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German Pages 406 [415] Year 1999
Ulrich Johannes Schneider Philosophie und Universität Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert
Meiner · BoD
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Philosophie und Universität Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert
F ELI X M EINER V ERLAG H a m bu rg
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© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1999. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
INHALT
VoRwoRT . . . . • . . . • • • . • • . . • • . . • • . . . . . . . • . . . • . . . . . • • . . . . . .
I.
IX
UNIVERSITÄTSPHILOSOPHIE. ERSTER VERSUCH . . . . . . . . . . . . • • . . . •
1. Der blinde Fleck der Universitätsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu Ideologie und Genealogie der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Bedeutung des Ausdrucks>> Universitätsphilosophie des 19. Jahrhundertseigenen« Philosophieren. Mit dieser Konzession aber hat man das Problem der Universitätsphilosophie nur noch dringlicher gestellt, nicht gelöst. Es ist das Problem einer postulierten Durchsichtigkeit der philosophischen Praxis für die Philosophen selbst, denen das, was sie tun, nicht Spiegel dessen wird, was sie denken.
I. Universitätsphilosophie. Erster Versuch
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I. Der blinde Fleck der Universitätsphilosophie Wie Philosophen sich selber sehen, was sie über ihre intellektuelle Enrwicklung sagen, mag schon länger Gegenstand einer gewissen Neugier gewesen sein; erst im 20.Jahrhundert jedoch haben die professionellen Denker diesem Interesse für die Geheimnisse ihres Tuns ein wenig nachgegeben. Die Rede ist nicht von buchstarken Autobiographien und extensiver Selbstanalyse, sondern von kleinen Essays für ein allgemeines Publikum. Manchmal sind es Lexikoneinträge, für die der besprochene Autor selbst ein paar Absätze beisteuert, oder Interviews, bei denen die philosophische Rede im Medium der Frage gebrochen wird und dadurch zugänglicher erscheint. Insgesamt handelt es sich um eine kleine Literaturgattung, die an wenige große Namen gebunden ist und meist auf einen Anlaß (Jubiläum, Festschrift) oder auf die Einladung eines Herausgebers zurückzuführen ist. Ob Bescheidenheit oder die eitle Hoffnung, andere über sich schreiben zu sehen, für diese relative Zurückhaltung ausschlaggebend ist, bleibt unentscheidbar; Philosophen sind offenbar, anders als Wissenschafder und Schriftsteller, einer öffentlich vorgetragenen Selbstbeschreibung wenig zugeneigt. Aus den immerhin vorhandenen Texten unseres Jahrhunderts stechen zwei Sammlungen hervor, die Anspruch auf Repräsentativität erheben. Die erste Sammlung ist in den zwanziger Jahren unternommen worden und heißt Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, erschienen von 1921 bis 1927 im Meiner Verlag. Hier gibt es in sieben Bänden 48 Selbstporträts zu lesen. 1 Die zweite Sammlung wird von der UNESCO unterstützt und erscheint seit 1975 als mehrsprachige Reihe im Verlag Peter Lang unter dem deutschen Titel Philosophische Selbstbetrachtungen. In bislang vierzehn Bänden haben 108 international renommierte Philosophen über sich selbst Auskunft gegeben. Beim Durchblättern dieser im Abstand von mehr als fünfzig Jahren publizierten autobiographischen Versuche bestätigt sich ein Verdacht, den zu hegen allerdings keine große Phantasie erfordert: Philosophen sind Universitätsphilosophen. Erstaunlich immerhin, daß diese Tatsache in den Texten selbst kaum Berücksichtigung findet. Das mag damit zu tun haben, daß es einerseits selbstverständlich ist, Philosophen als Universitätslehrer arbeiten zu sehen, und daß dies andererseits der philosophischen Arbeit im engeren Sinn nicht zugerechnet wird. Dazu kommt, daß aufsatzlange »Selbstbetrachtungen>was Philosophen tun«. Man könne natürlich auf die tatsächlich existierenden Philosophen und ihre Tätigkeit verweisen, räumt Schaff ein, und so einen gewiß zutreffenden Befund formulieren. Er setzt hinzu: >>aber das hilft uns nicht zu erklären, was Philosophie ist« - das heißt: was Philosophie eigentlich ist oder sein soll. 2 Schaff geht es beim Thema >>was Philosophen tun>Natur philosophischer Sätze«, nicht um die Geschichte ihrer Produktions- oder Rezeptionsweisen.3 Auch die anderen Philosophen scheinen auf ein Reich eigener Sätze und Aussagen Anspruch zu erheben, ohne ihr Operieren darin und die Prozeduren seiner Durchsetzung interessant zu finden.4 Eine Art Schweigerecht im Hinblick auf die Arbeit im Hintergrund von Publizieren und Dozieren wird den Philosophen auch vom allgemeinen Publikum zugebilligt, das auf gipfelgleiche Spitzenthesen hofft und von den Mühen der Ebene nichts hören will. Nun wäre es naiv zu denken, das Geheimnis um das >>wahre Wesen« des Philosophierens ließe sich einfach lüften. Das geht so wenig wie bei Literatur, Wissenschaft und Kunst. Die Philosophie kann niemals restlos >>aufgeklärt« werden, weil das ihren Ausdruck selbst gefährden würde, der, insoweit er aus Kreativität lebt, irreduzibel ist. Was Menschen zu Philosophen macht, sind zu einem guten Teil Erfahrungen, die in einem emphatischen Sinn nicht geteilt werden können. Hier bleibt ein Geheimnis bestehen, dem ein Schweigen korrespondiert, A. Schaff, "what philosophers do«, in: Philosophes cririques d'eux-memes. Philosophers on rheir own work. Philosophische Selbstberrachrungen, hg. v. Andre Merier und Maja Svilar, Bd. 2, Frankfurt am Main 1976, S. 221: »poiming to persons who engage in philosophy professionally [... ] would certainly be correct, but [... ] it would not help us explain what philosophy is«. 3 Vgl. ebd., S. 229. 4 Vgl. den Titel einerneuen Sammlung Was die Welt im Innersten zusammenhält. 34 Wege zur Philosophie, hg. v. Christiane und Michael Hauskeller, Harnburg 1996. 2
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I. Universitätsphilosophie. Erster Versuch
das kein Verschweigen ist, sondern Anzeige der Unmöglichkeit einer befriedigenden Auskunft. Aber wie steht es um den eigentümlichen blinden Fleck der philosophischen >>SelbstbetrachtungenÜber die Universitätsphilosophie« [zuerst 1851), in: Sämtliche Werke, Bd.4, Stutegart und Frankfurt am Main 1984, S.171-242. 6
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I. Universirärsphilosophie. Erster Versuch
selbst nur unvollständig verstehen. Denn der umfassende Philosophiebegriff, der dem Anspruch der Philosophen entspricht, ist hier gewissermaßen eingeklammert zugunsten eines historisch-konkreten Philosophiebegriffs, der als Gegenstand des Wissenschaftshistorikers taugt. Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß eine Spannung zwischen beiden besteht. Wie der Philosoph, so bringt auch der Wissenschaftshistoriker eine Unterscheidung zwischen >>Philosophie>Universitätsphilosophie>gelehrten KlasseBildung, Individualität und kulturelle LegitimationHier ist an keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern es muß auf scholastische Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten würde, gedrungen werden (denn es ist Schulsprache): weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren dogmatischen Behauptungen sich erst selbst zu verstehen.wahrvernünftigwirklichgut>unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmeltDas Studium der Philosophie an den katholisch-theologischen Fakultätengriechische>neuere>seit Descartes>seit Baconneueste>jüngste>ab KantSinn für Institutionen. Mirteilungen aus Wilhelm Windelbands Heidelberger Zeit (1903-1915)«, in: Heidelberg im Schnittpunkt inrellekrueller Kreise. Zur Topographie der »geistigen Geselligkeit« eines »Welrdorfes«: 1850-1950, hg. v. Hubert Treiber und Karo! Sauerland, Opladen 1995, S. 41. Windelband argumentiert mit seinen Erfahrungen aus dem von ihm zuvor gegründeten Srraßburger Seminar.
Historisierung des philosophischen Unterrichts
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wort >>Quellenstudium« auf, um die neue Ausrichtung des Philosophieunterrichts zu charakterisieren.l28 Man hat, etwa von französischer Seite, im 19.Jahrhundert die deutschen Universitäten auch wegen ihrer Seminare bewundert: Sie repräsentierten den geistigen Reichtum der Institution und den modernen Schritt über die monologischen Formen des Unterrichts hinaus.l29 In den Geisteswissenschaften erwuchs aus Seminaren und Übungen in der Tat eine neue Unterrichtsform, welche das moderne Studium ebenso unverwechselbar prägt wie die Disputation den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Unterricht.l30 Der Bonner Philosophieprofessor Jürgen Bona Meyer nannte 1875 bereits die Seminare- neben den Vorlesungen- eine der >>beiden Seiten des UniversitätsunterrichtsÜber den Unterricht der Philosophie auf Universitäten«, in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 9 (1855), S.118: »So ist nach meinem Bedünken die beste Grundlage des philosophischen Unterrichts ein wohlgeordnetes Studium der Quellen selbst- eine Art Quellenstudium.« Etwas später heißt es (ebd., S.132): >>Was wir wollen, ist eigendich nicht mehr, als Ausdehnung des Prinzips, das in vielen sogenannten philosophischen Seminaren obwaltet, über den ganzen philosophischen Unterricht.« Seit 1852 Gymnasiallehrer in Hanau, kam Deuschle in gleicher Funktion 1855 nach Magdeburg und 1858 nach Berlin, wo er 1861 mit nur 33 Jahren starb. 129 Vgl. die keineswegs unkritischen Berichte von Edmond Dreyfus-Brisac, I;universite de Bonn et l'enseignement superieur en Allemagne, Paris 1879, S.157; Gabriel Seailles, ,,I;enseignement de Ia philosophie en Allemagne«, in: Revue international de l'enseignement 6 (1883), S. 972; Louis Leger, >>Les programmesdes universites allemandes«, in: Revue des cours !itteraires de Ia France et de l'etranger Annee 6, No. 44 (Oct. 1869), S. 735 f.; letzterer bewunderte die »richesse infinie des universites allemandes« und beklagte die >>infinie pauvrete de nos facultes«, vgl. S. 736. 130 Vgl. zu den Funktionen der Disputation Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäischen Universitäten [Anm.120], S.290ff. 131 J. B. Meyer, Deutsche Universitätsentwicklung. Vorzeit, Gegenwart und Zukunft, Berlin 1875 (Deutsche Zeit und Streitfragen, Heft 48), S. 84; vgl. Paulsen, >>Wesen und geschichtliche Entwicklung der Deutschen Universitäten« [Anm.20], S.19, 67 und 74ff. und Hanspeter Marti, Artikel >>Disputation«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 866-880. 132 Zu den absoluten Zahlen vgl. vom Verf., »Philosophy teaching in nineteenth-century Germany«, in: History ofUniversities XII, hg. v. L. Brockliss (1993), 326-337. 128
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li. Der philosophische Unterricht
explizit derart spezifizierten Übungen, Konversatorien etc. Es ist eine erstaunliche Regelmäßigkeit der Steigerung erkennbar, die bestimmte Höhepunkte erst dann erreicht, wenn bestimmte Tiefpunkte nicht mehr vorkommen. Selbst noch im gezackten Verlauf der Linien drückt sich ein Phänomen der Regelmäßigkeit aus, denn darin bildet sich die gängige Praxis ab, im Semesterrhythmus historische mit nichthistorischen Veranstaltungen abwechseln zu lassen. Erst auf einem noch höheren Niveau, das in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erreicht wird, weichen die Spitzen und Tiefen weniger von einem mitderen Wert ab. Wenn die Analyse der Vorlesungsverzeichnisse des 19.Jahrhunderts dazu führt, eine langsame, stetige Bewegung wie den Anstieg der philosophiehistorischen Veranstaltungen zu erkennen, dann heißt das, daß die über 13 000 in Philosophie angebotenen Veranstaltungen (im Zeitraum 1820/21 bis 1855/56) sich ohne Zwang in dieser Weise ordnen und gruppieren lassen. Wichtig zu sehen ist zugleich, daß die Historisierung des philosophischen Unterrichts an allen Universitäten stattfindet. An dem in Fig. 11 deutlichen Verhältnis der Universitäten mit einem starken Angebot in Philosophie und der Gesamtheit aller Universitäten kann man lediglich für die vierziger Jahre einen leichten Vorsprung der Auswahlgruppe erkennen. So kann man sagen, daß der historisch orientierte Unterricht sich im 19.Jahrhundert allgemein intensiviert. Das Recht, philosophiehistoris-che Vorlesungen und Veranstaltungen über einzelne Philosophen zusammenzunehmen und als ein einheitliches Phänomen zu beschreiben, legitimiert sich also vor allem methodisch: Es ist in beiden Fällen eine neue Umgangsweise wirksam, die dem Studenten die Philosophie als eine literarische Gestalt zu erkennen gibt. Wenn man im 19.Jahrhundert das Diktieren der Professoren kritisiert hat, dann vielfach unter Verweis auf die Nutzlosigkeit dieses Unterfangens bei gut verfügbaren gedruckten Darstellungen. Eduard von Hartmann ging so weit, die Mündlichkeit des akademischen Unterrichts überhaupt als einen Umweg zu denunzieren und propagierte gegen das >>Vorlesen« das private Lesen.133 Daß die dem Studenten zugängliche Literatur allerdings weder die philosophiehistorischen Vorlesungen überflüssig gemacht hat noch auch das >>kollektive Lesen« in Übungen und Seminaren entwerten konnte, beweist die spezifische Produktivität dieser Umgangsformen. Man kann sich vorstellen, daß die zusammenfassende Vorlesung und das textnahe Seminarlernen einander ergänzten, indem sie das philosophiehistorische Wissen in die Breite und in die Tiefe konstituierten. Beides erkannte auch von Hartmann als Bedingung der philosophischen Bildung an: >>Erst derjenige kann philosophisch gebildet heißen, der mindestens eine Periode der Geschichte der !33 Vgl. E. v. Harrmann, >>Zur Reform des Universitätsunrerrichtsphilosophisch stärksten« Universitäten Deutschlands (graue Linie)
Philosophie in fremder Darstellung und mindestens ein philosophisches System aus den Originalwerken gründlich bis in alle Falten kennengelernt und durchgedacht hat. Daß keiner hierbei stehenbleiben kann, der in der Philosophie ernstlich weiter kommen will, versteht sich von selbst; aber ein solcher ist dann genügend vorbereitet, um sich seinen Weg allein zu suchen.HistorisierungHermeneutisierungHistorisierung>Oe l'enseignemenc de Ia philosophie>Historisierung« wäre demnach in einer ersten Interpretation nicht als Paradigmenwechsel, sondern als Ausbildung eines philosophiewissenschaftlichen Paradigmas überhaupt zu bewerten. Die zweite Interpretation der zunehmenden »Historisierung« verweist auf die pädagogische Ökonomie. Philosophiegeschichte wird hier als Medium der Einführung in die Philosophie angesehen, was aus den Vorlesungsverzeichnissen auch herausgelesen werden kann. Philosophiegeschichte ist damit nicht zunächst ein Bereich der Forschung, sondern der Boden, auf dem der Unterricht gründet. Man sollte in der Tat das Phänomen des philosophischen Unterrichts genauer historisch beschreiben, um die Philosophie in ihrer für Lehrer und Studenten gegebenen Größe zu problematisieren. Die Praxis des Umgangs mit Philosophie impliziert Prozesse der Vermittlung und der Aneignung des philosophischen Wissens. Die Philosophie-Vermittlung, begriffen als Aktivität der Professoren, steht dabei der anderen Seite, das heißt der Aneignung der Philosophie durch die Studenten, nicht als einer Passivität gegenüber. Zur näheren Einsicht in das Zusammenwirken von Vermittlung und Aneignung des philosophischen Wissens müßten das ins Spiel gebrachte philosophische Wissen und diejenigen Quellentexte untersucht werden, welche das Unterrichtsgespräch in Gang setzen. Für das 19.Jahrhundert lägt sich nach der vorstehenden Untersuchung jedenfalls präzisieren, daß die Philosophie in Deutschland hauptsächlich auf zwei verschiedene Weisen zwischen Professoren und Studenten zur Sprache kommt: als Wissenschaft und als Literatur. Die Praxis des Philosophieunterrichts war nach solchen Vorverständnissen organisiert, ohne daß damit schon klar ist, welchen Anteil daran das pädagogische Bedürfnis hat. Im 19.Jahrhundert war in Deutschland der Philosophieunterricht selbst umstritten, besonders auf Schulen. Hege!, der Philosophie zuerst auf Schulen lehrte, bevor er an die Universität berufen wurde, zweifelte am Sinn des Philoso-
Zum Verhältnis von Kanon und Hisrorisierung
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phieunterrichts auf beiden Ebenen.I42 Die Rolle der Philosophiegeschichte innerhalb der Unterrichtskonzepte war zusätzlich umstritten, wobei in der ersten Jahrhunderthälfte die ablehnenden Stimmen überwogen. Herbart, der als einer der ersten systematischen Philosophen die Pädagogik aufwertete, forderte für das Gymnasium hauptsächlich Logik und Psychologie, weniger Geschichte der Philosophie. 143 In der zweiten Jahrhunderthälfte, parallel zur Zunahme der philosophiehistorischen Lehrveranstaltungen, finden sich mehr Befürworter einer »historischen Einführung« (siehe Seite 103 ff. in Abschnitt 3 die Erläuterungen zu Fig. 9.8). Es gibt sogar die These, »daß, wo keine Geschichte der Philosophie ist, auch keine rechte Philosophie sein kannphilosophisch kleineren< Universitäten, die im fraglichen Semester weniger als zehn Veranstaltungen anboten (Zahlen in Klammern). Die Lehrveranstaltungen 1925/26 und für 1926/27 sind nach dem Deutschen Universitätskalender gezählt, der nicht nach Disziplinen ordnet; die Zahlen sind daher nicht hundertprozentig genau. Psychologische und pädagogische Lehrveranstaltungen wurden weitgehend nicht mitgerechnet, d.h. vor allem dann nicht, wenn der Dozent offenbar keine einzige sonstige im engeren Sinn philosophische Veranstaltung anbietet. Die Tabelle zeigt im einzelnen, daß schon 1925-27 der Anteil der historischen Veranstaltungen nur ausnahmsweise weniger als die Hälfte aller Veranstaltungen ausmacht, und das nur bei kleineren Universitäten, wo etwa der Ausfall eines Professors -wie es etwa im WS 1925/26 bei Johannes Rehmke (Greifswald) und 1926/27 bei Max Scheler (Köln) der Fall ist- schon die Orientierung des Lehrplans stark verändern kann. In Marburg lehrt etwa Martin Heidegger 1925/26 >>Logik« (neben einem >>phänomenologischen Seminar«), wie übrigens zur gleichen Zeit in Freiburg Edmund Husserl (>>Grundprobleme der Logik«); weil es in Marburg aber insgesamt nur vier Veranstaltungen gibt (davon keine ausdrücklich historisch orientiert), in Freiburg dagegen 11 (sechs davon historisch orientiert) ergibt sich prozentual ein krasser Unterschied, der wiederum im Blick auf den Durchschnitt aller Universitäten insgesamt verschwindet. Im übrigen bestätigen die gesondert ermittelten Zahlen für die Universitäten mit dem größeren Angebot in Philosophie deutlich die allgemein ermittelte Tendenz.
Ill. DIE
PHILOSOPHIEHISTORISCHE VORLESUNG
UND DIE LEGENDE DER PHILOSOPHIE
Das Interesse für die Philosophiegeschichte ist zuerst ein historisches, bevor es ein philosophisches wird. Dieser Wandelläßt sich am Übergang vom 18. zum 19.Jahrhundert beobachten, obwohl er durch die Tatsache verdeckt wird, daß heute die Philosophiegeschichtsschreibung fast ausschließlich Philosophieprofessoren obliegt. Bei genauerer Analyse erweist sich die Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte als eine komplexe Tätigkeit der Rekapitulation, Repräsentation und Präsentation des historischen Wissens von der Philosophie, wobei die Form der Vorlesung nicht nur später als die Philosophiegeschichtsschreibung auftritt, sondern von dieser auch abhängig ist. Das philosophiehistorische Dozieren ist eine Technik der Modifikation des historischen Wissens, nicht seiner Produktion. Die literarischen Repräsentationsformen der Philosophiegeschichte sind dabei vorausgesetzt. Durch Verkürzungen in der Sache und durch gewisse rhetorische Strategien distanziert sich der Dozent in der mündlichen Vermitdung von den Formen historiographischer Wiedergabe. Mit anderen Worten: Philosophieprofessoren, die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie halten, tun etwas anderes als Historiker, die darüber schreiben. Vorlesungen zur Philosophiegeschichte sind im 19.Jahrhundert neu. Noch im 18.Jahrhundert gab es keinen, der Philosophie gelehrt und sich darum für die Geschichte des Faches interessiert hätte. Ein Grund dafür war, daß es das Fach »PhilosophieLesen«, das ein Vorlesen ist, wird die ganze Breite des philosophiehistorischen Wissens zum hintergründigen Bezugsfeld einer rhetorischen Darbietung. Die Vorlesung zur Philosophiegeschichte ist dabei weit mehr als ein Vehikel für schriftlich niedergelegte Informationen. Wäre sie darauf beschränkt, Kenntnisse zu verbreiten, könnte sie gar kein sinnvoller Teil des Philosophie-Unterrichts sein, da sie dann nicht, wie man es im 19. Jahrhundert ausdrückte, zur philosophischen »Bildung« beitrüge. 3 Philosophiehistorische Literatur und philosophiehistorische Vorlesungen sind daher als historische Repräsentationsformen zu unterscheiden. Das Mündliche ist dem Schriftlichen gegenüber parasitär, das Schriftliche im Mündlichen gar nicht vollständig vermittelbar. So wird in der Vorlesung das Feld der Philosophiegeschichte üblicherweise stark begrenzt, darüber hinaus wird Familienähnlichkeit des zur Sprache Gebrachten mit der modernen Philosophie verlangt. Die Interpretation der Philosophiegeschichte in der Vorlesung bedeutet Einführung von Ordnung und Hierarchie selbst da, wo der Historiker nur Reihenfolge und Auseinandersetzung erkennt, sie bedeutet Rarefizierung und Kanonisierung des philosophiehistorischen Wissens im Lichte eines ad hoc verständlichen diskursiven Zusammenhangs. Wenn Vorlesungen Umsetzungen, Benutzungen oder Interpretationen des historischen Wissens sind, so gilt also zugleich, daß dieses in jedem Fall komplexer ist als das, was ein Dozent daraus machen kann. Im Falle von Coleridge, Cousin und Hegel wird der deutsche Historiker Tennemann mit seiner zwölfVgl. unten Kap. V, Seite 317 ff. Vgl. Julius Deuschle, »Über den Unterricht in der Philosophie auf Universitären«, in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen, 9.Jg. (1855), 5.113-133, bes. S. 117. 2
3
Die Legende der Philosophie
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bändigen Philosophiegeschichte als Vorlage benutzt, arn Katheder sozusagen aufgeführt und zugleich damit interpretiert. Das erste Auftauchen dieser neuen Praxis des »historischen>Yerstandesphilosophie« deutlich transzendentalphilosophische Züge. 29 Coleridges Sprache ist allerdings nicht eindeutig genug, ein unmittelbares Vorbild auszumachen. Zudem ist der philosophiehistorische Bezugsrahmen wenig geeignet, scharfe Definitionen zu explizieren. Wenn Cole-
26 Handschriftliche Einzeichnung auf dem Vorsatzblatt von Tennemanns erstem Band. Die Formulierung beleuchtet überhaupt Coleridges geschärfte Aufmerksamkeit für den Unterschied von Marerial und Urteil: »A valuable work, and whar is ar present a desiderarum in lirerarure, mighr be composed by selecring rhe hisrorical and dogmaric facrs from Tennemann's work, ommitting his partial interprerarions secundum principii Kantianismi - or rarher abridging rhem as much as possible [... ] The work need not extend beyond rwo volumes and should have common chronological rables ar rhe beginning, marking only rhe names of rhe philosophers by !arge Capirals, and series of chronological hisrorical rables of each philosophy (i. e. school) ar rhe end. I can imagine a map in which rhe different grear genera of philosophy mighr be represented as rivers, while insread of rowns and ciries rhere would be rhe names of rhe professors of rhe different ages.« (Brirish Library: C. 43. c. 24, Bd. 1) 2 7 Vgl. Friedeich Heinrich Jacobi, »Vorrede>The difference between Aristotle and Plato isthat which will remain as long as we are men and there is any difference between man and man in point of opinion.Nun gibt es einen für alle Formen von Philosophie identischen Gegenstand, der allein ein Werk philosophisch macht: Ursprung und grundlegende Gesetze (oder Wirkursachen) entweder der Welt zusammen mit dem Menschen (das ist Naturphilosophie), oder die menschliche Natur allein und nur insofern sie menschlich ist (das ist Moralphilosophie). Wenn wir diesen ein drittes Problem beiordnen, die Frage nach dem Zureichen der menschlichen Vernunft hinsichdich der Lösung des einen oder anderen oder beiden der vorigen, dann werden wir einen vollständigen Begriff der Bedeutung haben, in welcher der Ausdruck Philosophie in dieser Ankündigung und in den dazugehörigen Vorlesungen gebraucht wird.«38 Die Frage danach, ob die menschliche Vernunft in der Lage sei, die Probleme der Welt und des Menschen gleichermaßen zu lösen, war im 18. Jahrhundert ein Motiv der Kam-Kritik Jacobis. Dieser hatte an Spinoza die Vorstellung eines selbstgenügsamen und alleserklärenden Rationalismus gewonnen, den er durch Kant gewissermaßen gesteigert sah.39 Was Jacobi der Vernunftphilosophie entziehen wollte, war die Religion, und ein ähnliches Motiv findet sich bei Coleridge, allerdings in anderem Kontext. Für Coleridge nimmt die Philosophiegeschichte durchgängig dramatische Züge an, sie wird zum Auftrittsort >>großer Männer« und damit zur Bühne von Kämpfen, die zuletzt mehr über intellektuelle Leidenschaften verraten als über Entwicklungsgesetze des philosophischen Denkens. Der Dozent modelliert das in vielen Figuren überlieferte Theater der Philosophiegeschichte in eine Erzählung von geistigen Helden um und begnügt sich gewissermaßen mit einer scharfen Beleuchtung einiger wesendieher Züge. So transformiert sich bei Coleridge
37 Vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblern in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkamischen Systeme [zuerst 1920], Darmstadt 1974, S.l-285. 38 Prospectus [Anrn. 13), S. 67 f.: »Now this object, which is one and the sarne in all forrns of Philosophy, and which alone constitutes a work philosophic, is: the origin and prirnary laws (or efficient causes) either of the world, man included (which is Natural Philosophy): or of Human Nature exclusively, and as far only as it is human (which is Moral Philosophy). If to these we subjoin, as a third problern, the question concerning the sufficency of the human reason to the solution of both or either of the two forrner, we shall have a full conception of the sense in which the terrn, Philosophy, is used in this Prospectus and the Lectures corresponding to it.>große Männer