43

294 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

zeigen, wie Philosophen und andere Wissenschaftler in Ostasien Menschsein interpretiert haben. Dabei frage ich nicht, ob dieses Verständnis richtig oder falsch ist, sondern möchte vor allem das besondere Profil dieser Interpretationen hervorheben, so dass sich darin auch europäische Denkperspektiven im Hinblick auf ihre Grundentscheidungen reflektieren lassen. Wenn sich nach der Lektüre des Textes die Frage regt, ob »die Japaner« oder »die Chinesen« denn »wirklich« so sind, wäre das vergleichbar mit der Frage eines Chinesen oder Japaners: »Sind denn die Schweizer oder Deutschen wirklich so?« – nach der Lektüre eines chinesischen oder japanischen Textes zur Theorie des kommunikativen Handelns bei Habermas. Auf beide Fragen könnte man antworten, dass diese Theorien sehr wohl etwas mit der europäischen und ostasiatischen Denktradition zu tun haben, aber nicht jeder Mensch in Europa oder Ostasien darauf verpflichtet ist, genau so zu handeln. Menschen können glücklicherweise immer auch anders handeln im Vergleich zu den Klischees oder den philosophischen Auslegungen, die über sie als Individuum oder als Gemeinschaft verbreitet werden.

2.1. Ausgewählte Bedeutungen des Personenbegriffs in Europa Ohne auf die nicht wirklich geklärte Etymologie einzugehen, möchte ich im Folgenden die Umkehrungsgeschichte der Bedeutung des Begriffs »Person« anhand wichtiger Stationen in Erinnerung rufen. 44 Die ursprüngliche Bedeutung von persona als »Maske« (des Schauspielers) wandelte sich bald zu der Bedeutung der »Rolle eines Schauspielers« in einer Komödie oder Tragödie und im Weiteren auch zu der »Rolle eines Menschen in der Gesellschaft«. Die persona war zunächst nicht das, was jeden einzelnen Menschen in seinem »Wesen« ausmacht, sondern das, was sich je nach Stück und Situation veränderte. In der Familie spielten die Menschen jeweils eine andere Rolle als im öffentlichen Leben. Vor allem das Gerichtswesen wurde parallel zum Theater im Hinblick auf die Verteilung verschiedener Rollen als Ankläger, Verteidiger, Zeuge, und Richter gedeutet. Die Wortbedeutung von persona war durch die Herkunft aus dem Bereich des Theatralen verbunden mit der Bedeutung des Scheins und der Hierfür stütze ich mich vor allem auf den Artikel »Person« von Manfred Fuhrmann im Historischen Wörterbuch der Philosophie.

44

295 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Scheinhaftigkeit, was sich bis heute z. B. in der Redewendung zeigt: »Jemanden die Maske vom Gesicht reißen«. Der theatrale Charakter der »Person« und des menschlichen Lebens war aber durch die Verbindung mit der Scheinhaftigkeit nicht grundsätzlich diskreditiert, sondern wurde als eine sinnvolle Weise des Menschseins gedeutet. 45 Persona war hier gerade nicht der einzelne Mensch in seiner »autonomen Individualität«, sondern der Mensch in seiner kontextsensitiven Wandelbarkeit. Auch in der Terminologie der Grammatik scheint das Wort Person aus dem Kontext des Theaters zu stammen. Die erste, zweite und dritte Person werden zunächst als die drei »Sprecherrollen« gedeutet im Sinne des Sprechenden (ich), des Angesprochenen (du) und des Besprochenen (er, sie, es). Die grammatischen »Personen« sind somit auszulegen von einer Gesprächs- und Begegnungssituation zwischen Menschen, die dann zu einem technischen Vokabular der Grammatik wurden. Es ist eines der aufregenden Kapitel der europäischen Geistesgeschichte, wie sich aus der gerade erwähnten grammatischen Terminologie im Altgriechischen und Lateinischen der Gedanke der Trinität herausbildet: Gott als der »Sprechende«, der Sohn als der »Angesprochene« und der Geist als das in diesem Gespräch »Besprochene«. Dieses trinitarische Gesprächsgeschehen wird im Laufe der europäischen Geistesgeschichte zu einem der fruchtbarsten Gedanken auch der Philosophie. Die Rede von den »tres personae« und der »una substantia«, von den drei Personen als dem einen Gott ruht auf einer grammatischen und davor noch theatralen Auffassung vom Menschsein. Diesem Zusammenhang intensiver nachzugehen würde sich sicher lohnen. 46 Im 20. Jahrhundert hat der Soziologe Erving Goffman ganz in Entsprechung zur alten römischen Auffassung von Person den Entwurf einer Soziologie vom Modell des Theaters abgeleitet. In einem kurzen Text über Goffman heißt es: »Wie ein Schauspieler durch seine Handlungen und Worte, durch Kleidung und Gestik, angewiesen von einer unsichtbaren Regie, einen bestimmten Eindruck vermittelt, so inszenieren wir im Alltag ›Vorstellungen‹, um Gesprächspartner oder Arbeitskollegen von den eigenen echten und vorgetäuschten Fähigkeiten zu überzeugen. Dass dies nichts mit Lüge und Verstellung, also im landläufigen Sinne mit Moral zu tun hat, dass diese Selbstdarstellung ein notwendiges Element des menschlichen Lebens ist, das macht Goffman anschaulich und überzeugend klar.« Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag [engl. The Presentation of Self in Everyday Life], Klappentext. 46 Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, 194 f. 45

296 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

Durch ein komplexes Geflecht von Diskussionen war der Personenbegriff in die christliche Theologie eingewandert. Nach den komplizierten Erörterungen der »drei Personen« und deren Bedeutung konzentrierte sich das Nachdenken immer wieder auf Christus als die eigentlich »menschliche Person«. Einen auch für die Tradition wegweisende Definition der Person Christi stammt von Boethius. Dieser bestimmte den Personbegriff bezogen auf Christus in folgender Weise: »Persona est naturae rationabilis individua substantia«. 47 Mit dieser Definition wird der Wortgebrauch von persona in eine neue Richtung gelenkt, die uns heute als die vertraute erscheint. Denn Person meint heute vor allem die »individuelle Substanz« eines Menschen und nicht primär die Rollen in den verschiedenen Sozialspielen des menschlichen Lebens. Die Diskussionen um die Bezeichnung »Person« für Christus wurden damit zum Wendepunkt im Wortgebrauch von persona in der europäischen Geistesgeschichte. Alle folgenden wichtigen Definitionen bestätigen dies. Mit der Entfaltung des mittelalterlichen Denkens verblassten nicht nur die Erfahrungen mit dem griechischen Theater, die in der römischen Welt noch sehr lebendig waren, sondern auch die Wortbedeutung von »Rolle« im Personenbegriff. Bonaventura, eine führende Gestalt der christlichen Hochscholastik, versteht persona als »ein in sich selbst gegründetes Ganzes, Vollständiges, von allem anderen Unterschiedenes, aber in sich Ungeschiedenes, etwas Partikulares, aber kein Teil eines anderen. Es handelt sich um eine unmitteilbare Substanz, die weder von einem anderen aussagbar noch mit einem anderen zusammensetzbar ist.« 48 Die »Person«, die im alten Wortgebrauch nur die theatrale oder gesellschaftliche Rolle bezeichnete, wird bei Bonaventura zu einem nur in sich selbst bestimmten, substanziellen Ganzen und damit zum genauen Gegenteil. Diese Richtung fortschreibend und mit weiteren Motiven verbindend sagt dann später Kant: »Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben Dt. »Person ist die individuelle Substanz einer rationalen Natur.« Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O., Artikel »Person«. 48 Ebd. 47

297 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.« 49

Der Mensch ist somit als Person ein autonomes und sich selbst in Freiheit setzendes Wesen, das dadurch mit einer Würde ausgestattet ist. Mit Kant befindet man sich inmitten der Diskussionen um die Menschwürde und die Menschenrechte, für die der Personbegriff, der aus der christlichen Tradition herausgewachsen ist, auch in rechtlicher Hinsicht von zentraler Bedeutung ist. Dass diese Bestimmung das Gegenteil von dem ist, was in Europa ursprünglich darunter gedacht wurde, sollte deutlich geworden sein. Vor dem Hintergrund dieser begriffsgeschichtlichen Erinnerung soll nun der Kontext gewechselt werden und der Gedanke des »NichtIch« im Buddhismus kontrastiv entwickelt werden.

2.2. »Nicht-Ich« (anātman) im Buddhismus Buddhistische Texte versuchen schon früh, mit philosophischen Mittel die Ursachen des Leidens zu analysieren, das von Buddha als Grundtatsache des menschlichen Lebens besonders herausgehoben und als das eigentlich zu Überwindende bestimmt wurde. Im philosophischen Fragen nach den Ursachen des Leidens werden im Buddhismus Auslegungsformen des Menschseins entwickelt, die sich ausgehend von Indien über China nach Japan auf sehr eigene Weise entfaltet haben. 50 Zwei Lehren sind dabei für eine konstrastive Analyse des bisher Entwickelten von besonderem Interesse: 1. die Lehre vom anātman (Nicht-Ich) und 2. die Lehre vom pratītyasamutpāda (Entstehen in Abhängigkeit). 51 Das zentrale Merkmal des Menschen nach der buddhistischen Analyse des menschlichen Daseins ist, dass dieser keinen Wesenskern besitzt und von keiner beständigen personalen Substanz getragen wird. Es gilt vielmehr, immer wieder Einsicht zu gewinnen in die Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, erstes Buch, § 1. Ich hebe nur diese drei kulturellen Kontexte hervor, da sie für den vorliegenden Zusammenhang eine besondere Rolle spielen. Der Buddhismus hat sich beispielsweise auch in Tibet, Thailand, Sri Lanka, Vietnam und in anderen Ländern auf eigene Weise weiterentwickelt. Inzwischen setzt sich diese Entwicklung des Buddhismus auch in Europa und den USA fort. 51 Vgl. hierzu Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, 68 ff. 49 50

298 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

eigene Existenz als »Nicht-Ich«, gerade weil der Mensch sich unablässig in der Vorstellung ein beständiges »Ich« erzeugt, ohne das er keinen Grund mehr für die eigene Existenz zu haben scheint. Das erzeugte »Ich« ist aber aus buddhistischer Sicht nichts anderes als die Beziehung verschiedener Faktoren, die als solche vollkommen »leer« sind. Auch das erzeugte und vorgestellte »Ich« als die »Person« ist somit nichts Substanzielles, sondern reines »Entstehen in Abhängigkeit« der fünf Daseinsfaktoren, aus denen Ich- und Menschsein sich unablässig bildet. Nach buddhistischer Auffassung entsteht das grundsätzliche Leiden dadurch, dass die Menschen keine Einsicht in diese Zusammenhänge haben und meinen, ein festes und unwandelbares Ich zu besitzen. Dieses »Ich« hält nicht nur an sich selbst fest, sondern versucht vor allem auch, an dem festzuhalten, was für es selbst gut zu sein scheint. Anhaftung an dem, was für fest und unveränderlich gehalten wird – und hierzu gehört auch das eigene »Ich« –, ist eine der zentralen Ursachen des Leidens, die man im Buddhismus durch Meditation, aber auch durch philosophische Analysen versucht zu durchblicken und aufzulösen. Eine »Person«, die als substanzielle Grundlage des menschlichen Selbstseins angenommen wird, ist aus buddhistischer Perspektive eines der zentralen Übel, die es in der fortschreitenden Selbstanalyse und Selbsteinsicht zu überwinden gilt. Dies bedeutet aber nicht, dass der sich langsam aus dem Leiden Herauslösende keine Reaktionen mehr zeigen kann. Vielmehr transformiert sich seine Ich-Vorstellung, die glaubt, an sich selbst und verschiedenen Dingen festhalten zu können und müssen, hin zu einem Selbst-Vollzug, der sich als Entstehen in Abhängigkeit, d. h. als grundsätzliche Beziehungshaftigkeit aller inneren und äußeren Faktoren realisiert. Für das Selbstsein des Menschen wird in diesem Gedanken nahegelegt, dass Menschen durch die Ausgestaltung von Beziehungen und indem sie in und durch Beziehungen Leben gestalten, dem grundsätzlichen Leiden begegnen können. Blickt man zurück auf die beiden im ersten Abschnitt entwickelten gegensätzlichen PersonenBegriffe, so ergäbe sich – wenn überhaupt – eine höhere Affinität zum Begriff der Person als einer Vielheit von Rollen, die durchaus in einem einzelnen Menschen verbunden sein können. Von Europa her stellt sich dann aber schnell die Frage, ob es sich um bloßen »Schein« oder um das »Wirkliche« handelt. Es ist vermutlich diese für die europäische Philosophie so maßgebliche Unterscheidung von »Schein« 299 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

und »Wirklichkeit«, die dazu geführt hat, dass der römische Personenbegriff sich mehr und mehr in sein Gegenteil verwandelt hat. Heute kann man mit Soziologen wie Erving Goffman wieder neu an die alte Begrifflichkeit anknüpfen, da spätestens seit Kant und Nietzsche auch in Europa die Unterscheidung von »Schein« und »Wirklichkeit« eine tiefgreifende Transformation durchlaufen hat. Bei Nietzsche wird diese Unterscheidung letztlich zugunsten des »Scheins« aufgehoben, da es ihm zufolge nichts anderes als »Schein« geben kann, was in durchaus »fröhlicher« Weise affirmiert wird. In der Zeit, als in Europa die Unterscheidung von »Schein« und »Wirklichkeit« neu bestimmt wird, beginnen die Japaner die europäische Philosophie in ihre Sprache zu übersetzen. Es handelte sich bei diesen Übersetzungen aber nicht nur um bloßen Texttransfer, sondern um eine Übersetzung der Kultur. Durch die Übersetzungen und Weiterentwicklung der übersetzten Gedanken in Verbindung mit asiatischen Traditionen entstanden neue Konstellationen des Denkens, die sich bis heute in fruchtbarer Weise weiter entfalten. Beispielsweise wurde in der modernen japanischen Philosophie das Phänomen der Person 52 ausgehend von buddhistischen Einsichten aufgenommen und neu interpretiert. Wie die grundsätzliche Betonung der Beziehungshaftigkeit im Buddhismus und in anderen Denktraditionen Ostasiens, wie dem Konfuzianismus und Daoismus, in der Auslegung des Person- und Menschseins Spuren hinterlassen hat, möchte ich im nächsten Abschnitt behandeln.

2.3. »Zwischensein« in japanischen Diskursen des 20. Jahrhunderts Wenn man in der deutschen Sprache an Wörter wie »Person« oder »Mensch« denkt, so ist die erste Assoziation nicht das Verhältnis verschiedener Menschen zueinander, sondern es drängt sich vielmehr das Bild von einzelnen individuellen Personen und Menschen auf, die jeweils in sich ein Wesen tragen und als solche Würde besitzen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Japan zunächst alle grundlegenden Begriffe der europäischen Philosophiegeschichte ins Japanische übersetzt. Dies geschah zumeist durch die Neubildung von Wörtern, die der japanischen Sprache zunächst fremd waren. Im 20. Jahrhundert wurden diese Begriffe dann durch verschiedene philosophische Entwürfe neu aufgeladen und mit ostasiatischen Bedeutungskontexten verbunden. Dies geschah auch mit dem Begriff der Person, der ins Japanische mit jinkaku übersetzt wurde.

52

300 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

Dies entspricht der Entwicklung des Begriffs der Person, wie er im ersten Abschnitt vorgestellt wurde. In der chinesischen und japanischen Sprache liegen entsprechende sprachliche Ausdrücke vor, die eher die Beziehung zwischen Menschen in den Vordergrund rücken. Ein immer wieder angeführtes Beispiel ist das altchinesische Zeichen für »Menschlichkeit« 仁 (ren), das schon seit über zweitausend Jahren zum philosophischen Grundvokabular gehört. Der linke Teil des Zeichens bedeutet »Mensch« und der rechte »zwei«. Das Zeichen für »Menschlichkeit« ist somit aus »Mensch« und »zwei« zusammengesetzt, was die Deutung nahelegt, dass Menschlichkeit sich immer in einer Beziehungssituation entfaltet. In dieser Auslegungslinie wurde vor allem auch die sino-japanische Wendung ningen (人間) verstanden. Diese Wendung setzt sich aus zwei Zeichen zusammen: »Mensch« und »Zwischen/Bereich«. Ursprünglich bezeichnete die Wendung in der buddhistischen Sprache den Bereich der Menschen im Gegensatz zu Bereichen anderer Existenzformen. In der modernen japanischen Philosophie rückte aber die Bedeutung des »Zwischen« mehr und mehr in den Vordergrund, so dass Philosophen, Psychologen und Soziologen dieses »Zwischen« zum Ausgangspunkt für innovative anthropologische Reflexionen machten. Die folgenden Autoren, die kurz interpretiert werden sollen, verstehen das Menschund Personsein – jeweils mit anderen Akzenten – grundsätzlich als Beziehungsphänomen. Nicht »Autonomie«, sondern »Beziehung« ist hier der Ausgangspunkt. Es handelt sich um japanische Autoren aus dem Bereich der Philosophie, Psychologie und Soziologie. Tetsurō Watsuji (1889–1960) ist einer der hervorstechenden japanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Eines seiner zentralen Arbeitsgebiete war die Ethik. Während des Studiums der europäischen Philosophie war ihm immer wieder aufgefallen, dass die Texte der Ethik vor allem seit der Neuzeit ihre Argumentationen ausgehend vom Individuum aufbauten. Diese Feststellung evozierte bei Watsuji ein kontrastives Studium der ostasiatischen Tradition der Ethik, wobei zunehmend deutlicher wurde, dass die Grundlagen ostasiatischer Ethik weniger vom Einzelmenschen ausgingen als vielmehr von der Beziehung zwischen den Menschen. Vor dem Hintergrund dieser kontrastiven Erfahrung legte er seinem Ansatz zur Ethik unter anderem den Begriff des ningen zugrunde. »Ningen ist nicht nur ›das Zwischenmenschliche‹, sondern das Zwischen der Menschen, die sie selbst, die Anderen oder die Allgemeinheit sind.

301 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Was aber, wenn wir so denken, klar wird, ist, dass das Selbstsein oder Anderssein des Menschen bereits auf der Beziehung zwischen den Menschen beruht. Dadurch, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen näher bestimmt werden, entsteht Selbst und Anderer.« 53

Der letzte Satz im Zitat hat zentrale Bedeutung für die Bestimmung des Selbstseins des Menschen. Wenn mein Selbstsein sich nur durch die Beziehung zu anderen Menschen bestimmt und aufbaut, so kann es nicht mehr darum gehen, einen festen Wesenskern des Menschen zu suchen, um diesen dann als eigenständige Entität zu bestimmen. Menschsein bedeutet, sich in und durch Beziehungen zu anderen Menschen zu finden und zu bestimmen. Dies geschieht im konkreten Umgang mit den Menschen. Der handelnde Vollzug von Beziehung zu Menschen lässt den einzelnen Menschen in seinem Menschsein jeweils hervortreten. In der Beziehung zu Menschen kann ich mich – positiv interpretiert – jeweils als Mensch neu entdecken. »Ohne zu handeln, können Menschen keinerlei ›Zwischen‹ oder ›Untereinander‹ herstellen. Außerhalb eines Zwischen bzw. Untereinander aber können Menschen auch nicht handeln. Deshalb ist Zwischensein mit Handlungszusammenhang gleichbedeutend. Solches Zwischen bzw. Untereinander ist nicht wie ›zwischen Tischen‹ oder ›im Wasser‹ ein statischer Raum, sondern ein dynamischer Raum, in dem man leben kann, und bedeutet folglich freie Schöpfung.« 54

Der dynamische Raum des »Zwischen« lässt die Menschen immer wieder neu hervorgehen. Dieses »Zwischen« ist nie ein abstrakter Raum, in dem sich zwei Dingen äußerlich gegenüberstehen, sondern ein lebendiger Resonanzraum, in dem jeder Einzelne zu dem werden kann, was er in der jeweiligen Beziehung ist. Ausgehend vom »Zwischen« ist der Mensch als »Ich« immer verwiesen auf ein »Du«, »Er«, »Sie« oder »Es«. Ichsein ist in diesem Sinne niemals einfach autonom, sondern immer geboren aus dem »Zwischen«. »Mit dem Zwischensein als Fundament entwickeln sich Beziehungen wie Ich, Du und Er. Was nicht im Zwischensein ist, kann weder Ich noch Du werden. […] Der Mensch wird im Zwischensein ›Ich‹.« 55

Der Psychologe und Psychotherapeut Bin Kimura (geb. 1931) hat in seinen kontrastiven Studien ausgehend von psychischen Krankheits53 54 55

Watsuji, Ethik als Wissenschaft vom Menschen, 13. Ebd., 21. Ebd., 116.

302 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

bildern die Situation zwischen Menschen in Deutschland und Japan untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die psychischen Krankheitsbilder mit einem bestimmten Bild vom Menschen korrespondieren. In Japan entstehen viele psychische Schwierigkeiten ausgehend von der Störung des Zwischen, was sich damit auch in empirischer Hinsicht als der eigentliche Ausgangspunkt für die Bestimmung des Menschen anbietet. Kimura hat in vielen Studien die Konsequenzen seiner Beobachtungen dargelegt. Zentrales Ergebnis ist dabei, dass Personsein in Japan ausgehend von den Beziehungen zwischen den Menschen zu denken ist. »Man darf sich dieses ›Zwischen Mensch und Mensch‹ bzw. die ›Zwischenverhältnisse‹ nicht wie Beziehungen zwischen Menschen, die es bereits als selbständige Einzelmenschen gibt, vorstellen. Zwischen Mensch und Mensch meint hier gleichsam den Quellort, aus dem heraus das eigene Ich und der andere als je eigenständige, verschiedene Personen hervorgehen.« 56

Der Soziologe Eshun Hamaguchi (geb. 1931) hat in seinen Schriften eine sprachschöpferische Konsequenz aus den Gedanken Watsujis und Kimuras gezogen. Er legt seinem soziologischen Ansatz ebenfalls das Phänomen des Zwischen zugrunde und kehrt die Reihenfolge der sinojapanischen Zeichen in dem Wort ningen 人間 um, woraus dann das Wort kanjin 間人 entsteht. 57 Dieses Wort – kanjin – baut er dann als Schlüsselbegriff seiner Soziologie auf. Kontrastierend zum Begriff des Individuums (kojin 個人) rückt durch den Begriff des kanjin 間人 wiederum das »Zwischen« ins Zentrum der Bestimmung von Menschsein. Durch die Umkehrung der Zeichen in dem Wort ningen nutzt Hamaguchi eine Besonderheit der japanischen Schrift als Mittel der Begriffsbildung, um den Begriff des Individuums (kojin) zu ersetzen. Die Bestandteile des Wortes kojin setzen sich zusammen aus dem ersten Zeichen ko (個), das im Japanischen so viel wie »eigenständig, autonom« bedeutet, und dem Zeichen für »Mensch« (人). Der erste Teil des Wortes (個) besteht aus den beiden Bestandteilen für »Mensch« und »fest, beständig«. Wenn Hamaguchi nun anstelle des ersten Teils des Wortes kojin das Zeichen für »Zwischen« (= kan) setzt, so ist dies nicht nur ein harmloses Wortspiel, sondern der Begriff des Individuums wird auf diese Weise neu gedeutet als »Zwi-

Kimura, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, 51. Warum die Lesung der beiden Zeichen jeweils so abweichend ist, kann an dieser Stelle nicht erklärt werden.

56 57

303 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

schen-Mensch« bzw. – wie es heute aus dem Japanischen übersetzt wird – als »Intersubjekt«. »Das mit dem ›Individuum‹ kontrastierende ›Intersubjekt‹ bezeichnet eine menschliche Seinsweise, in der man sich bewußt wird, dass innerhalb der zwischenmenschlichen Zusammenhänge die Beziehungen an sich das Selbst sind, und nicht Verknüpfungen oder Veränderungen eines unabhängigen ›Ego‹. Die Ostasiaten, einschließlich der Japaner, halten dieses ›Intersubjekt-Sein‹ für die selbstverständliche Existenzweise. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der ›Mensch‹ (hito) im Japanischen mit ›ningen‹ bezeichnet wird, und im Chinesischen der Ausdruck ›Mensch‹ die zwischenmenschlichen Beziehungen mit einschließt. ›Intersubjekt‹ bezeichnet einen ›Menschen‹ (ningen), der ›zwischen Menschen‹ (jinkan) lebt, und als Bezugs-orientiertes Subjekt hat er nichts anderes als eine Existenzweise ›zwischen Mensch und Mensch‹ (Kimura Bin). Hier fehlt die ptolemäische Selbstgefälligkeit des ›Individuums‹.« 58

Der Philosoph Iwao Kōyama (1905–1993) hat bereits in den 1930 Jahren eine »Logik der Entsprechung« entworfen, die grundsätzlich mit den bisher erwähnten Ansätzen korrespondiert. Er hat das geläufige japanische Wort »kōō« (呼応) gewählt, um den »Zwischencharakter« menschlicher Beziehungen philosophisch näher zu bestimmen. Das Wort ist aus zwei sinojapanischen Zeichen zusammengesetzt. Das erste Zeichen 呼 bedeutet »1. Ausatmen, 2. rufen, anrufen, 3. benennen, 4. herbeirufen«. Das zweite Zeichen (応, in der alten chinesischen Form: 應) ist in seiner Bedeutung sehr schillernd und wurde bereits in dem vorhergehenden Text vorläufig erschlossen. Seine Grundbedeutungen sind: 1. müssen, sollen, erforderlich, 2. passend, passen, gehörig, 3. zutreffend, zweckentsprechend, 4. zustimmen, zusagen, versprechen, annehmen, 5. entsprechend, Folge leisten, erfüllen, erwidern, sich anpassen, sich nach etwas richten, 6. vergelten, 7. Antwort, antworten, Erwiderung, Echo, Resonanz. Vor allem das zweite Zeichen hat in den alten chinesischen Texten eine zentrale Bedeutung, ein Zusammenhang, der ebenfalls bereits angedeutet wurde. Das Zeichen kommt in den klassischen Texten immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, dass die Menschen, aber auch die Dinge zusammen »stimmen« und in wechselseitiger Resonanz stehen. In dem Wort kōō verschmelzen Aktivität und Passivität zu einer

Hamaguchi, Ein Modell zur Selbstinterpretation der Japaner – »Intersubjekt« und »Zwischensein«, 143.

58

304 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

Geschehensqualität, in der jedes Moment in wechselseitiger Resonanz erst hervorgeht. »Entsprechung (kōō) besteht zwischen Mensch und Mensch, zwischen Ich und Du, zwischen Subjekt und Objekt. Sie ist personenbezogen. Alle personalen Verhältnisse sind in ihrem Grunde Entsprechungsverhältnisse. Ohne diese gäbe es überhaupt keine Personen.« 59 »Wenn man die Entsprechung als ursprünglicher denn Subjekt und Objekt ansetzt, dann ist die Entsprechung der Ursprung der Person, ja, wir müssen sagen, dass es sich hierbei um jene ursprüngliche Bestimmtheit handelt, welche die Person überhaupt erst zu einer Person macht.« 60

Watsuji, Kimura, Hamaguchi, Kōyama und Nishida (wie im vorherigen Text deutlich wurde) kreisen in ihren Bestimmungen des Personseins um den Gedanken der Beziehung als Zwischengeschehen. Der Ansatz stellt die Beziehungen zwischen Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem gegenüber stand in den europäischen Ansätzen seit der Neuzeit die »Eigenständigkeit« und »Autonomie« im Vordergrund der Bestimmungen. Es wäre zu überlegen, ob durch die japanischen Ansätze sich jenseits des kantischen Gegensatzes von »Autonomie« und »Heteronomie« die Ebene einer »Internomie« 61 auftut mit neuen Möglichkeiten, Menschsein, Freiheit, Würde und Personsein zu denken. Dass die japanischen Entwürfe auf überraschende Weise mit den frühen Bedeutungsebenen von Person in der lateinischen Sprache korrespondieren, gibt zusätzlichen Anlass, in kontrastiver Weise die Grundbestimmungen des Personseins neu zu durchdenken. Hier kommen auch Fragen in den Blick, die auf die Struktur der verschiedenen Sprachen aufmerksam machen. Ausgehend von der japanischen Sprache ergeben sich für den vorliegenden Gedankenzusammenhang bedeutsame Hinweise vor allem durch den Blick auf den Gebrach der Personalpronomina. Dabei zeigen sich Verwendungsweisen und Differenzierungsformen, die in der lateinischen, deutschen oder englischen Sprache unbekannt sind. Ohne das Thema erschöpfen zu können, möchte ich hierzu noch einige HinKōyama, Logik der Entsprechung, 307. Ebd., 308. 61 Dieses Wort habe ich versuchsweise gebildet. Es entspricht nicht der Wortbildeform von »Autonomie« und »Heteronomie«, da »Internomie« sich aus dem lateinischen »inter« (zwischen, unter) und dem altgriechischen »nomos« (Lebensweise, Sitte, Gesetz) zusammensetzt. Es soll andeuten, dass der Nomos bzw. die Normativität aus dem »Zwischen« hervorgeht. 59 60

305 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

weise geben und am Ende des Textes die Fragestellung durch eine literarische Reflexion in eine hoffentlich produktive Aporie führen.

2.4. Der Gebrauch der Personalpronomen in der japanischen Sprache Das Personalpronomen ist in der japanischen Sprache in einer Weise differenziert, die wir in der deutschen Sprache nur ansatzweise nachvollziehen können. Es existieren zahlreiche Wörter für die erste und zweite Person – die dritte Person konnte auf älteren Sprachstufen nicht bezeichnet werden –, ohne dass jedoch eine Bezeichnung darunter wäre, die ein abstraktes »Ich« oder »Du« zum Ausdruck bringen könnte. 62 Denn jeder Ausdruck für ein »ich« oder »du« im Japanischen ist verbunden mit einer bestimmten Beziehung der Personen untereinander. Ich beschränke mich bei der Aufzählung der Pronomina auf eine Auswahl von Wörtern, die entweder in irgendeinem Sinne »Ich« oder »Du« bedeuten: 1. Person Singular: watakushi, watashi, atashi, washi, boku, ore, onore, wagahai, shōsei 2. Person Singular: anata, anta, omae, kimi Diese sprachliche Tatsache und ihre Verwendung in der japanischen Alltagssprache legt ein Verständnis vom Menschsein und Selbstsein nahe, das von Kimura auf folgende Weise charakterisiert wird: »Was bedeutet es, dass es im Japanischen eine unbestimmte Anzahl von Personalpronomen der ersten und zweiten Person gibt? Es bedeutet, dass niemals von Anfang an eindeutig feststeht, wer man selbst ist und wer der einem jeweils gegenüberstehende andere Mensch ist. Während man vor einem Freund boku ist, ist man vor seinem Lehrer watashi und vor seiner Ehefrau ore. Während man für seinen Lehrer ein kimi ist, ist man für seine Schüler ein sensei und für seine Ehefrau ein anata. Natürlich bringen auch diese Personalpronomen, insofern es sich um Pronomen handelt, nicht das konkrete Individuum zum Ausdruck. Aber welches Personalpronomen der ersten Person man für sich selber verwendet, welches Personalpronomen der zweiten Person man für sein Gegenüber verwendet, entscheidet sich hierbei aus den jeweils ganz konkreten Umständen der zwischenmensch-

Als die Formel »cogito ergo sum« ins Japanische übersetzt wurde, erfand man für das »Ich« in dieser Formel ein eigenes Wort (jiga), das in der Alltagssprache nicht verwendet wird.

62

306 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins

lichen Beziehung selbst und ist niemals dieser Beziehung vorausgehend entschieden.« 63

Kimura gewinnt aus der Beobachtung der Besonderheiten im Gebrach der Personalpronomina im Japanischen wichtige Hinweise für seine Interpretation des »Zwischen« von Mensch und Mensch. Durch den angedeuteten Sprachgebrauch wird immer wieder ein menschliches Selbstverständnis nahegelegt, das sich selbst als hervorgegangen aus den Beziehungen zwischen den Menschen empfindet. Anhand von diesem Beispiel zeigt sich deutlich, wie eine Sprachstruktur eine Selbstauslegungsstruktur befördert und nahelegt. Dies bedeutet aber nicht, dass Menschen, die die japanische Sprache sprechen, nicht auch anders denken und interpretieren könnten. Auch hier ist wieder der Kontakt zu anderen Sprachen und Auslegungsformen von entscheidender Bedeutung. Ein besonders eindringliches Beispiel für diese Möglichkeit findet sich bei Yōko Tawada, die ihren Umgang und ihre Schwierigkeiten mit dem gesellschaftlich sehr wirksamen Gebrauch der japanischen Personalpronomina literarisch in besonders erhellender Form reflektiert hat. In ihren literarischen Reflexionen kommt auch die komplexe und verwickelte Problematik der Gender-Frage mit in den Blick. Durch ihren Text wird das zuvor entwickelte Problem des Personseins aporetisch gespiegelt, aber auch mit neuen Perspektiven der Deutung versehen. »Unsere Wohnung in Tokyo, die sich in einer Siedlung befand, trug die Nummer zwei-sechs-zwei-null-drei. In dieser Siedlung gab es viele Mädchen in meinem Alter. Eines dieser Mädchen fiel mir besonders auf, weil es sich wie ein Junge als ›boku‹ bezeichnete. Wir gingen zusammen zur Grundschule. Die meisten Mädchen in dem Alter bezeichneten sich als ›atashi‹, einige frühreife Mädchen dagegen schon als ›watashi‹, ein Mädchen aus einer vornehmen Familie benutzte das Wort ›atakushi‹, dieses Wort roch nach Zypressenholz. Die meisten Jungen nannten sich ›boku‹, einige freche oder stolze Jungen dagegen ›ore‹. Es gab natürlich keinen Jungen in dem Alter, der sich schon als ›watashi‹ oder ›watakushi‹ bezeichnet hätte. Das hätte lächerlich geklungen, dafür mussten sie noch viel älter werden. Ich hatte Schwierigkeiten mit all diesen Wörtern, die ›ich‹ bedeuten. Ich fühlte mich weder wie ein Mädchen noch wie ein Junge. Als Erwachsene kann man sich in das geschlechtsneutrale Wort ›watashi‹ flüchten, aber bis man so weit ist, ist man gezwungen, ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Wie einfach wäre meine Kindheit gewesen, wenn ich eine andere Sprache – 63

Kimura, Zwischen Mensch und Mensch, 102.

307 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

zum Beispiel Deutsch – gesprochen hätte. Ich hätte dann einfach immer ›ich‹ sagen können. Man muss sich weder weiblich noch männlich fühlen, um das Wort ›ich‹ zu verwenden. In der Kindheit vermied ich es, die Worte, die es im Japanischen für ›ich‹ gibt, zu benutzen. Wenn ich betonen wollte, dass ein Wunsch mein Wunsch war, benutzte ich das Wort ›diesseits‹ : ›Was diesseits betrifft, ist es gut, wenn wir morgen in den Zoo gehen. Was meine Schwester betrifft, ist es nicht besonders günstig, aber machbar. Also gehen wir morgen in den Zoo.‹ Ich fühlte mich wie ein Ufer, und auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses sah ich meine Gesprächspartnerin. Zwischen uns lag ein Fluss. Das Wasser war tief und unruhig, aber wenn man wollte, konnte man den Fluss überqueren. Der Raum zwischen den deutschen Worten ›ich‹ und ›du‹ hingegen bleibt abstrakt, man kann ihn nicht durchqueren. […] Anders als dieses Mädchen, das sich ›boku‹ nannte, konnte ich mich nicht als ›boku‹ fühlen. Die Jungen waren mir fremd, ich spielte nur mit Mädchen, ohne mich aber selbst als Mädchen zu fühlen. Als ich später studierte, sagte mir ein Freund, dass er sich eigentlich immer als ›boku‹ bezeichne und daher sich in einen Mann, der das Wort ›ore‹ benutzt, verlieben könne, ohne homosexuelle Fähigkeiten zu besitzen. Die Männer, die sich als ›ore‹ bezeichneten, schienen ihm die Eigenschaften zu besitzen, die er selber nicht besaß und die ihn deshalb faszinierten. Er konnte nicht erklären, welche Eigenschaften das waren. Ein ›boku‹ habe in dieser Gesellschaft einen anderen Ort als ein ›ore‹, sagte er, ›deshalb verhalten sie sich anders.‹ Als er mir das sagte, wurde mir bewusst, dass die ›ore‹Männer auf mich körperlich anders wirkten als die ›boku‹-Männer. Es gebe unter den Erwachsenen also mindestens vier Geschlechter, sagte ich zu ihm, ›ore‹, ›boku‹, ›atashi‹ und ›watashi‹. Das Mädchen, das sich ›boku‹ nannte, verlor ich irgendwann aus den Augen. Das Problem der Selbstbezeichnung verlor ich auch aus den Augen. Denn ich zog nach Europa und fand das Wort ›ich‹, bei dem man sich keine solchen Gedanken mehr machen musste. Ein Ich muss kein bestimmtes Geschlecht haben, kein Alter, keinen Status, keine Geschichte, keine Haltung, keinen Charakter. Jeder kann sich einfach ›ich‹ nennen. Dieses Wort besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt aus der Tatsache, dass ich überhaupt spreche. Das Wort zeigt nur auf den Sprecher, ohne eine weitere Information über ihn hinzuzufügen. ›Ich‹ wurde zu meinem Lieblingswort. So leicht und leer 64 wie dieses Wort wollte ich mich fühlen. […]« 65

In diesem kleinen Text ist eine ganze Soziologie japanischer Personalpronomen enthalten. Es wird dabei deutlich, wie bestimmte gesellschaftliche Zwischenverhältnisse durch den Gebrauch der Personal64 65

Hervorhebung R. E. Tawada, Eine leere Flasche, 53–57.

308 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

pronomina festgelegt sind und jeder einzelne Mensch sich gemäß dieser Zwischenverhältnisse zu verhalten hat. In den geschilderten Verhältnissen wird ein gesellschaftlicher Zwang deutlich, der sich gerade durch das Hervorgehen des Einzelnen aus den Zwischenverhältnissen manifestiert. So wie einerseits die substanzielle Bestimmung der einzelnen Person die Festschreibung einer einheitlichen und abstrakten Identität vornimmt, so entsteht andererseits durch eine Festschreibung gesellschaftlicher Zwischenverhältnisse der soziale Zwang, sich sozial in bestimmter Weise zu verhalten und zu identifizieren. Blickt man aus der Perspektive des substanziellen Personseins auf den »Zwischen-Mensch«, so kann es den Anschein haben, als ob sich hier bestimmte Probleme, die sich mit der Interpretation des Menschen als substanzielle Person verbinden, lockern oder gar lösen lassen. Blickt man aus der Perspektive des »Zwischen-Menschen« auf das »Ich-sagen« einer Person, so scheinen sich dadurch die Zwangsmechanismen der Zwischenmenschlichkeit aufheben zu lassen. In der jeweils anderen Perspektive scheinen Lösungen auf für Verfestigungen, unter denen die jeweilige Auslegungs- und Identifikationsperspektive leidet. Mit diesem Befund müssen beide Traditionen der Auslegung erneut gesichtet und untersucht werden. Ziel könnte dabei sein, die Verfestigungsmuster aufzudecken, die in beiden Traditionen zu beobachten sind, um auf diese Weise Personsein und Zwischenmenschlichkeit im Durchgang durch eine wechselseitige Kritik neu denken zu können. Ein Versuch dazu soll im nächsten Abschnitt unternommen werden.

3.

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

Im Anschluss an die beiden vorhergehenden Texte möchte ich jetzt fragen, wie sich ausgehend von Zwischenverhältnissen der Gedanke »personaler« bzw. »kultureller« Identität verändert bzw. neu auslegen lässt. »Identität« ist heute in vielen Selbstbehauptungsdiskursen zu einem ideologischen Begriff geworden. Abgrenzung durch eine bestimmte Identitätsbehauptung, die häufig einhergeht mit der Ausgrenzung des Fremden, wird mit einem Rechtsanspruch auf kulturelle »Identität« begründet. Hinter dieser Identitätszuschreibung 309 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

steht häufig der Wunsch, den anderen und sich selbst auf eine Eindeutigkeit zu verpflichten, die das Leben ansonsten kaum zulässt. Bei um sich greifender Orientierungslosigkeit scheinen die Mechanismen der Identitätskonstruktionen besonders gut zu greifen. Um jeden Preis soll das bewahrt werden, was es in Wirklichkeit so noch nie gegeben hat. Das »Bewahren« und Festschreiben einer Tradition oder einer Person im Sinne einer stabilen Identität ist die eine Seite, das Flüchten in exotische Leihidentitäten ist die andere Seite des modernen Identitätsdesigns. Wie kann auf diese Ideologisierung reagiert werden? Kann »Identität« heute überhaupt noch positiv gedacht werden? Oder sollten wir das Wort lieber gänzlich vermeiden und aus unserem Wortschatz streichen? Im Folgenden soll ein Gedanke entwickelt werden, der sich auf eine mögliche Auslegung moderner Subjektivität bezieht. Ausgehend von einem Gedanken Nishidas, der von einem deutschen Komponisten aufgegriffen wurde, soll dann die Frage nach verschiedenen Kulturen mit Nietzsche ins Spiel gebracht werden. Anstatt die Frage nach der »Identität« zu lösen, sollen Erfahrungen benannt werden, die auf ein musikalisches Motiv zurückgreifen und uns helfen können, die häufig komplexen und verwickelten Situationen moderner Identitätskonstruktionen zu reflektieren.

3.1. Lachenmann und Nishida Helmut Lachenmann hat in seinem Stück Nun (1997–99) den Satz »Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort« von Nishida musikalisch verarbeitet. Der Satz entstammt einem Text, der 1926 von Nishida geschrieben wurde und den Titel Ort (jap. 場所 basho) trägt. Mit diesem Text erhebt er den Anspruch, die Grundlage für eine neue Logik geschaffen zu haben. Er nennt diese Logik »Logik des Ortes« (jap. 場所の論理 basho no ronri). Bei dem Text Ort handelt es sich um einen im engen Sinne philosophischen Text, der an den Grundlagen der Logik und Erkenntnistheorie arbeitet. Es geht nicht um die japanische Kultur im Allgemeinen, sondern um die Begründung von Wissen im Sinne einer Logik. Eine zentrale Passage lautet: 66

Im Text über die »handelnde Anschauung« bei Nishida wird diese Textstelle noch einmal ausführlicher zitiert und in einem anderen Zusammenhang interpretiert.

66

310 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

»Da das Ich aber nur dem Nicht-Ich (higa) gegenüber gedacht werden kann, muss es etwas geben, das das Gegenüberstehen von Ich und Nicht-Ich in sich umfaßt und die sogenannten Bewußtseinsphänomene in seinem Inneren zustande kommen lässt. Dieses, die Ideen Aufnehmende – so könnte man es auch bezeichnen – nenne ich hier, einem Wort aus Platons Timaios folgend, den Ort (場所basho).« 67

In Platons Timaios ist die chora das, was weder Sein noch Nichts ist. 68 Sie ist das, was sowohl Sein und Nichts in sich zustande kommen lässt. Nishida zieht diesen Gedanken heran, um das Ich im Sinne eines »Bewusstseinsfeldes« neu zu deuten. Das Ich als Bewusstseinsfeld ist demnach nicht etwas, das sich bei allem als identisches Etwas durchzieht. Es ist vielmehr der »Ort«, in dem Verschiedenes immer wieder neu in Beziehung treten kann, ohne dass das Ich als Ort selber ein »Etwas« in dieser Beziehung wäre. Der Ort als Ich, auch im Sinne einer Identität, ist das, was die Beziehung als Beziehung sein lässt, selber aber nicht objektivierbar ist. Dieser Ort »zeigt« sich im Vollzug der Beziehung, ohne selbst ein Etwas in dieser Beziehung zu sein. Oder anders gesagt, ausgehend von der Metapher des Hörens, die im Folgenden wichtig wird: Der Ort als Ort des sich Beziehens »lässt sich hören« im Vollzug der Beziehung, ohne selber ein Ton zu sein. Lachenmann zieht in seinem Stück die folgende Stelle in gekürzter Form aus der deutschen Übersetzung des Nishida-Textes heran: »Gewöhnlich denken wir das Ich – so wie auch das Ding – als eine subjektive Einheit, die verschiedene Qualitäten besitzt. Eigentlich ist aber das Ich keine subjektive Einheit, sondern muß vielmehr eine prädikative Einheit sein; es ist kein Punkt, sondern ein Kreis, es ist kein Ding, sondern ein Ort.« 69

Ohne an dieser Stelle in eine detaillierte philosophische Erörterung dieses Gedankens gehen zu können, möchte ich ein Motiv der Deutung hervorheben, um daran anschließend eine neue Wendung des Gedankens auszuloten. In Entsprechung zu Lachenmann, der einen philosophischen Gedanken Nishidas in seine Komposition aufgenommen hat, versuche ich eine musikalische Hörerfahrung, selbst wenn diese nur laienhaft bleibt, für eine philosophische Reflexion des Themas Identität fruchtbar zu machen. Dies wird nahegelegt, da Nishida Nishida, Logik des Ortes, 73 f. Zu Nishida und seiner Philosophie vgl. Elberfeld, Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. 68 Vgl. Platon, Timaios, 49a ff. 69 Nishida, Logik des Ortes, 131. 67

311 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

selber bei der Deutung des Ortes auf das Phänomen des Hörens zu sprechen kommt. Nishida schreibt: »Dies [Übereinanderlagern im Ich als Ort] gleicht verschiedenen Tönen, die im Feld des Hörbewußtseins verschmolzen werden, und während jeder Ton für sich erhalten bleibt, entsteht eine Melodie. […] In der wahrhaft konkreten Wahrnehmung entstehen die einzelnen Töne je als einzelne Elemente einer Melodie, bzw. sie entstehen in ihr. Im physikalischen Raum können an einer Stelle nicht gleichzeitig zwei Dinge existieren. Im Ort des Bewußtseins hingegen besteht die Möglichkeit eines unendlichen Übereinanderlagerns.« 70

Der »Ort des Bewusstseins« umfasst alle Aktivitäten, die der Mensch in sich vereint, wie Denken, Wahrnehmen und Fühlen. Wenn es nun möglich wäre, das Ich als »Ort des Bewusstseins« in dem Sinne aufzufassen, dass sich in ihm Verschiedenes übereinanderlagern kann, ohne sich dabei gegenseitig zu behindern, so kann die Identität bzw. Subjektivität des Menschen ausgehend von dieser Überlagerung im Phänomen des Hörens anders als gewöhnlich ausgelegt werden. Identität bzw. Subjektivität wird dann nicht als etwas »Festes« verstanden, sondern ist der Ort des Überlagerns, in dem sich Verschiedenes aufeinander bezieht. Dann ist das Ich als Identität kein Ding, sondern ein Ort sich wandelnder Beziehungen. Entscheidend ist hier, dass wir in diesem Gedanken nicht vom Phänomen des Sehens als einem Sehen von festen Gegenständen ausgehen, sondern vom Phänomen des Hörens, in dem sich Verschiedenes ohne Behinderung durchdringen kann, vor allem auch dann, wenn es sich aneinander reibt und im Widerspruch steht. Die unterschiedlichen Bereiche der Sinnlichkeit legen bei näherer Untersuchung verschiedene Erschließungsweisen von Wirklichkeit nahe. 71 Geht man in der philosophischen Deutung eher vom Sehen aus, so legt sich eine Höhergewichtung von Festigkeit und Positionierung nahe. Lässt man hingegen Motive aus dem Bereich des Hörens wirksam werden, so ergibt sich eine höhere Gewichtung des Beziehens und der Zeitlichkeit. Ausgehend vom Phänomen des Hörens wäre »Identität« ein Ort des Beziehens und der Zeitlichkeit. Obwohl in der europäischen Philosophie häufig Metaphern aus dem Bereich des Sehens verwendet wurden, ist auch der Bereich des Ebd., 113 f. (Hervorhebung R. E.). Vgl. Elberfeld, Phänomenologie sinnlicher Erfahrung in interkultureller Perspektive.

70 71

312 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

Hörens für bestimmte Probleme fruchtbar gemacht worden. Johannes Scotus Eriugena, ein Denker des frühen Mittelalters, geht so weit, die menschliche Natur ausgehend vom Zusammenklang der Töne zu deuten: »Jede einzelne Stimme, sei sie die Stimme eines Menschen oder einer Flöte oder einer Leyer, hört nicht auf, ihre Eigenschaften zu behalten, während doch mehrere zusammen unter einander durch entsprechende Einheit einen Einklang bilden. Auch hier liegt der klare Beweis in Bezug auf die Töne vor, dass sie sich gegenseitig nicht mit einander vermischen, sondern nur vereinigen. […] Aus diesen und ähnlichen Beispielen übersinnlicher und sinnlicher Dinge können wir leicht erkennen, dass eine Einigung der menschlichen Natur mit Bewahrung der Eigentümlichkeit ihrer einzelnen Bestandteile möglich sei.« 72

Auch hier erhalten wir einen Hinweis darauf, dass die »Einigung der menschlichen Natur«, was ich gerade mit Identität und Subjektivität benannt habe, in Verschiedenheit bestehen kann. Das Verhältnis von Verschiedenheit und Einheit, wie Eriugena es näher bestimmt, ist dabei besonders aufschlussreich. Das Verschiedene – in seinem Beispiel die Töne – »vermischt« sich nicht, sondern das Verschiedene »vereinigt« sich. Das Vereinigte besteht in seiner Verschiedenheit, aber dennoch in Einheit. Einheit ist somit dasjenige, was in sich die Verschiedenheit zur vollen Geltung kommen lässt. Einheit ist gerade nicht Einerleiheit und einfache Vermischung. Einheit ist hier der Zusammenklang in aufrechterhaltener Verschiedenheit. 73 Ausgehend von diesem Gedanken wäre eine Anthropologie denkbar, die die Identität und Subjektivität des Menschen aus der Verschiedenheit ihrer jeweils inneren Bewegtheit heraus versteht. Auf diese Weise könnten der Ort des Leibes, der Ort der Gefühle, der Ort der Sinnlichkeit, der Ort des Denkens und der Ort der Phantasie zunächst in sich und dann auch untereinander als offenes und polyphones Geschehen gedeutet werden. Mit dieser Idee zu einer Anthropologie, gegründet im Phänomen der Polyphonie, 74 soll der Gedanke jetzt auf den kulturellen Zusammenhang erweitert werden. Eriugena, Über die Einteilung der Natur, 205 f. Hier zeigt sich, wie auch das Motiv der »Resonanz« es zulässt, Einheit und Verschiedenheit zusammenzudenken. 74 Polyphonie soll dabei nicht im strikt mathematischen Sinne bzw. als eine bestimmte Satztechnik in der Musik verstanden werden, sondern im Sinne eines mehrstimmigen Zusammenklangs, der nur aus sich selbst hervorgeht und keinen äußerlichen Regeln folgt wie beispielsweise in manchen Formen des Free Jazz. 72 73

313 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

3.2. »Polyphonie« bei Nietzsche Um den Gedanken in den Bereich des Kulturellen weiterzuführen, möchte ich auf Nietzsches Deutung der Kulturen im Zusammenhang mit dem Leben des einzelnen Menschen zurückgreifen. 75 Nietzsche schrieb und lebte in einer Zeit, in der die verschiedensten Kulturen der Welt im Rahmen der Weltausstellungen in sehr konkreter Weise in Europa bekannt wurden. Seit seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches aus dem Jahre 1878 deutet er die Vielfalt der Kulturen positiv in einer Weise, die uns auch heute noch aufschlussreich ist. »Zeitalter der Vergleichung. – Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an seinen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, – nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, – absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.« 76 Für eine ausführliche Interpretation zu Nietzsches Kulturenphilosophie vgl. den Aufsatz, aus dem hier einiges aufgenommen wurde: Elberfeld, Durchbruch zum Plural. Der Begriff der »Kulturen« bei Nietzsche. 76 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Kritische Studienausgabe (= KSA), Bd. 2, 44. 75

314 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

Wenn Nietzsche hier vom »Durcheinanderfluten« und der »Polyphonie der Bestrebungen« spricht, so trifft dies mehr denn je die gegenwärtige Lage der Kulturen, zumindest in vielen Bereichen Europas. Nietzsche sieht diese Lage zum einen als »Stolz« und zum anderen als das »Leiden« seiner Zeit. Er ringt darum, mit dieser »Polyphonie der Bestrebungen« umzugehen, und sieht als zentrales Verfahren den »Vergleich«, den er allerdings nicht im strengen und äußerlichen Sinne versteht, sondern vielmehr als ein »neben einander durchleben« verschiedener Kulturen und Sitten imaginiert. Der eigene Lebensvollzug wird auf diese Weise selber zu einem Vergleichen, in dem sehr Verschiedenes zum Klingen kommt. Dennoch bleibt in diesem Zitat das Gefühl zurück, dass der Zustand nicht ganz angenommen wird. Erst im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches, der 1879 erschien, ringt sich Nietzsche zu einer vollständig positiven Haltung gegenüber der »Polyphonie der Bestrebungen« durch: »Glück der Zeit. – In zwei Beziehungen ist unsere Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Vergangenheit genießen wir alle Kulturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoße jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu genießen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang. In Hinsicht auf die Zukunft erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt, diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will.« 77

In Nachlass ist eine Notiz erhalten, in der der Durchbruch zu einer positiven Bewertung der Pluralität der Kulturen reflektiert wird:

77

KSA, Bd. 2, 457.

315 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

»Mir wurde Angst beim Anblick der Unsicherheit des modernen Culturhorizonts. Etwas verschämt lobte ich die Culturen unter Glocke und Sturzglas. Endlich ermannte ich mich und warf mich in das freie Weltmeer.« 78

Schon in den Vorarbeiten zu seinem Buch Menschliches, Allzumenschliches blitzen die Einsichten auf, dass ein Mensch verschiedene »Kulturen durchleben« kann und dies ein Wachstum für den Einzelnen bedeuten kann. Im Nachlass finden sich dazu folgende Stellen: »Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der Reife, insofern er verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht: und so kann ein Mensch in sich den Inhalt von ganzen Jahrhunderten vorausfühlen: weil der Gang, den er durch die verschiedenen Culturen macht, derselbe ist, welchen mehrere Generationen hinter einander machen.« 79 »A. Bedingungen der Erzieher: 1. Beschaulichkeit, 2. mehrere Culturen durchlebt, 3. eine Wissenschaft.« 80

Bei Nietzsche scheint Pluralität nicht nur im Rahmen der Kulturen außerhalb meiner selbst auf, sondern die Pluralität dringt in das Subjekt und seine Identität selber ein. Indem ein Mensch verschiedene Kulturen durchlebt, wird er in sich pluraler und polyphoner in seinen Ansichten, Wertungen, Gedanken und Gefühlen. Dies sieht Nietzsche mit einer Deutlichkeit wie kaum ein anderer. So deutet er das Ich, das diese Erfahrungen in sich durchlebt, an anderer Stelle als »polyphones Subjekt«. An der betreffenden Stelle sieht er, wie durch diese neue Erfahrung in der Moderne auch die Natur eine neue Bedeutung erhält: »[…] je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur.« 81

Vor diesem Hintergrund kann der Satz »Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort« in neuer Weise zugänglich werden: Das Ich als Identität ist kein festes Etwas, sondern ein vielschichtiger Ort der Polyphonie, der gleichwohl einen klaren Zusammenhang bildet. Diese Polyphonie ist aber gerade nicht so gemeint, dass alles in einem harmonischen CKSA, Bd. 8, 579. KSA, Bd. 8, 455 f. 80 KSA, Bd. 8, 375. 81 KSA, Bd. 2, 113. Neben dem polyphonen Subjekt spricht Nietzsche noch an einer anderen Stelle von dem »polyphonen Wesen« (Morgenröthe, Aphorismus 133) des Menschen, in dem immer verschiedenste Regungen zusammenklingen. 78 79

316 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

Dur Klang enden muss. Vielmehr handelt es sich bei Nietzsche um eine Polyphonie, in der ständig auch Dissonanzen, Störungen und Widersprüche auftauchen. Diese Elemente der Reibung sind dabei selber zentrale Momente der jeweiligen Identität und Subjektivität. Identität und Subjektsein bedeutet demgemäß nicht Beseitigung von Widersprüchen und Dissonanzen. Es bedeutet vielmehr das Einüben in die Widersprüche der je eigenen polyphonen Identität und Subjektivität als ein Geschehen von Individuation. Wolfgang Welsch hat diese Erfahrung bereits vor längerer Zeit mit der folgenden Forderung verbunden: »Unter den Bedingungen dieser objektiven Pluralität muss nun – so meine These – das Leben der Subjekte selbst ein ›Leben im Plural‹ werden – und zwar sowohl nach außen wie nach innen, also sowohl im Sinne eines Lebens inmitten dieser unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexte als auch im Sinne eines Lebens, das in sich mehrere solche Entwürfe zu durchlaufen, zu konstellieren, zu verbinden vermag. Äußere Pluralitätsadäquanz wird dabei am vollständigsten dort gelingen, wo innere Pluralitätskompetenz gegeben ist.« 82

3.3. Identität und Pluralitätserfahrung im 20. Jahrhundert Die von Nietzsche aufgerufene Erfahrung hat sich im heutigen Leben immer weiter verbreitet, wobei viele Menschen die »Polyphonie der Bestrebungen« als Zerrissenheit erleben. Um diese Erfahrungen zu benennen und wissenschaftlich sowie philosophisch auszuloten, sind inzwischen verschiedene Versuche gemacht worden. Im Folgenden möchte ich einige dieser Versuche erwähnen, die das Phänomen jeweils auf der Grundlage anderer Metaphoriken auslegen. Der Gedanke Nietzsches lässt sich weiter zuspitzen durch das Wort »Cluster-Identität« 83, in dem bewusst Hörerfahrungen aus der modernen Musik aufgenommen werden. 84 In der Metapher des »Clusters« wird der zeitliche Vollzug und das Ineinander- und Übereinanderlagern der verschiedenen Momente hervorgehoben, ohne Welsch, Subjektsein heute. Überlegungen zur Transformation des Subjekts, 351 f. Benner, Clusterpolitik. Wege zur Verknüpfung von Theorie und politischer Umsetzung. 84 Paradigmatische Kompositionen unter Verwendung der Cluster-Technik stammen von György Ligeti, etwa das Orchesterstück Atmosphères (1961) und das Chorstück Lux aeterna (1966). 82 83

317 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

dabei der in Europa entwickelten Harmonielehre zu folgen. Cluster bilden vielmehr einen Klangteppich, in dem die verschiedensten Klänge ineinanderdringen und sich in immer neue Konstellationen verwandeln. Cluster zerbrechen sowohl das klassische tonale wie auch das Zwölftonsystem. Sie differenzieren den Klang bis in kleinste Schwebungen, um ein hohes Maß an Komplexität zu erreichen. Sie kosten die Widersprüche und Spannungen, das glückliche Zusammenfinden und die Steigerungen, das Abbrechen und Durchbrechen bis in kleinste Differenzierungen aus. Cluster, wie sie in der Musik des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind, können als Modell und Metapher einer solchen Cluster-Identität dienen. Cluster-Identität ist demnach keine Identität, die Menschen einfach besitzen, sondern diese steht inmitten des Wandels immer wieder auf dem Spiel und bedarf der Übung. Die verschiedenen Motive meiner selbst sind immer wieder in meinen Klang einzubringen und als Identität in Verschiedenheit wachzuhalten. Ich selber bin der Ort, in dem dieser Klang in all seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität zum Austrag kommt, und zwar im radikalen Sinne als zeitliches Geschehen. Als ClusterIdentität im angedeuteten Sinne ist das Ich nicht nur »Ort«, sondern immer ein konkreter »Zeitort« polyphoner Erfahrung meiner selbst. 85 Das inzwischen geläufige Wort »Patchwork-Identität«, 86 das ähnliche Erfahrungen reflektiert, geht von einer anderen Metaphorik aus. Beim »Patchwork« wird nahegelegt, dass verschiedene Stoffstücke zusammengenäht werden und einen ganzen Teppich bilden aus sehr unterschiedlichen Versatzstücken. Das Bild legt nahe, dass einmal Zusammengenähtes sich nur mühsam wieder trennen lässt Der Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin spricht in seinen Werken von einem »Chronotopos«: »Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathematischen Naturwissenschaft verwendet; als man ihn einführte und begründete, stützte man sich dabei auf die Einsteinsche Relativitätstheorie. […] Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen.« Bachtin, Chronotopos, 7. Ich selbst bin auf dieses Doppelwort zuerst in einem Text von Dōgen gestoßen, der alles Seiende als jisho 時處 (wörtlich »Zeitort«) bezeichnet. 86 Keupp et al., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 85

318 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

und sich bei der Trennung und Auflösung eine völlige Desintegration ereignet. Die einzelnen Bestandteile bleiben nebeneinandergeordnet und können nur schwer ihren Ort im Gefüge wechseln. Ganz Ähnliches legt die »Bastel-Identität« nahe. 87 Nach diesem Bild werden verschiedene Elemente zusammengefügt, die auch ein dreidimensionales Gebilde ergeben können. Einmal zusammengeklebt, lassen sich die Elemente nur durch Zerstörung voneinander lösen. Das Bild lässt sich aber auch so erweitern, dass man ältere Basteleien einfach ablegt und wieder Neues zusammenbastelt. Eine weitere Metapher, die in der Literaturtheorie gebildet wurde, ist hybride Identität. 88 Vor allem Homi Bhabas Ansatz ist in der Hybriditätsdebatte bekannt geworden. Er beschreibt die Hybridität ausgehend von der Erfahrung des Lebens im Exil wie folgt: »Ich habe jenen Augenblick des Zerstreuens von Menschen durchlebt, der zu anderen Zeiten und an anderen Orten, in Nationen anderer Völker zu einer Zeit des Zusammenkommens wurde. Den Zeitpunkt des Sich-Sammelns von Exilierten und émigrés und Flüchtlingen; des Sammelns am Rand von ›fremden‹ Kulturen; des Sammelns in den Ghettos oder Cafés der Innenstädte; des Sammelns in der fragmentarischen Existenz und im Halbdunkel fremder Sprachen oder im unbehaglichen Fluß der Sprache eines anderen; des Sammelns der Zeichen von Anerkennung und Akzeptanz, Diplomen, Diskursen, Disziplinen; des Sammelns von Erinnerungen an Unterentwicklung, an andere Welten, die nun retroaktiv gelebt werden; des Sammelns der Vergangenheit in einem Wiederbelebungsritual; des Sammelns der Gegenwart. Und des Sammelns von Menschen in der Diaspora: bürokratisch erfaßt, migrierend, interniert; des Sammelns belastender Statistiken, schulischer Leistungen, rechtlicher Positionen oder des Einwanderungsstatus.« 89

Die heute allgegenwärtige Erfahrung des Vertriebenwerdens wird zum Ausgangspunkt der Hybridisierung, die bis in alle Bereiche des Lebens reicht. Die Metapher geht dabei von einer biologischen Vorstellung aus: »hybrida = Mischling, Bastard, weitere Herkunft unsicher, aus Kreuzung hervorgegangenes pflanzliches und tierisches Individuum, dessen Eltern sich in mehreren Merkmalen unterscheiDiese Metapher kam bereits vor über 20 Jahren auf: Kaulen, Patchwork-Familie und Bastel-Identität. Zur Identitätssuche in neuen Adoleszenzromanen. 88 Die ersten Verwendungen von »hybrid culture« lassen sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden. 89 Bhaba, Die Verortung der Kultur. Zitiert nach: Fludernik u. Nandi: Hybridität. Theorie und Praxis, 19 f. 87

319 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

den.« 90 Gemeint ist eine wirkliche Mischung, die auch in die biologischen Ebenen eingreift. Nach vollzogener Hybridisierung lässt sich das Ergebnis nicht mehr trennen, es sei denn, die vollständige Zerstörung wird in Kauf genommen. Die Metapher der »hybriden Identität« greift auf alle Ebenen der Existenz durch, wobei sie auch nur auf die geistige Ebene bezogen werden kann. Spätestens mit Nietzsche ist in Europa das Motiv einer polyphonen oder pluralen Ich- bzw. Selbsterfahrung klar formuliert worden. Durch die sprachliche Beschreibung dieser Erfahrung wurde die Aufmerksamkeit für diese Phänomene sensibilisiert und ausgerichtet. Wie ich gerade gezeigt habe, konnten dadurch zunehmend neue Metaphern gebildet werden, um Erfahrungsweisen zu beschreiben, die es vermutlich auch schon früher gegeben hat. Im 20. Jahrhundert wird somit nicht nur die Erfahrung der äußeren Lebenswelt in Form von Kulturen immer pluraler und widersprüchlicher, sondern auch die Erfahrung der eigenen Identität. Im Falle solcher Verschiebungen der Aufmerksamkeit ist häufig zu beobachten, dass auch neue Krankheitsbilder entstehen und definiert werden. 91 »Krankheiten«, die vermutlich schon lange vor ihrer definierenden Beschreibung existierten, die aber vorher nicht erkannt wurden, da die Aufmerksamkeit nicht entsprechend ausgerichtet werden konnte. Man kann nun fragen, ob diese »Krankheiten« immer schon existiert haben und nicht erkannt wurden, oder ob bestimmte kulturelle Lebensformen bestimmte mögliche Krankheitsbildungen erst in breiter Weise befördern, so dass sie immer stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken können. Fakt ist, dass entsprechend zur polyphonen Erfahrungsweise vor einigen Jahrzehnten eine Krankheit beschrieben wurde, die inzwischen unter dem Namen »Multiple Persönlichkeit« bzw. heute medizinisch verbreiteter als »dissoziative Identität« intensiv erforscht wird. Bei diesem Krankheitsbild handelt es sich um Menschen, in denen verschiedene Personen leben, manchmal ohne voneinander zu wissen. Die Aufspaltung in verschiedene dissoziierte Personen in einem Menschen lässt sich in den meisten Fällen auf extreme Traumatisierung, Gewalterfahrung und Isolation in der Kindheit zurückzuführen. 92 Im Bewusstsein dieser Menschen werden diese ErfahrunFludernik u. Nandi, Hybridität. Theorie und Praxis, 8. Dies ist beispielsweise bei dem heute um sich greifenden »Burnout-Syndrom« deutlich zu beobachten. 92 Huber, Multiple Persönlichkeiten. Seelische Zersplitterung nach Gewalt; Lüderitz, 90 91

320 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

gen in extremer Weise voneinander abgetrennt, so dass komplett getrennte Personen in einem Menschen entstehen können. »›Am einfachsten lässt sich diese Persönlichkeitsstörung, die eigentlich gar keine ist, am Beispiel eines Hochhauses beschreiben‹, erläutert eine Betroffene. ›Auch dort teilen sich mehrere Personen eine Wohnung, andere wohnen allein in einem Apartment, aber alle im gleichen Haus.‹ Mehrere ganz unterschiedliche Personen teilen sich einen Körper. Aber immer nur eine ist gerade ›da‹, das heißt: im Außen. Sowohl für die Betroffenen als auch für das Umfeld ist das sehr anstrengend. Zumeist dauert es viele Jahre, bis jemand merkt, dass er aus mehreren voneinander unabhängigen Personen besteht, die jeweils ihren ganz eigenen Charakter, ihre ganz eigene Persönlichkeit haben. ›Mit 22 Jahren merkte ich: Ich weiß nichts von meiner Vergangenheit‹, beschreibt eine heute 28-jährige Betroffene ihren Prozess. ›Ich lebte mit einem Mann in einer Beziehung, von der ich nicht wusste, wie sie zustande gekommen war.‹ Ein erstes Anzeichen, dass es sich um eine Multiple Persönlichkeitsstörung handeln kann, können Gedächtnislücken sein, sogenannte Amnesien. Den Betroffenen ›fehlt Zeit‹. Solche ›Blackouts‹ können wenige Stunden, in manchen Fällen aber auch Tage, Wochen oder Monate dauern. In dieser Zeit hat eine andere Identität ›das Ruder übernommen‹, das wissen die Betroffenen aber zunächst nicht. Für Angehörige und Freunde ist der Umgang mit einer multiplen Persönlichkeit nicht einfach. […] Oft vollzieht sich das ›Switching‹ – der Wechsel von einer Person zur anderen – innerhalb von Minuten, und man steht einem völlig verwandelten Menschen gegenüber, mit einer anderen Stimme, anderen Bewegungen.« 93

Dass das Phänomen der »Multiplen Persönlichkeit« in unserer Zeit definiert und diagnostiziert wird, ist vor dem Hintergrund des bisher Entwickelten wohl kein Zufall. Wir alle haben zu ringen mit der Situation der Pluralität, wobei die Antwort darauf nur jeweils wir selbst mit unserem Leben geben können. Die Metaphern »Cluster-Identität«, »polyphone Identität«, »Patchwort-Identität«, »Bastel-Identität«, »hybride Identität« und das Krankheitsbild »Multiple Persönlichkeiten« könnten auf den ersten Blick durchaus ähnlich wirken. Schaut man aber genauer hin, so sind multiple Persönlichkeiten gerade nicht »polyphon«, da es schlicht keinen Zusammenklang innerhalb der Persönlichkeit gibt, sondern die Personen in teils vollständiWenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen Identitätsstörung; Viele sein. Ein Handbuch. Komplextrauma und dissoziative Identität – verstehen, verändern, behandeln, hg. v. Huber. 93 http://www.malkavian.ch/tag/multiple-personlichkeit/ (15. 12. 2016).

321 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

ger Isolation voneinander agieren. Dieser Unterschied ist entscheidend. Sobald sich die verschiedenen Iche voneinander isolieren, scheint der innere Zusammenhang und die innere Beziehung des Menschen nicht mehr gewährleistet zu sein. Vermutlich gibt es hier keine scharfen Grenzen, so dass die polyphonen Tendenzen im Menschen durch einen Schwellenbereich hindurch in Dissoziation übergehen können. 94 Dies bedeutet aber, dass jeder einzelne Mensch achtsam umzugehen hat mit den verschiedenen Tendenzen und Widersprüchen, die sich in verschiedenen Situationen des Lebens zeigen. Diese Pluralität, die uns heute in allen Lebensbereichen und in uns selbst begegnet, eröffnet einerseits neue Möglichkeiten und andererseits macht sie uns das Leben schwer oder sogar unmöglich.

3.4. »Ich« als Einheit in Vielheit im Zhuangzi Um den Gedanken der polyphonen Identität noch einmal durch eine andere ostasiatische Perspektive zu spiegeln, soll jetzt eine Geschichte aus dem alten China herangezogen werden. Sie ist überliefert in dem Buch Zhuangzi, das zu den wirkungsreichsten Büchern des philosophischen Daoismus zählt. »Tian Kaizhi 95 besuchte den Herzog Wei Zhou 96. Herzog Wei sprach: ›Ich habe gehört, daß Zhu Shen 97 sich im Leben ausgebildet 98 hat. Sie, Meister, sind mit ihm gewandert 99; was haben Sie von ihm gehört?‹ Tian Kaizhi

In diesem Kontext wäre genauer zu untersuchen, wie die Rede von dem »Unbewussten« bei Freud, das auch in bestimmter Form eine von unserem Bewusstsein isolierte Existenzform ist, mit dem Phänomen der multiplen Person in Zusammenhang steht. Beide Phänomene zeigen und thematisieren die Abgründe menschlicher Existenz. 95 Wörtlich: »Zu den offenen Feldern«. Der geschichtliche Hintergrund dieser Person kann nicht nachvollzogen werden. Möglicherweise handelt es sich um einen fiktiven Namen. Zu den Personennamen im Zhuangzi vergleiche: http://www.daoisopen.com/ GlossaryIndexPtoZ.html 96 Auch hier handelt es sich vermutlich um eine fiktive Person, da sich in den geschichtlichen Quellen kein Nachweis finden lässt. 97 Wörtlich »Nieren- oder Hodenverehrer«. Bei dieser Person handelt es sich vermutlich ebenfalls um einen fiktiven Namen. Die Umschrift wurde korrigiert. 98 學生 xue sheng. Die ursprüngliche Übersetzung »das Leben gelernt hat« wurde verändert von R. E. 99 游 you. Dieses Wort bedeutet auch in Muße umherschweifen und spielt eine wichtige Rolle in dem sehr bekannten Text »Die Freude der Fische«. 94

322 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

sprach: ›Kaizhi diente nur mit dem Besen in der Hand vor seiner Tür, um Staub zu kehren. Was sollte er vom Meister gehört haben?‹ Der Herzog Wei erwiderte: ›Nun seien Sie, Meister Tian, nicht so bescheiden! Ich möchte es wirklich gern hören!‹ Tian Kaizhi sprach: ›Ich habe den Meister sagen hören: ›Wer gut in der Pflege des Lebens 100 ist, der ist wie ein Schafhirte. Er achtet auf die Schafe, die zurückbleiben, und peitscht sie voran.‹ Der Herzog fragte daraufhin: ›Was soll das bedeuten?‹ Tian Kaizhi antwortete: ›Im Staate Lu lebte einmal ein Mann mit Namen Shan Bao 101, der lebte zwischen Felsklüften und trank nur Wasser. Er strebte nicht wie andere Menschen nach einem Vorteil. So wurde er siebzig Jahre alt, und seine Haut war immer noch frisch wie die eines Kindes. Unglücklicherweise begegnete er einmal einem hungrigen Tiger. Der hungrige Tiger tötete ihn und aß ihn auf. Da gab es auch noch einen anderen Mann namens Zhang Yi, der war fieberhaft beschäftigt, bei den hochstehenden Familien ein und aus zu gehen. Als er aber vierzig Jahre alt geworden war, bekam er ein innerliches Fieber und starb. Bao nährte sein Inneres 102, aber der Tiger fraß sein Äußeres 103; Yi pflegte sein Äußeres, aber die Krankheit griff sein Inneres an. Alle beide verstanden es nicht, ihre Nachzügler voranzupeitschen. Konfuzius hat einmal gesagt: ›Sich nicht zurückziehen und verbergen, nicht hervortreten und sich zeigen, absichtslos wie ein vertrockneter Baum die Mitte wahren; wer diese drei Dinge erlangt hat, dessen Ruhm erreicht das Höchste.‹ Was nun die Furcht vor der Straße betrifft, auf denen jeder Zehnte getötet wird, so verstehen es Väter und ältere Brüder, ihre Söhne und Geschwister zu warnen, und lassen sie nur mit zahlreichem Gefolge ziehen. Ist das nicht verständig? Aber es gibt zu Fürchtendes, das die Menschen auf ihren Schlafmatten und beim Essen und Trinken ereilt, aber sie wissen nicht einander davor zu warnen. Das ist ein Fehler!‹« 104

養生 yang sheng. Wörtlich »einsamer Leopard«. 102 內 nei. 103 外 wai. 104 Zhuangzi. Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch, aus dem Chin. übertr. u. hg. v. Jäger, 201 f. Die Geschichte ist in den so genannten »Äußeren Kapiteln« des Zhuangzi überliefert und findet sich dort als fünfter Text im 19. Buch des textus receptus von Guoxi. Die Übersetzung wurde geringfügig von mir verändert. Der chinesische Text lautet: 田開之見周威公。威公曰:吾聞祝腎學生。吾子與祝腎游,亦何聞焉?田開之 曰:開之操拔篲以倚門庭,亦何聞於夫子!威公曰:田子無讓!寡人願聞之。開 之曰:聞之夫子曰:善養生者,若牧羊然,視其後者而鞭之。威公曰:何謂也? 田開之曰:魯有單豹者,巖居而水飲,不與民共利,行年七十而猶有嬰兒之色, 不幸遇餓虎,餓虎殺而食之。有張毅者,高門、懸薄,無不走也,行年四十而有 內熱之病以死。豹養其內而虎食其外,毅養其外而病攻其內,此二子者,皆不鞭 其後者也。仲尼曰:無入而藏,無出而陽,柴立其中央。三者若得,其名必極。 100 101

323 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Wie häufig im Zhuangzi ist die Geschichte verschachtelt. Es tauchen verschiedene Personen auf, die auf unterschiedlichen Erzählebenen zu Wort kommen. Das Gespräch, von der die vermutlich fiktive Geschichte ihren Ausgang nimmt, findet statt anlässlich des Besuches von Tian Kaizhi bei dem Herzog Wei Zhou. Bereits in der ersten Frage des Herzogs an Tian Kaizhi wird eine weitere Person ins Spiel gebracht, die den Namen Zhu Shen trägt und in der Frage des Herzogs als besonders im Leben geübt erscheint. Der Herzog gibt vor, gehört zu haben, dass Tian Kaizhi und Zhu Shen eine gemeinsame Zeit in Muße verbracht hätten, und fragt daraufhin Tian Kaizhi, was er von Zhu Shen dabei zu Gehör bekommen habe. Tian Kaizhi verweist zunächst darauf, dass er nur einfache Tätigkeiten wie Staubfegen im Umfeld von Zhu Shen ausgeführt habe und so nichts gehört haben könne. Als der Herzog noch einmal beteuert, es wirklich hören zu wollen, sagt Tian Kaizhi, was er vermutlich beiläufig Zhu Shen hat sagen hören. Auf die Nachfrage des Herzogs nach dem Sinn dieses Wortes antworte Tian Kaizhi mit einer kleinen Geschichte über Shan Bao und Zhang Yi, die er mit aller Wahrscheinlichkeit selbst von jemand anderem gehört hat. Nach dieser Geschichte fügt er noch ein angeblich von Konfuzius überliefertes Wort hinzu. Die ganze Geschichte endet mit einem Hinweis auf die alltäglichen Situationen des Lebens, die zu unterschätzen hinsichtlich der Lebensführung und des gelingenden Lebens ein Fehler sei. Allein in der ersten Passage – bis das von Zhu Shen gesagte Wort erwähnt wird – taucht das Wort für »Hören« (聞 wen) fünf Mal auf. In dem kleinen Text sind somit verschiedene Ebenen des Gehörten verwoben. Das Gehörte gelangt dabei zu den Menschen durch Hörensagen, bewusst aufgesuchte oder beiläufige persönliche Begegnungen und Situationen, Gespräche und informelle sowie formelle Überlieferungen. All dies wird in der Geschichte verbunden zu einer narrativen Einheit, die letztlich darin mündet, die Aufmerksamkeit auf alltägliche Verrichtungen wie Schlafen und Essen zu richten. Die Erzählung, die verschiedene Hinweise für die Ausbildung des Lebens enthält, ist ein Gemisch aus persönlichen Erfahrungen, gehörten Geschichten und Worten von anerkannten Autoritäten. Auf sehr dichtem Raum wird im Text eine Ethik für das gelingende Leben entworfen, die sich auf diese Weise aus unterschiedlichen Quellen speist. In 夫畏塗者,十殺一人,則父子兄弟相戒也,必盛卒徒而後敢出焉,不亦知乎!人 之所取畏者,衽席之上,飲食之間,而不知為之戒者,過也。

324 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

dem zentralen Satz von Zhu Shen, den Tian Kaizhi vorgibt gehört zu haben, wird zudem ein Bild vom einzelnen Menschen entworfen, über das es sich lohnt, weiter nachzudenken. »Wer gut in der Pflege des Lebens ist, der ist wie ein Schafhirte. Er achtet auf die Schafe, die zurückbleiben, und peitscht sie voran.« Das Bild, das uns in diesem Wort für den einzelnen Menschen nahegelegt wird, teilt sich in zwei ungleiche, aber zusammengehörende Teile. Jeder einzelne Mensch ist demnach zugleich Schafhirte und Schafsherde. Dies bedeutet, dass ich Einer und zugleich Viele bin, wobei ich als Einer von den Vielen bestimmt werde und die Vielen von mir als Einem geleitet werden. Ich als Hirte der Herde, die ich selber bin, habe auf vielfältige Kräfte und Ebenen in mir zu achten, wobei nicht immer alle die gleiche Aufmerksamkeit genießen können. Wie in einer Schafsherde stürmen einige Kräfte voran und ziehen vielleicht die ganze Herde langsam nach sich. Eine Schafsherde ist ähnlich wie ein Vogel- oder Fischschwarm, nur sehr viel langsamer und in den meisten Fällen nicht in ähnlich geordneter Bewegung. Die Elemente Luft oder Wasser lassen andere Bewegungen zu im Vergleich zu der Wiese, auf der eine Schafsherde sich langsam oder manchmal auch schneller grasend fortbewegt. Die Aufgabe des Schafshirten ist nicht, die Schafe immer an gleicher Stelle zu halten. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, mit allen Schafen mitzugehen und dafür zu sorgen, dass sie genügend Nahrung finden, sich nicht verirren und den Kontakt zur Herde nicht gänzlich verlieren. Dieses Mitgehen ist im besten Sinne ein sorgendes und pflegendes Mitgehen, bei dem auch die langsamen Nachzügler nicht zu kurz kommen. Der Schafshirte ist somit der mitgehende Ruhepol seiner eigenen Herde, wodurch er selbst in ständiger Bewegung bleibt. Im Gegensatz zur Sesshaftigkeit der Ackerbaukultur ist die Hirtenkultur 105 eine in Muße wandernde Kultur, die je nach Zeit und Situation neue Orte aufsucht, wo es genügend Nahrung zu geben scheint. Ausgehend von diesem bewegten Bild für die Entfaltung des einzelnen Menschen ist das gelingende Leben ein mit sich selbst als Herde verschiedener Kräfte mitgehendes Leben, in dem es immer wieder zu Vereinseitigungen kommt und dies nach deren Auflösung wieder zu neuen Vereinseitigungen führt. Das Ganze kann somit nie einfach in strikt geregelter Bewegung sein, da es sich in den jeweiligen Eigentendenzen der ›einzelnen Schafe‹ nicht gänzlich kontrollieren lässt. 105

Vgl. zur Interpretation der Hirtenkultur vgl. Rombach, Leben des Geistes, 87.

325 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Resonanz, Zwischenmenschlichkeit, hybride Identitäten

Die fruchtbarste Weise, mit dieser Situation umzugehen, scheint das sorgsame Mitgehen zu sein, das immer wieder innehält, um einzelnen Schafen eine besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, so dass sie den Anschluss an die Herde wiederfinden können. Im Zhuangzi und bei Nietzsche wird in den bisher herangezogenen Textstellen mindestens eine Perspektive hinsichtlich des Gedankens nicht angesprochen. Geht man von dem Gedanken der inneren Vielheit seiner selbst aus, so stellen sich alsbald viele Fragen, die die Begegnung von zumindest zwei Menschen betreffen. Wer trifft sich dort, wenn zwei oder drei Menschen sich begegnen? Nur die Hirten oder nur die Schafsherden? Kann mein Hirt auf die Schafsherde des anderen treffen? Kann jemand anderes zum Hirten meiner Schafsherde werden? Vielleicht könnte man folgendes vermuten: Treffen sich nur die Hirten, so verläuft die Begegnung geordnet und kontrolliert. Treffen sich nur die Herden, so wird es unvorhersehbare Überraschungen geben. Beides ist in jeweiliger Reinform wohl nicht möglich, denn Hirt und Herde sind in den meisten Fällen eine gemeinsame Bewegung. Das Reizvolle an diesem Bild ist, dass die Begegnung von Menschen sich unvergleichlich komplexer darstellt im Vergleich zu der Vorstellung, dass zwei Personen sich treffen. Und in der Tat ist es so, dass sich Menschen in jeder Begegnung auf verschiedenen Ebenen treffen, wobei nur ein oder zwei Ebenen in die direkte Aufmerksamkeit treten. In einigen Begegnungen geschieht es aber, dass zwei »Schäfchen« die Führung übernehmen, die zunächst nicht in der Aufmerksamkeit standen, und die Begegnung einen anderen Verlauf nimmt als zunächst vermutet. In diesem Bild ließe sich das Wechselspiel zwischen Kontrolle, Anziehung und Abstoßung auf verschiedenen Ebenen durchgehen, wobei in jeder Begegnung auch verschiedene Kräfte zugleich im Spiel sein können. Dies macht vielleicht durchsichtiger, warum verschiedene Begegnungen nicht so einfach verlaufen, wie man es sich erhofft. 106 Auch wenn noch vieles zu sagen wäre zur Situation des Einzelnen als Hirt und Herde und zur Begegnung von Hirten und Herden, so möchte ich jetzt noch einiges anfügen zur kritischen Funktion des Bildes im Text des Zhuangzi. Denn das Bild wird stark gemacht gegen zwei Lebenswege, die auf den ersten Blick sehr positiv zu sein scheiDieses Bild kann sicher in vielerlei Hinsicht mit der Psychoanalyse in Verbindung gebracht werden. Dennoch hilft das Bild von den sich begegnenden Schafsherden auch, das, was geschieht nicht, in die Unterscheidung gesund/krank einzuordnen.

106

326 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort«. Identität im Zwischen

nen. Zum einen wird von Shan Bao berichtet, dass er sich der Pflege des inneren Lebens widmet und sich aus den Geschäften des Alltags zurückzieht, um so seine Gesundheit und seinen inneren Frieden zu pflegen. Zum anderen wird von Zhang Yi berichtet, dass er es durch große Anstrengungen sehr schnell im gesellschaftlichen Leben zu etwas gebracht hat. Beiden begegnet jedoch – relativ gesehen – ein zu früher Tod. Derjenige, der seine Gesundheit und den inneren Frieden pflegt, ist mit 70 Jahren noch nicht alt. Er ist aber auf die Gefahren der äußeren Welt nicht genügend vorbereitet. Derjenige, der einseitig seine gesellschaftliche Karriere verfolgt, ist mit vierzig Jahren zwar schon weit gekommen, könnte seine Macht aber eigentlich noch viel länger ausüben. Beide scheitern an jeweils vernachlässigten Seiten im eigenen Leben. Dass der Text sich gegen die äußerliche Karriere ausspricht, ist für einen daoistischen Text wohl nicht besonders überraschend. Aber dass er sich auch gegen eine vereinseitigende Pflege der Gesundheit und des inneren Friedens wendet, ist bemerkenswert. Gegen diese jeweils klare Vorstellung vom gelingenden Leben – innerlich wie äußerlich – wird das Bild von Hirt und Herde starkgemacht. Es zeigt, wie ich selbst in ständiger Bewegung mich verwandele und den Situationen des Lebens anverwandle, um mitzugehen. Es gibt keine Rezepte für den idealen Lebensweg, sondern nur den Hinweis, dass ich selbst in meiner Vielheit es bin, dem es guttut, in Bewegung zu bleiben. Ich selbst werde in der Begegnung mit Anderen und der Welt zum Ort der sich wandelnden Ordnungen, die es fortwährend zu begleiten und zu entfalten gilt. Die letzte Passage im Text macht deutlich, wo vor allem die Gefahren für Stagnationen und Unbeweglichkeiten in diesem Wandel liegen. Es ist gerade der Alltag und das alltägliche Handeln, in dem sich Handlungen verfestigen und einzelne Schafe verlorengehen oder außer Sicht geraten. Es gibt aber immer wieder Menschen, die nicht nur Augen für die eigene Herde haben, sondern auch für die Schafsherden der Anderen, um sie in ihrem Wandel zu unterstützen und zu fördern – wobei ihre eigene Schafsherde vermutlich nicht gerade klein ist, so dass sie einiges zu tun haben, um zumindest die meisten ihrer Schafe in Bewegung zu halten, sie ausreichend mit Futter zu versorgen und sie nicht aus den Augen zu verlieren.

327 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

B. »Mediale« Handlungsformen

In der deutschen Sprache scheint es ein Naturgesetz zu sein, dass Handlungen allgemein in aktive und passive zu unterscheiden sind. Dass durch diese Unterscheidung in der Beschreibung vieler Phänomene Probleme entstehen, wird auffällig, wenn auf Formulierungen zurückgegriffen werden muss wie: »ein Vorgang war irgendwie aktiv und passiv zugleich« oder »es war weder aktiv noch passiv«. Schon einfache Wachstumsprozesse lassen sich mit dieser scharf gezogenen Unterscheidung nicht mehr fassen, wie beispielsweise das Wachsen eines Baumes. Das Wachsen des Baumes ist aktiv, aber es geschieht ihm zugleich auch in völliger Passivität, da er in diesem Wachsen ja zu dem wird, was er sein soll – ein ausgewachsener Baum. Aber da er nie zu einem festen Zustand wird, bleibt er wohl immer sein eigenes Wachsen und dann in der Folge sein Sterben, das weder einfach aktiv noch passiv zu beschreiben ist. In den folgenden Texten werden derartige Geschehensformen aufgesucht, um die scharfe Unterscheidung von aktiv und passiv kritisch befragen zu können. Dabei wird im weiteren Verlauf auf eine grammatische Form zurückgegriffen, die den Namen »Medium« trägt und eine Handlungs- und Geschehensform zum Ausruck bringt, die jenseits von aktiv und passiv anzusiedeln ist. Die Ausführungen verstehen sich als einen durch Beispiele geleiteten Versuch, diese Handlungs- und Geschehensformen in den Blick zu bringen. Die Beispiele beziehen sich vor allem auf Sachverhalte, die im Allgemeinen als »positiv« bewertet werden. Eine eingehende Erörterung von eher »negativ« bewerteten Handlungs- und Geschehensformen wie Sucht, Rausch, Gewaltausbrüchen, Massenwahn und ähnlichen Phänomenen, die ebenfalls in vielen Fällen anhand des grammatischen Mediums zu beschreiben wären, wird hier nicht geleistet. Dies soll an dieser Stelle ausdrücklich angemerkt werden, um von Anfang an auch die Grenzen der folgenden Ausführungen in den Blick zu bringen.

328 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

1.

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv – Kreativität und das Phänomen des »Nichts«

»Kreativsein« ist nach wie vor in. Darunter verstehen wir zumeist, aktiv etwas Neues zu gestalten und hervorzubringen. Je aktiver, umso besser. Dass diese Form eines aktivistischen Kreativitätszwangs inzwischen aber viele Menschen in den Burnout geführt hat und immer noch führt, ist eine durchaus alarmierende Tatsache und hat vermutlich damit zu tun, dass die neoliberale Wirtschaftslogik sich in Form des »Projekts« auch die existentiellen Ressourcen der Menschen einverleibt hat. 107 Es gilt daher zu fragen, ob Deutungen von Kreativität möglich sind, die eine Widerständigkeit gegen einen derart verzehrenden Aktivismus ermöglichen und jenseits der Unterscheidung von Aktivität und Passivität anzusiedeln sind. Eine solche Deutung soll im Folgenden ausgehend von der Frage nach dem »Nichts« im Phänomen der Kreativität versucht werden. Zu Anfang müssen eine Voraussetzung und eine Einschränkung benannt werden, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegen. Die Ausführungen setzen voraus, dass mit dem Wort »Kreativität« etwas philosophisch Bedenkens- und praktisch auch Erstrebenwertes bezeichnet wird. In der Tat überwiegen in meiner Sicht die positiven Aspekte des Wortes und ich halte das Phänomen, so wie es in Kunst und wissenschaftlicher Forschung inzwischen zum Thema geworden ist, für eine zentrale Herausforderung der gegenwärtigen Philosophie. Es ist für die philosophische Auseinandersetzung allerdings notwendig, das Phänomen und den Begriff zunächst neu zu gewinnen, um auch gegen die häufig ideologisch motivierten Verflachungen des Wortes als Modewort in der Werbebranche oder Ferienindustrie anzugehen. Dort entpuppt sich der Wortgebrauch nur allzu häufig als Hülse für leere Versprechungen und hohle Visionen. Die Einschränkung besteht darin, dass das Phänomen der Kreativität in den folgenden Ausführungen nur im Hinblick auf den Menschen betrachtet werden soll, was jedoch nicht bedeutet, dass es unmöglich wäre, es auch auf Naturprozesse zu beziehen. Die folgenden Ausführungen fragen nach Bedeutung und Wirksamkeit des »Nichts« 108 in einer gegenwartsbezogenen Analyse Boltanski, Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt. Mit der substantivierten Form wird an dieser Stelle ein Phänomenfeld benannt, das nicht nur »Negativität« und »Verneinung« umfasst, sondern auch andere seman-

107 108

329 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

menschlicher Kreativität. Da dies im Zusammenhang mit einem Blick nach Ostasien geschieht, ist zu hoffen, dass sich durch dieses Vorgehen neue Beschreibungsperspektiven für eine »Phänomenologie der Kreativität« öffnen lassen, die deutliche Gegenakzente zu aktivistischen Kreativitätsvorstellungen setzt. Im Sinne eines methodischen Umwegs, wie ihn François Jullien vorgeschlagen hat, 109 soll das Phänomen Kreativität im Folgenden in einen Fragehorizont gerückt werden, der zwar im Rahmen theologischer Fragen in Europa nicht unbekannt ist, 110 aber in Ostasien seit alters mit dem Denken und konkreten Handeln des Menschen in Verbindung gebracht worden ist. 111 Das Phänomen des »Nichts« 112 ge-

tische Negationsformen wie »unverständlich«, »vergessen« und »absichtslos«. »Nichts« bezieht sich daher nicht nur auf logische Zusammenhänge, sondern auf das gesamte semantische Feld des »Nichts«, in dem auch konkrete Erfahrungsstrukturen auftauchen, die es zu beschreiben und zu erschließen gilt. 109 Jullien, Der Umweg über China. 110 Vgl. beispielsweise Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst. Die Frage nach der creatio ex nihilo gehört in der europäisch-mittelalterlichen Philosophie zu den philosophischen Grundfragen. Als ein Hinweis dazu, dass diese Thematik bereits sehr früh mit asiatischen Ansätzen in Verbindung gebracht worden ist, sei hier nur auf folgende Studie verwiesen: Nambara: Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und seine Entsprechungen im Buddhismus. Es wäre eine lohnende Fragestellung, die immer positiver werdende Bedeutung des Nichts beispielsweise bei Meister Eckhart und Cusanus unter der Perspektive zu betrachten, ob für diese Entwicklung die Einführung der Null, die von den Indern vermittelt über die arabische Welt nach Europa gelangte, eine Bedeutung hat. Zur Geschichte der »Null« und ihrer Verbreitung sind in der neueren Diskussion einige Studien erschienen: Kaplan, Die Geschichte der Null; Barrow, The Book of Nothing; aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu den kulturellen Wirkungen der Einführung der Null in Europa: Rotman, Signifying Nothing. The Seminotics of Zero. 111 Hisamatsu, Die Fülle des Nichts. Hisamatsu entwickelt die Frage nach dem Nichts vor dem Hintergrund des Zen-Buddhismus. Heisig, Philosophers of Nothingness. Heisig behandelt die drei Denker der Kyōto-Schule: Nishida, Tanabe und Nishitani. 112 Mit der Substantivierung »Nichts« wird sprachlich und philosophisch ein Schritt vollzogen, der die Kritik aufruft, die Carnap und später Tugendhat an dem Übergang vom adverbialen »nichts« zum »hypostasierten« »Nichts« in Heideggers wirksamem Text Was ist Metaphysik? geübt haben. Bei Heideggers phänomenologisch orientiertem Vorgehen handelt es sich hinsichtlich der Rede vom »Nichts« um die sprachliche Erschließung struktureller Momente von Erfahrung und nicht um eine hypostasierte Größe. So soll auch im folgenden Text die Rede vom »Nichts« auf einen Erfahrungszusammenhang verweisen, der für die Erschließung des Phänomens der Kreativität von zentraler Bedeutung ist. Um das Problematische der Substantivierung mit zu benennen und zu kennzeichnen, wird das »Nichts« durchgehend in Anführungszeichen gesetzt. Hinweise für den Umgang mit den Wörtern »Nichts« und »nicht« fin-

330 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

hört nur partiell zu den zentralen Themen der europäischen Philosophie, häufig wurde es von bedeutenden Denkern sogar stark abgewertet. 113 Dennoch kann beobachtet werden, dass dieses Phänomen, als Thema oder Begriff, an verschiedenen Stellen eine philosophische Herausforderung darstellte, bei der immer wieder neu zu fragen war, in welchem Sinne davon überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Neben der Verhängung von »Denkverboten« für das »Nichts« von Parmenides bis Carnap tauchte es immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen auf. In der kosmologischen Frage, woher die Welt komme, spielten die gegenläufigen Formeln ex nihilo nihil fit und in christlicher Perspektive creatio ex nihilo eine wichtige Rolle. In der Perspektive der Metaphysik waren es die Frage »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« (Leibniz, Schelling) und die Frage nach dem Gegensatz von Sein und Nichts (Platon, Hegel), die erhebliche Denkanstrengungen auslösten. Im Rahmen existentieller Fragestellungen spielte das »Nichts« bei Meister Eckhart, Nietzsche, Heidegger, Sartre und anderen eine zentrale Rolle. Es ist schon jetzt absehbar, dass für die weitere Entfaltung der Frage nach dem »Nichts« in seiner Bedeutung für Denken und Handeln vor allem die Auseinandersetzung mit asiatischen Ansätzen der Philosophie vom Altertum bis in die Gegenwart unabdingbar ist. 114 Um die zu Anfang ins Zentrum gerückte interkulturelle Verknüpfung anzugehen, soll im Folgenden das Phänomen der Kreativität mit dem Phänomen des »Nichts« und seinem semantischen Feld den sich in dem immer noch lesenswerten Band: Positionen der Negativität, hg. v. Weinrich. 113 Bei den wirkungsreichen Philosophen Plotin und Augustinus wurde das Nichts als reine Privation verstanden und vor allem bei Augustinus mit dem Bösen verbunden, so dass es auch noch eine moralische Abwertung erfuhr, die in der europäischen Philosophietradition sehr nachhaltig gewirkt hat. 114 »Die westliche Wissenschaft und Philosophie hat uns zwar an einen Punkt gebracht, wo wir uns – um mit Hilary Putnam zu sprechen – ›glaubhafte ‘Grundlagen’ nicht mehr vorstellen können‹, wies aber keine Wege, eine direkte Einsicht in die Bodenlosigkeit [Hervorhebung R. E.] unserer Erfahrung zu gewinnen. Philosophien scheinen zu denken, diese Einsicht sei unnötig, weil sich die westliche Philosophie eher um ein rationales Verständnis des Lebens und des Geistes als um die Relevanz einer pragmatischen Methode kümmert, die menschliche Erfahrung zu transformieren.« Varela, Thompson u. Rosch, Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung, 296. In dem zitierten Buch wird die Frage nach der »Bodenlosigkeit« menschlicher Erfahrung explizit mit Autoren aus dem alten Indien und modernen Japan auf eine neue Ebene gehoben, die philosophisch noch lange nicht ausgeschritten ist.

331 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

verbunden werden, wobei ausgehend von der phänomenologisch orientieren Analyse ostasiatische Texte in der Erschließung des Phänomens herangezogen werden. Mit diesem Vorgehen soll die Aufmerksamkeit auf Bereiche des Phänomens Kreativität gelenkt werden, die gewöhnlich in den Kreativitätstheorien weniger Beachtung finden. Die Ausführungen erheben nicht den anmaßenden Anspruch, das gesamte Phänomen der Kreativität zu analysieren. Vielleicht kann es aber gelingen, bestimmte vorherrschende Fokussierungen so zu verschieben, dass letztlich auch die Beschreibung im Ganzen eine andere werden kann. Kreativität selbst ist als Schlagwort eher jung und als philosophischer Begriff nur bei wenigen eher unkonventionellen Denkern wie Henri Bergson, 115 Kitarō Nishida, 116 Gregory Bateson 117 und Heinrich Rombach 118 im 20. Jahrhundert entwickelt worden. Die bisherige Entfaltung des Phänomens zeigt immer noch deutliche Spielräume, die meines Erachtens in erweiterter Perspektive entwickelt werden können.

1.1. Das Auftauchen des »Nichts« in kreativen Prozessen Kreativität ist ein Phänomen der Praxis, das sowohl Denken wie auch Handeln betreffen kann. Kreativität ist die Qualität eines Prozesses und kein Zustand, wobei nicht jeder Prozess kreativ sein muss. Kreativität kann in sehr verschiedenen Prozessen auftauchen: bei der Herstellung von Dingen, bei der Hervorbringung von Gedanken und Ideen, im Umgang mit dem eigenen Körper, in der Gestaltung zwischenmenschlicher Situationen, in der Selbst- und Welt-Findung und vor allem in künstlerischen und ästhetischen Prozessen. Es zeichnen sich von Anfang an verschiedene Ebenen der Kreativität ab, die in unterschiedlicher Weise mit dem Vollzug menschlicher Existenz verbunden sind. Im freien Anschluss an Bateson können vier Ebenen der Kreativität unterschieden werden:

Bergson, Schöpferische Evolution. Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte. 117 Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven. 118 Rombach, Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur. 115 116

332 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

1.

Es sind neue Fertigkeiten – intellektuelle wie praktische – anzueignen mit klar umrissenen Handlungsmustern. 2. Es sind Aufgaben zu bewältigen – intellektuelle wie praktische –, die eine erhebliche Variation von gewohnten Denk- und Handlungsmustern verlangen. 3. Es sind ganz neue Denk- und Handlungsmuster zu entwerfen. 4. Der Zusammenhang von Ich und Welt selbst steht in Frage, so dass nicht mehr von Anfang an klar ist, wer »Ich« und was »Welt« eigentlich sind. 119 Die ersten drei Ebenen implizieren eine direkte Aktivität vom Ich her. In diesem Sinne wird Kreativität gewöhnlich als ein hochgradig aktives Verhalten gedeutet, sei es im Sinne eines Schöpfergottes oder eines Genies. 120 Nur die vierte Ebene lässt einen Zusammenhang auftauchen, in dem das Ich nicht eigentlich aktiv sein kann, da es selbst noch nicht als das eigentliche Zentrum der Aktivität aufzutreten vermag. Es ist vor allem diese vierte Ebene, die im Zusammenhang mit dem Phänomen des »Nichts« eine zentrale Rolle spielt. Um in den genannten Zusammenhängen »kreativ« sein zu können, wird in der Forschung übereinstimmend angenommen, dass vorgefertigtes Wissen und Verstehen, starre Gewohnheiten und Haltungen sowie starke Ergebnis- und Erwartungsfixierungen Kreativität verhindern. Kreativität ist demnach immer dann gefordert, wenn sich Wissen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Erwartungen verhärten, so dass letztlich die Freiheit im Handeln und Denken verlorengeht – zumeist auf allen genannten Ebenen. Geht man von dem aus, was Kreativität verhindert, so zeigt sich, dass es in kreativen Prozessen um Wissen und Verstehen geht, über das wir nicht verfügen, um Einstellungen und Haltungen, die wir nicht besitzen, und um Ergebnisse, die wir nicht kennen. Das hier hervorzuhebende »nicht« besitzt jedoch einen besonderen Charakter. Es ist kein »noch nicht« im Sinne eines bereits Vorherbestimmten, sondern ein »Nicht« 121 das sich als Ganzes entzieht und somit

Bateson, Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation, in: ders., Ökologie des Geistes. 120 Beide Figuren sind mit der Vorstellung »allmächtiger« Fähigkeiten verbunden. Das Genie bewältigt mit »Leichtigkeit« die schwierigsten Aufgabenstellungen. 121 Die Substantivierung des »Nicht« bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, dass es sich bei diesem »Nicht« um einen Grundzug des Phänomens der Kreativität handelt, in dem sich die verschiedenen »nicht« zusammenfassen lassen, so dass sie eigens 119

333 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

»nichts« von dem ist, was ich bisher gedacht oder gewollt habe. Es ist weder vorhersehbar noch berechenbar, denn sonst bezöge es sich nicht auf einen kreativen Prozess. Ein kreativer Prozess ist erfüllt, wenn ein »Nicht« sich verwandelt in Neues, bisher nicht Gedachtes und Erwartetes. In diesem Neuen verschwindet vorheriges »Nicht«, obwohl es erst dann wirklich als eine zentrale Voraussetzung des kreativen Prozesses erfahren werden kann, z. B. in der Frage: Wie konnte ich nur darauf kommen? oder: Wie konnte das passieren? Blickt man auf das Ergebnis eines als »kreativ« qualifizierten Prozesses, so wird ein vorheriges »Nicht« zum »Neuen« im Vergleich zu dem Alten, das bereits bekannt war. Genau in diesem Augenblick beginnt jedoch ein Prozess, der in der Aneignung des »Neuen« dieses selbst mehr und mehr zum Alten werden lässt. Das »Neue« wird seinerseits zum verfügbaren Wissen, zur Gewohnheit und als richtige bzw. standardisierte Vorgehensweise empfunden. In kreativen Prozessen tut sich ein eigentümlicher Zirkel auf. Beginnt der Prozess, so ist er auf verschiedenen Ebenen von einem »Nicht« durchdrungen, das, gemäß bestimmter »Kreativitätstechniken«, so schnell wie möglich überwunden werden soll zugunsten des Neuen als dem eigentlichen Ziel. Mit dem Neuen wird das »Nicht« aufgelöst, so dass es im Ergebnis schnell und leicht als unwichtig für den kreativen Prozess erscheint. Das Neue kann dann seinerseits ein Festhalten erzeugen mit allen fixierenden Konsequenzen. Es zeigt sich an diesem Zirkel, dass einem weit verbreiteten Verständnis von Kreativität mehr oder weniger unterschwellig ein Entwicklungsschema zugrunde liegt, das vor allem das »Neue« in den Vordergrund hebt. Auch wenn das Neue immer wieder durch Neues ersetzt wird, so ist gerade das Neue das, was häufig in der Frage nach der Kreativität festgehalten wird und eine Hypostasierung erfährt. Das »Nicht« tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund, obwohl es durchgehend konstitutiv für den gesamten Prozess ist.

thematisch werden können. Das »Nicht« kann als ein spezieller Zug im Rahmen des Gesamtphänomens des »Nichts« gelten.

334 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

1.2. Vergessen und Absichtslosigkeit als Phänomene des »Nichts« Um der Verdrängung des »Nicht« 122 und seines phänomenalen Umfeldes im Rahmen der Frage nach der Kreativität entgegenzuwirken und die allzu starke Fixierung auf das Neue zu relativieren, sollen im Folgenden anhand von zwei Phänomenen, die auf verschiedene Weise dem gerade exponierten »Nicht« entsprechen, Ansätze aus Ostasien ins Spiel gebracht werden. Beabsichtigt ist dabei nicht, diese Ansätze von Ostasien her »richtig« zu verstehen, sondern sie im Rahmen gegenwärtiger Denkherausforderungen fruchtbar zu machen. Das Zurückgreifen auf ostasiatische Ansätze legt sich aus dem Grunde besonders nahe, weil das Phänomen des Nichts in ostasiatischen Deutungsansätzen zum Denken und Handeln eine ungleich höhere Differenziertheit erreicht hat, als man dies von europäischen Ansätzen her kennt. Es ist in den Haupttraditionen Asiens vor allem nicht mit einer schon zu Anfang etablierten Negativbewertung belastet, wie dies in Europa schon früh zu beobachten ist. Geht man also davon aus, dass es in kreativen Prozessen auf allen genannten Ebenen um Wissen und Verstehen geht, über das wir nicht verfügen, um Einstellungen und Haltungen, die wir nicht besitzen, und um Ergebnisse, die wir nicht kennen, so ist zunächst in dieser Situation des »Nicht« die zentrale Aufgabe, das aus Gewohnheit Bestehende und Geltende in irgendeiner Weise außer Kraft zu setzen und zu negieren. Es geht darum, das Denken, die Gewohnheiten und den Willen so zu verändern und zu verwandeln, dass Denken, Gewohnheit und Willen nicht das tun lassen, was sie gewohnt sind zu tun und schon seit langer Zeit für das »Richtige« halten. Die Veränderung und Verwandlung von Denken, Gewohnheit und Willen findet jedoch nicht ohne weiteres als Intendiertes statt, da das in der Verwandlung auftauchende Neue ja gerade nicht als ein bereits Bestimmtes und Gewohntes gewollt werden kann. Wie kann man sich zu einem »Nicht« »verhalten«, das weder in unserem Denken noch in unseren Gewohnheiten und in unserem Willen eine bestimmte Form angenommen hat und somit in keiner Weise vorauszuberechnen ist? Wie kann man sich in eine Lage versetzen, in der das »Nicht« eine Wirksamkeit entfalten kann, obwohl es sich entzieht als etwas, was nicht in unserer Macht steht? Kann es Diese Verdrängung ist auch »Nichtsvergessenheit« genannt worden: Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst.

122

335 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Formen des Verhaltens und Handelns geben, die diesem »Nicht« entsprechen? Offenbar muss das, was aus Gewohnheit gewusst, gedacht, gehandelt und gewollt wird und sich grundsätzlich mit unserem eigenen Ichbild verbunden hat, zunächst zur Ruhe gebracht und außer Kraft gesetzt werden, so dass das Gewohnte nicht immer als Erstes unser Denken und Handeln bestimmt. Zwei Beispiele können das Gesagte verdeutlichen: 1. Beispiel: Liest man über Jahre hinweg ausschließlich einen bestimmten philosophischen Autor, so ist jeder Gedanke und jede sprachliche Äußerung aus Gewohnheit von dem betreffenden Denker durchdrungen. Aus einer solchen sprachlichen Gewohnheit einen Ausweg zu finden, dauert seinerseits lang und ist mit dem verbunden, was wir »Vergessen« nennen als Voraussetzung für neue und kreative Gedanken. 2. Beispiel: Hat man über Jahre hinweg immer nur auf ein bestimmtes Ziel hingearbeitet, so sind unser Wille und auch der den Willen ausführende Leib in seiner ganzen Gestalt von dieser fokussierenden Absicht durchdrungen. Um die Wirksamkeit dieser zur Gewohnheit gewordenen Absicht zu verändern, bedarf es entweder einer anderen Gewohnheit oder – noch radikaler – der Entwicklung einer »Absichtslosigkeit«, aus der neue und kreative Willensmomente aufsteigen können. Mit den Motiven »Vergessen« und »Absichtslosigkeit« zeigen sich zwei negative Momente als Voraussetzung für das, was hier Kreativität genannt wird. Solange nur einseitig auf das Ergebnis gewartet wird, kann die Bedeutung des Vergessens und der Absichtslosigkeit für ein kreatives Geschehen kaum in den Blick treten. Wie wichtig diese beiden Momente jedoch sind, zeigt die übereinstimmende Ansicht, dass im kreativen Geschehen das nur aus Gewohnheit Getane und jede sinnentleerte Routine hinderlich wirken. Da aber unser ganzes Leben notwendig und in vielerlei Hinsicht sinnvoll von Gewohnheiten und Routinen aller Art durchdrungen ist, stellt sich verschärft die Frage, wie diese denn eigentlich zu durchbrechen sind? Wenn den Arbeitern, Forschern, Wissenschaftlern, Kindern, Lehrern gesagt wird: »Seid kreativ!«, so ist ihnen nicht geholfen. Denn es stellt sich mit Nachdruck die Frage: Wie können das Gewohnte und die Routinen so negiert werden, dass sich dieses kreativ auswirkt und nicht zu einer Schwächung unserer Handlungsspielräume führt? 336 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

Nimmt man diese positive Kraft des Negativen für die Kreativität ernst, so gilt es im Rahmen einer Kultur der Kreativität, die häufig mit bloßer Effektivität verwechselt wird, zugleich eine Kultur des Vergessens und der Absichtslosigkeit zu entwickeln, die als Befreiung und nicht als Schwächung wirkt. Sowohl das Vergessen wie auch die Absichtslosigkeit sind in der europäischen Geistesgeschichte fast ausschließlich negativ gedeutet worden. Hierin spiegeln sich die weitverzweigten Ausläufer der Negativbewertung des »Nichts«, die mit Parmenides noch vor dem Anfang der Philosophie bei Platon einen weithin wirksamen Protagonisten gefunden hat. Die immer wieder zu beobachtende Höherbewertung des kreativen Ergebnisses steht deutlich im Zusammenhang mit der einseitigen Aufmerksamkeit auf das, was die Alten »Sein« genannt haben. Auch wenn es in Europa immer wieder Ausnahmen gegeben hat, die dem »Nichts« Beachtung geschenkt haben, so ist dennoch der Hauptstrom von einer anderen Überzeugung getragen.

1.3. Ein Beispiel aus Europa: Sextus Empiricus An dieser Stelle sei ein Beispiel für die positive Aufnahme bestimmter Momente aus dem Phänomenfeld des »Nichts« in Europa angeführt, das zu der genaueren Analyse des »Vergessens« und der »Absichtslosigkeit« im Ausgang von ostasiatischen Ansätzen überleiten soll. Sextus Empiricus beschreibt an einer Stelle ausgehend von einem Beispiel aus der Malerei, wie sich die Seelenruhe im skeptischen Prozess einstellt: »Dem Skeptiker geschah dasselbe, was von dem Maler Apelles erzählt wird. Dieser wollte, so heißt es, beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so mißlungen, dass er aufgab und den Schwamm, in dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaums hervorgebracht. Auch die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen, dass sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden. Da sie das nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber innehielten, folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe wie der Schatten dem Körper.« 123

123

Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, 100.

337 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Sowohl bei Apelles dem Maler wie auch bei den Skeptikern ist das Aufgeben bzw. das Innehalten die zentrale Wendung im Geschehen, wodurch das zunächst nicht zu Erreichende wie von selbst eintritt. Beim Skeptiker realisiert sich eine neue Haltung, die weder direkt und positiv gewollt noch denkerisch anhand von philosophischen Aussagen erreicht werden konnte. Erst im Innehalten und Aufgeben geschieht das Aufgegebene im doppelten Sinne des Wortes. Obwohl das »Aufgeben« des Malers und des Skeptikers im Zitat direkt aufeinander bezogen werden, unterscheiden sie sich doch qualitativ in erheblichem Maße. Bei Apelles ist das Aufgeben motiviert durch eine Verzweiflung, die aus erkannter Unfähigkeit resultiert. Im Prozess verzweifelt der Maler an seinen Fähigkeiten und gerät in einen Zustand, der ihn wahrscheinlich aus Wut den Schwamm gegen die Leinwand schleudern lässt. Es handelt sich somit nicht um ein Aufgeben, das als Haltung entwickelt worden wäre, sondern um ein zufällig eingetretenes Aufgeben. Dennoch geriet der Maler in eine Verfassung, in der er nicht mehr nach gewohnten Mustern handelte. Verzweiflungsprozesse dieser Art sind in verschiedenen Situationen erfahrbar und führen häufig zu kreativen Ergebnissen, da die Wirkkraft der Gefühle gewohnte Muster außer Kraft zu setzen vermag. Im Vergleich dazu ist das Vorgehen des Skeptikers von anderer Art. Er sucht mit allen Kräften nach der Wahrheit und merkt dabei in einem möglicherweise langen Prozess, dass die Mittel, die er für die Wahrheitssuche einsetzt, das intendierte Ziel nicht erreichen lassen. Die Suche führt nicht zu einer spontanen Verzweiflung, sondern zu einem Innehalten, durch das die bisherige Sicht sich verwandelt, ohne dass dies eigens durch philosophische Aussagen hätte intendiert werden können. Es ist ein schleichendes Aufgeben, das aber in der Schule der Skeptiker selber zu einem methodischen Aufgeben geworden ist. Genau dies ist der zentrale Unterschied zu Apelles dem Maler. Der Skeptiker betreibt das Philosophieren als eine Übung, um das »Aufgeben« zu realisieren, ohne dass er dies eigens intendieren und direkt umsetzen könnte. In beiden Fällen wird der sich auf ein bewusstes Ich beziehende Wille unterlaufen, so dass anderes als Gewohntes geschehen kann. Es zeigt sich an den beiden Verhaltensweisen, wie verschieden die Weisen des »Aufgebens« Wirklichkeit gewinnen können. Wendet man die Analyse der beiden Vorgehensweisen auf das Hauptthema an, so kann gesagt werden: Das Kreative als das Aufgegebene geschieht nur im Aufgeben des Gewohnten. Auch Vergessen und Absichtslosigkeit sind Formen des Aufgebens. Wie aber ist es 338 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

möglich, so aufzugeben, dass dies nicht in resignativer oder nur zufälliger Weise, sondern als produktiver Vollzug und als geübte Haltung geschieht? Man stößt mit dieser Frage auf eine eigentümliche Grenze. Denn selbst wenn man Kreativität in gewohnter Weise definieren und begrifflich klären würde, würden uns positive Aussagen und eindeutige Definitionen gerade nicht helfen, um auf der praktischen Ebene zu etwas zu finden, was offen und bisher keine feste Gestalt gefunden hat. Denn der kreative Prozess führt uns immer wieder in die Situation eines »Nicht«, in der positiv Gesetztes und Geltendes zunächst außer Kraft gesetzt werden müssen, damit sich im Handeln überhaupt neue Spielräume öffnen können. Das Phänomen der Kreativität und die Frage nach dem »Nicht« führten uns an die Grenzen eines auf Begriffsklärung zielenden Philosophierens. Um die Bewegungen zu beleuchten, die aus der aufmerksam gestalteten Situation des »Nicht« aufsteigen können, möchte ich jetzt in freier Weise auf einen daoistischen Ansatz zurückgreifen, für den vor allem die Absichtslosigkeit eine zentrale Rolle gespielt hat. Er verbindet bestimmte Weisen des Vergessens und der Absichtslosigkeit mit dem, was ich selbst bin, und mit dem Sachverhalt, wie Ich und Welt in ihrem Zusammenhang hervortreten. In diesem Sinne werden sich die Ausführungen jetzt auf die vierte Ebene der Kreativität konzentrieren, auf der das Verhältnis von Ich und Welt selber zur Frage wird. Letztlich ist aber auch auf den anderen Ebenen genau dieses Verhältnis mit im Spiel, auch wenn es gewöhnlich nicht in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt.

1.4. Absichtslosigkeit im Huainanzi Neben den direkten meditativen Praktiken, die zu einer intimen Vertrautheit mit den Prozessen des Hervorgehens des eigenen Geistes und Leibes führen, hat sich in Ostasien eine Kultur des Handelns entwickelt, deren höchste Qualität im »Nicht-Handeln« (chin. 無爲 wuwei) besteht. Ohne an dieser Stelle in die komplizierten Diskussionen über das genannte Motiv einzutreten, 124 möchte ich eine TextÜber dieses Motiv in seiner Entwicklung informiert: Wohlfart, Der philosophische Daoismus. Vgl. insbesondere Kap. 3: Wuwei – Tun ohne Tun. Materialien zu einem daoistischen Ethos ohne Moral.

124

339 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

passage aus dem Huainanzi anführen, einem chinesischen Text aus der Mitte des 2. Jahrhunderts v. u. Z.: »Was ich Nicht-Handeln (wuwei) nenne, heißt: nicht den Dingen voraus wirken; was ich ›nicht nicht handeln‹ nenne, heißt: ausgehen von dem, was die Dinge wirken. Was ich ›Nicht-Ordnen‹ nenne, heißt: nicht [das] von selbst so zu verändern. Was ich ›nichts nicht ordnen‹ nenne, heißt: ausgehen von dem gegenseitigen Sosein. […] Die Dinge beleuchten und sich nicht täuschen lassen, wie ein Echo resonieren und nicht ermüden; dies nenne ich die himmlische Loslösung.« 125

Diese Stelle bündelt verschiedene Motive in höchst komprimierter Weise. Nach dem Huainanzi bedeutet Nicht-Handeln, im Handeln den Dingen keine vorgefertigten Konzepte und Pläne überzuwerfen und in diesem Sinne nicht einseitig vom Willen gesteuert den Dingen vorauszugreifen. Da dies aber nicht heißt, bloß passiv zuzuschauen, wird im Nicht-Handeln nichts nicht getan, was es gemäß der Situation zu tun gäbe, und zwar in der Form, dass dieses Handeln von dem ausgeht, was in und mit den Dingen wirksam werden kann. Dabei wird vermieden, nur einseitig die eigenen Absichten, die nicht im Zusammenspiel mit den Dingen hervortreten, wirken zu lassen. Parallel zum Nicht-Handeln spricht der Text vom »Nicht-Ordnen«, das er mit dem zentralen Topos des »von selbst so« verbindet. »Von selbst so« zeigt eine Geschehensqualität an, in der alle beteiligten Momente so in ein Geschehen einbezogen sind, dass die Gesamtordnung nur im Zusammenspiel aller hervorgeht und kein einzelnes Moment die Ordnung beherrscht und verursacht. Somit bedeutet dieses NichtOrdnen zugleich, dass nichts nicht geordnet wird, da es ausgeht vom gegenseitigen Sosein aller Momente im Geschehen. Absichtsloses Handeln im Sinne des Nicht-Handelns und NichtOrdnens bedeutet: Nicht vorauswirken, sondern von den Dingen ausgehen, nicht das »von selbst so« verändern, sondern das gegenseitige Sosein wirksam werden lassen. In der Absichtslosigkeit des NichtHandelns und Nicht-Ordnens ist ein »Nicht« wirksam, das mich selbst im Zusammenspiel mit den Dingen offen hält und wie ein »Echo« resonieren lässt, und das in jeweils höchst präziser Differenziertheit. Im letzten Satz spricht der Text von der »himmlischen Loslösung«. Das chinesische Zeichen für »Loslösung« (chin. jie) bedeutet Die Übersetzung geht aus von der Fassung in: Kraft, Zum Huai-nan-tzu. Einführung, Übersetzung (Kapitel I und II) und Interpretation, 227.

125

340 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Handeln jenseits von Aktiv und Passiv

zunächst einfach nur »einen Knoten entwirren«. In übertragener Bedeutung meint es aber auch, etwas zu verstehen. »Verstehen« in diesem Bilde besagt dann nicht, die Dinge nach einem vorausgehenden Plan zu verstehen, sondern bezieht sich auf ein Verstehen, das im Handeln von besagter Qualität hervorgeht. Dieses Verstehen tritt dann immer wieder auf neue Weise durch die handelnde Verbindung von Welt und Ich hervor. Hier durchdringen sich Verstehen und Handeln auf intimste Weise.

1.5. Vergessen und Absichtslosigkeit als Gelingensbedingung für Kreativität In der Übersetzung der genannten Motive im Huainanzi auf das Phänomen der Kreativität zeigt sich, dass Kreativität als eine im Handeln hervortretende kreative Verbindung von Welt und Ich verstanden werden kann. Damit dies gelingt, ist es unumgänglich, dass ich mich als feste und unbewegliche Identität vergesse und sich mein Wille in ein »absichtsloses« Resonieren mit dem Geschehen verwandelt. Im kreativen Prozess bin daher nicht »ich« kreativ, vielmehr ist dieses »Ich« selbst Moment in einem Geschehen, aus dem es allererst hervorgeht. Das Geschehen kann daher weder einfach als aktiv noch als passiv gekennzeichnet werden. Es handelt sich hier vielmehr um eine Aktionsform, die in grammatischer Terminologie »Medium« genannt wird und zwischen den beiden Aktionsformen »aktiv« und »passiv« steht. Diese Sprachform, die in den großen europäischen Bildungssprachen verlorengegangen ist und die man gewöhnlich nur aus dem Altgriechischen kennt, bietet eine Möglichkeit, um der genannten Geschehensqualität weiter nachzugehen. 126 Da das Ich sich zumeist nicht auf ein Geschehen einlassen kann oder will, in dem es selbst auf dem Spiel steht, dienen Gewohnheiten und Geltungsansprüche als Stabilisatoren der eigenen Ichvorstellung. Unbestreitbar sind diese für unser Leben notwendig. Kreativität jedoch kann als Möglichkeit nur dann nachhaltig entwickelt werden – und nicht nur als bloßes Zufallsprodukt entstehen –, wenn sie verbunden wird mit der Übung des Vergessens, der Absichtslosigkeit und des Aufgebens im schöpferischen Sinne. Ohne ein positives KonZum Medium als Sprachform vgl. Kemmer, The Middle Voice. Vgl. auch das Kapitel über das Medium in: Elberfeld, Sprache und Sprachen, 228–259.

126

341 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

zept des »Nicht«, des »Nichts« und der »Negation« schlägt ergebnisfixierte Kreativität selbst immer wieder nur in Gewohnheit und Routine um. In der anhaltenden Übung des Vergessens und der Absichtslosigkeit kann es gelingen, uns im eigenen Grunde offen zu halten, ohne einfach zu nichts zu werden. Die anhaltende Übung des Vergessens und der Absichtslosigkeit wird so zum paradoxen Bewegungsimpuls jeder kreativen Tätigkeit, die bei keinem noch so neuen Ergebnis stehenbleibt. Paradox ist dieses Handeln aus dem Grunde, weil es das »Nicht« als sich grundsätzlich Entziehendes in beständiger Wirksamkeit hält. Kreativität ist – so kann zum Abschluss formuliert werden – die beständige Übung des »Nichts« zwischen Ich und Welt als ein Zwischen, aus dem Ich und Welt je aufs Neue hervorgehen. Auf diese Weise kann es vielleicht auch gelingen, zu dem »Nicht-Gedachten« in unserer Tradition vorzudringen, das Jullien als den eigentlich methodischen Impuls interkulturellen Philosophierens markiert hat.

2.

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«. Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme

Im 15. Jahrhundert ließ Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen Gott selbst dem Menschen einen wirkungsreichen Auftrag erteilen: »Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenen Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.« 127

Der erste Teil des Satzes steht in guter mittelalterlicher Tradition der Auslegung des Menschen als einem Wesen, das zwischen intellegibler und sensibler Welt seinen festen Ort einnimmt. Der zweite Teil reißt hingegen einen für die damalige Zeit revolutionären Raum für die Gestaltungsfreiheit menschlichen Lebens auf, der bis heute nicht an seine Grenzen gelangt zu sein scheint. Der Mensch als ein sich selbst aktiv formendes und schaffendes Wesen ist eine Figur, die nicht nur die europäische Neuzeit und Aufklärung, sondern auch die europäi127

Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, 9.

342 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

sche Moderne zutiefst bestimmt und in verschiedenen – zumeist männlichen – Auslegungsformen auftritt: uomo universale, Genie, sich selbst denkendes und setzendes Ich, Erfinder, Künstler, Ingenieur, Leistungssportler, Manager. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Hinter diesen Figuren sind andere Optionen der Lebensführung, die die ältere europäische Tradition hervorgebracht hatte, verblasst, wie die asketischen Übungsformen der griechischen und römischen Philosophie, 128 sowie die kontemplativen, mystischen und mönchischen Formen verschiedener religiöser Bewegungen, die sich nicht auf das Christentum beschränken lassen. Auch wenn diese Traditionen nicht ganz verschwunden sind, so sind sie spätestens im 18. Jahrhundert in Europa deutlich von der Wirksamkeit des sich aus eigener Kraft schaffenden und verstehenden Menschen überstrahlt worden. Bereits im 19. Jahrhundert kam es jedoch in Europa zu einer philosophiegeschichtlich zu wenig beachteten Entwicklung, die auch die Rezeption der älteren europäischen asketischen Übungsformen neu in den Blick zu rücken half. Als sich Arthur Schopenhauer durch noch wenig gesicherte Quellen mit der Welt der indischen Upanishaden und des indischen Buddhismus vertraut machte, flossen asiatische Motive der Selbstzurücknahme in die europäische Geisteswelt ein. Schopenhauers Formel von der ›Verneinung des Willens‹ und seine Mitleidsethik stellten zugleich eine Kritik dar am Bild des sich selbst schaffenden Menschen als einem autonom agierenden Wesen, das alles aus eigener Macht und Kraft zu schöpfen vorgibt. Damit setzt eine weitere Rezeption asiatischer Philosophien in Europa und Nordamerika ein, die sich im 20. Jahrhundert weiter ausbreitete und vor allem in den Künsten nachhaltige Wirkungen zeigte. 129 Vgl. Hadot, Wege zur Weisheit, oder: Was lehrt uns die antike Philosophie? Einer der bisherigen Höhepunkte im Wirksamwerden buddhistischer bzw. zenbuddhistischer Erfahrungsweisen in der westlichen Kunst kann bei John Cage beobachtet werden, der sicher nicht als ein buddhistischer Komponist zu bezeichnen ist, aber nachweisbar aus der Begegnung mit zen-buddhistischen Texten und Lehren wichtige Impulse in seinem Komponieren verstärken konnte, wie z. B. die Zurücknahme des Komponisten in seinen Kompositionen, die Betonung der Absichtslosigkeit und die subjektlose Unmittelbarkeit der Klangerfahrungen auch in alltäglichen Situationen. Cage sagte über seine Veränderung nach der Begegnung mit dem Zen: »Now the effect it has was first to change what it was that I was trying to say in my work. And, second, to change how it was I was making my work.« »When I discovered India, what I was saying started to change. And when I discovered China and Japan, I changed the very fact of saying anything: I said nothing anymore. Silence: since

128 129

343 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

An Schopenhauer wird exemplarisch deutlich, dass die Figur der Selbstzurücknahme in der Philosophie und den Künsten in Europa wesentliche Impulse aus der Rezeption asiatischer Philosophien und Religionen empfangen hat. 130 Durch diese Rezeption konnte möglicherweise auch ein neues Interesse an den alten europäischen Traditionen der Selbstzurücknahme in Antike und Mittelalter auch in den Künsten befördert werden. Inzwischen ist aber kaum noch nachzuvollziehen, wie genau die Ansteckungs- und Anregungswege verlaufen sind. Als Aufgabe bleibt vielmehr, die genaueren Unterschiede auch im Phänomen der Selbstzurücknahme zu profilieren und zu problematisieren, um auf diese Weise vorschnelle Identifizierungen zu vermeiden.

2.1. Zwei Richtungen der Selbstzurücknahme Überblickt und vergleicht man die verschiedenen Formen der Selbstzurücknahme in Europa, Indien, China und Japan, so drängt sich ein Grundunterschied auf in der Funktion der Selbstzurücknahme, wobei die eine Option vorrangig in Europa und Indien und die andere Option zumeist in China und Japan anzutreffen ist. Vor allem in Indien, aber auch in Europa ist in vielen Formen der Askese zu bemerken, dass Selbstzurücknahme bedeutet, sich selbst von den weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu distanzieren oder gar ganz zu lösen. Der indische Sadhu versucht, sich allen Lebensregungen zu entziehen, um sich einer bestimmten Form von entweltlichter Befreiung zu nähern. Auch bei Sokrates und Platon ist das Philosophieren ein zentrales Mittel, sterben zu lernen, um sich auf diese Weise von der Welt der Bewegung und der Sinnlichkeit zu lösen. Hier ist die Selbstzurücknahme vor allem eine leiblich-sinnliche Zurücknahme, um im Geiste oder einer göttlichen Dimension festen Boden zu gewinnen, so dass der Mensch dann von den Bewegungen und Veränderungen der Welt unberührt die Wahrheit oder Gott selbst erfahren everything already communicates, why wish to communicate?« Zitiert nach Barmann, Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, 167. Zur Rezeption asiatischer Philosophien bei John Cage vgl. Utz, Neue Musik in Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, 71–116. 130 Siehe dazu Payer, Materialien zum Neobuddhismus – Deutschland – Anfänge des Neobuddhismus: Schopenhauer. Fassung vom 2005–05–05 unter http://www.payer. de/neobuddhismus/neobud0301.htm (Stand: 10. 3. 2017).

344 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

kann. In China und Japan ist demgegenüber eine Form der Selbstzurücknahme zu beobachten, mit der – oft unter Zuhilfenahme von Bewegungsübungen – versucht wird, sich selbst nicht von, sondern für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu befreien. Denn nicht die weltlichen Bewegungen und Veränderungen erscheinen dort als etwas Negatives, sondern die menschliche Unfähigkeit, sich mit diesem Wandel zu verbinden und ganz in diesen einzugehen. Zentrale Aufgabe des Übens ist daher im alten China immer wieder, das Wandlungsgeschehen so zu ordnen, dass es ungehindert fließen kann. Die Menschen werden selbst zum lebendigen Moment des Wandels, der als beständige, gegenwartsbezogene Aufgabe der Übung niemals endet. Wie wenig dieser zentrale Unterschied beachtet wird, zeigt das Buch von Peter Sloterdijk Du musst dein Leben ändern, 131 in dem er die alten Übungs- und Askeseformen indischer und europäischer Herkunft, die sich in grundlegender Weise von der Welt abzuwenden versuchen, in weltgeschichtlicher Perspektive hypostasiert. Übungsformen, die sich erneut für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen öffnen, sieht Sloterdijk erst wieder im modernen Europa entstehen, wo die älteren Übungsformen durch Säkularisierung, z. B. im Sport, sich auf neue Weise mit der Welt verbinden. Dass allerdings eine eingehende Beschäftigung mit der Übungstradition Chinas und Japans die Grundthese des gesamten Buches in Frage gestellt hätte, kann an dieser Stelle nur vermerkt werden. 132 Sicher lassen sich sowohl im alten Indien und Europa sowie im alten China und Japan Traditionen finden, die eine gegenläufige Tendenz aufweisen. Mir scheint jedoch die Unterscheidung von Übungen der Selbstzurücknahme, die einerseits weltliche Bewegungen und Veränderungen überwinden und andererseits für weltliche Bewegungen und Veränderungen befreien und öffnen wollen, von zentraler Bedeutung zu sein. Für beide Grundausrichtungen haben sich nicht

Sloderdijk, Du musst dein Leben ändern. Ebd., 526. Wenn Sloterdijk China an dieser Stelle als »Großmacht des Übens« bezeichnet, so ist es umso erstaunlicher, dass China in seinem Buch so gut wie keine Rolle spielt. Die mindestens auf eine 2000-jährige Tradition zurückgehenden QigongÜbungen in China, die als Einübungen in den weltlichen Wandel interpretiert werden müssen, werden beispielsweise in dem Buch nicht erwähnt, so wie auch China und seine Übungstraditionen insgesamt nur rhetorisch, aber nicht inhaltlich einbezogen werden.

131 132

345 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

nur in den genannten kulturellen Regionen verschiedene Askeseund Übungsformen entwickelt. Im Folgenden sollen Positionen aus dem japanischen ZenBuddhismus und den daraus in Japan hervorgehenden Künsten vorgestellt werden, die einen Weg der Selbstzurücknahme vor Augen führen, der in der Selbstzurücknahme die Bewegtheit der Welt selbst zur Übungsform erhebt. Die zentrale Übung ist hier nichts anderes als das gleichzeitige Hervorgehen von Ich und Welt als lebendige Bewegung. Um dies zu üben, ist es entscheidend, sich selbst zu vergessen. Die Textpassagen, die ich im folgenden Abschnitt im Hinblick auf das Motiv der Selbstzurücknahme interpretieren werde, stammen von Dōgen (1200–1253), der nicht nur einer der größten Zen-Meister Japans, sondern auch ein großer Denker und Sprachschöpfer war. 133 Im Anschluss an die Interpretationen zu Dōgen werde ich ein Beispiel aus dem Bereich der Literatur und eines aus dem Bereich des Bogenschießens hinsichtlich der Formen der Selbstzurücknahme entfalten. Alle herangezogenen Texte und Beispiele sollen dazu dienen, die getroffene Grundunterscheindung zu plausibilisieren.

2.2. Selbstzurücknahme bei Dōgen Die im Folgenden zitierte Passage gehört zu den berühmtesten aus dem Werk Dōgens. In ihr bündelt sich die Sicht Dōgens auf Möglichkeit und Sinn der Selbstzurücknahme: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst (自己jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz (身 心 shinjin) meiner selbst (jiko) sowie Leib und Herz des Anderen (他己 tako) abfallen zu lassen (脱落 totsuraku). Die Spur des Erwachens kann verschwinden, die verschwundene Spur des Erwachens [soll man] lang, lang hervortreten lassen.« 134

Der erste Satz stellt einen Bezug her zwischen dem Weg des Buddhas und dem jeweils einzelnen Menschen. Denn wenn ein Menschen den Für weiterführende Interpretationen zu Dōgen vgl. Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus; Dōgen, Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen. 134 Dōgen, Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen, 39. 133

346 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

Weg Buddhas zu gehen beabsichtigt, heißt dies nichts anderes, als sich selbst zu erlernen. Nach der Tradition des Buddhismus besteht dieses Erlernen seiner selbst schon in den frühen Achtsamkeitsübungen darin, ein Gewahrsein zu entwickeln für alle Regungen – Gedanken, Gefühle, Willensäußerungen, sinnliche Berührungen usw. –, aus denen sich die Überzeugung nährt, dass ich selbst ein einheitliches Ich sei. Dōgen führt an dieser Stelle den Weg Buddhas, der sich im 13. Jahrhundert bereits mit vielfältigsten religiösen Ritualen verbunden hatte, auf die einfache Maxime zurück, dass es bei dem Weg Buddhas zentral darum gehe, mit der eigenen weltlichen Wirklichkeit Erfahrungen zu sammeln. Wichtig sind für die Übung nicht allerlei religiöse Verrichtungen, sondern meine jeweilige lebendige Erfahrung, von der es lernend ein Gewahrsein zu entwickeln gilt. 135 Zugespitzt könnte gesagt werden, dass die Wahrnehmung meiner selbst als lebendige und zugleich vergängliche Realität der Einstig in den Weg Buddhas ist, ohne jede religiöse oder mystische Jenseitigkeit. Der Weg Buddhas in der Deutung von Dōgen führt mich somit in die Bewegtheit meiner eigenen Existenz hinein, ohne dass ich dafür an besondere Gehalte oder Dogmen glauben müsste. Im nächsten Satz geht Dōgen einen Schritt weiter, indem er sagt, dass das Erlernen seiner selbst im Vergessen seiner selbst eingelöst wird. Dieser Schritt ist aus buddhistischer Sicht eine Konsequenz aus der langen Übung des Gewahrseins seiner selbst. Denn je mehr ich bemerke, wie ich selbst unablässig aus verschiedensten Regungen und Impulsen entstehe, um so mehr gewinnt die Einsicht an Gewicht, dass ich selbst nicht zentral aus dem immer wieder von mir selbst erzeugten Ich bestehe, das mir eine beständige und kontinuierliche Realität zu verschaffen scheint, sondern ich selbst nichts anderes bin als die erfahrende und lebendige Bewegung meiner selbst. Indem ich mich selbst als diese Bewegung erfahre, vergesse ich zunehmend das ›Ich‹, das dazu tendiert, sich als konstanter Faktor über diese Bewegung zu erheben. Indem die lebendige Bewegung sich mehr und mehr kennen lernt und dadurch das sich über diese Bewegung erhebende ›Ich‹ zurückgenommen wird, kann die lebendige Bewegung, als die

In dieser konkreten und diesseitigen Ausrichtung bestimmter buddhistischer Schulen ist der Grund zu suchen, warum der Buddhismus häufig als eine »Psychologie« angesprochen wird. In vielerlei Hinsicht widersetzt sich daher der Buddhismus einer eindeutigen Zuordnung zu den Kategorien »Religion«, »Philosophie«, »Weltanschauung«, »Psychologie« usw.

135

347 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

ich selber bin, in den Vordergrund der Aufmerksamkeit treten. Im letzten Satz wird die »lebendige Bewegung« meiner selbst zum Subjekt des Satzes im Zusammenhang mit einer reflexiven Wendung, die prozessual zu verstehen ist. An diesem Punkt kommt ein grammatisches Problem in der Beschreibung der Selbstzurücknahme ins Spiel, das immer wieder große Schwierigkeiten bereitet. Denn das von Dōgen beschriebene »Vergessen« ist weder einfach ›aktiv‹ noch ›passiv‹. Es ist vielmehr das In-den-Vordergrund-Rücken einer Vollzugsund Bewegungsform, die nicht anhand der Unterscheidung von aktiv und passiv beschrieben werden kann. Denn »vergessen« bedeutet bei Dōgen nicht, einfach einzuschlafen oder stumpfsinnig zu werden, sondern dass weltliche Bewegung sich aus sich selbst heraus als Bewegung vollzieht. Um das genannte Problem zum Ausdruck zu bringen, benutzt Dōgen im dritten Satz eine grammatische Form, die im Altjapanischen gebräuchlich war und in der herkömmlichen Beschreibung der deutschen Sprache nicht existiert. Die Wendung »von selbst erwiesen werden« ist der Versuch, die Form des Mediums, 136 die hier im japanischen Text steht, zu umschreiben. Das genus verbi Medium bezeichnet im Japanischen an erster Stelle Bewegungen und Vollzüge, die aus sich selbst heraus entstehen und von keinem Agens aktiv erzeugt werden. 137 Es handelt sich um Bewegungen, die als selbstbewegend bezeichnet werden können und einen feldhaften Charakter besitzen. Der dritte Satz bringt somit zum Ausdruck, dass ich selbst in Vergessenheit meiner selbst nicht nur mit mir selbst, sondern auch mit allen anderen Dingen in eine Bewegung gelange, die von Dōgen als ein »Erweisen« angesprochen wird. Das Übersetzungswort »Erweisen« ist hier aus dem Grunde gewählt worden, da in der deutschen Sprache Wendungen wie »es erweist sich von selbst«, »es hat sich erwiesen« usw. einen Prozess in die Aufmerksamkeit heben, in dem sich aus einem lebendigen Beziehungsgefüge etwas zeigt, was von keinem eindeutigen Agens geschaffen wurde. Dōgen meint in diesem Satz, dass im Vergessen meiner selbst ein lebendiges Zusammenspiel von mir selbst mit allen Dingen möglich wird. Erst im Vergessen meiner selbst entsteht ein Bezug meiner lebendigen Bewegung zur Die grammatische Form des »Mediums« ist in den Bildungssprachen Europas vor allem durch das Altgriechische bekannt, wo es häufig vorkommt. 137 Zur Deutung des Mediums im Japanischen vgl. Ikeda, Classical Japanese Grammar, 111 f., sowie Lewin, Abriß der japanischen Grammatik, 152 f. 136

348 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

lebendigen Bewegung alles anderen. Erst in diesem Bezug kann sich meine Selbstzurücknahme als freie Bewegung erweisen. Im vierten Satz wird die mediale Wendung »von selbst erwiesen werden« wiederum einen Schritt weitergehend ausgelegt. Im medialen Vollzug des Von-Selbst-Erweisens fällt zum einen die trennende Unterscheidung von Leib und Herz meiner selbst und aller anderen weg. »Leib« (身 shin) ist hier das Wort für den lebendigen Leib und »Herz« (心 shin) das Wort für alle Regungen (Gedanken, Gefühle, Wille usw.) im Menschen. Mit dem Abfallen dieser Unterscheidung in mir und zwischen mir und den anderen ist nicht gemeint, dass nunmehr alles ins Undifferenzierte und Unprofilierte zurückfällt. Vielmehr ist gerade umgekehrt mit dem Abfallen aller substanzialisierenden Konzepte von Leib und Herz eine umso höhere Beziehung und Durchdringung aller am Geschehen beteiligten Momente möglich. Die Durchdringung aller Momente in lebendiger Bewegung kann sich immer nur im Vollzug einer konkreten Situation zeigen und erweisen. Diese Bewegung ist eine aus sich selbst hervorgehende Bewegung, in der ich selbst und alles andere nichts anderes sind als Momente, die aus dieser Bewegung jeweils hervorgehen. Die hervorgehende Bewegung ist das »Erwachen« meiner selbst als diese Bewegung. Da dieses Hervorgehen jedoch niemals endet, bin ich selbst immer nur als Erwachen der Bewegung »ich« selbst. Dōgen geht in dieser Passage so weit, das buddhistische Erwachen als die konkrete sich selbst erweisende Bewegung zu bestimmen. Der letzte Satz setzt dann die Interpretation des »Erwachens« fort durch den Hinweis auf das Verschwinden des Erwachens. Die Selbstzurücknahme ist somit nicht nur ein Vergessen seiner selbst, wie es im zweiten Satz zu finden ist, sondern auch das Erwachen ist noch einmal durch die Zurücknahme des Erwachens selbst zu erweisen. Denn solange sich das Erwachen oder der Erwachte für erwacht hält, kann sich das Erwachen nicht erweisen. In der Bewegung des Erwachens zu leben bedeutet, das Erwachen selbst nicht zu hypostasieren, sondern als »verschwundene Spur des Erwachens« zu leben. So zeigt sich in dieser Passage eine doppelte Selbstzurücknahme, durch die auch das, was zunächst in der ersten Selbstzurücknahme möglich wird, nämlich »von selbst erwiesen zu werden« als das Erwachen seiner selbst, noch einmal zurückgenommen wird, um auch das Erwachen als Erwachen seinerseits zurückzunehmen. Dies bedeutet, dass auch das Ziel der Bemühungen – das Erwachen – selbst noch einmal in die Bewegung und Bezüglichkeit zurückgenommen wird. 349 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Genau in diesem Sinne gibt es »nichts zu erreichen«, da wir in der Bewegung immer schon am Ziel sind, was allerdings durch vielfältige Vorstellungen und Konzepte immer wieder verdeckt wird, so die Auffassung Dōgens. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine Vorstellungen und Konzepte haben dürften. Vielmehr kommt es auf die Flüssigkeit und »loslösende« Wirksamkeit der Vorstellungen und Konzepte selbst an. So sagt Dōgen zur Funktion der Sprache, »dass Nachdenken in Worten geschieht und Worte das Nachdenken loslösend durchdringen« können. 138 Hiermit meint er nicht einfach jeden Sprachgebrauch, sondern denjenigen Sprachgebrauch, der sich selbst beständig in die eigene Bewegung und Bezüglichkeit zurücknimmt und somit die eigenen Gedanken und Vorstellungen von substanzialisierenden Hypostasierungen befreit. Dōgen findet in seinen Texten immer wieder Bilder, die das von ihm in seinen Texten sprachlich Vollzogene als Übung des Erwachens erweisen. In einer Textpassage erschließt er das »Leben« als eine Bootsfahrt, die selbst ein Vollzug des Erwachens ist. »Leben ist, wie wenn jemand in einem Boot dahingleitet. Auf diesem Boot gebrauche ich ein Segel und lenke mit einem Ruder. Auch wenn ich mich mit einem Stab fortstoße, so trägt mich das Boot und ich bin nichts außer dem Boot. Indem ich in dem Boot dahingleite, lasse ich dieses Boot Boot sein. Diese richtige und treffende Zeit ist bemüht auszuprobieren und inständig zu lernen. In dieser richtigen und treffenden Zeit ist das Boot niemals nicht die Welt. Himmel wie Wasser wie Küste sind alle die Zeiten (時 節 jisetsu) des Bootes. Sie sind nicht gleich den übrigen Zeiten (jisetsu), die nicht das Boot sind. Daher ist Leben, was ich leben lasse, und ich bin, was Leben mich sein lässt. Beim Bootfahren sind Leib und Herz, Umgebung und ich selbst, beide das in sich bewegte Gefüge der Momente des Bootes. Die ganze große Erde und der ganze leere Himmel, beides ist das in sich bewegte Gefüge der Momente des Bootes. Das Ich, das Leben ist, und das Leben, das ich bin, sind auf diese Weise.« 139

Zunächst wird die Szene von einem dahingleitenden Boot entworfen, das von einem »ich« (我 ware) angetrieben und gelenkt wird. In dem Text wird ausdrücklich immer wieder das Personalpronomen der ersten Person »ware« verwendet. Dies scheint auf den ersten Blick im Gegensatz zu stehen zu dem, was anhand der ersten Passage hinsichtlich der Selbstzurücknahme des »ich« entwickelt worden ist. Bei 138 139

Dōgen, Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte, 130. Ebd., 180 f.

350 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass hier das Bild von einem »ich« entworfen wird, das nicht den letzten Boden für die Existenz bildet, sondern vielmehr als ein »dahingleitendes« »ich« erscheint, das nur es selbst sein kann im feinen Zusammenspiel mit dem Boot, dem Wasser, dem Gleichgewicht, dem Stab, der Küste und dem Himmel und somit nur in ungehinderter Bewegung und Durchdringung aller beteiligten Momente. Und genau dies ist als der Vollzug meines eigenen »ich« »bemüht auszuprobieren« und »inständig zu lernen«. Es zeigt sich in dieser Szene ein »ich«, in dem kein substanzialisierender Rest zurückgeblieben ist, so dass dieses »ich« nichts anderes als der Vollzug einer Bootsfahrt ist. Es geht in der »Selbstzurücknahme« und dem »Vergessen seiner selbst« somit nicht darum, in einfachem Sinne »ichlos« zu werden, sondern vielmehr darum, mich selbst als Bewegung zu vollziehen. Der Satz »Leben ist, was ich leben lasse, und ich bin, was Leben mich sein lässt« bringt diese Bewegung in zugespitzter Weise zum Ausdruck. In diesem Satz sind »Leben« und »Ich« ein Zusammenhang, der sich jeweils »sein lässt« in der Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks. »Seinlassen« hat zum einen die Bedeutung eines aktiven Seinlassens und zum anderen die eines zurückgenommenen Zulassens. In der Bewegung durchdringen sich aktive und zurücknehmende Momente auf eine Weise, durch die alle Momente im jeweiligen Gesamtvollzug so beteiligt werden, dass jedes Moment konstitutiv für das gesamte Geschehen ist. Auch hier zeigt sich wieder ein medialer Vollzug, der sich nicht anhand der einfachen Unterscheidung von aktiv und passiv verstehen lässt. Ich und Leben treten jeweils als ein Zusammenhang hervor, wobei sich jedoch das »Hervortreten« selbst immer nur als ein konkretes Hervortreten in jeweiligen Situationen zeigt. Somit ist nichts anderes zu üben als das Hervortreten meiner selbst und das Hervortreten des Lebens in der jeweiligen Situation als das Erwachen meiner selbst und des Lebens. Das Üben auch der Selbstzurücknahme hat somit kein anderes Ziel, als die jeweilige Situation als Erwachen meiner selbst und des Lebens zu vollziehen. Dies geschieht jedoch nicht in dem Sinne, dass das Erwachen sich als Erwachen zelebrierte, sondern indem es sich als die »verschwundene Spur des Erwachens« erweist. Somit ist der eigentliche Ort des Übens die »Alltäglichkeit« des Lebens selbst ohne jeden »religiösen« Impetus. Dass bei Dōgen Üben und Erwachen als ein Zusammenhang gesehen werden, bei dem das Ziel des buddhistischen Weges in den 351 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Vollzug der Übung selbst verlegt wird, ist zwar in der gedanklichen Anlage bis nach Indien zurückzuverfolgen. Die Formulierungen bei Dōgen sind jedoch so radikal, dass man kaum andere vergleichbare Texte in der Geschichte des Buddhismus findet, die, wie die folgende Passage, den Gedanken in ähnlicher Weise thematisieren. »Zu meinen, Üben und erwachendes Erweisen seien nicht eins, ist eine Ansicht außerhalb des buddhistischen Weges. Im Buddha-dharma sind Üben und erwachendes Erweisen ein und dasselbe. Weil auch [die Übung] jetzt Üben im erwachenden Erweisen ist, ist bereits die Zen-Übung des Anfängers das Ganze des ursprünglich erwachenden Erweisens. Weil es so ist, wird in der Vorbereitung auf die Übung gesagt: Erwarte erwachendes Erweisen nicht außerhalb der Übung, weil sie das ursprünglich erwachende Erweisen direkt zeigen soll. Wenn bereits das Üben erwachendes Erweisen ist, gibt es im erwachenden Erweisen keine Grenze, wenn das erwachende Erweisen Üben ist, gibt es beim Üben keinen Anfang.« 140

Die Radikalität dieser Worte wird erst dann deutlich, wenn klar wird, dass die meisten asketischen und religiösen Übungen ein bestimmtes Ziel verfolgen, das nach langem Übungsweg erreicht werden kann. Seien es bestimmte Bewusstseinszustände oder körperliche Fähigkeiten, immer geht es darum, sich so in etwas einzuüben, dass man es nach langer Übung »besser« beherrscht. Anfang der Übung und Ziel der Übung fallen zeitlich auseinander, so dass es je nach gesetztem Ziel sehr lange dauern kann, bis sich der gewünschte Erfolg einstellt. »Übendes Leben«, wie es Sloterdijk nennt, ist in den meisten Fällen in eine bestimmte zeitliche Relation zwischen Anfang der Übung und Ziel der Übung eingespannt, die häufig als Stufenweg ausgelegt wird, wie beispielsweise bei vielen indischen Übungsformen sowie den antiken Lebenswegführungen in Europa. Für die einzelnen Stufen werden dann entsprechende Mittel und Techniken – Meditations- oder Denkformen – entwickelt, die den Aufstieg zum gewünschten Ziel erleichtern oder gar garantieren. All dies wird in der Auslegung Dōgens dadurch unterlaufen, dass der konkrete Vollzug meiner selbst in jeder Situation immer schon das jeweilige Erwachen meiner selbst ist. Es gilt somit nicht, außerhalb des gegenwärtigen Vollzugs – der jedoch nicht als eine einfache, punktuelle Gegenwart gedacht werden darf 141 – Eigene Übersetzung aus dem japanischen Text mit dem Titel Bendōwa. Vgl. Dōgen, Shōbōgenzō (Jap.), hg. v. Yaoko, Bd. 1, 28 f. 141 Vgl. hierzu meine ausführliche Interpretation der Zeit bei Dōgen in Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. 140

352 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

etwas zu erreichen, sondern der erwachende Vollzug selbst ist alles, was es zu erweisen gilt. Alles andere ist nur die ›Vorstellung‹ von einem ›Ziel‹, das die oder den Einzelne/n wegführt von dem Vollzug, als der sie oder er gerade im Leben erwacht. Üben meiner selbst als Erwachen ist somit nichts anderes als das Erwachen zur radikalen »Performativität« meiner selbst und des Lebens, um an dieser Stelle einen Begriff aus zeitgenössischen Diskursen aufzunehmen. 142 Es stellt sich an diesem Punkt der Gedankenentwicklung die Frage, ob das Leben dann nicht ein bloßer Schein und ein großes Schauspiel ist, in dem nichts ›Echtes‹ und ›Beständiges‹ mehr zu erwarten ist. Wenn dieses ›Echte‹ oder ›Beständige‹ ein substanziell Wahres sein soll, dann ist genau dies bei Dōgen der Fall. Er zerstört mit seiner Position jeden substanzialistischen Halt, so dass letztlich die reine Bodenlosigkeit übrig zu bleiben scheint. Es drängen sich hier alle Fragen auf, die sich in Europa im 19. Jahrhundert nach dem ersten Taumeln der metaphysischen Tradition einstellten und uns bis heute in viele Diskurse hinein verfolgen. Dōgen radikalisiert all diese Fragen auf seine Weise und markiert den Ort der Übung meiner selbst und der Welt in jeder einzelnen Situation als Möglichkeit des Erwachens zu mir selbst und zur Welt durch die Zurücknahme meiner selbst. Bei Dōgen zeichnet sich die Möglichkeit ab, mich selbst und die Welt zugleich als alles umfassenden Schein und als hyperreale Wirklichkeit zu vollziehen. Der radikalisierte Schein ist zugleich die hyperreale Wirklichkeit. 143 Dōgen spitzt dieses Problem anhand des Bildes vom Traum in dem Text Muchūsetsumu (夢中説夢 Inmitten des Träumens das Träumen auslegen) in vieldeutiger Weise zu. Ich möchte eine kleine Passage aus diesem Text unkommentiert an das Ende dieses Abschnitts stellen, die für eine längere Meditation geeignet ist: »Das durchgängige Erscheinen dieser Welt ist ein Traum und dieser Traum sind die unzähligen Gewächse jeweils für sich in voller Klarheit. [Dieses zu] bezweifeln ist genau dieses [nämlich ein Traum] und die Verwirrung darüber ist genau dieses [nämlich ein Traum]. Zu dieser Zeit erklären die Gewächse die Gewächse in den träumenden Gewächsen. Wenn [wir] dies inDie Übertragung dieses Begriffs auf den hier entwickelten Zusammenhang scheint mir nahezuliegen, auch wenn die beiden Kontexte sicher nicht deckungsgleich sind. Vor allem die besondere Aufmerksamkeit auf das jeweils konkrete Ereignis bindet jedoch die beiden Kontexte grundlegend zusammen. 143 Inwieweit dies mit dem Gedanken Nietzsches von einer »ästhetischen Existenz« korrespondiert, könnte eigens untersucht werde. 142

353 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

ständig erfahren und erforschen, sind die Wurzeln, die Stämme, die Äste, die Blätter, die Blumen, die Früchte, das Licht und die Farben alle dieser große Traum. Verwechsele dies aber nicht mit einem einfachen Traum. Der Traum ist bodhi [erwachendes Erkennen], wer könnte daran zweifeln? Weil [der Traum] kein Gegenstand des Zweifels sein kann, ist [er] auch von niemandem zu erkennen und daher auch kein Gegenstand der Erkenntnis. Weil dieses grenzlose und höchst erwachte Erkennen (bodhi) grenzenloses und höchst erwachtes Erkennen ist, nennen wir den Traum einen Traum. Es gibt den inneren Traum, es gibt die träumende Erklärung, es gibt den erklärenden Traum, es gibt das träumende Innen. Gäbe es kein Inmitten des Traumes, gäbe es auch kein Erklären von Träumen; gäbe es kein Erklären von Träumen, gäbe es auch kein Inmitten des Traumes […].« 144

2.3. Subjektlosigkeit, Leere, Medium – Der Akt des Schreibens bei Kenkō Yoshida (1283–1350) »In einsam verlassener Muße, all seine Tage vor dem Tuschstein zu hocken und nichts Besseres zu wissen, als absichtslos und offen aufzuschreiben, was einem gerade in den Sinn kommt, das ist schon ein seltsames Gefühl.« 145

Mit diesem berühmten Satz beginnt eines der bekanntesten Werke der alten japanischen Literatur. Es handelt sich um das Tsurezuregusa von Kenkō Yoshida, das vermutlich zu Beginn der 30er Jahre des 14. Jahrhunderts verfasst wurde. Der Titel kann wortnah mit »Gewächse aus einsam verlassener Muße« übersetzt werden. Das Werk gilt als eines der Vorbilder der sogenannten zuihitsu-Literatur und besteht aus 243 kleinen unzusammenhängenden Abschnitten. In vergleichender Perspektive weist es viele Verwandtschaften auf zu den Essais von Montaigne, die allerdings erst weit über zwei Jahrhunderte später verfasst wurden. Das Wort zuihitsu bedeutet wörtlich: »dem Pinsel folgen«. Es bezeichnet eine Gattung japanischer Literatur, die sich durch die Jahrhunderte hindurch größter Beliebtheit erfreute und immer noch erfreut. Der einleitende Satz des Tsurezuregusa stellt die eigentümliche Gestimmtheit des Schreibens, aus der das Buch erwachsen ist, dem ganzen Werk gleichsam programmatisch voran. Mit bestimmten Einschränkungen ist diese Stimmung AusEigene Übersetzung aus dem japanischen Text mit dem Titel Muchūsetsumu. Vgl. Dōgen, Shōbōgenzō, hg. v. Yaoko, Bd. 2, 149 f. 145 Übersetzung nach der Fassung in Kenkō, Draußen in der Stille. Klassische Erzählungen, Anekdoten und Aphorismen, 6. 144

354 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

gangspunkt der gesamten zuihitsu-Literatur Japans, in der es darum geht, eher zufällige und kleine Beobachtungen in den Pinsel fließen zu lassen, ohne diese im Hinblick auf ein einheitliches Ganzes bewerten und einordnen zu müssen. Die Einschränkung besteht darin, dass in der Wortnuance des tsurezure, das dem Werk von Kenkō seinen Namen verleiht, stark die buddhistische Empfindung der Vergänglichkeit mitschwingt, die nicht in allen Werken der zuihitsu-Literatur von ähnlicher Bedeutung ist. Kenkō war Buddhist und sein Werk ist von der buddhistischen Lehre tief durchdrungen. Die Stimmung, die uns im ersten Satz des Tsurezuregusa entgegentritt, ist weder eine der einfachen Langeweile noch eine des bloßen Müßiggangs. In vermutlich geschmackvoller Umgebung sitzt Kenkō vor seinem Tuschstein und lässt das in den Pinsel fließen, was ihm in dieser Stimmungslage von selbst in den Sinn tritt. Für den gesamten Vorgang ist bezeichnend, dass der Satz im Japanischen ohne grammatisches Subjekt auskommt. Dies ist eine grammatische Möglichkeit der japanischen Sprache, die der deutschen nur in sehr begrenzter Weise zur Verfügung steht. Die Möglichkeit subjektloser Sätze wird immer wieder an zentralen Stellen eingesetzt, sowohl in der Literatur wie auch in der Philosophie. In der zitierten Stellen verstärkt und unterstreicht es den Eindruck, dass Umgebung und Mensch sich noch nicht in einer Weise getrennt haben, in der ein Subjekt sich durch klar bestimmte Absichten in Beziehung setzt mit den Dingen seiner Umgebung. Mit dem subjektlosen Satz wird vielmehr eine Stimmung der Vagheit und Unbestimmtheit zum Ausdruck gebracht, in der sich weder ein klares Ziel noch bereits eine eindeutige Absicht gebildet hätten. Im strengen Sinne kann daher in diesem Vorgang noch nicht von einem profilierten »Subjekt« die Rede sein, denn der Schreibende lässt sich ein in die Offenheit und Absichtslosigkeit, in der er sich selbst und das zu Schreibende aufsteigen lässt und sich so beides erst jeweils von neuem findet. Der Schreibende selbst ist im Grunde »leer« 146 und lässt die Dinge so kommen, wie sie von selbst in den Sinn treten. 147 Der Gedanke der »Leerheit« gehört zu den zentralen Gehalten des Buddhismus. Vgl. Nishitani, Was ist Religion? 147 Diesen Zusammenhang in der deutschen Sprache nachzuvollziehen, die einen weitgehenden Zwang zum Subjekt in den meisten Sätzen besitzt, fällt nicht leicht. Nur in Sätzen, in denen »es« zum Quasi-Subjekt wird (»es regnet«, »es ereignet sich« usw.) und in Passivsätzen (»Gestern wurde viel getanzt.«) kann eine Form von »Subjektlosigkeit« auch in der deutschen Sprache nachvollzogen werden. Beide grammati146

355 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Über den Vollzug, wie Schreibender und Schreiben gemeinsam hervortreten, und darüber, wie dies auszulegen ist, reflektiert Kenkō an anderer Stelle in seinem Buch. Dabei betont er das Motiv der »Leere« und sagt: »Leere nimmt die Dinge auf. Und da uns nun, ohne dass wir darauf Einfluß hätten, allerlei Gedanken kommen, frag’ ich mich, ob das wohl daran liegt, dass unser Herz von keinem Herrn besetzt ist. Denn wäre unser Herz nicht herrenlos, stellte sich die Vielzahl von Gedanken sicher niemals ein.« 148

Das erste Wort im Zitat ist »Leere« (虚空 kokū). Dieses vor allem im Buddhismus, aber auch im Daoismus hochgradig beziehungsreiche Wort weist auf eine Ebene, in der die einfache Ich-Vorstellung durchbrochen ist und sich das Handeln nicht mehr ausgehend von einem ich-zentrierten Aktivitätsmuster vollzieht. Das Fehlen eines klaren Subjektes umschreibt Kenkō mit dem Fehlen eines »Herrn«, von dem klare und absichtsgeladene Befehle ausgehen. Der Abschnitt 235, aus dem die gerade herangezogene Stelle stammt, beginnt mit einer Passage, in der das Fehlen eines Herrn durch folgendes Bild umschrieben wird: »In ein Haus, das einen Herrn hat, kehrt ein Mensch, der nicht dort hingehört, niemals nach Belieben ein. Doch eine unbewohnte Stätte betritt aufs Geratewohl ein jeder, der des Weges kommt. Auch Füchse und auch Eulen nisten sich dort ein, als wär’ es ihr Revier, weil sie niemand stört. Und Geisterwesen, wie Baumgespenster und dergleichen mehr, treiben an dem Ort ihr Spiel.« 149

Literarisch wird hier umschrieben, dass es darauf ankommt, das »Subjekt« zu vergessen. Diese Deutung legt sich auch auf sprachlicher Ebene nahe. Das sinojapanische Zeichen für »Herr« lautet in japanischer Aussprache nushi (主). Es handelt sich dabei um das gleiche Zeichen, das man heute in der japanischen Übersetzung für das Wort »Subjekt« (主語 shugo/主体 shutai) findet, allerdings in sinojapanischer Lesung. Ohne an dieser Stelle die japanologischen Details auszubreiten, sei festgehalten, dass die Vermutung, die Subjektlosigkeit des ersten Satzes im Buch sei von zentraler Bedeutung für das, schen Formen sind aber nicht als zentrale philosophische Sprachformen ausgearbeitet worden. Nietzsche und Heidegger, die aus philosophischen Gründen auf dieses Problem hinweisen, bestätigen dabei eher die Regel. 148 Kenkō, Draußen in der Stille, 250. 149 Ebd., 250.

356 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

was dort als absichtslose Grundhaltung entgegentritt, auf der Textebene eine Bestätigung erfährt. Kenkō deutet mit diesen kurzen Bemerkungen das, was er selbst im Niederschreiben seiner Gedanken vollzieht. Beim Tsurezuregusa handelt es sich somit um den glücklichen Fall eines Werkes von hohem literarischem Rang, in dem die Weise, wie die Sprache des Werkes entstanden ist, auf der Textebene selbst reflektiert und zudem performativ vollzogen wird. Dies ist möglich, weil es sich um eine Textform handelt, in der weder die Einheit des Werkes noch ein bestimmter, sich durchhaltender Inhalt formgebend ist. Wenn in der besonderen Stimmung der absichtslosen Muße nicht mehr von einem aktiven Ich die Rede sein kann, muss dann gesagt werden, dass das Ich in dieser Stimmung einfach nur passiv ist? Besteht die absichtslose Muße, die uns bei Kenkō entgegentritt, in reiner Passivität? Die deutsche Sprache legt uns diese Alternative nahe, weil sie die Aktionsformen des Verbs auf der Ebene der Grammatik lediglich in aktiv und passiv unterteilt. 150 Im Falle des Verbs »schreiben«, das bei Kenkō als paradigmatisch für die Situation der absichtslosen Muße genommen werden kann, steht der deutschen Sprache im Grunde nur die aktive Form im Zusammenhang mit einem Subjekt zur Verfügung, von dem die Tätigkeit ausgeht. »Ich schreibe« ist grammatisch möglich, »ich werde geschrieben« klingt fremd und wird in der Alltagssprache nicht verwendet. Im Rahmen der grammatikalisierten Tätigkeitsformen des Verbs kann der Vollzug der absichtslosen Muße in der deutschen Sprache – und auch in vielen anderen europäischen Sprachen wie Englisch, Französisch und Italienisch – entweder nur als etwas Aktives oder als etwas Passives beschrieben werden. Blickt man in die europäische Literatur zur Muße, so sind dies in der Tat immer wieder die beiden Alternativen, zwischen denen die Deutungen der Muße »Aktiv und Passiv sind in Texten der deutschen Gegenwartssprache ungleich verteilt: Auf das Aktiv entfallen im Durchschnitt etwa 93 %, auf das Passiv etwa 7 % (Vorgangspassiv ca. 5 %, Zustandspassiv ca. 2 %) der finiten Verbformen. Auf Grund dieser Verteilung kann man das Aktiv als Erst- und das Passiv als Zweitform bezeichnen und bei der Beschreibung so verfahren, dass man das Aktiv als einfache, mehr oder weniger merkmallose Ausgangsform ansetzt und das Passiv als davon abzuleitende Kontrastform. […] Das Aktiv hat seinen Namen von jenen Sätzen, in denen das Subjekt ›tätig‹ ist. […] Es handelt sich dabei um die für den deutschen Satz charakteristische Blickrichtung, die den Träger (›Täter‹), den Urheber des Geschehens zum Ausgangspunkt macht.« Die Grammatik. Duden, hg. v. Drosdowski et al., 176 f.

150

357 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

hin und her schwanken, bzw. es wird behauptet, dass es sich bei der Muße um ein Phänomen handele, das sowohl aktive wie auch passive Momente umfasse. Im ersten Satz des Tsurezurgusa sagt Kenkō, dass die Stimmung, in der er vor dem Tuschkasten hockt, sehr »eigentümlich« und »seltsam« sei. Im Japanischen steht dort das Wort ayashii, was heute so viel wie »verdächtig, zweideutig, unheimlich, eigenartig, zweifelhaft, bedenklich, fragwürdig, ungewiss, unzuverlässig, seltsam usw.« bedeutet. Im alten Japanischen bedeutete es jedoch auch ganz positiv einen interessanten und anrührenden Sachverhalt, der sich nicht mit den gewöhnlichen Mitteln des Verstehens erschließen lässt. Auf welche Weise könnte aber das »seltsame Gefühl« näher beschrieben werden, von dem begleitet Kenkō offenbar seine Gedanken aus dem Pinsel fließen ließ? Hängt dieses Gefühl vielleicht damit zusammen, dass zwar kein »Herr« zuhause ist, aber sich dennoch viele verschiedene Erfahrungen einstellen? Wie ist dieser Vollzug zu beschreiben, in dem zwar kein Subjekt, aber Anrührung geschieht? Kann eine Aktionsform bezeichnet werden, die jenseits der einfachen Unterscheidung von subjektgesteuerter Aktivität und bloß erleidender Passivität steht? Eine kleine Wendung im Text kann hier weiterhelfen. Folgende Stelle findet sich in Abschnitt 157: fude wo toreba, mono kakare. Die einzelnen Wörter besitzen folgende Bedeutung: fude bedeutet »Pinsel«, wo ist ein Akkusativ-Partikel, toreba kann mit »greifen« oder »nehmen« übersetzt werden und steht hier in der Konditionalform, mono bedeutet »Sache« bzw. »Ding« und kakare »schreiben«. In der Wendung ist kein grammatisches Subjekt genannt. Die besondere grammatische Form, die hier auftaucht, ist in dem Verb »kakare« (schreiben) enthalten. Es handelt sich um die Form des »Mediums«. Mit diesem genus verbi sind vermutlich nur die vertraut, die Kenntnisse des Altgriechischen besitzen. Dort wird das Medium zumeist als Reflexiv gedeutet, wobei in der Deutung des Mediums im Altgriechischen immer wieder vor allem die besonders intensive Beteiligung des Subjekts am Vorgang betont wird. 151 »Das Medium bezeichnet die gesteigerte innere und äußere Beteiligung des Subjekts an einem Vorgang. Auf folgende fünf Grundtypen der Verwendung lassen sich fast alle Erscheinungsformen des Medium zurückführen; eine strenge Scheidung ist jedoch nicht immer möglich. Das direkte Medium bezeichnet eine Handlung, die das Subjekt unmittelbar auf sich selbst richtet (reflexives Medium). Das indirekte Medium bezeichnet eine Handlung, die das Subjekt für sich in seinem Interesse ausübt

151

358 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

Die Deutung des Mediums in Grammatiken des Altgriechischen spielt bis in die Japanologie hinein eine Rolle. Denn von berühmten Japanologen wird die gerade angeführte Wendung (fude wo toreba mono kakare) unter deutlichem Bezug auf die Beschreibung des Mediums im Altgriechischen wiedergegeben. Bruno Lewin übersetzt: »Wenn ich den Pinsel ergreife, schreibe ich (so für mich) etwas hin«. 152 In der Übersetzung wird in Klammern der Rückbezug auf das Subjekt des Schreibens hinzugefügt. Vermutlich hat der Übersetzer an das direkte oder indirekte Medium des Altgriechischen gedacht, bei dem eine Tätigkeit sich auf den Tuenden zurückbezieht bzw. im eigenen Interesse ausgeführt wird. Im ersten Satzteil wird das »Ich« als Subjekt eingefügt und auch zu dem Verb »schreiben« tritt ein Ich als Subjekt hinzu. Somit werden zwei Subjekte im Satz ergänzt, die in der japanischen Wendung nicht auftauchen. Der Satz klingt in der deutschen Fassung eher neutral und literarisch nicht besonders interessant. Eine weitere Übersetzung von Oscar Benl lautet wie folgt: »Greift man zum Pinsel, stellt sich die Lust zum Schreiben ein«. 153 Im ersten Teil ist anstatt ein »ich« als Subjekt zu nennen, das Indefinitpronomen »man« in die Subjektposition gerückt, so dass der Satz zu einer allgemeineren Aussage wird. Im zweiten Satzteil ist das Medium vermutlich im Sinne eines dynamischen Mediums interpretiert, da die »Lust«, die im japanischen Satz nicht explizit genannt wird, eine besondere Beteiligung am Vorgang durch das Subjekt zum Aus-

(dativisches Medium). Das reziproke Medium bezeichnet eine Handlung, die das Subjekt mit anderen Personen bei gegenseitiger Zuwendung ausführt. Das dynamische Medium bezeichnet eine Handlung, die das Subjekt mit Aufbietung seiner Kräfte und Mittel oder in unmittelbarem praktischem Einsatz vollzieht. Das kausative Medium bezeichnet eine Handlung, die das Subjekt andere für sich oder an sich ausführen lässt. (Manche Verben kommen nur als Medium vor, haben aber keinen für uns unmittelbar erkennbaren medialen Sinn, z. B.: epomai [ich folge], gignomai [ich wachse], boulomai [ich will, ich begehre].« Organon. Griechische Grammatik, E. Happ et al., 146 f. Das Zitat soll als erste Verständnishilfe dienen, um einen Zugang zur grammatischen Form des »Mediums« zu ermöglichen. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die unterschiedlichen Deutungen des Mediums in den verschiedenen Grammatiken zu vergleichen. Es zeigt sich bereits nach der ersten Durchsicht, dass sie weit davon entfernt sind, einheitlich zu sein, und zudem die philosophische Problematik, die mit dieser grammatischen Form einhergeht, kaum verstanden wird. 152 Lewin, Abriß der japanischen Grammatik, 152. 153 Kenkō, Betrachtungen aus der Stille, 100.

359 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

druck bringen soll. Die »Sache« (mono), die in den Pinsel fließt, wird in der Übersetzung weggelassen. Beide Übersetzungen folgen in ihrer Deutung des Satzes dem Verständnis des Mediums im Altgriechischen und wenden damit Deutungen auf die japanische Sprache an, die dieser fremd sind. Um den Sinn des Mediums an dieser Stelle erschließen zu können, bedarf es einer Deutung, die von der japanischen Sprache selbst ausgeht. Ohne an dieser Stelle ausführlich auf diesen Zusammenhang eingehen zu können, möchte ich nur die erste Grundbedeutung des Mediums in der japanischen Sprache hervorheben, die für den vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist. In der auf Englisch verfassten Grammatik des Altjapanischen von Tadashi Ikeda ist folgendes zur Grundbedeutung des Mediums zu lesen: »1. Spontaneity, an action which occurs without prior intention. (In this sense ru, raru shows that a certain action occurs naturally, or a certain condition naturally arises. The original meaning of ru, raru was spontaneity, and the other meanings developed from it.)« 154

Ganz in diesem Sinne bezeichnet der berühmte japanische Grammatiker Yoshio Yamada (1873–1958), der im 20. Jahrhundert eine Synthese von traditionell japanischer und europäischer Grammatikschreibung für das Japanische zu entwickeln versuchte, das Medium in seiner Grammatik mit dem Wort shizensei 自然勢 (bzw.自然の勢 い shizen no ikioi), was so viel bedeutet wie »Schwung und Bewegung des Natürlichen« bzw. »Bewegung, die sich von selbst vollzieht und ergibt«. Durch diese Beschreibung verbindet Yamada die Form des Mediums mit einem alten Grundwort (jap.自然 shizen, chin. ziran) der sinojapanischen Tradition, das bereits in den Anfängen der chinesischen Philosophie eine zentrale Rolle gespielt hat. 155 Mit diesem Wort wird in der älteren philosophischen Tradition eine Bewegtheit beschrieben, die noch vor der Trennung von Subjekt und Objekt sich von selbst und aus sich selbst heraus vollzieht. Geht man mit dieser Deutung des Mediums an den Satz »fude wo toreba mono kakare« heran, so legt sich folgende alternative Übersetzung nahe: »Den Pinsel ergreifend stellt sich von selbst das Schreiben von etwas ein.« Das Wort kakare bezeichnet somit eine GeIkeda, Classical Japanese Grammar, 112. Zu diesem Motiv Wohlfart, Der philosophische Daoismus. Vgl. insbesondere Kap. 4, Ziran – Von-Selbst-so. Konjekturen zu einer daoistischen Quelle des Zen, 101–116.

154 155

360 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

stimmtheit des Schreibens, in der sich ohne klare Absicht etwas niederschreibt, durch das auch der Schreibende selbst gebildet wird und sich selbst überrascht. Nimmt man die Beschreibung des Mediums im Sinne eines spontanen Geschehens ernst, so sollte auf der einen Seite die Nennung eines Subjekts vermieden und auf der anderen Seite das »von selbst« des Geschehens betont werden. Beides in der Übersetzung zu verwirklichen fällt nicht leicht, da zum einen der Zwang zum Subjekt im deutschen Satz kaum umgangen werden kann und die Qualität des »von selbst« in der deutschen Sprache geistesgeschichtlich gesehen nicht besonders aufgeladen ist. Indem in der Übersetzung nicht die schreibende Person, sondern das Schreiben zum Subjekt wird, rückt zumindest das Geschehen des Schreibens selbst in den Vordergrund. Hier deutet sich eine Weise der »Subjektlosigkeit« an, die sich keineswegs in Tatenlosigkeit oder dumpfer Empfindung verliert. Es handelt sich vielmehr um eine Form des Handelns, die in Europa vor allem auch mit dem Phänomen der »Muße« verbunden wird. Etwas zu tun ohne Druck, an das Geschehen selbst hingegeben zu sein und keinem Erfolgszwang dienen zu müssen – dies sind Kennzeichen einer Handlungsform, die mit der einfachen Unterscheidung von Aktiv und Passiv nicht zu beschreiben ist. Anhand des japanischen Beispiels stößt man auf die grammatische Form des Mediums, die den Fokus und die Aufmerksamkeit auf eine Geschehensform lenkt, in der die Handelnden und die Situation, in der sie handeln, sich insgesamt in Bewegung befinden. Kein Moment agiert in der Situation, ohne in vollständiger Wechselresonanz mit allen anderen Momenten zu stehen.

2.4. Selbstzurücknahme in den Zen-Künsten Im 15. Jahrhundert erlebten in Japan verschiedene, vom ZenBuddhismus geprägte Künste einen Aufschwung, zu denen die Haiku-Dichtung ebenso gehört wie die Malerei, das Nō-Theater, die Gartenkunst, das Bogenschießen, die Teezeremonie usw. Auch wenn nicht alle diese Künste ohne weiteres im Horizont unseres modernen, europäischen Kunstbegriffs gelesen werden können, 156 so kann doch gesagt werden, dass sich in Japan ein eigenständiges Kunstsystem Vgl. Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart.

156

361 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

ausgebildet hat, das aus anderen als den europäischen Quellen schöpfte. 157 Dass es in den alten japanischen und auch den alten chinesischen Künsten in den meisten Fällen nicht um Repräsentation von Ideen, Bedeutungen oder Dingen ging, kann vor dem Hintergrund der europäischen Diskussionen der letzten dreißig Jahre vermutlich erst heute besser verstanden werden. 158 Um aber in vertiefter Weise den Sinn der ostasiatischen Kunsttraditionen ausleuchten zu können, sind vor allem die im Hintergrund der Künste wirksamen Texte und Philosophien weiter zu erforschen, zu denen in Japan ohne Zweifel auch Dōgen zählt. Im Falle Dōgens könnte man behaupten, dass seine Texte die Konsequenz nahelegen, ausschließlich den konkreten Vollzug in Form einer bestimmten Bewegung als Übung aufzusuchen, wobei sich hierfür die Künste in besonderer Weise anbieten. Dass vor allem die vom Zen beeinflussten japanischen Künste immer wieder ausgehend vom Motiv der Bewegtheit des Lebens in seiner Alltäglichkeit ihre eigentliche Aufladung und ihren künstlerischen Sinn erhalten haben, ist somit sicher nicht zufällig. In der Einübung dieser Künste kommen dabei all die Ebenen der Selbstzurücknahme zum Tragen, die im Abschnitt über die Texte Dōgens angedeutet wurden. Um diese Möglichkeit und Entwicklung in den japanischen Künsten zu verdeutlichen, möchte ich abschließend das Beispiel des Bogenschießens heranziehen. Das Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens erfreut sich seit Jahrzehnten einer ungebrochenen Beliebtheit und ist immer wieder neu aufgelegt worden. Es stammt von Eugen Herrigel, der von 1924– 1929 in Japan europäische Philosophie unterrichtete und während dieser Zeit Unterweisungen in einer besonderen Form des japanischen Bogenschießens erhielt. Auch wenn inzwischen bekannt ist, dass das Buch viele literarische Stilisierungen enthält und sein Bogenlehrer sicher kein Zen-Meister gewesen ist, zeugt der Text von Erfahrungen, die mit den konkreten Übungserfahrungen in der Kunst des Bogenschießens verbunden werden können. Es lässt sich an dem in deutscher Sprache verfassten Text auch studieren, anhand welcher Sprachformen Herrigel versucht, diese Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Das dabei auftauchende Übersetzungsproblem Vgl. Elberfeld, Einteilung der Künste in interkultureller Perspektive. Vgl. hierzu die sehr fruchtbare und umfassende Studie von Obert, Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert.

157 158

362 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

ist symptomatisch für die zentrale Bewegungserfahrung, die die Kunst des Bogenschießens bereithält: »Das absichtslose Verweilen in der höchsten Spannung missriet nach wie vor, wie wenn es unmöglich wäre, aus eingefahrenen Spuren herauszukommen. Eines Tages fragte ich daher den Meister: ›Wie kann denn überhaupt der Schuß gelöst werden, wenn ich es nicht tue?‹ ›Es schießt‹, erwiderte er. ›Das habe ich schon einige Male von Ihnen gehört und muß daher anders fragen: wie kann ich denn selbstvergessen auf den Abschuß warten, wenn ›ich‹ gar nicht mehr dabei sein soll?‹ ›Es verweilt in höchster Spannung.‹ ›Und wer oder was ist dieses Es?‹ […] ›Sprechen wir nicht mehr darüber, sondern üben wir!‹« 159

Wer jemals einen Menschen gesehen hat, der sich seit langen Jahren in der Kunst des Bogenschießens geübt hat, kann den Eindruck gewinnen, dass die Bewegung des Schießens zugleich von hoher Leichtigkeit und strenger Präzision geprägt ist. Der kurze Augenblick, den Herrigel zu Anfang der Passage anspricht, ist ein gewisser Höhepunkt in der Bewegung des Schießens und aus diesem Grunde ist er besonders schwierig zu vollziehen. Denn ist der Bogen einmal bis aufs Äußerste gespannt, fällt es nicht leicht, jeden Gedanken an das Abschießen des Pfeils fallen zu lassen. Denn der Moment, in dem der Pfeil plötzlich beschleunigt wird, soll nicht vom Willen des Schützen ausgelöst werden, sondern aus der Bewegung des Schießens als einer aus sich selbst hervorgehenden Bewegung erfolgen. Der Schütze ist dabei nicht das Zentrum des Schusses, sondern selbst nur Moment im Hervorgehen der Bewegung, zu dem er nur werden kann, wenn er »sich selbst vergisst«. Ähnlich wie bei Dōgen bedeutet dies aber nicht ein Nachlassen in der Aufmerksamkeit. Vielmehr ist die Beteiligung am Gesamtgeschehen des Schusses umso durchdringender, je mehr sich der Schütze als ein wollendes »ich« vergisst. Herrigel fragt nun den Meister in gut europäisch-philosophischer Manier, wie »ich« denn etwas tun kann, ohne dass dieses von einem »ich«, sprich Subjekt, getan wird. Der Meister antwortet in der Übersetzung von Herrigel »Es schießt«. An dieser Stelle kommt ein kleines Wort ins Spiel, dass auch in Europa bereits für die Beschreibung ähnlicher Bewegungsqualitäten entdeckt, aber zugleich als unzureichend für die Beschreibung kritisiert worden ist. Nietzsche schreibt in Jenseits von Gut und Böse:

159

Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, 64 f.

363 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

»[…] Es ist eine Fälschung des Tatbestandes zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prädikats ›denke‹. Es denkt: aber dass dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine ›unmittelbare Gewißheit‹. Zuletzt ist schon mit diesem ›es denkt‹ zuviel getan: schon dies ›es‹ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schließt hier nach der grammatischen Gewohnheit ›Denken‹ ist eine Tätigkeit, zu jeder Tätigkeit gehört einer, der tätig ist […].« 160

Auch wenn Nietzsche zunächst das »es« für eine Möglichkeit hält, die Bewegung des Denkens besser als mit dem Wort »ich« zu verbinden, so verwirft er diesen Gedanken dann zugunsten der Wendung, dass es doch um den »Vorgang selbst« gehe. Genau dies ist es vermutlich, was Herrigel in seiner literarischen Übersetzung den Meister versucht sagen zu lassen in der Wendung »Es schießt«. An dieser Stelle drängt sich von selbst die Frage auf, was der Meister denn auf Japanisch gesagt haben könnte. Um dies in Erfahrung zu bringen, kann zunächst auf die 1956 entstandene japanische Übersetzung von Herrigels Buch zurückgegriffen werden, das in Japan ein großer Verkaufserfolg war. 161 An der entscheidenden Stelle ist dort zu lesen: »sore ga iru no desu«. Es handelt sich dabei um eine wörtliche Übersetzung der deutschsprachigen Stelle »Es schießt«, die zwar sprachlich möglich ist, aber keinen besonderen japanischen Ausdruck zum Einsatz bringt. Das Wort »sore«, das an dieser Stelle für »es« steht, ist ein Demonstrativpronomen, das gewöhnlich Dinge bezeichnet, die sich in gewisser Entfernung vom Zeigenden befinden und mit »dieses/jenes dort« übersetzt werden kann. Da es in der japanischen Sprache keine Notwendigkeit gibt, immer wieder ein Ersatzsubjekt in die Sätze einzufügen, was eine häufige Funktion des impersonalen ›es‹ in der deutschen Sprache ist, kann das »Es schießt« auf diese Weise nur unzureichend übersetzt werden, und es ist davon auszugehen, dass der Meister dies sicher nicht gesagt hat. Um Auskunft zu erhalten, müssen somit ältere Texte herangezogen werden, die die bestimmte Qualität der gemeinten Bewegung thematisieren. Ich möchte hierfür auf einen Text zur Kunst des Schwertes zurückgreifen, da mir aus dem Bereich des Bogenschießens kein entsprechender Text vorliegt. Da die Bewegung des Schwertes und des Bogens im Horizont der hier Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 5, 31. 161 Herrigel, Yumi to zen (Bogen und Zen), übers. v. Inatomi u. Ueda, 92. 160

364 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen«

thematisierten Bewegungen in der Grundqualität nicht verschieden sind, kann dies hier genügen. Der berühmte Samurai Musashi Miyamoto (1584–1645) schreibt in seinem Buch der fünf Ringe (Gorin no sho): »Den Weg zu erreichen heißt, sich vom Weg zu entfernen; indem ich selbst frei bin vom Weg des Schwertes, wird eine außergewöhnliche Kraft erreicht. Die richtige Zeit zu treffen bedeutet, den Rhythmus zu kennen, von selbst (onozukara) zu schlagen und von selbst (onozukara) zu treffen: dies ist der Weg der Leere.« 162

Die für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Stelle ist: »von selbst zu schlagen und von selbst zu treffen«. Hier kommt ein Wort zum Einsatz, das auf eine alte ostasiatische Tradition zurückgeführt werden kann. 163 Das Wort onozukara kann mit »von selbst« übersetzt werden und bezeichnet die Qualität einer Bewegung, die bei Dōgen, Herrigel und Musashi in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommt. Wenn etwas von selbst geschieht, so kann nicht eindeutig bestimmt werden, von welchem Punkt die Bewegung initiiert und unterhalten wird. Es ist eine Bewegung, die als Bewegung aus sich hervortritt, indem alle beteiligten Momente sich selbst ganz in die Bewegung zurücknehmen. In diesem Sinne zeigt sich in dieser Bewegung ein besonderer Modus der »Selbstzurücknahme«. Die Selbstzurücknahme geschieht in der Bewegung und führt somit gerade nicht aus der Bewegung heraus, sondern in sie hinein. Die ostasiatischen Traditionen haben verschiedene philosophische und leibliche Ansätze entwickelt, um diese Form der Selbstzurücknahme inmitten von Bewegung und Veränderung zu entfalten und zu üben. Bei genauer Differenzierung der Übungswege würden sich sicher Unterschiede in den konkreten Vollzügen der Selbstzurücknahme zeigen. Dass Formen für eine in die Bewegung hineinführende Selbstzurücknahme in Europa wenig entwickelt wurden, mag mit dem eingangs thematisierten Grundunterschied hinsichtlich der Erfahrung und Bewertung von weltlicher Bewegung und Veränderung insgesamt zusammenhängen. Dass diese alten Formen der Selbstzurücknahme in Ostasien inzwischen durch die Praktiken in Miyamoto, Gorin no sho, 25. Die Passage findet sich im ersten Abschnitt, dem Buch von der Erde. 163 Eine der wichtigsten Stellen ist hierfür das 25. Kapitel des Daodejing, das der Tradition nach dem Laozi zugeschrieben wird. Dort heißt es im letzten Vers, dass das dao selbst in höchster Weise von der Qualität des »von selbst« (chin. ziran) bestimmt sei. 162

365 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

modernen Künsten weitergeführt und neu ausgelegt werden, ist noch zu wenig untersucht worden. Sicher ist, dass die Bewegung als Bewegung in der modernen und inzwischen globalisierten Kunstentwicklung immer mehr ins Zentrum des künstlerischen Schaffens getreten ist. Vielleicht könnte man sogar die These in fruchtbarer Weise verfolgen, dass die modernen Künste in Europa und den USA seit dem 19. Jahrhundert Therapien gegen die Angst entwickeln, die entsteht, wenn Menschen sich mit der Erfahrung vertraut machen, dass Mensch und Welt selbst nichts anderes als Bewegungen und Verwandlungen sind. Ob es hier zu weiteren Synergien zwischen den modernen Künsten und älteren ostasiatischen Übungswegen kommt, bleibt abzuwarten.

3.

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

Das Denken Nishidas ist entstanden aus der Verflechtung verschiedener Traditionen der Philosophie in Europa, den USA, Indien, China und Japan. Er hat im Laufe seines Denkweges verschiedene Grundmotive des Philosophierens entwickelt, die inzwischen auch international rezipiert werden. 164 Der Gedanke der handelnden Anschauung (行為的直観 kōiteki chokkan), der zur Spätphilosophie Nishidas gezählt werden kann, bündelt dabei in besonderer Weise zentrale Motive seines Denkens. 165 Der vielleicht wichtigste Beitrag, der durch diesen Gedanken nicht nur für das japanische Denken, sondern für die Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert überhaupt geliefert wurde, ist die Überwindung der substanziell trennenden Unterscheidung von Bewusstsein und Körper, die durch Descartes grundsätzlich als ein zentraler Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie gesetzt worden ist. 166 Ein anderer zentraler Beitrag liegt darin, dass Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung, hg. v. Elberfeld u. Ariska. 165 Vgl. Maraldo, Nishida’s Kōiteki chokkan 行為的直観 and the Notion of Enaction in Cognitive Sience. 166 Unterscheidungen können unterschiedlich modelliert sein. Bei Descartes ist die Unterscheidung von Bewusstsein und Körper so modelliert, dass beides radikal voneinander getrennt ist und sich in keiner Weise berührt. Vereinfacht gesagt, arbeitet eine bestimmte Linie des Denkens seit Descartes nicht nur in Europa daran, diese Unterscheidung so neu zu denken, dass Bewusstsein und Körper keine Gegensätze mehr bilden, sondern als Vollzug einander durchdringen. Zur Frage nach den Formen des Unterscheidens vgl. Wille, Gendering George Spencer Brown? Die Form der Un164

366 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

durch den Gedanken ein forciert dynamisches Wirklichkeitsverständnis und eine »mediale« Handlungsform auf der Grundlage der Durchdringung von Bewusstsein und Körper zum Tragen kommen, die Nishida mit dem Gedanken der Geschichtlichkeit verbindet. Der Gedanke einer Durchdringung von Bewusstsein und Körper und das darauf beruhende dynamische Wirklichkeitsverständnis als Geschichtlichkeit in der handelnden Anschauung ist bei Nishida auch eine philosophische Antwort auf philosophiegeschichtliche Entwicklungen in Europa. Um die Reichweite der Rede von der handelnden Anschauung zu verdeutlichen, ist es sinnvoll – bevor der Gedanke im Rahmen der Philosophie Nishidas selbst entwickelt wird –, ausgewählte Stationen der philosophischen Entwicklung seit Descartes pointiert zu thematisieren, um den Gedanken der handelnden Anschauung zum einen philosophisch zu motivieren und zum anderen ansatzweise auch im europäischen Diskurs zu kontextualisieren. Für diesen Zweck möchte ich fünf europäische Denker – Descartes, Fichte, Hegel, Husserl, Heidegger – in den Horizont meiner Überlegungen einbeziehen. Die genannten Denker waren Nishida alle bekannt und hatten in verschiedener Weise und in verschiedenen Phasen wichtige Funktionen für die Entwicklung seines Denkens. 167 Durch diese Auswahl kann vielleicht der Weg von der damit markierten philosophischen Entwicklungslinie zum Ausgangspunkt der Philosophie Nishidas am ehesten einsichtig und für einen europäischen Leser nachvollziehbar werden. Entscheidend für die Auswahl war, dass einerseits die Denker – Fichte, Hegel, Husserl – pointiert in Betracht gezogen werden, die nach Descartes eine zunehmend dynamisierte Auffassung vom Bewusstsein entwickeln, 168 und andererseits der Denker – Heidegger –, der terscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung. 167 Nishida hat die Entwicklung seiner Philosophie immer wieder in den Vorworten (1911–1944) zu seinen Werken reflektiert. Alle Vorworte liegen in deutscher Übersetzung vor: Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, 20–71. 168 Sicher ist Kant, der in dieser Linie auf den ersten Blick zu fehlen scheint, auch für Nishida ein wichtiger Bezugspunkt gewesen. Sein zentraler Beitrag besteht vor allem in der transzendentalen Wende und der Gewinnung eines Standpunktes endlicher Vernunft, wobei er aber den Akt des Bewusstseins nicht in gleicher Weise aus sich selbst heraus dynamisiert, wie dies bei Fichte, Hegel und Husserl in radikaler Weise der Fall ist. Da es mir im vorliegenden Kontext vor allem um diesen Aspekt der Dynamisierung geht, wird Kant nicht mit einbezogen. Für die Auseinandersetzung mit

367 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

in seinem Begriff der Wahrheit eine Durchdringung von Bewusstsein und Körper denkt, ohne überhaupt noch von dieser Unterscheidung sprechen zu müssen. In der von mir vorgenommenen Rekonstruktion der Linie wird im Verlauf der Überlegungen auch deutlich, dass Nishida bereits 1911 Motive in seinem Denken entwickelt, die in Entsprechung zu dem stehen, was Heidegger in den 1920er Jahren bis zu seinem Werk Sein und Zeit entfaltet. Somit liegt der Sinn der Linie von Descartes über Fichte, Hegel, Husserl und Heidegger zu Nishida darin, zu zeigen, dass die handelnde Anschauung als Antwort auf Descartes gelesen werden kann, in der die Dynamisierung des Bewusstseins bei Fichte, Hegel und Husserl ebenso einbezogen ist wie auch der Aspekt berücksichtigt wird, der bei Heidegger das Erkennen im handelnden Umgang mit den Dingen wurzeln lässt. In der Rekonstruktion der fünf Denkansätze kann es selbstverständlich nicht darum gehen, eine differenzierte Analyse zu liefern, sondern nur darum, den Einsatzpunkt und einen Zielpunkt der Philosophie Nishidas ausgehend von grundlegenden europäischen Ansätzen deutlich zu machen. Nach der Hinführung zur Philosophie Nishidas soll der Gedanke der handelnden Anschauung zunächst ausgehend vom Anfang der Philosophie Nishidas in der Studie über das Gute (Zen no kenkyū, 1911) motiviert und behandelt werden.

3.1. Ein europäischer Weg zur Philosophie Nishidas Einer der einflussreichsten Texte der europäischen Philosophie der Neuzeit wurde als Meditation konzipiert und inszeniert. Descartes beschreibt zu Anfang des Textes, wie er sich aus allen störenden Beschäftigungen zurückzieht, um sich nur der Meditation der grundlegenden Sachverhalte der Philosophie in Einsamkeit hingeben zu können. Dabei übt er täglich, sich von allen sinnlichen Eindrücken zu lösen, um sich nur auf das richten zu können, dessen Evidenz sich bei der Grundlegung der Philosophie nicht bestreiten lasse. Im Rückzug aus der sinnlichen Welt und im Nachdenken über die Möglichkeit einer letzten Evidenz im Denken stößt er auf die Tätigkeit seines eigenen Bewusstseins. Die Tätigkeit des je eigenen Bewusstseins selbst Kant und dem Neukantianismus siehe den Aufsatz Nishida, Antwort auf die Kritik von Prof. Sōda.

368 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

fällt zumeist nicht auf, weil diese Tätigkeit sich dadurch auszeichnet, immer schon mit einem konkreten Gegenstand oder Sachverhalt beschäftigt zu sein. Um die Tätigkeit des Bewusstseins als Tätigkeit selbst ins Bewusstsein zu heben, bedarf es einer Unterbrechung der Beschäftigung des Bewusstseins mit den konkreten Gegenständen und Sachverhalten. Dies wird bei Descartes durch die in Einsamkeit vollzogene Meditation erreicht, die bei ihm von jeder religiösen Bedeutung frei ist. In der Zurückgezogenheit und Ruhe fällt Descartes die Tätigkeit des Bewusstseins selbst auf. Er macht mit der Tätigkeit seines eigenen Bewusstseins eine Erfahrung. Diese ist als solche ungegenständlich, da sie alle Gegenstände des Bewusstseins konstituiert, aber selbst nicht Gegenstand des Bewusstseins werden kann. In der sprachlichen Formulierung dieser Einsicht verwendet Descartes allerdings im Lateinischen wie im Französischen eine Wendung, die in ihrer Wirkung und der Rezeption des Gedankens den Umfang dieser Erfahrung verengt: »Sed quid igitur sum? Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, & sentiens.« In der französischen Fassung heißt es: »Mais qu’est-ce donc que je suis? Une chose qui pense. Qu’est-ce qu’une chose qui pense? C’est-à-dire une chose qui doute, qui conçoit, qui affirme, qui nie, qui veut, qui ne veut pas, qui imagine aussi, et qui sent.« In deutscher Übersetzung lautet die Passage: »Also was bin ich nun? Ein denkendes Ding. Was ist das? – Ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet.« 169 Indem Descartes den Terminus »cogitans« bzw. die Wendung »une chose qui pense« wählt, wird die Tätigkeit des Bewusstseins mit dem Wort »denken« verbunden, obwohl in der direkten Auslegung des »res cogitans« auch »wollen«, »empfinden« und anderes genannt werden. In der zitierten Stelle wird das »cogito« offenbar in einem weiten Sinne verwendet, was auch im heutigen Sprachgebrauch noch möglich ist. Wenn gesagt wird: »Ich denke, dass es morgen regnet«, so ist ganz selbstverständlich nicht »Denken« im engen philosophischen Sinne gemeint. Dieses »Denken« umfasst auch ein »Empfinden«. Die Erfahrung Descartes’ bezieht sich auf die Tätigkeit des Bewusstseins insgesamt, die sich nicht nur auf das »Denken« im engen philosophischen Sinne beschränkt, sondern die Tätigkeit des Bewusstseins in jeder menschDescartes, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, 87.

169

369 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

lichen Handlung umfasst. Es ist vor allem hervorzuheben, dass bei Descartes das »cogito« nicht dem »sentire« gegenübersteht, sondern dieses als mögliche Bewusstseinstätigkeit mit umfasst. Indem Descartes vom »res cogitans« alle »res extensa« unterscheidet, unterscheidet er die Tätigkeit des Bewusstseins in all ihren Möglichkeiten grundsätzlich von allem körperlich und materiell Gegebenen. Die Tätigkeit des Bewusstseins erscheint als rein geistige und eigenständige Dimension, die substanziell und radikal von allem Körperlichen zu unterscheiden ist und die zugleich den letzten Boden für all unsere Evidenzen darstellt. Eine der grundlegenden Unterscheidungen, an denen sich die neuzeitliche Philosophie seit Descartes abarbeitet, um sie in immer wieder neuen Anläufen neu zu denken oder gar ganz zu überwinden, ist die strikte Unterscheidung von Bewusstsein und Körper bei Descartes. Nishida, der im Unterschied zu seinen europäischen Kollegen auch auf ostasiatische Traditionen des Denkens und Übens zurückgreift, leistet nicht zuletzt mit dem Gedanken der handelnden Anschauung einen grundsätzlichen Beitrag zur radikalen Neukonstellation dieser Unterscheidung. 170 In Europa wurde diese Unterscheidung unter anderem dadurch unterlaufen, dass das Bewusstsein nicht einfach als Gegebenheit hingenommen wurde – wie noch bei Kant –, sondern zunehmend in seinem Entstehen und seiner Zeitlichkeit betrachtet und erforscht wurde. 171 Dabei trat auch in den Blick, dass die Entstehung von Bewusstsein nie ohne Körper oder Leib zu denken ist. Der zentrale Schritt einer dynamisierten Betrachtung des Bewusstseins und des Erkennens nach Descartes findet bei Fichte statt. In der Grundlegung der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 vertieft Fichte die cartesische Erfahrung, indem er die Tätigkeit des Bewusstseins selbst als absoluten Ausgangspunkt für die Bestimmung des menschlichen Wissens aufsucht. Wie Fichte besonders hervorhebt, lässt sich dieser Ausgangspunkt nicht »beweisen« oder »bestimmen«, sondern nur »aufsuchen«. Den absoluten Ausgangspunkt nennt Fichte eine »Tathandlung«, die nicht als eine empirische Bestimmung unseres Bewusstseins vorkommt, sondern alles Bewusstsein erst möglich macht. Fichte fragt damit zurück in den immer schon tätigen Ursprung des Bewusstseins selbst. Bewusstsein als solDies scheint mir auch der Grund zu sein, warum immer wieder auch eine Nähe zwischen Nishida und Merleau-Ponty festgestellt worden ist. 171 Vgl. hierzu Rombach, Die Gegenwart der Philosophie, 112 f. 170

370 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

ches ist eine sich selbst hervorbringende Tätigkeit, die als solche nicht objektivierbar ist und in deren Zentrum das »Ich« steht. Das »Ich« ist somit die Tathandlung, die sich selbst und damit alles andere Seiende hervorbringt. »[Das Ich] ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung.« 172 Beim frühen Fichte wird die Erfahrung des Bewusstseins an sich auf die Tathandlung als die Realität hervorbringende Tätigkeit überhaupt fokussiert. Diese Tätigkeit ist in keiner Weise objektivierbar, sondern nur als sie selbst im Vollzug zu realisieren. Das Ich als Ich erfährt sich selbst nur in der sich selbst hervorbringenden Tätigkeit. Die sich selbst hervorbringende Tätigkeit kann nicht bewiesen werden, da sie immer schon in allen Weisen des Bewusstseins als Voraussetzung tätig ist. Sie kann nur während des Tätigseins in die Aufmerksamkeit gehoben werden; sie ist nur in der gegenstandsfreien Bewusstseinsmeditation als reine Tätigkeit des Bewusstseins aufsuchbar im Sinne eines tätigen Grunds allen Seins. Für Nishida war diese Einsicht Fichtes in seinem Werk Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein, das seine Reflexionen aus den Jahren 1913 bis 1917 zusammenfasst und 1917 publiziert wurde, von zentraler Bedeutung. Auch wenn er Fichtes Ansatzpunkt bald wieder verlässt, bleibt er meines Erachtens in seinem Denken »aufgehoben«. In der Phänomenologie des Geistes von 1807, deren Titel in einer früheren Fassung Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins lautete, analysiert Hegel die Erfahrung des Bewusstseins mit sich selbst als Tätigkeit in umfassender und sich selbst unterscheidender Weise. Hegel versucht, die Tätigkeit des Bewusstseins von der »sinnlichen Gewissheit« bis zum »absoluten Wissen« in ihrem inneren Hervorgang aus einem sich selbst unterscheidenden Prozess nachzuvollziehen. Er zeigt, wie jede Ebene des Bewusstseins sich in besonderer Weise vollziehend unterscheidet und aufsteigend in die nächst höhere Form des Bewusstseins umschlägt. Die Phänomenologie des Geistes kann in dieser Perspektive als Übungsbuch gelesen werden, um sich in die möglichen Erfahrungsebenen des eigenen Bewusstseins einzuarbeiten, so dass sie selbst zu einer reflektierten Erfahrung werden. Der Aufbau dieses Erfahrungsweges ist als ein aus 172

Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), 16.

371 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

sich selbst hervorgehender versprachlicht, um so die Ganzheit des Bewusstseins in der Selbsterfahrung durchlaufen zu können. Auf dem Weg der Erfahrung des Bewusstseins wird das Bewusstsein nicht einfach objektiviert und begrifflich bestimmt, sondern inmitten der Tätigkeit seiner eigenen inneren Dynamik systematisch in seinem Entstehen phänomenologisch beobachtet. Nur in der Einübung in die Tätigkeit des eigenen Bewusstseins erfährt sich das Bewusstsein als Voraussetzung allen Seins, so dass Bewusstsein und Sein vollständig ineinander übergehen. »Die Erfahrung, welche das Bewußtsein über sich macht, kann ihrem Begriffe nach nichts weniger in sich begreifen als das ganze System desselben oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes, so dass die Momente derselben in dieser eigentümlichen Bestimmtheit sich darstellen, nicht abstrakte, reine Momente zu sein, sondern so, wie sie für das Bewußtsein sind oder wie dieses selbst in seiner Beziehung auf sie auftritt, wodurch die Momente des Ganzen Gestalten des Bewußtseins sind.« 173

Die Phänomenologie des Geistes ist in diesem Sinne ein dynamischer Weg, für dessen Nachvollzug ein hoher Grad von Beweglichkeit des Bewusstseins und der Selbstbeobachtung nötig sind. Für Nishida war Hegel ein wichtiger Ausgangspartner, von dem er sich bis zuletzt immer wieder produktiv abzusetzen versuchte. Auf die bisher entwickelte Linie konnte sich Nishida in historischer Perspektive beziehen. Die beiden folgenden Denker – Husserl und Heidegger – waren Zeitgenossen Nishidas. Mit Husserl stand Nishida in direktem Briefkontakt und es wurde ihm immer wieder von seinen Schülern und Kollegen, die seit den 1910er Jahren in Freiburg Philosophie studierten, über die Entwicklung der beiden Denker berichtet. 174 Die beiden folgenden Rekonstruktionen sind daher nicht als Voraussetzungen für das Denken Nishidas zu verstehen, sondern sollen vielmehr die Parallelität der Denkbewegungen bei Husserl, Heidegger und Nishida verdeutlichen. Husserls Grundthema ist ebenfalls die Erforschung des Bewusstseins in all seinen Formen und möglichen Erfahrungsverläufen. Anders als bei Hegel ist sein Vorgehen nicht von der Idee eines Systems des Bewusstseins geprägt, sondern er entwickelt die Analyse des Bewusstseins jeweils in anschaulicher Selbstgegebenheit, ohne für das Ganze ein System anzunehmen, in dem jedes Einzelne zum Moment 173 174

Hegel, Phänomenologie des Geistes, 80. Vgl. Japan und Heidegger, hg. v. Buchner.

372 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

des Ganzen wird. Der Gesamtzusammenhang der sich zeigenden Phänomene im Rahmen der sich vollziehenden Intentionalität als der Tätigkeit des Bewusstseins hat keinen absoluten Anfangspunkt, von dem es ausgeht, so dass mit der Beschreibung bei jeder Tätigkeit des Bewusstseins begonnen werden kann, sei es das Sehen von Dingen, das Assoziieren, das Fühlen, die Erfahrung von Zeit usw. Husserl versteht die phänomenologische Arbeit als Einübung in die Tätigkeitsweisen des eigenen Bewusstseins, wobei er durch die phänomenologische Arbeit selbst in immer grundlegendere Schichten der eigenen Bewusstseinstätigkeit eindringt. Auf dem Weg seiner Analysen des Bewusstseins entstehen fortlaufend neue Wege und Abwege, die sich durch die konkrete Arbeit an den Phänomenen ergeben. Auch wenn Husserl von der Absicht beseelt war, alle grundlegenden Phänomene des Bewusstseins vollständig in ihrem Wesensgehalt streng wissenschaftlich beschreiben zu wollen, hat ihm die phänomenologische Arbeit selbst immer wieder vor Augen geführt, dass die letzte Erfüllung dieser Aufgabe unmöglich ist. 175 Obwohl er es bereits sehr früh in seinem Denken thematisiert hat, war es vermutlich vor allem das Phänomen der Zeit, das am Ende seines Denkweges den Traum von der vollständigen Objektivierung aller Phänomene in der phänomenologischen Arbeit zunichte gemacht hat. Am Ende seines Lebens – in den 1930er Jahren – versteht Husserl das Phänomen der Zeit als transzendentale Seinsweise von Ich und Bewusstsein, die sich selbst nur im Vollzug ihrer selbst gegeben ist. Bewusstsein ist somit in dieser Perspektive nur erfahrbar als die zeitliche Realisation im Strom der lebendigen Gegenwart. »Jedes konkrete Erlebnis ist eine Werdeeinheit und konstituiert sich als Gegenstand im inneren Bewußtsein in der Form der Zeitlichkeit […]. Das gilt schon für alle immanenten Empfindungsdaten, es gilt aber auch weiter für die sie umspannenden Apperzeptionen und ebenso für alle sonstigen intentionalen Erlebnisse.« 176 »[B]etrachte ich mich, als wie ich allen meinen Vorurteilen, allem für-mich-Seienden, vorauszusetzen bin, eben als Urbedingung für ihren Seinssinn, so finde ich mich als strömende Gegenwart.« 177

Mir ist bewusst, dass Husserls Denkweg in sehr verschiedene Phasen eingeteilt werden kann. Diese Differenzierungen können für den vorliegenden Zweck aber vernachlässigt werden. 176 Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, 304. 177 Stelle aus den C-Manuskripten von Husserl zitiert nach Held, Lebendige Gegen175

373 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Fichte, Hegel und Husserl dringen auf der Grundlage der Freilegung des Bewusstseins als Bewusstsein bei Descartes immer weiter und auf verschiedene Weisen in die Tätigkeit bzw. die Entstehungsvollzüge und -bedingungen des Bewusstseins ein. Die drei genannten Denker gelangen auf ihren Denkwegen zunehmend dahin, die Tätigkeit des Bewusstseins nicht nur als »subjektive« Tätigkeit aufzufassen, sondern als Grund von Wirklichkeit insgesamt. Das »Auge im Grunde« beim späten Fichte, der »dialektische Prozess« bei Hegel und die »Intentionalität« bei Husserl stellen denkerische Versuche dar, die Tätigkeit und Realität des »Bewusstseins« als eine bewegte SubjektObjekt-Einheit aufzufassen, wodurch nicht nur der radikale Dualismus bei Descartes, sondern auch das Kantische Problem des »Dings an sich« überwunden wird. In diese Richtung fragt auch Heidegger weiter. Es waren verschiedene philosophische Gründe, die Heidegger dazu bewogen, den Begriff des »Bewusstseins« in seinem Denken nicht mehr zu verwenden. Ein wichtiger Grund war die zu starke Bindung des Begriffs »Bewusstsein« – im Rahmen des damaligen Neukantianismus – an ein Erkenntnissubjekt, das dem Gegenstand des Erkennens gegenübersteht. Um diese Dichotomie zu unterlaufen, boten sich Heidegger verschiedene Möglichkeiten. Eine von ihm ergriffene Möglichkeit war die altgriechische Sprache. Er entdeckt in dieser Sprache einen Wahrheitsbegriff, der mit der grammatischen Form des Mediums im Altgriechischen verbunden ist. 178 Diese Form, die weder im Englischen, Französischen noch im Deutschen existiert bzw. grammatisch beschrieben wird, erlaubt es ihm, das Geschehen eines »Sichzeigens« zu thematisieren, das jeder Subjekt-Objekt-Spaltung bereits vorausgeht. Das Sichzeigen der Phänomene geschieht demnach zunächst auf der Basis eines praktisch-handelnden »Umgangs« mit den Dingen, wobei dieser Umgang weder aktiv noch passiv zu verstehen ist, sondern sich als eine mediale Bewegung vollzieht. Um diese Form des Geschehens zum Ausdruck zu bringen, hat Heidegger vor allem nach Sein und Zeit auf die im 19. Jahrhundert diskutierte Form des »impersonalen Urteils« zurückgegriffen, das in der deutschen Sprache mit dem Wort »es« verbunden ist. Ausdrücke wart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 67. 178 Vgl. Scott, The middle Voice in Being and Time; Schoenbohm, Re-Adressing Phenomenology. Heidegger’s Thinking through the Middle Voice.

374 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

wie »es donnert«, »es gibt«, »es gibt Zeit« weisen auf ein Geschehen, in dem sich ein Sachverhalt von sich her zeigt, ohne dabei die Unterscheidung von Subjekt und Objekt annehmen zu müssen. Eine Stelle in Sein und Zeit zeigt, wie die mediale Form des phainestai den Grundsinn des Erscheinens von Etwas bestimmt: »Der griechische Ausdruck phainomenon, auf den der Terminus ›Phänomen‹ zurückgeht, leitet sich von dem Verbum phainesthai her, das bedeutet: sich zeigen; phainomenon besagt daher: das, was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare; phainesthai selbst ist eine mediale Bildung von phainō, an den Tag bringen, in die Helle stellen. […] Phänomenologie sagt dann: apophainesthai ta phainomena: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« 179

Das Erscheinen von etwas ist in Sein und Zeit nicht mehr mit den Kategorien des Bewusstseins verbunden, sondern geht aus von einem handelnden und handlichen Umgang mit den Dingen, die sich im und durch das Handeln als sie selbst zeigen: »Je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug. Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ›Handlichkeit‹ des Hammers.« 180

Heidegger entdeckt ein Feld des handelnden Umgangs, das die Offenheit von Welt überhaupt fundiert. Die Erfahrung des Bewusstseins, die bei Husserl als Intentionalität gedeutet wurde, wird in Sein und Zeit zum Offenstehen von Welt als das Geschehen der Unverborgenheit im leiblichen Handeln. Die Frage nach der Erfahrung des tätigen Bewusstseins verwandelt sich zu der Frage nach dem »In-der-WeltSein« als Offenheit von Welt, die im handelnden Umgang mit den Dingen immer schon in verschiedenen Weisen erschlossen ist und im Handeln fortlaufend weiter erschlossen wird. Mit dieser Auslegung ist die Unterscheidung von »res cogitans« und »res extensa« bei Descartes unterlaufen, so dass – aus der Perspektive Descartes’ gesehen – beide Ebenen – Bewusstsein und Dinge – als ein Zusammenhang vollzogen werden und sich zeigen im Sinnes eines medial verstandenen phainesthai. Bewusstsein und Dinge sind bei Heidegger zum Geschehen von Welt zusammengewachsen. Meines Erachtens weisen diese Gedanken eine besondere Nähe 179 180

Heidegger, Sein und Zeit, 28 u. 34. Ebd., 69.

375 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

zu dem auf, was Nishida in der handelnden Anschauung zur Sprache zu bringen versuchte. Auch Nishida zeigt, wie im Handeln Erkennen und Welt sich auseinander entfalten. Schon in seinem ersten Werk, der Studie über das Gute von 1911, ist rückblickend diese Gedankenrichtung zu sehen, auch wenn dieses Werk als Ganzes synkretistisch anmutet. Der Grundgedanke scheint mir jedoch direkt anschließbar an die Linie des Denkens, die bisher entwickelt worden ist.

3.2. »Reine Erfahrung« bei Nishida Erst nach einem intensiven Studium der westlichen Philosophie hat Nishida intensive Erfahrungen mit der Zen-Meditation gesammelt. 181 Letztlich konnten ihn diese Erfahrungen aber nicht befriedigen bei der Erforschung des menschlichen Bewusstseins, so dass er ab 1905 einen eigenen Weg suchte, die Phänomene der Erfahrung und des Bewusstseins philosophisch zu klären. In der Anfangspassage seines Erstlingswerkes Studie über das Gute von 1911 verdichten sich bereits Motive seiner Philosophie, die beim späten Nishida in dem Gedanken der handelnden Anschauung eine sprachliche Präzisierung erfahren. Ausgehend von dem bisherigen Befund, der in philosophiegeschichtlicher Zuspitzung skizziert wurde, möchte ich die erste Passage aus dem genannten Buch zitieren: »Erfahren bedeutet, Wirkliches einfach so, wie es von sich her ist, zu wissen. All unsere eigenen [künstlichen] Zutaten weglassend dem Wirklichen folgend [es] zu wissen. Rein beschreibt den Zustand einer wirklichen Erfahrung einfach so, wie sie ist, der in keiner Weise ein reflektierendes Unterscheiden anhaftet. Dem, was gewöhnlich Erfahrung genannt wird, ist eigentlich immer ein irgendwie geartetes Denken beigemischt. Das meint zum Beispiel, dass wir in dem Augenblick, in dem wir eine Farbe sehen oder einen Ton hören, weder überlegen, ob es sich um Einwirkungen äußerer Dinge handelt, noch ob ein Ich diese empfindet. Selbst das Urteil, was diese Farbe und dieser Ton eigentlich sind, ist auf dieser Stufe noch nicht gefällt. Somit sind reine und unmittelbare Erfahrung eins. In der unmittelbaren Erfahrung des eigenen Bewusstseinszustands gibt es noch kein Subjekt

Vgl. Yusa, Zen & Philosophy. An Intellectual Biography of Nishida Kitarō. Zur inneren Beziehung von Zen und Phänomenologie vgl. Fasching, Phänomenologische Reduktion und Mushin. Edmund Husserls Bewusstseinstheorie und der Zen-Buddhismus.

181

376 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

und kein Objekt. Die Erkenntnis und ihr Gegenstand sind völlig eins: Das ist die reinste Form der Erfahrung.« 182

Nishida entlehnt die Wendung »pure experience« von William James 183 und versucht, auf der Grundlage der Beschreibung dieser Erfahrung sein Denken erstmals im Rahmen eines eigenen Ansatzes philosophisch zu ordnen. Das Buch und damit der philosophische Entwurf insgesamt setzen ein mit dem Hinweis auf eine Form von Erfahrung, in der sich Subjekt und Objekt noch nicht getrennt haben oder nicht mehr getrennt sind. Als Beispiele führt Nishida das Sehen einer Farbe und das Hören eines Tones an. Solange sich nur Sehen als unmittelbar sinnlicher Akt des Sehens und Hören als unmittelbarer Akt des Hörens vollziehen, hat sich noch kein Subjekt gesetzt, das über das Gesehene oder Gehörte urteilt, obwohl es sich um einen in sich hochgradig differenzierten Akt handelt, der noch nicht oder nicht mehr denkend unterschieden wird. Nishida geht aus – und dies bleibt bis zum Ende seines Lebens sein eigentlicher Ausgangspunkt – von der Erfahrung einer sinnlichen Offenheit von Welt, die als sinnliches Geschehen noch vor der Unterscheidung von Subjekt und Objekt liegt, ein Gedanke, der uns heute ausgehend von Maurice MerleauPonty nicht unvertraut ist. Das sinnliche Geschehen selbst ist die Offenheit von Welt, aus der dann die subjektiven Vorstellungen, Denkakte, Gefühle usw. hervorgehen und sich darin selbst voneinander unterscheiden durch den Akt der Sprache. 184 Die »Reine Erfahrung«, die Nishida in der Studie über das Gute als fundierende Form für alle Erfahrungen interpretiert, ist nicht wie bei Hegel eine bloße »sinnliche Gewissheit«, sondern ein überaus reiches und lebendiges Geschehen, das sich wie von selbst und aus sich selbst heraus vollzieht. Nishida nennt Beispiele wie das konzentrierte Besteigen eines Berges Nishida Kitarō zenshū: Gesamtausgabe Kitarō Nishida, Bd. 1, 9. In deutscher Sprache liegt die Übersetzung von Peter Pörtner vor: Nishida, Über das Gute. Die hier angeführte Übersetzung geht aus von der Pörtners, setzt aber eigene Akzente. 183 Zum Verhältnis von Nishida und James vgl. Demmel, Der Begriff der reinen Erfahrung bei Nishida Kitarō und William James und sein Einfluss auf Nishidas Verständnis von religiöser Erfahrung. 184 In einer bestimmten Linie des modernen japanischen Denkens ist das Motiv der Sinnlichkeit von überragender Bedeutung. Im Anschluss an Nishida entwickelt vor allem Keiji Nishitani diesen Aspekt insbesondere in Auseinandersetzung mit Hegel weiter. In dieser Linie versucht Ähnliches auch dessen Schüler Ryōsuke Ōhashi; vgl. Ōhashi, Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion. 182

377 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

oder das versunkene Spielen eines Musikinstruments. In einer solchen Situation ereignet sich ein Geschehen, in dem jedes Nachdenken über die Situation die Lebendigkeit des Geschehens selbst stören würde. In dem Gedanken der »reinen Erfahrung« soll ein handelnd-sinnliches Feld in die Aufmerksamkeit gehoben werden, das immer schon aktiv ist und aus dem sich erst die Vorstellung von einem Ich, das tätig ist, entwickelt. In den 1920er Jahren verwandelt sich die Reine Erfahrung zum Gedanken des Ortes (場所 basho), der jeder Subjekt-Objekt-Spaltung vorhergeht und in dem Subjekt und Objekt erst zustande kommen. In seinem berühmten Aufsatz Ort (basho) von 1926 beginnt Nishida die Entwicklung seines Gedankens mit folgenden Worten: »In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie unterscheidet man Gegenstand, Inhalt und Akt und erörtert ihre Beziehung zueinander. Meines Erachtens wird aber im Grunde dieser Unterscheidung nur der Gegensatz zwischen dem sich zeitlich wandelnden Erkenntnisakt und dem akttranszendenten Gegenstand in Betracht gezogen. Um jedoch sagen zu können, dass Gegenstand und Gegenstand sich aufeinander beziehen, ein System bilden und sich selbst erhalten, ist etwas anzunehmen, das dieses System selbst erhält, in sich zustande kommen lässt und in dem sich dieses System befindet. Seiendes muss sich in etwas (nanika ni oite) befinden. Wäre dies nicht der Fall, könnte man Vorhandensein (aru) und Nichtvorhandensein (nai) nicht unterscheiden. Logisch lassen sich die Glieder einer Beziehung und die Beziehung selbst unterscheiden. Es müsste sich auch das die Beziehung Vereinigende, und dasjenige, in dem sich die Beziehung befindet (kankei ga oite aru mono) unterscheiden lassen. Versucht man, über den Akt zu reflektieren, kann man zunächst das Ich als reine Einheit des Aktes verstehen. Da das Ich aber nur dem Nicht-Ich (higa) gegenüber gedacht werden kann, muss es etwas geben, das das Gegenüberstehen von Ich und Nicht-Ich in sich umfasst und die sogenannten Bewusstseinsphänomene in seinem Inneren zustande kommen lässt. Dieses die Ideen Aufnehmende – so könnte man es auch bezeichnen – nenne ich hier, einem Wort aus Platons Timaios folgend, 185 den Ort (basho).« 186

Dieser Ort selbst ist schlechthin ungegenständlich und kann in keiner Weise verobjektiviert werden, ähnlich wie die Tathandlung bei Fichte, die lebendige Gegenwart bei Husserl oder das Sein bei Heidegger. Den letzten Ort des Hervorgehens von Wirklichkeit bezeichnet NiVgl. hierzu Platon, Timaios, 49a ff. Platon spricht dort über die chōra, die weder Sein noch Nichts ist. 186 Übersetzung aus Nishida, Logik des Ortes, 72 f. 185

378 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

shida im Sinne der schlechthinnigen Unmöglichkeit der Objektivierung als den »Ort des absoluten Nichts« (zettaimu no basho), der alles – auch Subjekt und Objekt – in sich umfasst und sein lässt. »Absolutes Nichts« nennt Nishida diesen Ort, weil er auch den Gegensatz von Sein und Nichts noch in sich fasst und sein lässt, ganz ähnlich wie auch Platon dies im Timaios andeutet. Zentral ist, bei der Wendung »Ort des absoluten Nichts« nicht an etwas Gegenständliches zu denken, sondern zurückzudenken in das Bezugsgeschehen von Welt als Geschehnis, aus dem jedes Handeln und Denken erst hervorgeht, wie es exemplarisch auch bei Fichte, 187 Husserl 188 und Heidegger 189 versucht wurde. In diesem Sinne wird als »Ort des absoluten Nichts« der Ort des Geschehens von Welt als Geschehen des Hervorgehens von Welt selbst bezeichnet. Da dieses Geschehen immer schon jeder unterscheidenden Handlung vorausgeht, aber zugleich immer nur in unterscheidenden Handlungen in die Aufmerksamkeit gehoben werden kann, wird es von Nishida – anschließend an alte asiatische Traditionen des Buddhismus und Daoismus – mit dem Wendung »Ort des absoluten Nichts« bezeichnet, der aber nie als solcher – auch nicht in einem Begriff –, sondern nur inmitten des konkreten Geschehens In seiner Vorlesung von 1804 heißt es bei Fichte: »Das Projektum der absoluten Intuition wäre daher die Vernichtung, das absolute Nichts – versteht sich dem absoluten Ansich gegenüber; und so wäre der tiefere Idealismus, der eine absolute Intuition des Lebens setzt, in seiner Wurzel, gerade durch noch tiefere Begründung des Realismus widerlegt. Als Erscheinung mag er wohl nicht wieder vorkommen: für absolut gehalten, wie er sich eben ausgab, ist er jedoch nur Schein; es bleibt daher bei der schon oben angekündigten Vernichtung unserer selbst in der Wurzel, dem Absoluten gegenüber.« (Fichte, Die Wissenschaftslehre, 123). Im Vergleich von Fichte und Nishida sieht man, dass sie an ähnlichen Fragen arbeiten, die Fragerichtung bei Nishida aber dann durch das immer stärkere Einbeziehen des Leibes in eine andere Richtung fortschreitet. 188 Husserls spätes Nachdenken über die »lebendige Gegenwart« führt ihn immer wieder in die Verlegenheit, diese selbst phänomenologisch schlechthin nicht mehr fassen zu können, da sie immer schon strömt, wenn Bewusstsein sich bildet. 189 Heidegger bedenkt bereits in Sein und Zeit verschiedene Dimensionen des Nichts, beispielsweise im »Vorlaufen in den Tod«. Spätere Reflexionen über das »Ereignis« (etwa in Beiträge zur Philosophie) oder den »Satz vom Grund« (Vorlesung 1955/56) führen in ähnliche Richtungen. In zu Lebzeiten Heideggers noch unveröffentlichten Texten zum Ereignis heißt es beispielsweise: »Das Nichts als ›Verneinung‹ des Seins genommen, verrät sich so doch schon als das Abhängige, auf das Sein Bezogene, Angewiesene, Relative. Also gibt es kein absolutes Nichts. Diese Überlegung ist voreilig; nicht nur weil sie nicht bedenkt, dass das ›Nichts‹ gleichursprünglich wie das Sein ›sein‹ könnte. Wenn also dieses ›absolut‹ ist, was erst zu entscheiden bleibt, weshalb soll nicht auch und gerade das Nichts absolut sein?« Heidegger, Das Ereignis, Bd. 71, 133. 187

379 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

von Leben selbst aufgezeigt oder selbst als Vollzug erwiesen werden kann. Philosophieren ist dabei nicht die einzige Weise, diesen Ort aufzeigen und erweisen zu können, vielmehr sieht Nishida hierfür vor allem in künstlerischen Prozessen besondere Möglichkeiten. Es sind daher nicht zuletzt die künstlerischen Prozesse, die Nishida dazu bringen, das leibliche Handeln immer stärker ins Zentrum zu rücken, wodurch sich die Reine Erfahrung und der Ort immer konkreter und leiblich-sinnlicher fassen lassen.

3.3. Handelnde Anschauung Nishida versucht, in seinem Denken immer weiter in die Tätigkeit des Bewusstseins selbst einzudringen und diese als Grundlage seiner Philosophie auszuarbeiten. Dafür nimmt er den Gedanken der Reinen Erfahrung von William James, der Tathandlung von Fichte und der Intentionalität, die sich in Noema und Noesis gliedert, von Husserl auf. Bei all diesen Ansätzen stört ihn jedoch zunehmend, dass diese noch zu sehr von einem »Ich« oder »Subjekt« ausgehen und daher die ungeschiedene Tätigkeit des Bewusstseins als Tätigkeit bzw. Geschehnis noch nicht eindringlich und konkret genug zur Grundlage des Denkens wird. Schon im Gedanken der Reinen Erfahrung ist es bei Nishida ein leiblich-sinnlicher Zusammenhang, der als eine zentrale Tätigkeit des Bewusstseins gedeutet wurde. In diesem Sinne ist es konsequent, dass der Leib und das leibliche Handeln in seinem Denken mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, so dass der Begriff des Bewusstseins als einheitliches Geschehen von Leib und Geist gedeutet wird: »Den Grund unseres Bewusstseins bildet […] notwendig das handelnde Selbst (kōiteki jiko). Als Ausdruck unseres handelnden Selbst hat der Leib die Bedeutung, dass er mit zur Grundlage unseres Bewusstseins gehört. Vom Standpunkt des bewussten Selbst aus könnte unser Leib wohl auch als Organ unseres Willens betrachtet werden; aber nicht bloßes Werkzeug ist der Leib, sondern eben Ausdruck eines tiefen Selbst auf dem Grunde des Bewusstseins. In diesem Sinne kann man sagen, dass unser Leib einen metaphysischen Sinn besitzt. Der Inhalt unseres Selbst erfordert stets ein Handeln: Wo Leib und Geist eins sind (身心一如 shinjin ichinyō), zeigt sich unser wahres Selbst.« 190 190

Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), Bd. 5, 156. Das Zitat

380 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

In diesem Zitat wird deutlich, dass Nishida durch den Schritt vom »bewussten und selbstbewussten Selbst« zum »handelnden Selbst« eine vertiefte Erforschung des tätigen Bewusstseins im Zusammenhang mit der Dimension der Leiblichkeit anzielt. Mit diesem Übergang versucht Nishida, die Grenzen der auf Descartes und Kant zurückgehenden Erkenntnistheorie zu durchbrechen, die bei ihm in der Dimension des leiblichen Handelns eine neue Fundierung erhält. In dieser Hinsicht lässt sich Nishidas Weg mit dem Heideggers in Sein und Zeit parallelisieren. Beide Denker durchbrechen den Rahmen der insbesondere auf Kant zurückgehenden Erkenntnistheorie, indem sie das konkrete leibliche Handeln als Dimension aufdecken, das jedes denkende Erkennen ermöglicht und begleitet. Kurz gesagt: Ohne leiblich-weltliches Handeln kein denkendes Erkennen. Dabei besteht der entscheidende Unterschied darin, dass bei Nishida nicht nur die sinnliche Wahrnehmung – dies wäre bei Kant auch der Fall – immer schon gegeben sein muss, sondern ein leibliches Handeln, das nicht nur allein in sinnlicher Resonanz steht mit den weltlichen Zusammenhängen, sondern aus diesen handelnd in konkreten Situationen jeweils erst hervorgeht. In diesem Sinne ist die Dimension des Handelns für die gesamte Philosophie Nishidas in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien von entscheidender Bedeutung, auch wenn er verschiedene Wege gehen musste, um dies selbst auch sprachlich zum Ausdruck bringen zu können. Letztlich realisiert sich Menschsein und auch jedes menschliche Erkennen ausgehend von leiblichen Handlungen, wobei Handeln in weitem Sinne auch als ein alltägliches Handeln, aber auch der Gebrauch von Sprache als ein solches leibliches Handeln zu verstehen ist. So wie die Reine Erfahrung ausgehend von alltäglichen Handlungen bestimmt wird, ist auch das Handeln im Sinne einer leiblichen Ausdruckstätigkeit keine besondere, abgehobene Form der Handlung. Eine wesentliche Selbstkritik an der Philosophie der Reinen Erfahrung bestand bei Nishida darin, dass durch sie die Bedeutung des Wissens nicht ausreichend geklärt werden konnte, so dass sich Nishida nach der Studie über das Gute fast 20 Jahre der Erforschung der Wissenskonstitution gewidmet hat. Ein zentrales Anliegen seines Denkens in Folge dieser Reflexionsbemühungen ab 1930 stammt aus dem Aufsatz Die intelligible Welt, der 1943 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde: Nishida, Die intelligible Welt. Drei philosophische Abhandlungen.

381 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

war dann, Handeln und Wissen in grundsätzlicher und radikaler Weise zu verbinden. Der von Nishida geprägte Neologismus handelnde Anschauung (kōiteki chokkan) versucht dies zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht die intellektuelle Anschauung, wie bei Fichte und Schelling, sondern die handelnde (damit ist die leibhafte Dimension gemeint) Anschauung (damit ist der Aspekt des Selbstbewusstseins und der Rückbezüglichkeit des Handelns im Handeln auf sich selbst gemeint). Das Selbstbewusstsein wird gelöst von der alleinigen Bindung an das intellektuelle Denken und geht durch das Einbeziehen der leiblichen Dimensionen über in ein leibhaftes Selbstgewahren, wobei in dieser Wendung auch die buddhistischen Konnotationen besonders zu beachten sind. Die handelnde Anschauung ist zum einen die schöpferische Bewegungsweise der Wirklichkeit selbst – auch ohne Bewusstsein von ihr – und zum anderen kann die Erfahrung dieser Bewegungsweise eigens zum Ausgangspunkt der philosophischen Bestimmung werden. Philosophische Bestimmungen und damit auch der Gebrauch von Sprache werden demnach aus der Selbsterfahrung des leiblichen Handelns erzeugt und entwickelt, was Nishida in spezifischer Weise vom traditionellen Begriffsdenken in Europa unterscheidet. Eine der wenigen Richtungen innerhalb der europäischen Philosophie, die einen ähnlich gelagerten Ausgangspunkt durch ihren Rückgang auf die Dimension der Erfahrung aufweist, ist die Phänomenologie. Nishida geht es in seiner besonderen Form von »Phänomenologie« aber nicht primär um die Einzelphänomene in ihrer Bedeutungsstruktur, sondern um den Ort, in dem die Einzelphänomene erst zustandekommen und der sich als »Selbstbestimmung des absoluten Nichts« (絶対無の自己限定 zettaimu no jikogentei) im weiter oben angedeuteten Sinne immer hier und jetzt konkret vollzieht. Die »Selbstbestimmung des absoluten Nichts« als das offene, unbestimmte Geschehen selbst im Bestimmen des Bestimmbaren ist Vollzug der handelnden Anschauung, die immer das Geschehen einer konkreten Ausdruckssituation sein muss. Nishida versucht zu zeigen, dass sich in jedem Geschehen die Selbstbestimmung des absoluten Nichts in Erscheinung bringt als das verborgene, sich schlechthin entziehende und nicht zu objektivierende Ursprungsgeschehen von Welt. Zudem kreist sein Denken darum, wie sich dieses Geschehen im menschlichen Leben realisieren und gewahren lässt. Dies geschieht nach Nishida immer in konkreten geschichtlichen Welten, die in kreativer Weise jeweils fortwährend neue Konstellationen hervorbringen. 382 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

Die »Selbstbestimmung des absoluten Nichts« kann sich zeigen und erweisen im leibhaften Begreifen der Dinge und der Wirklichkeit im Sinne eines schöpferischen Geschehens, in dem sowohl das Begriffene wie auch die Begreifenden fortlaufend neu bestimmt werden. Von hier aus erscheint das Außenweltproblem, wie es in bestimmten Formen der Erkenntnistheorie behandelt wird, als abgeleitete Fragestellung. Das Problem entsteht erst, wenn Erkennen auf bloße Gegenstandserkenntnis reduziert wird, bei der bereits die Unterscheidung von Subjekt und Objekt in eindeutiger Weise vorausgesetzt wird. In der handelnden Anschauung gestalten und sehen sich Mensch und Dinge gegenseitig in schöpferischer Weise, 191 so dass in diesem leiblichen Gestaltungsprozess sich auch das Ursprungsgeschehen von Geschichtlichkeit bis in kleinste Akte des Handelns hinein zeigt. Indem sich alles fortlaufend leiblich und ausdruckhaft in handelnder Anschauung bestimmt, treten immer neue Gestalten des Lebens hervor, so dass für Nishida die Dimension der verschiedenen geschichtlichen Welten von zentraler Bedeutung ist. »Was ich die handelnde Anschauung nenne, ist ein Gestaltungsakt der Geschichte. Die geschichtliche Gegenwart ist die orthafte Bestimmung, in der die Dinge geschaffen werden und hervorgehen; es handelt sich hier um die Selbstbestimmung der geschichtlichen Natur. Ich sehe durch Handeln Dinge. Aber selbst die Handlungen als solche entstehen aus der geschichtlichen Natur. Das handelnde Selbst hat so den Sinn einer Einzelbestimmung der geschichtlichen Natur.« 192

In der handelnden Anschauung wird der Mensch so in das Geschehen der Wirklichkeit hinein genommen, dass er selber zu einem Moment im Ort des Geschehens von Welt wird. In diesem Ort des Handelns gestaltet sich Welt, oder anders gesagt: kommt Welt zur Welt. Nishida nennt in dem gerade herangezogenen Zitat die Welt auch »geschichtliche Natur«, was andeuten soll, dass die Unterscheidung von Natur und Geschichte nicht als substanzialisierter Gegensatz zu verstehen ist, sondern in der handelnden Anschauung sich Natur und Geschichte in radikaler Weise durchdringen und gegenseitig hervortreiben. Dies geschieht immer hier und jetzt und ist somit zugleich die Welt des alltäglichen Vollzugs.

Dass dieser Gedanke auch in Europa nicht völlig unbekannt ist, zeigt beispielsweise das Gedicht von Rilke Archaischer Torso Apolls aus dem Jahre 1908. 192 Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), Bd. 8, 89. 191

383 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

»Die Welt der geschichtlichen Gegenwart ist die Welt der äußerst konkreten Alltäglichkeit. […] Die Welt der wirklichen Alltäglichkeit ist die von mir so genannte Welt der handelnden Anschauung. In ihr liegt immer ein Mittelpunkt der geschichtlichen Welt.« 193

In der Perspektive der handelnden Anschauung ist die Geschichte nicht primär der historische Überblick zu Tatsachen im Verlauf der Zeit. Geschichte ist vielmehr die sich konkret in jeder leiblichen Handlung ausgestaltende Zeit selbst, die sich nicht trennen lässt von der konkreten Alltäglichkeit. Die besondere Fähigkeit des Menschen liegt nach Nishida darin, dieses Zur-Welt-Kommen gewahren und ein Selbstbewusstsein dieser Geschichtlichkeit erlangen zu können. Dabei gewahrt der Mensch das Geschehen der Selbstbestimmung des absoluten Nichts als das Zur-Welt-Kommen von Mensch und Geschichte und wird damit in seinem eigenen leiblichen Vollzug zum Selbstgewahren des Weltgeschehens, in dem Welt als Geschehen sich selber zur Welt bringt. In diesem Gewahren ist jede objektivierende Perspektive aufgegeben. Was bleibt und sich zeigt, ist die Performativität von Welt selbst als Performativität. Diese verweist auf nichts anderes als auf sich selbst. Die Performativität selbst bedeutet nichts, da sie zeigt und im Vollzug erweist, wie Bedeutung entsteht. »Die Ebene […] des Raumes, der ineins und zugleich Zeit und der Zeit, die ineins und zugleich Raum ist, ist immer wirklich als die Welt der handelnden Anschauung und genau dort entsteht Welt. Von dort aus ist die Welt der Subjekte und Objekte zu verstehen.« 194

Die bisher entwickelten Gedanken drängen immer stärker die Frage nach den möglichen Konsequenzen für das Philosophieren insgesamt – vor allem hinsichtlich seiner Formen – in den Vordergrund. Wie kann überhaupt noch philosophiert werden, wenn sich die entscheidenden philosophischen Ebenen einer objektivierend begrifflichen Analyse entziehen und, wie Fichte sagt, im Denken nur »aufgesucht« werden können? Welche sprachlichen Formen könnten dem Philosophieren hierfür zur Verfügung stehen? Es ist bekannt, dass nicht nur Heidegger, sondern auch Wittgenstein mit den Strukturen der Sprache gekämpft hat, die vor allem durch die indoeuropäischen Formen der Grammatik geprägt sind. Nishida denkt und philosophiert hinNishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), Bd. 8, 68 f.; deutsch in: Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, hg. v. Ōhashi, 102. 194 Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), Bd. 8, 123. 193

384 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

gegen in japanischer Sprache. Wenn dies für das Denken nicht bedeutungslos ist, stellt sich die Frage, ob sich in seinem Sprachgebrauch Ebenen entdecken lassen, die vor allem mit der besonderen Struktur der japanischen Sprache verbunden sind. Dies bedeutet nicht, dass dies dann nur auf Japanisch zu denken wäre, vielmehr heißt es, dass die japanische Sprache bestimmte Weisen des Sprachgebrauchs im Vergleich zu anderen Sprachen eher nahelegt und erleichtert, um gewissen Gedanken flüssiger eine sprachliche Form geben zu können. Um dieser Vermutung nachzugehen, möchte ich im letzten Abschnitt der besonderen Weise des Sprachgebrauchs bei Nishida nachgehen, um in Rückwirkung auch den Sprachgebrauch in der deutschen Sprache anders und neu befragen zu können.

3.4. Denken als »handelnde Anschauung« und die grammatische Form des Mediums Bei Formulierungen wie »Bestimmung des absoluten Nichts« werden sich philosophisch kompetente Leser in Europa fragen, ob dieses Geschehen für die Philosophie überhaupt noch eine Bedeutung haben kann oder ob das sprachliche Denken hier nicht einfach versagt und es vielmehr nur auf ein Geschehen hinweisen muss, das es selbst in keiner Weise mehr fassen kann. Diese Konsequenz müsste gezogen werden, wenn die Sprache in der Philosophie vor allem oder allein eine objektivierende Funktion besäße und Wahrheit sich allein in wohldefinierten Aussagen finden würde, was sicher seit Aristoteles das in Europa dominierende Modell der philosophischen Sprache gewesen ist. Wenn aber Sprache und Sprachgebrauch selbst als ein Handeln im radikalen Sinne verstanden werden kann, so scheint es auch noch andere Möglichkeiten zu geben, die zuvor entwickelten Gedanken – die sich nicht nur auf das Philosophieren in Japan beschränken, sondern sich auch in Europa mehrfach finden – mit der Sprache zu verbinden. Denn wenn das Denken die handelnde Anschauung nicht nur als den objektivierten Grund der Wirklichkeit darzustellen versucht, sondern Philosophierende daran arbeiten, die Sprache selbst zu einer handelnden Anschauung werden zu lassen, in der sich Bewusstsein und Leib zugleich vollziehen, so könnte in dieser Weise des Philosophierens ein gewandelter Bezug zur Sprache erzeugt werden. Die philosophische Analyse schlägt somit zurück auf die Tätigkeit des Denkens selbst und erzwingt die Suche nach neuen 385 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

Formen des Sprachgebrauchs. Denn wenn das Denken selbst noch nicht als handelnde Anschauung vollzogen wird, stellt es das Geschehen von Wirklichkeit und Welt in objektivierter Form dar, ohne im Gebrauch der Sprache zeigen und erweisen zu können, dass auch das Denken selbst aus der handelnden Anschauung hervorgeht. Für das Denken bedeutet dies, dass es einen Umgang mit der Sprache finden muss, der sich selbst als handelnde Anschauung im zuvor entwickelten Sinne erweist. Wie könnte ein solcher Sprachgebrauch aussehen? Als Ausgangspunkt für meinen Gedanken möchte ich folgende These setzen: Ganz ähnlich wie bei Heidegger ist es bei Nishida die grammatische Forum des Mediums, die seinen sprachlichen Ausdruck und sein Denken in hohem Maße bestimmt. Auch wenn Nishida die grammatische Form des Mediums selbst nicht thematisiert, ist sie dennoch auf der Textebene an vielen Stellen präsent, da das Medium auch im modernen Japanischen durchaus gebräuchlich ist. Dies ist bisher wenig bemerkt worden, da die japanische Grammatikschreibung sich weitgehend an den Beschreibungen der lateinischen Sprache orientiert, wo diese grammatische Form nicht existiert oder nicht als solche beschrieben wird. Wie in vielen anderen Sprachen – z. B. im Altgriechischen – 195 ist im Altjapanischen das Passiv aus den Formen des Mediums erwachsen. Durch diesen Zusammenhang wird auch das Passiv in eine andere Interpretationsperspektive gerückt. Denn wenn mir etwas »passiv« widerfährt, dann finde ich mich inmitten eines Geschehens, das ich nicht von einer gesicherten Subjektposition aus steuern kann. Im altjapanischen Medium gehen die Bedeutungen spontanes Geschehen, Passivität und Potentialität eine eigentümliche Verbindung ein. Es lässt sich nicht immer abschließend klären, ob das eine oder das andere gemeint ist. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Ein heute noch geläufiges japanisches Verb im Medium lautet: omoeru 思える. Die Übersetzung in die deutsche oder englische Sprache fällt nicht leicht. Letztlich kann bei der Übersetzung nur auf das Reflexivpronomen und ein »es« zurückgegriffen werden, so dass übersetzt werden kann: »es denkt mir«. 196 Diese Form wird deutlich unterschieden von der Form omou, die kontextabhängig mit »ich Vgl. Kemmer, The Middle Voice. In einem süddeutschen Dialekt ist auch heute noch die Wendung »es denkt mir, dass …« geläufig. Ein weiterer, vor allem in der dichterischen Sprache bekannter Ausdruckt hierfür ist: »mir deucht, dass«.

195 196

386 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

denke« oder »du denkst« usw. übersetzt wird. Es handelt sich hier um ein alltagssprachliches Phänomen. Was kann die Medialform »es denkt mir« bedeuten? Wenn man von der Bestimmung des Mediums im Altjapanischen ausgeht, so können in dem Wort omoeru verschiedene Ebenen im Spiel sein. Ein Gedanke kann erstens ganz »von selbst« in mir auftreten, ohne dass »ich« ihn mir »ausgedacht« hätte. Im Deutschen gibt es die Wendung »mir kommt ein Gedanke«, die dann verwendet wird, wenn ich eine gute Idee habe, die aber eher unerwartet auftaucht. Ein von selbst hervortretendes Denken kann somit auch ein schöpferisches Denken sein, von dem ich selbst überrascht werde. Kommt ein Gedanke in dieser Form, so wird zweitens auch eine Möglichkeit im Denken deutlich, die zuvor noch nicht gedacht worden ist. 197 Diese Überlegungen werden im alltagssprachlichen Gebrauch sicher nicht bewusst, zeigen aber eine mögliche Vollzugsqualität des Denkens an, die in der weiteren Interpretation von Nishidas Denken von Wichtigkeit ist. In dem Aufsatz Poiesis und Praxis aus dem Jahr 1940 spricht Nishida über die Wendung, die diesen Zusammenhang explizit deutlich macht und in seinem späten Denken eine zentrale Rolle spielt. Dort heißt es: »Die Wendung ›zur Sache werden und denken, zur Sache werden und handeln‹ (mono to natte kangae mono to natte okonau) wird von vielen als etwas Intuitives und Unlogisches aufgefasst. Dies geschieht, weil der östliche Geist als etwas Unlogisches gedeutet wird. Ich meine hingegen, dass ›zur Sache werden‹ bedeuten muss, zu einem Sachverhalt der geschichtlichen Welt zu werden. […] Zur Sache werden und denken, zur Sache werden und handeln muss bedeuten, poietisch und zugleich praktisch, geschichtlich und natürlich zu wirken.« 198

Nishida meint, dass wir, wenn wir »zur Sache werden«, denkend und handelnd eingehen in den Prozess geschichtlicher Gestaltung. Dieses Eingehen ist aber weder einfach nur passiv, noch ist es nur aktiv. Man könnte hier im Sinne der Logik des Ortes sagen, dass es ein Vorgang ist, wie er vor allem in der ersten Bedeutung des Mediums zum Ausdruck kommt. Der Ort geschichtlicher Gestaltung ist ein aus sich selbst (自発的 jihatsuteki) hervorgehender Prozess, in dem alle Mo-

Das Passiv und die Höflichkeitsform spielen an dieser Stelle keine besondere Rolle, so dass sie unbehandelt bleiben. 198 Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), Bd. 10, 158. 197

387 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

mente der geschichtlichen Gestaltung sich gegenseitig ausdruckshaft hervortreiben. Nirgendwo ist ein absolutes Zentrum zu finden, da alles in wechselseitiger Resonanz Bestimmtes und Bestimmendes zugleich ist. Das sich gegenseitige Durchdringen aller Momente kann als ein mediales Feld gedeutet werden. Dieses mediale Feld in seiner Performativität als Bestimmung des Bestimmungslosen ist das, was Nishida die »Logik des Ortes« (basho no ronri) nennt. Von hier aus stellt sich nun die Frage, wie es um das Denken Nishidas selbst bestellt ist. Denkt Nishida in der grammatischen Form des Mediums? Es ist vor allem ein Wort in einer bestimmten Form, das Nishida bereits in der Studie über das Gute des Öfteren verwendet und das später immer häufiger in seinen Texten zu finden ist: 考えられる kangae-rare-ru. 199 Dieses Wort kommt in verschiedenen Wendungen vor: kangae-rare-ru no de aru, kangae-rare-nakereba naranai, kangae-rare-ru mono de nakereba naranu usw. 200 Die grammatische Form des Wortes wird gewöhnlich entweder als Potential (»denken können«) oder als Passiv (»gedacht werden«) gedeutet, da beide Möglichkeiten die gleiche grammatische Endung aufweisen. Schaut man nun zurück auf die Herkunft beider Formen, so liegt vor allem im Altjapanischen die Form des jihatsu (aus sich selbst hervorgehen, Spontaneität) im Hintergrund beider Bedeutungen. Vor allem für die Potentialform gilt: »It is important to note that the potential meaning also includes the sense that a condition naturally arises (spontaneity)« 201. Da die Beschreibung der modernen japanischen Sprache z. B. im Deutschen oder Englischen die Form des Mediums nicht einbezieht, werden alle Wörter, in denen noch mediale Bedeutungen mitschwingen, auf die Potentialform oder das Passiv festgelegt. In den Texten Nishidas ist vielfach nicht wirklich zu entscheiden, ob er die Potentialform oder das Passiv oder beides meint. Löst man sich aber von dieser Unterscheidung, so kann zumindest die Perspektive erwogen werden, dass in Nishidas Verwendung von kangaerareru auch eine mediale Bedeutung im ersten Sinne mitschwingt. Diese Deutung kann aus dem zuvor angeführten Beispiel gestützt werden. Wenn dies der Fall sein sollte, so gibt dies den Blick frei auf den Voll-

In dem Text Zettai mujunteki jiko dōitsu (Bd. 9 der Gesamtausgabe, 147–222) kommt das Wort über hundert Mal vor. 200 Bei Nishida kommen zusätzlich häufig Wörter wie serareru, mirareru, iwareru usw. vor. 201 Ikeda, Classical Japanese Grammar, 112. 199

388 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Handelnde Anschauung« bei Kitarō Nishida

zug des Denkens bei Nishida: Nishida denkt nicht »etwas«, sondern in ihm ermöglicht sich ein Denken, das von selbst aus dem Ort des Denkens hervortritt im Sinne eines medialen Denkens. Dies wäre die Bedeutung des Mediums in Bezug auf das Denken, das sich selbst im Denken als Denken zeigt und erweist. Das Denken denkt sich selbst im Ort des Denkens. Denkend sich selbst denken hat zur Folge, dass sich das Denken unablässig verwandelt. Denn ohne Bewegung ist das Denken nicht das Denken des Denkens. Blickt man von dieser Deutung aus auf die Texte Nishidas, so drängt sich die These auf, dass Nishida diese Bewegung des Denkens in seinen Texten nicht verwischt, sondern das Geschehen des Denkens als Geschehen zur zentralen Form seiner Texte gemacht hat. 202 In diesem Sinne ließe sich auch die Vorliebe für das Verb kangaerareru aus der Weise des Denkens und seiner schriftlichen Realisierung verstehen. Er hat nicht nach einer langen Phase des Schreibens seine Gedanken im Nachhinein systematisch geordnet dargestellt. Vielmehr irritieren die Texte Nishidas nicht nur europäische Leser dadurch, dass man ihm in seinen Texten gleichsam beim Denken zusehen kann. Es kann vorkommen, dass in einem Aufsatz die Position, die zu Anfang vertreten wurde, sich im Laufe des Textes verändert. Dies lässt vermuten, dass Nishida im Schreiben gedacht hat, was nicht ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich ist nur, dass er diese Texte nicht als Entwürfe oder Notizen verstanden hat, sondern als seine eigentlichen philosophischen Beiträge. Da Nishida als Denkanleitung den Spruch »Zur Sache werden und denken, zur Sache werden und handeln« wählte, seine Texte direkte Spuren seiner Denkbewegung zu sein scheinen und er zudem das Verb kangaerareru in verschiedenen Zusammensetzungen auffällig oft verwendet, möchte ich hier folgende These formulieren: Nishida denkt und schreibt in der grammatischen Form des Mediums Aus dem gleichen Grund spielt auch bei Derrida das Medium eine zentrale Rolle: »Wir werden sehen, warum, was sich durch ›différance‹ bezeichnen lässt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form (voix moyenne) ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken lässt. Nun hat aber wohl die Philosophie mit der Aufteilung der medialen Form (voix moyenne), einer gewissen Nicht-Transitivität, in Tätigkeitsform und Leideform eingesetzt und sich in dieser Repression konstituiert.« Derrida, Die différance, 84.

202

389 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

»Mediale« Handlungsformen

und so bleibt auch sein Denken in der Weise der handelnden Anschauung immer eine innige Verbindung von Theorie und Praxis. Die nun folgenden Überlegungen zu einer transformativen Phänomenologie werden die Konsequenzen dieses Gedankens für ein phänomenologisches Denken weiter ausloten. Ich möchte versuchen, die handelnde Anschauung bei Nishida durch das Motiv einer transformativen Phänomenologie weiterzuentwickeln. Die Weiterentwicklung soll einerseits in methodischer Hinsicht erfolgen, indem der Gedanke der handelnden Anschauung mit bestimmten Strömungen innerhalb der Phänomenologie verbunden wird, und zum anderen soll dieses Vorgehen mit Themen verbunden werden, die das Philosophieren in einer globalisierten Welt weiter zu entfalten versprechen.

390 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

C. Transformative Phänomenologie und das Philosophieren in einer globalisierten Welt

»Das Leben des Denkens besteht darin, an irgendeinem Punkt eine Verbindung von Neuem und Altem zu bewirken, von tief verwurzelten Bräuchen und unbewußten Dispositionen, die durch irgendeinen Konflikt mit neu auftauchenden Richtungen der Tätigkeit an das Licht der Aufmerksamkeit gebracht werden. Philosophien, die in charakteristischen Perioden auftreten, definieren die größeren Kontinuitätsstrukturen, die entstehen, wenn zwischen einer widerspenstigen Vergangenheit und einer drängenden Zukunft dauerhafte Verbindungen geschaffen werden. […] Philosophie steht deshalb im engsten Zusammenhang mit der Geschichte der Kultur. […] Aber Philosophie ist nicht einfach nur ein passiver Reflex der Zivilisation, der durch den Wechsel hindurch dauert und sich in der Dauer verändert. Sie ist selbst eine Veränderung; die Strukturen, die in dieser Verbindung des Neuen und des Alten gebildet werden, sind eher Prophezeiungen als Berichte; sie sind Strategien, Versuche, späteren Entwicklungen zuvorzukommen. […] Auf diese Weise bezeichnet Philosophie einen Wandel der Kultur. […] Ich habe der Philosophie eine demütigere Funktion gegeben als üblich. Aber Bescheidenheit hinsichtlich ihres endgültigen Platzes ist nicht unvereinbar mit Kühnheit bei der Aufrechterhaltung dieser Funktion, so demütig sie auch sein mag. Eine Kombination aus solcher Bescheidenheit und Mut bietet die einzige Möglichkeit, die ich kenne, wie der Philosoph seinen Mitmenschen mit Offenheit und Menschlichkeit ins Gesicht schauen kann.« 203

John Dewey, der Autor dieser Zeilen, hat sich zeit seines Lebens als lebendiges Moment einer kulturellen Bewegung verstanden. Für ihn war Philosophie nicht mit dem Wunsch verbunden, ein letztes, endgültiges Wissen zu konzipieren, sondern vielmehr mit der Hoffnung, die konkreten Gegebenheiten des menschlichen Lebens fruchtbar und zukunftsoffen mitzugestalten. Bei ihm lief dies nicht allein auf eine Philosophie der Lebenskunst im einfachen Sinne hinaus, sondern auf das Ernstnehmen verschiedener Ansätze im Rahmen menschlicher Wissenstraditionen. Auch die Naturwissenschaften waren für ihn 203

Dewey, Philosophie und Zivilisation, 7 ff., 15.

391 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

von zentraler Bedeutung, jedoch nicht so, dass er sich von ihnen allein das ganze Heil versprach. Ebenso wie die Naturwissenschaften verstand er Ästhetik und Pädagogik als wichtige Disziplinen im Kanon der kulturellen Gestaltungskräfte, die nicht zu vernachlässigen sind. Auf der Basis seines Pragmatismus verfolgte er nicht allein die Steigerung der Effizienz aller menschlichen Möglichkeiten. Der Mensch selber, seine Lebensqualitäten und die Umwelt standen im Mittelpunkt für die Entfaltung eines lebensnahen und lebendigen Philosophierens. Eine solche Haltung im Rahmen der Philosophie ist auch der antik-europäischen Tradition der Philosophie nicht unbekannt. Erst seitdem sich die Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert in die Universitäten zurückgezogen hat, um ausgesuchten historischen oder systematischen Spezialfragen nachzugehen, ist ein Bild von der Philosophie auch in der Öffentlichkeit entstanden, das sie fast ausschließlich mit »Weltfremdheit« verbindet. Demgegenüber war die Philosophie am Anfang der europäischen Tradition angetreten, um die weltlichen Zusammenhänge zu erschließen und zu reflektieren für ein gelingendes Leben. Bei den alten Griechen war immer das Leben selber die zentrale Ausrichtung allen Philosophierens. Philosophieren bestand aus Übungen, die den Menschen auf verschiedenen Ebenen mit sich selbst und dem menschlichen Zusammenleben vertrauter machen sollten. 204 Diese Übungen beschränkten sich keineswegs nur auf schwer zu lösende Denkaufgaben, sondern gaben Hinweise für den Umgang mit der Zeit, den Tugenden, dem Tod, dem Denken, der Mathematik, der Natur und anderen wichtigen Zusammenhängen des Lebens. Pierre Hadot hat in seinen Büchern 205 unermüdlich auf diese alten Traditionen hingewiesen und damit Impulse geliefert, die alten Formen des Denkens für ein Philosophieren in der Gegenwart erneut wirksam werden zu lassen. Eine einfache Wiederbelebung dieser alten europäischen Philosophietraditionen ist heute sicher aus vielerlei Gründen nicht mehr möglich. Denn wir leben in einem Zeitalter, das in vielen Gegenden der Erde längst zu einer Durchdringung verschiedener Denktraditionen geführt hat. Die europäische Philosophie ist in Asien ebenso beVgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Es sei hier nur auf zwei Bücher von Hadot hingewiesen: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit; Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?

204 205

392 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

kannt wie die philosophischen Traditionen Indiens, Chinas und Japans in Europa inzwischen auf eine längere Rezeption zurückblicken können. Auch in der Beziehung zu anderen Teilen der Erde ist Ähnliches zu beobachten, jedoch mit unterschiedlichen Gewichtungen. Auch wenn an dieser Stelle vieles über das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse im philosophischen Diskurs zwischen den Kulturen gesagt werden könnte, soll dieser Aspekt hier nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr soll der Blick darauf gerichtet werden, wie das Philosophieren als lebendiges Element der gegenwärtigen kulturellen Gestaltung verstanden werden kann. Über das von Dewey in der Eingangspassage Gesagte hinaus ist danach zu fragen, wie sich das Philosophieren – auch im Bewusstsein seiner politischen Verantwortung – der Aufgabe stellen kann, sich zwischen verschiedenen Kulturen bzw. Modernen zu bewegen und zu entfalten. Der zuletzt genannte Aspekt ist natürlich nicht neu. Die Bewegungen der »komparativen« und »interkulturellen Philosophie« haben inzwischen vieles in offenere Perspektiven rücken können, worauf im zweiten Kapitel bereits ausführlicher eingegangen worden ist. In diesen Ansätzen und Auseinandersetzungen wird klar, dass sich keines der Probleme, die sich in den Kulturen oder Modernen, aber auch weltweit und in globaler Perspektive stellen, ohne den Polylog zwischen verschiedenen Geistestraditionen in neue und fruchtbare Frageperspektiven überführen lässt. Im Rahmen dieser Herausforderungen kommt dem Philosophieren – verstanden als kultureller Praxis der reflexiven Vermittlung und Verwandlung – eine neue und wichtige Rolle zu. Um eine solche Art der kulturellen Praxis zu etablieren, ist eine Umgewichtung bestimmter philosophischer Ziele kaum zu umgehen. Solange sich Philosophie nur als »Wissenschaftslogik« oder als Suche nach formalen und universalen Strukturen versteht, kann sie sich nicht öffnen für die brisanten und schwierigen Fragen gegenwärtiger kultureller Konflikte. Philosophieren als kulturelle Praxis ist aufgefordert, im Zusammenhang mit anderen Praktiken des Wissens Wege kultureller Gestaltung zu suchen, die ein Leben in Verschiedenheit und in Freiheit ermöglichen. Das Philosophieren allein wäre mit dieser Aufgabe selbstverständlich überfordert. Es bedarf, wie Dewey sagt, der »Bescheidenheit« und des »Mutes« zugleich, um sich den kulturellen Aufgaben zu stellen, die sich heute in globalisierter Perspektive aufdrängen. Um ein Philosophieren in der globalisierten Welt zu realisieren, ist es notwendig, sich über die Grenzen der eigenen Wissensordnung 393 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

und der eigenen Muttersprache hinauszubewegen. Ein solcher Weg ist verbunden mit einschneidenden Erweiterungen und Veränderungen, die auch die Philosophierenden selbst nicht unberührt lassen. Um die tiefgreifenden Veränderungen der philosophischen Gehalte und der philosophierenden Personen reflektieren zu können, gehe ich aus von der Wendung »transformative Phänomenologie«, die sich mir durch die Reflexion des Zeit-Phänomens im Buddhismus nahegelegt hat. 206 Sie soll ein methodisch offenes Philosophieren ermöglichen, das auf die globalisierte Situation des Denkens antworten kann. Ein solches Verständnis des Philosophierens ist meines Erachtens notwendig, um die unvorhersehbaren und häufig auch fremden Möglichkeiten des Philosophierens im globalen Kontext nicht von Anfang an auszuschließen durch ein dogmatisches Beharren auf selbstgesetzte Grenzen, die nicht mehr kritisch befragt werden können und dürfen. Die Dimension des Transformativen hält schon seit mehreren Jahrzehnten Einzug in verschiedene philosophische Debatten. Auch bestimmte Richtungen in der Phänomenologie zeigen einen Weg, der in besonderer Weise den Gedanken einer »transformativen Phänomenologie« nahegelegt und vorgeprägt hat. Dieser Gedanke wurde in der Philosophie nach dem 2. Weltkrieg zudem aus anderen philosophischen Richtungen verstärkt. Die Neuaneignung der antiken Philosophie unter dem Stichwort »therapeia« ließ den Transformationsgedanken in seiner Bedeutung für die Gestaltung eines gelingenden Lebens bereits in den 1950er Jahren ins Zentrum philosophierender Aufmerksamkeit treten. Im Rahmen der komparativen Philosophie führten Vergleiche mit indischen Denkern Ende der 1970er Jahre zu der Idee einer »transformative philosophy«. In beiden genannten Kontexten spielte auch die Philosophie Wittgensteins eine zentrale Rolle. In der philosophischen Zusammenführung von Buddhismus und Phänomenologie entstand dann in den 1990er Jahren erstmalig das Motiv einer »transformative phenomenology«. In meinem eigenen Nachdenken habe ich unabhängig von den genannten Arbeiten erstmalig 2001 das Motiv einer »transformativen Phänomenologie« im Rahmen einer Analyse des Phänomens der Zeit bei verschiedenen buddhistischen Denkern entwickelt. Erst die gegenwärtigen Möglichkeiten der Internet-Recherche machten mir deutlich, dass das von mir verfolgte Motiv nicht neu war. Viel206

Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus.

394 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »Philosophie als Therapie«

mehr zeigte sich bei genauerem Hinsehen, dass sich bereits seit längerer Zeit in verschiedenen Bereichen philosophischer Forschung ein neuer Blick auf das Philosophieren entwickelt hatte, wobei vor allem die Auseinandersetzung zwischen europäischen und asiatischen Weisen des Philosophierens von zentraler Bedeutung war. In den vier nächsten Abschnitten möchte ich bestimmte Linien dieser Entwicklung vorstellen, um für die Bestimmung methodischer Grundlinien transformativer Phänomenologie daran anschließen zu können. Durch die Zusammenführung und Verflechtung der Ansätze können sich neue philosophische Synergien ergeben zwischen antiker griechischer Philosophie, indischen und ostasiatischen Ansätzen sowie der Phänomenologie und Sprachphilosophie, so dass sich Kennzeichen des Philosophierens in einer globalisierten Welt weiter bedenken lassen.

1.

Die Wendung »Philosophie als Therapie«

Das altgriechische Wort therapeia besitzt im älteren Sprachgebrauch drei Grundbedeutungen: 1. Dienen, Achtungsbezeigung, 2. Wartung, Pflege, Heilung, 3. Dienerschaft, Gefolge. 207 Im heutigen deutschen Sprachgebrauch ist nur noch die zweite Grundbedeutung erhalten geblieben, die sich zudem allein auf den medizinischen und psychologischen Bereich beschränkt. Im Sprachgebrauch Platons ist das Wort therapeia hingegen nicht nur dem medizinischen Bereich vorbehalten, sondern dient der Auslegung der Tätigkeit des Philosophierens. Die Interpretationen der Texte Platons im 19. und 20. Jahrhundert hatten diese Bedeutung des Philosophierens weitgehend in den Hintergrund gedrängt. Als Robert Earl Cushman 1958 sein Buch Therapeia. Plato’s conception of philosophy vorlegte, wurde die genannte Grundbedeutung zurückgewonnen: »For Plato, philosophy is not disinterested ratiocination, though there is plenty of room in it for acute logical analysis and for probing reflection. Rather, it is, essentially, a way of life, a way out of chaos in human existence. Its root impulse is man in trouble with unresolved contradiction in his spirit, a contradiction which manifests itself in calamitous social derangements. As called forth by a destructive distortion in human life and experience,

207

Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, 372.

395 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

philosophy offers itself as a therapy. But it begins with diagnosis, and only thereafter supplies its distinctive method of release and transformation.« 208

Nach dieser Deutung bietet die Philosophie Platons dem Menschen reflexive Möglichkeiten, um die Schwierigkeiten im Umgang mit sich selbst, den anderen Menschen und der Welt zunächst zu beleuchten und zu reflektieren, so dass aus diesen Reflexionen Mittel und Wege entstehen können, anstehende Probleme, Schwierigkeiten und Widersprüche, die durch die methaphorische Verwendung von therapeia als »Krankheiten« gesehen werden, zu lindern oder gar zu heilen. Bei Platon werden das Wort therapeia und die entsprechenden Verbalformen im Zusammenhang mit der Seele und der Polis verwendet. 209 Die Themen gehören dabei außerdem zusammen mit dem, was Platon über paideia 210 und epimeleia 211 sagt. Insgesamt geht es darum, dass die Seelen der Menschen durch das Philosophieren eine »Pflege« und »Bildung« erfahren, die sie nicht nur bereit macht, mit sich selbst umzugehen, sondern auch befähigt, in der Polis menschlich zu handeln. 212 In diesem Sinne führt Platon das Philosophieren mit der Tugendbildung zusammen, um ein gelingendes Leben in menschlicher Gemeinschaft zu fördern. »The marriage of knowledge and virtue, either in the individual life or in the body politic, is the principal goal of Plato’s therapeia. This conjunction is sophia, and it is the true wisdom that promises salvation to men and to society.« 213

Diese Interpretation platonischen Denkens führt das Philosophieren eng heran an die politische Praxis, die nur dann gelingen kann, wenn die Menschen dafür vorbereitet werden. Die therapeutische Wirkung des Philosophierens stärkt die »Gesundheit« der Menschen durch die Sorge um sich, so dass ihr Handeln in der Gemeinschaft einem gelingenden Zusammenleben dienen kann. Das Wort therapeia verbindet den philosophischen und medizinischen Bereich auf das Engste. Durch diese Verbindung wird das Philosophieren zu einem »Heilmittel«, das für bestimmte KrankheiCushman, Therapeia. Plato’s conception of philosophy, XV. Laches 186a f., Gorgias 513d f., Kratylos 440c. 210 Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 211 Foucault, Hermeneutik des Subjekts. 212 Hierfür sind insbesondere die Ausführungen im Alkibiades I von zentraler Bedeutung. 213 Cushman, Therapeia, 295. 208 209

396 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »Philosophie als Therapie«

ten der Seele eingesetzt werden kann. Diese Metaphorik deutet den Akt des Philosophierens als eine Transformation, die aber ein klares Ziel hat, nämlich die Gesundheit bzw. die gesunde Seele. Die Philosophierenden werden durch die Philosophie nicht in offener und zufälliger Weise verändert, sondern auf ein bestimmtes Ziel hin transformiert, das im »guten Leben« besteht. Dies impliziert, dass es Philosophierende gibt, die dieses Ziel kennen und alle anderen, die sich noch in Verwirrung befinden, dorthin führen können. Vor allem der späte Platon weiß genau, wohin die Menschen, die in Verwirrung leben, zu führen sind. Dies zeigt letztlich auch sein berühmtes Höhlengleichnis. In der platonischen Philosophie werden Therapie und Transformation ausgehend von einem klar bestimmten Ziel gedacht, das aber nur erreicht werden kann, wenn die Philosophierenden sich in genau diesem Sinne verändern. Diese Platon-Deutung ist sicher nicht die einzige Möglichkeit, sein Denken zu interpretieren. Aber durch das Wort therapeia werden Ebenen in Platons Denken sichtbar, die in den letzten zweihundert Jahren gar nicht oder nur selten gesehen wurden. Neben Platon ist es Wittgenstein, dessen Philosophie in jüngerer Zeit unter der Wendung »Philosophie als Therapie« interpretiert worden ist, wozu Wittgenstein selbst allen Anlass gegeben hat. Beispielsweise finden wir in seinen Philosophischen Untersuchungen folgende Äußerung: »Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.« 214 »Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.« 215

Durch solche und ähnliche Äußererungen ist inzwischen die Philosophie Wittgensteins in immer breiterer Weise unter dem Aspekt der »Therapie« behandelt und interpretiert worden. 216 Dabei ist eine Pointe der Interpretation, dass seine logischen Sprachanalysen letztlich in zentraler Weise eine Arbeit an der ethischen Haltung der PhiWittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 86. Ebd., Fragment 255, 144. 216 Vgl. Peterman, Philosophy as Therapy. An Interpretation and Defense of Wittgenstein’s Later Philosophical Project; Diamond, Ethics, Imagination and the Method of Wittgenstein’s Tractatus. Der Sammelband, in dem die beiden Texte erschienen sind, enthält insgesamt Aufsätze, die Wittgensteins Philosophie in neuer Weise unter dem Aspekt der Therapie deuten. Vgl. auch Fischer, Therapie als philosophische Projekt. 214 215

397 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

losophierenden im Philosophieren sind. Indem ich selbst in radikaler Weise immer wieder den Status meines Sprachgebrauchs und meiner Aussagen analysierend zurückbeziehe auf ihre Bedeutung für mein Leben und Handeln, gewinnen diese Analysen konkrete Bedeutung für meine Lebensvollzüge. Mit und durch diese Analysen lerne ich mich selbst als Mensch anders sehen, da mein Selbstbild und das Bild von meinem Handeln zutiefst von den sprachlichen Auslegungen geprägt sind, mit denen ich zu leben gelernt habe. Wittgensteins Analysen arbeiten an den Übergängen zwischen Sprache und Lebensform bzw. an der Sprache als Lebensform. Dabei stellt sich immer wieder heraus, dass bestimmte Geschehensformen sich in unserem Leben vollziehen, die aber durch unsere sprachliche Auslegung eher verdeckt und so bestimmte Handlungsmöglichkeiten durch unsere Sprache unsichtbar gemacht werden. Wittgenstein versucht durch seine Analysen auch sprachliche Barrieren aus dem Weg zu räumen, um den Blick für konkrete Erfahrungsformen wieder frei zu machen. Festzuhalten ist, dass die Philosophie Wittgensteins dezidiert und explizit keine »Theorie« ist, sondern eine Weise zu philosophieren, die die Philosophierenden in ihrem Sprachgebrauch therapiert, verändert und transformiert. Im Unterschied zu Platon bezieht sich die Therapie bei Wittgenstein aber nicht einfach auf das ganze Leben der Seele, vielmehr ist es allein unser Sprachgebrauch, den er als Lebensform auf seine Krankheitsherde hin untersucht. Vor allem beim späten Wittgenstein lässt sich, anders als bei Platon, kein letztes Ziel der Therapie festmachen. Die einzige Absicht besteht nur darin, immer wieder neu zu fragen und zu reflektieren, was es bedeutet, wenn ich Bestimmtes sage, um auf diese Weise meinen Sprachgebrauch vor dogmatischen Substanzialisierungen zu schützen, die Wittgenstein als die eigentlichen »Krankheiten« ausmacht und markiert. Da in unserer Sprache aber unendlich viele dieser Krankheitsherde lauern, kann die Therapie letztlich nie an ein Ende gelangen. Im Jahr 2010 erschien ein Sammelband mit dem Titel Philosophy as Therapeia, 217 in dem nicht nur Platon und Wittgenstein berücksichtigt, sondern auch buddhistisches, hellenistisches und klassisch-indisches Denken, Spinoza, Nietzsche und William James einbezogen werden. Der Band bietet ein vergleichendes Spektrum zwischen Asien, Europa und Nordamerika unter der Perspektive von 217

Philosophy as Therapeia, hg. v. Ganeri u. Carlisle.

398 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

Philosophie als Therapeia. Die Zusammenstellung lässt verschiedene neue Bezüge zwischen den Traditionen sichtbar werden und die transformative Perspektive des Philosophierens eher als die Regel denn als die Ausnahme auch in Europa erscheinen. 218 »So the conception of philosophy as therapeia allows for, and even necessitates, a new reading of the history of philosophy, one in which deep continuities come into vision which have been obscured, a reading which also contradicts those who have wanted to maintain that philosophy is a peculiarly European cultural product, and instead affirms its identity as a global intellectual practice.« 219

Mit der hier eröffneten Perspektive kann in der Tat die Geschichte der Philosophie in globaler Perspektive neu gelesen und interpretiert werden. Die rationalistischen Verengungen des Philosophierens in Europa und Nordamerika im 20. Jahrhundert erscheinen aus dieser Sicht eher wie eine kurze Episode, die möglicherweise längst ihrem Ende entgegengeht.

2.

Die Wendung »transformative Philosophie«

Eine mit der therapeia-Interpretation von Philosophie verwandte Rede ist die von »transformativer Philosophie«. Der erste, der meines Wissens die Wendung »transformative philosophy« verwendet hat, war John Taber, ein US-amerikanischer Philosoph, der Ende der 1970er Jahre in Hamburg über Fichte und den indischen Philosophen Śaṅkara eine Dissertation verfasst hat. 220 Die Abgabefassung der Arbeit trug den Titel: On the Relation of Philosophical Knowledge and Self-Experience in the Philosophies of Śaṅkara and J. G. Fichte. A Study in Transformative Metaphysics. Die Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen Wissen und Selbsterfahrung bei einem indischen und einem europäischen Philosophen. Sie geht von der These aus, dass die Entfaltung philosophischen Wissens zugleich auch die Erfahrung meiner selbst verändert und vertieft. Denn je tiefer ich Vgl. auch Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics; Sorabji, Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation. 219 Ebd., 1. 220 Als erster veröffentlichter Textbeleg kann gelten: Taber, Reason, Revelation, and Idealism in Śaṅkara’s Vedānta, 1981. 218

399 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

bewusst die Strukturen meines Wissens und meines Bewusstseins reflektiere, um so deutlicher erfahre ich mich selbst in meiner Bewusstseinstätigkeit. Die Arbeit erschien 1983 unter dem Titel: Transformative Philosophy – A Study of Śaṅkara, Fichte, and Heidegger. Zum einen wurde in dieser Fassung Heidegger als weiteres Beispiel für »transformative philosophy« einbezogen und zum anderen war die Wendung zum eigentlichen Thema des Buches geworden. Mit diesem Stichwort hatte Taber ein tertium comparationis gefunden, mit dem er die transformative Kraft philosophischen Denkens sowohl in der indischen wie auch der europäischen Philosophie reflektieren konnte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich dabei nicht vorrangig auf einzelne philosophische Begriffsbestimmungen, sondern auf die verändernde Wirksamkeit philosophischen Denkens für die Denkenden. Es wurde somit vor allem die Praxis des Philosophierens in ihrer Bedeutung für den Bewusstseinszustand des Philosophierenden reflektiert. Da Taber in seinem Buch verschiedene Grundfiguren des Transformativen auf den Punkt bringt, möchte ich hier einige Passagen anführen, um bestimmte Momente transformativer Philosophie zu akzentuieren und zu kommentieren: »In the history of philosophy there have been certain figures for whom philosophy has been not so much a quest for true ideas as a search for higher states of consciousness. Such thinkers tell us that ordinary experience is a dream, an illusion, a faint reflection of what is truly real, and that if we are to know the truly real we must awaken from the dream, enliven slumbering faculties, make a transition to a new state of awareness. Plato is a prime example of this type of philosopher. […] Thus Plato does not […] demonstrate the truth for us. He cannot deliver it to us, in the form of a finished logical proof, but he does detail a programm for cultivation of the spirit [Hervorhebung R. E.] which, if followed, will enable one eventually to see the truth, not excogitate it, by employing dialectic as an instrument.« 221

Für den europäischen Zusammenhang führt Taber den Grundzusammenhang von Wissen und Selbsterfahrung direkt auf Platon zurück, dem er ein eigenes Programm der Selbstkultivierung für Philosophierende attestiert. 222 Nach dieser Interpretation ist die platonische Philosophie nicht primär als propositionale Darstellung der Wahrheit zu Taber, Transformative Philosophy – A Study of Śaṅkara, Fichte, and Heidegger, 2. Fast gleichzeitig hat Michel Foucault zu Beginn der 1980er Jahre eine ähnliche Platon-Interpretation ausgehend vom Alkibiades I am College de France vorgelegt: Foucault, Hermeneutik des Subjekts.

221 222

400 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

lesen, sondern als Kultivierungsprogramm, durch das die Philosophierenden nach und nach so in ihrem Bewusstsein verändert werden, dass sie fähig werden, die Wahrheit zu sehen. Für das Sehen der Wahrheit ist aber der Weg, der dort hinführt, ebenso wichtig wie die Wahrheit selbst, denn die Wahrheit ist nicht unabhängig von diesem Weg gegeben. Bei Platon ist das Sehen der Wahrheit ein augenblickliches Geschehen, durch das ein langer philosophischer Weg gekrönt wird, wie es im Symposion oder im 7. Brief beschrieben wird, und nicht primär ein propositionaler Gehalt, den man als Wahrheit dauerhaft besitzen kann. Diesen Grundzusammenhang von Praxis des Philosophierens und »Werden zur Wahrheit« sieht Taber auch in der indischen Philosophie gegeben, so dass auf diese Weise eine Brücke zwischen den beiden Traditionen geschlagen werden kann: »Fichte and Śaṅkara, the two thinkers with whom the present study is primarily concerned, are philosophers of this same breed. Indeed, the purpose of this investigation is to show precisely that they are ›transformative philosophers,‹ as I shall call them, philosophers intent on effecting a total transformation of consciousness, the basic relationship between the knower and the things he knows. […] Apart from this comparative or evaluative purpose, however, I wish to establish the transformative pattern as a distinct type of philosophy, casting Śaṅkara and Fichte as outstanding examples […].« 223

Taber versucht durch die beiden Denker, die er ins Zentrum seiner Untersuchtung stellt, nicht nur eine Brücke zwischen Europa und Indien zu schlagen, sondern er profiliert auch einen Grundtyp des Philosophierens, der in verschiedenen Traditionen des Denkens zu finden ist. Er betont, ausgehend von der europäischen und indischen Tradition, dass es um eine »totale Transformation des Bewusstseins« gehe, die es durch den Prozess des Philosophierens zu erreichen gelte. Dass es vor allem um eine Veränderung des Bewusstseins geht, ist an dieser Stelle besonders zu betonen. Dass mit der Zuspitzung auf das Bewusstsein eine bestimmte Dimension in den Vordergrund gerückt wird, die sowohl in Europa wie auch in Indien in großem Umfange entfaltet worden ist, kann erst in der Erweiterung durch ostasiatische Perspektiven deutlich werden, in denen insbesondere eine Betonung der leiblichen Dimensionen zu beoachten ist. Auf diesen Zusammenhang werde ich weiter unten noch ausführlicher eingehen. Unabhängig von der Dimension, die es im Philosophieren zu transformieren 223

Taber, Transformative Philosophy, 3 f.

401 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

gilt, stellt Taber fest, dass Philosophien, die primär als transformative Praxis vollzogen werden, nicht auf eindeutig aussagbare Wahrheitsgehalte reduziert werden können, wie dies vor allem in der philosophischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert, unter Auslassung aller transformativen Ebenen, ein häufiges Ziel gewesen ist: »Scholarship has largely failed to recognize the transformative aspect of his [Śaṅkaras] ›philosophy.‹ In fact, it can be said in general that scholarship tends to ignore or even obscure the transformative elements of philosophical traditions unless they are so pronounced that it is impossible to do so. The reason should be clear: transformative philosophy radically calls into question the methods of academic scholarship. It presents itself as a humanistic phenomenon which cannot be understood by the uncommitted, theoretical mind.« 224

Taber bringt an dieser Stelle ein grundlegendes Problem auf den Punkt. Im Zentrum »geisteswissenschaftlicher Forschung«, so wie sie heute in vielen Fällen noch verstanden wird, steht die Absicht, »theoretische Gehalte« von Autorinnen und Autoren im Rahmen des historischen Kontextes »richtig« zu verstehen. Die Kriterien für die »Richtigkeit« bestehen dabei häufig in der argumentativen und aussagelogischen Konsistenz einer Rekonstruktion, die alle Menschen objektiv nachvollziehen können sollen. In dieser Rekonstruktion muss und soll sich das rekonstruierende Subjekt in maximaler Weise selbst zurücknehmen, um so die logische Konsistenz der Interpretation von allen »subjektiven« Momenten freizuhalten. Um diese Objektivität zu erreichen, besteht im Rahmen der Geisteswissenschaften, die sich auf historische Texte beziehen, häufig die Arbeit zunächst in der möglichst genauen Edition der Texte, um im ersten Schritt die Objektivität der Quellen zu sichern. In der Indologie führt das beispielsweise immer wieder dazu, dass alte philosophische Texte ediert werden, ohne sie zu übersetzen und zu interpretieren. Bei dieser Arbeit bleibt der konkrete Inhalt der Texte weitgehend ausgeblendet. Aber auch dann, wenn eine Interpretation beispielsweise der altindischen Texte vorgenommen wird, soll der Interpretierende in guter philologischer Tradition ausschließlich die propositionalen Gehalte darstellen, so dass die Interpretierenden selbst ohne jeden existentiellen Bezug zu den Inhalten bleiben. Taber weist aber darauf hin, dass in bestimmten Texten die Transformation der Interpretierenden

224

Ebd., 66.

402 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

selbst den eigentlichen Inhalt des Textes bildet. So entsteht die paradoxe Situation, dass ein Text interpretiert wird, der die Interpretierenden verändern soll, diese sich aber in äußerster Distanz zum Text ausschließlich um die »objektiven Inhalte« des Textes bemühen wollen. Das, was die Interpretierenden mit den Texten machen wollen, richtet sich somit nicht nach den Texten, sondern nach bestimmten Methoden und Interpretationen für das, was die Interpretierenden unter »objektiver Forschung« verstehen, der es in den meisten Fällen nicht um eine Selbsttransformation, sondern um eine möglichst »objektive« und »richtige« Darstellung der Inhalte geht. Wenn die zu behandelnden Texte aber unermüdlich betonen, dass die eigentliche Wahrheit nicht als propositionaler Gehalt zu fassen sei, sondern nur durch eine Transformation des eigenen Bewusstseins zu erreichen ist, stellt sich die dringliche Frage, wie die »wissenschaftliche Forschung« mit diesen Texten eigentlich umzugehen hat. 225 Bei philosophischen Texten stellt sich dieses Problem in besonders zugespitzter Weise, da es in der europäischen Tradition in keiner Weise eine einheitliche Antwort auf die Frage gab, was unter der Praxis des Philosophierens zu verstehen sei, und die Idee einer »objektiven Wissenschaft« durch die Philosophie selbst erst im 17. Jahrhundert hervorgebracht wurde. 226 Wenn man behauptet, Philosophie müsse immer »wissenschaftlich« sein – gegründet auf rational-objektiv nachvollziehbare propositionale Gehalte –, so legt man sich damit auf eine bestimmte historische Gestalt der Philosophie fest und behandelt alle anderen nur unter diesem Gesichtspunkt. Der Grundunterschied, den man hier im Anschluss an Taber festhalten kann, ist der zwischen »wissenschaftlicher Philosophie« und »transformativer Philosophie«. Bei der ersteren geht es um theoretische Aussagen in strikter Abkoppelung vom Subjekt des Erkennens, bei der zweiteren geht es um die transformative Einsicht in die je eigene Erkenntnissituation, durch die sich das erkennende Subjekt selbst auf verschiedenen Ebenen verändert. Taber behauptet, dass die zweite Option nicht nur in Indien, sondern auch in Europa zu finden sei:

Auch in der Religionswissenschaft gibt es hierzu eine umfassende Diskussion, in der es darum geht, ob jemand, der sich mit Religionen wissenschaftlich beschäftigt, selbst über »religiöse« Erfahrungen verfügen sollte. 226 Vgl. Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida, hg. v. Elberfeld. 225

403 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

»I shall argue in the remainder of this study that while the transformative pattern may not be a dominant element, it is nevertheless an important feature of European philosophy. […] I shall suggest that transformative philosophy is nevertheless a vital factor in the European tradition, as an occasional source of impetus and inspiration. And insofar as transformative philosophy emerges unscathed from the self-destructive struggle philosophy has waged with itself in recent times, it is a viable candidate for the philosophy of the future.« 227

Just als Taber Ende der 1970er Jahre an seinen Themen arbeitete, vollzog sich fast unbemerkt eine Wende in der Erforschung antiker Philosophie. Als Pierre Hadot sein Buch Exercices spirituels et philosophie antique im Jahr 1981 veröffentlichte und kurz darauf Michel Foucault seine großen Vorlesungen über die Selbstsorge der Philosophierenden am Collège de France hielt, traten die transformativen Dimensionen des Philosophierens vor allem in der Antike erneut in die Aufmerksamkeit. Hadot ist davon überzeugt, dass die antike Philosophie eigentlich ausschließlich unter transformativen Aspekten zu behandeln sei und diese Dimensionen im Laufe der weiteren Geschichte der Philosophie in Europa zunehmend vergessen worden seien, obgleich sie den Hauptsinn von Philosophie ausmachten. 228 Er selbst und auch Foucault thematisierten daran anschließend immer wieder eine »Philosophie der Lebenskunst«, die sich eng mit der antiken Weise des Philosophierens verbindet und vor allem die Praktiken des Philosophierens ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Anders als in einer allgemeinen »Philosophie der Lebenskunst« sieht Taber einen zentralen Sinn transformativer Philosophie vor allem in einer Vertiefung des Bewusstseins und der Erweiterung der Wahrnehmung, worin sich vor allem auch eine spezifisch indische Sicht im Zusammenhang mit besonderen Übungsformen spiegelt: »Transformative philosophy, as we have seen, presupposes practical techniques for developing consciousness or more holistic modes of perception.« 229

Taber bleibt aber nicht bei den bewusstseins- und wahrnehmungserweiternden Praktiken stehen, was in dieser Formulierung schnell unter Esoterikverdacht geraten kann, sondern spannt den Bogen seiTaber, Transformative Philosophy, 66 f. In neueren Interpretationen zur antiken Philosophie ist inzwischen auch von einer »transformativen Philosophie« die Rede: Robbiano, Becoming being. On Parmenides’ transformative philosophy. 229 Taber, Transformative Philosophy, 98. 227 228

404 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

nes Verständnisses noch weiter. Bei den Praktiken des Philosophierens spielt für Taber demnach auch die Praxis des Sprachgebrauchs und ihr Zusammenhang mit möglichen Erfahrungen eine zentrale Rolle: »As I have suggested, the language of transformative philosophy defines objects much in the same way that the language of parents spoken to their children introduces new things. […] Transformative philosophy, then, shows us new things with language. It would not be wrong to say that the transformative philosopher teaches us language for areas of experience that our parents neglected to teach us about when we were young. […] Transformative philosophy corresponds to the growth of a precognitive or subconscious impulse, a spontaneous tendency of correct thought and action for which the word ›reason‹ has sometimes been used, as it was, for example, by Fichte. The transformative philosopher appropriates this area of experience and charts it for us so that we can live more consciously in accordance with it.« 230

Die zentrale Dimension, an der durch transformative Philosophie in ihrer allgemeinen Form gearbeitet wird, ist die der Erfahrung. Es geht darum, durch die Praxis des Philosophierens verschiedene Dimensionen des Erfahrens nicht nur objektiv zu beschreiben, sondern selber zu erschließen und zu erkunden. Denn eine Erfahrungsdimension, die in der eigenen Erfahrung nicht gegeben ist, kann auch nicht beschrieben werden. Transformative Philosophie ist somit Arbeit an der eigenen Erfahrung: »The transformative philosopher does not endeavor to apprehend through mere reasoning objects that lie beyond the field of possible experience; he activates regions of experience hitherto unappreciated by supplying concepts pertaining to them.« 231 »The claims of transformative philosophy, then, are not made on behalf of the possibilities of reason but on behalf of the possibilities of experience and consciousness. The transformative philosopher tells us, in effect, not simply that experience potentially extends beyond what is known in daily life but that there are other modes of experience.« 232

In Tabers Interpretation werden Erfahrung und Bewusstsein immer wieder annähernd synonym verwendet, wobei er dazu tendiert, vor

230 231 232

Ebd., 99. Ebd., 100 ff. Ebd., 101.

405 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

allem eine Vertiefung des Bewusstseins im Sinne eines sich vertiefenden »Selbstbewusstseins« als die eigentliche Dimension des Transformativen zu bestimmen. Durch ein vertieftes Selbstbewusstsein werden die Formen alltäglichen Bewusstseins über sich hinaus getrieben in andere Modi der Erfahrung. In diesem transformativen Prozess verändert such auch das, was sich als Realität zeigt. Die Realität ist in dieser philosophischen Haltung nicht einfach zu bestimmen und festzuhalten. Im Zusammenhang mit der Arbeit an der eigenen Erfahrung zeigt sich diese vielmehr immer wieder neu. »A transformative philosophy does not represent a view of reality but a view which transforms reality. If it is revisionary, then it is so in that it revises not just our thinking but our perceiving as well. A transformative philosophy does not amount to a Weltanschauung that one can casually entertain as a matter of experiment or amusement, as one tries on a hat. Nor is it meant for our cultural edification. But it really alters what we perceive as facts – concrete states of affairs. As descriptive statements, the theses of transformative philosophy are selfverifying.« 233

In dieser kurzen Passage wird eine Diskussion aufgenommen, die Peter Strawson in seinem Buch Individuals angestoßen hat durch die Unterscheidung von »revisionary metaphysics« und »descriptive metaphysics«. 234 Die erste intendiert nach Strawson eine »bessere Struktur« (better structure) der Welt hervorzubringen, die zweite versucht nur die »tatsächliche Struktur« (actual structure) der Welt zu beschreiben. Nun ist das »Transformative« zunächst weder das eine noch das andere. Denn anhand von Deskriptionen wird das, was wir für Realität halten, transformiert. Dies muss nicht unbedingt als besser oder schlechter bewertet werden, sondern fokussiert die transformierende Kraft von Deskriptionen. Tabers Argumentation bleibt nicht nur bei dieser Form der Deskription stehen, sondern verbindet mit der Vertiefung des Bewusstseins und der Erweiterung der Wahrnehmung auch meliorative Aspekte. Diese können aber nur dann zum Tragen kommen, wenn man das Ziel der Transformation bereits in irgendeiner Weise bezeichnen und anzielen kann, wie dies beispielsweise das »gute und gesunde Leben« im Rahmen der therapeia-Interpretation von Philosophie zeigt. Wenn aber ein solches Ziel nicht eindeutig formuliert werden kann und die Transformation auch Ebd., 102. Strawson, Einzeldinge und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, 9 f.

233 234

406 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

nicht einfach zur tatsächlichen und überzeitlichen Struktur der Welt oder zu etwas Besserem führen kann, sondern transformative Philosophie mit prinzipiellen Fremdheiten und Unbestimmtheiten rechnet, die weder einfach durch Forschung aufgelöst noch durch Vervollkommnungstrategien entschärft werden können, dann greift die Unterscheidung von Strawson nicht mehr, oder sie muss erweitert werden um eine »transformative Metaphysik«, die die beiden zuvor genannten verbindet 235 oder anderen Regeln folgt. So könnte beispielsweise in einer transformativen Metaphysik im Gegensatz zu einer zeitlosen, tatsächlichen Struktur angenommen werden, dass das Tatsächliche als solches nichts anderes als Wandel und Veränderung ist und es philosophisch darum geht, mit diesem Wandel umzugehen. Diesen Punkt werde ich weiter unten noch eingehender zu entfalten versuchen. Taber hat in seinem Buch einen weitgehenden Vorschlag gemacht, der aber im Hinblick auf die Bestimmung des Transformativen nicht entschieden genug ist. Seine Ausführungen machen nicht ausreichend deutlich, in welcher Weise die Dimensionen des Transformativen unterschieden werden können und inwiefern meliorative Aspekte eine notwendige Rolle spielen. Dennoch bringt er bis heute hochrelevante Fragen auf den Punkt, ohne nach seinem ersten Entwurf selbst in vertiefender Weise weiter daran gearbeitet zu haben. Die Fragen, die Taber aufwirft, betreffen nicht nur das Philosophieren zwischen Asien und Europa, sondern auch den Kern des Philosophierens in Europa. Hierdurch zeigt sich, dass mit dem Motiv einer »transformativen Philosophie« offenbar etwas angesprochen ist, das in verschiedenen Bereichen der Philosophie von Bedeutung ist, aber bisher noch nicht als Zusammenhang erkannt wurde. Die Reihe der noch zu behandelnden Autoren wird dies noch weiter belegen. Ein Autor, der in den 1990er Jahren das Motiv einer »transformativen Philosophie« aufgreift, ist Eckard Wolz-Gottwald, der bereits 1984 eine Arbeit über das Thema Meister Eckhart und die klassischen Upanishaden publiziert hat, ohne jedoch dort bereits das Motiv verwendet zu haben. Ähnlich wie bei Taber wird in dem genannten Buch ausgehend von einem europäischen Philosophen ein Vergleich mit alten indischen Texten durchgeführt. Die Interpretationen betonen Bereits 1991 wurde ein solcher Versuch unternommen: Kumari, Advaita as Transformative Metaphysics. Kumari entwickelt seine Interpretation in direktem Anschluss an John Taber.

235

407 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

vor allem die mystische Erfahrung, die Meditationsübungen und die spirituelle Praxis, die aber in direktem Zusammenhang mit den philosophischen Reflexionen interpretiert werden. Im Jahr 1994 greift Wolz-Gottwald dann das Motiv transformativer Philosophie auf und versteht es wie folgt: »Transformative Philosophie beschäftigt sich im Unterschied zur Philosophie im allgemeinen Sinn nicht mit dem theoretisch/vernünftigen Ergründen der Fragen des Daseins. Perspektive ist ein transformativer Wandel des Bewußtseins zu vertiefter Bewußtheit, der Gegenstand und Ziel der Reflexion ist. Transformative Philosophien in diesem Sinne sind nicht selten verbunden mit einer Bewußtheit fördernden meditativen Übung. Dies gilt insbesondere für die spirituellen Philosophien östlicher Provenienz. Aber auch im Abendland wurde im christlichen Bereich schon bald eine solche Praxis entwickelt, die in der Mystik des Hoch- und Spätmittelalters ihren Höhepunkt fand. Diese mit einer meditativen Übungspraxis verbundenen transformativen Philosophien sollen hier zum Thema gemacht werden.« 236

Ausgehend von indischen und platonisch / neuplatonisch / mystischen Ansätzen der Philosophie in Europa versucht Wolz-Gottwald in seinem Text die Struktur meditativer Praxis zu beschreiben und in ihrer transformativen Wirkung aufzuschließen. Seine Bestimmung transformativer Philosophie ist demgemäß eng gebunden an bestimmte meditative und spirituelle Praktiken, die sowohl in Asien wie auch in den christlich-mystischen Traditionen Europas gefunden werden können. Ähnlich wie bei Taber geht es darum, das Philosophieren im Zusammenhang mit bewusstseinsverändernden Praktiken zu bestimmen. Dennoch ist bei beiden eine je andere Gewichtung zu beobachten. Bei Taber spielt neben der Vertiefung des Bewusstseins zu einer umfassenden Bewusstheit auch die Tranformation allgemeiner und alltäglicher Erfahrungsstrukturen durch sprachlich vermitteltes Wissen eine wichtige Rolle. Bei Wolz-Gottwald besteht der Grundsinn transformativer Philosophie in der Vertiefung des eigenen Bewusstseins bzw. der eigenen Bewusstseinserfahrung, welche eng an ein mystisches Erfahren gebunden ist. Dieses übersteigt den Gegensatz von Ost und West und kann nur jenseits aller Sprachlichkeit direkt erfahren werden. Weder bei Taber noch bei Wolz-Gottwald wird genauer bestimmt und differenziert, wie weit der Erfahrungs-

Wolz-Gottwald, Triadik der Bewußtseinsentwicklung. Grundlinien transformativer Philosophie, 291.

236

408 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Philosophie«

begriff reicht und welche Formen von Erfahrung genau durch transformatives Philosophieren verändert werden können und sollen. Im Jahr 1995 veröffentlicht Wolz-Gottwald einen weiteren Text mit dem Titel Transformative Philosophie als Therapie, der den Gedanken vor allem im Zusammenhang mit der indischen Medizin weiter ausbaut, aber auch die tranformativen Prozesse der Medition genauer beschreibt. 237 In diesem Text bestätigt sich die Grundabsicht, durch transformative Philosophie vor allem bestimmte meditative Bewusstseinszustände zu fokussieren, um so den tieferen Sinn des Philosophierens zu bestimmen. Vier Jahre später erscheint das Buch Transformation der Phänomenologie. Zur Mystik bei Husserl und Heidegger, in dem WolzGottwald die beiden phänomenologischen Denkwege in der Perspektive philosophischer Mystik interpretiert. Die philosophische Mystik baut er in seinem Buch explizit als transformative Philosophie auf, wobei er verschiedene mittelalterliche Denker – Hugo und Richard von St. Vikor, Meister Eckhart, Bonaventura, Johannes Tauler u. a. – in seine Überlegungen einbezieht. Nach einer ausführlichen Interpretation der philosophischen Mystik als transformativer Philosophie versucht er zu zeigen, dass die Ansätze von Husserl und Heigegger in dieser Perspektive neu gelesen werden können. Denn beide Denker, so seine These, legen an verschiedenen Stellen ihres Werkes nahe, dass die phänomenologische Arbeit eine existentielle Transformation der Philosophierenden nach sich zieht. Er hebt somit über den Umweg der philosophischen Mystik eine Dimension phänomenologischen Philosophierens in die Aufmerksamkeit, die in dieser Weise noch nicht akzentuiert worden war. An dieser Stelle bleibt aber die Frage zurück, ob die Rede von »existentieller Transformation« immer den Sinn einer »mystischen Erfahrung« haben muss oder ob dies nicht zunächst viel nüchterner verstanden werden kann. So kann beispielsweise eine tiefe Einsicht in die sprachliche Verfasstheit unseres Weltverhältnisses zu einer existentiellen Transformation führen, wie dies beispielsweise durch ein Philosophieren im Sinne Wilhelm von Humboldts geschehen kann. In neuerer Zeit ist die Wendung »transformative Philosophie« in einem weiteren Kontext der Philosophie aufgetaucht, der bereits im Der volle Titel lautet: Wolz-Gottwald, Transformative Philosophie als Therapie. Zur Grenzerweiterung des Denkens in der indischen Heil- und Lebenskunde Ayurveda.

237

409 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

vorhergehenden Abschnitt eine Rolle gespielt hat. Im Jahr 2006 publizierte Thomas Wallgren das Buch Transformative Philosophy: Socrates, Wittgenstein, and the Democratic Spirit of Philosophy. In einer wenig orthodoxen Zusammenführung von Sokrates und Wittgenstein kann Wallgren zeigen, wie sowohl die antike griechische Philosophie in Gestalt des Sokrates als auch die Philosophie Wittgensteins an der Transformation der Philosophierenden arbeiten. Er weist damit eine tiefe Verbundenheit Wittgensteins mit der antiken Philosophie auf, die vor allem im Spätwerk sichtbar wird. Im letzten Kapitel seines Buches, das den Titel trägt: Working on Oneself, Caring for Us: Toward a Transformative Philosophy fasst er seine Überlegungen zusammen und verknüpft sie auch mit der emanzipatorischen Wirkung von Philosophie unter anderem in der Frankfurter Schule. An dieser Stelle sei nur ein kurzes Zitat von Wittgenstein angeführt, auf das im Zusammenhang mit der Idee einer transformativen Philosophie immer wieder verwiesen wird: »Die Arbeit an der Philosophie ist […] eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt).« 238

In diesem Zitat wird mit Nachdruck deutlich, dass Wittgenstein die Praxis des Philosophierens aufs Innerste mit dem Selbstverständnis der Philosophierenden verknüpft. Bei ihm ist dies vor allem eine Arbeit an der eigenen Sprache und dem eigenen Sprachgebrauch, die zutiefst damit zusammenhängt, wie wir die Dinge »sehen«. Arbeit am eigenen Sprachgebrauch bedeutet somit zugleich, Arbeit an der eigenen Wahrnehmung von Welt und der Wahrnehmung seiner selbst. 239 Wittgensteins Philosophie ist in diesem Sinne keine »Theorie« der Sprache, sondern ein Philosophieren in und mit der Sprache in selbstkritischer und tranformativer Absicht. In seinem Philosophieren geht es um das Aufspüren und die Auflösung von Sprachverfestigungen, die letztlich nicht nur in den Wissenschaften, sondern vor allem auch in ethischer Hinsicht fatale Auswirkungen haben können. Wittgenstein durchleuchtet diskursive Praktiken, auch um die ethischen Implikationen des Sprachgebrauchs und unserer diskursiven Praxis aufzudecken. 240 In diesem Sinne kann seine Philosophie Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 52. Kerr, »Work on Oneself«. Wittgenstein’s Philosophical Psychology; Wittgenstein – Philosophie als »Arbeit an Einem selbst«, hg. v. Gebauer, Goppelsröder u. Volbers. 240 Leeten, Zeichen und Freiheit. Über Verantwortung im theoretischen Denken. 238 239

410 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Phänomenologie und Transformation

als eine transformative Philosophie angesprochen werden, in der es zwar nicht um höhere Zustände des Bewusstseins geht, sondern um die entsubstanzialisierende Arbeit an der Sprache als Lebensform, eine Arbeit, die nachhaltige transformative Wirkungen für unseren Alltag und auch für die Wissenschaften haben kann. Taber, Wolz-Gottwald und Wallgren entwickeln das Motiv »transformativer Philosophie« aus verschiedenen philosophischen Richtungen. Durch die Ansätze wird deutlich, dass die Annahme – durch Philosophieren würden die Philosophierenden selbst transformiert – nicht nur Kennzeichen asiatischer Philosophien ist, sondern sich auch in Europa in allen Epochen der Philosophiegeschichte findet. Vor allem Sokrates 241 und Platon sind hierfür zentrale Leitfiguren. Wie die beiden Abschnitte über »Philosophie als Therapie« 242 und »transformative Philosophie« gezeigt haben, kann daher heute nicht mehr von einem Gegensatz zwischen Ost und West gesprochen werden. Vielmehr zeigen sich viele Verbindungslinien, die über einen bloßen Vergleich hinausreichen, und es werden »transformativ-philosophische Praktiken« sichtbar, die in verschiedenen Denktraditionen in unterschiedlicher Weise entwickelt worden sind und an die heute wieder ohne dogmatische Verkrampfungen angeknüpft werden kann.

3.

Phänomenologie und Transformation

Vor allem um die Dimensionen des Transformativen für ein Philosophieren in der globalisierten Welt als philosophische Forschungsperspektive fruchtbar zu machen, möchte ich methodisch an die Phänomenologie anknüpfen, der – so meine These – von Anfang an eine transformative Dimension innewohnte, wenn auch nicht primär im Sinne einer »mystischen Erfahrung«. Vor allem Merleau-Ponty hat sein Denken direkt mit dem Wort »Transformation« verbunden und die Transformation des Philosophierenden ins Zentrum seiner Denkbewegungen gestellt, wobei er sich weniger an religiösen Phänomenen orientiert, sondern vielmehr an den ästhetischen Dimensionen von Erfahrung. Böhme, Der Typ Sokrates. Die neueste Publikation hierzu ist: Mall u. Peikert, Philosophie als Therapie. Eine interkulturelle Perspektive.

241 242

411 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

Die Methode der Phänomenologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Gebrauch der Sprache in der Philosophie zurückbindet an alle Formen von Erfahrung, die dem Menschen möglich sind. Sprache und Erfahrung sind so aufeinander bezogen, dass einerseits in und aus Erfahrungen sprachliche Beschreibungen entstehen, durch die die Strukturen dieser Erfahrungen erforscht werden. Andererseits werden durch die Strukturbeschreibungen neue Erfahrungen möglich und treiben somit die bisherigen Erfahrungen über sich hinaus. Das Feld möglicher Erfahrungen ist dabei so vielfältig, dass einzelne Menschen oder auch Gruppen von Menschen diese niemals erschöpfend und abschließend erfahren und beschreiben können. Auch wenn Edmund Husserl noch die Idee zu verwirklichen versuchte, alle Phänomene in ihren Grundstrukturen in streng wissenschaftlicher Manier zu beschreiben, um sie damit in strenges philosophisches Wissen zu überführen, blieb auch ihm am Ende nur die Einsicht, dass diese Idee aus philosophischen Gründen nicht zu realisieren sei. 243 Man kann daraus den Schluss ziehen, dass mit diesem Eingeständnis die Phänomenologie gescheitert sei. Man kann aber auch den umgekehrten Schluss daraus ziehen, dass damit die Phänomenologie erst wirklich beginnt. Denn lässt man sich ein auf das verzweigte und verwickelte Feld möglicher Erfahrungsstrukturen, so wird alsbald deutlich, dass dieses Feld nicht einer finalen und abschließenden Deskription unterzogen werden kann. Phänomene wie Sinnlichkeit, Denken, Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Gefühle, Phantasie, Wille, Leiblichkeit, Triebe, Sprache, Natur, Kultur, Recht, Handeln, Lernen und vieles mehr sind in vielen Fällen so ineinander verschlungen, dass sich in und durch Beschreibungen selbst immer wieder Varianten herausbilden, die das eine mehr als das andere gewichten, diese oder andere Unterscheidungen einführen und so auch die Phänomene selbst als sprachlich vermittelte erscheinen lassen. Bezieht man darüber hinaus außereuropäische Sprachen in die Überlegungen ein, so steigern sich die Probleme noch einmal erheblich, da dann ganz andere Phänomene hinzutreten können, für die es in europäischen Sprache keine Wörter gibt. In diesem Sinne sind Phänomene keine »Dinge«, die objektiv vorliegen oder aller Erfahrung vorausgehend in einem Ideenhimmel »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt.« Zitiert aus: Husserl, Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Waldenfels, 211.

243

412 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Phänomenologie und Transformation

existieren. 244 Es gibt nicht eine distinkte »Gegebenheit« der Phänomene, die dann nacheinander in phänomenologischer Deskription abgearbeitet werden könnte. Dies ist ein immer wieder aufkommendes Missverständnis, das aus meiner Sicht der Phänomenologie nicht gerecht wird. Phänomene sind vielmehr Erfahrungs- oder Seinsweisen, in und aus denen Menschen leben. Sie werden zu unterscheidbaren Phänomenen im eigentlichen Sinne erst dann, wenn sie als Phänomene sprachlich beschrieben werden. Wirklichkeit könnte – und das ist in der Geschichte des Denkens ja vielfach geschehen – auch ganz anderes beschrieben werden. Dabei bleiben Sprache und Erfahrung in fast unentwirrbarer und nicht zu trennender Weise aneinandergebunden. Im besten Falle werden in phänomenologischen Texten Erfahrungen mit Erfahrungen gemacht – in der Sprache. Hier zeigt sich eine Schwierigkeit für die phänomenologische Arbeit. Die Grundunterscheidung, die ich eingeführt habe, ist: Erfahrung und Sprache. Durch beide Wörter wird jeweils ein komplexes Feld von Phänomenen angesprochen, das in keiner Weise sofort zu überblicken ist. Beginne ich mit einer Phänomenologie der Erfahrung oder einer Phänomenologie der Sprache, so wird bald deutlich, dass das eine das andere bereits voraussetzt. Beide Phänomene scheinen gleichursprünglich zu sein und sich gegenseitig vorauszusetzen. In vielen phänomenologischen Texten wird die Sprache als Sprache, die notwendig ist für die Beschreibung der Phänomene, nicht ausreichend bedacht. Aus diesem Grund konnte eine scharfe Entgegensetzung von erfahrungsbezogener Phänomenologie und sprachbezogener analytischer Philosophie entstehen. Diese Entgegensetzung spielt in neuesten Ansätzen eine immer geringere Rolle, da deutlich geworden ist, dass einerseits Erfahrungen in der Phänomenologie in und mit Sprache beschrieben werden und die entsprechenden Sprachformen jeweils eine bestimmte Form besitzen. Andererseits ist aber die Sprachanalyse immer wieder auf Erfahrungen verwiesen, die den Sinn des jeweiligen Sprechens überhaupt erst erzeugen. Die grundsätzliche Beziehung von Erfahrung und Sprache ist ein erstes Kennzeichen transformativer Phänomenologie, für die der Bezug der beiden gleichursprünglichen Dimensionen von grundlegender Bedeutung ist. In der Phänomenologie Husserls ist die sprachgebundene De244

Rombach, Das Phänomen Phänomen.

413 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

skription des Bewusstseinsflusses in phänomenologischer Einstellung, die durch die »Epoché« erreicht werden soll, von zentraler methodischer Bedeutung. Die Beschreibung geht nur von dem aus, was sich dem Beschreibenden direkt in seinem Hier und Jetzt als konstitutiv für seinen Bewusstseinsstrom zeigt. Die Texte, die dadurch entstehen, sprechen Lesende wiederum in ihrer gegenwärtigen Situation an, in der sie das im Text Gezeigte direkt in eigener Anschauung nachzuvollziehen haben. Ein phänomenologischer Text bewirkt somit, dass Strukturen in der eigenen Erfahrung verbunden mit methodischer Aufmerksamkeit in Erscheinung treten, die immer schon – hier und jetzt – in irgendeiner Weise »fungieren«, ohne aber eigens bewusst zu sein. Der Text spricht dabei nicht belehrend, sondern versucht vielmehr sichtbar bzw. erfahrbar zu machen und zu sensibilisieren für Erscheinungsweisen von Wirklichkeit, inmitten derer wir uns immer schon bewegen. Der Text bezieht sich nicht auf eine vorausgesetzte Wahrheit, sondern soll jeden Vollzug durch phänomenologischen Aufweis zur Evidenz bringen. Es gibt keinen absoluten Anfang, denn der Anfang kann überall gemacht werden. Die phänomenologische Analyse kann jedoch mit unterschiedlichen Absichten und Zielen durchgeführt werden, wobei jeweils andere Sprachpragmatiken leitend werden können. 245 Innerhalb der Phänomenologie war es vor allem der Ansatz von Maurice Merleau-Ponty, der die Dimension des Transformativen tief mit dem phänomenologischen Denken verbunden hat. Bei MerleauPonty wird die leibliche Situiertheit des Menschen in radikaler Weise ins Zentrum der phänomenologischen Arbeit gestellt. Die phänomenologische Analyse selbst ist eingebettet in die Leiblichkeit, die dem Denken immer schon vorausliegt und aus der das Denken allererst anhebt. Hier werden die präreflexiven Strukturen auch in methodischer Hinsicht wirksam, die bereits Husserl im Phänomen der passiven Synthesis 246 untersucht hatte. Merleau-Ponty geht aufgrund dieses Ausgangspunktes nicht mehr von der Möglichkeit aus, sich in einen Raum der »reinen Anschauung« im Sinne des husserlschen »Ideierens« 247 begeben zu können. Vielmehr ist die phänomenologiVgl. zur Sprachpragmatik bei Husserl und Heidegger: Elberfeld, Aspekte philosophischer Textpragmatik in Ostasien und die Idee einer »transformativen Phänomenologie«, 39 ff. 246 Husserl, Analysen zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. 247 »Die intuitive ›Ideation‹ (die als ›Idee‹erschauung hier ganz besonders ihren Na245

414 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Phänomenologie und Transformation

sche Analyse selbst eine horizontöffnende und erschließende Arbeit in Bezug auf meinen eigenen existenziellen Vollzug. Mein eigenes Denken und Leben bleibt in der phänomenologischen Arbeit nicht unberührt, sondern erfährt eine Transformation, deren Ziel und Endpunkt aber nicht schon im Voraus festliegt. »Es genügt nicht, in die reflexive Einstellung überzugehen und sich hinter einem unangreifbaren cogito zu verschanzen […]. Es genügt nicht, Philosophie zu treiben, es bedarf des Bewußtseins der Verwandlung (transformation), die die Philosophie selbst im Anblick der Welt und in unserer Existenz vollbringt. […] Reflexion ist nur wahrhaft Reflexion, wenn sie sich nicht über sich selbst erhebt, vielmehr sich selbst als Reflexion-auf-Unreflektiertes erkennt, und folglich als Wandlung der Struktur der Existenz (un changement de structure de notre existence).« 248

Wenn es in der wahren Reflexion um eine »Wandlung der Struktur der Existenz« gehen soll, so wird die phänomenologische Arbeit selbst ein erfahrungseröffnender und -verändernder Vollzug. Man könnte vielleicht sagen: Geschichtlichkeit im Kleinen. Hier wird auf der einen Seite der große Ausgriff Heideggers in Bezug auf einen »anderen Anfang« der Geschichte im Ganzen vermieden und auf der anderen Seite der husserlsche Glaube an eine zeitlose und unveränderliche transzendentale Struktur aufgegeben. Transformation der Geschichte geht hervor aus der jeweiligen Selbstbetrachtung unserer leiblichen Vollzüge, ohne dass dabei ein letztes Ziel vorgegeben wäre. »Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung einer Wahrheit (réalisation d’une vérité).« 249

Phänomenologische Arbeit ist somit ausgehend von der eigenen leiblichen Existenz Realisierung einer Wahrheit als gestalterischer Promen verdient) lehrt uns das Ding kennen als notwendig dauernd, als prinzipiell hinsichtlich seiner Dauer endlos extendierbar. Wir erfassen in ›reiner Anschauung‹ (denn diese Ideation ist der phänomenologisch geklärte Begriff von Kants reiner Anschauung) die ›Idee‹ der Zeitlichkeit und aller in ihr beschlossenen Wesensmomente.« Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Ideen I, 312. 248 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 86 f. 249 Ebd., 17. »Le monde phénoménologique n’est pas l’explicitation d’un etre préalable, mais la fondation de l’etre, la philosophie n’est pas le reflet d’une vérité préalable, mais comme l’art la réalisation d’une vérité.«

415 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

zess. Der Ort, wo dies geschieht, bin ich selbst als ein Ort der Welt, in dem sich diese zeigt. »Diese Antizipation, dieses Überschreiten, diese Übertretung, diese gewaltsame Tätigkeit, durch welche ich Gestalten bilde, Tätigkeiten umforme, sie zu dem mache, was sie sind, sie in sie selbst verwandele – in der Literatur und in der Philosophie ist es die lebendige Rede, die das bewirkt.« 250

Merleau-Ponty sieht die Transformation in der »lebendigen Rede« realisiert. Somit wird die Sprache als Vollzug zum Ort der Veränderung. Er geht aber noch einen Schritt weiter, denn die lebendige Rede kann auch ein Gespräch mit dem Anderen sein. Der Andere wird im phänomenologischen Gespräch zu einer Quelle der Transformation im Sinne der Überraschung und Verwandlung. »Aber wenn das Buch mich wirklich etwas lehren, wenn der Andere wirklich ein Anderer sein soll, dann muß es dahin kommen, daß ich in einem bestimmten Augenblick überrascht, desorientiert werde und wir uns nicht mehr in dem treffen, was wir an Ähnlichem, sondern in dem, was wir an Verschiedenem haben; und dies setzt eine Umformung meiner selbst voraus wie die des Anderen (ceci suppose une transformation de moi-meme et d’autrui aussi bien).« 251

Der Sinn des Philosophierens und auch der phänomenologischen Analyse gewinnt hier eine neue Dimension: es geht um die Begegnung mit mir selbst und den anderen, wobei weder ich selbst noch die anderen schon vorgegeben sind. Vielmehr empfangen wir uns in wechselseitiger Veränderung im gemeinsamen Gespräch. Philosophieren wird wesentlich zu einer Einübung in den Vollzug transformativer Begegnung und Bewegung auf unterschiedlichen Ebenen. Merleau-Ponty hat für sein Denken der Transformation wesentliche Anregungen erhalten bei zwei Schriftstellern, die in ihren Texten in eindringlicher Weise transformative Bewegungen zeigen und die für die phänomenologische Arbeit einen reichen Schatz an Beobachtungen und Beschreibungen bereithalten. Der eine war Paul Valéry, dessen denkerische Transformationen vor allem in seinen Cahiers nachvollzogen werden können, da er in ihnen seine Gedanken über Jahrzehnte hinweg zu verschiedenen Themen aufgeschrieben hat. Ernst Robert Curtius bringt die Bedeutung der Transformation bei Valéry wie folgt auf den Punkt: 250 251

Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, 147. Ebd., 157

416 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Phänomenologie und Transformation

»Wandlung, Verwandlung, Umformung – dies ist das fundamentale ideelle Schema in der Kunst von Paul Valéry. In der Mathematik erscheint es als Verfahren der Abstraktion und der Transformation. Aber wir finden es bei Valéry in allen Gebieten des Geistes. Sein Denken ist eine universale Transformationstheorie.« 252

Valéry selbst formuliert diesen Gedanken prägnant und in verschiedener Hinsicht verstreut in seinen Cahiers: »Der allgemeine Gedanke der Transformation muß das Denken bestimmen bei seiner Zuwendung zum Leben und zu den Lebewesen.« 253 »Denken ist immer ein Transformationsprozeß.« 254 »Die Sprache ist ein Transformationsmittel.« 255 »Der Mensch ist ein sich transformierendes System. Dessen Transformationen sind verschiedener Ordnung, verschiedener Art.« 256 »Mithin Transformation DESSEN, WAS IST, durch Transformation des SUBJEKTS. Und diese Transformation im Sinne der wachsenden Unterscheidung.« 257 »Ich bin eine Transformationstafel – die neu angeordnet werden wollte.« 258 »Fazit: ich bin eine Transformation«. 259

Bei den sogenannten Cahiers (Hefte) handelt es sich um Aufzeichnungen, die Valéry in den Jahren 1894–1945 immer morgens zwischen 5 und 8 Uhr zu Papier gebracht hat. Die Themenvielfalt ist groß. In der französischen Auswahlausgabe, der sich die deutsche Übersetzung anschließt, sind die Fragmente nach Themen und Jahren geordnet, so dass man die jeweilige Gedankenentwicklungen nachvollziehen kann. Als Themen behandelt Valéry beispielsweise Sprache, Ego, Ego Scriptor, Philosophie, Psychologie, Körper, Sensibilität, Gedächtnis, Zeit, Traum, Aufmerksamkeit, Affektivität, Eros, Wissenschaft und Poetik. An dieser Themenliste ist leicht zu erkennen, dass Merleau-Ponty hier in vielerlei Hinsicht angeregt werden konnte. In einem Fragment aus dem Jahr 1934 reflektiert Valéry den Sinn seiner Hefte wie folgt: 252 253 254 255 256 257 258 259

Curtius, Französischer Geist im 20. Jahrhundert, 376. Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 5, 271. Ebd., Bd. 3, 166. Ebd., Bd. 1, 581. Ebd., Bd. 3, 44. Ebd., Bd. 4, 428. Ebd., Bd. 1, 159. Ebd., Bd. 3, 195.

417 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

»Ich stelle fest, daß ich diesen Heften niemals anvertraue, worüber ich mich freue, und kaum jemals, woran ich leide, noch was, ganz allgemein, rein augenblicklich ist. Beschreibungen, Erinnerungen. Wohl aber, was nur dazu angetan scheint, mein Transformationsvermögen zu vergrößern – meinen Implex durch Kombination zu verändern.« 260

In diesem Sinne kann man Valérys Aufzeichnungen als philosophisch-phänomenologische Notizen verstehen und lesen. Sie gleichen den Aphorismen von Lichtenberg oder Nieztsche und enthalten immer wieder überraschende Einsichten, da Valéry immer den Widerständen und dem Fremden nachging, um neue Transformationsimpulse wirksam werden zu lassen. So kann man die zwei folgenden Sätze als einen Kulminationspunkt seiner Denkbewegungen verstehen: »Das Befremden ist der wahre Anfang. Am Anfang war das Fremde.« 261

Der Jahrhundertroman von Marcel Proust À la recherche du temps perdu war in vielerlei Hinsicht eine weitere zentrale Quelle für Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes und Vorbild für seinen Gedanken der Transformation. Im Roman wird der Protagonist in ständiger Verwandlung beschrieben über verschiedene Lebensphasen hinweg bis hin zu dem Punkt im letzten Band, wo er sich zum Schreiben des Romans entscheidet, der gerade zu Ende geht. Anders als bei Valéry geht es bei Proust in hohem Maße um Beschreibungen, augenblickliches Erleben, intensiv geschildertes Leiden, Eifersucht, Gewalt, Verzückung und Erinnerung. Bei Proust scheinen alle Grundthemen menschlicher Existenz in verwickelten Geschichten und unter Einbezug vieler Personen in intensiven und ausgedehnten Beschreibungen auf. Sein Credo lautet dabei: »[A]uf der äußersten Spitze des Besonderen kommt das Allgemeine zur Entfaltung.« 262 Dieser Hinweis erlaubt es, in einer transformativen Phänomenologie keine Angst vor dem Konkreten und dem »Subjektiven« zu haben, denn nur wenn das Konkrete und das Subjektive auf die Spitze getrieben wird, gelangt man zum Allgemeinsten. Dies ist aber kein Lehrsatz, sondern muss in jeder Beschreibung neu erreicht werden, was nicht immer einfach ist und höchste methodische wie sprachliche Präzision erfordert. 260 261 262

Ebd., Bd. 1, 39. Ebd., Bd. 6, 554. Zitiert nach: Barthes, Die Vorbereitung des Romans (1978–1980), 30–31, Anm. 5.

418 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Phänomenologie«

Für die Methode der Phänomenologie kann festgehalten werden, dass sich der Gedanke einer transformativen Phänomenologie schon früh andeutet, aber bei Husserl vor allem durch das Festhalten an der Möglichkeit einer transzendentalen Generalklärung verdeckt wurde, obwohl vor allem seine »Manuskripte« zeigen, dass Husserl selbst im besten Sinne nichts anderes als transformative Phänomenologie betrieben hat. Hier zeigt sich, dass es einen durchaus philosophischen Sinn hat, die Phänomenologie als eine »Bewegung« und nicht als eingrenzbare »Schule« aufzufassen. 263

4.

Die Wendung »transformative Phänomenologie«

Die Wendung »transformative phenomenology« tauchte erstmalig auf in einer Auseinandersetzung zwischen buddhistischer Philosophie und Phänomenologie. In seinem Buch Mind as Mirror and the Mirroring of Mind. Buddhist Reflections on Western Phenomenology aus dem Jahr 1994 prägt Steven W. Laycock 264 die Wendung für eine Kapitelüberschrift, ohne sie in dem Buch inhaltlich als Leitgedanke weiter zu entfalten. Der einzige weiterführende Hinweis für die Bedeutung findet sich in einem Satz, in dem das Folgende gesagt wird: »The Buddhist epochē is transformative, not in the Husserlian sense in which ›the phenomenological reduction first exposes a subjectivity which already accepts the world,‹ but in its existential-metanoetic transmutation of the very possibility-form of mediate, disingenuous activity.« 265

Laycocks Hinweis legt nahe, dass in der buddhistischen epochē auch das Subjekt als Subjekt nicht vorausgesetzt ist, sondern es sich um eine radikalisierte epochē handelt, in der die Selbstzurücknahme deutlich weiter geht als bei Husserl. Sie reicht in einen Bereich, der noch vor dem Subjekt als Subjekt liegt. Hier zeigt sich in der Tat eine wichtige Perspektive, die den gesamten Ansatz der Phänomenologie Vgl. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie. Laycock war Professor für Philosophie an der University of Toledo/USA. Er war am Institut für Philosophie in Hawai’i/Honolulu in komparativer Philosophie ausgebildet worden und hatte zudem den Phänomenologen und Husserl-Spezialisten James Hart zu seinem Lehrer. 265 Laycock, Mind as Mirror and the Mirroring of Mind. Buddhist Reflections on Western Phenomenology, 157. 263 264

419 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

in ein neues Licht rückt. Festzuhalten bleibt, dass Laycocks Reflexionen zur Phänomenologie, die ausgehen von der buddhistischen Philosophie, Radikalisierungsmöglichkeiten in der phänomenologischen Methode aufzeigen, die es weiter zu sondieren und zu entfalten gilt. Ohne die Überlegungen Laycocks zu kennen, bin ich in meiner Studie zur Phänomenologie der Zeit im Buddhismus 266 zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Bei der genauen Analyse der Zeit-Phänomenologie von Nāgārjuna, Seng Zhao, Fazang und Dōgen zeigte sich, dass vor allem bei Fazang und Dōgen Ebenen in die Aufmerksamkeit treten, die vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegen und deren Grundsinn in dem Zusammenhang von Zeitlichkeit und Beziehung liegt. Da das Subjekt selbst nichts anderes als Zeit und Beziehung ist, kann es nicht einfach als Bezugspunkt vorausgesetzt werden, sondern es muss selbst als Entstehen in Abhängigkeit das Entstehen von Ich und Welt vollziehen und reflektieren. Da das Geschehen von Ich und Welt von keinem Punkt aus angehalten werden kann, um es dann »objektiv« und »neutral« zu beobachten, kann ich mich selbst nur als dieses Geschehen einüben in dieses Geschehen von Ich und Welt. Hieraus ergibt sich, dass die phänomenologische Beschreibung selbst nur als transformatives Geschehen und transformative Übung möglich ist. In diesem Sinne versucht transformative Phänomenologie in Schichten der Realisierung von Ich und Welt zurückzufinden, deren Existenz bei einem bereits vorausgesetzten Subjekt vehement bestritten werden müssen. Es geht dabei aber nicht nur um eine tiefere Erforschung des Bewusstseins und um höhere Bewusstseinszustände, sondern vor allem um die Erforschung der leiblichen und sinnlichen Eingelassenheiten in die Welt, die weit in die Naturprozesse selbst zurückreichen können. Die möglichen Vorgehensweisen in dieser Form der Phänomenologie sollen im letzten Abschnitt weiter differenziert werden. Zunächst möchte ich noch zwei Ansätze erwähnen, die ebenfalls mit der Wendung »transformative Phänomenologie« operieren. Im Jahr 2008 erschien unter der Herausgeberschaft von Valerie Malhotra Bentz und David Allan Rehorick der Band Transformative Phenomenology. Changing Ourselves, Lifeworlds, and Professional Practice. Der Band ist aus der Zusammenführung phänomenologischer und soziologischer Perspektiven entstanden. Neben Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty spielt die soziologisch orientierte PhäDiese Studie habe ich 2000/2001 als Habilitationsschrift abgefasst. Sie ist unter folgendem Titel erschienen: Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus.

266

420 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Die Wendung »transformative Phänomenologie«

nomenologie von Alfred Schütz eine zentrale Rolle. In enger Orientierung an den Analysen zur Lebenswelt bei Schütz und einer langen Erfahrung in der Arbeit mit Studierenden ist für Bentz und Rehorick die transformative Kraft konkreter phänomenologischer Beschreibungen immer stärker in den Vordergrund getreten. Vor diesem Hintergrund wird der Sinn von Phänomenologie wie folgt bestimmt: »Phenomenology, the study of consciousness and its objects (phenomena), is a way of knowing which employs enriched and embodied awareness. Phenomenology directs us to the fullness of experience rather than a remote or pro forma accumulation of information and facts. The creative capacity is enhanced by the opening of vision resulting from immersion in the subject matter rather than limiting the researcher to the traditional mode of observation or data gathering at a discrete distance. The aim of the study of phenomena (objects of consciousness) is to bring about awareness and understanding of direct experience. Unlike traditional methods of research, phenomenology involves the researcher in an enriched awareness of her own consciousness. It challenges one to let phenomena reveal themselves, rather than predetermining what phenomena are. Phenomenology seeks to portray the essential, or necessary structures of phenomena, and to uncover the meaning of lived experience within the everyday lifeworld.« 267

Die Zusammenführung von phänomenologischer Analyse im Sinne Husserls und der phänomenologischen Beschreibung von Phänomenen, die in der alltäglichen Lebenswelt erscheinen, hat zu der fruchtbaren Einsicht geführt, dass der Ausgang von höchst alltäglichen Erfahrungen die Möglichkeit birgt, diese durch phänomenologische Arbeit zu reflektieren und sie damit durch neue Zugänge und Interpretationen zu transformieren. 268 Die Beitragenden in dem Buch scheuen sich daher nicht, mit sehr persönlichen Geschichten und Erfahrungen zu beginnen, um diese dann in phänomenologischer Weise weiter zu erschließen. Das Buch ist sehr erfrischend, da nicht die methodische Dauerreflexion über die Möglichkeit von Phänomenologie überhaupt im Ausgang von Husserl im Zentrum steht, sondern anhand konkreter Erfahrungen Phänomenologie praktiziert wird. 269 Aus den konkreten Erfahrungen mit der Praxis phänomenologischer Transformative Phenomenology. Changing Ourselves, Lifeworlds, and Professional Practice, hg. v. Rehorick u. Bentz, 3. 268 Ebd., 25. 269 Für ein solches »Praktischwerden« der Phänomenologie und die Konsequenzen, die damit einhergehen vgl. Depraz, Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung; Ihde, Experimental Phenomenology. Multistabilities. 267

421 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

Erschließung von Erfahrungen entstehen auf diese Weise auch Impulse für erneute methodische Reflexionen phänomenologischer Praxis. Hier zeichnet sich ein fruchtbares Wechselverhältnis ab, so dass die phänomenologische Praxis selbst transformativ wirkt auf den Ansatz der Phänomenologie, wie dies bei genauerem Hinsehen von Anfang an der Fall war. Ein gegenwärtiger phänomenologischer Ansatz, bei dem genau dies der Fall ist, stammt von Bernhard Waldenfels. Er hat die Methode der Phänomenologie ausgehend von verschiedenen Versuchen zur Phänomenologie der Fremdheit in überaus fruchtbarer Weise weiter entfaltet. Im Ausgang vor allem von Husserl, Merleau-Ponty, Foucault und Levinas hat er eine »responsive Phänomenologie« entwickelt, die sich als ein Antworten auf den Anspruch des Fremden versteht. Die Erfahrung des Fremden beschränkt sich dabei nicht nur auf den fremden Anderen, die Fremdheit beginnt vielmehr in mir selbst, da auch ich in mir selbst Felder der Fremdheit erfahre, auf die es zu antworten gilt. Fremdes unterscheidet sich dabei grundlegend von Anderem in dem Sinne, dass Fremdes sich nie gänzlich im Verstehen auflösen lässt, da es nur gegeben ist als sich genuin Entziehendes. Nicht das Verstehen, sondern das Antworten auf Fremdes stehen daher im Zentrum der Phänomenologie von Waldenfels. Da die Ansprüche des Fremden durch rationales Verstehen prinzipiell nie zur Ruhe gebracht werden können, bleibt letztlich auch die Phänomenologie als solche unterwegs, ohne zu einem definitiven Ende gelangen zu können. Die Arbeit an der Erfahrung bleibt konfrontiert mit Horizonten der Fremdheit, die niemals bis ins Letzte aufgelöst werden können und auf die ich immer auch »kreativ antworten« kann. Waldenfels spricht daher in seinem Buch Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung 270 von »Transformationen der Erfahrung« und einer »Arbeit an der Erfahrung«. Er beschreibt dies wie folgt: »Der Prozeß der Umwandlung, Umgestaltung oder Umstrukturierung, der uns im antiken Sprachgebrauch als Metabolé oder Metamorphose, als Transformation oder Transfiguration begegnet, läßt sich allgemein als eine Arbeit der Erfahrung fassen, ähnlich wie Hegel von der Arbeit des Begriffs und Freud von Trauerarbeit spricht, wobei wir von den Konnotationen eines endgültigen Werks der Vernunft und einer definitiven Ablösung vom Anderen absehen. Die Erfahrung wäre eine Arbeitsstätte und eine Art Labora-

270

Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung.

422 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

torium, worin neue Erfahrungen gemacht und erprobt werden und nicht nur Vergangenes aufgearbeitet wird wie eine verpaßte Lektion.« 271

Wenn das Erfahren selbst zu einem »Laboratorium« wird, so werden die phänomenologisch Arbeitenden letztlich dazu aufgerufen, mit Erfahrungen zu experimentieren, um diese dann in phänomenologischer Beschreibung für die Phänomenologie und das Leben selbst fruchtbar zu machen. Unter der Überschrift »Heterogenese« zieht Waldenfels diese Konsequenz und sagt: »›Transformation‹, die sich auf der Ebene elementarer Erfahrung abspielt, bedeutet keinen bloßen Formenaustausch und Formenwandel, sie trägt Züge einer genuinen ›Information‹, wörtlich einer ›Einformung‹, durch die etwas in Form gebracht wird […] Primär ist sie in einem ähnlichen Sinne, wie Freuds Primärprozesse sich von den verarbeitenden Sekundärprozessen unterscheiden. Transformation bedeutet also Formung im Übergang, die entstehende Form ist transitorisch. Insofern wäre die responsive Phänomenologie zugleich als transformative Phänomenologie zu verstehen.« 272

Die Phänomenolgie von Waldenfels hat inzwischen einen reichen Schatz an phänomenologischen Beschreibungen zu Tage gefördert, an die in vielerlei Hinsicht angeschlossen werden kann. Seine Arbeit schöpft bis auf wenige Ausnahmen aus der europäischen Geistesgeschichte und deren Texttradition. Im globalen Kontext des Philosophierens lassen sich jedoch noch vielfältige weitere Herausforderungen finden, um die Arbeit an der Erfahrung in transformativer Absicht fortzusetzen.

5.

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

Philosophieren in einer globalisierten Welt bedeutet, sich den eigenen Grenzen und Grenzziehungen auszusetzen. Die dabei in Frage stehenden Grenzen sind uns häufig in verschiedener Hinsicht nicht bewusst. Erst in der Konfrontation mit anders gezogenen Grenzen oder herausfordernden Grenzerfahrungen können die eigenen Grenzen überhaupt zum Thema bewusster Reflexion werden. Eine erste Grenze, die es im globalen Kontext zu betrachten und zu bearbeiten gilt, ist die Grenze der Zuschreibung von »Philosophie«. Indem man aus ver271 272

Ebd., 263. Ebd., 267 f.

423 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

schiedenen Gründen allein der europäischen Geistesgeschichte zuschreibt, »Philosophie« entwickelt zu haben, hat man eine Grenze gezogen, die es in außerordentlich bequemer Weise erlaubt, viele Schwierigkeiten und Sachfragen auszuklammern, die unumgänglich durch eine erweiterte Perspektive entstehen. Man entledigt sich nicht nur der Notwendigkeit, fremde Sprachen zu lernen, sondern man erlaubt sich auch, wie selbstverständlich die eigene Position als den Bewertungsmaßstab für »in or out« z. B. bei geographischen, sachlichen und methodischen Grenzziehungen zu behaupten. In vielen Fällen geschieht diese Grenzziehung heute noch immer so, dass Philosophierende in Europa sich nicht einmal mehr die Mühe machen, Traditionen der Philosophie außerhalb Europas und Nordamerikas kennenlernen zu wollen, um sich dann ein eigenes Urteil bilden zu können. Im Glauben an die Richtigkeit des Mainstreams verteidigt man die eigenen Grenzziehungen in umso vehementerer Weise. Diese Haltung hat auf institutioneller Ebene zur Folge, dass philosophische Themen, die über den europäischen Rahmen hinausführen, im Lehrplan aktiv verhindert werden. Dies hat wiederum die Auswirkung, dass auch der kommenden Generation die Möglichkeit genommen wird, sich ihr eigenes Urteil im Rahmen des universitären Studiums zu bilden. Die Situation wird noch komplizierter durch die Tatsache, dass beispielsweise Philosophierende in Japan in Bezug auf die Philosophie durchaus häufig die Position vertreten, dass es genuine Philosophie nur in Europa gegeben hätte. Dabei blenden sie die inzwischen über hundertjährige eigenständige Tradition des Philosophierens in Japan als unwesentlich aus, erkennen die indische und chinesische Denktradition nicht als Philosophie an und übersehen dabei auch die Vielfalt der philosophischen Ansätze in Europa. Dies bestätigt wiederum eurozentiert Philosophierende in der Auffassung, dass nur in Europa Philosophie entstanden sei, ohne dabei zu bemerken, dass sich die Japaner die europäischen Vorurteile zu eigen gemacht haben, um die Philosophie möglichst »rein« europäisch zu betreiben. Auch wenn Hegel das »orientalische Denken« aus der Philosophie ausgeschlossen hatte, so hat er dies getan auf der Grundlage intensiver Lektüre der damals zugänglichen Texte aus der chinesischen und indischen Geistestradition. Dass er zu einem deutlich negativen Urteil gekommen ist, trägt dem Umstand Rechnung, dass damals nur wenige Quellen in Übersetzung zugänglich waren und Hegel weder Chinesisch noch Sanskrit studiert hat. Dass Hegels Zeit424 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

genossen – wie Friedrich Schlegel oder Wilhelm von Humboldt –, die sich intensiv mit asiatischen Sprachen beschäftigt haben, zu anderen Ergebnissen gekommen sind, zeigt, dass das Studium der Sprachen und die Lektüre im Original den Zugang erheblich verändern können. Vor dem Hintergrund des in diesem Buch Entwickelten scheint es mir redlich zu sein, beim Philosophieren in einer globalisierten Welt zunächst eine maximal offene Verwendung des Wortes »Philosophie« zugrundezulegen, um sich für Felder der Erfahrung philosophierend öffnen zu können, die aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen oder gar tabuisiert wurden und werden. Transformative Phänomenologie arbeitet im Kontext einer globalisierten Welt an diesen zum Teil philosophisch tabuisierten Grenzen der Erfahrung, die in meinem Falle der europäischen Tradition entstammen. Erst in der mit aller Vorsicht betriebenen bewussten Überschreitung bestimmter Grenzen können Bereiche in ihrer möglichen philosophischen Bedeutung sondiert werden, denen unter den herkömmlichen Grenzziehungen keine Aufmerksamkeit geschenkt werden kann und darf. Diese Grenzen betreffen nicht nur den Ausschluss außereuropäischer Philosophie, sondern auch die Grenzziehungen innerhalb der europäischen Philosophie, zu anderen Wissensdisziplinen und zu den ästhetischen Erfahrungen in den Künsten. Da transformative Phänomenologie explizit als philosophierende Arbeit an der eigenen Erfahrung und deren Grenzen zu verstehen ist, kann sie nicht dabei stehen bleiben, nur von den Erfahrungen auszugehen, die einem selbst in zufälliger Weise aus der eigenen Biographie zugänglich geworden sind. Transformative Phänomenologie sucht sich demgegenüber aktiv Auseinandersetzungsfelder für die Arbeit an den Grenzen der eigenen Erfahrung. Dies bedeutet nicht, dass alles und jedes affirmiert wird, sondern es geht vielmehr darum, verschiedene Artikulationsformen des Lebens philosophisch einzubeziehen, die von der Philosophie vergessen, verdrängt oder gar tabuisiert wurden und werden. Der Ausgang von der Erfahrung, die immer auch eine individualisierte Erfahrung ist und sein muss, erlaubt es, auch den allein auf Begriffe zentrierten philosophischen Zugang zu befragen und zu durchleuchten. Denn im Hintergrund von Begriffen liegen Erfahrungen und vor allem auch Interessen, die sich gern hinter der Begriffsarbeit verbergen. 273 So geht es nicht nur um Barteit, Inaugurationsstrategien. Zur Genese des philosophischen Metasubjekts am Beispiel von Edmund Husserl und Martin Heidegger.

273

425 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

Grenzen, die nach außen projiziert werden, sondern auch um Grenzen, die das Fremde in mir selbst betreffen, das durch Verdrängung oder Tabuisierung ferngehalten wird. 274 Transformative Phänomenologie arbeitet an den äußeren wie den inneren Grenzen, wobei die Unterscheidung von Außen und Innen selbst noch in die Untersuchung einbezogen werden muss. Im philosophischen Sprachgebrauch werden Unterscheidungen und Urteile verwendet, die allzu häufig als selbstverständlich hingenommen werden. Nur in der experimentellen Zurücknahme von Unterscheidungen und Urteilen kann philosophisch untersucht werden, ob Alternativen existieren, die unsere Erfahrungen anders erschließen. Genau einen solchen philosophischen Experimentierraum schlägt Merleau-Ponty vor: »Wenn zutrifft, daß die Philosophie, die sobald sie sich als Reflexion oder als Koinzidenz deklariert, das zu Findende urteilend vorwegnimmt, so muß sie alles noch einmal aufgreifen, muß sie die Werkzeuge der Reflexion und der Intuition ablehnen, muß sie sich dort einrichten, wo diese sich noch nicht unterscheiden, in Erfahrungen, die noch nicht ›verarbeitet‹ sind, sondern uns ein ganzes Gemisch auf einmal anbieten – ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, Existenz und Wesen –, wodurch es der Philosophie möglich wird, diese Begriffe neu zu bestimmen. Sehen, Sprechen und sogar Denken – dies unter gewissen Vorbehalten, denn sobald man Denken und Sprechen vollkommen voneinander trennt, ist man bereits unter dem Regime der Reflexion – sind Erfahrungen dieser Art: gleichzeitig unwiderruflich und rätselhaft. In allen Sprachen haben sie einen Namen, aber dieser umgibt sich überall auch mit Bedeutungsbüscheln, Dickichten aus Eigensinn und übertragenem Sinn, und infolgedessen erbringt keiner dieser Namen – wie das in der Wissenschaft der Fall ist – eine Klärung dadurch, dass dem Benannten eine umschriebene Bedeutung zugeordnet würde, sondern diese Namen sind eher die wiederholte Andeutung und der insistierende Hinweis auf ein ebenso vertrautes wie unerklärtes Geheimnis, auf ein Licht, dessen Ursprung dadurch, dass es alles übrige erhellt, im Dunkeln bleibt. Wenn wir im Sehen und Sprechen selbst einige der lebendigen Bezüge entdecken könnten, durch die ihnen ein solches sprachliches Schicksal beschieden ist, so können uns diese Bezüge vielleicht lehren, wie wir unsere neuen Werkzeuge gestalten sollen, und vielleicht würde uns unsere Untersuchung und unser Fragen selbst dadurch verständlich werden.« 275

Elberfeld, »Selbstkompetenz« und »Fremdheitskompetenz«. Die Frage nach dem Fremden in mir und dir. 275 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 172. 274

426 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

Der zentrale Punkt, den Merleau-Ponty in dieser Passage starktmacht, besteht darin, dass das Philosophieren sich in der Zuwendung zur Erfahrung grundsätzlich aller definitorischer Voraussetzungen entledigen muss, um dann in sprachlich entsicherter Weise eine neue Sprache und neue Unterscheidungen zu finden. Dies mag für einige gefährlich erscheinen, da wir auch unsere feste Vorstellung von einem verantwortlichen Subjekt oder einem beständigen Ich als Voraussetzungen zunächst hinter uns lassen müssen, um sie im erfahrenden Durchgang durch die »region sauvage« (wilde Region), wie Merleau-Ponty sie nennt, allererst neu bestimmen zu können. Wie dies methodisch geleitet erfolgen kann, wird bei Merelau-Ponty nicht deutlich. Im Anschluss und in Weiterführung des genannten Gedankens möchte ich daher im Folgenden Experimentierräume für eine transformative Phänomenologie in die Aufmerksamkeit heben, die methodisch geleitet in Grenzbereiche oder gar Tabuzonen führen. Dabei sollen Grenzen und Tabus eigens thematisiert werden, durch die Ausschlüsse und Marginalisierungen von Themen, Praktiken, Menschen und Kulturen entstehen. Vorausgesetzt ist insgesamt, dass nicht der Anspruch erhoben wird, eine letzte Durchsicht für alle Vorurteile zu finden, oder dass keine andere Art des Philosophierens mehr möglich sei. Die folgenden Überlegungen wollen nicht dogmatisch festlegen, wie zu philosophieren ist, sondern kritisch – d. h. auch unterscheidend – verschiedene Grenzen des philosophischen Diskurses in einer globalisierten Welt in den Blick bringen, an denen transformativ gearbeitet werden kann. Es geht auch darum, in möglichst offener Weise zukünftige Räume phänomenologischer Forschung in transformativer und globaler Perspektive zu erkunden und zu entwerfen.

5.1. Phänomenologische Beschreibung und die Vielfalt der Sprachen Die Gegenwart des Philosophierens ist im Hinblick auf die Situation der Sprachen durch einen Widerspruch gekennzeichnet. Auf der einen Seite gab es noch nie ein so großes Bewusstsein für die Vielfalt der Sprachen, die in der Welt gesprochen werden und in denen sich mitunter lange Schrifttraditionen entfaltet haben. Auf der anderen Seite stehen viele Wissenschaftssprachen unter dem Druck, ihre Ergebnisse im Englischen zu präsentieren oder gar die eigene Sprache 427 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

ganz aufzugeben zugunsten des Englischen: einerseits ein Bewusstsein von Vielfalt, andererseits ein Vereinheitlichungsdruck, durch den alles in einen bestimmten Standard gegossen werden muss. Da es in Europa noch immer üblich ist, nicht nur eine Sprache in der Schule zu lernen, sondern bei höherer Bildung auch zwei oder drei, ist die Erfahrung noch präsent, dass verschiedene Sprachen unterschiedliche Differenzierungsmuster bereithalten. Mit Wilhelm von Humboldt ist daher zu sagen, dass man von Sprache nicht im Allgemeinen sprechen kann, sondern Sprache immer nur in der Vielfalt der Sprachen existiert. Daraus möchte ich das Folgende ableiten: Wenn man sein Philosophieren heute nur in einer Sprache entwickelt, ohne fundierte Kenntnisse anderer Sprachen zu besitzen, entstehen Einschränkungen und Grenzen, die ein fruchtbares Philosophieren in einer globalisierten Welt nicht zulassen. Die Grenzen, die durch eine solche Einschränkung entstehen, sind unsichtbar, da sie argumentativ nicht überwunden werden können und auch nicht auf der Grundlage nur einer Sprache erklärbar sind, da schlicht die Erfahrung mit einer anderen als der Muttersprache fehlt. Denn die mögliche Verschiedenheit, die durch ein Philosophieren in einer fremden Sprache entsteht, kann nur in ganzer Fülle realisert werden, indem ich eine fremde Sprache zumindest im Ansatz erlerne. Da es selbstverständlich unmöglich ist, alle Sprachen zu lernen, bleiben wir im Horizont der verschiedenen Sprachen im Philosophieren immer auf andere Menschen angewiesen, die weitere Fremdsprachen beherrschen und so unsere Beschreibungs- und Erfahrungsmöglichkeiten kontrastiv bereichern oder kritisch hinterfragen können. 276 Aus den genannten Gründen ist das Erlernen von Fremdsprachen ein zentraler transformativer Schritt in der Arbeit an den eigenen Grenzen. 277 Für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt wäre es wünschenswert, wenn in der philosophischen Ausbildung zumindest eine Sprache erlernt würde, die nicht der eigenen Sprachfamilie angehört und die in einem anderen Schriftsystem notiert wird. So könnten deutschsprachig Philosophierende Arabisch, Hebräisch, Suaheli, Türkisch, Totonakisch, Japanisch oder Chinesisch lernen, chinesischsprachig Philosophierende Sanskrit, Persisch, Sioux, Vgl. zu diesem Thema insgesamt Elberfeld, Sprache und Sprachen. Man könnte in diesem Sinn den Satz von Wittgenstein aus dem Tractatus: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« variieren und sagen: Die Grenzen meiner Sprachen bedeuten die Grenzen meiner Welt.

276 277

428 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

Igbo oder Deutsch. Auf diese Weise würde ein Reflexionsnetz zwischen verschiedenen Sprachen entstehen, durch das der Reichtum verschiedener Sprachen in philosophischer Hinsicht überhaupt erst einmal sichtbar würde. Bisher entstehen diese Verbindungen eher in zufälliger Weise, so dass beispielsweise ein japanischsprachiger Philosoph eher aus zufälligem Interesse beginnen könnte, Igbo zu erlernen. Für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt ist dies aber nicht ausreichend. Vielmehr ist es notwendig, über eine systematische institutionelle Förderung der Vielsprachigkeit als methodische Notwendigkeit in der universitären Philosophieausbildung nachzudenken, die sich nicht nur auf die üblichen großen Sprachen wie das Englische und Chinesische bezieht. 278 Mit einer solchen Förderung würden nicht nur neue Texttraditionen in den Blick treten, sondern die Sprachen selbst könnten als Möglichkeiten genutzt werden, um transformative Phänomenologie zu betreiben. So wie in den beiden vorhergehenden Kapiteln argumentativ auf die grammatischen Strukturen verschiedener Sprachen zurückgegriffen wurde, könnte eine grammatisch fundierte Sprachenkritik entwickelt werden, die sich transformativ auch auf die Beschreibung von Erfahrung auswirkt. Es würden so Optionen der Beschreibung entstehen, die im Rahmen nur einer Sprache kaum möglich sind, da durch jede einzelne Sprache immer Bestimmtes akzentuiert wird. Es ist daher eine zentrale Dimension für das Philosophieren in einer globalisierten Welt, die Beschreibungs- und Strukturierungsmöglichkeiten verschiedener Sprachen für eine transformative Phänomenologie fruchtbar zu machen. Damit erhält auch die Einsicht der Sprachwissenschaften, dass jede Sprache eine hohe Komplexität von Differenzierungen anbietet, die aber jeweils verschieden strukturiert ist, im Philosophieren einen zentralen Ort.

5.2. Phänomenologische Arbeit im Kontext der Interdisziplinarität Die Philosophie hat längst im Kanon der Wissenschaft ihre führende Rolle verloren. Dies wirkt bis heute bei Philosophierenden als unbeJay Garfield, ein inzwischen weltweit angesehener Spezialist für tibetischbuddhistische Philosophie, wurde in den 1980er Jahren von seiner Universität angehalten, als Philosophieprofessor zumindest noch eine außereuropäische Sprache zu lernen. Dies hat für seinen philosophischen Lebenslauf erhebliche Folgen gehabt.

278

429 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

wusste Kränkung, so dass mit noch größerem Engagement und noch höherem Nachdruck an der Rolle gearbeitet wird, alle anderen Wissenschaften fundieren und begründen zu wollen. Wie John Dewey in der eingangs angeführten Passage sagt, ist es an der Zeit, in bescheidener, aber zugleich mutiger Weise die Rolle der Philosophie im Kanon der Wissenschaften neu zu verstehen. Dabei kann die Philosophie die Möglichkeit nutzen, über die Entstehung von Wissen, den Vollzug des Handelns, die Bedeutung von Sinnlichkeit usw. in allgemeiner Weise nachzudenken, um sich auch von traditionellen Vorstellungen, die durch die Philosophie selbst festgelegt wurden, zu lösen. In diesem Sinne können die Ergebnisse aus verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften als transformative Möglichkeiten ergriffen werden, um neue Unterscheidungen und Strukturen durchzuspielen und zu entwerfen. Als Beispiel für eine solche mögliche Neuordnung philosophischen Wissens durch die Einbeziehung verschiedener Wissenschaften möchte ich die Einteilung der Sinne und das Verständnis von Sinnlichkeit heranziehen. Aristoteles hat in seinem Buch De Anima für den europäischen Diskurs in kanonischer Weise die Fünfzahl der Sinne festgelegt. Über Jahrhunderte und zum Teil bis heute scheint es eine unumstößliche Wahrheit zu sein, dass Menschen »fünf« Sinne besitzen, denen fünf Organe unseres Körpers entsprechen: Augen, Ohren, Nase, Zunge, Haut. Bei genauerem Lesen des aristotelischen Textes zeigt sich, dass auch er zunächst gezögert hatte, ob nicht doch mehr Sinne im Tastsinn zu unterscheiden sind wie beispielsweise die Wahrnehmung von Temperatur. Letztlich hat Aristoteles dieses Problem aber durch eine autoritative Festlegung beseitigt und die Unterscheidung von »fünf« Sinnen für verbindlich erklärt. 279 Erst im 18. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung aufgebrochen, unter anderem von Kant, der in seiner Anthropologie beispielsweise einen »Vitalsinn« einführt, der die Empfindung des ganzen Körpers betrifft. Im 19. Jahrhundert wurden dann aufgrund der Erforschung von Schwindelempfindungen erste Hypothesen über ein »Gleichgewichtsorgan« angestellt, das sich – was uns heute durchaus geläufig ist – im Ohr befindet. Spätestens mit dieser Entdeckung und Bisher habe ich zwei Versuche unternommen, dieses Themengebiet in transformativ phänomenologischer Weise anzugehen: Elberfeld, Phänomenologie sinnlicher Erfahrung in interkultureller Perspektive. Zur Bedeutung des »Bewegungssinns«; ders., Sinnlichkeit unterscheiden.

279

430 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

sprachlichen Erweiterung in der Sinnesphysiologie ist das Fünferschema in der Einteilung der Sinne hinfällig bzw. signifikant erweitert worden. In der Sinnesphysiologie und der Wahrnehmungpsychologie kam es dann Ende des 19. Jahrhunderts zur Unterscheidung einer wahren Flut von »neuen Sinnen«: Muskelsinn, Temperatursinn, Vibrationssinn, Schmerzsinn, Propriozeption, Interozeption, Lage- und Stellungssinn usw. Zu diesen Entwicklungen stellt Robert Jütte fest: »Die von den führenden Sinnesphysiologen des 19. Jahrhunderts entwickelten Methoden und Instrumente zeitigten zahlreiche, auch heute noch gültige Forschungsergebnisse, die allerdings mit der traditionellen Vorstellung von den fünf Sinnen kaum noch zu vereinbaren waren.« 280

Angesichts dieser Ergebnisse ist die Philosophie aufgefordert, Stellung zu beziehen, da die »Sinnlichkeit« zu den traditionellen Sachthemen der Philosophie zählt und auch innerhalb der Phänomenologie als Grundphänomen eine zentrale Rolle spielt. Wenn aber Vorschläge für neue Ordnungen der Sinne durch die Forschungen in anderen Wissenschaften entstehen, so kann philosophisch darauf reagiert werden. Die Philosophie hat dies gut hundert Jahre versäumt und immer nur sporadisch Vereinzeltes aus diesem Wissen aufgenommen. Es wäre somit eine zentrale Aufgabe transformativer Phänomenologie, eine Lehre von der Sinnlichkeit zu entwerfen, die die Ergebnisse der anderen Wissenschaften mit einbezieht. Über die Einbeziehung der neuen Ergebnisse in den Wissennschaften hinaus müsste allerdings berücksichtigt werden, dass auch die Unterscheidungen von Sinnlichkeit in anderen Sprachen und außereuropäischen Kulturen und Philosophien mit einzubeziehen sind. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut die Fruchtbarkeit anderer Sprachen, die jeweils ein Vokabular mit verschiedenen Gewichtungen für die Bereiche der Sinnlichkeit anzubieten haben. Man kann erneut deutlich erkennen, dass ein solches Thema im Kontext global orientierten Philosophierens nicht von einer einzelnen Person bewältigt werden kann, sondern nur durch die Zusammenarbeit vieler Menschen zu entfalten ist. Themen und Phänomene dieser Art lassen sich viele finden: »Leib«, »Sprache«, »Gesundheit«, »Menschsein«, »Handeln«, »Wille«, »Gefühl«, »Wahrheit«, »Bewusstsein«, »Geschichte« usw. All 280

Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, 254.

431 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

diese Themen können im Rahmen einer transformativen Phänomenologie im Zusammenhang mit verschiedenen Wissenschaften – was ja in vielfältiger Weise auch bereits geschieht – und im Zusammenhang mit außereuropäischen Sprachen und Philosophien erweitert und grenzüberschreitend betrachtet werden. Auch in diesen Gebieten ist nicht zu erwarten, dass wir zu schnellen Festlegungen und Zuschreibungen gelangen, vielmehr zeichnet sich hier ein Fülle von Forschungsfeldern ab, die die Themengebiete der Philosophie nachhaltig verändern würden.

5.3. Phänomenologische Beschreibung und ästhetische Praxis »Künste« wie Theater, Poesie, Rhetorik, Malerei und Musik haben in Europa seit je einen stärkeren Bezug zur sinnlichen Erfahrung des Menschen besessen als die Philosophie. Dieser starke Erfahrungsbezug ist ihnen allerdings von vielen europäischen Philosophen als Makel vorgeworfen worden, so dass eher vor ihnen gewarnt wurde, als sie in den philosophischen Erkenntnisprozess einzubeziehen. Erst im 18. Jahrhundert entstand in Europa eine Disziplin der Philosophie, die sich mit den »unteren Erkenntnisvermögen« des Menschen aus philosophischen Gründen beschäftigte. Seitdem Baumgarten diese Disziplin »Ästhetik« nannte, konnten sich unter diesem Namen bis heute vielfältige Ansätze sammeln, in denen sich das philosophische Erkennen an den Grenzen »objektiver« Erkenntnis zu reiben bemühte. Herder, Schelling, Nietzsche, Dewey und Adorno sind nur einige der wichtigen Namen, die die Phänomene des Ästhetischen in zentraler Weise in ihr philosophisches Denken einbezogen haben. 281 Sie tun dies jenseits einer bloßen Theoretisierung des »Schönen« in den klassischen Künsten, wozu die Ästhetik seit dem 19. Jahrhundert vielerorts geworden ist. Das Ästhetische und die ästhetischen Praktiken – als Produktion und Rezeption – werden bei den genannten Denkern vielmehr als transformative Möglichkeiten für das eigene Denken betrachtet. So schreibt John Dewey in seinem Buch Art as Experience: »The work of art is thus a challenge to the performance of a like act of evocation and organization, through imagination, on the part of the one who experiences it. […] This fact constitutes the uniqueness of esthetic experience, and this uniqueness is in turn a challenge to thought. It is parti281

Vgl. hierzu ausführliche Elberfeld, Philosophie und ästhetische Praxis.

432 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

cularly a challenge to that systematic thought called philosophy. […] To esthetic experience, then, the philosopher must go to understand what experience is.« 282

Dewey betont in dieser Passage besonders, dass Philosophierende ästhetische Erfahrungen in den Künsten aktiv aufsuchen sollten, um dabei vor allem lernen zu können, wie Erfahrung von sich her zeigt und was sie bedeutet. In der Tat geht es spätestens seit dem 20. Jahrhundert in den europäischen Künsten wie Malerei, Musik, Theater, Kino usw. darum, neue Erfahrungsformen zu erkunden und diese Menschen zugänglich zu machen. Georg Picht beschreibt daher das, was die Künste im Medium der Sinne tun, wie folgt: »Die Sinne entdecken, was der bloßen Reflexion unerreichbar bleibt. Die Sinne denken. […] Dieses allmählich entdeckende Vordringen des Sehens, das den Prozeß der Entstehung des Bildes reproduziert, darf nicht mit der Reflexion über das Gesehene verwechselt werden. Es ist keine Leistung des Begriffs. Das läßt sich leicht daran nachprüfen, daß unserem Denken die Begriffe fehlen, um das, was das forschende Auge entdeckt, zu bezeichnen.« 283

Wenn wir von dieser Annahme ausgehen, so kann man von einem eigenen Forschungsprozess sprechen, der sich in den Künsten vollzieht und an dem das Philosophieren nicht vorbeigehen darf, da hier die grundsätzlichen Möglichkeiten des Erfahrens selbst verhandelt werden in den Medien der Künste. Georg Picht wagt in seinem Buch die These, dass die Philosophie inzwischen in der Bestimmung dessen, was Erfahrung bedeutet, hinterherhinke und man zunächst die Erkenntnisse, die in den Künsten gewonnen worden sind, aufarbeiten müsse. 284 In den Künsten selbst hat sich durch verschiedene institutionelle Bedingungen ein Gebiet gebildet, das den Namen »Künstlerische Forschung« trägt, in dem bewusst in und durch Kunst geforscht wird. 285 In diesem Bereich verbinden sich immer wieder künstlerische und philosophische Interessen, so dass auch Formen des Philosophierens entstehen, die unter dem Namen »Performatives Philosophieren« inzwischen eine Sammelbezeichnung erhalten haben. 286 In diesen Be282 283 284 285 286

Dewey, Art as Experience, 285. Picht, Kunst und Mythos, 336 f. Ebd., 297. Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, hg. v. Badura et al. Cull, Performance Philosophy – Staging a New Field.

433 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

reichen zeichnet sich ab, dass ästhetische Praktiken ein hohes transformatives Potential freisetzen für die phänomenologische Beschreibung dessen, was Erfahrung bedeutet. In den bisher genannten Entwicklungen werden die globalen Perspektiven so gut wie nicht berücksichtigt, so dass der Blick konsequenterweise geweitet werden muss. Mit der Erweiterung stoßen wir auf neue Grenzen, die es transformativ zu bearbeiten gilt. Denn blickt man beispielsweise in die chinesische oder japanische Tradition, so finden wir dort Einteilungen und Unterscheidungen der Künste, die sich kaum mit den europäischen Unterscheidungen decken. 287 Zudem tritt uns ein Vokabular für die Beschreibung ästhetischer Erfahrungen entgegen, das in signifikanter Weise von dem europäischen Vokabular abweicht. Hier treten erneut die verschiedenen Sprachen und Auslegungstraditionen in den Blick, aber auch ganz andere Praktiken wie beispielsweise Teetrinken, Schreiben, Schwertziehen und Blumenstecken, die in die höchsten Ränge der Künste eingeordnet werden. Sie bilden eine wichtige Herausforderung für das, was in Europa das Ästhetische genannt wird. 288 In heuristischer Absicht kann es für eine transformative Phänomenologie darum gehen, zunächst feinkörnig und erfahrungsbezogen zu beschreiben, in welcher Weise diese fremden Formen ästhetischer Praxis wirksam sind, welche Erfahrungen sie entfalten und welche geistigen und leiblichen Wirkungen sie für Menschen haben, die sie ausüben. Dabei kann es auch darum gehen, diese Praktiken zunächst selber zu erproben und zu erfahren, um zumindest einen ersten Eindruck von deren Wirksamkeit am eigenen Leibe zu erhalten. Mit diesem Schritt komplizieren sich die methodischen Probleme in erheblicher Weise.

5.4. Körperliche Übungspraxis und transformative »Phänopraxie« Mit dem letzten Punkt stoßen wir an eine Grenze, an der sich gewöhnlich die Geister scheiden. Viele Philosophierende begrüßen sicher eine Öffnung zu anderen Wissenschaften und auch das Erlernen von fremden Sprachen dürfte keine allzu großen Widerstände hervorrufen. Wenn es aber darum geht, sich aus methodischen Gründen Elberfeld, Einteilung der Künste in interkultureller Perspektive. Vgl. Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, hg. v. Elberfeld u. Wohlfart.

287 288

434 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

für das Philosophieren selbst körperlichen Praktiken auszusetzen, die nicht nur darin bestehen, ein Bild anzuschauen, ins Theater zu gehen oder Musik zu hören, ist eine Tabugrenze erreicht, über die viele nicht mehr mit sich reden lassen. Schon die Einladung, selbst zu malen, zu musizieren oder Gedichte zu schreiben, kann vehemente Abwehrreaktionen und massive Widerstände auslösen. Wenn dann auch noch darüber hinausgehend angesonnen wird, Yoga, Zen-Meditation oder Qigong zu üben, wird die Kommunikation zumeist abgebrochen und ein solches Projekt vollständig unter Esoterikverdacht gestellt. Um diese Ebene klar und deutlich zu motivieren, ist es hilfreich, zurückzublicken in die antike Tradition der Philosophie in Europa. Michel Foucault hat sich seit dem Ende der 1970er Jahre intensiv mit den »Subjektivierungspraktiken« der antiken Philosophie beschäftigt. Seine Aufmerksamkeit galt dabei nicht primär den rein theoretischen Gehalten, sondern vor allem den konkreten Praktiken der Selbstsorge (epimeleia heautou), durch die sich Philosophierende bereitmachen sollten und mussten, um die Wahrheit erkennen und diese im Zusammenhang damit in Sprache fassen zu können. Durch diesen Blick auf die Texte ergibt sich ein überraschendes Bild von der Praxis des Philosophierens: »Die epimeleia bezeichnet stets auch eine Reihe von Handlungen, und zwar solche, die auf einen selbst gerichtet sind, Handlungen, durch die man für sich selbst Sorge trägt, durch die man sich verändert, reinigt, verwandelt und läutert. Das beinhaltet eine Reihe von Praktiken, meistens Übungen, die (in der Geschichte der abendländischen Kultur, Philosophie, Moral und Geistigkeit) ein langes Leben haben. Zum Beispiel die Meditiationstechniken, Techniken der Erinnerung der Vergangenheit, Techniken der Gewissensprüfung, Techniken der Überprüfung der Vorstellungen, sofern sie Vorstellungen des Geistes sind, usw.« 289

Beginnt man die Aufmerksamkeit auf die Praktiken zu richten, die nötig sind, um die Philosophierenden auf die Wahrheit vorzubereiten bzw. in ihrem Selbstsein so zu verändern, dass sie zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit fähig werden, scheint es kaum noch einen Unterschied zwischen der philosophischen Tradition in der Antike und den philosophischen Traditionen im alten Indien und China zu geben. Denn die körperlichen Übungstraditionen in Indien und China sind eine notwendige Begleitung für die Erkenntnis der Wahrheit und die Praxis der Wahrhaftigkeit. Aus indischer Perspektive bedarf es bei289

Foucault, Hermeneutik des Subjekts, 27.

435 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

spielsweise einer intensiven Körper- und Bewusstseinsschulung durch Yoga, buddhistische Achtsamkeitsübung oder andere meditative Praktiken, um Bewusstsein in seinen verschiedenen Ausprägungen thematisieren und erkennen zu können. Aus der Perspektive Foucaults und seiner Interpretationen zur antiken Philosophiepraxis scheint die Notwendigkeit von Körperübungen nicht abwegig, sondern man fragt sich vielmehr, warum diese Dimensionen in Europa komplett vergessen bzw. verdrängt wurden. »Wenn wir jetzt einen Sprung über mehrere Jahrhunderte machen, können wir sagen, daß wir an dem Tag in die Neuzeit eingetreten sind (ich meine die Geschichte der Wahrheit ist in die Neuzeit eingetreten), als wir sagen konnten, daß das, was Zugang zur Wahrheit verschafft, daß die Voraussetzung, unter der das Subjekt zur Wahrheit gelangen kann, die Erkenntnis und die Erkenntnis allein ist. […] Das heißt in dem Augenblick, wo der Philosoph (oder der Gelehrte oder einfach der Wahrheitssuchende), ohne daß ihm irgend etwas anderes abverlangt wird, ohne daß sich sein Subjektsein in irgendeiner Weise verändern oder wandeln muß, fähig ist, die Wahrheit in sich und allein mittels seiner Erkenntnisakte zu erkennen und Zugang zu ihr zu haben.« 290

In diesem Zitat beschreibt Foucault die philosophische Haltung, die in hohem Maße einen Affekt entwickelt hat gegen den Gedanken, dass Philosophieren in irgendeiner Form mit vorbereitenden geistigen und körperlichen Übungen zusammengebracht werden könnte, sollte oder gar müsste. Denn aus der Perspektive dieser Haltung zählt allein die begriffliche Erkenntnis, und auf die hat jeder Zugriff, ohne größere Umwege machen zu müssen, da »der gesunde Verstand die bestverteilte Sache der Welt ist«, wie Descartes sagt. 291 Mit dieser radikalen Abkopplung des Philosophierens von vielen Praktiken geistiger und körperlicher Art wurde in Europa die Voraussetzung geschaffen, eine inzwischen weltweit wirksame Form des Philosophierens zu standardisieren, durch die in der Erkenntnis jeder transformative Rückbezug auf das konkrete leibliche Subjekt abgeschnitten wurde und wird zugunsten einer »objektiven Erkenntnisform«, die allein zum Ort der Wahrheit stilisiert wird. Dies gilt vor allem auch für die Diskurse zur Ethik, die sich heute weitgehend als rationale Diskurse ethischer Begründung ausgestaltet haben, wobei der Rückbezug auf das konkret

290 291

Ebd., 35. Descartes, Discours de la Méthode, 3.

436 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

handelnde Subjekt in seiner Endlichkeit sehr schwach ist oder ganz ausgeblendet wird. Denn aus dieser Sicht kann nur eine ethische Begründung einen Wahrheitsanspruch erheben, die logisch widerspruchsfrei ist und bestimmten Rationalitätskriterien genügt. Die konkrete ethische Praxis selbst spielt dabei eine nachgeordnete oder gar keine Rolle, da diese letztlich zu unübersichtlich und nur schwer zu begründen ist. Die philosophischen Begründungen fragen auch nicht danach, wie Menschen sich vorbereiten können oder verändern sollten, um den ethischen Ansprüchen gerecht werden zu können. Diese und ähnliche Fragen werden aus der Frage nach der Ethik radikal ausgeschlossen, da sie aus rationalen Gründen in der Dimension der Begründung nicht vorkommen dürfen. 292 Der Rückblick in die europäische Tradition kann helfen, methodisch geleitet eine durch körperliche Praktiken vollzogene transformative »Phänopraxie« zu entwickeln. 293 Ein grundlegender Unterschied zu den antiken Praktiken – der von Anfang an betont werden soll – ist, dass es zunächst nicht primär um eine ethische Formung des Menschen gehen kann, sondern die körperlichen Übungen selbst im ersten Schritt der phänomenologischen Erforschung beispielsweise leiblicher Erfahrungsdimensionen dienen. Erst im zweiten Schritt kann dann gefragt werden, ob bestimmte körperliche Übungen eine ethische Wirkung haben können, beispielsweise für die Wahrnehmungen des Mitmenschen, so dass aus einem Wissen um die Phänomene der Zwischenmenschlichkeit auch ein Können hervorgehen kann. Ebenso kann dann die Sensibilisierung für die eigenen körperlichen Empfindungen und Gefühlsprozesse durch praktische Übungen auf ihre ethische Wirksamkeit hin untersucht werden. Dies wäre im Rahmen einer transformativen Phänomenologie und Phänopraxie ethischer Phänomene zu entfalten. Zunächst können körperliche Übungspraktiken beispielsweise die Phänomene Wahrnehmung und Bewusstsein fokussieren, um diese genauer untersuchen zu können. In diesem Bereich zeichnen sich inzwischen verschiedene Ergebnisse und Praktiken ab, an die angeknüpft werden kann. So hat sich in Verbindung mit dem jetzigen Dalai Lama eine Bewegung gebildet, die unter der Bezeichnung »Contemplative Science« Bewusstseinsformen untersucht unter diEinen dieser Tendenz entgegengesetzten Impuls ausgehend von der asiatischen Philosophie setzt: Varela, Ethisches Können. 293 Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, 22 ff. 292

437 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

rekter Einbeziehung meditativer Techniken, die sich im Buddhismus über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt haben: »The science of consciousness introduces first-person methods of investigating the mind through Buddhist contemplative techniques, such as samatha, an organized, detailed system of training the attention. Just as scientists make observations and conduct experiments with the aid of technology, contemplatives have long tested their own theories with the help of highly developed meditative skills of observation and experimentation. Contemplative science allows for a deeper knowledge of mental phenomena.« 294

Wer sich je einmal gewagt hat, Erfahrungen zu sammeln mit meditativen Praktiken, kann kaum umhin, zuzugeben, dass sich durch die Übungen die eigenen Bewusstseinszustände und die eigene Aufmerksamkeitsstruktur verändern. Wer dies aber bestreitet, ohne je Erfahrungen gesammelt zu haben, kann nur darauf verwiesen werden, dass diese Erfahrungen Voraussetzung für den Nachvollzug bestimmter Argumentationen sind. So ist die Annahme einer »Bewusstheit«, die nicht intentional verfasst ist, auf die Erfahrung einer nicht-intentionalen Bewusstheit angewiesen. Um diese Unterscheidung überhaupt zu thematisieren, muss man auf verschiedene Erfahrungen des eigenen Bewusstseins rekurrieren können. Diese Erfahrungen können durchaus zufällig gegeben sein, oder die Unterscheidung kann jemandem wie von selbst einleuchten, oder, und dies ist methodisch sicher nicht einfach, sie müssen durch Selbstexperimente erst erzeugt und evident gemacht werden. Gerade in der Erfahrung des eigenen Bewusstseins ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, durch körperliche Übungen philosophische Unterscheidungen einzuführen bzw. diese experimentell zu untersuchen. Gernot Böhme unterscheidet in diesem Sinne »Bewusstsein« von »Bewusstheit« in Rückbezug auf die meditative Übung. An seinen Unterscheidungen kann nachvollzogen werden, wie er erfahrend und übend verschiedene Bewusstseinsformen phänomenologisch untersucht und differenziert und diese philosophisch darstellt, aber unter dem Hinweis, dass diese selbst zu erfahren sind: »Für ein philosophisches Buch ergibt sich die Rechtfertigung dafür, den Zustand reiner Bewusstheit aufzusuchen, auch aus einem Erkentnisinteresse heraus. Wenn man verstehen will, worin das Bewusst-Sein des Bewusstseins eigentlich besteht, und nicht nur, wie üblich, die Inhalte des Bewusst294

http://www.sbinstitute.com/node/259 (10. 2. 2017).

438 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

seins untersucht, stößt man auf das reine Bewusstsein. Hier nun zeigt sich der quasi experimentelle Zug der Bewusstseinsforschung. Man wird kaum verstehen, was reine Bewusstheit eigentlich ist, wenn man sie nur theoretisch oder analytisch erschließt: Man muss diesen Zustand an sich selbst erfahren.« 295

Methodisch durch die Phänomenologie und eine ihr zugehörige Phänopraxie geleitet, können praktische Übungsformen, die aus sehr verschiedenen Bereichen stammen, Beschreibungsformen für Phänomene evozieren und ermöglichen, die nicht nur Theorien sind, sondern Theorie und Praxis miteinander verbinden, so dass erst durch diese Verbindung bestimmte Dimensionen eines Phänomens in die Aufmerksamkeit treten können. So ist es durchaus überraschend, dass das Phänomen der »Stimme« aus verschiedenen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven untersucht wird, man aber nicht auf die zentrale Dimension des »Atmens« für die Stimme eingeht. 296 Dies ist umso erstaunlicher, da bei Übungen zur Stimmbildung oder in der Gesangsausbildung das Atmen von überragender Bedeutung ist und immer von Anfang an besonders betont und in die Aufmerksamkeit gehoben wird. Hier zeigt sich, dass praktische Übungen und theoretische Reflexionen sich gegenseitig erweitern und differenzieren können, ohne gegeneinander ausgespielt werden zu müssen. Die körperlichen Übungsformen, die in die phänomenologische Arbeit einbezogen werden können, reichen von Übungs- und Trainingsformen in den Künsten wie Tanz, Theater, Malerei, Musik usw., über Körperwahrnehmungsübungen, wie Feldenkrais-Arbeit, Bodymind-centering, Alexander-Technik usw., 297 meditative Praktiken, wie Zen-Meditation, Yoga-Übungen, Qigong-Übungen usw., bis hin zu japanischen Wegkünsten, wie Aikidō, Karate, Kendō, Kyūdō, Shodō usw. Diese Übungen können sicher nicht alle auf einmal betrieben werden. Es zeichnet sich hier vielmehr ein Forschungsfeld ab, das die phänomenologische Arbeit in langsamer und genauer Beobachtung und Beschreibung noch lange in Atem halten kann. Böhme, Bewusstseinsformen, 144. Vgl. Krah, Übergänge der Stimme. Eine Untersuchung des Phänomens der Stimme im Ausgang von Bernhard Waldenfels. Krah beobachtet das Fehlen des Atmens beispielsweise in dem Band: Stimme. Annäherung an ein Phänomen, hg. v. Kolesch u. Krämer. 297 Klassiker der Körperwahrnehmung. Erfahrungen und Methoden des Embodiment, hg. v. Johnson. 295 296

439 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

In deutlicher Absetzung zu den ethischen und religiösen Zielen der verschiedenen Übungsformen kann zunächst untersucht werden, wie Menschen durch diese Praxisformen sich und die Welt erschließen. Diese körperlichen Erschließungsformen zeigen, wie sich Menschen zu bestimmten Menschen bilden und auf diese Weise Welt erfahren. Um diese Erfahrungsweisen phänomenologisch genauer erkunden zu können, bedarf es aber einer phänomenologischen Phänopraxie, die die phänomenologisch Arbeitenden in ihrem Welt- und Selbsterfahren nicht unberührt lässt.

5.5. Phänomenologische Erfahrungserweiterung durch Psychoanalyse bzw. Psychotherapie Neben den geistigen und körperlichen Übungspraktiken, aus denen wesentliche transformative Schritte in der phänomenologischen Arbeit zu erwarten sind, ist jetzt von einer transformativen Dimension zu sprechen, die heute für viele Philosophierende ein vielleicht ebenso großes Tabu darstellt. Noch in den 1960er und 70er Jahren war es in Frankreich, aber auch in Deutschland durchaus geläufig, die Psychoanalyse philosophisch ernst zu nehmen oder sich gar selbst aus philosophischen Gründen einer Psychoanalyse zu unterziehen. Dass diese schon bald darauf wieder verdrängt wurde, beschreibt Derrida bereits 1988 in einem Vortrag, der den Titel trägt: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! »Daß unter vielen Philosophen und in einer bestimmten ›öffentlichen Meinung‹ […] die Psychoanalyse nicht länger in Mode ist, nachdem sie in den sechziger und siebziger Jahren exzessiv in Mode gewesen war, als sie die Philosophie weit aus dem Zentrum herausgedrängt und den philosophischen Diskurs genötigt hatte, mit einer Logik des Unbewußten zu rechnen, auf die Gefahr hin, es zulassen zu müssen, daß seine grundlegensten Gewißheiten aus den Fugen gehoben werden, auf die Gefahr hin, zu erleiden, seines Grundes, seiner Axiome, seiner Normen und seiner Sprache, kurz, all dessen enteignet zu werden, was die Philosophen gewohnt waren, als die philosophische Vernunft, als die philosophische Entscheidung selbst anzusehen, auf die Gefahr hin, noch zu erleiden, dessen enteignet zu werden – dieser sehr häufig mit dem Bewußtsein des Subjekts oder des Ich, mit Freiheit, mit Autonomie verknüpften Vernunft (raison) –, was auch die Ausübung einer echten philosophischen Verantwortung zu gewährleisten schien.« 298 298

Derrida, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, 8.

440 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

Sich philosophisch der Dimension eines Unbewussten und rational nicht Domestizierbaren auszusetzen scheint paradox und philosophisch im höchsten Maße unangenehm zu sein. Wenn genau die Tätigkeit des rationalen Bewusstseins, auf das man sich als die bestverteilte Sache der Welt verlassen möchte, unbemerkt zum Ausdruck eines narzisstischen Begehrens bzw. von Allmachtsphantasien werden kann, so scheinen die Mittel der Philosophie an eine unüberwindliche Grenze zu stoßen. Denn das Philosophieren ist in diesem Falle selbst im höchsten Maße daran interessiert, genau dieses Begehren zu verdecken durch philosophische Argumentationen und Ansprüche, die das eigene Denken in jeder Hinsicht unangreifbar machen. Psychoanalytisch müsste man in diesem Falle sagen, je stärker die Bemühungen ausgeprägt sind, sich selbst unangreifbar zu machen, umso mehr zeigt sich hier ein unbewusstes Begehren, das eigene Philosophieren als Selbstsicherungsstrategie beispielsweise gegen die eigene Angst oder das eigene Minderwertigkeitsgefühl auf- und auszubauen. Hält man dies überhaupt für einen sinnvollen Gedanken – wobei hier das Paradox auftritt, dass bei vehementer Ablehnung sich aus psychoanalytischer Sicht der Gedanke umso mehr aufdrängt –, so fragt sich, wie für Philosophierende überhaupt ein Zugang zu diesem Bereich möglich sein kann. Denn um Zugang gewinnen zu können, müssen Philosophierende – vor allem der europäischen Tradition – sich in ihrem Anspruch in radikaler Weise relativieren oder gar ihren Erkenntnisanspruch temporär ganz aufgeben und außer Kraft setzen. Man müsste zugestehen, dass man sich selbst nicht mehr rational im Griff hat, sondern das eigene Denken durch Impulse aus dem Unbewussten mitgesteuert wird, die möglicherweise nur über den Körper und das Gefühl zugänglich werden. Denn im Falle einer großen Angst, die mein Denken unbewusst zu größtmöglichen Unangreifbarkeitsbemühungen treibt, müsste zunächst ein nicht über das Denken vermittelter Zugang geschaffen werden, um die in mir unbewusst wirkende Angst als einen zentralen Faktor meines eigenen Handelns und Denkens zu erfahren. Es ist sicher der Fall, dass viele Philosophierende immer wieder konkrete Zweifel haben am eigenen Tun oder sich eine Ahnung einstellt, dass mit den eigenen Bemühungen auch noch ganz andere Ebenen der eigenen Person zum Ausdruck kommen. Ohne das ernsthafte Einbeziehen psychoanalytischer Einsichten bleiben diese Zweifel und Ahnungen aber im Hintergrund, ohne dass sie die eigene philosophische Haltung verändern könnten. Um diese Dimension in das Phi441 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

losophieren einbinden zu können, bedarf es konkreter praktischer Schritte, die in diese unbewussten Dimensionen des eigenen Handelns hineinführen. Da die Psychoanalyse in Freudianischer Prägung nicht mehr allein das Feld der Psychotherapien beherrscht, ist es durchaus möglich, andere Wege als die der gesprächs- und sprachbasierten Psychoanalyse zu gehen, um die inzwischen in keiner Weise mehr in einheitlicher Weise ausgelegten Dimensionen des Unbewussten für das eigene Handeln zu erkunden. 299 So könnte auch einer Fixierung auf Freud und Lacan entgangen werden, die selbst in Gefahr stehen, zum Fetisch zu werden. Die Dimensionen des Unbewussten manifestieren sich aber nicht nur durch ein Begehren, das im eigenen Denken zum Ausdruck kommt, sondern auch in Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen. In der Beschäftigung mit anderen Kulturen können einerseits tiefe Sehnsüchte nach Harmonie einen exotisierenden Blick entstehen lassen, der diese zu Orten der Kompensation für die eigenen Wünsche werden lässt. Andererseits können aber auch die eigenen Ängste im Zusammenhang mit den daraus produzierten Verstehensansprüchen zu einer vehementen Ablehnung und Abwertung anderer Kulturen führen, so dass alles dafür getan wird, diese aus dem philosophischen Diskurs auszuschließen. Auf diesen Ebenen wird sichtbar, dass die Praxis des Philosophierens in einer globalisierten Welt sich notwendig den Dimensionen zu stellen hat, die in der Psychoanalyse und anderen Psychotherapien bearbeitet werden. Sich diesen Grenzen auszusetzen bedeutet, deutlicher zu verstehen, was sich durch die Beschäftigung mit dem Fremden oder die Ausgrenzung und Abwertung des Fremden als Begehren zeigt und im Grunde der theoretischen Bemühungen unerkannt bleibt. Dies bedeutet nicht, das jede Theoretisierung pathologisiert werden soll, sondern es geht vielmehr darum, die Möglichkeit ernst zu nehmen, dass auch in jeder theoretischen Arbeit ein Begehren am Werk sein kann, das mehr oder weniger die Richtung der Theoretisierung mitbestimmt oder gar festlegt. Erst wenn ein Zugang zu und ein Umgang mit diesem Begehren möglich wird, kann ein freierer Bezug zur eigenen Theoretisierung erreicht werden. Auf diese Weise wird das Philosophieren durch die Psychoanalyse und Psychotherapie nicht unmöglich, sondern gewinnt neue transformative Möglichkeiten für das eigene Denken. Zum Abschluss möchte ich noch einen vermutlich unerwarteten 299

Vgl. Kriz, Grundkonzepte der Psychotherapie.

442 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

Gedanken von Immanuel Kant anführen, der ein klares Bewusstsein von den unzugänglichen Ebenen des menschlichen Bewusstseins hatte, diese aber letztlich doch nicht in die »pragmatische« Ebene der Anthropologie aufgenommen hat. Ich führe diese Passage an, da vor allem Kant immer wieder als philosophischer Kronzeuge für das autonome Subjekt herangezogen wird. Dass er aber in seinen Schriften auch ganz andere Dimensionen des Personseins durchaus im Auge behält, ist nur wenig bekannt: »Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? […] Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele; die übrigen sind klar. […] Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d. i. dunkeler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüths nur wenig Stellen illuminirt sind: kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen; denn eine höhere Macht dürfte nur rufen: es werde Licht! […] So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen. – Weil es aber diesen nur in seinem passiven Theile als Spiel der Empfindungen wahrnehmen läßt, so gehört die Theorie derselben doch nur zur physiologischen Anthropologie, nicht zur pragmatischen, worauf es hier eigentlich abgesehen ist.« 300

Für eine transformative Phänomenologie gilt, mit Kant und über ihn hinaus, das »Andere der Vernunft« 301 ernst zu nehmen und in die phänomenologische Arbeit einzubeziehen.

5.6. Transformative Phänomenologie und Alltäglichkeit Kitarō Nishida hat in seinem letzten vollendeten Text sein Philosophieren mit der Wendung einer »radikalen Alltäglichkeit« verbunden. 302 Mit dem Motiv der Alltäglichkeit ist sein Denken angekomKant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 5. Gernot u. Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel von Kant. 302 Nishida, Logik des Ortes, 272. 300 301

443 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

men in der Praxis, aus der unser Denken anhebt und durch die es bestimmt wird. Denken hat sich in Europa lange in unendlichen Bemühungen weggewendet vom Alltäglichen, um so beispielsweise in Form der Ideen das eigentliche Sein schauen zu können. Inzwischen wird aber auch in Europa das Alltägliche nicht mehr nur als das radikal »Nicht-Philosophische« gesehen, sondern es wird geschätzt als zentrale Dimension, in der sich unser Erfahren bildet und stabilisiert. Im Ausgang vom alltäglichen Erfahren kann vieles auffällig werden und in die Aufmerksamkeit treten, durch das unser Leben bestimmt ist. Transformative Phänomenologie kann in diesem Sinne anfangen bei den alltäglichsten Erfahrungen und Strukturen, um so einen Weg zu initiieren, der Alltäglichkeit und Reflexivität nicht als Gegensätze erscheinen lässt. Viele Themen der Philosophie verstecken sich in alltäglichen Handlungen, ohne dass wir uns weiter darüber Rechenschaft ablegen: unser Umgang mit dem eigenen Körper, den eigenen Gefühlen, dem Fremden außerhalb von uns und in uns, den Mitmenschen, den Institutionen, der Technik usw. Im alltäglichen Handeln werden Sachverhalte und Fragen auffällig, die in transformativer Weise behandelt werden können. So entsteht ein Philosophieren aus der Praxis des Alltags, das sich weiter entfalten kann im Zusammenhang mit verschiedenen Traditionen des Philosophierens auch in globaler Perspektive. Es ergeben sich häufig zentrale Schlüsselerfahrungen unerwartet und unvorhersehbar inmitten des alltäglichen Lebens. Diese Erfahrungen geben zu denken und können zum Anlass werden, sich vertieft mit einem Thema zu beschäftigen. Die Arbeit transformativer Phänomenologie muss daher nicht unbedingt beginnen mit komplizierten Methodenfragen, wie sie uns beispielsweise Husserl immer wieder vorgeführt hat. Die phänomenologische Arbeit kann vielmehr beginnen im alltäglichen Erfahren, um daran anschließend Theorieangebote in Anspruch zu nehmen, die in Resonanz zu den Erfahrungen weiter entfaltet werden können. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass man mit der konkreten phänomenologischen Arbeit in Form von Beschreibungen gar nicht erst beginnt, da man sich ein Leben lang über die methodischen Möglichkeiten einer solchen Arbeit in transzendentaler Hinsicht den Kopf zerbricht. Auch tritt hier häufig eine verstärkte Angst zutage, da die eigenen beschreibenden Versuche nicht gleich mit den hohen Ansprüchen der Wissenschaft in Übereinstimmung gebracht werden können. Um aber bestimmte Bahnungen und Festlegungen der phänomenologischen Methode, wie Husserl sie entworfen hat, über444 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

haupt befragen zu können, müssen wir selbst Orte der Erfahrung bilden, die zum Ausgangspunkt für die phänomenologische Arbeit werden können, ohne schon vorher genau festgelegt zu haben, was Erfahrung, was Denken, was das Subjekt usw. ist. Phänomenologisches Arbeiten kann inmitten des alltäglichen Erfahrens beginnen. Auf diese Weise können alltägliche Begegnungen ihre transformative Kraft entfalten, ohne dass wir dies eigens planen oder vorhersehen könnten. Ein Meister in der Beschreibung der Art und Weise, wie in alltäglichen Situationen neue Dimensionen des Erfahrens entstehen und aufspringen können, ist Marcel Proust. Ich möchte hier am Ende eine kleine Passage anführen, um zu verdeutlichen, wie inmitten des Alltags sich Außerordentliches zeigen und ereignen kann: »Etwas abseits von der über einen Hügel führenden Landstraße, der wir folgten, hatte ich eben drei Bäume erblickt, die offenbar den Eingang einer geschlossenen Allee und eine Gruppe bildeten, die ich nicht zum erstenmal sah; es gelang mir nicht zu erkennen, von welchem Ort sie sich losgelöst haben mochten; aber ich hatte das Gefühl, er sei mir von früher her vertraut; nachdem mein Geist in dieser Weise einen Augenblick lang zwischen irgendeinem entlegenen Jahr und dem gegenwärtigen Augenblick hin und her gestrauchelt war, geriet die Umgebung von Balbec rings um mich her ins Schwanken, und ich frage mich, ob diese Spazierfahrt nicht Einbildung von mir sei, dies Balbec ein Ort, den ich niemals anders denn in der Phantasie aufgesucht, Madame de Villeparisis eine Gestalt aus einem Roman, die drei Bäume aber die Wirklichkeit, in die man zurückkehrt, wenn man die Augen von dem Buche hebt, in dem man gelesen hat und in dem eine Gegend beschrieben wird, in der man am Ende tatsächlich schon sich aufzuhalten meinte. Ich schaute die drei Bäume an, ich sah sie deutlich vor mir, aber im Geiste spürte ich, daß sie etwas verdeckten, worüber ich keine Macht besaß, so wenig wie über Gegenstände, die zu weit entfernt sind, als daß man sie mit gerecktem Arm und ausgestreckten Fingerspitzen anders als nur einen Augenblick an der Oberfläche streifen kann, ohne sie doch zu greifen. […] In ihren naiven, leidenschaftlich bewegten Gebärden glaubte ich die ohnmächtige Trauer eines geliebten Wesen zu erkennen, das den Gebrauch der Sprache verloren hat, das fühlt, es werde uns nicht sagen können, was es ausdrücken will und was wir nicht zu erraten vermögen. Bald darauf ließ der Wagen an einer Biegung des Weges die Bäume hinter sich zurück. Er entführte mich, fort von dem, was allein ich für wahr hielt, was allein das Glück für mich barg, darin ganz wie das Leben.« 303

303

Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 943 f., 946.

445 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

Inmitten einer alltäglichen Erfahrung: »Ich erblicke drei Bäume« entstehen im Zusammenhang mit dieser Wahrnehmung Verflechtungen, Assoziationen, Erinnerungen, Phantasien, Ahnungen, Gefühle usw. Proust zeigt in seiner Beschreibung, aus der nur ein kleines Stück angeführt werden konnte, wie erfahrungsreich und verzweigt einzelne kleine Erfahrungssequenzen inmitten des alltäglichen Lebens sein können. Gewöhnlich achten wir kaum auf diese dichten Erfahrungsbüschel, da sie in den meisten Fälle unbeachtet vorübergehen. Sensibilisiert durch die Beschreibungen von Proust kann das alltägliche Erfahren zu einer reichen Quelle phänomenologischer Erfahrung werden, in der immer wieder Überraschungen auf uns warten können.

5.7. Transformative Phänomenologie als Weg der Übung und Arbeit am Tabu Transformative Phänomenologie versteht sich im radikalen Sinne als ein philosophisches Üben in und mit Übungen aus verschiedenen Bereichen des Erfahrens. Erfahrungsfelder des Übens bilden die eigene Sprache und ihr Gebrauch sowie fremde Sprachen, die Ordnungen des Wissens in den Wissenschaften und in anderen Lebensbereichen, ästhetische Praktiken in Künsten und anderen Feldern ästhetischen Erfahrens, körperbasierte Wahrnehmungsschulungen und meditative Praktiken, Psychoanalyse und therapeutische Verfahren und nicht zuletzt das alltägliche Erfahren, in dem soziale Erfahrungen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und der Natur insgesamt eine zentrale Rolle spielen können. Die phänomenologische Arbeit in den genannten und auch ganz anderen Bereichen lässt die Menschen nicht unverändert, da sich im Üben Einblicke ergeben, die zwar nie zu einer Gesamtübersicht führen, aber dennoch gravierende Folgen für das eigene Selbstbild und das eigene Handeln haben können. Transformative Phänomenologie, in dem hier entwickelten Sinne, zielt nicht primär auf höhere Bewusstseinszustände oder ein gutes Leben im Sinne einer Lebenskunst. Es geht nicht darum, konkrete melioratische Ziele zu verfolgen, sondern es geht vielmehr um ein forschendes Erkunden des Lebens inmitten des Lebens. Im Rahmen dieser Forschungen können sich Ziele für ein gelungenes Leben zeigen, die phänomenologisch zu beschreiben sind, ohne diese dann im Sinne letzter Ziel verfolgen zu müssen. Dennoch lassen die phäno446 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

menologischen Übungen die Philosophierenden nicht unberührt in ihrer Auffassung von dem, was Leben sein kann. Denn die Einsichten in die Vollzüge von Leben verändern auch das eigene Leben. Dabei können auch Phänomene wie Aggression, Gewalt, Zorn und andere Widerstände und Verzerrungen von zentraler Bedeutung sein, die in der alleinigen Ausrichtung auf ein »gutes Leben« wenig beachtet oder allzu leicht durch positive Utopien beiseitegeschoben werden. In diesem Sinne gilt es aufmerksam zu werden auf die Widerstands- und Tabuzonen der je eigenen kulturellen Prägung. Transformative Phänomenologie sucht aktiv diese Grenz- und Tabuzonen auf, was insbesondere auch für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt von zentraler Bedeutung ist. Sobald Philosophierende vor Fremdheiten oder Widerständen – häufig auch unbewusst – zurückschrecken, beginnt in vielen Fällen ein reflexiver Ausschlussprozess, der in allzu sicheren Letztbegründungsprojekten enden kann. Demgegenüber sollen vielmehr Grenzen ausgelotet und Grenzüberschreitungen erprobt werden, die in verschiedenen Bereichen des Wissens und der Gesellschaft mit heftigen Tabus belegt sind. Dabei ist insgesamt die Hoffnung aufzugeben, dass ich selbst und die Welt je zu einer Optimalform gesteigert werden könnten, denn jedes Begehren nach absoluter Optimierung lässt hellhörig werden und ist mit besonderer Vorsicht zu genießen. Husserl hat die Phänomenologie als eine »Arbeitsphilosophie« bezeichnet, in der es gilt, beständig an den Phänomenen zu arbeiten. Seine Hoffnung bestand darin, dass er während seines Lebens die grundlegenden Phänomene beschreiben und einer Klärung zuführen könne. In der Wendung zur transformativen Phänomenologie ist diese Hoffnung aufzugeben. Statt Arbeit ist eher an Forschung zu denken, deren Reichweite vor allem durch den globalen Kontext des Philosophierens erheblich erweitert wird. Angesichts der vielfältigen Perspektiven, die sich hierbei auftun, liegt es nahe, zu verzagen. Andererseits wird aber durch die Pluralisierung der Perspektiven die Last genommen, dass ein einzelner Mensch all dies allein zu leisten hat. In Zukunft kann keine einzelne Philosophie mehr »das Ganze« verstehen können. Es gilt vielmehr, in gemeinsamer, vielfältiger und auch widerstreitender Forschung mit den Bewegungen und Beziehungen des Lebens umzugehen, wobei gerade darin das Leben des Philosophierens zu sehen ist. Daher möchte ich zum Abschluss die Bestimmung transformativer Phänomenologie nicht als Überforderung, sondern als Einladung zur offenen und fruchtbaren Forschung 447 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Transformative Phänomenologie

in sieben Punkten wie folgt in eine zusammenfassende Perspektive rücken: 1. Transformative Phänomenologie verfolgt kein letztes wissenschaftliches Ziel, in dem sie ihr Vorhaben beendet sehen könnte. Die Einübung in ihre eigene Praxis selbst ist immer erneut der Erweis ihrer eigenen Möglichkeit und Fruchtbarkeit. Sie steht inmitten der phänomenologischen Praxis immer selber auf dem Spiel. Sie ist im radikalen Sinne eine philosophische Übung, die ihr Ziel allein im Üben selbst sieht. 2. Transformative Phänomenologie unterläuft die Unterscheidung von Theorie und Praxis auf verschiedenen Ebenen. Indem der Sprachgebrauch selbst als eine Praxis verstanden wird, in der es um Erfahrungen des Denkens geht, die sich selber nicht über alle anderen kulturellen Praktiken erheben, reiht sich das Philosophieren ein in die verschiedenen Bemühungen, Leben als radikal endliches Geschehen zu erforschen und zu gestalten. 3. Transformative Phänomenologie ist ein Vorgehen, in dem Phänomene nicht Objekte der Anschauung sind, vielmehr finden sich diejenigen, die sich auf Phänome einlassen, bereits inmitten der Phänome selbst. Phänomene lassen sich nicht einfach objektiviert betrachten, sie verändern vielmehr den, der sie erfährt, beschreibt und erforscht, und werden durch denselben Prozess ihrerseits erweitert und erneuert. Phänomene werden somit nicht als »Dinge« gedacht, sondern als Situationen, die in der Erforschung ständig in Bewegung bleiben, so wie auch die, die sie erforschen, nicht unverändert bleiben. 4. Transformative Phänomenologie vollzieht sich weder aktiv noch passiv, sondern als ein »mediales« Geschehen, in dem sich die Denkenden immer wieder neu finden. Indem die deutsche Sprache beim Modus der Verben nur zwischen »aktiv« und »passiv« unterscheidet, bleibt die Möglichkeit, ein Geschehen im Sinne der grammatischen Form des Mediums zu verstehen, oft unbemerkt. In der Form des Mediums sind Subjekt und Objekt gleichermaßen aktiv und passiv, so dass es die grammatische Form der Wechselwirkung ist. So wie der Baum, der wächst, sich selbst beim Wachsen verändert, so verändern sich die Phänomene und die phänomenologisch Arbeitenden in wechselseitiger Resonanz. 5. Transformative Phänomenologie arbeitet gegenwartsorientiert quer zu geschichtlichen und kulturellen Traditionen. Ausgehend von jeder Tradition oder Sprache kann die Betrachtung begonnen 448 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Grundlinien einer transformativen Phänomenologie

werden. Im Heranziehen und Durchwandern der verschiedenen geschichtlichen und globalisierten Perspektiven kann sich ein Profil ergeben, das beispielsweise Phänomene wie die »Zeit«, die »Sprache«, den »Menschen«, das »gute Leben«, die Sinnlichkeit, die Kunst usw. 304 auf neue Weise erschließt, ohne sie damit abzuschließend behandelt zu haben. Es geht dabei nicht um ein kulturspezifisches Verstehen, sondern um transformatives Erkunden gegenwartsbezogener Perspektiven und Fragestellung im Horizont verschiedener Kulturen und Modernen im Sinne eines Philosophierens als einer kulturellen Praxis, die gewillt ist, Verantwortung zu übernehmen. 6. Transformative Phänomenologie versucht nicht, Widerstände aufzulösen zugunsten einheitlicher Weltbilder, sondern versteht diese als Herausforderungen für die phänomenologische Arbeit. Dabei können sich Widerstände auch zum Widerstreit 305 entwickeln, der sich von keiner einzelnen Position her auflösen lässt. Nicht ein möglichst geklärtes (oder gar verklärtes) Leben ist das Ziel phänomenologischer Arbeit, vielmehr steht der forschende Umgang mit den Wandlungs-, Verwicklungs- und Reibungsprozessen im individuellen wie im sozialen Leben im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle Phänomene – jenseits der Unterscheidung von »positiv« und »negativ« und jenseits der Hoffnung, alles könnte durch die Philosophie besser werden – können zum Medium phänomenologischer Arbeit werden, ohne vorher absehen zu können, wohin die phänomenologischen Wege führen. 7. Tranformative Phänomenologie wendet sich aktiv den Zonen der Fremdheit, den individuellen wie gesellschaftlichen Tabus und insgesamt dem Ausgegrenzten zu. Um ein Philosophieren in einer globalisierten Welt entwickeln zu können, ist dies eine notwendige Konsequenz. Denn ohne die Bearbeitung der vielfältigen Machtstrukturen, die nicht nur das gegenwärtige Philosophieren in Europa und Nordamerika bestimmen, können die kanonischen Wissensordnungen weder erforscht noch kritisch befragt werden. Hierfür sind provozierende Fragestellungen ebenso wichtig wie unkonventionelle Methoden und Übungen. Wer sich auf diese Weise an die Grenzen der eigenen Wissensordnungen begibt, wird häufig selbst zum Ausgegrenzten. Spätestens hier beginnt transformative Phänomenologie selbst politisch zu werden. Zu den genannten Phänomenen habe ich verschiedenen Studien vorgelegt. Vgl. das Literaturverzeichnis. 305 Lyotard, Der Widerstreit. 304

449 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Textnachweise

Folgende bereits veröffentlichte Texte sind für dieses Buch teilweise erheblich umgearbeitet oder erweitert worden: Kap. II, 1: Globale Wege der Philosophie im 20. Jahrhundert. Die Weltkongresse für Philosophie 1900–2008, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 1:2009, 149–167. Kap. II, 2: Überlegungen zur Grundlegung »komparativer Philosophie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2:1999, 128–156. Kap. II, 3: Forschungsperspektive »Interkulturalität«. Transformation der Wissensordnungen in Europa, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 1:2008, 7– 36. Kap. II, 4: Vielfalt der Modernen – Weltgeschichtliche Betrachtungen für eine zukünftige Welt, in: Zukunft ermöglichen. Denkanstöße aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit, hg. v. R. Schulz, Würzburg 2008, 51–81. Kap. III, A 1: Resonanz als Grundmotiv ostasiatischer Ethik, in: minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist, 3:1999, 1–14. Kap. III, A 2: »Zwischen« Mensch und Mensch. Ostasiatische Perspektiven des Selbstseins, in: Klon statt Person, hg. v. Christoph Zollikofer und Marco Baschera, Zürich 2011, 29–44. Kap. III, A 3: »Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort« – Identität im Zwischen, in: Kulturelle Identität(en) in der Musik der Gegenwart, hg. v. Marion Demuth u. Jörn-Peter Hiekel, Saarbrücken 2010, 43–52; Von den Nachzüglern, in: Ordnungen im Übergang, Festschrift für Rudolf zur Lippe, hg. v. Katrin und Peter Seele, Hohengehren 2012, 85–93. Kap. III, B 1: Kreativität und das Phänomen des »Nichts«, Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie. Kolloquienbeiträge, hg. v. G. Abel, Hamburg 2006, 520–533. Kap. III, B 2: »Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen.« Japanischbuddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme, in: Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, hg. v. Barbara Gronau u. Alice Lagaay, Bielefeld 2010, 53–72; Buddhistische Betrachtungen aus der Stille – Yoshida Kenkōs Tsurezuregusa, in: Lite-ratur und Religion, hg. v. Toni Tholen et al., Hildesheimer Universitätsschriften 25, Hildesheim 2012, 274–292.

451 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Textnachweise Kap. III, B 3: Handelnde Anschauung (kōiteki chokkan). Nishida und die Praxis der Künste, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 36:3, 2011, 313–343.

452 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie

Hinweis: Japanische und chinesische Namen werden im Buch und den Literaturangaben in europäischer Reihenfolge (Vorname / Familienname) angegeben. Abdeljelil, Moncef Ben: Die Moderne aus der Perspektive muslimischer Kulturen denken, in: Die Moderne im interkulturellen Diskurs. Perspektiven aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, hg. v. Hans Schelkshorn u. Jemeleddine Ben Abdeljelil, Weilerswist 2012. Abert, Hermann: Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik, Leipzig 1899. Abu-Lughod, Lila: Writing Against Culture, in: Recapturing Anthropology. Working in the Present, hg. v. Richard Fox, Santa Fe 1999, 137–162. Actes du XIeme Congrès International de Philosophie, Bruxelles 1953, 14 Bde., Amsterdam/Löwen 1953. Adamson, Peter; Taylor, Richard C. (Hg.): The Cambridge companion to Arabic philosophy, Cambridge 2005. Adelung, Johann Christoph: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782. Adrados, Francisco R.: Geschichte der griechischen Sprache. Von den Anfängen bis heute, übers. aus d. Spanischen v. H. Bertsch, Tübingen 2002. Aertsen, J. A.: Gibt es eine mittelalterliche Philosophie?, in: Philosophisches Jahrbuch, 102:1, 1995, 161–176. Aertsen, J. A.: Speer, A. (Hg.): Was ist Philosophie im Mittelalter?, Berlin/New York 1998. Agazzi, Evandro: A Short History of the International Federation of Philosophical Societies (FISP), Ankara 2003. Aischylos: Tragödien, übers. v. Oskar Werner, München 1990. Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie, Universität Wien 1968, 6 Bde., Wien 1968–1971. Al-Ani, Ayad: Araber als Teil der hellenistisch-römischen und christlichen Welt. Wurzel orientalischer Betrachtung und gegenwärtiger Konflikte. Von Alexander dem Großen bis zur islamischen Eroberung, Berlin 2014. Al-Azm, Sadik J.: Fundamentalismus – Neubewertet, in: ders., Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam, Frankfurt a. M. 1993. Alexander the Great. East-West Cultural Contacts from Greece to Japan, Tokyo National Museum 2003.

453 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Alexander, Horace G.: Buchbesprechung von Patrick Romanell, Making of the Mexican Mind, in: Philosophy and Phenomenological Research, 15:1, 1954, 117–119. Allolio-Näcke, Lars et al. (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Theorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M. 2005. Alt, Karin: Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin, Stuttgart 1993. Altwicker, Tilmann; Cheneval, Francis; Diggelmann, Oliver (Hg.): Völkerrechtsphilosophie der Frühaufklärung, Tübingen 2015. Anaya, James S.: Indigenous Peoples in International Law, 2. Aufl. Oxford 2004. Anaya, James S.: International human rights and indigenous peoples, Austin 2009. App, Urs: Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philosophie, Rorschach/ Kyōto 2011. Asante, Molefi Kete: The Egyptian philosophers: ancient African voices from Imhotep to Akhenaten, Chicago 2000. Arens, Hans (Hg.): Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Auflage, Freiburg/München 1969. Aristoteles: Kategorien / Lehre vom Satz, übers. v. E. Rolfes, Hamburg 1974. Aristoteles: Politik, übers. v. Franz Susemihl, Reinbek 1994. Arjomand, Saïd Amir (Hg.): Social Theory and Regional Studies in the Global Age, New York 2014. Armstrong, A. H.: Plotinus and India, in: Classical Quarterly 30, 1936, 22–28. Arnzen, R.: Arabisches Mittelalter, in: Platon-Handbuch, hg. v. Christoph Horn et al., Stuttgart, 2009. Aronovici, Carol: Americanization. Its Meaning and Function, in: The American Journal of Sociology, 25:6, 1920, 695–730. Atti del IV. Congresso internazionale di Filosofia Bologna MCMXI, 3 Bde., Genf o. J., Bd. 2, 165–172. Atti del XII Congresso Interazionale di Filosofia, Venedig 1958, Florenz 1958– 1961. Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, 3. Aufl., Darmstadt 2003. Bachtin, Michail M.: Chronotopos, übers. v. M. Dewey, Frankfurt a. M. 2008. Badura, Jens et al. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015. Baker, Gwendolyn C.: Multicultural education. Two inservice approaches, in: Journal of Teacher Education, 28, 1977, 31–33. Baker, Gwendolyn C.: Multicultural training for student teachers, in: Journal of Teacher Education, 24:4, 1973, 306–307. Banks, James A.: The African American Roots of Multicultural Education, in: Multicultural Education, Transformative Knowlege, and Action. Historical and Contemporary Perspectives, hg. v. James A. Banks, New York 1996, 30–45. Barmann, Hans-Friedrich: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005. Barrow, John D.: The Book of Nothing, London 2000.

454 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Barteit, Ulrich: Inaugurationsstrategien. Zur Genese des philosophischen Metasubjekts am Beispiel von Edmund Husserl und Martin Heidegger, Würzburg 2016. Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans (1978–1980), übers. v. H. Brühmann, Frankfurt a. M. 2008. Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, übers. v. H. G. Holl, Frankfurt a. M. 1981. Bauer, Wolfgang: Geschichte der chinesischen Philosophie, München 2001. Baumstark, A.: Geschichte der syrischen Literatur, Bonn 1922. Baur, Isolde: Geschichte des Wortes »Kultur« und seiner Zusammensetzungen, Diss. München 1951. Bayer, Raymond (Hg.): Travaux du IXe Congrès International de Philosophie – Congrès Descartes, Paris 1937. Bechert, Heinz: Einleitung, in: Milindapanha. Ein historisches Gipfeltreffen im religiösen Weltgespräch, hg. v. Nyanaponika, Bern 1998. Behnam, Jamshid: Iranian Society, Modernity, and Globalization, in: Iran. Between Tradition and Modernity, hg. v. R. Jahanbegloo, Maryland 2004, 3– 14. Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008. Bendix, Reinhard: Tradition and Modernity Reconsidered, in: Comparative Studies in Society and History, 9:3, 1967, 292–346. Berger, Klaus: Japonismus in der westlichen Malerei. 1860–1920, München 1979. Berger, Willy R.: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln/ Wien 1990. Bergson, Henri: Schöpferische Evolution, übers. v. Margarethe Drewsen, Hamburg 2013. Bernal, Martin: Black Athena. The Afroasiatic roots of classical civilization, New Brunswick 1987. Bernasconi, Robert: Concepts of race in the eighteenth century, 8 Bde., Bristol 2001. Bernasconi, Robert; Cook, Sybol (Hg.): Race and Racism in Continental Philosophy, Bloomington 2003. Berschin, Walter: Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues, Bern 1980. Beth, E. W.; Pos, H. J.; Hollak, J. H. A. (Hg.): Proceedings of the Xth International Congress of Philosophy. Amsterdam 1948, Amsterdam 1949. Bhambra, Gurminder K.: Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination, New York 2007. Bhatti, Anil, August Wilhelm Schlegels Indienexperiment. Kulturtransfer und Wissenschaft, in: Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten, hg. v. York-Gothart Mix u. Jochen Strobel, Berlin 2010. Bibliotheque du Congrès International de Philosophie: I. Philosophie generale et Metaphysique, II. Morale, III. Logique et Histoire des Sciences, IV. Histoire de la Philosophie, Paris 1900–1903.

455 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Bidney, David: Myth, Symbolism, and Truth, in: The Journal of American Folklore, 68:270, 1955, 379–392. Binder, Theodor: Probleme interkultureller Beziehungen. Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Arbeit des Amazonas-Hospitals, Bonn 1971. Birk, K.: Totale Verwestlichung. Eine chinesische Modernisierungsdebatte der dreißiger Jahre, Bochum 1991. Bitterli, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München, dritte Auflage 2004. Bitterli, Urs: Die Entdeckung und Eroberung der Welt. Dokumente und Berichte, 1. Band: Amerika und Afrika, München 1980. Blokker, P.: Multiple Democracies in Europe. Political Culture in New Member States, London 2010. Blomjous, Joseph: Development in Mission Thinking and Practice 1959–1980: Inculturation and Interculturation, in: African Ecclesial Review, 22:6, 1980, 393–398. Boelhower, William et al. (Hg.): Multiculturalism and the American Self, Heidelberg 2000. Böhme, Gernot; Böhme, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel von Kant, Frankfurt a. M. 1983. Böhme, Gernot: Bewusstseinsformen, Paderborn 2014. Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates, 3. erweit. Aufl., Frankfurt a. M. 2002. Boltanski, Luc: Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt, in: polar #2, Thema: Ökonomisierung, http://www.polar-zeitschrift. de/polar_02.php?id=69. Bonacker, Thorsten; Reckwitz, Andreas (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2007. Bongard-Levin, G. M.; Karpyuk, S.: Nachrichten über den Buddhismus in der antiken und frühchristlichen Literatur, in: Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters, hg. v. B. Funck, Tübingen 1996, 701–712. Bopp, Franz: Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache, Frankfurt a. M. 1816. Borgolte, Michael: Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002. Borgolte, Michael; Schneidmüller, Bernd (Hg.): Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa, Berlin 2010. Borgolte, Michael; Tischler, Matthias M. (Hg.): Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika, Darmstadt 2012. Borsche, Tilman: Die Säkularisierung des tertium comparationis. Eine philosophische Erörterung der Ursprünge des vergleichenden Sprachstudiums bei Leibniz und Humboldt, in: Leibniz, Humboldt, and the Origin of Comparativism, hg. v. Tullio de Mauro u. Lia Formigari, Amsterdam/Philadelphia 1990, 103–118. Borsche, Tilman: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981.

456 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Bossuet, Benignus: Universal-Geschichte vom Anfang der Welt bis auf das Kaiserreich Karl’s des Großen, übers. v. L. A. Mayer, Würzburg 1827. Brandes, Wolfgang: Der Fall Konstantinopels als apokalyptisches Ereignis, in: Geschehenes und Geschriebenes, hg. v. S. Kolwitz u. R. C. Müller, Leipzig 2005. Braun, Lucien: Geschichte der Philosophiegeschichte, übers. v. F. Wimmer, Darmstadt 1990. Bréhier, Emil: La philosophie de Plotin, Paris 1938. Breinig, Helmbrecht (Hg.): Interamerikanische Beziehungen. Einfluß – Transfer – Interkulturalität, Frankfurt a. M. 1990. Benner, Maximiliam: Clusterpolitik. Wege zur Verknüpfung von Theorie und politischer Umsetzung, Münster 2012. Brightman, Edgar Sheffield (Hg.): Proceedings of the Sixth International Congress of Philosophy, Harvard University Cambridge / Massachusetts / United States of America 1926, New York/London 1927. Brightman, Edgar Sheffield: Philosophy in the United States 1939–1945, in: The Philosophical Review, 56:4, 1947, 390–405. Brislin, Richard W. (Hg.): Culture learning. Concepts, applications, and research, Hawai’i 1977. Brockelmann, C.: Geschichte der arabischen Literatur, 2. Aufl. Leipzig 1909. Brown, Francis J.: Sociology and Intercultural understanding, in: Journal of Educational Sociology, 12:6, 1939, 328–331. Bruchhausen, Walter: Medizintraditionen in der Weltgesellschaft. Gesundheit, Krankheit und Heilung im Kulturvergleich, in: Zeitschrift für medizinische Ethik, Themenheft: Medizin interkulturell, 49:3, 2003, 233–249. Brück, Michael von: Buddhismus. Grundlagen – Geschichte – Praxis, Gütersloh 1998. Buchner, Hartmut (Hg.): Japan und Heidegger. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch zum 100. Geburtstag Martin Heideggers, Sigmaringen 1989. Burckhardt, Jakob: Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. v. Peter Ganz, München 1982. Burkert, Walter: Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, 3. durchgesehene Auflage, München 2009. Burn, Andrew R.: Persia and the Greeks. The Defence of the West, 546–478 B.C., 2. Auflage, London 1984. Burnett, Charles (Hg.): Adelard of Bath. An English Scientist and Arabist of the Early 12th Century, London 1987. Burnett, Charles: Antioch as a Link between Arabic and Latin Culture in the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: ders., Arabic into Latin in the Middle Ages. The Translators and their Intellectual and Social Context, Burlington 2009. Burnett, Charles: Arabic into Latin in the Middle Ages. The Translators and their Intellectual and Social Context, Burlington 2009. Burtt, Edwin A.: How Can the Philosophies of East and West Meet?, in: The Philosophical Review, 57:6, 1948, 590–604. Carter, Robert E.: The Japanese Arts and Self-Cultivation, New York 2008.

457 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 1980. Cauchy, Venant (Hg.): Philosophie et culture, Actes du XVIIe congrès mondial de philosophie, Montréal 1983, 5 Bde., Montréal 1986/1988. Cavuldak, Ahmet; Hidalgo, Oliver; Hildmann, Philippe W.; Zapf, Holger (Hg.): Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, Wiesbaden 2014. Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. Chang, Carsun: Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie: Vom 10. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Heiner Roetz u. Joseph Ciaudo, Frankfurt a. M. 2016. Chaudhuri, Nirad C.: Friedrich Max Müller. Ein außergewöhnliches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2008. Chen, Jinhua: Philosopher, practitioner, politician. The many lives of Fazang (643–712), Leiden 2007. Cheng, Chung-Ying; Bunnin, Nicholas (Hg.): Contemporary Chinese Philosophy, Oxford 2002. Cheung, Ching-yuen; Lam, Wing-keung (Hg.): Globalizing Japanese Philosophy as an Academic Discipline, Göttingen 2017. Cherrington, Ben M.: A Dynamic UNESCO, in: Journal of Educational Sociology, 20:1, 1946, 10–16. Chesney, Colonel: A General Statement of the Labours and Proceedings of the Expedition to the Euphrates, in: Journal of the Royal Geographical Society of London, 7, 1837, 411–439. Claparède, Edouard (Hg.): Congrès International de Philosophie, II. Session tenue à Genève 1904, Genf 1905. Clauss, Manfred: Alexandria. Eine antike Weltstadt, Stuttgart 2003. Clemens von Alexandrien: Mahnrede an die Hellenen (Protrepticus), in: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen übers. v. Otto Stählin, München 1934. Coetzee, P. H.; Roux, A. P. J. (Hg.): The African Philosophy Reader, London/ New York 1998. Cole, L. J., W. H. Wright: Application of the Pure-Line Concept to Bacteria, in: The Journal of Infectious Diseases, 19:2, 1916, 209–221. Cole, Stewart G.: Intercultural Education. Outlines of the Problem, in: Contemporary Jewish Record, 4:2, 1941, 99–109. Cole, Stewart G.: Intercultural Education. Cultural Diversity and Education, in: Contemporary Jewish Record, 4:3, 1941, 260–282. Comité d’Organisation du Congrès (Hg.), Actes du Huitième Congrès International de Philosophie Prague 1934, Prag 1936. Cong, Lin: Chinesische psychosomatische Medizin, Berlin 2015. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini: Einleitung. Geteilte Geschichte – Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002.

458 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, 2. erweiterte Auflage 2012. Cornelius, Paul: Languages in Seventeenth- and Early Eighteenth-Century Imagery Voyages, Genf 1995. Costa, Sérgio: Lateinamerika, in: Handbuch Moderneforschung, hg. v. F. Jaeger, W. Knöbel, U. Schneider, Stuttgart 2015. Cramer, Friedrich: Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt a. M. 1996. Cull, Laura: Performance Philosophy – Staging a New Field, in: Encounters in Performance Philosophy, hg. v. Laura Cull u. Alice Lagaay, London 2014. Curtius, E. R.: Französischer Geist im 20. Jahrhundert, Tübingen 1952. Cusa, Nicolai de: De docta ingnorantia / Die belehrte Unwissenheit, hg. v. H. G. Senger, Hamburg 1979. Cushman, Robert Earl: Therapeia. Plato’s conception of philosophy, 1958, with a new introduction by Michael Henry, New Jersey 2002. Dabringhaus, Sabrine: China, in: Handbuch Moderneforschung, hg. v. F. Jaeger, W. Knöbel, U. Schneider, Stuttgart 2015. D’Andrea, Frank L.: World Education and UNESCO, in: Music Educators Journal, 34:1, 1947, 26–27. Danto, Arthur C.: Buchbesprechung von Lewis Samuel Feuer, Psychoanalysis and Ethics, in: The American Journal of Sociology, 62:1, 1956, 120–122. Danto, Arthur C.: Formen künstlerischer Vergangenheit – Ost und West, in: ders., Kunst nach dem Ende der Kunst, übers. v. Christiane Spelsberg, München 1996. Därmann, Iris: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005. Dasgupta, Surendranath: A History of Indian Philosophy, 5 Bde., Cambridge 1922. Davis-DuBois, Rachel: Can We Help to Create an American Renaissance?, in: The English Journal, 27:9, 1938, 733–740. Davis-DuBois, Rachel: Adventures in Intercultural Education. A Manual for Secondary School Teachers, New York 1939. Davis-DuBois, Rachel: Build together Americans. Adventures in Intercultural Education for the Secondary School, New York 1945. Davis-DuBois, Rachel: All this and something more. Pioneering in intercultural education. An autobiography, New York 1984. Delanty, Gerard (Hg.): Europe and Asia beyond East and West. Towards a new cosmopolitanism, London 2006. Delanty, Gerard: Multiple Europes, multiple modernities. Conceptualising the plurality of Europe, in: Comparative European politics, 14:4, 2016, 398– 416. Demmel, Maximiliane: Der Begriff der reinen Erfahrung bei Nishida Kitarō und William James und sein Einfluss von Nishidas Verständnis von religiöser Erfahrung, München 2004. Dempf, Alois: Selbstkritik der Philosophie und vergleichende Philosophiegeschichte im Umriß, Wien 1947.

459 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Depraz, Natalie: Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, übers. v. Sebastian Knöpker, Freiburg i. B. 2012. Derrida, Jacques: Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. A. Hirsch, Frankfurt a. M. 1997. Derrida, Jacques: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a. M. 1998. Derrida, Jacques: Die différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion, Texte französischer Philosophen der Gegenwart, hg. v. Peter Engelmann, Stuttgart 1990, 76–113. Desai-Breun, Kiran: Anschauen und Denken, Reden und Schreiben in Indien und Europa, Würzburg 2006. Descartes, René: Discours de la Méthode, übers. u. hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960. Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, Lateinisch/Deusch, übers. u. hg. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, übers. v. Eva Moldenhauer und mit einem Nachwort v. Michael Kauppert, Frankfurt a. M. 2011. Deussen, Paul: Erinnerungen an Indien, Kiel/Leipzig 1904. Deussen, Paul: Mein Leben, Leipzig 1922. Deussen, Paul: Sechzig Upanishads des Veda, 3. Aufl. Leipzig 1921. Dewey, John: Art as Experience (1934), London 2005. Dewey, John: Philosophie und Zivilisation, in: Dewey, Philosophie und Zivilisation, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt a. M. 2003. Diamond, Cora: Ethics, Imagination and the Method of Wittgenstein’s Tractatus, in: The New Wittgenstein, hg. v. A. Crary und R. Read, London/New York 2000. Diemer, Alwin (Hg.): 16. Weltkongress für Philosophie. Düsseldorf 1978, Frankfurt a. M. /Bern/New York 1983. Dihle, Albrecht: Die Griechen und die Fremden, München 1994. Dihle, Albrecht: Das griechische Selbstbewußtsein und die Wahrnehmung des Fremden in klassischer Zeit, in: ders., Die Griechen und die Fremden, München 1994. Dihle, Albrecht: Die Veränderung des griechischen Weltbildes durch den Alexanderzug, in: ders., Die Griechen und die Fremden, München 1994. Dilthey, Wilhelm: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. v. B. Groethuysen, Stuttgart 1960. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. O. Apelt, Hamburg 1967. Dōgen: Shōbōgenzō (jap.), hg. u. mit Anmerkungen v. Mizuno Yaoko, 4 Bde., Tōkyō 1990–1993. Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), übers. u. hg. v. R. Ōhashi u. R. Elberfeld, Tōkyō/Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. Dōgen’s Shōbōgenzō: übers. v. Gudō Wafu Nishijima u. Chodo Cross, 4 Bde., London 1994–1999.

460 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des Wahren dharma-Auges, übers. v. Gabriele Linnebach u. Gudō Wafu Nishijima, 4 Bde., Heidelberg 2001– 2008. Dollard, John: Needed Viewpoints in Family Research, in: Social Forces, 14:1, 1935, 109–113. Dornseiff, Franz: Altorientalisches in Hesiods Theogonie (1937), in: ders., Antike und alter Orient, Leipzig 1959. Drecoll, Carsten: Die Karneadesgesandtschaft und ihre Auswirkungen in Rom. Bemerkungen zur Darstellung der Karneadesgesandtschaft in den Quellen, in: Hermes, 132:1, 2004, 82–91. Drosdowski, G. et al. (Hg.): Die Grammatik (Duden), Mannheim 1984. Durkheim, Emil: Regeln der soziologischen Methode (1895), 5. Aufl. Darmstadt 1976. Dussel, Enrique: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne, Düsseldorf 1993. Dussel, Enrique: Transmoderne und Interkulturalität – aus Sicht der Philosophie der Befreiung, in: Nachhaltige Entwicklung in einer pluralen Moderne. Lateinamerikanische Perspektiven, hg. v. C. v. Barlowen, M. Rivera, K. Töpfer, Berlin 2013. Eckert, Andreas: Afrika, in: Handbuch Moderneforschung, hg. v. F. Jaeger, W. Knöbel, U. Schneider, Stuttgart 2015. Eisenstadt, Shmuel N.; Schluchter, Wolfgang: Introduction: Paths to Early Modernities – A Comparative View, Themenheft Early Modernities, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, 127:3, 1998, 1–18. Eisenstadt, Shmuel N.: Multiple Modernities in an Age of Globalization, in: Canadian Journal of Sociology / Cahiers canadiens de sociologie, Bd. 24:2, 1999, 283–295. Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, übers. v. B. Schluchter, Weilerswist 2000. Eisenstadt, Shmuel N.: Multiple Modernities. Themenheft Multiple Modernities, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Science, 129:1, 2000, 1–29. Eisenstadt, Shmuel N.: Vielfältige Modernen, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, Bd. 2:1, 2001, 9–33. Elberfeld, Rolf; Kreuzer, Johann; Minford, John; Wohlfahrt, Günter (Hg.): Komparative Philosophie. Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen, München 1998. Elberfeld, Rolf: Kitarō Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam 1999. Elberfeld, Rolf; Wohlfahrt, Günter (Hg.): Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, Köln 2000. Elberfeld, Rolf: Komparative Ästhetik – Eine Hinführung, in: R. Elberfeld u. G. Wohlfart (Hg.), Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, Köln 2000, 9–25.

461 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Elberfeld, Rolf, Michael Leibold, Mathias Obert: Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China. Seng Zhao – Jizang – Fazang zwischen Interpretation und Übersetzung, Köln 2000. Elberfeld, Rolf: Laozi-Rezeption in der deutschen Philosophie. Von der Kenntnisnahme zur »Wiederholung«, in: Philosophieren im Dialog mit China, hg. v. H. Schneider, Köln 2001, 141–165. Elberfeld, Rolf; Wohlfahrt, Günter (Hg.): Komparative Ethik. Das »Gute Leben« in Asien und Europa, Köln 2002. Elberfeld, Rolf: Vom Nutzen komparativer Ethik für das Leben der Gegenwart, in: Komparative Ethik. Das »Gute Leben« in Asien und Europa, hg. v. R. Elberfeld u. G. Wohlfart, Köln 2002, 7–24. Elberfeld, Rolf: Einteilung der Künste in interkultureller Perspektive, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 9, 2003, 57–64. Elberfeld, Rolf: Phänomen »Menschlichkeit« zwischen Asien und Europa, in: Zukünftiges Menschsein: Ethik zwischen Ost und West, hg. v. Ralf Elm u. Mamoru Takayama, Baden-Baden 2003, 423–442. Elberfeld, Rolf: Heidegger und ostasiatisches Denken. Annäherungen zwischen fremden Welten, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart 2003, 469–474. Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Elberfeld, Rolf: Aspekte philosophischer Textpragmatik in Ostasien und die Idee einer »transformativen Phänomenologie«, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 15, 2006, 19–45 Elberfeld, Rolf (Hg.): Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida, Stuttgart 2006. Elberfeld, Rolf: Durchbruch zum Plural. Der Begriff der Kulturen bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, 38, 2008, 115–142. Elberfeld, Rolf: Phänomenologie sinnlicher Erfahrung in interkultureller Perspektive. Zur Bedeutung des »Bewegungssinns«, in: Zukunft ermöglichen. Denkanstöße aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit, hg. v. R. Schulz, Würzburg 2008, 357–376. Elberfeld, Rolf: Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg i. B. 2012. Elberfeld, Rolf: Kants Tugendlehre und buddhistische Übungspraxis. Auf dem Weg zu einer kulturoffenen und kritischen Kultivierungspraxis, in: Dimensionen der Selbstkultivierung. Beiträge des Forums für Asiatische Philosophie, hg. v. Marcus Schmücker u. Fabian Heubel, Freiburg i. B. 2013, 27–63. Elberfeld, Rolf; Ariska, Yōko (Hg.): Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung, Freiburg i. B. 2014. Elberfeld, Rolf: Sinnlichkeit unterscheiden, in: Phainomena XXIV, 92/93, 2015, 185–216. Elberfeld, Rolf: »Selbstkompetenz« und »Fremdheitskompetenz«. Die Frage nach dem Fremden in mir und dir, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Themenheft »Interkulturelle Kompetenz«, 36, 2016, 5–12.

462 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Elberfeld, Rolf: Philosophie und ästhetische Praxis, in: Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, hg. v. Rolf Elberfeld u. Stefan Krankenhagen, Paderborn 2017, 171–189. Elberfeld, Rolf (Hg.): Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive, Hamburg 2017. Elsenhans, Theodor (Hg.): Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1908, Heidelberg 1908. Emerson, Rupert: Problems of Colonialism. Buchbesprechung von People in Colonies by Kumar Goshal; Mandates, Dependencies and Trusteeship by H. Duncan Hall; Colonial Policy and Practice by J. S. Furnivall, in: World Politics, 1:4, 1949, 533–541. Encyclopédie Philosophique Universelle, publié sous la dircetion d’André Jacob, 6 Bde., Paris 1989–1998. Endress, Gerhard; Arnzen, Rüdiger; Arzhanov, Yury: Griechische Wissenschaft in arabischer Sprache. Ein griechisch-arabisches Fachwörterbuch der internationalen Wissensgesellschaft im klassischen Islam, in: Studia graecoarabica. The Journal of the Project Greek into Arabic, Nr. 3, 2013, 143–156. Endruweit, Günter: Integration oder Interkulturation?, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 31:3, 1981, 261–267. Epple, Angelika (Hg.): Entangled histories: reflecting on concepts of coloniality and postcoloniality, Leipzig 2011. Eriugena, Johannes Scotus: Über die Einteilung der Natur, übers. v. Ludwig Noack, Hamburg 1994. Ester, Peter: Die Amish People. Überlebenskünstler in der modernen Gesellschaft, aus dem Niederländischen übers. v. Frans Beersmans, Düsseldorf 2005. Eusebius of Caesarea, Praeparatio Evangelica (Preparation for the Gospel), Buch 9, übers. v. E. H. Gifford, 1903, Internetquelle: http://www.tertullian.org/ fathers/eusebius_pe_09_book9.htm. Farr, Arnold: Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins, in: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, hg. v. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche u. Susan Arndt, Münster 2005. Fasching, Wolfgang: Phänomenologische Reduktion und Mushin. Edmund Husserls Bewusstseinstheorie und der Zen-Buddhismus, Freiburg i. Br. 2003. Featherstone, Mike; Lash, Scott; Robertson, Roland (Hg.): Global modernities, London 1995. Feldbauer, Peter; Liedl, Gottfried; Morrissey, John: Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion, Wien 2001. Feldhoff, Heiner: Nietzsches Freund. Die Lebensgeschichte des Paul Deussen, Köln 2008. Feng, Luo: Sogdians in Northwest China, in: Monks and Merchants. Silk Road Treasures from Northern China. Gansu and Ningxia 4th-7th Century, hg. v. Annette L. Juliano u. Judith A. Lerner, New York 2001, 239–245. Fichte, Johann Gottlieb: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, hg. v. Reinhard Lauth, Hamburg 1986.

463 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), hg. v. Wilhelm G. Jacobs, Hamburg 1979. Fink-Eitel, Hinrich: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994. Fisch, Jörg: Zivilisation/Kultur, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner et al., Bd. 7, Stuttgart 1992, 679–774. Fisch, Jörg: Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984. Fisch, Jörg: Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, München 2011. Fischer, Carolin et al. (Hg.): Identität und Differenz. Eine interdisziplinäre Bilanz der Interkulturalitätsforschung in Deutschland und Frankreich, Berlin 2005. Fischer, Eugen: Therapie als philosophische Projekt, in: Wittgenstein – Philosophie als »Arbeit an Einem selbst«, hg. v. G. Gebauer et al., München 2009. Flaig, Egon: Über die Grenzen der Akkulturation. Wider die Verdinglichung des Kulturbegriffs, in: Rezeption und Identität, Die Kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, 81–112. Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. Flasch, Kurt: Pluralität philosophischer Welten (A. de Libera, La philosophie médiéval), in: Rechtshistorisches Journal 13, 1994, 118–122. Flashar, Hellmut: Formen der Aneignung griechischer Literatur durch die Übersetzung, in: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 3, 1968, 133–156. Fludernik, Monika; Nandi, Miriam: Hybridität. Theorie und Praxis, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Themenheft »Hybridität«, 8, 2002, 7–24. Fögen, Thorsten: Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit, München 2009. Forte, Antonino: The Hostage An Shigao and his Offspring. An Iranian Family in China, Kyōto 1995. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, übers. v. U. Bokelmann, Frankfurt a. M. 2009. Freely, John: Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam, übers v. I. Pfitzner, 6. Aufl. 2013. Frick, Heinrich: Vergleichende Religionswissenschaft, Berlin/Leipzig 1928. Fuchs, Walter: Zur technischen Organisation der Übersetzungen buddhistischer Schriften ins Chinesische, in: Asia Major, 6, 1930, 84–103. Fuhrmann, Manfred: Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 2005. Fuhrmann, Manfred: Person, in: Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, hg. v. Joachim Ritter et al., Basel 1971–2005.

464 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Gabrieli, Francesco: Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht. Aus den arabischen Quellen ausgewählt und übersetzt, aus dem Italienischen übers. v. B. von Kaltenborn-Stachau, Zürich 1973. Ganeri, Jonardon; Carlisle, Clare (Hg.): Philosophy as Therapeia, Cambridge 2010. Garfield, Jay J.: Epoche and Sunyata: Skepticism East and West, in: Philosophy East and West, 40:3, 1990, 285–307. Geary, Patrick J.; Klaniczay, Gábor (Hg.): Manufacturing Middle Ages. Entangled history of medievalism in nineteenth-century Europe, Leiden 2013. Gebauer, Gunther; Goppelsröder, Fabian; Volbers, Jörg (Hg.): Wittgenstein – Philosophie als »Arbeit an Einem selbst«, München 2009. Geiger, Heinrich: Philosophische Ästhetik im China des 20. Jahrhunderts: Ihre Stellung zwischen Tradition und Moderne, Frankfurt a. M. 1987. Geiger, Joseph: Hellenism in the East. Studies on Greek Intellectuals in Palestine, Stuttgart 2014. Geist, B.: Die Modernisierung der chinesischen Kultur. Kulturdebatte und kultureller Wandel im China der 80er Jahre, Hamburg 1996. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, durchges. u. erweitert v. Karl Vretska, 9. Aufl., München 1991. Georgiades, Thrasybulos: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958. Gernet, Jacques: Die chinesische Welt, übers. v. Regine Kappeler, Frankfurt a. M. 1979. Gerson, Lloyd P. (Hg.): The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, Bd. 1 u. 2., Cambridge 2010. Geyer, Michael; Bright, Charles: World History in a Global Age, in: The American Historical Review, 100:4, 1995, 1034–1060. Giddens, Antony: Konsequenzen der Moderne, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 1996. Gilson, Étienne: Christliche Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues. In Zusammenarbeit mit Philotheus Böhner, 3. Auflage, Paderborn 1954. Glasenapp, Helmuth von: Kant und die Religionen des Ostens, Kitzungen 1954. Glasenapp, Helmuth von: Die Philosophie der Inder. Eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren, Stuttgart 1949. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, übers. v. P. Weber-Schäfer. München/Zürich 2008. Göksel, Oğuzhan: In Search of an Non-Eurocentric Understanding of Modernization. Turkey as a Case of ›Multiple Modernities‹, in: Mediterranean Politics, 21:2, 2016, 246–267. Göle, Nilüfer: Snapshots of Islamic Modernities, in: Themenheft Multiple Modernities, Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Science, 129:1, 2000, 91–117. Golinski, Hans Günter; Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.): Zen und westliche Kunst, Köln 2000. Göpper, Roger: Aspekte des traditionellen chinesischen Kunstbegriffs, Wiesbaden 2000.

465 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Gordon, Milton M.: The Concept of the Sub-Culture and Its Application, in: Social Forces, 26:1, 1947, 40–42. Graness, Anke: Writing the history of philosophy in Africa: where to begin?, in: Journal of African cultural studies, 28:2, 2016, 1–15. Graness, Anke: Konzepte und Modelle der Philosophiegeschichte in Afrika heute, in: Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive, hg. v. R. Elberfeld, Hamburg 2017. Gray, John: Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne, übers. v. U. Becker, München 2004. Gregorios, Paulos Mar: Does Geography Condition Philosophy? On Going Beyond the Occidental-Oriental Distinction, in: Neoplatonism and Indian Philosophy, hg. v. ders., New York 2002. Griffis, Elliot: Korea and the Koreans. In the Mirror of Their Language and History, in: Journal of the American Geographical Society of New York, 27:1, 1895, 1–20. Grinin, Leonid E.; Korotayev, Andrey V.: Origins of Globalization in the Framework of the Afroeurasian World-System History, in: Journal of Globalization Studies, 5:1, 2014, 32–64. Grotius, Hugo: Mare Liberum. Zur Aktualität eines Klassikertextes, hg. v. Norman Weiß, Potsdam 2009. Gumbrecht, Hans Ulrich: Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner et al., Bd. 4, Stuttgart 1978, 93–131. Gutas, Dimitri: Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society, London 1998. Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?, übers. v. H. Pollmeier, Frankfurt a. M. 1999. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, übers. v. I. Hadot, Frankfurt a. M. 2001. Hahn, Johannes (Hg.): Alexander in Indien., 327–325 v. Chr., Stuttgart 2000. Halbfass, Wilhelm: India and the comparative method, in: Philosophy East and West, 35:1, 1985, 3–15. Halbfass, Wilhelm: Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart 1981. Hamada, Junko: Japanische Philosophie nach 1868, Köln 1994. Hamaguchi, Eshun: Ein Modell zur Selbstinterpretation der Japaner – »Intersubjekt« und »Zwischensein«, in: Die kühlt Seele. Selbstinterpretationen der japanischen Kultur, hg. v. J. Heise, Frankfurt a. M. 1990. Hampel, F.; Weiler, I. (Hg.): Vergleichende Geschichtswissenschaft. Methode, Ertrag und ihr Beitrag zur Universalgeschichte, Darmstadt 1978. Happ, E. et al.(Hg.): Organon. Griechische Grammatik, Bamberg 1981. Harper, Richard C.: The Course of the Melting Pot Idea to 1910, New York 1980. Hartmann, Andreas: Im Osten nichts Neues. Europa und seine Barbaren seit dem V. Jahrhundert v. Chr., in: Blicke auf Europa. Kontinuität und Wandel, hg. v. A. Michler u. W. Schreiber, Neuried 2003.

466 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Hartmann, Udo: Geist im Exil. Römische Philosophen am Hof der Sasaniden, in: Grenzüberschreitungen. Formen des Kontakts zwischen Orient und Okzident im Altertum, hg. v. M. Schuol, Stuttgart 2002. Haskell, Edward F.: Lance. A Novel About Multicultural Men, New York 1941. Hasse, Dag Nikolaus; Bertolacci, Amos: The Arabic, Hebrew and Latin Reception of Avicenna’s Metaphysics, Berlin 2012. Haydon, A. Eustace (Hg.): Modern Trends in World-Religions, Chicago 1934. Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes, übers. v. H. Wegener, Hamburg 1939. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in 20 Bänden, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1981. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15. Auflage, Tübingen 1979. Heidegger, Martin: Das Ereignis, Gesamtausgabe Bd. 71, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2009. Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, 5. Aufl., Pfullingen 1985. Heidegger, Martin: Wegmarken, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1978. Heideking, J.: The Pattern of American Modernity from the Revolution to the Civil War, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Science, 129:1, 2000, 219–247. Heinemann, Fritz: Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929. Heinemann, Fritz: Was ist lebendig und was ist tot in der Existenzphilosophie?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 5:1, 1950, 3–24. Heinemann, Fritz: Jenseits des Existentialismus. Studien zum Gestaltwandel der gegenwärtigen Philosophie, Stuttgart 1957. Heisig, James W.: Philosophers of Nothingness, Honolulu 2001. Heisig, James W.; Kasulis, Thomas P.; Maraldo, John C. (Hg.): Japanese Philosophy: A Sourcebook. Honolulu 2011. Held, Klaus: Europa und die interkulturelle Verständigung. Ein Entwurf im Anschluß an Heideggers Phänomenologie der Grundstimmungen, in: Europa und die Philosophie, hg. v. H.-H. Gander, Frankfurt a. M. 1993. Held, Klaus: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966. Held, Klaus: Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin 1980. Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004. Henrich, Dieter (Hg.): All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, Stuttgart 1985. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Riga/Leipzig 1784–91. Hermassi, Elbaki: Political Traditions of the Maghrib, in: Daedalus, Themenheft: Post-Traditional Societies, 102:1, 1973, 207–222. Herodot: Historien VI–IX, übers. v. W. Marg, München 1991. Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des Bogenschießens, München 1957.

467 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Herrigel, Eugen: Yumi to zen (Bogenschießen und Zen), übers. v. Inatomi Eijirō u. Ueda Takeshi, Tōkyō 1981. Herskovits, Melville J.: Acculturation. The Study of Culture Contact, New York 1938. Heß, Gilbert: Winckelmann und die Folgen. Transformationen des Wissens über Griechenland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, hg. Ulrich Johannes Schneider, Berlin 2008. Hesse-Quack, Otto: Der Übertragungsprozess bei der Synchronisation von Filmen. Eine interkulturelle Untersuchung, Köln 1967. Hettinger, Annette: Zur Lebensgeschichte und zum Todesdatum des Constantinus Africanus, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46, 1990, 517–530. Heubel, Fabian: Chinesische Gegenwartsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016. Hintikka, Jaakko; Neville, Robert; Sosa, Ernest; Olson, Alan (Hg.): Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, 12 Bde., Bowling Green University Popular Press 1999–2001. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie, Bd. I: Altertum und Mittelalter, Freiburg i. B. 1981. Hisamatsu, Shin’ichi: Die Fülle des Nichts, übers. v. T. Hirata u. J. Fischer, Stuttgart 2003. Hisayama, Yuho: Erfahrungen des ki – Leibsphäre, Atmosphäre, Pansphäre, Freiburg i. B. 2014. Hobsbawm, Eric; Ranger, Terence: The Invention of Tradition, Cambridge 1992. Hocking, William Ernest: Christianity and Intercultural Contacts, in: The Journal of Religion, 14:2, 1934, 127–138. Hohls, R.; Schröder, I.; Siegrist, H. (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005. Honigmann, John J.: Psychocultural Studies, in: Biennial Review of Anthropology, 1, 1959, 67–106. Hsia, Andrian (Hg.): Deutsche Denker über China, Frankfurt a. M. 1986. Hsu, Elithabeth: Chinese medicine in East Africa and its effectiveness, in: International Institute for Asian Studies. Newsletter, 45, 2007, 22. Huber, Michaela (Hg.): Viele sein. Ein Handbuch. Komplextrauma und dissoziative Identität – verstehen, verändern, behandeln, Paderborn 2011. Huber, Michaela: Multiple Persönlichkeiten. Seelische Zersplitterung nach Gewalt, Paderborn 1995. Humboldt, Wilhelm: Einleitung zum Kawi-Werk, in: Schriften zur Sprache, hg. v. M. Böhler, Stuttgart 1985. Humboldt, Wilhelm: Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, in: Schriften zur Sprache, hg. v. M. Böhler, Stuttgart 1985. Humboldt, Wilhelm: Über die Natur der Sprache im allgemeinen, in: Schriften zur Sprache, hg. v. M. Böhler, Stuttgart 1985. Humboldt, Wilhelm: Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960.

468 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Humboldt, Wilhelm: Über den Dualis, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 3, Schriften zur Sprachphilosophie, Darmstadt 1960. Hummel, Karl: Die Anfänge der iranischen Hochschule Gundischapur in der Spätantike, in: Tübinger Forschungen, Nr. 9, 1963, 1–4. Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. Husmann, Rolf: Transkulturation bei den Nuba: ethnohistorische Aspekte des kulturellen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Idee I, hg. v. W. Biemel, Den Haag 1950. Husserl, Edmund: Analysen zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926, hg. v. Margot Fleischer, Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Die Pariser Vorträge, in: ders., Husserlina, Bd. I, hg. v. S. Strasser, Den Haag 1973. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil, 1929–1935, hg. von Iso Kern, in: Husserliana, Bd. XV, Den Haag 1974. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. v. E. Ströker, Hamburg 1982. Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. v. L. Landgrebe, Hamburg 1985. Husserl, Edmund: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Bernhard Waldenfels, Frankfurt a. M. 1993. Hyewon, Ven.; Mason, David A.: An encyclopedia of Korean Buddhism, Seoul 2013. Hippolytus von Rom, Widerlegung aller Häresien (Refutatio omnium haeresium). Bibliothek der Kirchenväter. Internetquelle: http://www.unifr.ch/ bkv/kapitel1764–24.htm. Ide, Masauke: Japanese Corporate Finance and International Competition. Japanese Capitalism versus American Capitalism, London 1998. Ihde, Don: Experimental Phenomenology. Multistabilities, 2. Aufl., New York 2012. Ikeda, Tadashi: Classical Japanese Grammar Illustrated with Texts, Tōkyō 1975. Jackson, Yo (Hg.): Encyclopedia of Multicultural Psychology, London 2006. Jaeger, F.; Knöbel, W.; Schneider U. (Hg.): Handbuch Moderneforschung, Stuttgart 2015. Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York 1989. Jäger, Henrik (Hg.): Zhuangzi. Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch, Zürich 2009. Jäger, Henrik: Konfuzianismusrezeption als Wegbereiter der deutschen Aufklärung, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 37:2, 2012, 165–189. Jahanbegloo, R.: Introduction, in: ders. (Hg.), Iran: Between Tradition and Modernity, Maryland 2004. Jahn, Jan Heinz: Muntu. Die neoafrikanische Kultur, Neuausgabe Köln 1986. Jamme, Christoph (Hg.): Grundlinie der Vernunftkritik, Frankfurt a. M. 1997. Jansen, Jan C.; Osterhammel, Jürgen: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013.

469 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Jaspers, Karl: Die großen Philosophen, München 1957. Jaspert, Nikolas: Die Kreuzzüge, 4. überarb. Auflage, Darmstadt 2008. Jeck, Udo Reinhold: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition, Frankfurt a. M. 2004. Jehne, M.: Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr., in: Rezeption und Identität. Die Kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, hg. v. G. Vogt-Spira, B. Rommel, Stuttgart 1999. Johnson, Don Hanlon (Hg.): Klassiker der Körperwahrnehmung. Erfahrungen und Methoden des Embodiment, dt. Ausgabe v. Thea Rytz, übers. v. Christine Mauch, Bern 2012. Johnson, Scott Fitzgerald (Hg.): The Oxford Handbook of Late Antiquity, Oxford University Press 2012. Joshi, S. L.: Hinduism and Intercultural Contacts, in: The Journal of Religion, 14:1, 1934, 62–76. Jullien, François: Eine Dekonstruktion von außen – Von Griechenland nach China, oder: Wie man die festgefügten Vorstellungen der europäischen Vernunft ergründet, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53:4, 2005, 523– 539. Jullien, François, Der Umweg über China. Ein Ortswechsel im Denken, Berlin 2002. Jung, Dietrich; Sinclair, Kirstine: Multiple modernities, modern subjectivities and social order: Unity and difference in the rise of Islamic modernities, in: Thesis eleven: critical theory and historical sociology, 130:1, 2015, 22– 42. Justenhoven, Heinz-Gerhard; Stüben, Joachim (Hg.): Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der spanischen Spätscholastik, Stuttgart 2006. Jütte, Robert: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000. Kaimio, Jorma: The Romans and the Greek Language, Helsinki 1979. Kaiser, G. R.: Einführung in die Verlgeichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand – Kritik – Aufgaben, Darmstadt 1980. Kallen, Horace M.: Culture and Democracy in the United States, New York 1924. Kamali, Masoud: Multiple modernities and mass communications in Muslim countries, in: Global media and communication, 8:3, 2012, 243–268. Kant, Immanuel: Logik, in: Schriften zur Metaphysik und Logik, hg. v. W. Weischedel, Bd. 6, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1991. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. W. Weischedel, Bd. 12, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1991. Kaplan, Mordecai M.: The Effect of Intercultural Contacts upon Judaism, in: The Journal of Religion, 14:1, 1934, 53–61. Kaplan, Robert: Die Geschichte der Null, München 2003. Kaulen, Heinrich: Patchwork-Familie und Bastel-Identität. Zur Identitätssuche in neuen Adoleszenzromanen, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu sei-

470 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie ner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, hg. v. Friedrich Seelze, Stuttgart 1997. Kauppert, Michael; Funcke, Dorett (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens – Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt a. M. 2008. Keith, Michael; Scott, Lash; Arnoldi, Jakob; Rooker, Tyler: China constructing capitalism. Economic life and urban change, London 2014. Kemmer, Susan: The Middle Voice, Amsterdam/Philadelphia 1993. Kenkō, Yoshida: Draußen in der Stille. Klassische Erzählungen, Anekdoten und Aphorismen, übers. v. J. Berndt, Berlin 1993. Kenkō, Yoshida: Betrachtungen aus der Stille, übers. v. O. Benl, Frankfurt a. M. 1991. Kenney, Jeffrey T.; Moosa, Ebrahim (Hg.): Islam in the Modern World, New York 2014. Kern, Iso: Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, völlig neubearbeitet Ausgabe, Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 1, Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien, hg. v. Jean-Pierre Schobinger, Basel 1998. Kerr, Fergus: »Work on Oneself«. Wittgenstein’s Philosophical Psychology, Washington 2008. Keupp, Heiner et al.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Aufl. 2008. Kimmerle, Heinz: Dimension des Interkulturellen. Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Zweiter Teil: Supplemente und Verallgemeinerungsschritte, Amsterdam 1994. Kimmerle, Heinz: Philosophie in Afrika – afrikanischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1991. Kimmerle, Heinz: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002. Kimura, Bin: Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, übers. v. E. Weinmayr, Darmstadt 1995. Kippenberg, Hans G.: Die Relativierung der eigenen Kultur in der vergleichenden Religionswissenschaft, in: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, hg. v. J. Matthes, Göttingen 1992. Kittel, Harald; Frank, Armin Paul (Hg.): Interculturality and the historical study of literary translations, Berlin 1991. Klawitter, Arne: Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte, Göttingen 2015. Kleine, Christoph: Der Buddhismus in Japan, Tübingen 2011. Klimkeit, Hans-Joachim: Die Seidenstraße. Handelsweg und Kulturbrücke zwischen Morgen- und Abendland, Köln 1988. Knöbl, Wolfang: Die neuere Globalgeschichte, Max Weber und das Konzept der ›multiple modernities‹, in: Alte Begriffe – neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Probleme, hg. v. Thomas Schwinn u. Gert Albert, Tübingen 2016.

471 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Knöbl, Wolfgang: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt a. M. 2007. Kolcher, Andreas B.; Fraisse, Otrfried; unter Mitarbeit von Yossef Schwartz (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 2003. Kolesch, Doris; Krämer, Sybille (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006. König, René: Die Familie der Gegenwart. Ein interkultureller Vergleich, München 1974. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1988. Köster, Hermann: Über eine Grundidee der chinesischen Kultur, Kaldenkirchen 1957. Kōyama, Iwao: Logik der Entsprechung, in: Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, hg. v. R. Ōhashi, Freiburg 1990. Kraft, Eva: Zum Huai-nan-tzu. Einführung, Übersetzung (Kapitel I und II) und Interpretation, in: Monumenta Serica 16:1/2, 1957, 191–286. Krah, Stephanie Elizabeth: Übergänge der Stimme. Eine Untersuchung des Phänomens der Stimme im Ausgang von Bernhard Waldenfels, M.A.-Arbeit, Universität Hildesheim 2013. Krämer, Gudrun: Arabische Welt, in: Handbuch Moderneforschung, hg. v. F. Jaeger, W. Knöbel, U. Schneider, Stuttgart 2015. Kroeschell, Karl: Das moderne Japan und das deutsche Recht, in: Japans Weg in die Moderne. Ein Sonderweg nach deutschem Vorbild, hg. v. Bernd Martin, Frankfurt a. M. 1987. Kriz, Jürgen: Grundkonzepte der Psychotherapie. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim 2014. Kuhrt, Amélie; Sherwin-White, Susan (Hg.): Hellenism in the East. The interaction of Greek and non-Greek civilization from Syria to Central Asia after Alexander, London 1987. Kuklick, Bruce: A History of Philosophy in America. 1720–2000, Oxford 2001. Kumari, B. R. Shanta: Advaita as Transformative Metaphysics, Diss. University of Pondicherry 1991. Kunitzsch, P.: Über das Frühstadium der arabischen Aneignung antiken Gutes, in: Saeculum, 26, 1975, 268–82. Kunst des Buddhismus entlang der Seidenstraße, Ausstellung der Stadt Rosenheim, hg. v. Staatlichen Museum für Völkerkunde München, Rosenheim 1992. Kuper, Adam: The Invention of Primitive Society. Transformation of an Illusion, London 1988. Kuwaki, Genyoku: Die philosophischen Tendenzen in Japan, in: Kant-Studien, 33, 1928, 99–108. Landfester, Manfred (Hg.): Geschichte der antiken Texte. Autoren- und Werklexikon (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 2), Stuttgart/Weimar 2007. Lamping, Dieter: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010.

472 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Las Casas, Bartolomé de: Die Schrecken der Eroberung, in: Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, hg. v. Emir Rodríguez Monegal, Frankfurt a. M. 1982. Laycock, Steven W.: Mind as Mirror and the Mirroring of Mind. Buddhist Reflections on Western Phenomenology, New York 1994. Lazo, Dimitri D.: The Making of a Multicultural Man. The Missionary Experiences of E. T. Williams, in: The Pacific Historical Review, 51:4, 1982, 357– 383. Le Blanc, Charles: Huai-Nan Tzu. Philosophical Synthesis in Early Han Thought. The Idea of Resonance (Kan-Ying). With an Translation and Analysis of Chapter Six, Hong Kong University Press 1985. Lee, Eun-Jeung: »Anti-Europa«. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung, Münster 2003. Lee, Ming-huei: Konfuzianischer Humanismus. Transkulturelle Kontexte, Bielefeld 2013. Lee, Raymond L. M.: Reinventing Modernity Reflexive Modernization vs. Liquid Modernity vs. Multiple Modernities, in: European Journal of Social Theory 9:3, 2006, 355–368. Leeten, Lars: Zeichen und Freiheit. Über Verantwortung im theoretischen Denken, Bielefeld 2010. Leggewie, Claus: MultiKulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Salzhemmendorf 2011. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Abhandlung über die chinesische Philosophie, in: Renate Loosen, Leibniz und China. Zur Vorgeschichte der »Abhandlung über die chinesische Philosophie«, in: Antaios, 8, 1967, 144–203. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Briefe über China (1694–1716). Die Korrespondenz mit Barthélemy Des Bosses S.J. und anderen Mitgliedern des Ordens, hg. v. Malte-Ludolf Babin u. Rita Widmaier, Hamburg 2017. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689– 1714), hg. v. Rita Widmaier, übers. v. Malte-Ludolf Babin, Hamburg 2006. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Novissima Sinica / Das Neueste von China, hg. u. übers. v. H. G. Nesselrath u. H. Reinbothe, Köln 1979. Leidecker, Kurt F.: Josiah Royce and Indian Thought, New York 1931. Leims, Thomas: Die Entstehung des Kabuki. Transkulturation Europa – Japan im 16. und 17. Jahrhundert, Leiden 1990. Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009. Lepenies, Wolf (Hg.): Entangled histories and negotiated universals. Centers and peripheries in a changing world, Frankfurt a. M. 2003. Lerda, Valeria Gennaro (Hg.): From ›Melting Pot‹ to Multiculturalism. The Evolution of Ethnic Relations in the United States and Canada, Rom 1990. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, übers. v. H. Naumann, Frankfurt a. M. 1968. Lévy-Bruhl, Lucien: Das Denken der Naturvölker, übers. v. P. Friedländer, Wien/ Leipzig 1921. Lévy-Bruhl, Lucien: Die Seele der Primitiven, übers. v. E. Werkmann, Wiesbaden 1930.

473 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Lewin, Bruno: Abriß der japanischen Grammatik, Wiesbaden 1996. Li, Wenchao: Leibniz, der Chronologienstreit und die Juden in China, in: Leibniz und das Judentum, hg. v. D. J. Cook, H. Rudolph, C. Schulte, Stuttgart 2008, 183–208. Li, Wenchao: Leibniz und das europäische Interesse an der chinesischen Sprache und Schrift, in: ders. (Hg.), Einheit der Vernunft und Vielfalt der Sprachen. Beiträge zu Leibniz’ Sprachforschung und Zeichentheorie, Stuttgart 2014. Libera, Alain de: Denken im Mittelalter, übers. v. A. Knop, München 2003. Libera, Alain de: Die mittelalterliche Philosophie, übers. v. T. Schwager, München 2005. Libera, Alain de: La Philosophie médiévale, Paris 1993. Libera, Alain de: Penser au Moyen Âge, Paris 1991. Lippe, Rudolf zur: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1987. Lippe, Rudolf zur: Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens, Frankfurt a. M. 1978, 2. überarbeitete Auflage 1984. Loewe, Michael (Hg.): Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide, Berkley 1993. Long, A. A.; Sedley, D. N.: Die hellenistische Philosophie. Texte und Kommentare, übers. v. K. Hülser, Stuttgart/Weimar 2000. Loosen, Renate: Leibniz und China. Zur Vorgeschichte der »Abhandlung über die chinesische Philosophie«, in: Antaios, 8, 1967, 134–143. Lorenz, Kuno: Indische Denker, München 1998. Löwith, Karl: Der europäische Nihilismus, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983. Luczanits, Christian (Hg.): Gandhara. Das buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese, Mainz 2008. Lüddeckens, Dorothea: Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert, Berlin 2002. Lüderitz, Susanne: Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert. Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen Identitätsstörung, Paderborn 2005. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006. Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Frankfurt a. M. 2003. Lucian’s Werke, übers. v. A. F. Pauly, Dreizehntes Bändchen. Die Entlaufenen, Stuttgart 1831. (https://de.wikisource.org/wiki/Die_Entlaufenen) Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, übers. v. J. Vogl, München 1989. Macamo, Elísio: Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en) Mensch zu sein, in: Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M. 2012. Mackaman, Douglas (Hg.): World War I and the cultures of modernity, Mississippi 2000. Maletzke, Gerhard: Interkulturelle Kommunikation und Publizistikwissenschaft, in: Publizistik, 11:4, 1966, 318–328.

474 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Maletzke, Gerhard: Interkulturelle Kommunikation zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern. Ein internationales Symposium des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Berlin 1967. Malinowski, Bronislaw: The Pan-African Problem of Culture Contact, in: The American Journal of Sociology, 48:6, 1943, 649–665. Mall, Ram A.; Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, Bonn 1989. Mall, Ram A.: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt 1995. Mall, Ram A.: Das Konzept einer interkulturellen Philosophie, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 1, 1998, 54–69. Mall, Ram Adhar: Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg. Eine interkulturelle Perspektive, zweite, um ein Nachwort erweiterte Auflage, Freiburg i. B. 2015. Mall, Ram Adhar; Peikert, Damian: Philosophie als Therapie. Eine interkulturelle Perspektive, Freiburg i. B. 2017. Maraldo, John: Nishida’s Kōiteki chokkan 行為的直観 and the Notion of Enaction in Cognitive Science, in: Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung, hg. v. R. Elberfeld u. Y. Arisaka, Freiburg i. B. 2014, 342–364. Marks, Robert B.: Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte, übers. v. M. Sommer u. D. Sommer-Theohari, Darmstadt 2006. Marra, Michele: Modern Japanese Aesthetics. A Reader, Honolulu 1999. Masauke, Ide: Japanese Corporate Finance and International Competition. Japanese Capitalism versus American Capitalism, London/New York 1998. Mascareño, Aldo: Die Moderne Lateinamerikas. Weltgesellschaft, Region und funktionale Differenzierung, Bielefeld 2012. Masson-Ourse, Paul: La Philosophie comparée, Paris 1923. Masson-Oursel, Paul: La Philosophie comparée, in: Revue de Métaphysique et de Morale 19, 1911, 343–352. Matthes, Joachim (Hg.): Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992. Matthes, Joachim: »The Operation Called ›Vergleichen‹«, in: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, hg. v. Joachim Matthes, Göttingen 1992, 75–102. Matilal, Bimal Krishna: The Character of Logic in India, Oxford 1999. Matthäus, Hartmut; Oettinger, Norbert; Schröder, Stephan (Hg.): Der Orient und die Anfänge Europas. Kulturelle Beziehungen von der Späten Bronzezeit bis zur Frühen Eisenzeit, Wiesbaden 2011. Matthews, Fred: Cultural Pluralism in Context. External History, Philosophical Premises, and Theories of Ethnicity in Modern America, in: Journal of Ethnic Studies, 12:2, 1984, 63–79. McCord, Fletcher: Buchbesprechung zu Cora Dubois, The People of Alor. A Social-Psychological Study of an East Indian Island, in: Social Forces, 23:2, 1944, 226–227.

475 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie McEvilley, Thomas: Pyrrhonism and Madhymika, in: Philosophy East and West, 32:1, 1982, 3–36. McEvilley, Thomas: The Shape of Ancient Thought. Comparative Studies in Greek and Indian Philosopies, New York 2002. Mead, Margaret: Letter to the Editor. The Institute for Intercultural Studies and Japanese Studies, in: American Anthropologist, New Series, 63:1, 1961, 136–137. Meißner, Werner: China zwischen nationalem ›Sonderweg‹ und universaler Modernisierung. Zur Rezeption westlichen Denkens in China, München 1994. Memorias del XIII Congreso International de Filosofia, Mexico 1963, Comite organizador F. Larroyo, J. L. Curiel, Universidad Nacional Autonoma de Mexico, 10 Bde., Mexico 1963–1966. Merkelbach, Reinhold: Die Quellen des griechischen Alexanderromans, 2. neubearbeitete Auflage, München 1977. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. R. Boehm, Berlin 1966/74. Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, übers. v. R. Giuliani, München 1993. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. v. R. Giuliani u. B. Waldenfels, München 1994. Meyer, Thomas (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt a. M. 1989. Meynard, Thierry, S.J.: Confucius Sinarum Philosophus (1687). The First Translation of the Confucion Classics, Rom 2011. Michel, Wolfgang: Engelbert Kaempfer und die Medizin in Japan, in: Engelbert Kaempfer. Werk und Wirkung, hg. v. Detlef Haberland, Stuttgart 1993. Michel, Wolfgang: Far Eastern Medicine in Seventeenth and Early Eighteenth Century Germany, in: Studies in Languages and Cultures (Faculty of Languages and Cultures, Kyūshū University), 20, 2004, 67–82. Milindapanha. Ein historisches Gipfeltreffen im religiösen Weltgespräch, hg. v. Nyanaponika, Bern 1998. Miller, M.: Die Modernität der Tradition. Zum Kulturverständnis des chinesischen Historikers Yu Yingshi, Münster 1995. Misch, Georg: Der Weg in die Philosophie, Leipzig 1926. Miyamoto, Musashi: Gorin no sho, hg. v. Watanabe Ichirō, Tōkyō 1991. Mokhtarian, Jason Sion: Rabbis, Sorcerers, Kings and Priests. The Culture of the Talmud in Ancient Iran, Oakland 2015. Möller, Hans-Georg: Die philosophischste Philosophie. Feng Youlans Neue Metaphysik, Wiesbaden 2000. Momigliano, Arnaldo: Hochkulturen im Hellenismus. Die Begegnung der Griechen mit Kelten, Römern, Juden und Persern, München 1979. Montaigne, Michel de: Über die Menschenfresser, in: Essais, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998. Montalto, Nicholas V.: A History of the Intercultural Educational Movement, New York/London 1982. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers. v. Kurt Weigand, Stuttgart 1965.

476 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Moore, Charles A. (Hg.): Philosophy – East and West, Princeton 1946. Moosmüller, Alois: Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer wissenschaftlichen Disziplin, Münster 2007. Morgan, Edmund S.: American Slavery, American Freedom. The Ordeal of Colonial Virginia, New York/London 1975. Mosig-Walburg, Karin: Römer und Perser vom 3. Jahrhundert bis zum Jahr 363 n. Chr., Gutenberg 2009. Mou, Bo (Hg.): History of Chinese Philosophy, London 2008. Müller, August: Die griechischen Philosophen in der arabischen Überlieferung, Halle 1873. Müller, F. Max: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Strassburg 1874. Müller, R. W.: Tradition und Moderne. Zum Verhältnis von Vorurteil und sozialwissenschaftlichem Begriff, in: Im Schatten des Siegers: Japan. Bd. 1, Kultur und Gesellschaft, hg. v. U. Menzel, Frankfurt a. M. 1989. Muldoon, James: The Americas in the Spanish World Order. The Justification for Conquest in the Seventeenth Century, Philadelphia 2015. Murdock, George Peter: Outline of World Cultures, New Haven 1954. Mustafa, Arafa; Tubach, Jürgen; Vashalomidze, G. Sophia (Hg.): Inkulturation des Christentums im Sasanidenreich, Wiesbaden 2007. Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo, übers. v. Michael Gebauer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2012. Nakamura, Hajime: Indo to gririsha to no shisōkōryū (Die geistigen Beziehungen zwischen Indien und Griechenland), Tōkyō 1968. Nakamura, Hajime: Hikaku-shisō no kiseki (Spuren komparativer Philosophie), Tōkyō 1993. Nambara, Minoru: Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und seine Entsprechungen im Buddhismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 6, 1960, 143–277. Nash, Philleo: The Pace of religious Revivalism in the Formation of the intercultural Community on the Klamath Reservation, Diss., University of Chicago 1937. Nattier, Jan: A Guide to Earliest Chinese Buddhist Translations. Texts from the Eastern Han 東漢 and Three Kingdoms 三國 Periods, Tōkyō 2008. Negt, Oskar: Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos von der Moderne. Reisetagebuch und Gedankenexperimente, Frankfurt a. M. 1988. Nettl, John Peter; Robertson, Roland: Industrialization, Development or Modernization, in: The British Journal of Sociology, 17:3, 1966, 274–291. Nettl, John Peter; Robertson, Roland: International Systems and the Modernization of Societies. The Formation of National Goals and Attitudes, London 1968. Neumann, Günter; Untermann, Jürgen (Hg.): Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, Köln 1980. Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1991. Niebuhr, Reinhold: The Theory and Practice of UNESCO, in: International Organization, 4:1, 1950, 3–11.

477 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Niedermann, Joseph: Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. durchgesehene Auflage München 1988. Nishida Kitarō zenshū (Gesamtausgabe Kitarō Nishida), hg. v. Y. Abe et al., 19 Bde., Tōkyō 1978–1980. Nishida, Kitarō: Die intelligible Welt. Drei philosophische Abhandlungen, übers. v. Robert Schinzinger, Berlin 1943. Nishida, Kitarō: Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, in: Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, hg. v. R. Ōhashi, Freiburg i. B. 1990. Nishida, Kitarō: Über das Gute, übers. v. Peter Pörtner, Frankfurt a. M. 1989. Nishida, Kitarō: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen japanischen Philosophie, übers. u. hg. v. Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999. Nishitani, Keiji: Was ist Religion?, übers. v. D. Fischer-Barnicol, Frankfurt a. M. 1982. Noël, François: Sinensis Imperii Classici sex, mit einer Einleitung von Henrik Jäger, Hildesheim 2011. Ntumba, Tshiamalenga: Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 33, 1979, 428–443. Nussbaum, Martha: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. Nyberg, Henrik Samuel: Das Studium des Orients und die europäische Kultur, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 103:1, 1953, 9–21. O’Leary, De Lacy: How Greek Science passed to the Arabs, London 1980. Obert, Mathias: Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg i. B. 2007. Offutt, Stephen: Multiple Modernities. The Role of World Religions in an Emerging Paradigm, in: Journal of contemporary religion, 29:3, 2014, 393–409. Ōhashi, Ryōsuke (Hg.): Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführung, Freiburg/München 1990, 2. erweiterte und mit einer neuen Einführung versehene Auflage, Freiburg i. B. 2011. Ōhashi, Ryōsuke: Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion, Freiburg i. Br. 2009. Ōhashi, Ryōsuke: Kire. Das ›Schöne‹ in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, übers. v. R. Elberfeld, Köln 1994. Ōhashi, Ryōsuke, Reflexion der nicht-europäischen Moderne, in: Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, hg. v. R. A. Mall u. D. Lohmar, Amsterdam 1993. Olela, Henry: From ancient Africa to ancient Greece. An introduction to the history of philosophy, Atlanta 1981. Onyewuenyi, Innocent: African Origin of Greek Philosophy. An Exercise in Afrocentrism, Enugu 1993.

478 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Ortiz, Renato: From Incomplete Modernity to World Modernity, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Science, 129:1, 2000, 249– 260. Ortland, Eberhard: Horizontverschiebungen des Denkens. Der 22. Weltkongress für Philosophie in Seoul 2008, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 33:3, 2008, 287–296. Ostendorf, Berndt (Hg.): Multikulturelle Gesellschaff: Modell Amerika?, München 1994. Osterhammel, Jürgen: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München, 2013. Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995. Osterhammel, Jürgen; Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, München 2003. Paczensky, Gert von: Verbrechen im Namen Christi. Mission und Kolonialismus, München 2000. Palmer, Howard (Hg.): Immigration and the Rise of Multiculturalism, Vancouver 1975. Park, Peter K. J.: Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon. 1780–1830, New York 2013. Pells, R.: Not like Us: How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture since World War II, New York 1997. Perez Valera, J. Eduardo: Toward a Transcultural Philosophy, in: Monumenta Nipponica, 27:1, 1972, 39–64 / 27:2, 1972, 175–189. Peterman, James F.: Philosophy as Therapy. An Interpretation and Defense of Wittgenstein’s Later Philosophical Project, New York 1992. Pfeiffer, Wolfgang M.: Transkulturelle Psychiatrie. Ergebnisse und Probleme, Stuttgart 1971. Pfister, Friedrich: Das Nachleben der Überlieferung von Alexander und den Brahmanen, in: Hermes, 76:2, 1941, 143–169. Pfister, Friedrich: Der Alexanderroman mit einer Auswahl aus den verwandten Texten, Meisenheim 1978. Picht, Georg: Kunst und Mythos, Stuttgart 1986. Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997. Pinot, V.: La Chine et la Formation de l’esprit philosophique en France (1640– 1740), Paris 1932. Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 1974. Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Wien 1998 ff. Porkert, Manfred: Die chinesische Medizin, Düsseldorf 1982. Porphyrios: Über Plotins Leben, in: Plotins Schriften, übers. v. R. Harder, Bd. 5c, Darmstadt 1958.

479 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Possamai, Adam: Shari’a and multiple modernities in Western countries: toward a multi-faith pragmatic modern approach rather than a legal pluralist one?, in: The sociology of Shari’a: case studies from around the world, hg. v. Adam Possamai et al., Wiesbaden 2015. Powell, John W.: From Barbarism to Civilization, in: American Anthropologist, 1:2, 1888, 97–123. Preckel, Claudia: Muslimisches Südasien, in: Handbuch Moderneforschung, hg. v. F. Jaeger, W. Knöbel, U. Schneider, Stuttgart 2015. Preyer, Gerhard; Sussman, Michael (Hg.): Varieties of multiple modernities. New research design, Leiden 2016. Priest, Graham: One. Being an Investigation into the Unity of Reality and of its Parts, including the Singular Object which is Nothingness, Oxford 2014. Proceedings of the XVth World Congress of Philosophie, Varna / Bulgarien 1973, 6 Bde., Sofia 1973–1975. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. v. Eva RechelMertens, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. Puelma, Mario: Die Rezeption der Fachsprache griechischer Philosophie im Lateinischen, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 33, 1986, 45–69. Radin, Paul: Primitiv Man as Philosopher, New York / London 1927. Randeria, Shalini; Fuchs, Martin: Konfigurationen der Moderne: Zur Einleitung, in: Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu Indien, hg. v. S. Randeria u. M. Fuchs, Baden-Baden 2004. Raptis, Theocharis: Den Logos willkommen heißen. Die Musikerziehung bei Platon und Aristoteles, Frankfurt a. M. 2007. Raynal, Guillaume; Diderot, Denis: Die Geschichte beider Indien, hg. v. HansJürgen Lüsebrink, Nördlingen 1988. Records of the General Conference of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Third Session, Beirut 1948, Vol. II, Resolutions, Paris 1949. Rehorick, David Allan; Bentz, Valerie Malhotra (Hg.): Transformative Phenomenology. Changing Ourselves, Lifeworlds, and Professional Practice, Lanham 2008. Reinhard, Wolfgang: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, übers. v. S. Vogel, Frankfurt a. M. 1995. Robbiano, Chiara: Becoming being. On Parmenides’ transformative philosophy, Sankt Augustin 2006. Robert, Louis: De Delphes à l’Oxus, inscriptions grecques nouvelles de la Bactriane, in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres Année, 112:3, 1968, 416–457. Robertson, Roland: Globalization. Social Theory and Global Culture, London 1992. Rombach, Heinrich: Substanz System Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Freiburg/München 2. Aufl. 1981.

480 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Rombach, Heinrich: Leben des Geistes, Freiburg i. B. 1977. Rombach, Heinrich: Das Phänomen Phänomen, in: Neuere Entwicklungen des Phänomenbegriffs (= Phänomenologische Forschungen Bd. 9), Freiburg/ München 1980, 7–32. Rombach, Heinrich: Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, Freiburg/München 1980. Rombach, Heinrich: Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur, Freiburg i. B. 1994. Rombach, Heinrich: Die Gegenwart der Philosophie, 3., grundlegend neubearbeitete Auflage, Freiburg i. B. 1988. Rombach, Heinrich: Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie, Freiburg / München 1994. Roniger, Luis; Waisman, Carlos H. (Hg.): Globality and Multiple Modernities. Comparative North American and Latin American Perspectives, Brighton 2002. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. Rosati, Massimo; Stoeckl, Kristina (Hg.): Multiple Modernities and Postsecular Societies, Farnham 2012. Rosenblatt, Louise M.: Toward a Cultural Approach to Literature, in: College English, 7:8, 1946, 459–466. Rosental, Wladlen: Wechselbeziehungen zwischen der russischen und deutschen Psychiatrie vor 1917. Ein Beitrag zur interkulturellen Psychiatrie, Halle 1974. Rosenthal, Franz: Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich 1965. Rotman, Brian: Signifying Nothing. The Seminotics of Zero, Basingstoke 1987. Rubin, William (Hg.): »Primitivism« in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern, New York 1984. Rudolph, Ulrich (Hg.): Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 8.–10. Jahrhundert, Basel 2012. Rüsen, Jörn: Theoretische Zugänge zum interkulturellen Vergleich historischen Denkens, in: Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität 4, hg. v. Jörn Rüsen, Michael Gottlob u. Achim Mittag, Frankfurt a. M. 1998. Rüsen, Jörn; Gottlob, Michael; Mittag, Achim (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität 4, Frankfurt a. M. 1998. Rusker, Udo: Der XIII. internationale Philosophie-Kongress in Mexico, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 18:2, 1964, 325–332. Ryle, G., (Hg.): Proceedings of the Seventh International Congress of Philosophy, Oxford, England 1930, London/Edinburgh 1931. Said, Edward: Orientalism, New York 1978. Sajoo, Amyn B. (Hg.): Muslim Modernities, London 2008. Sandvoss, Ernst R.: Geschichte der Philosophie. Mittelalter – Neuzeit – Gegenwart, 2. Bd., aktualisierte Neuausgabe München 2001. Sarris, Peter: Empires of Faith. The Fall of Rome to the Rise of Islam, 500–700, Oxford 2011. Schäbler, Birgit: Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883, Paderborn 2016.

481 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Schayer, Stanislaw: Indische Philosophie als Problem der Gegenwart, in: 15. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft, 1928, 46–69. Scheiffele, Eberhard: Interkulturelle germanistische Literaturwissenschaft und Komparatistik. Eine Abgrenzung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 25, 1999, 103–119. Schelkshorn, Hans; Abdeljelil, Jemeleddine Ben (Hg.): Die Moderne im interkulturellen Diskurs. Perspektiven aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, Weilerswist 2012. Schelkshorn, Hans: Widerhall der Alten Welt oder ein verpflanzter Baum? Zur Debatte über die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika im 20. Jahrhundert, in: Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive, hg. v. Rolf Elberfeld, Hamburg 2017. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, hg. v. M. S. Frings, Bonn 1976. Schlegel, Friedrich: Über die Sprache und Weisheit der Indier, Heidelberg 1808. Schlette, Heinz Robert: Indisches bei Plotin, in: Einsicht und Glaube, hg. v. J. Ratzinger u. H. Fries, Freiburg i. B. 1962, 171–192. Schlieter, Jens: Buddhismus zur Einführung, Hamburg 1997. Schlieter, Jens: Versprachlichung und Entsprachlichung. Untersuchungen zum philosophischen Stellenwert der Sprache im europäischen und buddhistischen Denken, Köln 2000. Schmidt, Paul F.: Ethical Norms in Scientific Method, in: The Journal of Philosophy, 56:15, 1959, 644–652. Schmidt, Stephan: »Der grosse Chinese von Königsberg«. Kants Rolle und Funktion im Kontext der Modernisierung konfuzianischen Denkens im 20. Jahrhundert, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 33:1, 2008, 5– 29. Schmidt-Glinzer, Helwig: China und der Buddhismus, in: Kunst des Buddhismus entlang der Seidenstraße, Ausstellung der Stadt Rosenheim, hg. v. Staatlichen Museum für Völkerkunde München, Rosenheim 1992. Schmidt-Glinzer, Helwig: Das Hung-Ming Chi und die Aufnahme des Buddhismus in China, Wiesbaden 1976. Schmutzer, E. A.: Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam. Konsens und Widerspruch, Bielefeld 2015. Schneider, Ute: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, 2. Auflage, Darmstadt 2006. Schoenbohm, Susan: Re-Adressing Phenomenology. Heidegger’s Thinking through the Middle Voice, in: Phenomenology. Japanese and American, hg. v. Burt C. Hopkins, Dordrecht 1999. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzug 1819. Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, hg. v. Arthur Hübscher, Frankfurt a. M. 1966/75. Schrader, F. Otto: Die Fragen des Königs Menandros, Berlin 1905. Schrimpf, G.: Bausteine für einen historischen Begriff der scholastischen Philosophie, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, hg. v. J. P. Beckmann et al., Hamburg 1987. Schubert, Kurt: Jüdische Geschichte, 7. Aufl., Nördlingen 2012.

482 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Schulthess, Peter: Mittelalterliche Philosophie oder Philosophie im Mittelalter?, in: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, hg. v. P. Schulthess und R. Imbach, Zürich/Düsseldorf 1996. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der indischen Denker, München 1935. Schweizer, Thomas: Methodenprobleme des interkulturellen Vergleichs. Probleme, Lösungsversuche, exemplarische Anwendung, Köln/Wien 1978. Schwendter, Rolf: Theorie der Subkultur, Köln 1971, 4. Auflage Hamburg 1993. Schwinn, Thomas (Hg.): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006. Scott, Charles: The middle Voice in Being and Time, in: The Collegium Phaenomenologicum. The first ten years, hg. v. S. IJsseling et al., Dordrecht 1988. Seal, B. N.: Comparative studies in Vaishnavism and Christanity, Calcutta 1899. Sepúlveda, Juan Ginés de: Dialog über die gerechten Kriegsgründe, in: Der Griff nach der Neuen Welt. Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, hg. v. Christoph Strosetzki, Frankfurt a. M. 1991. Seubold, Günter: Schein und Nichts. Begriff und Geist japanischer Kunst, Bonn 2003. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, übers. v. M. Hossenfelder, Frankfurt a. M. 1993. Sezgin, F.: Geschichte des arabischen Schrifttums, Leiden 1967. Sims-Williams, Nicholas: The Sogdian Merchants in China and India, in: Cina e Iran da Alessandro Magno alla Dinastia Tang, hg. v. A. Cadonna u. L. Lanciotti, Firenze 1996. Sloderdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009. Shyu, Mei-Ling: Wechselbeziehungen von Musik und Politik in China und Taiwan, Diss. Hamburg 2001. Smith, Woodruff David; Thomasson, Amie L. (Hg.): Phenomenology and Philosophy of Mind, Oxford/New York 2005. Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946. Sollors, Werner: Ethnic Modernism. 1910–1950, in: American Literary History, 15:1, 2003, 70–77. Sommer, Michael: Roms orientalische Steppengrenze. Palmyra – Edessa – DuraEuropos – Hatra. Eine Kulturgeschichte von Pompeius bis Dicletian, Wiesbaden 2005. Sorabji, Richard: Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2000. Sorell, Tom; Rogers, G. A. J. (Hg.): Analytic philosophy and history of philosophy, Oxford 2005. Speer, Andreas; Steinkrüger, Philipp (Hg.): Knotenpunkt Byzanz. Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen, Berlin 2012. Speer, Andreas (Hg.): Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, Berlin 2006. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 1, Wien 1918, Band 2, München 1922.

483 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Staal, J. F.: The problem of Indian influence on Neoplatonism (Appendix), in: ders., Advaita and Neoplatonism, A Critical Study in Comparative Philosophy, Madras 1961. Steinmann, Marc: Alexander der Große und die »nackten Weisen« Indiens. Der fiktive Briefwechsel zwischen Alexander und dem Brahmanenkönig Dindimus, Berlin 2012. Steinschneider, Mortiz: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin 1893. Stollenberg, Jochen (Hg.): »Das Tier, das du jetzt tötest, bist du selbst …«. Arthur Schopenhauer und Indien, Frankfurt a. M. 2006. Strath, B.: Multiple Europes. Integration, Identity and the Demarcation of the Other, Brüssel 2000. Strawson, Peter: Einzeldinge und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, übers. v. F. Scholz, Stuttgart 1972. Strempel, Dieter: Der japanische Beitrag zur Fortentwicklung außerforensischer und vermittelnder Konfliktregelung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Wege zum japanischen Recht, hg. v. Hans G. Leser, Berlin 1992. Stutz, Suzan: Islam und Moderne. Ein Abriss über die innermuslimische Diskussion im 20. Jahrhundert, Karlsruhe 2013. Sumner, Claude: The Source of African Philosophy. The Ethiopian Philosophy of Man, Stuttgart 1986. Sünderhauf, Esther Sophia: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. Suzuki, Shigetaka: Ausblick über die europäische Weltgeschichte, in: Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführungen, hg. v. R. Ōhashi, Freiburg i. B. 1990. Szemerényi, O.: Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft, 4. Aufl., Darmstadt 1990. Szlezák, Thomas A.: Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993. Taber, John: Reason, Revelation, and Idealism in Śaṅkara’s Vedānta, in: Journal of Indian Philosophy, 9:1981, 283–307. Taber, John: Transformative Philosophy – A Study of Śaṅkara, Fichte, and Heidegger, Honolulu 1983. Tanabe, Hajime: Die neue Wende der Phänomenologie – Heideggers Phänomenologie des Lebens, in: Japan und Heidegger, hg. v. H. Buchner, Sigmaringen 1989, 89–108. Tawada, Yōkō: Eine leere Flasche, in: dies., ÜBERSEEZUNGEN, Tübingen 2002. Taylor, Charles: Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, Princeton 1990. Teng, S.; Fairbank, J. K.: China’s Response to the West, Cambridge 1954. Therborn, Göran: Entangled Modernities, in: European Journal of Social Theory, 6:3, 2003, 293–305. Tsujimura, K.; Ohashi, R.; Rombach, H.: Sein und Nichts. Grundbilder westlichen und östlichen Denkens, Basel/Freiburg/Wien 1981. Tylor, Edward: Primitive Culture. Researches Into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom, London 1871.

484 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Tymienciecka, A.-T. (Hg.): Phenomenology of Life in a Dialogue between chinese and occidental philosophy, Dordrecht 1984. Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Von Thales bis auf die Gegenwart, 1. Teil: Die vorchristliche Zeit, Berlin 1863. Unschuld, Paul U.: Traditionelle Chinesische Medizin, München 2013. Utz, Christan: Neue Musik in Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Stuttgart 2002. Valencia, Atilano A.: Bilingual/Bicultural Education. A Prospective Model in Multicultural America, in: TESOL Quarterly, 3:4, 1969, 321–332. Valéry, Paul: Cahiers / Hefte, hg. v. H. Köhler und J. Schmidt-Radefeldt, 6 Bde., Frankfurt a. M. 1992. Varela, Francisco J.: Ethisches Können, übers. v. R. Cacket, Frankfurt a. M. 1994. Varela, Francisco J.: Thompson, Evan; Rosch, Eleanor: Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung, München 1995. Valle, Guido della (Hg.): Atti del V. Congresso internazionale di Filosofia Napoli 1924, Neapel 1925. Veit, Raphaela: Quellenkundliches zu Leben und Werk des Constantinus Africanus, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 59, 2003, 121– 152. Venzke, Andreas: Der Entdecker Amerikas. Aufstieg und Fall des Christoph Kolumbus, aktualisierte Neuausg., Berlin 2006. Vespucci, Amerigo: Die Neue Welt, in: Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, hg. v. Emir Rodríguez Monegal, Frankfurt a. M. 1982. Vickery, William E.; Cole, Stewart G.: Intercultural education in American schools. Proposed objectives and methods, New York/London 1943. Vitaxis, Vassilis: Plato and the Upanishads, New Delhi 1977. Vlastos, Stephen (Hg.): Mirror of Modernity. Invented Traditions of Modern Japan, London 1998. Vogt-Spira, Gregor: Die Kulturbegegnung Roms mit den Griechen, in: Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, hg. v. M. Schuster, Stuttgart/Leipzig 1996. Voltaire: Essay sur l’histoire général et sur les moers et l’esprit des nations, Genf 1756. Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, München 1992. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990. Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden – Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997. Wallgren, Thomas: Transformative Philosophy. Socrates, Wittgenstein, and the Democratic Spirit of Philosophy, Lanham 2006. Watsuji, Tetsurō: Ethik als Wissenschaft vom Menschen, übers. v. H. M. Krämer, Darmstadt 2005.

485 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Watts, Edward: Where to Live the Philosophical Life in the Sixth Century? Damascius, Simplicius, and the Return from Persia, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies, 45, 2005, 285–315. Wehling, P.: Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien, Frankfurt a. M. 1992. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004. Weinmann, Rudolf: Denken und Gesellschaft Chinas im philosophischen und politischen Diskurs der französischen Aufklärung, Hamburg 2002. Weinrich, Harald (Hg.): Positionen der Negativität, München 1975. Weiss, Bernard J. (Hg.): American Education and the European Immigrant: 1840–1940, Illinois 1982. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie, 20:2, 1990, 5–20. Welsch, Wolfgang: Subjektsein heute. Überlegungen zur Transformation des Subjekts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 39:4, 1991, 347–365. Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1996. Werner, Jürgen: »Die Welt hat nicht mit den Griechen angefangen«. Franz Dornseiff (1888–1960) als klassischer Philologe und als Germanist (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse, 76:1), Stuttgart 1999. Wesolowski, Zbigniew: Lebens- und Kulturbegriff von Liang Shuming (1893– 1988). Dargestellt anhand seines Werkes Dong-Xi wenhua ji qi zhexue (Die Kulturen in Ost und West und deren Philosophien), Bonn 1997. West, M. L.: Early Greek Philosophy and the Orient, Oxford 1971. Westgeest, Helen: Zen in the fifties. Interaction in art between east and west, Zwolle 1996. Wichmann, Siegfried (Hg.): Weltkulturen und moderne Kunst. Die Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika, München 1972. Widmaier, Rita: Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie, Wiesbaden 1983. Widmann, Susanne: Untersuchungen zur Übersetzungstechnik Ciceros in der philosophischen Prosa, Tübingen 1968. Wiesenhöfer, Josef: Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., Zürich 1993. Wilhelm, Richard: Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, Köln 1981. Wille, Katrin: Gendering George Spencer Brown? Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung, in: Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, hg. v. C. Weinbach, Wiesbaden 2007. Williams Jr., Robert A.: The American Indian in Western Legal Thought. The Discourses of Conquest, Oxford 1990. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie, Wien 1990. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie, Wien 2004.

486 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie Wiredu, Kwasi (Hg.): A Companion to African Philosophy, Malden 2004. Wiredu, Kwasi: Probleme des afrikanischen Selbstverständnisses in der gegenwärtigen Welt, in: Widerspruch. Zeitschrift für Philosophie, Heft 30, 17:1, 1997, 28–45. Wirth, Peter: Grundzüge der byzantinischen Geschichte, 4. Aufl. 2006. Wisser, Richard: Vom Weg-Charakter philosophischen Denkens. Geschichtliche Kontexte und menschliche Kontakte, Würzburg 1998. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1981. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass hg. v. Georg Henrik von Wright, Neubearbeitung des Textes durch Alois Pichler, Frankfurt a. M. 1994. Wittkower, Eric D.: Recent Developments in Transcultural Psychiatry, in: Transcultural Psychiatry, hg. v. A. V. S. Reuck u. Ruth Porter, London 1965. Wohlfart, Günter: Wordless Teaching – Giving signs: Laozi and Heraclitus – A Comparative Study, in: Komparative Philosophie. Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen, hg. v. R. Elberfeld et al., München 1998, 281–298. Wohlfart, Günter: Der philosophische Daoismus, Köln 2001. Wolf, Jean-Claude (Hg.): Menschenrechte interkulturell, Freiburg i. Ue./ Schweiz 2000. Wolff, Christian: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. LateinischDeutsch, übers. u. hg. v. Michael Albrecht, Hamburg 1985. Wolters, Albert M.: A Survey of Modern Schloarly Opinion on Plotin and Indian Thought, in: Neoplatonism and Indian Thought, hg. v. R. B. Harris, New Delhi 1982. Wolz-Gottwald, Eckard: Meister Eckhart und die klassischen Upanishaden, Würzburg 1984. Wolz-Gottwald, Eckard: Triadik der Bewußtseinsentwicklung. Grundlinien transformativer Philosophie, in: Sein – Erkennen – Handeln. Interkulturelle, ontologische und ethisch Perspektiven, Festschrift für Heinrich Beck, hg. v. Erwin Schadel u. Uwe Voigt, Frankfurt a. M. 1994. Wolz-Gottwald, Eckard: Transformative Philosophie als Therapie. Zur Grenzerweiterung des Denkens in der indischen Heil- und Lebenskunde Ayurveda, in: Philosophie der Struktur – Fahrzeug der Zukunft?, Festschrift für Heinrich Rombach, hg. v. Georg Stenger u. Margarete Röhrig, Freiburg/ München 1995. Wolz-Gottwald, Eckard: Transformation der Phänomenologie. Zur Mystik bei Husserl und Heidegger, Wien 1999. Woodcock, George: The Greeks in India, London 1966. Wüstenfeld, F.: Die Übersetzungen Arabischer Werke in das Lateinische seit dem XI. Jahrhundert, Göttingen 1877. Yamaguchi, Ichirō: Ki als leibhafte Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München 1997. Yijing. Das Buch der Wandlungen, übers. v. Dennis Schilling, Frankfurt a. M. 2009. Yung-Tung, Tang: On »Ko-Yi« (= Geyi), the earliest Method by which Indian Buddhism and Chinese Thought were synthesized, in: Festschrift für Rad-

487 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .

Bibliographie hakrishnan, Comparative Studies in Philosophy, hg. v. W. R. Inge, 2. Aufl. 1968. Yusa, Michiko: Zen & Philosophy. An Intellectual Biography of Nishida Kitarō, Honolulu 2002. Zangwill, Israel: The Melting Pot. A Drama in Four Acts, New York 1919. Zeba, Romain Banikina: Das Erbe transatlantischer Sklaverei. Zu den notwendigen menschenrechtlichen und zivilisatorischen Folgen heute, Diss., Berlin 2011. Zeuske, Michael: Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin 2015. Zima, Peter V.: Komparatistik, Tübingen 1992. Zimmermann, Bernhard: Cicero und die Griechen, in: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, hg. v. G. Vogt-Spira, B. Rommel, Stuttgart 1999. Zürcher, Erik: The Buddhist Conquest of China. The Spread and Adaptation of Buddhism in Early Medieval China, Leiden 2007.

488 https://doi.org/10.5771/9783495813607 .