Philosophie und Spiritualität: Wiederaufnahme einer ursprünglichen Beziehung 9783495998038, 9783495998021


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Table of contents :
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Einführung
Kapitel 1 Spiritualität
Kapitel 2 Die Philosophie
Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung
Kapitel 4 Kategoriale Analyse
Kapitel 5 Philosophie und Spiritualität: ein Blick auf die Tradition
Kapitel 6 Philosophische Religionskritik
Kapitel 7 Die spirituelle Armut eines Großteils der modernen Philosophie
Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole
Kapitel 9 Spiritualität und Praxis
Nachwort
Anhang Indianische Weisheit
Bibliographie
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Philosophie und Spiritualität: Wiederaufnahme einer ursprünglichen Beziehung
 9783495998038, 9783495998021

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Fermenta philosophica

Koo van der Wal

Philosophie und Spiritualität Wiederaufnahme einer ursprünglichen Beziehung

https://doi.org/10.5771/9783495998038 .

https://doi.org/10.5771/9783495998038 .

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Fermenta philosophica

Koo van der Wal

Philosophie und Spiritualität Wiederaufnahme einer ursprünglichen Beziehung

https://doi.org/10.5771/9783495998038 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99802-1 (Print) ISBN 978-3-495-99803-8 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998038 .

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Kapitel 1 Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Kapitel 2 Die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Kapitel 4 Kategoriale Analyse . . . . . . . . . . . . . .

69

Kapitel 5 Philosophie und Spiritualität: ein Blick auf die Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Kapitel 6 Philosophische Religionskritik

. . . . . . . .

107

Kapitel 7 Die spirituelle Armut eines Großteils der modernen Philosophie . . . . . . . . . . . . .

143

Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole . . . . .

163

Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

. . . . . . . . . . . .

183

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Anhang Indianische Weisheit . . . . . . . . . . . . . . .

211

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

5 https://doi.org/10.5771/9783495998038 .

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Einführung

Sozialer Wandel Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Wandlungen. Und tatsächlich finden in den verschiedensten Bereichen der modernen Gesellschaft radikale Veränderungen statt. Zum Beispiel in der Politik, wo die früher recht klaren Trennlinien zwischen den politischen Parteien sich immer mehr verwischen und die Wählerschaft in Scharen zu »schwimmen« beginnt. Das gilt auch für den sozialen Bereich, wo etablierte Unternehmen durch die Internet-Wirtschaft und das verän­ derte Kaufverhalten das Feld für Online-Shops räumen müssen, wo sich die Arbeitswelt mit der Flexibilisierung der Arbeit dramatisch verändert hat, wo Musik- und Kunststile kometenhaft emporschie­ ßen, aber ebenso schnell wieder verschwinden, usw. Der soziale Pro­ zess, kurzum, ist »fließend« geworden, um den Soziologen Zygmund Bauman1 zu zitieren. Es ist dann nicht verwunderlich, dass diese Entwicklung auch am geistigen Bereich (um den handelt es sich in diesem Buch) nicht vor­ beigegangen ist. Auch hier sind die traditionellen Rahmenbedingun­ gen einer mehr oder weniger starken Erosion unterworfen. Die Kir­ chen und andere weltanschauliche Organisationen verlieren immer mehr an Boden, und dort, wo sich konfessionelle Organisationen wie Schulen, Gewerkschaften und Rundfunkanstalten halten können, geht dies oft auf Kosten ihres Profils. Die traditionellen Geschichten und Rituale kommen offenbar bei großen Gruppen von Menschen nicht mehr an. Die römisch-katholische Messe zum Beispiel wurde schon oft als »Hokuspokus« (Christien Hemmerechts) und »Pup­ pentheater« (Gerard Reve) bezeichnet. Aber auch die Gottesdienste und Versammlungen anderer Konfessionen machen auf immer mehr Menschen einen nicht mehr wiederzuerkennenden Eindruck. Mit anderen Worten: Auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht 1

Z. Bauman, Liquid Modernity, Polity Press, Cambridge 2017 (2000).

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Einführung

haben sich viele von ihren traditionellen Wurzeln gelöst, ohne oft schon eine neue Verwurzelung gefunden zu haben. Nicht wenige lassen es dabei bewenden. Sie leben einfach ihr Leben des Alltags, der Arbeit und der angenehm verbrachten Freizeit, ohne das Bedürfnis nach tieferer Besinnung zu haben – vielleicht auch aus einer Art Angst heraus, dass dies das Leben schwieriger machen und sie mit unbequemen Fragen konfrontieren könnte. Es kann auch sein, dass irgendwo in einer Ecke noch ein Restbewusstsein von etwas »Höherem« zurückgeblieben ist, worauf zurückgegriffen wird, wenn der ruhige Tagesablauf durch eine schwere Krankheit, den Tod eines geliebten Menschen, einen Unfall, der das Leben auf den Kopf stellt, oder ein anderes einschneidendes Ereignis über den Haufen geworfen wird. Aber viele andere können und wollen sich nicht mit dem Vakuum begnügen, das dadurch entsteht, dass ihre früheren Überzeugungen und Lebensweisen für sie nicht mehr glaubwürdig sind. Sie suchen nach neuen Formen der Lebensorientierung oder des »Sinns«, denn ein Leben ohne Vision und Tiefe wäre ja sehr flach und kahl. So entstand die bunte Landschaft der spirituellen Strömungen: neben den verschiedenen christlichen Konfessionen (die zwar zahlenmäßig abnehmen, aber immer noch eine beachtliche Anhängerschaft haben und von denen einige, vor allem die Migrantenkirchen, ein Wachstum verzeichnen), die verschiedenen Ausprägungen des Islam (wie z.B. der Sufismus), des Judentums, des Buddhismus, des Hinduismus, weiter Strömungen wie die Anthroposophie, die Theosophie, der religiöse Humanismus, die Bahai, die transzendentale Meditation, usw., usw.

Es gibt »mehr« Ein in diesem Zusammenhang häufig verwendeter Terminus ist »Spiritualität«. Eine erste Umschreibung könnte sein – ich komme noch ausführlicher darauf zurück – eine Lebensweise, die von einer Vision geleitet wird, leben aus einer ideellen Inspiration, aus einem Lebenskonzept, das man sich innerlich angeeignet hat und nun in Form einer bestimmten Lebenshaltung praktiziert. Das kann auf sehr unterschiedliche Weise konkretisiert werden. Doch wird diese Suche, wie auch immer näher bestimmt, von dem Bewusstsein geleitet, dass es »mehr« gibt als die gewöhnliche Realität des alltäglichen Lebens.

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Einführung

Seit ihren Anfängen hat sich die Philosophie auf dieses »mehr« besonnen. Stets ist sie es nicht an der Oberfläche der Phänomene haftengeblieben, sondern hat sie die Dinge auf ihr tieferes Wesen erkundet. So hat sie versucht, die natürliche Realität auf ihre grundle­ genden Eigenschaften hin zu sondieren (was ist Materie, Leben, Licht »eigentlich« bzw. »im Grunde«?), aber ebensosehr getrachtet, das Wesen der moralischen und politischen Phänomene freizulegen (was ist Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie usw. »im Grunde«?). Dasselbe hat sie mit den Grundprinzipien unseres Wissens gemacht (was ist Wahrheit, Gültigkeit, Rationalität »eigentlich«?). Diese Frage, was die Phänomene ihrer Natur nach »nun eigentlich« sind, könnte man als die philosophische Frage schlechthin betrachten. Das bedeutet, dass die Philosophie die Dinge nicht einfach als gegeben hinnimmt, sondern nach ihrem tieferen Wesen und den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien fragt. Philosophische Reflexion stellt sich dort ein, wo die Phänomene ihr vertrautes Gesicht verloren haben. Also dort, wo eine gewisse Entfremdung von dem, was als »normal« galt, eingetreten ist, wo das Alte und Vertraute Risse und Abnutzungsstellen aufweist und man nun seine Einstellung zu den Dingen neu überdenken muss. Kurzum entsteht Philosophie aus der Erkenntnis, dass sich die Dinge nicht zu sein erwiesen, wie sie sich auf den ersten Blick zeigten – Platon und Aristoteles sprechen in diesem Zusammenhang von Verwunderung, aber oft hat es mehr mit Befremdung oder gar Bestürzung zu tun. Kurz gesagt entsteht Philosophie dort, wo man notgedrungen und oft mit Schmerz im Herzen sich von Bekanntem und Vertrautem verabschieden muß. Nicht umsonst lautet deshalb eine Aussage meines Lehrers Helmuth Plessner, dass Schmerz das Auge des Geistes ist. Ebenso wenig ist es zufällig, dass die Philosophie gerade in Zeiten des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und der Verwirrung blüht, wenn Menschen nach neuen Formen der Lebensorientierung Ausschau halten. Es ist daher keineswegs verwunderlich, dass unter diesen Umständen, da die alten Geschichten ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, viele sich der Philosophie zuwenden. Schließlich entspringt ihre Suche demselben Anlass wie die Philosophie selbst, vielleicht sollte man sogar sagen, dass die Suche selbst philosophischer Natur ist. Sie kreist um dieselben Fragen, um die es in der Philosophie letzt­ lich immer ging, »ewige Fragen« wie die nach dem Warum unseres Lebens, nach unserer wirklichen Identität, nach dem Ursprung des Bösen in der Welt und nicht zuletzt nach dem Warum unserer Anwe­

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Einführung

senheit hier, um die Frage also nach dem Sinn und der Bestimmung unseres Daseins oder der Wirklichkeit insgesamt2, Fragen, auf die wir den Schlüssel zu einer Antwort verloren haben. Immer wieder waren diese Fragen der Ausgangspunkt menschlichen Nachdenkens. Ein schönes Beispiel liefert ein mittelalterlicher Spruch, in dem eine Reihe dieser Fragen beisammen steht: Ich komme, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb', ich weiß nicht wann, Ich geh', ich weiß nicht wohin, Mich wundert's, dass ich fröhlich bin.3

Zwischen Philosophie und Spiritualität besteht so gesehen eine deut­ liche Affinität (ohne sich übrigens zu überschneiden), da beide auf die Vertiefung und Erhöhung der menschlichen Existenz abzielen. Die Philosophie bringt das schon in ihrem Namen, Liebe zur oder Verlangen nach Weisheit, zum Ausdruck. Man würde also erwarten, dass sich die Philosophie ausgiebig mit dem Phänomen der Spiritua­ lität befassen würde. Es stellt sich jedoch heraus, dass das keineswegs der Fall ist, zumindest nicht für den Mainstream der modernen und zeitgenössischen Philosophie. Dafür gilt anscheinend das Gleiche, was über die Politik (und die Literatur und die Kunst) gesagt wird, nämlich dass jedes Zeitalter die Politik bekommt, die es »verdient«, d.h. die zu ihm passt. Dementsprechend gilt auch für die Philosophie, dass sie Ausdruck des Zeitgeistes ist. Im Falle der modernen Philoso­ phie ist das also das geistige Klima der Moderne. Die Grundlagen dafür wurden im Spätmittelalter mit dem Aufstieg der Städte und ihrer Kultur gelegt. Diese Entwicklung, ein soziokultureller Erdrutsch, setzt sich in der frühen Neuzeit, ab dem 17. Jahrhundert, vollends durch. Das Ruder in der Gesellschaft wird dann von dem so genannten dritten Stand, d.h. dem (Groß-)Bürgertum mit seiner an der Realität des Alltagslebens (Industrie und Handel) orientierten Mentalität,

2 So schreibt der polnisch-englische Philosoph Kolakowski, dass »(v)on allen traditio­ nellen Themen der Philosophie (…) dieses Thema am traditionellsten (ist): die Frage nach dem ›Sinn des Lebens‹.« Der Mensch ohne Alternative, Piper, München 1967, 169. 3 Zitiert in K. Jaspers, Chiffren der Transzendenz, Piper, München 1970, 12.

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Einführung

die Charles Taylor treffend als »die Affirmation des gewöhnlichen Lebens«4 charakterisiert hat, übernommen.

Die Philosophie des gewöhnlichen Lebens Nun, die Philosophie der Moderne ist die Philosophie des gewöhn­ lichen Lebens, der dort vorherrschenden Denk- und Erlebnisweise. Keine hochfliegenden Spekulationen mehr, sondern sich halten an die Fakten der alltäglichen Erfahrung. Deshalb hat sich die moderne Philosophie von der Metaphysik verabschiedet, vom Nachdenken über dasjenige, was jenseits der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung liegt (wie Gott oder die Seele). Und orientiert sie sich stark an der modernen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, als der methodischen Erforschung der sinnlich erfassbaren Wirklichkeit. In diesem Sinne ist sie, wie gesagt, ein Exponent des Modernisierungs­ prozesses und des dadurch entstandenen geistigen Klimas; ich werde darauf noch näher eingehen. Blickfang dieser Entwicklung ist die Aufklärung mit ihrer Über­ zeugung (ihrem ›Glauben‹), dass mit Hilfe der Vernunft die gesamte Wirklichkeit erfasst und transparent gemacht werden kann. Auf dieser Grundlage würde dann die menschliche Existenz, sowohl individuell als auch kollektiv, in idealer Weise organisiert werden. Teil dieses Unternehmens war eine groß angelegte Säuberung von allem Scheinwissen und allen Vorurteilen, die die Menschheit bis dahin gefangen gehalten hatten. Die moderne Philosophie ist daher durch ein umfassendes Demontage- und Dekonstruktionsdenken gekennzeichnet. So erhielt Kant, um nur dieses Beispiel zu nennen, den Ehrennamen (?) »Allzermalmer«. Dieser Demontageprozess ist jedoch nach einer immanenten Logik immer weiter gegangen. Ihr sind nicht nur die Überzeugungen und Praktiken, die ursprünglich die Zielscheibe der Kritik waren, zum Opfer gefallen, wie die tradi­ tionellen religiösen und politischen Vorstellungen und die damit verbundenen institutionellen Strukturen, z. B. das Königtum von Gottes Gnaden. Doch allmählich unterlagen alle so genannten »gro­ ßen Erzählungen« einer eindringlichen Kritik, selbst die Kronjuwelen Ch. Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge Uni­ versity Press, Cambridge 1989, Teil III, 211ff. Siehe auch Die Entdeckung des täglichen Lebens, von Bosch bis Bruegel, Ausstellungsbuch Museum Boijmans Rotterdam 2015. 4

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Einführung

der Aufklärung, die Willensfreiheit, die moralische Autonomie, die rationale Begründung der Werte und schließlich sogar die Unabhän­ gigkeit und Autonomie der Vernunft selbst. Der Schwamm der Kritik hat alles berührt, woran Menschen geglaubt haben. Nacheinander wurden Gott, der Mensch, die Kunst, die Politik, die Utopie usw. für tot erklärt, und sind wir mit einer geistigen und sozialen Mondlandschaft zurückgeblieben, in der es schwierig ist zu leben und zu atmen.

Die zwei Gesichter der Philosophie: Vision und Kritik Indem sich die moderne Philosophie auf diese Weise vorwiegend mit Kritik identifizierte, ursprünglich in der Meinung, die in eine positive Richtung weisenden Ideen würden dann »von selbst« erschei­ nen, und später sogar das nicht mehr, hat sie sich weit von ihren Ursprüngen entfernt. Von ihrer Ausrichtung auf die Weisheit ist wenig übrig geblieben, obwohl dies immer ihr Anliegen war. Das war, wie gesagt, das Unterfangen, in einer Zeit, in der die alten Gewissheiten untergegangen waren, eine neue glaubwürdige Sicht der Dinge (des Menschen, der Gesellschaft und der Wirklichkeit insgesamt) zu entwickeln, aus der heraus wieder gelebt werden könnte, sowohl individuell als gemeinschaftlich. Philosophie, so ver­ standen, war eine heikle Kombination aus einem visionären und einem kritischen Moment – man könnte hier das Bild einer Ellipse mit zwei Brennpunkten verwenden, die zusammen die ganze Figur bestimmen. Ob Platon, Aristoteles, die Stoa, die Neuplatoniker usw., sie entwarfen alle ein Bild der Wirklichkeit, in dem sich der Mensch wieder positionieren und aus dem er Richtlinien für die Organisation seiner Existenz ableiten konnte. Gleichzeitig ist Philosophie der Wille, nicht aus Illusionen zu leben, egal wie erträglich und bequem sie unser Dasein machen mögen. Sie ist also die Bereitschaft zu berücksichtigen, dass die Dinge anders sind, als wir denken und vor allem als wir wollen. Es ist die Bereitschaft, selbst die tief verwurzelten Überzeugungen aufs Eis zu legen, um sie auf den Prüfstand zu stellen. Das philosophische Wissen, das die entscheidende Komponente neben dem visionären ist, wird daher ständig von dem Bewusstsein der grundsätzlichen Fragwürdigkeit unserer Ansichten begleitet. Ein wiederkehrendes Thema in der Geschichte der Philosophie ist daher die Verbindung

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Einführung

von Wissen und Nichtwissen, die Bezeichnung des philosophischen Wissens als wissendes Nichtwissen, als »docta ignorantia«. Beide Momente, das Wissen und das Nicht-Wissen, oder der visionäre und der kritische Moment, sind wesentliche Bestandteile der Philosophie (wiederum gemäß ihrer ursprünglichen Intention). Wenn das erste dieser Momente im Mainstream der modernen Philosophie außer Sicht geraten ist und sie sich überwiegend auf ihre kritische Komponente zurückgezogen hat, stellt sie sich bei der in weiteren Kreisen lebenden Suche nach Orientierung ins Abseits und überlässt das Feld dem freien Angebot auf dem Markt der Sinngebung und Vertiefung. Sie läuft dann Gefahr, aufs neue den Anschluss zu verpassen, wie es bei der Natur- und Umweltproblematik der Fall war. Obwohl immer deutlicher wird, dass in der Beziehung zwischen Mensch und Natur etwas grundlegend falsch läuft, konzentrieren sich die meisten philosophischen Überlegungen weiterhin auf den Menschen und seine Angelegenheiten. Das Problem ist jedoch, dass sich der Mensch in der modernen Zeit außerhalb und über die Natur gestellt hat und sich einen einzigartigen Eigenwert angemaßt hat. Die moderne Philosophie mit ihrer obsessiven Fokussierung auf den Menschen5 ist davon der Ausdruck, mit als Pendant, dass die Natur weitgehend zu einer Restkategorie oder einem non-issue verschrum­ pelt ist. Die Dringlichkeit des Problems sollte hingegen Anlass sein, eine neue philosophische Sichtweise der Natur zu entwickeln, in der dem Menschen wieder sein Platz zugewiesen bekommt, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.6 Solange die Philosophie jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in ihrer Naturverges­ senheit verharrt, wird sie kaum einen sinnvollen Beitrag zur Debatte über ein anderes, wirklich nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur leisten können. Eine verpasste Gelegenheit also. Damit der in vielen Kreisen verbreiteten Suche nach geistiger Vertiefung nicht Ähnliches widerfährt, nimmt dieses Buch den Feh­ dehandschuh auf. Der Ansatzpunkt ist also, was aus der Sicht der Philosophie (interpretiert als kritisches Weisheitsstreben) über Spiri­ tualität gesagt werden kann. Und zwar nicht nur aus der Sicht eines Außenstehenden, sondern auch aus der eines Teilnehmers. Wobei die Denken Sie an Alexander Popes berühmte Aussage: »The proper study of Mankind is Man.« An Essay on Man, in: Poetical Works (ed. H.F. Carry), Routledge, London 1870, S. 225. Nur der Mensch ist also wirklich wert, studiert zu werden. 6 Siehe dazu meine Studie Die Wirklichkeit aus neuer Sicht. Für eine andere Naturphi­ losophie, Springer, Wiesbaden 2017. 5

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Einführung

Frage also ist, ob die Philosophie selbst eine spirituelle Dimension haben kann und wie das überhaupt gedacht werden kann. Dabei sollte, wie deutlich ist, ohne das kritische Moment der Philosophie zu vernachlässigen, vor allem auch ihr visionäres Moment angesprochen und angestoßen werden. Die These, die ich in diesem Buch begründen möchte, ist, dass es gegenwärtig wieder allen Grund gibt, sich mit dem Phänomen der Spi­ ritualität aus der Sicht der Philosophie positiv zu beschäftigen. Denn ich glaube, dass wir dabei sind, die Scheu in Bezug auf Spiritualität und Religiosität, die Philosophen lange befangen gehalten hat, einigerma­ ßen zu überwinden – vielleicht nicht mehr als einigermaßen, aber immerhin. Eine Reihe von Entwicklungen in der neueren Philosophie, zu denen später mehr zu sagen sein wird, führen dazu, dass lange gehaltene Blockaden für eine positivere Einstellung zu Spiritualität und Sinn ihre Plausibilität verlieren. Mit anderen Worten: Es gibt Raum für eine entspanntere Haltung gegenüber diesen Phänomenen. Im Sinne der kritischen Dimension der Philosophie bedeutet dies jedoch keineswegs, dass nun »anything goes«. Allerart Formen des­ sen, was unter der Flagge von Spiritualität und Religiosität segelt, werden auch bei einer wohlwollenderen Haltung in dieser Hinsicht der Kritik nicht standhalten können. Die Prüfung dieser Grenzen ist Teil der nachfolgenden Überlegungen. Die Überlegungen in diesem Buch beruhen auf zwei Hauptfragen: 1) 2)

Wie betrachtet die Philosophie das spirituelle Phänomen, welche Interpretation gibt sie ihm? Besitzt die Philosophie selbst eine spirituelle Dimension?

Diese beiden Fragen bringen eine unterschiedliche Sichtweise auf das Thema, um das es hier geht, zum Ausdruck, d.h. auf das geis­ tige Phänomen. Bei der ersten Frage nimmt die Philosophie eine Außenseiterposition ein. Sie nimmt das zu diskutierende Phänomen als gegeben hin und versucht, es von der Zuschauersloge heraus zu interpretieren. Das Gleiche gilt für eine Vielzahl von Phänomenen, oder besser gesagt, für »alle Bereiche des Seins«. So versucht sie zum Beispiel herauszufinden, worum es in der Mathematik geht: was ihr spezifischer Gegenstand ist und was die entsprechende Methode, ihn zu entschlüsseln. Bei diesem Unternehmen übt sie also nicht aktiv das mathematische Handwerk aus, betritt sie nicht das Spielfeld, sondern versucht sie zu herauszufinden, worum es in der Mathematik ihrer Natur nach geht. Bei dieser Tätigkeit, die natürlich eine gründliche

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Einführung

Kenntnis des betreffenden Bereichs voraussetzt, nimmt die Philoso­ phie also einen Meta-Standpunkt oder eine Zuschauerposition ein, engagiert sie sich nicht inhaltlich für die Sache. Das Gleiche gilt für die Beschäftigung mit Naturwissenschaft, Biologie, Recht, Politik, Kunst, Moral, Religion und so weiter. Stets handelt es sich um den Versuch, herauszufinden, was die Natur des betreffenden Wirklichkeitsbereichs ist und wie man sie am besten ausdrücken kann. Im Fall dieses Buches ist das also das spirituelle Phä­ nomen. Bei der zweiten Frage hingegen betritt die Philosophie das Spiel­ feld und nimmt auch aktiv an dem Spiel teil, das dort gespielt wird, nimmt sie also die Partizipantenhaltung ein. Daraus ergibt sich ein anderer Begriff von Philosophie, als wenn man sie nur als eine distanzierte, kühl logische Tätigkeit betrachtet, wie es oft der Fall war und in breiteren Kreisen immer noch ist. Ich denke, dass die Philosophie, indem sie sich auf die Idee der Philosophie als Weisheits­ streben und auf die philosophische Tradition beruft, neben diesem distanzierten, objektivierenden Moment nicht weniger ein Moment des Engagements besitzt, des aktiven Sich-Identifizierens mit einer Sache und des Engagements für sie in Lebensstil und Denken. Ich denke, einen Philosophen ernst zu nehmen, bedeutet, sein Leben und sein Denken als Einheit zu betrachten. Philosophie ist also nicht etwas, das man zu bestimmten Tageszeiten praktiziert und dann die Tür hinter sich zuzieht und sich anderen Dingen zuwendet. Mit anderen Worten: Philosophie ist eine Lebensform und durchdringt die gesamte Existenz wie Hefe. Es ist dieser »existenzielle« Moment, den Jaspers im Sinn hatte, als er eine philosophische Überzeugung als »philosophischen Glauben«7 bezeichnete, etwas, für das man sich einsetzt, möglicherweise mit seinem Leben, wie Giordano Bruno tat, der für seine Überzeugungen auf dem Scheiterhaufen landete, im Gegensatz zu Galilei, der bereit war, seine Ansichten zu widerrufen. Denn für wissenschaftliche Ideen stirbt man nicht. Das ändert, um es noch einmal zu sagen, nichts an der Tatsache, dass Philosophie ein im doppelten Sinne spannendes Geschäft ist: fesselnd und zugleich voller Spannung zwischen den beiden Komponenten kritischer Distanz und überzeugten Engagements – weshalb ich die Philosophie vorhin als eine Ellipse mit den beiden Brennpunkten eines kritischen und eines visionären Moments charakterisiert habe. Diese beiden Momente 7

Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, Piper, München 1954.

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Einführung

spiegeln sich in den beiden Hauptfragen wider, auf die sich die Überlegungen in diesem Buch stützen.

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Kapitel 1 Spiritualität

Wenn dieses Buch das Phänomen der Spiritualität aus philosophi­ scher Sicht betrachten soll, ist es der Klarheit halber notwendig, die beiden Begriffe »Spiritualität« und »Philosophie« näher zu definieren. Ich habe bereits eine erste Umschreibung der Spiritualität gegeben, nämlich, dass es sich um eine Lebensweise handelt, die von einer Vision geleitet wird und somit dem Dasein einen tieferen Wert ver­ leiht. Oder dass es um ein Lebenskonzept geht, das man verinnerlicht hat und nun in Form einer bestimmten Lebenseinstellung praktiziert. Der Begriff »Spiritualität« leitet sich vom lateinischen »spiritus« her, Lebensatem, oder wie das Wort oft übersetzt wird: Geist. Entspre­ chende Termini sind das griechische »pneuma« und das hebräische »ruach«. Alle drei Wörter verweisen auf eine Kraft, die zum Leben weckt, die Kreativität und Dynamik zum Ausdruck bringt. So fängt die Bibel mit den Worten an: »Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wild und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist [ruach] schwebte über dem Wasser.« (Gen. 1, 1). Die Urflut ist hier das Symbol für eine ursprüngliche Ordnungslosigkeit, Leere und Kahlheit, so wie in der Bibel das Meer überhaupt einen Zustand von Chaos und Bedrohung symbolisiert, von dem man sich am besten fernhalten sollte.8 Die Juden des Alten Testaments hüteten sich daher, das Meer zu befahren. Einmal macht jemand das dennoch, nämlich der Prophet Jona, aber das geht denn auch sofort schief aus. Nun, nach der biblischen Schöpfungsgeschichte bringt der göttliche

Deshalb heißt es im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, von der neuen Erde, aus der die Zerrissenheit unserer Wirklichkeit beseitigt ist, dass das Meer nicht mehr da sein wird (Offb. 21,1). 8

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Kapitel 1 Spiritualität

Geist Ordnung und Leben zustande, indem er über der Flut schwebt, oder vielleicht noch besser, indem er auf ihr brütet.

Ein entzaubertes Bild der Realität In dieser Linie bezeichnet Spiritualität eine Aktivität, die darauf abzielt, »spirit«, »Geist« in eine Realität zu bringen, die als kahl und flach erlebt wird. Ein Ausdruck, der sich in diesem Zusammenhang eingebürgert hat, um den Zustand von Dürftigkeit und Leere zu bezeichnen, den der Modernisierungsprozess mit sich gebracht hat, ist der der »Entzauberung der Welt«. Der Begriff wurde wohl nicht von dem großen Soziologen Max Weber (1864–1920) geprägt, aber er hat ihn salonfähig gemacht.9 Er bezeichnet damit einen unum­ kehrbaren Prozess des Verlusts des geheimnisvollen Charakters der Wirklichkeit, einen Zustand, in dem es keine Geheimnisse mehr gibt und alles berechenbar und konstruierbar geworden ist, zumindest im Prinzip. Es ist auch der Prozess des unwiederbringlichen Niedergangs der religiösen Vorstellungs- und Lebensweise, mit anderen Worten der Säkularisierung. Während aus religiöser Sicht die Wirklichkeit ein beseelter Zusammenhang ist, in dem alles von höheren Mäch­ ten (zumindest letztendlich10) sinnvoll geordnet worden ist, ist der Modernisierungsprozess durch eine unaufhaltsame Versachlichung und Rationalisierung, durch einen irreparablen Verlust an Sinn und Orientierung am »Höheren« und Idealen gekennzeichnet. Unser Schicksal ist es, Weber zufolge, in einer prophetenlosen Zeit zu leben. Dadurch droht das Leben kahl, flach und glanzlos zu werden, wie es auch in einem Großteil der modernen Literatur zum Aus­ druck kommt.

Siehe dazu Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Suhrkamp, Berlin 2017, 208ff. 10 So schreibt der lutherische Religionssoziologe Peter Berger: »...christian faith… means to express the conviction that the universe ultimately [!] makes sense in the light of Sinai and Calvary.« (The Heretical Imperativ. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, Anchor Books, New York 1980, S. 165). Und weil die Wirklich­ keit aus religiöser Sicht letztlich ein sinnvolles und harmonisches Ganzes ist, sind alle »höheren« Religionen auch Heilsreligionen: Selbst wenn die aktuelle Situation von Gebrochenheit und Leid geprägt ist, kann sie ihrem tieferen Wesen nach »heil« gemacht werden. 9

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Kapitel 1 Spiritualität

Um nur zwei Beispiele zu nennen: In seinem Gedicht ›Die Götter Griechenlands'11 evoziert Schiller das Bild einer Welt, in der noch die (griechischen) Götter herrschten. Es war eine »schöne Welt«, voller Freude und Anmut, in der alles von ihrer Gegenwart erfüllt war. Quellen, Bäche, Bäume, Hügel, Schilf, Sonne, Wind und so weiter, alles war eine Wohnstätte für Götter, Najaden, Nymphen und andere göttliche Gestalten. Alles zeugte von ihrer Anwesenheit: Alles wies den eingeweihten Blicken, Alles eines Gottes Spur.

Aber, so geht das Gedicht weiter: Wo jetzt, wie unsere Weisen [offensichtlich ironisch gemeint] sagen, Seelenlos [!] ein Feuerball [die Sonne] sich dreht, Lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät... Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick; Ach, von jenem lebenswarmen Bilde Blieb der Schatten nur zurück.

In dieser kahl gewordenen Natur vollzieht sich alles mechanisch, sklavisch dem Gesetz der Schwerkraft gehorchend: Fühllos selbst für ihres Künstlers [des Schöpfers] Ehre, Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr, Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere – Die entgötterte [!] Natur.

Aus dieser Welt, unserer modernen entzauberten Welt also, haben sich die Götter zurückgezogen, sie sind »heimgekehrt« und haben, sehr zum Bedauern Schillers, »alles Schöne, alles Hohe« mit fortge­ nommen. »Und uns blieb«, so schließt er, »nur das entseelte Wort.« Damit spielt Schiller auf das in der modernen Literatur oft aufgewor­ fene Problem des Dichterdaseins in einer dürftigen Zeit an. Um dem noch ein weiteres Beispiel aus den vielen möglichen hinzuzufügen: In seinem Roman Der veruntreute Himmel skizziert der deutsche expressionistische Schriftsteller Franz Werfel das Leben der alten Dienerin Teta, die der wohlhabenden Familie Argan auf ihrem Anwesen dient. Sie ist eine schlichte Seele, die jeden Tag treu die Frühmesse besucht, bevor sie ihren Dienst antritt, und für die 11

Schillers Werke, Nationalausgabe, Böhlaus, Weimar, Bd. II,1 (1983), S. 363ff.

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Kapitel 1 Spiritualität

ihr Glaube ihr großer Anker ist. Die Familie, aufgeklärt wie sie sind, hat für ihre Lebenshaltung und -überzeugung wenig Verständnis, belächelt es ein wenig, lässt sie aber gewähren, solange sie ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt. Im Übrigen führen sie ein angenehmes, sorgenfreies Leben. Bis plötzlich einer der jungen Männer der Familie verunglückt und stirbt. Dann sind sie völlig durcheinander und wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Dieser »sinnlose Tod« passt nicht in ihr Bild. »Weißt du«, sagt einer von ihnen, »warum wir modernen Menschen so gottverdammt sind?...Mit dem Leben kommen wir alle glänzend aus, ekelhaft glänzend...Mit dem Gegenteil dort oben im Zimmer aber kommen wir nicht aus...keiner von uns, keiner.« Die Einzige, die nicht den Kopf verliert und ihre Vorgesetzten jetzt unterstützen muss, ist Teta. In einem Epilog des Romans sagt einer der Gesprächspartner (offenbar Werfels Sprachrohr): »Der veruntreute Himmel ist der große Fehlbetrag unserer Zeit. Seinetwegen kann die Rechnung nicht in Ordnung kommen, weder in der Politik noch auch in der Wirtschaft, denn alles Menschliche entspringt derselben Quelle. Eine konsequent gottlose Welt ist wie ein Bild ohne Perspektive. Ein Bild ohne Perspektive ist die Flachheit an sich. Ohne sie ist alles sinnlos. (...) Einmal, wenn uns Technik, Sport und Realgesinnung zum Halse heraushängen werden, dann wird die Sehnsucht nach diesem Feuer, die Sehnsucht nach einem neuen metaphysischen Bewusstsein die fortgeschrittenste Empfindung einer verwegenen Avantgarde sein.«

Unheilbar spirituell? Spiritualität ist dann die Weigerung, sich mit dieser Situation abzufin­ den, die Weigerung, die Entzauberung, Prosaisierung und Pragmati­ sierung des Daseins als unausweichliches Schicksal zu akzeptieren. Dies könnte natürlich eine Form der Selbsttäuschung sein, ein Leben in selbst geschaffenen Illusionen. Wenn sich die Philosophie mit dem Phänomen der Spiritualität befasst, muss sie sich daher mit dessen Berechtigung auseinandersetzen – das wird uns im Folgenden ausgiebig beschäftigen. Aber, um es gleich vorwegzunehmen, es spricht nicht für die Idee der Entzauberung, dass die Säkularisierungs­ these, also die These, dass die religiöse Denk- und Lebensweise zum

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Aussterben verurteilt ist, von den meisten Soziologen12 inzwischen aufgegeben wurde, während sie noch vor nicht allzu langer Zeit von der Mehrheit von ihnen vertreten wurde. Offenbar sind wir Menschen unheilbar religiös oder spirituell. Wenn das Zentrale Planungsbüro der Niederlande in einer Studie feststellt, dass mehr als die Hälfte der niederländischen Bevölkerung nicht mehr Mitglied einer Kirche oder einer anderen religiösen Organisation ist, und daraus folgert, dass also mehr als die Hälfte der Niederländer nicht mehr gläubig ist, dann ist das eine sehr problematische Schlussfolgerung. Die große Nachfrage nach Spiritualität, Sinn usw. weist in eine andere Richtung. Nämlich, dass zwar die traditionellen Formen, in denen die Sehnsucht nach Lebensorientierung, Vertiefung und »Erhöhung« des Daseins Gestalt annahm, große Gruppen von Menschen nicht mehr ansprechen. Aber dass dieses Verlangen oder diese »Suche« danach keineswegs erloschen ist. Dies ist auch der Tenor des Bonmots des römisch-katholischen Dichters und Essayisten Anton van Duin­ kerken (Pseudonym von Willem van Asselbergs), dass es früher mehr Gemeindemitglieder als Gläubige gab, heute aber mehr Gläubige als Gemeindemitglieder. Diese Tatsache bedeutet wiederum, dass für die Gläubigen, die nicht mehr an die Kirche gebunden sind (und nicht nur für sie), im Anschluss an neue Lebens- und Erfahrungsweisen neue Formen des spirituellen Ausdrucks und des Lebens (u.a. Rituale) gesucht werden müssen. Ich habe gerade die Begriffe »Vertiefung« und »Erhöhung« der Existenz fallen gelassen. Darum handelte es sich stets bei Spiritualität. Der Terminus stammt ursprünglich aus der christlichen Tradition, ins­ besondere in seiner römisch- katholischen Variante.13 So ist von einer benediktinischen, franziskanischen, ignatianischen usw. Spiritualität die Rede, immer als Hinweis auf eine bestimmte religiöse Lebensauf­ fassung, die sich in einer bestimmten Lebensweise, in bestimmten Praktiken, einem bestimmten Tagesablauf mit Momenten der Kon­ templation und des Feierns, mit Formen der Meditation, »Exerzitien« (Übungen) und nicht zuletzt in einer allgemeinen Lebenseinstellung 12 Siehe z.B. Peter Berger, The Many Altars of Modernity, De Gruyter 2014, S. IX, 18. Und Hans Joas, a.a.O., 22, 359vv und passim. 13 Zum Beispiel ist das Lemma ›Spiritualität‹ in Historisches Wörterbuch der Philo­ sophie (hrg. Von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 9, WBG, Darmstadt 1995, Spalte 1415 ff.) ganz der christlichen, insbesondere römisch-katholischen Spiritualität gewidmet.

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niederschlägt. Im Protestantismus wird in diesem Zusammenhang eher der Begriff »Frömmigkeit« verwendet.14 Aber dann geht es genauso um den »existenziellen« Aspekt der Religion, um die gelebte, innerlich angeeignete Vision, im Gegensatz zu einer bloß äußerlich erlernten Lehre von religiösen Wahrheiten, die auf einer zerebralen Ebene hängen bleiben. Bekanntlich hat insbesondere der Pietismus gegenüber einer protestantischen Orthodoxie mit ihrem intellektua­ listischen Religionsverständnis den frommen Aspekt der Religion, d.h. die fromme Praxis, betont. Es ist jedoch nicht nur diese intellek­ tualistisch-dogmatische Auffassung von Religion, gegen die sich diese Bewegungen wenden, sei es unter dem Schlagwort »Spiritualität« oder »Frömmigkeit«, sondern auch gegen eine Lebenseinstellung ohne Konzept und Inspiration, gegen die gedankenlose Hingabe an den Lauf der Dinge und das »einfache« Nehmen des Lebens, wie es kommt, weil es sonst vielleicht schwierig werden könnte und ich, um Karl Jaspers zu zitieren, mein Leben ändern und an mir arbeiten müsste. »Spiritualität« ist dann allmählich zur Bezeichnung für jede mehr oder weniger stilisierte Lebensweise geworden, die der praktische Ausdruck einer grundlegenden Lebens- und Realitätsauffassung ist. So spricht man von einer keltischen, einer indischen, einer afrika­ nischen, einer tibetanisch-buddhistischen, einer freimaurerischen, einer ökologischen und sogar einer atheistischen Spiritualität.15 Handelte es sich bis zu diesem Zeitpunkt um eine Lebensvision mit einer damit verbundenen verinnerlichten, vergeistigten Lebens­ einstellung und -praxis, eine auf ideeller Inspiration beruhende Lebensform, seitdem hat die Idee der Spiritualität immer weitere Kreise gezogen. Dies ist zum Beispiel der Fall in Jacques Brosse's Buch Les hauts lieux de la spiritualité (Das Europa der Spiritualität)16. Es 14 Diese Redewendung findet sich noch bei jemandem wie Goethe, wenn er seine religiöse Haltung als ›Weltfrömmigkeit‹ bezeichnet. Siehe zum Beispiel Karl Viëtor, Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild, Franke, Bern 1949, S. 428 u.a. Auch Heidegger, obwohl römisch-katholischer Herkunft, spricht von einer ›Frömmigkeit des Denkens‹. 15 Siehe zum Beispiel Ian Bradley, The Celtic Way. Darton, Longman and Todd, London 19963. Joseph E. Brown, The Spiritual Legacy of the American Indian, Cross­ road, New York 1987 (siehe auch den Anhang dieses Buches); Leo Apostel, Atheist Spirituality, ASP, Brüssel 20133. Siehe dazu Herman de Dijn, ›Leo Apostel: Pionier der atheistischen Spiritualität‹, In Thot 65:6 (Nov.-Dez. 2014), 49–54 (Themenheft zur maçonischen Spiritualität). 16 Bordas, Paris 1993.

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führt den Leser, wie der französische Titel andeutet, zu den »hohen Orten« der christlichen, aber auch der muslimischen und jüdischen Spiritualität. Mit all den Kathedralen, Basiliken, Abteien, Klöstern, Prioraten, Beginenhöfen und anderen Orten (wie der Insel Iona vor der schottischen Küste), die Ausdruck einer lebendigen Glaubenser­ fahrung und -praxis sind.

Die Kunst Dasselbe Motiv, dass es darum geht, auf tieferen Erfahrungsebenen angesprochen zu werden, führt dann immer wieder dazu, von einer spirituellen Dimension der Kunst zu sprechen. Es geht dabei nicht nur um sakrale im Gegensatz zu weltlicher Kunst. Sakrale Kunst ist, wie der Begriff schon sagt, Kunst, die von einer religiösen Vorstellungs­ welt geprägt ist, wie die des Christentums, des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus, der japanischen Shinto-Religion usw. Im Verständ­ nis dieses Buches ist Religion eine bestimmte stilisierte Form der Spiritualität, die auf einer eigenen Geschichte über den Menschen und die Welt beruht. Wenn aber, wie ich annehme, Spiritualität für ein allgemeines menschliches Streben nach Vertiefung des Lebens und Denkens steht, dann muss sie auch außerhalb des Rahmens der organisierten Religion zu finden sein, nämlich in der so genannten säkularen Kunst. Es könnte durchaus sein und ist wahrscheinlich auch so, dass sich unter den Fittichen der »offiziellen« Religion einer Gesellschaft ganz unterschiedliche Versionen von Spiritualität verbargen, die sich später von der vorherrschenden Vorstellungswelt emanzipierten und so »säkular« wurden. Genauso wie umgekehrt sakrale Kunst nicht eo ipso spirituell sein muss, wenn sie nämlich stark auf Äußerlichkeiten ausgerichtet ist. Vor diesem Hintergrund wird der spirituelle Charakter insbe­ sondere der weltlichen Kunst zu einem interessanten Phänomen. Der Amsterdamer Ästhetikprofessor Wessel Stoker zum Beispiel widmet sein Buch Kunst des Himmels und der Erde. Das Spirituelle bei Kan­ dinsky, Rothko, Warhol und Kiefer17, wie der Untertitel schon sagt, der »Spiritualität in der säkularen Kunst des Westens« (S. 10 und passim). Es geht dabei immer, wenn auch auf unterschiedliche Weise, darum, Ursprünglicher Titel Kunst van hemel en aarde. Het spirituele bij Kandinsky, Rothko, Warhol en Kiefer, Meinema, Zoetermeer 2012.

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ein Bewusstsein für die Tiefe der Dinge zu wecken, für eine Beziehung zu einer zugrunde liegenden, ja absoluten Dimension der Wirklich­ keit. Auch eine damals berühmte Ausstellung abstrakter Malerei, die an vielen Orten (Los Angeles, Chicago, in den Niederlanden im Haager Gemeindemuseum) zu sehen war, konnte unter der Flagge The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890–1985) segeln. Die Schrift­ stellerin Andreas Burnier, Pseudonym der Nimwegener Kriminologin Prof. C.I. Dessaur, schrieb darüber einen faszinierenden Essay mit dem Titel ›Stille und Alchemie. Über Symbolismus, Abstraktion und das Spirituelle in der Kunst‹18. Sie deutet das Werk von Malern wie Kandinsky, Mondriaan, Rothko und anderen als Gegenbewegung zu einer zu irdisch und alltäglich gewordenen Malerei. Sie denkt dabei an Naturalismus, Realismus (»ein Stück Schnur in der Ecke«) und Surrealismus, Pop Art, Konstruktivismus und andere Formen anekdotischer und zerebraler Kunst, wobei der Erfahrungshorizont auf das unmittelbar Greifbare geschrumpft ist und jegliches Bewusst­ sein für dasjenige, was über unsere Alltagswirklichkeit hinausgeht, verschwunden ist. Mit der Folge, dass die meisten bildenden Künstler »mit der Farbe oder der Leinwand beschäftigt« sind, kurzum, sich nur mit ihrem Material, mit äußeren Dingen also, beschäftigen. Aus dieser engen und steril gewordenen Erfahrungswelt auszubrechen und für vernachlässigte Erfahrungsdimensionen wieder sensibel zu machen, ist ihrer Meinung nach (mit Recht, wie ich meine) das Unternehmen der genannten und anderer Maler. Auf diese Weise öffnen sie in ihrer Kunst Fenster zum »Geistigen«.

Die Musik Auch im Bereich der Musik ist der Begriff »Spiritualität« regelmäßig zu hören, vielleicht im Vergleich zu den anderen Künsten dort wohl im Besonderen. Schließlich dringt die Musik ja in die tiefsten emotiona­ len Schichten der Seele vor. Viele Menschen erleben immer wieder, wie sie in Zeiten der Trauer und des Kummers trösten, aber auch intensive Gefühle der Freude und des Glücks hervorrufen kann. Wie oft wurde nicht gesagt, dass die Musik das ausdrücken kann, was 18

Kaos, Nr. 13 (Dezember 1987), 29ff.

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in der »gewöhnlichen« Sprache unaussprechlich ist, wofür »Worte zu klein sind«, um den deutschen Dichter Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert anzuführen. Eine Meinung, die sein Zeitgenosse und Schriftstellerkollege, Komponist und Dirigent E.T.A. Hoffmann mit seiner Aussage: »Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an«19 bestätigt. So ist die Musik das Medium des Unmitteilbaren oder der Ausdruck von Gedanken, die zu präzise sind, um in Worte gefasst zu werden (Mendelssohn). Es ist also immer das gleiche Motiv, dass Musik die Fähigkeit hat, uns über die alltägliche Realität zu erheben und eine Ahnung von »höheren« Dimensionen der Wirklichkeit zu wecken. Dies wird beispielsweise durch die häufige Aussage von Menschen bestätigt, die sich sonst als Nichtgläubige betrachten, dass sie, wenn sie eine Aufführung von Bachs Matthäuspassion besuchen, für einen Abend zum Glauben kommen.20 Dass Musik die magische Fähigkeit besitzt, Menschen in höhere Sphären zu versetzen, erleben viele Menschen auch, wenn sie die Werke zeitgenössischer Komponisten wie Arvo Pärt, John Tavener und Giya Kantsjeli hören, die manchmal als Neo-Spirituellen bezeich­ net werden. Und natürlich ist in diesem Zusammenhang Olivier Messiaen zu nennen, dem es gelingt, einen Durchblick nach »jenseits« unserer gewöhnlichen Realität zu bieten, gerade weil er eine Form von »absoluter Musik« praktiziert, d.h. Musik, die für sich allein steht, ohne Träger außermusikalischer, z.B. religiöser, Ideen21 zu sein.

19 Siehe auch Adornos Ansicht, dass Musik die »wahre Sprache« ist, die die »mei­ nende Sprache« transzendiert, zitiert in Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, dtv, München 1978, S. 116. 20 Siehe auch die Aussage des Pianisten Marcel Worms in De Volkskrant vom Mon­ tag, 16. März 2020: »Das Leben hat an sich eine tragische Seite (...). Es gibt viele Reibereien, Dissonanzen, aber gleichzeitig gibt es auch Hoffnung. Diese beiden Seiten sind in Bachs Werk stark präsent: Was in einer Moll-Tonart beginnt, endet oft in einer Dur-Tonart. Er lässt Sie Traurigkeit und Vergänglichkeit spüren, zeigt Ihnen aber auch, wie harmonisch Gott die Welt geordnet hat. Für mich gibt es keinen Gott, also ist es Bachs Auffassung von dieser Ordnung. Was er geschaffen hat, ist für mich von einer göttlichen Schönheit. Wenn ich Bach spiele, glaube ich, obwohl ich nicht weiß, woran.« (Interviewreihe von Fokke Obbema über den Sinn des Lebens). 21 Dies kommt in den Titeln von Kompositionen wie ›Eclairs sur l'Au-delà‹ oder ›Quattuor pour le fin du temps‹ zum Ausdruck. Siehe den interessanten Artikel von Gerrit Steunebrink ›Transparenz und Transzendenz. Die Musik von Olivier Messiaen zwischen Katholizismus und Surrealismus‹, in: Tijdschrift voor Theologie, 41 (2001), 376–401.

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Aber der spirituelle Charakter der Musik drückt sich natürlich nicht nur in den Kompositionen aus, sondern auch in der Art ihrer Aufführung – Musik existiert einfach im Akt des Aufführens, daher ihre zerbrechlich-zeitliche Seinsweise im Vergleich zur Malerei, Plas­ tik oder Architekturkunst. – Über diese Art der Aufführung schreibt die Kritikerin Wenneke Savenije beispielsweise, dass der Meisterpia­ nist Grigory Sokolov der spirituellen Bedeutung der Partitur voll gerecht wird und die Musik so klingen lässt, wie sie noch nie zuvor erklungen ist (NRC 30–1–2006). Und von dem ukrainischen Wun­ derkind Emil Gilels heißt es, dass sein Spiel in seinen späteren Jahren von »zeitloser Noblesse« war, und er selbst als seine Auffassung äußerte, dass die Musik »mit der Poesie, der Malerei und dem großen Begriff der Philosophie verwandt ist.«22 Um noch ein Beispiel zu geben: In einem schönen Aufsatz »Spi­ ritualität des Singens«, der in einer Sammlung mit dem vielsagenden Titel Jede Musik hat ihren Himmel. Die religiöse Bedeutung der Musik23 enthalten ist, schreibt Maria Pfirrmann: »In vielen religiösen Tradi­ tionen gibt es ein tiefes Bewusstsein für die spirituelle Kraft des Sin­ gens24. Einer der Gründe dafür ist, dass Singen die rationale Seite des Glaubens mit der physischen und emotionalen Seite verbindet. Daher trägt Singen zur Spiritualität im Sinne von Kick Bras bei. Nach Bras kann von Spiritualität gesprochen werden, »wenn man im Leben nicht im sinnlich Wahrnehmbaren stecken bleibt, sondern nach dem Sinn reicht, der sich darin offenbart«. Spiritualität ist »eine Praxis, in der eine Beziehung zu Gott/dem Göttlichen, die dich verändert, gepflegt wird.«25 (S. 105f) Pfirrmann beginnt ihre Überlegungen übrigens mit der interessanten Aussage Yehudi Menuhins, das Singen sei »die eigentliche Muttersprache des Menschen« und nicht etwa das Spre­ chen – darauf werde ich später in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. In einem anderen Aufsatz »Musik, Sprache und Bedeutung« aus derselben Sammlung schreibt der Philosoph Erik Heijerman über Rezension von Joost Galama über posthum veröffentlichte Aufnahmen von Gilels' Konzerten im Amsterdamer Concertgebouw, NRC, 25.4.2018. 23 Elke muziek heeft haar hemel. De religieuze betekenis van muziek, herausgegeben von Martin Hoondert, Anje de Heer und Jan D. van Laar, Damon, Budel 2009, 104–130. 24 Siehe dazu auch David Abram, The Spell of the Sensuous, Vintage Books, New York 1997, 254, 290. 25 K. Bras, Arbeiten mit Spiritualität (Kampen 2001), 13v. 22

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die existenzielle Bedeutung der Musik, dass sie unser Gefühl des Alleinseins durchbrechen kann. »Das liegt daran, dass wir uns mit Musik identifizieren können. Diese Identifikation kann so vollständig sein, dass die Grenzen zwischen uns und der Musik verschwinden. Dann verlieren wir uns in der Musik, und scheint sie uns mit einer anderen Welt zu konfrontieren, in die wir völlig eintauchen können. Es ist eine Erfahrung der Transzendenz, des Aufgehens in etwas, das über uns als endliche Wesen hinausgeht. Der Wunsch, über sich selbst hinauszuwachsen, ist eines der grundlegenden Themen des Lebens. Die Musik bietet dazu Gelegenheit und eröffnet uns die Möglichkeit zu unbegrenzter Empathie. Die Kombination aus tiefer affektiver und kognitiver Versenkung in die Musik, ohne praktische Grenzen, Barrieren und Alltagssorgen, macht Musik zur besten Voraussetzung für transzendente Erfahrungen. Und ist das nicht das Schönste, was Musik uns bieten kann, und die erhabenste Erfahrung von Bedeutung, die es gibt?« (p. 45) Diese Erfahrung der Transzendenz berührt ein zentrales Merk­ mal der Spiritualität – sie wird noch ausführlich diskutiert. So halte ich noch einen Moment inne bei dem, was Iris Murdoch über die Erfahrung der Transzendenz in der Kunst (im Allgemeinen) schrieb: »Gute Kunst [!], eher symbolisch denn als Behauptung verstanden, bietet ein verlockendes Bild eines rein transzendenten Wertes, eines ständig sichtbaren höheren Gutes. Und vielleicht bietet sie für viele Menschen in einer nicht-religiösen Zeit ohne Gebet und Sakramente die deutlichste Erfahrung von etwas, das als etwas Besonderes, Kost­ bares und Wohltuendes erlebt wird und still und ohne in Besitz genommen zu werden Gegenstand von Aufmerksamkeit bleibt.«26

Die Literatur Zum Abschluss dieses Rundgangs zu Fundorten von Spiritualität in der Kunst möchte ich mich noch der Literatur zuwenden, die für das Thema dieses Buches auch deshalb von Bedeutung ist, weil sich Literatur und Philosophie desselben Mediums bedienen, näm­ lich der Sprache. Auf den ersten Blick scheint sich die moderne I. Murdoch, »The Fire and the Sun: why Plato banished the Artists« (1976), in: P. Conradi (Hrsg.), Existentialists and Mystics. Writings on Philosophy and Literature (New York, 1999), 386–463, Zitat auf S. 453. Zitiert in Hoondert et al., o.c., S. 10.

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und insbesondere die zeitgenössische Literatur nicht durch ihren spirituellen Gehalt auszuzeichnen. Sie befasst sich stark mit den Schattenseiten des Lebens, kurz gesagt, mit den menschlichen Unzu­ länglichkeiten. Man denke etwa an Romane und Novellen wie Sartres Der Ekel, Camus' Der Fremde, Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Daseins, Falladas Kleiner Mann, was nun? (schon der Titel), Döblins Berlin Alexanderplatz27 und Houellebecqs Serotonin. In der niederländisch-flämischen Literatur kann man, um nur einige Titel zu nennen, denken an Eenzaam avontuur (Einsames Abenteuer) von Anna Blaman, Turks fruit (Türkisches Obst) oder Terug naar Oegstgeest (Zurück nach Oegstgeest) von Jan Wolkers, De tranen der acacia's (Die Tränen der Akazien) oder Nooit meer slapen (Niemals mehr schlafen) von Willem Frederik Hermans, De Kapellekensbaan (Die Kapellen­ bahn) von Louis Paul Boon und De helaasheid der dingen (Das Unglück der Dinge) oder Godverdomse dagen op een godverdomse bol (Gottver­ lassene Tage auf einem gottverlassenen Globus) von Dimitri Verhulst. In all diesen und vielen anderen Werken wird die Gebrochenheit und Vulgarität, ja sogar die Mickerigkeit des Daseins breit ausgewalzt. Es herrscht, so scheint es, eine Allergie gegen das Schöne28 und Edle, gegen das, was gelingt und im positiven Sinne inspiriert. Darüber zu schreiben, wird als naiv, verschwommen und »weich« abgetan. Und was die Lyrik betrifft, skizziert der Romanist Hugo Friedrich in seinem vielzitierten Buch Die Struktur der modernen Lyrik29 ein geradezu bestürzendes Panorama des Mainstreams der europäischen Lyrik seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie ist, wie er schreibt, symp­ tomatisch für eine »harte Moderne«. Nebenbei bemerkt, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Literatur, die ihre Mentalität wider­ spiegelt, scheint es eine Faszination für Härte zu geben, wie die Ver­ breitung harter Wörter im zeitgenössischen Sprachgebrauch zeigt, wie z.B. harte Fakten, harte Währung, harte Kriminalität, »hardware«, 27 Es ist jedoch anzumerken, dass Döblin in seinem späteren Werk ganz andere Wege einschlägt. Er wendet sich vom psychologischen Relativismus und dem wissenschafts­ orientierten Materialismus seiner früheren Werke ab und begibt sich auf die Suche nach absoluten, transzendenten Werten und einer verinnerlichten Menschlichkeit. Das große Religionsgespräch Der unsterbliche Mensch steht in dieser Linie im Zeichen einer Erneuerung des Christentums. 28 Siehe zum Beispiel die Aussage von Arthur Rimbaud, A Season in Hell: »Eines Abends nahm ich die Schönheit auf meinen Schoß. – Und ich fand sie bitter. – Und ich habe sie geschmäht.« Wie der niederländische Dichter Lucebert sagt, dass die Schönheit ihr Gesicht verbrannt hat. 29 Rowohlt, Hamburg 198110.

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»harte Drogen«, harter Journalismus, harte Aktionen, harte Wissen­ schaft, harter Porno, »harter Rock«, hartes Kabarett, usw. Um auf Friedrich zurückzukommen, lauten die Stichworte zur Charakterisie­ rung der modernen Lyrik: Desorientierung, Auflösung des Geläufi­ gen, Deformation, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentaris­ mus, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, dislozieren, astigmatische Sehweise, Verfrem­ dung, Entmenschlichung, Ironisierung und andere (S. 22 ff.). Wahr­ lich ein ziemlich deprimierendes Tableau. Nicht umsonst hat Bert Brecht gesagt, dass dies eine schlechte Zeit für Lyrik ist.

Plädoyer für den hohen Stil Der polnische Dichter Adam Zagajewski protestierte 1998 in seiner Nexus-Vorlesung »Die Verflachung und das Erhabene« gegen diesen, wie er es nennt, niedrigen Stil.30 Darin vertrat er die Ansicht, dass die Literatur und insbesondere die Poesie der letzten Jahrzehnte von dem, was er den »niedrigen Stil« nennt, mit seinem flachen und ironischen Plauderton, dominiert wird. Demgegenüber plädierte er für den hohen Stil, in dem Erfahrungen des Schönen und metaphy­ sische Intuitionen zum Ausdruck kommen können und in dem das Erhabene, Ungewöhnliche und Geheimnisvolle Beachtung findet. Mit anderen Worten: Der Schwerpunkt muss wieder auf das gelegt werden, was traditionell immer die Aufgabe der Poesie war: dem Erha­ benen, auch im Alltäglichen, Ausdruck zu verleihen. Was die Dichter vermitteln sollen, ist »die Erfahrung des Geheimnisses der Welt, die metaphysische Empfindung, das große Erstaunen, die plötzliche Einsicht, die Erfahrung der Nähe dessen, was man nicht aussprechen darf«. Was wir von der Poesie nicht erwarten, sind »Sarkasmus und Ironie, kritische Distanz, gelehrte Dialektik und intelligenter Humor«, typische Paraphernalia des niederen Stils. Nicht, dass an diesen Dingen an sich etwas auszusetzen wäre, fährt Zagajewski fort, aber dafür müssen wir uns anderen Ausdrucksformen wie Essays und Zeitungsartikeln zuwenden. Was wir jedoch von der Poesie erwarten, ist: »eine Vision, das Feuer, die Flamme, die die Entdeckungen des Geistes begleitet. Mit anderen Worten: Von der Poesie erwarten wir 30 Nexus, Nummer 22, Tilburg 1998, 8–26. Motto: »Il n'est de poésie sans hauteur...«. (Philippe Jaccottet).

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Poesie«. Gleichzeitig bedeutet dies eine neue Wertschätzung von Intuition und Inspiration als kreative Kräfte. Der niedrige Stil mit seiner skeptisch-ironischen und minimalis­ tischen Haltung entkleidet die Welt und die menschliche Existenz eben ganz bewusst von all dem. In den Worten von Zagajewskis Freund Tzvetan Todorov handelt es sich um eine »éloge du quotidien«, ein Loblied auf das Alltägliche. Damit aber, mit diesem Alltäglichen, Prosaischen, oft sogar Banalen und Vulgären, wird das Dasein flach, seicht und langweilig, trotz aller gegenteiligen Bemühungen eines modernen Lebensstils mit seiner zunehmend schwerere Mittel einset­ zenden Unterhaltungsindustrie. Und die Welt kann gar nicht anders, als flach zu werden, so könnte man Zagajewskis Ausführungen zusammenfassen, weil in der modernen Literatur eine Reduktion der Wirklichkeit stattgefunden hat. Das Einzige, was helfen kann, ist die Wiederbelebung des hohen Stils mit seiner Offenheit für Dimensionen der Realität, die der niedrige Stil vernachlässigt oder sogar absichtlich verdrängt hat. Mit seinem Plädoyer für eine Wiederbelebung des hohen Stils knüpft Zagajewski an frühere Bewegungen in der Literatur an, die das gleiche Ziel verfolgten. Denken Sie zum Beispiel an den Symbolismus und den Expressionismus als Reaktion auf den Naturalismus und den Impressionismus in der Literatur – in der Kunst im Allgemeinen setzten sich beide Bewegungen übrigens zuerst in der Malerei durch. Der Naturalismus wendet sich bewusst von allem ab, was auch nur im Entferntesten dem »Höheren« ähnelt. Aus der Sicht eines scheinbar unbeteiligten Außenstehenden wird die gewöhnliche Alltagswirklich­ keit ungerührt beschrieben, bis hin zu den kleinsten, oft wenig erbaulichen Details: keine spannenden Geschichten oder Ereignisse, die die Phantasie anregen, sondern nur das Gewöhnliche und oft Vul­ gäre. Auch die Sprache selbst erfährt eine Verflachung, weshalb von einer »Verelendung der Sprache durch den Naturalismus« gesprochen worden ist. Beim Impressionismus geht es auch nicht mehr um das Was desjenigen, was man sieht oder hört, sondern um die Art und Weise, wie etwas wahrgenommen wird (»Eindruckskunst«). Der Expressionismus ist dann Ausdruck der Erkenntnis, dass hier etwas Wesentliches verloren gegangen ist. Man kann ihn als Aufstand gegen eine zu zerebral gewordene Kultur bezeichnen, aus der jegliches Bewusstsein für das Wunderbare, Visionäre, Spontane und Warme verschwunden ist – in dieser Hinsicht ist der Expressio­ nismus mit der Romantik verwandt, die ebenfalls auf das Defizit der

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Aufklärung aufmerksam gemacht hat. Der Expressionismus ist also eine Revolte gegen die wissenschaftlich-technische, materialistische Zivilisation. »Im Expressionismus«, schreibt Kurt Hübner in seinem grandiosen Buch Die Wahrheit des Mythos, »explodiert jene unter­ drückte und verschüttete Seite des modernen Menschen, auf der er nie aufgehört hat, das Numinose zu erfahren und in den Mysterien der Liebe, der Geburt, des Todes, der Sonne, des Lichtes, der Nacht und des Tages dem Göttlichen zu begegnen.«31 Der Expressionismus will die im modernen Erleben und Denken als fatal empfundenen Trennungen in Subjekt und Objekt, Idee und Wirklichkeit, Mensch und Natur aufheben und diese Kluften in einer ekstatischen Erfahrung überspringen. »Man denke«, so nochmals Hübner, »an die glühenden Landschaftsbilder van Goghs, Vlamincks, Derains, Noldes, SchmidtRottluffs und Kirchners, um nur einige zu nennen, Bilder, die wie Vulkane aus erloschener Erde aufbrechen.«32 Dann muss auch die Sprache, die zu einem Medium geworden war, in dem alles direkt und eindeutig gesagt wird, und die damit die Antenne für das Geheimnis der Dinge verloren hat, wieder zu vibrieren anfangen, wie es Rilke in seinem berühmten Gedicht zum Ausdruck bringt: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, die wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an, sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.33

Nebenbei bemerkt wird Rilke zusammen mit den Dichtern des Kreises um Mallarmé in Frankreich und um Stefan George in Deutschland zur Strömung des Symbolismus gerechnet, der als Vorläufer des Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos. Beck, München 1985, 315. Ebd. 33 R.M. Rilke, Gedicht vom 22.11.1898, veröffentlicht in der Sammlung Mir zur Feier (1898).

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Expressionismus gelten kann. In beiden Bewegungen geht es darum, die Musik der Sprache wiederzubeleben, die eine tiefere Wirklichkeit hinter der Fassade des Alltäglichen aufleuchten lässt.

Exkurs Zagajewskis Plädoyer (s.o.) für eine Wiederbelebung des hohen Stils in der Poesie scheint zumindest auf den ersten Blick recht überzeu­ gend zu sein; es enthält sicherlich ein gutes Körnchen Wahrheit. Sein Appell ist jedoch nicht unproblematisch. Ein Exkurs, den ich hier einflechte, mag verdeutlichen, warum das so ist. In der Tat hat der hohe Stil die abendländische Geistesgeschichte lange Zeit beherrscht. In dieser Sichtweise ist die Wirklichkeit, vorausgesetzt, dass man den richtigen Standpunkt bezieht, ein Kosmos, ein schönes und harmonisch geordnetes Ganzes, in dem alles, auch der Mensch, seine klar definierte Identität und seinen Platz hat. Diese Auffassung beherrschte alle Bereiche der Gesellschaft, Religion, Recht, Politik, Kunst, Literatur und Philosophie. Um die Philosophie als Vertreterin dieser Sicht der Dinge näher zu beleuchten und spätere Glieder des Gedankengangs zu antizipieren, gibt es eine lange Tradition, die von Vorsokratikern wie Parmenides und Xenophanes über Platon, Aristoteles, die Stoiker, Plotinos, Thomas, Spinoza, Leibniz bis hin zum deutschen Idealismus reicht, und von der noch die Ansichten von Denkern wie Scheler, Jaspers und Whitehead als Nachglanz betrachtet werden können – in dieser gesamten Tradition ist Philosophieren die Betrachtung der Wirklichkeit von einem idealen (eigentlich gött­ lichen) Standpunkt aus, vom Standpunkt des Seins (im Gegensatz zum Werden), der Ordnung, der Vernünftigkeit, der Überzeitlichkeit, kurzum »sub specie aeternitatis«, im Licht der Ewigkeit. Hier herrscht mit anderen Worten auch in der Philosophie der hohe Stil vor. Das Niedere wird im Lichte des Höheren oder Idealen gelesen. In dieser Linie ist die Meinung abgeleiteter oder defizienter Modus der Wahrheit, der Unsinn vom Sinn, die Unordnung von der Ord­ nung, die Gebrochenheit von der Ganzheit, die Kontingenz von der Notwendigkeit, die Zeit von der Ewigkeit, die Endlichkeit von der Unendlichkeit, das Überleben vom guten Leben, der Konflikt und das Misstrauen von der Harmonie und dem Vertrauen, das Gewöhnliche vom Außergewöhnlichen. Kurz gesagt, das Negative, zum Beispiel das Böse, ist eine Variante des Positiven oder Guten.

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Zugleich zeigt eine solche Charakterisierung der klassischen Philosophie aus der Vogelperspektive, wie groß die Distanz zu uns geworden ist. In der Tat hat es in der abendländischen Geistesge­ schichte einen Erdrutsch gegeben, und zwar auf dem Gebiet der Philosophie, aber ebenso sehr auf dem Gebiet der Literatur und der anderen Künste sowie auf dem Gebiet der Gesellschaft als Ganzes – ich nehme damit einen früheren Gedanken über den Werdegang der modernen Geisteshaltung wieder auf. Mit vielen anderen bin ich der Ansicht, dass dieser Erdrutsch in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur Neuzeit stattfand. Dieser Zeitraum (vierzehntes bis siebzehntes Jahrhundert) ist nämlich die Zeit, in der sich ein neuer Gesellschaftstypus herausbildete, der durch eine eigene Mentalität und Denkweise gekennzeichnet war. Mit ande­ ren Worten: Es war die Zeit der ersten großen Modernisierungswelle, des groß angelegten gesellschaftlichen Transformationsprozesses, der die mittelalterliche feudal-agrarische Gesellschaft in eine moderne bürgerlich-urbane Gesellschaft verwandelte. Wenn wir den Begriff »Kultur« für die Gesamtheit der Verhaltensweisen, Einstellungen und Überzeugungen (sowie deren materielle Verkörperung) verwenden, die eine Gemeinschaft kennzeichnen, dann kann man sagen, dass mit der modernen Gesellschaft eine ganz eigenständige Kultur her­ aufkommt. Auf der Ebene des Bewusstseins drückt sich dies in einem neuen Bezugsrahmen aus, der sich in neuen Vorstellungsweisen auf gesellschaftlichem, rechtlichem, künstlerischem, moralischem und weltanschaulichem Gebiet niederschlägt. So werden auch im Hinblick auf diese geistigen Aspekte des Modernisierungsprozesses die Kontu­ ren einer neuen Vorstellungs- und Denkwelt in der oben genannten Zeit sichtbar. Und die Philosophie der Moderne, zumindest in ihrem Mainstream, kann als das Projekt gesehen werden, die neue Sicht auf die Wirklichkeit, den Menschen und die Gesellschaft begrifflich zu formulieren und systematisch zu durchdenken. Die Geschichte, auch die des Denkens, zeigt selten scharfe Bruch­ linien. Veränderungen in den Denkmustern vollziehen sich nicht über Nacht. Das gilt auch für den Wandel vom klassischen zum modernen Denken: Es ist ein Prozess mit großer Wellenlänge, der auch in unserer Zeit noch nicht abgeschlossen ist. Immer noch sind wir dabei, die Konsequenzen aus diesem Umdenken zu ziehen. Dennoch kann man mit Fug und Recht behaupten, dass im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit neue geistige Tendenzen zum Tragen kamen bzw. Weichen gestellt wurden und dass diese Tendenzen in

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wichtigen Punkten denen des klassischen Denkschemas diametral entgegengesetzt sind. Ich denke daher, dass man im Hinblick auf die Wende vom vormodernen zum modernen Denken durchaus von einer »Umkehrung der Welt«34 sprechen kann, bei der die Dinge im Vergleich zur vormodernen Denkweise fast über die ganze Front unter entgegengesetztem Vorzeichen gelesen werden.

Die Entkopplung von Realität und Idealität Die Entwicklung von der vormodernen Klassik zur Moderne, die im Mainstream der modernen Philosophie ihren Ausdruck findet, lässt sich vielleicht am prägnantesten als Entkopplung von Realität und Idealität zusammenfassen. Wie bereits angedeutet, fallen in der klassischen Philosophie das Reale und das Ideale zusammen, d. h. das Reale in seiner höchsten Form, sei es das Sein des Parmenides, die Ideenwelt des Platon, die göttliche Natur der Stoa oder des Spinoza, das Eine der neuplatonischen Tradition oder der Gott der christlichen Theologie und Philosophie. In der (letztendlichen) Identität des Rea­ len und Idealen sind dann all jene anderen Thesen enthalten: dass die Wirklichkeit (wiederum letztendlich) durchschaubar und intelligibel, also erkennbare ist; dass sie ein sinnvolles Ganzes ist; dass der Wille von Natur aus auf das Gute gerichtet ist; dass der Friede die natürliche Form des Zusammenlebens ist, usw. In einer solchen Optik muss erklärt werden, wie der Irrtum möglich ist, woher das Böse, die Disharmonie und der Konflikt, die Absurdität und die Kontingenz kommen, usw. Mit der Loslösung des Realen vom Idealen, wenn die Dinge nicht mehr wie in der klassischen Auffassung ihre ideale Form in sich tragen, sondern nur noch bloße Faktizität sind, kippt das Denken um. Nietzsche hat in seiner Parabel »Der tolle Mensch«35 diese Situation plastisch als die Abkopplung der Erde von der Sonne beschrieben, die uns den festen Orientierungspunkt nimmt. Proble­ matisch werden nun genau die Dinge, die zuvor als selbstverständlich Siehe meine Studie Die Umkehrung der Welt. Über den Verlust von Umwelt, Gemeinschaft und Sinn, Königshausen und Neumann, Würzburg 2004, insbesondere die Kapitel 1–3. 35 Nietzsche, ›Der tolle Mensch‹, in: Die fröhliche Wissenschaft (zahlreiche Ausga­ ben), Nr. 125.

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galten: die Erkennbarkeit der Dinge (wenn die dem klassischen Denken zugrunde liegende Affinität zwischen Denken und Sein verloren geht), die Möglichkeit moralischen Handelns (wenn alles Handeln vom Eigeninteresse bestimmt wird), die Möglichkeit fried­ lichen Zusammenlebens (wenn Konflikt und Misstrauen die zwi­ schenmenschlichen Beziehungen bestimmen) usw. Alle Schlüsselbe­ griffe des klassischen philosophischen Diskurses (Wahrheit, Güte, Schönheit, Harmonie, Ganzheit, Gemeinwohl, unantastbare Werte wie Menschlichkeit und Würde, das Erhabene, Edle, Selbstlosigkeit, Integrität, Objektivität, Achtung vor dem Geheimnis der Wirklich­ keit) – alle diese Begriffe haben in der modernen Philosophie (und Gesellschaft) einen starken Kursrückgang erfahren, wenn sie nicht sogar völlig wertlos geworden und einer nach dem anderen aus dem Handel gezogen worden sind. Der offensichtlichste Fall ist natürlich die Idee Gottes oder des Göttlichen, die im klassischen Denken der Brennpunkt und das Symbol für die ideale Dimension der Realität ist. Die Geschichte der modernen Philosophie kann daher als die Geschichte des fortschreitenden Funktionsverlustes dieser höchsten Instanz innerhalb des klassischen Bezugsrahmens geschrieben wer­ den, bis sie sich schließlich ganz verflüchtigt. Und da, wie gesagt, die Idee Gottes in der klassischen Sicht der Dinge als zentrale Instanz und Blickfang fungiert, wird mit dem »Tod Gottes« zugleich die gesamte Perspektive mit all ihren zentralen Komponenten für tot erklärt. Die moderne Philosophie, spätestens seit dem revolutionären Bruch im 19. Jahrhundert, wie Karl Löwith die Wende von Hegel zu Nietzsche36 genannt hat, und dann gänzlich im vorigen und unseren Jahrhundert, mit der neo-nietzscheanischen Postmoderne als Krönung, ist geradezu allergisch gegen Begriffe wie Wahrheit, Moral, Schönheit, Totalität usw. geworden, und von Gott oder dem Göttlichen zu sprechen, ist ganz und gar extravagant und »not done«. Mit der Entkopplung des Realen und Idealen dreht sich der Wind in der Philosophie, wie gesagt, um 180 Grad. Aus einer ange­ nehmen mediterranen Brise wird ein rauher und kalter Wind, der aus dem Nicht-Idealen kommt und die geistige Landschaft tiefgreifend verändert hat. Viele ideelle Gewächse, die auf Sonne und Wärme angewiesen sind, verkümmern in diesem kühlen Klima, in dem nur das Harte sich zu behaupten weiß. Es ist also kein Zufall, dass, wie 36 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denkendes 19. Jahrhun­ derts – Marx und Kierkegaard, Kohlhammer, Stuttgart 19645.

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bereits erwähnt, die moderne Kultur von der Härte fasziniert ist – meines Erachtens ist dies die tiefere Wurzel der vieldiskutierten Verhärtung der sozialen Beziehungen. Die Welt wird dann in der Nachfolge der großen Entlarvungsphi­ losophen als eine nicht-ideale Welt gelesen, als eine Wirklichkeit, der (so Hume und Kant) in sich selbst jede Form von Normativität, Absicht und Teleologie fremd ist, die also rein faktisch ist, oder, wie andere weiter argumentieren werden, durch Kontingenz, radi­ kale Endlichkeit, Gebrochenheit und Absurdität gekennzeichnet ist. Andere Variationen dieses grundlegenden Themas der Nicht-Idealität der Realität sind Marx' Ansicht, dass alles Denken und Handeln interessegebunden und daher ideologisch ist. Oder Freuds These, dass die gesamte Kultur mit ihren Werten und Idealen lediglich Ausdruck und Sublimierung der Libido ist, oder die Position von Nietzsche, Foucault und anderen, dass die menschlichen Beziehungen unrettbar von der Macht bestimmt werden, usw. Tenor dieser Kritik ist also stets, dass die ideellen Dimensionen unserer Erfahrungswirklichkeit, wie sie von der klassischen Philo­ sophie auf idealisierte Weise formuliert worden sind, die Fassade einer ganz anderen, wesentlich weniger schönen und edlen Wirklich­ keit sind, die durch Leichtgläubigkeit, Heuchelei oder ein falsches Bewusstsein getarnt wird. Die Dinge sind also nicht, wie sie den Anschein haben. Alles, was wertvoll ist, hat eine zweifelhafte Kehr­ seite, und was wie Gold aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrach­ tung als Dreck. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Démasque des »Höheren« mit grimmigem Vergnügen betrieben wird. Für die gesamte Art des Philosophierens ist, kurz gesagt, die Anti-Haltung charakteristisch: sie ist anti-metaphysisch, anti-huma­ nistisch, anti-utopisch, etc. Und all die Proklamationen vom Ende (oder dem Tod) der Religion, der Moral, der Kunst, des Menschen, der Geschichte, der großen Geschichten, der Philosophie selbst, beinhalten dasselbe. Philosophie ist hier, um es anders auszudrü­ cken, weitgehend negative Philosophie, aufgebaut um eine negative Kernthese, Kritik ohne Konstruktion. Kein Wunder also, dass die so verstandene Philosophie schwach ausgedrückt keine Antenne für so etwas wie Spiritualität hat. Gleiches gilt für wichtige Strömungen in der modernen Literatur, zum Beispiel die moderne Lyrik, wie sie Hugo Friedrich diagnostiziert hat.

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Soviel zu diesem Exkurs über das allgemeine geistige Klima der modernen Gesellschaft, das sich dann in der modernen Kunst und Philosophie widerspiegelt. Nochmals: Eine Gesellschaft bekommt die Kunst und die Philosophie, die sie »verdient«, d.h. die zu ihr passt.

Die Literatur, Fortsetzung Doch auch wenn Friedrichs Charakterisierung der modernen Lyrik weitgehend zutreffen mag, so ist sie dennoch nicht die ganze Geschichte. Das zeigte sich bereits beim Aufkommen von Bewegun­ gen wie dem Expressionismus und dem Symbolismus. Und schon die Poesie als solche hat einen Mehrwert gegenüber der gewöhnlichen und alltäglichen Sprache. Sie drückt Erfahrungen und Gefühle auf eine qualitativ einzigartige Weise aus, wie es Prosa nicht kann. Mit anderen Worten: Es gibt Dinge, die nur in der Sprache der Poesie gesagt werden können, die nach den Worten von W.H. Auden »klarer Ausdruck gemischter Gefühle« ist. Deshalb schreiben wir »Gedichte« zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder zum Nikolaustag, um etwas Besonderes auszudrücken. Das kann sehr unbeschwert und spielerisch sein, wie bei Christian Morgenstern in seinen »Galgenlie­ dern«: Ein Knie geht einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts! Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt! Es ist ein Knie, sonst nichts. Im Kriege ward einmal ein Mann Erschossen um und um. Das Knie allein blieb unverletzt – Als wär›s ein Heiligtum. Seitdem geht›s einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. Es ist kein Baum, es ist kein Zelt. Es ist ein Knie, sonst nichts.

Solch herrlicher Unsinn würde viel von seinem Glanz verlieren, wenn er in prosaischer Sprache abgefasst wäre. Deshalb schreiben Lyriker, die sich vom hohen Stil verabschiedet haben, dennoch weiterhin Gedichte, auch wenn sie noch so depoetisiert sind.

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Die Poesie als die grundlegende Sprache des Menschen Aber es gibt einen tieferen Grund. Ich habe vorhin Yehudi Menuhin zitiert, dass das Singen, im Gegensatz zum Sprechen, die eigentliche Muttersprache des Menschen ist. Dies entspricht der Auffassung des italienischen Philosophen Vico aus dem 17. Jahrhundert und anderer (z. B. einiger Romantiker), dass die Poesie und nicht die Prosa die ursprüngliche Sprache des Menschen ist, dass also die Poesie der Prosa vorausgeht. Folglich ist dann die Metapher keine unangemessene Redeweise, wie, insbesondere in unserer modernen Zeit, allgemein angenommen wird, sondern die bildhafte Sprache ist die eigentliche Art und Weise, eine qualitativ reiche Realität auszudrücken. Die Sprache ist dann mit Metaphern gespickt, die zwar ausgelaugt, aber letztlich nicht entbehrt werden können. Eine dichterische Sprache, die sich ausgiebig der Bilder, Metaphern, Anspielungen usw. bedient, wäre dann näher an der Wirklichkeit und würde ihr mehr gerecht als die prosaische, vermeintlich wörtliche und wissenschaftliche Sprache, die ein Derivat der poetischen Ausdrucksweise ist – eine »Entpoe­ tisierung« einer an sich »poetischen« Wirklichkeit.37 Das würde also bedeuten, dass die »gewöhnliche« Alltagssprache vielmehr eine abgespeckte Version der poetischen Sprache wäre, als dass letztere nur eine äußere Verschönerung dessen sein würde, was in der prosaischen Sprache präziser formuliert wird, der sie inhaltlich jedoch nichts hin­ zufügt. Wenn es dem modernen Dichter aus den oben genannten Gründen nicht mehr möglich ist, den »hohen Stil« ungehemmt zu praktizieren, wenn er »die strahlenden Akkorde« vermeidet, um den deutschen Dichter Johannes Becher zu zitieren, dann greift er zu anderen Mitteln, um das mehr als Gewöhnliche auszudrücken. In diesem Zusammenhang denke ich unter anderem an die nieder­ ländischen Dichter Nijhoff und Achterberg, die beide bewusst eine sehr gewöhnliche Sprache verwenden, um das mehr als gewöhnliche durchscheinen zu lassen. Um in diesem Sinne fortzufahren: »Im Gedicht der albernen Bienen« war Nijhoff in Abkehr von seinem früheren Werk zu der 37 E. Minkowski, Vers une cosmologie, Paris 1936, 86–87, 163–167, zitiert in C.A. van Peursen, Verhaal en werkelijkheid. Een deiktische ontologie (Geschichte und Wirklich­ keit. Eine deiktische Ontologie), Kok/Agora, Kampen 1992, 49f. Siehe auch Nietzsches Bemerkung: »Man schreibt nur im Angesicht der Poesie gute Prosa« (Die fröhliche Wissenschaft, 92).

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Erkenntnis gelangt, dass das Streben nach »höherem Honig« und »mysteriösen Rosen« nur in »gefrorenem Azur« enden kann, d.h. in einem fruchtlosen Unterfangen. Mit anderen Worten: Um echt zu sein, muss die Poesie von dieser Welt und dieser Realität handeln, nicht von Luftschlössern, so schön sie auch sein mögen. Noch anders gesagt: Das Wort des Dichters muss Fleisch werden, in der Wirklich­ keit verwurzelt sein. Aber auch auf diese Weise kann die Andersartigkeit des Gewöhn­ lichen hervorgerufen werden. Wie in »Het uur U« [Die Stunde U] geschieht, wo, plötzlich ein Fremder in einer Straße auftaucht, die alle Merkmale eines wohlhabenden Viertels aufweist. Die Bewohner dieser Straße mit ihrem bürgerlichen Lebensstil, der Arzt, die Dame, der Richter und der Lehrer, haben alle die humanitären Ideale ihrer Jugend begraben. Sie sind zwar nicht gestorben, aber in einem höhe­ ren Sinne sind sie tot. Mit dem Erscheinen des Fremden geschehen jedoch allerlei seltsame Dinge, »die das Ohr noch nie gehört hat«. Das Gas in den Rohren unter den Häusern wird hörbar, ebenso wie das Zischen des Wassers unter der Straße und »in der elektrischen Leitung zu Radio und Telefon (gibt es) einen funkensprühenden Summerton, als ob Bienen in der Nähe wären«. Es entsteht Unruhe, ja sogar Panik. Jeder wird an die jugendlichen Ideale erinnert wie an »eine Vision (...) von fast himmlischer Eupho­ rie«. Aber diese Ideale sind inzwischen »unter dem Grabstein der festen Arbeit und des täglichen Brotes« begraben. Eine messerscharfe Kritik an einem Lebensstil, der flach und ohne Tiefe geworden ist, in einer äußerst alltäglichen Sprache. In einem Moment (länger dauert es auch nicht an) wird damit das Bild dessen heraufbeschworen, was hätte sein können (und einen Augenblick lang auch Wirklichkeit war), aber dann »nie eine Stimme bekam«. Achterberg tut auf seine Weise etwas Ähnliches: Er beschwört mit den einfachsten Mitteln der Sprache eine »andere« Wirklich­ keit herauf, in der die Gebrochenheit unserer gegenwärtigen Welt transzendiert wird. Oder, wie Paul Rodenko schreibt38: »durch das Kontingente hindurch die göttliche Ordnung der Natur zu sehen, die sich ständig erneuert«. Von verschiedenen Seiten wurde behauptet, Achterbergs Poesie habe metaphysische Implikationen oder sei von 38 Einführung in die Sammlung Gerrit Achterberg, Voorbij de laatste stad (An der letzten Stadt vorbei), zusammengestellt und eingeleitet von Paul Rodenko, Bert Bakker, Amsterdam 1976, 34.

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einem allgemeinen religiösen Bewusstsein geprägt, das hinter aller Vielfalt eine letzte Einheit vermutet. Oder dass am Ende alles an seinem Platz ist: »Alles ist überall da, wo es hingehört«. Oder dass viele seiner Gedichte eine mythische Dimension haben, wie z.B. die Figur der toten Geliebten, die sich einerseits auf eine kontingente biografische Tatsache bezieht, aber gleichzeitig eine Bedeutung hat, die über unsere gewöhnliche Realität hinausgeht. Beide Dichter können daher, meiner Meinung nach zu Recht, als »spirituell inspiriert« bezeichnet werden, wie es Jaap Goedegebuure in seinem schönen Buch Wit licht. Poëzie en mystiek in de Nederlandse literatuur van 1870 tot nu (Weißes Licht. Poesie und Mystik in der nie­ derländischen Literatur von 1890 bis heute)39 tut (S. 96). Ganz allge­ mein übrigens zeigt er, dass Poesie im Alltäglichen steckt, oder dass »Gott in den einfachsten Dingen gegenwärtig ist«, in Anbetracht der von ihm hergestellten Verbindung zwischen Poesie und Mystik. Vor allem letzteres ist bemerkenswert: dass die Mystik in der niederlän­ dischen Literatur des letzten Jahrhunderts fast allgegenwärtig ist. Wenn wir an Mystik denken – ich werde noch ausführlicher darauf zurückkommen, weil Religion und Spiritualität letztlich einen mys­ tischen Kern haben –, denken wir zunächst an das Gefühl, mit einer tieferen Wirklichkeit eins zu sein. Gerade diese Erkenntnis, dass selbst in den alltäglichsten Dingen etwas Besonderes durchscheint, bringen Dichter auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck.40 So sehr sogar, dass die Poesie als Ausdruck der mystischen Erfahrung betrachtet werden kann beziehungsweise aus ihr geboren wird, wie Goedegebuure mit dem Titel des ersten Kapitels seines Buches andeu­ tet: »Die Geburt der Poesie aus dem Geist der Mystik«. Oder, in den Worten Nijhoffs, dass alle Poesie »eine profane, weltliche Mystik ist« (S. 83). Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der vom niederländischen Literaturwissenschaftler Wiel Kusters redigierten Sammlung In een bezield verband. Nederlandse dichters op zoek naar zin (Ein beseeltes Ganzes. Niederländische Dichter auf der Suche nach Sinn)41: das Bild Vantilt, Nijmegen 2015. Denken Sie zum Beispiel an die Verszeilen von William Blake (aus »Auguries of Innocence«): To see a World in a Grain of Sand And Heaven in a Wild Flower Hold Infinity in the palm of your hand And Eternity in an hour. 41 Gooi und Sticht, Baarn 1991.

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einer Auswahl niederländischer Dichter auf der Suche nach dem, was dem Leben Tiefe verleiht. Dass Poesie aber auch in unserer modernen Zeit in einem authentischen und hohen Stil praktiziert werden kann, zeigen Dichter wie Leopold, Boutens, Gerhardt, Jellema und viele andere. Siehe zum Beispiel die abgeklärte Atmosphäre, die das Gedicht »Sonntagmor­ gen« von Ida Gerhardt hervorruft: Das Licht beginnt zu wandern durch das Haus Und berührt die Dinge. Wir essen Unser frühes Brot, getauft im Sonnenschein. Du hast das weiße Tuch ausgebreitet, Und Gräser in ein Glas gestellt. Dies ist der Tag an dem die Arbeit ruht. Die Handfläche ist zum Licht hin geöffnet.42

Der Physiker Van den Beukel bemerkt dazu in seinem feinsinnigen Buch De dingen hebben hun geheim. Gedachten over natuurkunde, mens en God43 (Die Dinge haben ihr Geheimnis. Gedanken über die Physik, den Menschen und Gott), dass es sich dabei um eine Beschreibung des Phänomens Licht handelt, die ganz andere und nicht weniger reale und erfahrbare Aspekte davon »ans Licht bringt« als die physi­ kalische Interpretation. Alles in allem kann man aus dem Vorangehenden schließen, dass auch der modernen Lyrik ein spirituelles Moment keineswegs fremd ist.

Spiritualität in der Kunst im Allgemeinen Abschließend noch eine Bemerkung zum Spirituellen in der Kunst im Allgemeinen. Im Leben verschiedener Künstler können wir eine Entwicklung hin zu Vertiefung, Verinnerlichung und Intensi­ vierung beobachten. Es handelt sich dann also um das Werk des gereiften Künstlers. Dieser späteren Altersphase werden regelmäßig bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, wie ein gewisses Maß an Reflexion und innerer Ruhe; Milde im Urteil über andere, auch weil man aus Erfahrung weiß, wie unergründlich wir für uns selbst sind Ida Gerhardt, Verzamelde gedichten (Gesammelte Gedichte), Athenaeum – Polak & Van Gennep, Amsterdam 1989, S. 348. 43 Ten Have, Baarn 1990.

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und wie anders die Dinge aus der Sicht anderer aussehen können; eine gewisse Distanz zu den Dingen, nicht mehr so sehr nach der Mode des Tages leben, mehr »nach innen« als »nach außen gerichtet«; durch diese Befreiung (bis zu einem gewissen Grad natürlich) von äußerem Druck, mehr Raum, um jetzt wirklich man selbst zu sein; mehr Aufmerksamkeit, auch durch ein stärkeres Bewusstsein des bevorstehenden Todes, für die Dinge im Leben, die wirklich wichtig sind, für Sinnfragen also, statt sich um die Äußerlichkeiten des Alltags zu kümmern; eine Verinnerlichung der Haltung, kurzum. Vor diesem Hintergrund ist das Phänomen der gereiften Kunst, d.h. des Spätwerks des Künstlers, der seine Form gefunden hat, auffällig, vor allem wenn man es neben vergleichbare Werke aus früheren Entwicklungsphasen stellt. Alles Befolgen von Regeln um der Regeln willen, jeder Wille und Anspruch, klassisch zu sein, ist hier verschwunden, jeder Schnickschnack, jedes überflüssige Detail wird vermieden, mit einem Minimum an Mitteln wird die Intensität und Beredsamkeit des Kunstwerks aufs Äußerste gesteigert. Man denke an die Lyrik des späten Goethe, an Beethovens letzte Streich­ quartette oder an die Selbstporträts des sechzigjährigen Rembrandt. Über die Entwicklung seiner Selbstporträts, von denen er eine ganze Reihe anfertigte, im Durchschnitt zwei pro Jahr (sie machen fast zehn Prozent seines Oeuvres aus), schreiben Geri Berg und Sally Gadow: »Sie bewegen sich vom Schwung, der Vitalität und sogar der Arroganz der Jugend und des frühen Erwachsenenalters zur ruhigen, introspektiven und intensiv spirituellen Erfahrung des Alters und schließen mit einem Porträt (»Selbstbildnis«, um 1668, Köln, Wall­ raf-Richartz-Museum), das all diese Qualitäten in einem endgültigen Ausdruck zu vereinen scheint«.44 Eine analoge Entwicklung beobach­ ten sie bei Rogier van der Weyden, Rubens, Cézanne, Mondriaan und anderen. Über zwei »Pietas« von Michelangelo, von denen eine im Alter von zweiundzwanzig Jahren entstand und die andere in seinem Todesjahr vollendet wurde, als er fast neunzig Jahre alt war (!), schreiben sie: »In der frühen Skulptur spüren wir, dass das Leben, nicht der Tod, und vor allem die körperliche Schönheit gefeiert wird. Michelangelos Virtuosität in der Bearbeitung des Marmors machte 44 Berg, G. & Gadow, S., ›Toward More Human Meanings of Aging: Ideals and Images from Philosophy and Art‹, in: Spicker, S.F. et al. (Hrsg.), Aging and the Elderly: Humanistic Perspectives in Gerontology. Humanities Press, Inc., Atlantic Highlands 1978, S. 89.

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die Körper der Jungfrau und Christi seidig, ja sinnlich. Die späte Pieta hingegen lehnt die jugendliche Schönheit des Frühwerks ab; die Körper sind roh, gemeißelt und aus dem Stein gehauen. Die Grenzen der Körper von Mutter und Sohn sind ununterscheidbar. Das Kind, nun ein Erwachsener, tritt von Neuem aus dem Körper seiner Mutter hervor. Nur die Gesichter unterscheiden sich. Als ein Werk von tiefer spiritueller Intensität erinnert die Skulptur an eines der späten Sonette von Michelangelo...«45

Die Wissenschaft In allen genannten Kunstströmungen und Betrachtungen geht es immer um dasselbe: die Menschen für das Mehr als Gewöhnliche in der Erfahrung der Wirklichkeit zu sensibilisieren, zu lernen, mit anderen Augen zu sehen, mit anderen Ohren zu hören, in anderen Kategorien zu denken. Deshalb wurden die Begriffe »spirituell« und »Spiritualität« in diesem Zusammenhang wiederholt verwendet. Dies ist jedoch keineswegs auf die Kunst beschränkt. Es gibt auch eine Spiritualität der Wissenschaft. Eine schöne Probe davon ist der Artikel (ursprünglich als Rede gehalten) meines gelehrten Kollegen Koos de Valk, Professor für Sozialphilosophie an der Erasmus-Universität Rotterdam, mit dem Titel »Die zwölf Freuden der Wissenschaft«46. – Nebenbei bemerkt, geht Spiritualität oft mit einem tiefen Gefühl der inneren Freude und des Glücks Hand in Hand. – Ausgehend von einem Zitat des lateinischen Dichters Virgil, »Felix qui potuit rerum cognoscere causas« (in der Übersetzung von Ida Gerhardt: Glücklich, wer die Ursachen der Dinge ergründen konnte), macht De Valk eine Runde entlang den verschiedenen Dimensionen der Wissenschafts­ praxis, die alle auf ihre Weise Freude bereiten: das Staunen über die Dinge, die Aufregung über eine neue Entdeckung (Archimedes' Heureka!), das Ergründen von Zusammenhängen, das Beherrschen des wissenschaftlichen Handwerks, das spielerische Element, das Erklären und Aufzeigen, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Forscher, das selbstlose Verfolgen des eigenen Fachs, das Arbeiten an Erkenntnissen, die einen zeitlosen Aspekt haben und die Wechselfälle des Daseins überdauert haben, und schließlich als höchste Freude die 45 46

O.c., S. 89–90. S & D 2 (1996), 67–73.

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der Kontemplation, der blitzartigen Einsicht in die Tiefen der Wirk­ lichkeit. In der Tat sind die Gefühle der Freude und des tiefen Erstaunens, die Forscher bei ihren Entdeckungen immer wieder erlebt haben, zahllos. Um nur einige wenige Zeugnisse anzuführen: Der große fran­ zösische Mathematiker Poincaré schreibt in einem seiner Aufsätze: »Der Wissenschaftler studiert die Natur nicht, weil es nützlich ist, dies zu tun. Er studiert die Natur, weil er Freude daran hat, und er hat Freude daran, weil sie schön ist. Wäre die Natur nicht schön, wäre sie nicht wissenswert und das Leben nicht lebenswert ... Ich meine die innere Schönheit, die aus der harmonischen Ordnung ihrer Teile entsteht und die ein reiner Verstand verstehen kann.«47 David Hilbert schreibt in seinem In memoriam für Hermann Minkowski: »Unsere Wissenschaft, die wir über alles liebten, hatte uns zusammengeführt. Sie erschien uns wie ein blühender Garten. In diesem Garten gab es gut angelegte Wege, auf denen man sich in Ruhe umsehen und sich ohne Anstrengung freuen konnte, vor allem an der Seite eines verwandten Gefährten. Aber wir folgten auch gerne versteckten Spuren und entdeckten so manche unerwartete Aussicht, die unsere Augen erfreute; und wenn einer den anderen darauf hinwies und wir sie gemeinsam bewunderten, war unsere Freude vollkommen.«48 Von Hermann Weyl ist die Aussage: »In meiner Arbeit habe ich immer versucht, das Wahre mit dem Schönen zu verbinden. Und im Zweifelsfall entschied ich mich meistens für das Schöne.«49 Um schließlich Werner Heisenberg in einem Gespräch mit Ein­ stein das Wort zu erteilen: »Wenn die Natur uns zu mathematischen Formen von großer Einfachheit und Schönheit führt – mit Formen meine ich kohärente Systeme von Hypothesen, Axiomen usw. –, zu Formen, denen niemand früher begegnet war, so können wir nicht anders, als zu denken, dass sie ›wahr‹ sind, dass sie ein wirkliches 47 Zitiert in S. Chandrasekhar, Truth and Beauty. Aesthetics and Motivations in Sci­ ence, University of Chicago Press, Chicago/London 1987, S. 59. Das ist übrigens auch Heisenbergs Definition von Schönheit: »Schönheit ist die richtige Ausrichtung der Teile zueinander und zum Ganzen.« Bei Chandrasekhar, o.c., 52. 48 Zitiert bei Chandrasekhar, 53. 49 Zitiert in Derkse, Mooi werk. Schoonheid als motivatie en maatstaf in de natuurwe­ tenschappen (Schöne Arbeit. Schönheit als Motivation und Maßstab in den Naturwissen­ schaften), Nijmegen Univers. Press 1998, 14. Für eine umfassendere Behandlung des Themas siehe Wil Derkse, On Simplicity and Elegance, Eburon, Delft 1992.

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Merkmal der Natur offenbaren. – Das musst du auch gespürt haben: die fast beängstigende Einfachheit und Ganzheit der Beziehungen, die die Natur plötzlich vor uns ausbreitet und auf die keiner von uns auch nur im Geringsten vorbereitet war.«50 So beschreibt er auch, wie er bei der Entdeckung der ersten Formeln der Quantenmechanik tief bewegt war: »Meine erste Reaktion war, dass ich davor erschrak. Ich hatte das Gefühl, dass ich unter der Oberfläche der atomaren Phänomene in ein seltsames und wunderschönes Inneres blickte, und mir wurde fast schwindlig bei dem Gedanken, dass ich nun noch tiefer in die reiche mathematische Struktur eindringen könnte, die mir die Natur so großzügig zeigte. Ich war zu aufgeregt, schlafen zu gehen, und als die Dämmerung anbrach, ging ich zur Südspitze der Insel, wo ich schon einmal einen Felsen über dem Meer erklimmen wollte. Das tat ich jetzt ohne große Mühe und ich wartete auf den Sonnenaufgang.«51 Zu diesem Zitat bemerkt Derkse: »Der religiöse Unterton ist dabei nicht zu überhören.« Das passt zu einer Aussage von Carl Friedrich von Weizsäcker: »Die moderne Physik sucht nach mathema­ tischen Gesetzen im Bereich der Erfahrung. Die Tatsache, dass solche Gesetze gefunden werden, ist ein Wunder. Dass sich solche Gesetze in der Erfahrung immer wieder bestätigen, mag daran liegen, dass sich diese Gesetze aus den Bedingungen der Möglichkeit der Erfah­ rung ergeben [ein Hinweis auf Kants philosophische Interpretation derselben, vdW]. Aber warum muss eine Erfahrung möglich sein? Die wirklich originellen Naturwissenschaftler haben ihre Forschung meist als eine Form der Anbetung empfunden.«52 Von einer spirituellen Dimension der Wissenschaft gesprochen! Dies geht auch wieder aus einer Sammlung von Aufsätzen bedeutender Naturwissenschaftler aus dem letzten Jahrhundert her­ vor, die der prominente deutsche Kernphysiker Hans-Peter Dürr unter dem aufschlussreichen Titel Physik und Transzendenz zusam­ mengestellt hat. Der Untertitel lautet »Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren«53. Wenn diese Physiker über ihr physikalisches Handwerk nachdenken, zieht sich als roter Faden durch die Sammlung das Staunen über die Schönheit, den Reichtum, die Tiefe und die letztendliche Unergründ­ 50 51 52 53

Von Chandrasekhar, o.c.,53. Derkse, o.c., 26. Derkse, o.c., 27. Scherz, Bern 1986.

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lichkeit der Natur, die sie letztlich auf eine Dimension über die Natur hinaus verweist. Ich zitiere eine bekannte Aussage von Einstein: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen. Das Erlebnis des Geheimnisvollen (...) hat auch die Religion gezeugt. Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht die wahre Religion aus; in diesem Sinne und nur in diesem Sinne gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.«54 Deshalb kann er auch schreiben: »Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm [wenn ihr nämlich eine Antenne für das Geheimnisvolle fehlt], Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.«55 Und zu diesem Bewusstsein der Transzendenz möchte ich noch einmal Herman Weyl das Wort erteilen: »Die heutige Wissenschaft, soweit ich mit ihr durch meine eigene wissenschaftliche Arbeit ver­ traut bin, die Mathematik und Physik, zeigen die Welt mehr und mehr als eine offene Welt, als eine Welt, die nicht geschlossen ist, sondern die über sich hinausweist (...) Die Wissenschaft sieht sich durch die erkenntnistheoretische, die physikalische und die konstruk­ tiv-mathematische Seite ihrer eigenen Methoden und Ergebnisse zugleich gezwungen, diese Lage anzuerkennen. Es muss hinzugefügt werden, dass die Wissenschaft nicht mehr tun kann, als diesen offenen Horizont aufzuzeigen; wir sollen nicht versuchen, durch Einbezie­

Albert Einstein, Mein Weltbild, Ullstein, Frankfurt a.M., 1956, S. 9v. Zu diesem Thema des Staunens siehe auch den Artikel von George Lengkeek, »Philosophising in wonder about natural science and technology«, in: Waardenwerk, Nr. 80 (April 2020), S. 122–142. Siehe auch das Buch von Willem Beekman, Openbaar geheim. Levensverhalen opgetekend door een bioloog (Öffentliches Geheimnis. Lebensgeschich­ ten, erzählt von einem Biologen), Christofoor, Zeist 2020. 55 Naturwissenschaft und Religion«, in Dürr, o.c., S. 75. 54

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hung des transzendenten Bereichs von neuem eine geschlossene (wenn auch umfassendere) Welt zu gestalten.«56

Spiritualität des täglichen Lebens Schließlich gibt es neben diesem spirituellen Moment der verschiede­ nen Bereiche des Daseins auch eine Spiritualität des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens. Wenn nämlich das gewöhnliche Leben einen goldenen Rand erhält, darauf ein wunderbarer Glanz fällt und es in seiner scheinbaren Einfachheit dennoch zu etwas ganz Besonderes wird. Dies geschieht, wenn man sein/ihr Neugeborenes zum ersten Mal in den Armen hält und das Wunder des neu entstehenden Lebens erlebt. Aber ebenfalls, wenn man sich in der Schönheit einer Blume am Wegesrand oder in den schönen Formen eines Kristalls verliert, wenn das Eintauchen der Aufmerksamkeit in sie fast zu »Andacht« wird. Oder wenn man bei einem Spaziergang in der Natur die »heilsame« Stille erlebt, die fast hörbar wird. Oder wenn man von Liebe überwältigt wird, aber es kann genausogut die tiefe Zuneigung oder Freundschaft sein, mit der ein anderer Mensch auf Sie zugeht. Es geht auch nicht um das Große und Überwältigende, obwohl das schon bald die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das Besondere kann nämlich sehr wohl im Kleinen aufscheinen; manche Auto­ ren machen es sozusagen zu ihrem Markenzeichen, wie der öster­ reichische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Adalbert Stifter. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht das, was er »das sanfte Gesetz« nennt: die ordnende Kraft, die hinter der Fassade der beobachtbaren Phänomene das Geschehen in Natur und Gesellschaft lenkt. Nicht das beeindruckende Gewitter oder der Sturm sind dann wichtig, sondern die im Stillen wirkende Kraft im Hintergrund. In dieser Hinsicht können ganz gewöhnliche Menschen zu Helden werden, z. B. Krankenschwestern auf einer Intensivstation mit schwerkranken Corona-Patienten, pflegende Angehörige, die bei Nacht und Nebel zur Hilfe bereit sind, Menschen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens einem Ertrinkenden nachspringen usw. In all diesen Fällen wird das Hermann Weyl, The Open World [!], zitiert in Sir Arthur Eddington, ›Die Natur­ wissenschaft auf neuen Bahnen‹, in: Hans-Peter Dürr (Hg.), Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, Scherz, Bern/München/Wien 1986, 121. 56

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Gewöhnliche plötzlich ganz speziell. Selbst beim Tod kann das noch der Fall sein, so dass Christiane Berkvens in ihrem bewegenden, sehr persönlichen Büchlein Und jetzt bin ich dran. Spiritualität des Sterbens,wie der Untertitel schon sagt, noch von einer Spiritualität des Sterbens57 sprechen kann.

57 Christiane Berkvens-Stevelinck, En nu ben ik aan de beurt. Spiritualitei van het sterven, Kok Boekencentrum, Utrecht 2018.

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Besinnung auf Hintergrundfragen Nun zur Philosophie. Das Problem dabei ist, dass es unter Philoso­ phen kaum eine kontroversere Frage gibt als die, was Philosophie ist und wofür sie steht. Das heißt, dass sowohl ihr Gegenstand (worum es in der Philosophie geht) als auch ihre Methode (was der richtige Weg ist, um sich diesem Gegenstand zu nähern) umstrittene Fragen sind. In gewisser Weise ist dies verständlich. Denn in den Wissenschaften, um sie zum Vorbild zu nehmen, herrscht in der Regel Einigkeit über beides, über die Definition des Fachgebiets und über die Methoden, die in diesem Gebiet anzuwenden sind. Diese Definition des Fachgebiets beruht in der Regel auf einer vorwissenschaftlichen, vom gesunden Menschenverstand geprägten Sicht der relevanten gemeinsamen Merkmale einer bestimmten Art von Phänomenen. Auf diese Weise ordnen wir die Vorgänge in der so genannten toten Natur als Objekt der Physik zu, die Tiere der Zoologie, die Zahlen der Arithmetik, die makrosozialen Vorgänge der Soziologie, und so weiter. Diese Übereinstimmung von Merkmalen eines bestimmten Typs wird in der Wissenschaft einfach vorausgesetzt, aber nicht weiter begründet. Sie beruht mit anderen Worten auf einer impliziten Entscheidung. Sobald jedoch eine solche weitere Explikation und Begründung versucht wird, sobald gefragt wird, was eine Zahl, was Leben, was Materie eigentlich ist, ist der Konsens Vergangenheit. Aber gerade mit solchen Fragen, die sich im Laufe des wis­ senschaftlichen Prozesses regelmäßig stellen und als Grundlagenfor­ schung der Wissenschaft bezeichnet werden, beschäftigt sich die Philosophie. Sie thematisiert damit das, was im alltäglichen und wis­ senschaftlichen Verständnis der Dinge den Horizont des Konsenses bildet. Aber indem sie die implizite Entscheidung hinter dem Konsens anspricht, bricht sie ihn. Philosophie ist also Reflexion und Diskus­ sion über Hintergrundfragen, mit denen der Konsens und die Ruhe in allen möglichen Bereichen (das kann neben der Wissenschaft auch die Politik, die Moral, die Kunst, die Religion etc. sein) durchbrochen

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wird. Für diese Überlegungen und Diskussionen, die sich naturgemäß auf einer anderen Ebene abspielen als die Ansichten und Argumente innerhalb dieser Bereiche, ist daher der gemeinsame Boden des Konsenses grundsätzlich verlassen worden. Die Philosophie verfügt also nicht über einen allgemein anerkannten Gegenstand und eine allgemein anerkannte Methode, mit der solche Hintergrundfragen geklärt werden können. Die Philosophie bringt mit anderen Worten die Grundlagenkrise in allen Lebensbereichen ans Licht, die latent immer schon vorhanden war, aber nur durch eine implizite Entschei­ dung des gesunden Menschenverstands abgedeckt wurde. Sie ist der Ausdruck einer Krise, die sie nun selbst institutionalisiert. Eine Randbemerkung: Diese in der Natur der Sache liegende »Unmethodik« der Philosophie (die eine strenge Argumentations­ linie jedoch keineswegs ausschließt) hängt unmittelbar mit ihrer Orientierung am Ganzen der Wirklichkeit zusammen. Eine Methode ist eine Vorgehensweise, die zu einer bestimmten Art von Phäno­ menen gehört. Deshalb verwenden verschiedene Wissenschaften, die sich mit unterschiedlichen Phänomenen befassen, unterschied­ liche Methoden. Aber, und das ist der springende Punkt, ihr For­ schungsgebiet ist immer ein Teilbereich der Wirklichkeit, den sie so eindeutig wie möglich zu verstehen versuchen. Die Philosophie hingegen ist als generalistische, auf Zusammenschau ausgerichtete Disziplin grundsätzlich mehrsinnig. Letztlich kann sie nicht anders, als diese (gesamte) Realität zu umkreisen und sie aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten. Dabei landet sie letztlich bei der Uner­ schöpflichkeit der Wahrheit und mündet damit in die Mystik, eine der Grundüberzeugungen auch dieses Buches. Ein niederländischer Den­ ker, dessen Werk aus immer neuen Variationen dieses Grundthemas besteht, ist Herman Berger (1924–2016). Aber um auf das Thema zurückzukommen, dass die Philosophie die Grundlagenkrise in allen Bereichen des Lebens manifest macht, warum, so könnte man fragen, macht sie auf diese Weise Schwierig­ keiten? Warum bringt sie den Dissens, der, wie gesagt, schon immer latent vorhanden war, an die Öffentlichkeit, durchbricht sie dadurch die Stabilität und Sicherheit in den verschiedenen Bereichen und stiftet so Unruhe und Instabilität? Nun, sie spielt auf diese Weise keineswegs ein Spiel, und ist auch nicht die eigentliche Ursache der Krise. Diese ergibt sich von Zeit zu Zeit von selbst in den verschie­ densten Bereichen. Die Philosophie ist nur das Bewusstsein und der Ausdruck davon, sie fasst die Krise nur in Worte und verschärft sie

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allerdings dabei. Sie versucht dann, eine möglichst geordnete Diskus­ sion der strittigen Fragen zu bewirken, ohne über eine eindeutige und allgemein akzeptierte Methode dafür zu verfügen und ohne zu einem neuen allgemein geteilten Konsens führen zu können. Bezogen auf das Thema dieses Buches ist die Religion (als traditioneller Ausdruck der Spiritualität) besonders einer der Berei­ che, in denen sich ein Krisenbewusstsein herausgebildet hat. Auch hier hat die Philosophie dieses Krisenbewusstsein nicht verursacht, sondern ist nun aufgefordert, sich damit zu befassen. Die Krise im religiösen Bereich ist mit anderen Worten eine Tatsache, die verschiedene Ursachen hat, von denen einige von außen kommen (der Einfluss der modernen Wissenschaft, aber auch einer neuen modernen Lebenseinstellung und Mentalität), aber sicherlich auch aus dem Inneren des religiösen Bereichs. Das Thema wird uns noch ausführlich beschäftigen. Mit dem Obigen haben wir eine erste Charakterisierung der Philosophie vor uns: Sie ist Besinnung auf Hintergrundfragen, letzte grundsätzliche Fragen, die sich von Zeit zu Zeit in den verschiedenen Lebensbereichen ergeben, die also die bisherigen Ansichten und Vorstellungen hinterfragen und mit Hilfe der dort gängigen Verfahren nicht mehr zu bewältigen sind. Philosophie ist, kurz gesagt, die zusammenfassende Bezeichnung für die Metareflexionen, mit denen versucht wird, die neu entstandenen Problemformen in den Griff zu bekommen und einen geordneten Diskurs für sie zu entwickeln. Eines der dazu benutzten Mittel ist die Analyse und Artikulation der kategorialen Rahmen oder begrifflichen Strukturen bzw. Denk­ schemata, innerhalb derer wir in den verschiedenen Bereichen denken und handeln. So sind die verschiedenen Wissenschaften ebenso viele Diskurse über bestimmte Bereiche der Wirklichkeit (tote oder leben­ dige Natur, der psychische Bereich, das Studium von Sprachen oder Kulturen usw.). Dasselbe gilt aber auch für juristische oder politische Systeme mit dazu gehörigen Ideennetzen, für künstlerische Stile oder literarische Gattungen wie Epik, Lyrik oder Dramatik58, usw. Weitere Aspekte der Philosophie, die ich zur Erörterung ihrer Beziehung zur Spiritualität heranziehen möchte, sind: ihr weltan­ schaulicher, ihr expressiver und ihr existentieller Charakter.

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Siehe zum Beispiel Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Atlantis, Zürich 19563.

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Kapitel 2 Die Philosophie

Philosophie: die weltanschauliche Dimension Wenn wir uns zunächst dem weltanschaulichen Aspekt der Philo­ sophie zuwenden, so geht es um die Frage, in welcher Art von Realität wir eigentlich leben. Diese Frage kann als Teil des ständigen Repertoires der Menschheit betrachtet werden. Nicht dass diese Frage ständig gestellt wird, zum Glück nicht. Denn Fragen haben immer einen Grund, warum sie gestellt werden, nicht zuletzt diese. In der Regel liegt es daran, dass die Menschen aus ihrer gewohnten Situation herausgerissen werden und sich nun verwundert oder sogar fassungslos fragen, was ihnen geschieht, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen. In solchen Situationen, wenn das normale Leben durch Krankheit, Tod, Krieg oder Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, anhaltende Dürre oder was auch immer unter­ brochen wird, beginnen sich die Menschen zu fragen, wie die Welt gebaut ist und funktioniert. Die Frage, in welcher Art von Realität wir eigentlich leben, ist in diesem Sinne ein Versuch, die eigene Situation in einer Welt zu klären, die ihr vertrautes Gesicht verloren hat. Lange Zeit, während des größ­ ten Teils der Menschheitsgeschichte, haben die Menschen versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden mit Hilfe von Mythen, heiligen Geschichten darüber, wie die Welt in einer Urzeit von Göttern und anderen höheren Wesen wie Kulturheroen geordnet wurde und wie das Unheil, das den Menschen widerfährt, durch Verstöße gegen diese von höheren Instanzen aufgestellte Ordnung zu erklären ist. Als jedoch im alten Griechenland und in verschiedenen anderen Teilen der Welt die mythische Sicht der Dinge ihre Glaubwürdigkeit verlor, mussten andere Antworten gefunden werden. Die Philosophie ist auch hier wiederum Ausdruck dieser Situation. Die Denker, mit denen nach allgemeiner Ansicht die griechische Philosophie anfängt und die als die jonischen Naturphilosophen bekannt sind, entwickelten auf die Frage, in welcher Art von Realität wir eigentlich leben, eine neue Sicht der Dinge. Anstatt hinter allen Ereignissen das Handeln von Göttern, Najaden, Nymphen usw. zu sehen, wie es in der mythi­ schen Perspektive der Fall ist, betrachteten sie es als das Ergebnis anonymer natürlicher Kräfte und Prozesse. So war die Sonne nicht länger der Himmelsgott Helios, der morgens in seinem Sonnenwa­ gen seine Fahrt über das Firmament antritt, sondern ein glühender

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Felsbrocken.59 Nach dieser Auffassung besteht alles aus Wasser, Feuer, Wind usw., also aus natürlichen Substanzen, aus denen sich die verschiedenen Konstellationen der Welt zusammensetzen. Die Menschen beginnen hier auf ganz andere Weise als in der mythischen Perspektive, sich umzusehen und sich in der Welt zu orientieren. Bei dieser Selbstorientierung spielt also die Frage, in welcher Art von Realität wir leben, eine zentrale Rolle. Auf diese Weise war die Philosophie immer auf der Suche nach dem Narrativ der Wirklichkeit. Dies ist der Fall, um nur einige herausuzugreifen, bei Platon, Aristoteles, den Stoikern, Plotinos, dem Vater der sehr einflussreichen neuplatonischen Tradition, Thomas von Aquin, Bonaventura und anderen mittelalterlichen Denkern, bei Leibniz, Kant, Schopenhauer, Hegel, Hartmann, Scheler und vielen anderen. Im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften, die sich alle auf bestimmte Arten von Phänomenen konzentrieren und sich inner­ halb ihres Fachgebiets immer mehr spezialisieren, ist die Philosophie also von Natur aus eine generalistische Disziplin. Sie ist, wie ich bereits sagte, von Natur aus auf Übersicht, Synopse, Zusammenhang, kurzum auf eine Gesamtschau ausgerichtet. Gerade auch in dieser Hinsicht befasst sie sich mit »letzten Fragen«, schon im Hinblick auf die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit (was ist Leben, Bewusst­ sein, Sozialität), dann aber vor allem im Hinblick auf die Wirklichkeit im Allgemeinen. Der Bereich der Philosophie, in dem diese Fragen behandelt werden, ist die Ontologie (Lehre vom Sein, von seinem Aufbau und seiner Funktionsweise) oder auch Metaphysik (wörtlich: Lehre von dem, was jenseits der sinnlich zugänglichen Wirklichkeit liegt): wiederum Philosophie als Metadisziplin also. Es mag sein, dass im Laufe der Philosophie (vor allem der modernen Philosophie) die Skepsis gegenüber der Möglichkeit dieser Wissensform ständig gewachsen ist.60 Dennoch drängen sich diese Fragen metaphysischer Natur weiterhin auf. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht die Position Kants. Seine theoretische Philosophie beschränkt die Möglichkeit der rationalen Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung und verneint damit prinzipiell die Möglichkeit einer metaphysischen, über die 59 Anaxagoras zum Beispiel behauptete, Sonne und Mond seien glühende Steinmas­ sen, eine Ansicht, die ihn zum ersten der griechischen Philosophen machte, der der »asebeia«, der Gottlosigkeit oder der Leugnung der Götter, angeklagt wurde. 60 Siehe Guido Vanheeswijck, Über das metaphysische Bedürfnis im Menschen, Deventer University Press, Deventer 2015.

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alltägliche Erfahrung hinausgehenden Erkenntnis (für die er über die Moral dann doch wieder Raum schafft). Gleichzeitig erkennt er aber auch an, dass wir nicht anders können, als diese »letzten Fragen« immer wieder zu stellen. Um ihn selber zu zitieren: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkennt­ nisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft aufgegeben, die sie aber auch nicht abweisen kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«61 Die Geschichte der menschlichen Selbstreflexion gibt Kant Recht, dass sich diese metaphysischen Fragen nicht unterdrücken lassen. Oder dass sie, wie schon bemerkt, zum festen Repertoire der Menschheit gehören. Und er scheint auch damit Recht zu haben, dass diese Fragen eigentlich den Aktionsradius unseres auf unmittelbare Vorstellbarkeit eingerichteten Erkenntnisvermögens überschreiten. Ich glaube jedoch, dass wir nicht so völlig ohne Mittel sind, um diese Fragen zu beantworten, wie er dachte. Wie wir später noch sehen werden, betreten wir damit einen Bereich, auf den von der anderen Seite her auch die Spiritualität sich richtet. Somit gäbe es bereits hier eine Querverbindung zwischen ihr und der Philosophie.

Der expressive Aspekt Ein weiterer Aspekt der Philosophie, der mir für ihr Verhältnis zur Spiritualität relevant erscheint, ist ihre expressive Seite. Philosophien drücken nämlich ein ›Mehr‹ an Ansichten aus (über die Realität, den Menschen, das menschliche Wissen, die Grundlagen der Moral, usw.) als sie explizit formulieren. In der Regel sind sich ihre Autoren dieses »Mehr« nicht klar bewusst, üben sie es implizit aus, und werden sich erst andere (meist Spätere) dessen bewusst. Philosophien sind, wie Hegel schon bemerkte, »ihre Zeit in Gedanken gefasst«, d.h. Ausdruck des geistigen Klimas einer bestimmten Zeit. Sie gehen also implizit von Annahmen aus, die zum damaligen Zeitpunkt so »selbstverständlich« waren, dass sie nicht explizit formuliert wurden und sogar nicht werden konnten. Kritik der reinen Vernunft, A, S. VII. Anstelle von Fragen, die »ihr (d.h. der menschlichen Vernunft) durch die Natur der Vernunft aufgegeben sind«, würde ich eher formulieren: durch das Leben selbst aufgegeben sind.

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So ist eine der großen Voraussetzungen zumindest des Haupt­ stroms der griechischen Philosophie, dass die Welt harmonisch geordnet ist. Bei Pythagoras, Platon und anderen ist sie auf einem mathematischen Muster von Beziehungen zwischen ganzen natür­ lichen Zahlen aufgebaut. Deshalb ist dies auch ein musikalisches Universum, in dem auf verschiedenen Ebenen musiziert wird: auf der Ebene der Instrumentalmusik (Laute usw.), dann auf der Ebene von uns Menschen als Lebewesen, die zwar nicht wahrgenommen wird, aber doch da ist, und schließlich auf der Ebene der himmli­ schen Sphären.62 In dieser Sichtweise bestimmt die Harmonie auch unser Denken: Unsere Erkenntnisfähigkeit beruht darauf, die Dinge nach ihrem inneren Wesen zu erkennen (und nicht nur nach ihrem wahrnehmbaren Äußeren). Bei Platon liegt das daran, dass unsere Seelen einmal in der höheren Welt der Ideen, den Urmodellen der verschiedenen Arten von Dingen, gewesen sind und sie dort in Reinkultur gesehen haben. Weil bei Aristoteles die Struktur des ratio­ nalen Denkens und die der Wirklichkeit wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen, die Ordnung des Denkens (der »Logos«) und die des Seins eine innere Affinität zueinander haben, kurz, weil Logik und Ontologie einander entsprechen oder sogar identisch sind.63 Es kann hier keine Rede sein von einem wirklichen Erkenntnisproblem (wie Erkenntnis überhaupt möglich ist), wie in der modernen Philosophie, wo die Korrespondenz von Denken und Sein aufgegeben wurde. In der Ethik und der darauf basierenden Pädagogik geht es ebenfalls um Gleichgewicht, Ordnung und Harmonie. Und bei den Stoikern, um es dabei zu belassen, geht es darum, unsere menschlichen Antriebe und Denkweisen mit der Ordnung des Universums in Einklang zu bringen. Diese Harmonie von Mikro- und Makrowelt (»Weisheit«) ist zwar auch aus ihrer Sicht ein seltenes Phänomen, aber sie ist im Prinzip möglich und damit das Ziel allen Denkens und Handelns. Alle diese Philosophien, so unterschiedlich sie auch sein mögen, beruhen kurzum auf gemeinsamen Grundsätzen.

Siehe dazu das wunderbare Buch des Musikjournalisten Jamie James The Music of the Spheres. Music, Science, and the Natural Order of the Universe, Abacus, Lon­ don 1995. 63 Vgl. z.B. Ernst von Aster, Geschichte der Philosophie, Kröner, Stuttgart 1956, 82: »Die Struktur des,Logos' und die des Seins müssen sich (…) entsprechen: die Logik ist zugleich,Ontologie' [Lehre vom Sein].« 62

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Eine ähnliche Geschichte ließe sich für Epochen wie die Blütezeit des Mittelalters, die Renaissance, die Aufklärung und andere erzäh­ len. Das Phänomen, dass Philosophen durch das Netzwerk ihrer Ideen und Argumente hindurch etwas ausstrahlen, was sie nicht explizit formulieren, gilt gleichermaßen für das Denken der verschiedenen Philosophen im Einzelnen. Eine bestimmte persönliche Einstellung zum Leben spiegelt sich dann in der Denkungsweise eines philoso­ phischen Gesamtwerkes wieder. Wie Fichte schreibt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«64 In diesem Licht gesehen hat Kants Philosophie insgesamt einen ausgesprochen »kühlen« Grundton65, Schelers Philosophie dagegen eine warme und stark emotionale Färbung. Nicht umsonst lehrt er den Vorrang der Liebe vor dem Wissen: Man kann nur etwas wirklich wissen, für das man eine tiefe Liebe empfunden hat, nicht umgekehrt, dass die Liebe dem Wissen folgt, ihm jedoch inhaltlich nichts hinzufügt (wie bei Thomas von Aquin und Kant).66 Genauso wie er eine Ethik, die ganz im Zeichen des Pflichtbegriffs steht, für eine ärmliche Angele­ genheit hält. Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Philosophie Spinozas, um uns dabei noch einen Moment aufzuhalten. Im Laufe der Jahrhun­ derte sind viele Menschen in den Bann dieser Philosophie geraten. Das ist eigentlich bemerkenswert, denn die Form, in der sie sich vor allem im Hauptwerk, der Ethik, präsentiert, ist nicht gerade einladend, da sie nach dem Vorbild eines Mathematiklehrbuchs verfasst ist. Dennoch übt die Philosophie Spinozas seit jeher eine große, fast magische Faszination auf so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Goethe, Romantiker wie Schlegel und Novalis, aber auch auf Hegel und sogar Nietzsche aus. Besonders gelobt wird dann die erhabene und heitere Atmosphäre, die sein Werk ausstrahlt.

J.G. Fichte, Sämtliche Werke (Hrsg. J.H. Fichte), I, 434. Jaspers, selber stark von Kant beeinflusst, bezeichnet Kants Philosophie als »von einer nicht zu überbietenden Kargheit«. Jaspers, Die großen Philosophen, Piper, München/Zürich 19813, 603. 66 Siehe zum Beispiel seinen Aufsatz ›Liebe und Erkenntnis‹, in der gleichnamigen Sammlung, Franke, Bern 19702. Aber diese Idee der Liebe durchdringt sein gan­ zes Werk. 64 65

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Das Bild, das er vom Universum entwirft, ist das eines geschlos­ senen Ganzen, in dem sich, wie Carl Vogl in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung der Ethik schreibt, alles »nach dem Zauber­ stab von Grund und Folge« bewegt67. All das ist durchdrungen von der göttlichen, in der Erkenntnis ruhenden Liebe, an der alles auf seine Weise teilhat. Bei Spinoza gibt es keinen mühsamen Aufbau eines Gedankensystems von unten nach oben, sondern den großen Griff, der alles von oben her überblickt und erklärt, und zwar von einem göttlichen Standpunkt aus, »unter dem Gesichtswinkel der Ewigkeit«, wie Spinoza es ausdrückt. Spinoza denkt nicht vom Endlichen zu einem möglichen Unendlichen, sondern vom Unendlichen oder Gott aus, von dem alles eine endliche Erscheinungsform ist. Er schreibt: »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.«68 Deshalb können wir auch ein sicheres und ange­ messenes Wissen über alles erlangen, weil unser endlicher Verstand ein endlicher Modus des unendlichen Verstandes Gottes ist, Gott also faktisch in uns denkt. Diese gesamte Philosophie wird daher vom Glanz einer göttli­ chen Realität beschienen, die durch ihren hochgestimmten Charakter die Menschen immer wieder verzaubert hat. Spinoza mag denn nicht an einen persönlichen Gott geglaubt haben, weshalb er oft als Atheist verschrieen ist. Aber ein Atheist im üblichen Sinne war er keineswegs; im Gegenteil, er wurde von denjenigen, die sich näher mit ihm befasst haben, sogar als »gotttrunkener Mensch« (Novalis) bezeichnet. Diese hohe, edle Grundstimmung, die von dieser ganzen Philosophie ausgeht, ist das, was Menschen ganz unterschiedlicher Zeitalter immer wieder berührt und was ich ihre expressive Wirkung nenne. Karl Jaspers, der in seinem Werk Die großen Philosophen69 eine glänzende Darstellung und Erkundung von Spinozas Denken gegeben hat, eine der besten, die ich kenne, schreibt ihm denn auch Chiffre-Charakter zu, den Charakter einer Geheimschrift, der uns ein Fenster zu einer rätselhaften und wundersamen Wirklichkeit öffnet, uns dahin gleichsam emporhebt. 67 Spinoza, Die Ethik (Deutsch von Carl Vogl), Kröner, Stuttgart 1948, S. XV. Vogl spricht auch von der »magischen Grundstimmung«, die Spinoza hervorruft und die auf jeden Leser einen unwiderstehlichen Reiz ausübt. 68 Ethik I, 15. 69 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Piper, München/Zürich 19813, Bd. I, 752–897.

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Eine solche Übung, ein philosophisches Denksystem auf das »Mehr« hin auszuloten, das es jenseits der expliziten Erklärungen ausstrahlt, ist meines Erachtens eine der interessantesten und auch konstruktivsten Arten des Umgangs mit der philosophischen Tradi­ tion. Sie dringt zu Dimensionen hinter der expliziten Argumentation vor, die, solange man sich auf sie beschränkt, außer Sichtweite blei­ ben. Auch in diesem expressiven Aspekt der Philosophie wird eine Schnittstelle zur Spiritualität sichtbar, wo es ebenfalls um ein »Mehr« in Bezug auf die gewöhnliche Alltagserfahrung geht.

Der existenzielle Aspekt Schließlich habe ich neben den beiden vorangegangenen Aspekten der Philosophie noch einen dritten erwähnt, der mir für ihre Bezie­ hung zur Spiritualität wichtig erscheint, nämlich den existenziellen Aspekt. Philosophie, habe ich gesagt, ist die Suche nach Lebensori­ entierung, wo die alten Orientierungsmittel ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. In der Philosophie geht es also nicht um distanziertes Wissen, das mir bei der Gestaltung meines Lebens wenig oder gar nichts nützt, sondern um Erkenntnisse, die mich persönlich betreffen, die ich mir innerlich angeeignet habe und die mir nun helfen, mein Leben von innen heraus zu gestalten. Daher der Name Philo-sophie, die Suche nach Einsichten, aus denen man leben kann. Betrachtet man die Geschichte der Philosophie, so stellt man fest, dass dieses existenzielle Moment eigentlich immer vorhanden ist, bei manchen Denkern ausgeprägter als bei anderen, aber es ist nie wirklich abwesend. So ist von der gesamten antiken Philosophie gesagt worden, und es spricht viel dafür, dass sie von der Suche nach dem Glück (der »eudemonia«)70, d.h. dem, was das Leben gelingen lässt, beherrscht ist. Das gilt für Sokrates, Aristoteles und die Stoiker ebenso wie für Epikur und seine Schule. Aber es ist nicht weniger das Thema von Spinoza, Montaigne und vielen anderen. Auch hier geht es also um »letzte Fragen« der menschlichen Existenz, um das, worum es im Leben letztlich geht. Eine solche Frage ist z. B. die nach dem Tod und was dann mit dem Menschen geschieht. Platons Dialog »Phaidon« ist der bewegende Bericht über eine boh­ 70

E. von Aster, a.a.O., S. 95.

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Kapitel 2 Die Philosophie

rende Diskussion zu diesem Thema. Oder es geht um die entschei­ dende Rolle, die Freundschaft und Liebe in der menschlichen Existenz spielen, damit diese ihr volles Potenzial entfalten kann. In Platons »Symposion« wird dieses Thema eindrucksvoll behandelt. Und seit Aristoteles' Abhandlung über die Freundschaft hat jeder bedeutende Philosoph eine Abhandlung zu diesem Thema verfasst, bis zur frühen Neuzeit71, in der diese Tradition bezeichnenderweise auftrocknet. Man könnte auch die Reflexion über die Selbstverantwortung für das eigene Verhalten erwähnen, wie es zum Beispiel bei Seneca der Fall ist, wenn er von seiner Gewohnheit erzählt, sich am Ende eines jeden Tages vor den Richterstuhl seines Gewissens zu stellen und Rechenschaft über sein Handeln abzulegen. Oder man könnte an die Frage denken, ob die Philosophie trösten kann, wie Boethius es in seiner Schrift Der Trost der Philosophie tut, als einen Unschuldigen im Kerker seufzend und wartend auf seine Hinrichtung. Immer handelt es sich hier um Fragen, die uns persönlich betreffen und die für unsere Lebenseinstellung von Bedeutung sind. Wenn in diesem Zusammenhang schon kühl-distanzierte »techni­ sche« Überlegungen angestellt werden – und davon gibt es viele, bei Platon, Aristoteles, den Stoikern (man denke an ihre Beiträge zur Logik) und vielen anderen –, so dienen sie der Klärung im Rahmen dieser letzten existenziellen Fragen. Wenn sie aus diesem Kontext herausgelöst und nun in einer verselbständigten Form praktiziert werden, was in der heutigen Zeit keine Seltenheit ist, dann scheint mir der Begriff »Philosophie« keine angemessene Bezeichnung dafür zu sein. Da Spiritualität für eine von einer Vision geleitete und verinner­ lichte Lebenseinstellung und -praxis steht, ergibt sich wieder ein Berührungspunkt mit einer Philosophie, die von einem existenziellen Moment geprägt ist. Soviel zu einem ersten Überblick über die beiden Schlüsselkon­ zepte dieses Buches.

71 Siehe zum Beispiel H.E.S. Woldring, Vriendschap door de eeuwen. Wijsgerige beschouwingen over vriendschap als gave en opgave (Freundschaft durch die Jahrhun­ derte hindurch. Philosophische Überlegungen zur Freundschaft als Geschenk und Auf­ gabe), Ambo, Baarn 1994.

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Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung

Nach diesen Vorüberlegungen wollen wir uns der ersten der beiden Hauptfragen zuwenden, die diesem Buch zugrunde liegen: Welche Haltung nimmt die Philosophie gegenüber dem Phänomen der Spiri­ tualität ein, wie interpretiert sie es? Sie nimmt dann, wie gesagt, die Spiritualität als gegeben hin (wie in allen anderen Fällen, wenn sie über Wissenschaft, Kunst, Politik, Recht, Moral usw. nachdenkt) und versucht, zu ihrem Kern vorzustoßen, zu dem, was sie »eigentlich« ist und was ihre Grundstruktur oder Tiefengrammatik bildet. Dies bedeutet keineswegs, dass die Philosophie das Phänomen, so wie es sich darbietet, unkritisch akzeptiert. Aber sie wird doch damit anfangen müssen, dafür aufgeschlossen zu sein und zu versuchen, es wohlwollend zu interpretieren. Die Philosophie erhebt ja den Anspruch, eine möglichst haltbare Erklärung für die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu bieten. Alle Philosophie ist letztlich Phänomenologie, Lehre der Erschei­ nungen, Deutung unserer Erfahrung. Ohne diese Bindung an die Erfahrung macht sie »keinen Sinn«, ist sie ein vielleicht interessantes, aber leeres Spiel mit Begriffen. Wenn Philosophie also der Versuch ist, unsere Erfahrung so umfassend wie möglich zu erkunden, dann muss sie ihren verschiedenen Varianten gerecht werden, auch denen der Spiritualität. Allzu oft wurden nämlich bestimmte Dimensionen dieser Erfahrung übersehen oder auf verzerrte Weise verstanden, und zwar im Sinne von Kategorien, die auf einige Formen der Erfahrung zutrafen, andere aber gleichschalteten, sie also nicht in ihrer Eigenart bestehen ließen. Immer wieder hat die Philosophie (und nicht nur sie, sondern z.B. auch die Kunst) diese defizitären Phänomene »retten« müssen, d.h. eine Sichtweise eröffnen müssen, die ihnen gerecht wird. Dies ist vielleicht die wichtigste Funktion der Philosophie: neue Fenster zu Typen von Phänomenen zu öffnen, die bisher verdrängt, ausgegrenzt oder nur in verzerrter Form zum Bewusstsein zugelassen worden waren. In diesem Sinne ist echte Philosophie rebellische Philosophie, die das Denken radikal aufrüttelt. Es wäre nicht die

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Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung

uninteressanteste Art und Weise, die Geschichte der philosophischen Tradition zu schreiben, sie unter dem Aspekt der immer wiederkeh­ renden Notwendigkeit zu betrachten, die Erfahrung neu zu beschaffen oder die blockierten Quellen authentischer Erfahrung freizulegen. Wie bereits angedeutet, beginnt all unser Kontakt mit der Reali­ tät mit der Erfahrung oder der Wahrnehmung. Sie ist unser einziger Brückenkopf in diese Realität. Eine Erfahrung ist auch immer aus ers­ ter Hand, sie ist in der ersten Person. Das gilt nicht zuletzt auch für die spirituelle Erfahrung. Wenn die Philosophie also versucht, Einblick in das Phänomen der Spiritualität zu gewinnen, muss sie damit begin­ nen, den Zeugnissen dieser Erfahrung zuzuhören. Ich werde eine Reihe von Beispielen anführen, die ziemlich willkürlich ausgewählt wurden, deren verbindendes Element jedoch das Bewusstsein eines »Mehr« in Bezug auf die Alltagserfahrung ist.

Zeugnisse Ich fange mit Pascals »Mémorial« an, dem Bericht über das nieder­ schmetternde Erlebnis, das er am Montag, dem 23. November 1654, von etwa halb elf abends bis etwa halb eins in der Nacht hatte – das handgeschriebene Blatt, das dieses Erlebnis beschreibt, wurde nach seinem Tod gefunden, eingenäht in seinen Mantel, so dass er es immer bei sich trug: »Feuer. ›Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs‹, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude. Friede. Gott Jesu Christi. (...) Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden. (...) Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude. (...) Ewig in Freude für einen Tag Übung auf Erden.«72 In dieselbe Richtung, nämlich des Bewusstseins einer »radikal anderen Wirklichkeit«, geht die Berufungsvision (die ebenfalls eine Erfahrung ausdrückt) des alttestamentlichen Propheten Jesaja (Jesaja 6,1f): »Im Todesjahr des Königs Usija, da sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen und die Säume seines Gewandes füllten den Tempel aus. Serafim standen über ihm. Sechs Flügel hatte jeder: Mit zwei Flügeln bedeckte er sein Gesicht, mit zwei bedeckte er 72 Blaise Pascal, Gedanken (Einleitung und Übersetzung von Ewald Wasmuth), Reclam, Stuttgart 1956, 15 (leicht geändert).

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Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung

seine Füße und mit zwei flog er. Und einer rief dem anderen zu und sagte: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit. Und es erbebten die Türzapfen in den Schwellen vor der Stimme des Rufenden und das Haus füllte sich mit Rauch. Da sagte ich: Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich, denn den König, den Herrn der Heerscharen haben meine Augen gesehen. Da flog einer der Seraphen zu mir und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Er berührte damit meinen Mund und sagte: Siehe, dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen und deine Schuld gesühnt«. Deshalb kann Jesaja nun die Botschaft Gottes an sein Volk überbringen. Diese Berufungsvision des Jesaja inspirierte Vondel (wohl als der Prinz der niederländischen Dichter bezeichnet) eindeutig zu seiner Engelsang in seiner Tragödie »Luzifer«: Wer ist es, der so hoch gesessen, So tief im gründelosen Licht, Von Ewigkeiten ungemessen! (...) Wer ist es? Nennt, beschreibt Ihn mir Mit einer Seraphinen Feder. (...) GOTT ists! Unendlich, ewig Wesen Von allem, was da west und webt (...) Dein Wesen muss uns unterhalten. Erhebt die Gottheit: Singt ihr Ehr. Heilig, heilig, nochmals heilig, Drieimal heilig, Ehr sei Gott!73

Ein weiteres Beispiel einer solchen Grenzerfahrung findet sich in der Autobiografie von Bede Griffiths: »Eines Tages, während meines letzten Semesters, ging ich nachts allein spazieren und hörte die Vögel im Chor und in voller Lautstärke singen, wie sie es zu dieser Jahreszeit nur bei Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang tun. Ich erinnere mich noch gut an den Schock, mit dem dieser Gesang meine Ohren erreichte. Es war, als hätte ich die Vögel noch nie zuvor singen gehört, und ich fragte mich, ob sie das ganze Jahr über so singen, ohne dass ich es je bemerkte. Als ich weiterging, sah ich einige Weißdorne in voller Blüte, und wieder dachte ich, dass ich so etwas noch nie 73 In der Übertragung von Rudolf Otto, Das Heilige, Trewendt und Granier, Breslau 19216, 216ff.

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gesehen hatte und dass ich noch nie einen so wunderbaren Duft gerochen hatte. Wenn ich plötzlich zwischen den Bäumen des Gartens Eden hingesetzt worden wäre und einen Chor von Engeln hätte singen hören, wäre ich nicht stärker überrascht gewesen. Dann kam ich zu der Stelle, an der die Sonne über dem Sportplatz unterging. Plötzlich stieg eine Lerche neben dem Baum auf, wo ich stand, sang ihr Lied über meinem Kopf und kam dann, immer noch singend, herunter, um sich auszuruhen. Dann wurde alles still – der Sonnenuntergang verblasste und der Schleier der Dämmerung begann sich über die Erde zu legen. Ich erinnere mich jetzt an das Gefühl der Ehrfurcht, das mich erschütterte. Ich neigte dazu, mich niederzuknien, als wäre ich in der Gegenwart eines Engels, und ich wagte es kaum, in den Himmel zu schauen, als trennte mich nur ein Schleier vom Antlitz Gottes.«74 Ein ähnliches Beispiel für eine plötzliche Veränderung des Blicks auf die Wirklichkeit, fast eine Art Entrückung, findet sich bei Vaclav Havel: »Ich erinnere mich wieder an jenen Moment, der lange zurück­ liegt, als ich an einem warmen, wolkenlosen Sommertag im Gefängnis von Hermanice auf einem Haufen alten Rosts saß und die Krone eines riesigen Baumes betrachtete, der sich in würdevollem Frieden über all die Zäune, Stacheldrähte, Gitter und Wachtürme erhob, die mich von ihm trennten. Während ich das kaum wahrnehmbare Zittern der Blätter vor dem unendlichen Himmel beobachtete, überkam mich ein schwer zu beschreibendes Gefühl: Plötzlich schien ich mich über die Koordinaten meiner momentanen Existenz in der Welt zu erheben und in einen Zustand außerhalb der Zeit zu gelangen, in dem all die schönen Dinge, die ich je gesehen und erlebt hatte, in einer totalen »Gegenwart« existierten; ich erlebte ein Gefühl der Versöhnung, ja eine fast freundliche Akzeptanz des unvermeidlichen Laufs der Ereignisse, wie sie sich mir nun offenbarten, zusammen mit einer unbekümmerten Entschlossenheit, sich dem zu stellen, wozu man sich stellen musste. Eine tiefe Verwirrung über die Souveränität des Seins verwandelte sich in ein schwindelerregendes Gefühl des unendlichen Sturzes in den Abgrund seines Geheimnisses, in eine unbändige Freude, weil ich lebte, weil mir die Chance gegeben wurde, all das zu erleben, was ich erlebt habe, und weil alles einen tiefen und klaren Sinn hat – diese Freude ging in mir eine seltsame Ver­ 74 Bede Griffiths, The Golden String (Die goldene Schnur), S. 9, zitiert in Charles Tay­ lor, A Secular Age, Harvard University Press, Cambridge, Mass., 2007, S. 46 (eigene Übers.).

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bindung ein mit einem vagen Entsetzen über die Unbegreiflichkeit und Unerreichbarkeit von allem, dem ich in diesem Moment so nahe war, jetzt, da ich mich am »Rand des Unendlichen« befand. Ich war überwältigt von einem Gefühl eines äußersten Glücks und einer letztendlichen Harmonie mit der Welt und mit mir selbst, einer Harmonie mit diesem Moment, mit allen Momenten, an die ich mich erinnern konnte, und mit all dem Unsichtbaren, das dahinter liegt und Bedeutung hat. Ich könnte sogar sagen, dass ich ›von Liebe getroffen‹ war, obwohl ich nicht genau wusste, für wen oder für was.«75 Die obigen Erfahrungen zeigen bereits, dass das Bewusstsein des »Mehr« in sehr unterschiedliche Formen gekleidet sein kann: einerseits eines Gefühls, einer »anderen«, erhabenen und überwälti­ genden Wirklichkeit gegenüberzustehen, die uns unsere Kleinheit zutiefst bewusst macht; andererseits eben des Gefühls einer, wie Havel schreibt, »letztendlichen Harmonie« mit und einer innigen Affinität und Verbindung zu dieser tieferen Wirklichkeit. Siehe zum Beispiel eine Passage aus den Memoiren der deut­ schen Schriftstellerin Malwida von Meysenburg: »Ich war allein am Strand, als all diese Gedanken, befreiend und versöhnend, meinen Geist überfluteten; und auch jetzt, genau wie damals, in den Alpen der Dauphiné, fühlte ich mich gedrängt, niederzuknien, diesmal vor dem grenzenlosen Ozean, dem Symbol der Unendlichkeit. Ich spürte, dass ich betete wie nie zuvor, und ich wusste nun, was das Gebet wirklich ist: eine Rückkehr aus der Einsamkeit des Individuums in das Bewusstsein der Einheit mit allem, was ist, ein Niederknien als vergängliches menschliches Wesen und ein Aufstehen als eines, das unvergänglich ist. Erde, Himmel und Meer erklangen wie in einer einzigen weltweiten Harmonie.«76 Dieses kosmische Bewusstsein, wie es genannt wird, spricht auch aus dem Zeugnis von J. Trevor: »Eines schönen Sonntagmorgens ging meine Frau mit den Jungen in die Unitarian Chapel in Macclesfield. Es war mir unmöglich, sie zu begleiten, als wäre es ein geistiger Selbstmord, sich in diesem Moment von der Sonne auf den Hügeln zu entfernen. Und ich brauchte dringend neue Inspiration und eine neue Erweiterung in meinem Leben. Also ließ ich meine Frau und die Jungs hinunter in die Stadt gehen, während ich mit meinem Stock und meinem Hund weiter Vaclav Havel, Briefe an Olga, zitiert in Taylor, a.a.O., S. 949f. Zitiert in William James, Variants of Religious Experience, Mentor Books, New York 1958, 262f. 75

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in die Berge ging. Die Schönheit des Morgens und die Schönheit der Hügel ließen meine Gefühle der Traurigkeit und des Bedauerns schnell verschwinden. Fast eine Stunde lang lief ich die Straße entlang bis zum ›Cat and Fiddle‹ und kehrte dann um. Auf dem Rückweg fühlte ich plötzlich und ohne Vorwarnung, dass ich mich im Himmel befand – ein innerer Zustand von Frieden und Freude und unbeschreiblich intensiver Geborgenheit, begleitet von einem Gefühl, in eine warme Glut getaucht zu sein, als ob der äußere Zustand das innere Ergebnis hervorgebracht hätte – ein Gefühl, aus dem Körper herausgetreten zu sein, obwohl die Landschaft um mich herum heller und näher schien als zuvor, dank des Lichts, in dessen Mitte ich mich zu befinden schien. Dieses tiefe Gefühl hielt, wenn auch mit abnehmender Stärke, bis zu meiner Heimkehr und noch einige Zeit danach an, um dann allmählich abzuflauen.«77 Aus einem Interview mit Jeroen Windmeijer, Verfasser u. a. von Die Verschwörung der Pilgerväter, einem erfolgreichen religiösen Thriller: »Ich bin nicht mehr gläubig, aber ich interessiere mich immer noch für Religion. Ich bin katholisch erzogen worden, fand die Messe aber sehr langweilig, man ist eher Zuschauer als Teilnehmer. Als ich sechzehn war, habe ich aufgehört, hinzugehen. Später, in meiner Stu­ dienzeit, fuhr ich an einem schönen Tag mit dem Fahrrad durch den Wald. Plötzlich begann ich unkontrolliert zu weinen, und gleichzeitig war ich glücklicher als je zuvor. Ich habe das sofort als ein Gotteser­ lebnis erklärt.« (Tageszeitung Trouw, 22–2–2019, De Verdieping, S. 9). Schon aus dieser begrenzten Auswahl von Erfahrungsberichten über Grenzsituationen (wie sie auch explizit erlebt werden) wird deutlich, wie breit und vielfältig das Spektrum davon ist. Es reicht von erdrückenden und beunruhigenden Erfahrungen der Distanz zu einer erhabenen und »heiligen«, numinosen Realität bis hin zu einer tiefen und harmonischen Verbindung mit ihr. Zwischen den höheren Spitzen dieser spirituellen Landschaft liegt eine Vielzahl von niedrigeren Gipfeln, von einerseits einem Gefühl der Kleinheit und Verlorenheit angesichts einer ehrfurchtgebietenden »erhabenen« Realität bis anderseits hin zu Erfahrungen des Eingebundenseins in eine allumfassende Realität und der Nähe zum Göttlichen. So drückt es die Dichterin Jacqueline van der Waals im letzten Vers 77

Zitiert in James, a.w., 263.

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Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung

ihres Gedichts ›Seit ich es weiß [dass sie Krebs hat und bald sterben wird]‹ aus: Seit ich das weiß, ist Gott mir näher Und oft, in der Ernsthaftigkeit des irdischen Spiels verloren, So ernst und tiefgründig wie immer, spüre ich plötzlich Gottes Lächeln auf mir.78

Es kann aber auch spielerisch ausgedrückt werden, wie von dem friesischen Dichter Pieter Jelles Troelstra (auch Vorsitzender der Sozi­ aldemokratischen Arbeiterpartei) in seinem Gedicht ›Snein‹ (friesisch für Sonntag): Snein, ’t is snein!

Sonntag, es ist Sonntag!

Lokjend rûst har lûd oer ’e wrâld;

Lockend rauscht ihr Klang über die Welt;

No, myn freon, sille ús wegen skiede:

Nun, mein Freund, trennen sich unsere Wege:

Do nei tsjerke – ik yn ’t griene wâld

Du zur Kirche – ich in den grünen Wald

Mar al wykt dyn paad fan minen, Aber wenn auch dein Weg ein anderer ist als der meinige, Op ien doel dochs geane wy oan: Auf ein Ziel gehen wir zu: Ik fûn it Ivge yn gerûs fan’e winen, Ich fand das Ewige im Rauschen der Winde Do sikest d’ Ivge yn ’e oargeltoan. Du suchst den Ewigen im Orgelklang. Auch hier wird auf verschiedenen Wegen, am Sonntag, Hinweis auf einen besonderen, nicht-wöchentlichen Tag, etwas Nicht-Alltägliches gesucht, das als »das Ewige« oder »den Ewigen« bezeichnet wird, d.h. eine Person oder eine Instanz, die einer anderen Sphäre als der der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit angehört. Für Erfahrungen spiritueller Art können wir auch auf Zeugnisse aus Kapitel 1 zurückgreifen. Zum Beispiel auf Erik Heijermans Aus­ sage, dass wir so sehr in der Musik aufgehen können, dass so etwas wie Jacqueline E. van der Waals, Laatste verzen (Letzte Gedichte), De Waelburgh, Blaricum 1922.

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Kapitel 3 Philosophie als Phänomenologie der Erfahrung

ein Identitätswechsel stattfindet, wir über uns selbst hinausgehoben und Teil einer über uns hinausgehenden Wirklichkeit werden. Ein Erlebnis, das er als Transzendenzerfahrung bezeichnet. Man beachte, dass er dabei in der ersten Person spricht, es sich also um eine sehr spezifische Form der Erfahrung handelt, um etwas, was einen tief berührt. Dasselbe gilt für Marcel Worms' Aussage, dass Bachs Musik für ihn »von göttlicher Schönheit« ist und dass er, wenn er Bach spielt, zum Gläubigen wird, obwohl er nicht weiß, woran. Oder für Maria Pfirrmanns durch eigene Erfahrung gefärbte Feststellung, dass man sich sozusagen in den Himmel hinein singen kann. Auch verbirgt sich hinter den wiederholten Aussagen, dass die Musik ein Medium ist, in dem Erfahrungen ausgedrückt werden, für die die gewöhnliche Sprache »zu klein« und arm ist, zweifelsohne eine eigene unmittelbare Erfahrung. Aber im Grunde genommen gilt das Gleiche für alles, was in Kapitel 1 über Kunst, Literatur, Wissenschaft und Alltag gesagt wurde. Immer geht es um das Aufscheinen besonderer Dimensionen und Potenzen der Wirklichkeit, die dem Leben Glanz und Wärme verleihen und von einem tiefen Staunen und einer intensiven Freude begleitet werden, wie immer wieder zu hören ist. Dies ist, in einer ersten Darstellung, sozusagen das »Erfahrungs­ material«, vor das sich die Philosophie gestellt sieht, zu versuchen, davon eine Erklärung zu geben und das Grundmuster zu bestimmen.

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Kapitel 4 Kategoriale Analyse

Eine der Funktionen der Philosophie ist, wie bereits erwähnt, die Analyse und Artikulation der kategorialen Rahmen oder begrifflichen Strukturen bzw. Denkschemata, innerhalb derer wir in den verschie­ denen Bereichen denken und handeln. Immer sind es also MetaBetrachtungen, Formen der Reflexion, mit denen wir versuchen, die Tiefengrammatik einer bestimmten Provinz unseres Denkens und Handelns zu klären. In Bezug auf das Strafrecht versuchen wir beispielsweise zu verstehen, was Strafe eigentlich ist, was wir mit ihr bezwecken (Vergeltung, Sicherheit der Gesellschaft, Resozialisierung usw., die so genannten Strafziele), und wir verwenden und definieren dabei Begriffe wie Schuld, Handlungsfähigkeit, Verantwortung und Rechenschaftspflicht. Nicht zuletzt versuchen wir auch, die oft mehr oder weniger impliziten Annahmen sichtbar zu machen, die dabei ins Spiel kommen, wie bestimmte Mensch- und Gesellschaftauffassun­ gen und die damit verbundenen Werte und Normen. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist die Philosophie die Rekon­ struktion der Grundlagen eines Diskurses über einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit: ein Wissenschaftsgebiet (wie Mathematik oder Geschichte), eine Regierungsform (Demokratie), eine Institu­ tion (Geld), eine Praxis (Medizin), ein Kunststil usw. Die Philosophie, nochmals, operiert dabei vom Standpunkt eines Beobachters, nimmt das Phänomen als gegeben hin und versucht, sein Wesen zu bestim­ men, betritt aber selbst nicht das Spielfeld und engagiert sich nicht an die fragliche Sache. Sie tut dies dann auch mit den Phänomenen Religion, Religio­ sität und Spiritualität. Die Frage ist dann also, was ihre wesentli­ chen Merkmale oder konstitutiven Eigenschaften sind. Das heißt, die Merkmale, die den Phänomenen nicht äußerlich anhaften, also nicht weggedacht werden können, ohne sich als diese besonderen Phänomene zu verflüchtigen, im Gegensatz zu den zusätzlichen nichtwesentlichen Merkmalen, wo dies wohl der Fall ist. Aus den bereits erwähnten Zeugnissen religiöser oder spiritu­ eller Erfahrungen sowie aus den bereits erwähnten Quellen der

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Spiritualität tritt eine Reihe von Begriffen hervor, die wesentliche Merkmale des religiösen oder spirituellen Phänomens bezeichnen. Ich will einige aufzählen, die alle eine bemerkenswerte gegenseitige Verwandtschaft aufweisen: das ganz Andere, Heilige oder Sakrale, Göttliche, Numinose, Höhere, Erhabene, Ehrfurcht gebietende, Abso­ lute, Letztendliche (›ultimate reality‹), Unendliche, Ewige, Unver­ gängliche, Unbedingte, Unvergleichliche, Unersetzliche, Geheimnis­ volle, Unaussprechliche und Transzendente, um es dabei bewenden zu lassen. Immer handelt es sich um eine Erfahrung dessen, was über unsere »gewöhnliche«, endliche, kontingente und vergängliche Realität hinausgeht und in uns ein Gefühl der Kleinheit und Demut hervorruft. Aber gleichzeitig gibt es uns das Gefühl, zu einer höheren Wirklichkeit emporgehoben oder von ihr umspült zu sein, in die »eine weltweite Harmonie« einbezogen zu sein, um Malwida von Meysenburg zu zitieren. Wobei, wie bereits erwähnt, immer wieder festgestellt wird, dass diese Erfahrung von einem intensiven Gefühl der Freude und des Glücks begleitet wird.

Das Heilige Ich möchte nun auf einige der genannten Konzepte eingehen. Erstens, die Idee des Sakralen. Ich fange mit der Stellung an, die sie in der Religion als dem (zumindest dem Anschein nach) am klarsten definierten Phänomen im Vergleich zu Religiosität und Spiritualität einnimmt, um dann auf die beiden letzteren hinzuzuarbeiten. Viele Religionswissenschaftler halten das Heilige für die zentrale Kategorie des religiösen Bereichs, so wie die Wahrheit das für den kognitiven Bereich (einschließlich der Wissenschaft), die Schönheit für die Kunst und das Gute für die Moral ist. Dies weist unmittelbar darauf hin, dass die Religion ein eigenständiges und unherleitbares Phänomen mit eigenen Merkmalen ist. Dieser Nachdruck auf das Heilige als Leitbegriff geht so weit, dass es die Religion mehr bestimmt als der Gottesbegriff.79 So zum Beispiel Nathan Söderblom in seinem bahnbrechenden Buch Das Werden des Gottesglaubens. Untersuchungen über die Anfänge der Religion, Hinrichs, Leipzig 1926 und Rudolf Otto in seinem vielfach nachgedruckten Buch Das Heilige, Breslau 19216. Siehe auch Van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Mohr, Tübingen 19562,, 103: »Gott ist ein Spätling in der Religionsgeschichte«. 79

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Der Begriff »heilig« geht auf das germanische Wort »heiligaz« zurück, was so viel wie »besonders«, »getrennt« bedeutet. Das Heilige ist also die Bezeichnung für einen Wirklichkeitsbereich ganz beson­ derer Art, der von der »gewöhnlichen« Wirklichkeit, die als profan bezeichnet wird, getrennt ist (von lateinisch pro = vor und fanum = Bereich). Das Profane liegt also vor oder außerhalb des Bereichs, der als heilig gilt. Der lateinische Terminus für »heilig« ist »sanctus«, von »sancire«: umgrenzen, einfassen, also den heiligen Bereich. In die gleiche Richtung geht das hebräische »quadosj«, das von dem Verbalstamm qdsj, »trennen«, »absondern«, abgeleitet ist. Es handelt sich also stets um einen abgegrenzten Bereich der Rea­ lität, in dem es anders als außerhalb hergeht, in dem andere Regeln gelten. So wird von Mose erzählt, dass er beim Hüten seiner Herde einen brennenden Busch sah, der nicht vom Feuer verzehrt wurde. Als er sich dieses bemerkenswerte Phänomen näher ansehen will, ertönt eine Stimme aus dem Busch, die ihm sagt, er solle seine Sandalen aus­ ziehen, »denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden« (Ex. 3,5). Und dieser Brauch ist immer noch intakt, zum Beispiel, wenn Muslime die Moschee betreten. Analoge Bräuche sind das Abnehmen des Hutes oder der Mütze, wenn man betet oder ein Trauerzug vorbeikommt, das Aufstehen, wenn die Nationalhymne gespielt wird, das Salutieren vor der Fahne usw. Man geht dann zu einem anderen Verhalten über als beim gewöhnlichen Gang der Dinge, mit Verhaltensweisen, aus denen eine besondere Achtung und Wertschätzung (›awe') spricht. Heilig ist, kurz gesagt, die Bezeichnung für etwas, mit dem man umsichtig und respektvoll umgehen muss. In dieser Linie sprechen wir von heiligen Personen, Orten, Zeiten, Büchern, Ritualen usw., die eine ganz besondere Stellung einnehmen und eine andere Behandlung erfordern als »gewöhnliche«, profane Personen oder Dinge. In unserer modernen, auf das Gewöhnliche und Alltägliche ausgerichteten Kultur ist das Heilige einem starken Verschleißprozess unterworfen, einem Prozess der ständigen Entsakralisierung und Pragmatisierung. Die jüdisch-christliche Religion hat dabei übrigens eine wichtige Rolle gespielt. In den meisten Religionen besitzen aller­ lei Arten von Naturphänomenen eine Qualität von Heiligkeit: Berge, Flüsse, Bäume, Tiere usw. In seiner berühmten Rede sagt Häuptling Seattle zum Beispiel: »Jeder Teil dieses Landes ist meinem Volk heilig. Jede Fichte, die in der Sonne glänzt, jeder Sandstrand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jeder offene Platz, jede summende Biene ist in den Gedanken und Erinnerungen meines Volkes heilig.« Und wir

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haben schon Schiller in seinem Gedicht »Die Götter Griechenlands« sagen hören, daß für das griechische Bewußtsein Quellen, Bäche, Bäume, Hügel, Felder, Schilf, Sonne, Wind usw. eine Wohnstätte der Götter und anderer göttlicher Gestalten waren und von ihrer Gegenwart zeugten. Demgegenüber hat in der jüdisch-christlichen Religion ein fort­ schreitender Prozess der Entzauberung und Entsakralisierung der Wirklichkeit stattgefunden. Das Predigen der alttestamentlichen Propheten wie Elia, Jesaja, Jeremia und anderer richtete sich stark gegen die Naturreligionen, in denen das Heilige in einer Vielzahl von Naturphänomenen erscheint und in dieser Form verehrt wird. Dagegen zieht sich das Heilige vor allem in den späteren Teilen des Alten Testaments immer mehr auf einen transzendenten, in der Höhe thronenden Gott zurück, gegenüber dem die Wirklichkeit der Natur und des Menschen immer unbedeutender wird: »Siehe, die Nationen sind wie ein Tropfen am Eimer, sie gelten wie ein Stäubchen auf der Waage. Ganze Inseln wiegen nicht mehr als ein Sandkorn (...) Alle Nationen sind vor Gott wie ein Nichts, für ihn sind sie wertlos und nichtig. Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Bild ihm gegenüberstellen?« (Jesaja 40, 15–18) Hier haben wir eine der Wurzeln des Prozesses der Desakralisation und Entzauberung der Welt vor uns, der über das Christentum die westliche Sicht der Dinge stark geprägt hat. Eine ähnliche Entwicklung hat bei der anderen Quelle der europäischen Kultur stattgefunden, nämlich der antiken griechischen Zivilisation. Ihre Entwicklung wurde mal als eine Bewegung »vom Mythos zum Logos« charakterisiert80, weg von einer Sicht der Wirk­ lichkeit, in der alles von der Gegenwart des Göttlichen zeugte (siehe Schillers Schilderung), hin zu einer Sicht der Dinge, in der alles eine Manifestation natürlicher Dinge wie Wasser, Luft oder Feuer ist. In diesem Sinne konnte ein Philosoph wie Anaxagoras, wie erwähnt, auch behaupten, Sonne und Mond seien glühende Steinmassen anstatt Offenbarungen des Sonnengottes oder der Mondgöttin, eine Ansicht, die ihn zum ersten der griechischen Philosophen machte, der der »asebeia«, d. h. der Unfrömmigkeit oder Gottlosigkeit, beschul­ digt wurde. So kam es auch bei diesem Erblasser der europäischen

80 Siehe Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechi­ schen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Scientia, Aalen 19662.

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Kultur zu einem Prozess der Entzauberung und Entsakralisierung der Wirklichkeit, der diese Kultur nachhaltig geprägt hat. Dennoch ist die Vorstellung vom Heiligen als etwas Unantast­ barem, mit dem nicht gefeilscht werden kann, auch uns modernen Menschen keineswegs fremd. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass nicht alles in Geld ausgedrückt werden kann, wofür wir den Begriff des inneren Wertes geprägt haben, d. h. eines Wertes, den die Sache an sich besitzt und der nicht als von außen bestimmter Preis zugewiesen wird. Einen solchen Eigenwert bzw. eine solche Würde besitzt nach breit geteilter Auffassung die menschliche Person.81 Unsere politisch-gesellschaftlichen Systeme beruhen letztlich auf der Achtung dieser Menschenwürde, wie das deutsche Grundgesetz in Artikel 1 ausdrücklich statuiert: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Und weiter: »Das deutsche Volk bekennt sich darum (!) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« Der gesamte Katalog der Menschenund Grundrechte, der dann folgt, ist folglich die Operationalisierung dieses Grundgedankens für alle möglichen unterschiedlichen Situa­ tionen. Personen sind mit anderen Worten Wesen, in Bezug zu denen viele Formen der Behandlung tabu sind, weil sie einen Eingriff in ihr grundsätzlich unantastbares Personsein bilden. (Als ob wir das Phänomen des Tabus nicht kennen würden!). Diese Würde oder Unantastbarkeit der Person, die es zu respektieren gilt, wird dann in der Philosophie von Levinas durch die Konfrontation mit dem nackten, verletzlichen Gesicht des Anderen auf besondere Weise thematisiert. Die breitere Anerkennung der Position von Levinas bedeutet, dass sich viele Menschen in seinem Denken wiedererken­ nen. Dasselbe Motiv, dass das Gesicht des Anderen ein Gefühl von etwas Unantastbarem hervorruft, bildet auch den Wendepunkt in Schillers Tragödie »Die Jungfrau von Orleans« (Jeanne d'Arc). Als sie in einer Schlacht den Hauptmann der englischen Armee verfolgt, ihn an seinem Helmbusch packt und nach hinten zieht, fällt sein Visier zurück und blickt sie ihm ins Gesicht. In diesem Moment verwandelt

81 So schon der römische stoische Philosoph Seneca: »Homo res sacra homini«, der Mensch ist dem Menschen etwas Heiliges. Briefe an Lucilius, Brief 45, Abs. 33.

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er sich von einem Feind in einen Mitmenschen, und kann sie ihn nicht mehr töten82. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele für die Unantastbar­ keit bestimmter Dinge anführen, Dinge, mit denen also nicht nach Belieben umgegangen werden kann, sondern die ein vorsichtiges und sparsames Vorgehen erfordern. Man denke zum Beispiel an Albert Schweitzers Grundsatz der Ehrfurcht vor allem Lebendigen. Er stützt sich dabei auf die Erkenntnis, »dass ich Leben bin, das leben will, inmitten von Leben, das leben will«.83 Wunderschön ausgedrückt in Goethes Gedicht »Gefunden«, in dem er beschreibt, wie er in den Wald geht und an einem schattigen Platz eine Blume sieht, »wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön«. »Ich wollt' es brechen, Da sagt' es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?«

Worauf der Dichter es mit Wurzeln und allem ausgräbt, es mit nach Hause nimmt und es dort an einem ruhigen Ort wieder pflanzt: »Nun zweigt es immer Und blüht so fort.«

Lebewesen haben in dieser Sichtweise einen Selbstcharakter, sie »wol­ len« etwas und werden so als »Gegenüber« erfahren (nicht zufällig wird die Blume sprechend eingeführt), das ein Gut in und von sich selbst verkörpert und uns auffordert, das anzuerkennen. Das Heilige hat viele Gesichter, von denen einige bereits oben zur Sprache gebracht wurden. Es kann in Form von nicht verhandelbaren Grundsätzen auftreten, die sich einer pragmatischen Interessenabwä­ gung entziehen. Es handelt sich dann um Dinge, die wir wirklich ernst nehmen und für die wir einstehen (»Hier stehe ich, ich kann nicht anders...«), bei denen keine Zugeständnisse gemacht werden können. Wenn die Moderne das totale Regime des Nutzens wäre, wenn alles käuflich wäre, dann waren wir also nie (vollständig) modern. Wir alle haben Dinge, die uns heilig sind. So behandeln wir Das Gleiche kann auch einem Tier passieren, denken Sie zum Beispiel an das Lied: »Zwei Rehaugen, sie sahen den Jäger an, zwei Rehaugen, die er nicht vergessen kann.« Es sind die Augen eines scheuen Rehs, die ihn an die Augen seiner Geliebten erinnern, so dass er nicht schießen kann. 83 Aus meinem Leben und Denken, Stuttgarter Hausbücherei, Stuttgart o.J., S. 153. 82

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beispielsweise den toten Körper unserer Lieben nicht als Gegenstand oder Kadaver, den wir einfach entsorgen, sondern wir geben ihm ein respektvolles Begräbnis und kümmern uns anschließend oft um das Grab, in dem wir ihn zur Ruhe gelegt haben, eine biologisch und auch sonst vom Nutzen her völlig sinnlose Praxis. Ein weiteres Beispiel ist die französische »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, die unmittelbar nach der Revolution von 1789 verkündet wurde und in der es heißt, dass das Eigentum »heilig und unverletzlich« ist. Das Menschleben kann, so scheint es, nicht vollwertig gelebt werden, ohne sich an heiligen Baken zu orientieren. Selbst Camus, der so sehr von der Absurdität des Daseins84 durchdrungen war, äußert eine Sehnsucht nach »etwas Heiligem ohne Gott«.

Transzendenz Ein weiterer Begriff, der im Zusammenhang mit der religiösen Wahr­ nehmung der Wirklichkeit immer wieder auftaucht, ist der der Trans­ zendenz oder des Transzendenten. Wie das Wort schon sagt85, geht es um eine Realität oder eine Dimension der Realität, die jenseits des Horizonts unserer gewöhnlichen Realitätserfahrung liegt, die sie übersteigt. Gleichzeitig hören wir immer wieder von Erfahrungen, die uns darüber hinausheben, uns in den »siebten Himmel« entführen, wie wir sagen. Um noch einmal Erik Heijerman zu zitieren, wir können uns in der Musik verlieren und »werden anscheinend mit einer anderen Welt konfrontiert, in die wir völlig eintauchen können. Das ist eine Erfahrung der Transzendenz, des Aufgehens in etwas, das über uns als endliche Wesen hinausgeht.« So wie von der Musik immer wieder gesagt wurde, dass sie ein Medium dessen ist, was in der gewöhnlichen Sprache unmitteilbar ist. Oder, um es mit den Worten von Olivier Messiaen zu sagen, dass sie uns einen Blick »jenseits« unserer gewöhnlichen Realität bieten kann.86 Das Gleiche gilt übrigens für die anderen Künste, jede auf ihre eigene Art und Weise. So kann Iris Murdoch über die Erfahrung der Transzendenz in der Kunst im Allgemeinen schreiben, dass gute Kunst (in einem Denken Sie an seine Schrift Der Mythos von Sisyphos. Eine absurde Betrachtung, Rowohlt, Hamburg 2000. 85 Transzendenz kommt von dem Verb transcendere, übersteigen, hinausge­ hen über…. 86 Siehe Anmerkung 21. 84

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symbolischen Sinne verstanden) »ein verlockendes Bild eines rein transzendenten Wertes« bietet. Aber auch die Wissenschaft und allerart Situationen im Alltag können, wie wir bereits gesehen haben, zu solchen Gipfelerlebnissen führen. Die Frage ist dann natürlich, was dieses Konzept der Transzen­ denz näher beinhaltet. Für sich allein genommen gibt sie uns keine eindeutige Antwort. Denn es handelt sich in erster Linie um einen eher negativen als positiven Begriff. Schließlich weist er in die Rich­ tung dessen, was jenseits unserer vertrauten Welt liegt, jenseits des Horizonts der gewöhnlichen Erfahrung. Die Frage ist also, anders formuliert, ob der Begriff der Transzendenz überhaupt einen positiven Inhalt hat, ob er die Bezeichnung für ein bestimmtes Etwas ist. Aber wie auch immer dieser Inhalt konzipiert wird, eines ist sicher, nämlich dass er eine Kritik an der Idee einer geschlossenen Wirklichkeit impliziert, einer Wirklichkeit, die letztlich, wenn auch nur in Form einer Utopie oder eines eschatologischen Entwurfs wie bei Hegel, als Totalität gedacht werden kann. Alle Versionen des Transzendenz­ denkens haben kurzum die gleiche Absicht: den Horizont unserer Erfahrung und der entsprechenden Vorstellung von der Realität offen zu halten. In diesem Sinne impliziert sie eine grundlegende Kritik an der modernen Kultur. Ein Hauptstrang dieser Kultur, den man als ihre aufkläreri­ sche Komponente bezeichnen kann, steht nämlich im Zeichen einer geschlossenen Auffassung von Realität und Erfahrung. Isaiah Berlin87 hat dies kurz und treffend dargestellt, indem er die Aufklärung anhand von drei Thesen typisiert hat: 1) es gibt eine klare Unterscheidung zwischen echten und Quasifragen; 2) alle echten Fragen haben eine und nur eine richtige Lösung, vorausgesetzt, man wendet die richtige Methode an (daher geht es in der modernen Philosophie, sei es bei Descartes, Locke, Hume, Kant usw., in erster Linie um die Suche nach der richtigen Methode); und 3) all diese richtigen Antworten auf echte Fragen fügen sich wie Teile eines Puzzles zu einem Tableau des Wis­ sens über die Wirklichkeit, der »Theorie von allem«. Kombiniert man diese Vision einer geschlossenen Realität und eines geschlossenen Wissenssystems mit dem modernen techno-operativen Wissenskon­ zept, in dem Wissen und Machen in einem inneren Zusammenhang88 I. Berlin, The Roots of Romanticism, Pimlico, London 2000, 21f. Siehe dazu meine Studie Die Wirklichkeit aus neuer Sicht. Für eine andere Naturphi­ losophie, Springer, Wiesbaden 2017, 70ff u.a. 87

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stehen, bedeutet dies, dass alles, was existiert und erfahren werden kann, bearbeitbares Material ist, bis hin zum Menschen selbst. Gerade gegen diesen Vorstellungskomplex, dass alles in einer geschlossenen Wirklichkeit von der Ordnung des Machbaren, Kontrollierbaren und Steuerbaren wäre, richtet sich die Idee des Transzendenten: Es ist der Andere (oder das Andere), der diese Immanenz aufbricht und unter Kritik stellt. Einer der Gründe für das neue Interesse an Reli­ giosität und Spiritualität ist meines Erachtens ein weit verbreitetes Unbehagen an einer Moderne, die alles totalisiert und dem Regime der Nützlichkeit, der Effizienz und des Social Engineering unterwirft. Bislang haben wir jedoch nur eine negative Charakterisierung der Transzendenz, nämlich dass sie unsere gewöhnliche Realität übersteigt, sie daran hindert, sich in sich selber zu schließen oder sich ganz auf die Immanenz zu beschränken. Ist es hingegen möglich, dem Begriff eine substanziellere Bedeutung zu geben? Eine der Möglich­ keiten, dies zu tun, besteht darin, eine Realität anderer Ordnung zu postulieren, etwa eine göttliche Realität, die die unsere übersteigt und sich durch Prädikate wie ewig, unendlich, unvergänglich, absolut und andere auszeichnet, kurz gesagt, durch Eigenschaften, die denen der Realität, in der wir leben, völlig entgegengesetzt sind. Das Problem dabei ist jedoch, dass diese Realität zwar als »ganz anders« bezeichnet werden kann, bei näherer Betrachtung aber alles andere als das ist. Alle Darstellungen davon betreffen Wesen und Zustände, die mit Eigenschaften, die der uns bekannten irdischen Realität entnommen sind, eine enorme Vergrößerung erfahren haben und von den negativ empfundenen Eigenschaften der uns umgebenden Realität befreit wurden: zerrissen, vergänglich, sterblich, kontingent, dem Zufall unterworfen usw. In der Regel sind die Götter vergrößerte Menschen oder Tiere mit all ihren menschlichen allzu menschlichen Befindlich­ keiten und Motiven. Und der Himmel oder die neue Erde, das Paradies oder jeder andere glückselige Ort ist ein Zustand nie endender Freude, aus dem alles Leid und alle Sorgen, ganz zu schweigen vom Tod, verschwunden sind, wo sich`s kurz gesagt selig leben lässt. Von einer wirklichen Transzendenz kann hier nicht gesprochen werden, weshalb sich Propheten und religiös gesinnte Philosophen (siehe oben) gegen diesen Anthropomorphismus ausgesprochen und für eine gereinigte, höhere Form der Religion plädiert haben.

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Die Achsenzeit Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass diese Läuterung der Religion oder die Umwandlung in eine andere Art von Religion in mehreren Kulturen gleichzeitig und unabhängig voneinander statt­ fand. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat für diesen Bewusst­ seinswandel, der für die Menschheitsgeschichte von bahnbrechender Bedeutung war, den Begriff »Achsenzeit« geprägt.89 Er bezieht sich auf den Zeitraum von etwa 800 bis etwa 200 v. Chr., als in Indien mit Brahmanismus, Buddhismus und Jainismus eine Transformation der vedischen Religion stattfand, als in Persien mit Zarathustra und in China mit Laotse und Konfuzius neue spirituelle Bewegungen ent­ standen, als in Israel Propheten wie Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Micha, Amos usw. eine neue, verinnerlichte Religion begründeten und in Griechenland Philosophen wie Thales, Parmenides, Herakleitos, Sokrates, Platon und Aristoteles sowie die Tragödiendichter Aischy­ los, Sophokles und Euripides ein neues geistiges Klima schufen. Allen diesen Bewegungen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ist eine verstärkte reflexive Haltung gegenüber der menschlichen Existenz und ein vertieftes moralisches Bewusstsein gemeinsam. Mir scheint, dass diese Entwicklung nicht zu Unrecht als das Aufkommen des Denkens zweiter Ordnung bezeichnet wurde.90 Und immer bedeutet dieser Wandel im Denken und Erleben zumindest implizit, oft aber auch explizit, eine grundlegende Kritik an der konventionellen, in äußeren Ritualen praktizierten Religion. Es ist wahrscheinlich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt, dass in dieser Neuausrichtung der Religion (und der Philosophie) der Begriff der Transzendenz

89 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Piper, München 1949. Siehe dazu ausführlich Hans Joas, Die Macht des Heiligen, Suhrkamp, Berlin 2017, 295ff und passim. Siehe auch das Buch von Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, Beck, München 2018. Siehe zur Differenzierung des Achsenzeitbegriffs und zu seiner Relevanz für das interkulturelle Gespräch auch die ausgezeichneten Aus­ führungen von Jörg Dittmer, ›Jaspers’ »Achsenzeit« und das interkulturelle Gespräch‹, in: Dieter Becker (Hg.), Globaler Kampf der Kulturen? Analysen und Orientierungen. Stuttgart 1999 (Theologische Akzente, Bd. 3), S. 191–214. 90 Siehe Hans Joas, a.a.O., 312 Anmerkung.

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entstanden ist.91 Der dann eine innere Beziehung zu den anderen genannten Begriffen hat. Dieses Tableau sollte um einen weiteren Link ergänzt werden. Die Religion lebt von Natur aus in einer Welt der anschaulichen Darstellungen oder Symbole. In ihrer traditionellen Form werden diese Bilder, Gestalten und Ereignisse als getreue Darstellungen der Realität angesehen. Mit dem Aufkommen eines reflexiven Bewusst­ seins in der Achsenzeit hat sich das Bewusstsein der symbolischen Natur dieser Symbole durchgesetzt. Das heißt, dass sie Hinweise auf eine Realität sind, die nicht mit ihnen zusammenfällt, auf die sie sich aber beziehen, weil wir keine anderen Möglichkeiten haben, diese andere Realität in Augenschein zu nehmen, als die, die aus unserer Sinneswelt stammen. Für den Philosophen Ernst Cassirer fängt die (wahre) Religion erst mit diesem Bewusstsein der Symbolizität der Symbole an. »Die Religion«, schreibt er, »vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ›hinweisen‹, ohne ihn je vollständig zu erfassen und auszuschöp­ fen.«92 Ich werde auf Natur, Bedeutung und Funktion von Symbolen im religiösen (und philosophischen) Bereich noch zurückkommen. Wir könnten nun, so scheint mir, Religiosität und Spiritualität als Phänomene betrachten, in denen dieses reflexive Moment im Vergleich zur Religion in erhöhtem Maße aktiv ist. Dadurch wird das Bewusstsein für den symbolischen Charakter der Symbole stärker ausgeprägt. Das bedeutet natürlich, dass der Wahrheitsgehalt aller religiösen Darstellungen und Lehren relativiert werden muss, inso­ fern ihnen in dieser bestimmten Form ein einzigartiger Realitätswert zugeschrieben wird. Zum Beispiel, dass die Schöpfung der Welt genau so stattgefunden hat, wie im biblischen Buch Genesis beschrieben, dass Jesus von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefah­ ren ist, dass der Tod in einer neuen Welt tatsächlich aufgehoben sein wird usw. Mutatis mutandis gilt natürlich Ähnliches für die Leh­ ren anderer Religionen, soweit sich diese Aussagen auf tatsächliche 91 So charakterisiert der amerikanische Sinologe Benjamin Schwarz in einem gleich­ namigen Artikel in Daedalus 104 (1975), 2, S. 1–7 die entscheidende Periode als »the age of transcendence«; zitiert in Joas, a.a.O., 310f. 92 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, WBG, Darmstadt 1958, 286.

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Zustände beziehen, die als feststehend angenommen werden. Sie müssen in einem symbolistischen Sinne als Symbole gelesen werden, die auf ihre tiefere Bedeutung hin sondiert werden müssen. Ich denke, dass viele moderne religiöse Menschen tatsächlich oft eigentlich auf diese Weise mit den Vorstellungen ihrer Religion umgehen. Dann kann man sich auch über die Grenzen der Religionen hinweg in dem Sinne wiedererkennen, dass tiefere religiöse Inhalte in den verschiedenen Traditionen auf unterschiedliche Weise symbo­ lisch Gestalt angenommen haben. Es besteht dann die Möglichkeit, angenehm überrascht zu sein, dass »dasselbe« Motiv in einer anderen Tonart neue Erfahrungsmomente hervorrufen kann, eine gegenseitige Befruchtung stattfinden kann, die Begegnung und der Austausch kurz gesagt eine gegenseitige Bereicherung sind. Aber war eine solche Relativierung des Glaubensinhalts nicht schon bei der bekannten Unterscheidung zwischen fides quae creditur und fides qua creditur der Fall, also dem Glauben, der geglaubt wird (d.h. der Inhalt) und dem Glauben, mit dem geglaubt wird, d.h. dem Glauben als lebendige Praxis, den man sich innerlich angeeignet hat. Mit anderen Worten, der Glaube als eine Art und Weise, wie die Inhalte des Glaubens im Leben der Menschen Bedeutung erlangen. Man könnte zum Beispiel an die Aussagen des Mystikers Angelus Silesius aus dem 16. Jahrhundert denken93: Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn, Und nicht in dir, du bleibst noch Ewiglich verlohrn.

Oder: Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem bösen Wo es nicht in dir wird auffgericht erlösen.

Oder: Ich sag: es hifft dich nicht, dass Christus aufferstanden, Wo du noch ligen bleibst in Sünd und todesbanden.

Kurz gesagt, diese tatsächlichen Ereignisse (die oft als Heilsfakten bezeichnet werden) tun es als solche nicht, sondern müssen vom Gläubigen in seinem Leben realisiert und gelebt werden. Mit anderen

93 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, Reclam, Stuttgart 1985, S. 36 (Buch I, Nr. 61 bis 63).

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Worten, sie müssen in einem symbolischen Sinn verstanden werden, der sich auf etwas anderes, hier auf die religiöse Praxis bezieht.

Die Mystik Dies führt uns unmittelbar zum Phänomen der Mystik. Unter Mystik verstehen wir eine Denk-, Erfahrungs- und Lebensweise, die auf der Überzeugung beruht, dass die alltägliche Realität der Sinne und des »gesunden Menschenverstands« nicht die letzte Wirklichkeit (ultimate reality) ist. Sondern dass sich ›dahinter‹, ›darunter‹, ›in‹ ihr noch eine tiefere Realität verbirgt. Eine Überzeugung, die durch unzählige Erfahrungen gestützt wird, Erfahrungen nämlich von der Einheit des erlebenden Selbst und des Weltgrundes. Und da es sich um eine überwältigende, aber gleichzeitig vorübergehende, flüchtige Erfahrung handelt, ist die Mystik auch der Versuch, diese Erfahrung der Einheit, dieses letzte Glück des Eintauchens in die zugrunde liegende tiefere Wirklichkeit wieder zu erleben. Sie tut dies auf sehr unterschiedliche Weise, was zu sehr unter­ schiedlichen Formen der Mystik führt: ekstatisch-visionär (Upanis­ haden, Yoga, Plotinos, Sufis u.a.) versus harmonisch-versunken (Augustinus, Thomas à Kempis); warm-affektiv (indische Bhakta, die meisten mittelalterlichen Mystiker) versus kühl-affektlos (Bud­ dhismus, Eckhardt); phantasievoll, poetisch (Sufis, Franziskus) versus intellektuell reflektierend (Shankara, Eckhardt); glühend erotisch (indische Krishna-Mystik, mittelalterliche Nonnen) versus nach­ denklich spirituell (Augustinus, Thomas von Aquin); personalistischtheistisch (indische Bhaktas, die meisten christlichen Mystiker) ver­ sus unpersönlich-monistisch (Taoismus, Upanishaden, Shankara); intime Gebetsmystik (Bhaktas, die meisten christlichen Mystiker des Mittelalters) versus reine Meditationsmystik (Upanishaden, Bud­ dhismus, Plotinos); kultische Mystik, in der sich die Kontemplation am Gegenstand und am Ritual des Kultes entzündet (indische Bhak­ tas, eucharistische Mystik des Mittelalters) versus kultlose Mystik (Upanishaden, Plotinos). Aber wie auch, allen diesen Formen der Mystik gemeinsam ist die Vorstellung, dass ein erfülltes Dasein nur im Kontakt und letztlich in der Vereinigung mit dieser tieferen Wirklichkeit gefunden werden kann. Und dass bestimmte Gipfelerlebnisse die Möglichkeit dazu für

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die Beteiligten auf unvergessliche Weise bestätigen. Beispiele dafür haben wir bereits in den Aussagen von Havel, Griffiths, Malwida von Meysenburg und Trevor gefunden, zu denen sich noch zahlreiche wei­ tere Beispiele aus der Literatur hinzufügen lassen. Sehr beachtenswert ist z. B. eine Passage von Albert Camus, neben Sartre der führende Vertreter des französischen Existentialismus mit seiner Überzeugung von der Absurdität der Welt und des Daseins. Diese Passage aus einer seiner frühen Schriften, Noces (Hochzeit), drückt die Erfahrung einer Art mystischer Vereinigung mit der sonnenbeschienenen Land­ schaft der Méditerranée aus: »Bald, in alle vier Ecken der Welt verstreut, vergesslich, mich selbst vergessen habend, bin ich dieser Wind und in diesem Wind, bin ich diese Säulen und dieser Bogen, diese Bodensteine, die sich warm anfühlen, und diese bleichen Berge um die verlassene Stadt. Und noch nie habe ich mich so losgelöst von mir selbst und so präsent in der Welt gefühlt.« Ton Lemaire bemerkt dazu: »Aus diesen und ähnlichen Äußerungen wird deutlich, dass sich vor oder unter Camus' Erfahrung des Absurden ein ganz anderes Gefühl verbirgt: das einer lyrischen Zustimmung zur Erde, der Verschmelzung von Mensch und Natur.«94 Die mystische Erfahrung scheint eine allgemein menschliche Erfahrung zu sein, die bei Vertretern der verschiedensten Kulturen und Kulturepochen immer wieder auftritt. Einige Kulturen bieten dafür günstigere Bedingungen als andere. Insbesondere patriarchali­ sche, aktivistische und prophetische Religionen, wie die drei mono­ theistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, bieten an sich keinen fruchtbaren Boden für Mystik.95 Aber auch und sogar dort kommt sie zur Entfaltung, wächst sie sozusagen durch den Asphalt ihrer Mutterreligion hindurch. So schrieb zum Beispiel der steile calvinistische Pfarrer Jacobus Revius (1586–1658) ein Gedicht mit dem Titel »Gottes Ratschluss«:

94 Ton Lemaire, ›Naar een antropokosmologie‹, in: Wouter Achterberg et al, Rimpels in het water. Milieufilosofie tussen vraag en antwoord« (Kräusel im Wasser. Umweltphi­ losophie zwischen Frage und Antwort), Acco, Leuven/Amersfoort 1994, 85f. 95 Eine bekannte Unterscheidung in der Religionswissenschaft ist die zwischen mystischen und prophetischen Religionen. Erstere sind passiv, quietistisch und kon­ templativ, während letztere aktiv, strebsam und ethisch eingestellt sind. Siehe zum Beispiel Fr. Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, Reinhardt, München 19235, 248–283.

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Wie ein Stein, der in einem Tümpel zu Boden fällt, Das Wasser wirft sofort rundherum einen Ringel auf, Und aus einem wird ein anderer, Woraus wieder andere entstehen, So dass in kurzer Zeit die Augen hin und her wandern, Und man weder die Größe noch die Zahl herausfinden kann: So ist es auch bei mir, oh großer Gott und Herr, Von dem Moment an, als meine Zunge Eure Ehre zu stottern begann, Über das eine denke ich nach, das andere fällt mir ein, Deine Weisheit, dein Gericht, deine Wahrheit, deine Liebe Umgeben mich zusammen mit einem einzigen Blick: Und möchte ich das eine oder das andere erwähnen, So verschlingen Ihr Rat und Ihr Entschluss mich so sehr Dass ich darin weder Grund noch Ufer zu finden vermag.

Mit anderen Worten: Selbst in einem religiösen Umfeld, in dem der Abstand zwischen Gott und Mensch als unendlich und unüberbrück­ bar gilt, in dem dieser Gott zudem vor allem durch seine Gerechtigkeit und sein strenges Urteil (»dein Gericht«) gekennzeichnet ist, das der Mensch nur fürchten kann, selbst in diesem Umfeld kann der Gedanke aufkommen, ganz in Gott zu versinken. Aber Mystik ist nicht nur ein allgemein menschliches Phänomen, sondern auch ihre Tiefenstruktur ist über die Grenzen von Kulturen und Religionen hinweg dieselbe. Ein erstaunliches Zeugnis dafür ist das Buch West-östliche Mystik96 von Rudolf Otto (den wir bereits als Autor von Das Heilige kennengelernt hatten). Darin vergleicht er die Position des indischen Mystikers Shankara (um 800) mit derjenigen des Deutschen Meister Eckhardt (1250–1327). Wenn er die Texte der beiden Meister neben einander legt, findet er bemerkenswerte, oft fast wörtliche Parallelen. Sie können, was ihr Denken betrifft, als »Zeit­ genossen« betrachtet werden. Bei beiden ist die Gottheit das »Über­ seiende« (d.h. kein Seiendes im Sinne der uns bekannten Wirklich­ keit), das Eine, Ewige, Unnennbare, ohne »wie oder was«, d.h. ohne eine Vielfalt von Eigenschaften, so dass alle Prädikate, die wir ver­ wenden, immer zurückgenommen werden müssen. Otto kann daher von einer »tiefliegenden Verwandtschaft östlicher und westlicher 96 Rudolf Otto, Westöstliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung. Zur Wesensdeu­ tung, Beck, München 19713. Zu diesem »internationalen und interkonfessionellen« Charakter der Mystik siehe auch G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Mohr, Tübingen 19562, 561ff.

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Menschenseelen« (S. 4) sprechen. Gleichzeitig betont er, dass diese (und alle anderen) Formen der Mystik ihrem eigenen religiösen Mut­ terboden mit seinen spezifischen Merkmalen entspringen und wei­ terhin dessen charakteristischen »Bodengeschmack« aufweisen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die verschiedenen Formen der Mystik eine verblüffende Ähnlichkeit in der Tiefe aufweisen. »Wir behaupten, dass in der Mystik sich in der Tat gewaltige Urmotive der menschlichen Seele regen, die als solche ganz gleichgültig sind gegen die Unterschiede des Klimas, der Weltgegend oder der Rasse, und die in ihrer Übereinstimmung eine innerliche Verwandtschaft der menschlichen Geistes- und Erlebnisart aufweisen, die wahrhaft erstaunlich ist.« (S. 2). Meiner Meinung nach spricht vieles dafür, dass in der Mystik das Bewusstsein der Symbolizität der Symbole ihre letzte Konsequenz erreicht, das Bewusstsein also, dass das Symbol (weit) hinter der Sache zurückbleibt, auf die es verweist. Dies kann so verstanden werden, dass die Mystik das Kernelement aller Religion bildet, das implizit in allen religiösen Darbietungen und Ritualen vorhanden ist, aber noch nicht in aller Deutlichkeit als solches erkannt wird. Ein wie­ derkehrendes Motiv in allen Berichten über mystische Erfahrungen ist das Bewusstsein ihrer unaussprechlichen Natur. So verweist das Symbol des Pfades in der chinesischen Tao-te-King, die eine Form der »naturalistischen« Mystik ohne Götter darstellt, auf die Art und Weise des Seins und »Wirkens« der tiefsten Wirklichkeit. Doch gleich zu Beginn des Buches heißt es: »Das Tao, über das ausgesagt werden kann, ist nicht das absolute Tao. Die Namen, die gegeben werden, sind keine absoluten Namen. Das Namenlose ist der Ursprung des Himmels und der Erde.«97 Ähnliches hören wir von Dante in seiner Göttlichen Komödie, der Geschichte seiner Reise durch Hölle und Läuterungsberg zum Himmel. Als er sich am Ende seiner Reise Gott immer mehr annähert, sagt er, dass die Sprache ihm vergeht – ihm, einer der größten und sprachgewandtesten Dichter unserer Tradition und der Weltliteratur im Allgemeinen! »Oh, wie sehr fehlen mir die Worte, und wie schwach sind sie, um die Idee auszudrücken, die ich in meinem Kopf habe! Und dieses Bild selbst ist im Verhältnis zu dem,

97 LAOTSE, herausgegeben von Lin Yutang, Fischer Bücherei, Frankfurt a.M., Ham­ burg 1956, S. 37.

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was ich tatsächlich gesehen habe, so minimal, dass das Wort armselig fast schon zu stark dafür ist.«98 Auch von Revius, einem anderen großen Dichter, haben wir schon gehört, dass seine Rede zum Stottern wird. Die gleiche Erfah­ rung, dass die Sprache uns beim Versuch, Worte für die mystische Erfahrung zu finden, im Stich lässt, wird von Mystikern aller Art immer wieder ausgesprochen. Deshalb bleibt am Ende nur das Schweigen. Zum Beispiel wird von einem indischen Lehrer erzählt, dass ihn jemand bat: »›Lehre mich das Brahman, oh Erhabener!‹ Er, der weise Bahva, aber schwieg. Der andere bat zum zweiten- und drittenmal. Da sprach er: ›Ich lehre es dich ja, du aber merkst es nicht. Dieser atman ist stille.‹«99 Und der evangelisch-mystische Dichter Gerhard Tersteegen schreibt in einem seiner geistlichen Lieder: Am Schweigen werden sie erkannt, die Gott im Herzen tragen.100

Die Mystik überschneidet sich hier mit der so genannten negativen Theologie von Theologen-Philosophen wie Dionysius Aropagita (5. Jahrhundert n.Chr.) und Nikolaus Cusanus (1401–1464). Die letzte Wirklichkeit, die sie als Gott bezeichnen, kann nur durch negative Prädikate typisiert werden, weil alle positiven Eigenschaften, die immer unserer endlichen Wirklichkeit entnommen werden, völlig unzureichend sind, um die göttliche Wirklichkeit zu charakterisieren. Von unserem Standpunkt aus gesehen können nur Begriffe wie »das Nichts«, »totale Leere« usw. verwendet werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass dieses Nichts oder diese Leere auch Nicht-Sein oder Leere im Sinne unserer Realität bedeuten. Im Gegenteil haben wir es hier mit einer Realität ganz anderer Art zu tun, die (das ist doch die Absicht) die Sprengung aller Konzepte unserer Realität, die Entfernung aller Stützen aus unserer Alltagserfahrung erfordert, um den offenen Raum zu schaffen, in dem sich das Transzendente offenbaren kann. Doch was in dieser theistischen Tradition Gott als letzte Wirklichkeit genannt wird, entspricht in nicht-theistischen Traditionen wie dem Taoismus und dem Buddhismus dem, was dort Tao oder Nirvana genannt wird. 98 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Paradies, Gesang XXXIII, 127 (eigene Übersetzung). 99 Zitiert in Van der Leeuw, a.a.O.., 570. 100 Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumengärtlein, Stuttgart 1956, 458.

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Zusammenfassung Ich fasse die Ergebnisse der in diesem Kapitel durchgeführten kate­ gorialen Analyse der Begriffe Religion, Religiosität und Spiritualität zusammen. Stets verweisen sie auf Dimensionen der Wirklichkeit, die über die Alltagserfahrung hinausgehen. Wir haben bereits eine Liste von Begriffen genannt, die zu ihrer Bezeichnung verwendet werden, ich wiederhole sie noch einmal: das ganz Andere, Heilige oder Sakrale, Transzendente, Göttliche, Numinose, Höhere, Erhabene, Ehrfurcht gebietende, Absolute, Unendliche, Ewige, Unvergängliche, Unbedingte, Geheimnisvolle, Unsagbare usw. All diese Begriffe, so unterschiedlich sie auch sein mögen, haben gemeinsam, dass sie ein »Mehr« in Hinsicht auf die gewöhnliche Erfahrung bezeichnen. In dieser Ausrichtung weisen sie eine innere Affinität auf und bilden zusammen einen kohärenten Begriffsrahmen zur Bezeichnung dieser besonderen Dimensionen der Wirklichkeit. Gleichzeitig besitzen sie ihre eigenen spezifischen Konnotationen, setzen eigene Akzente und spiegeln so die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungs­ weisen dieser Dimensionen des »Mehr« wider. Wir haben weiter festgestellt, dass in der so genannten Achsen­ zeit ein entscheidender Bewusstseinswandel stattgefunden hat, bei dem die naive Haltung gegenüber dem Heiligen und Transzendenten durchbrochen wurde. In dieser naiven Haltung werden die anschau­ lichen Darstellungen des Übersinnlichen als adäquate Repräsentatio­ nen desselben angesehen. Die Religion geht hier in der äußeren Aufrechterhaltung von Ritualen und Verpflichtungen auf. Im Gegen­ satz dazu entstanden in der Achsenzeit Formen von Reflexivität, von kritischer Reflexion über die konventionelle Religion, von Verinnerli­ chung und Moralisierung der religiösen Vorstellungen und Praktiken und nicht zuletzt ein Bewusstsein der Symbolizität der religiösen Symbole. Das bedeutet, dass die Symbole keine adäquate Repräsen­ tation des Symbolisierten sind, dass sie zwar auf das Symbolisierte verweisen, aber hinter dem Symbolisierten (weit) zurückbleiben. Jemand wie Cassirer sieht darin sogar, wie gesagt, den Übergang von der mythischen Lebens- und Denkweise zur (echten) Religion. Aber wie dem auch sei, so meine These, dieses Bewusstsein für Reflexivität, Kritik und für die Symbolhaftigkeit der Symbole hat sich bei den Phä­ nomenen von Religiosität und Spiritualität verstärkt durchgesetzt. Bislang handelt es sich noch immer um eine (wohlwollende) philosophische Deutung des Phänomenkomplexes Religion/Religio­

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sität/Spiritualität aus der Sicht des Beobachters. Damit ist aber noch keineswegs entschieden, ob und in welcher Form sich die Philosophie auch in einem positiven Sinne auf diese Phänomene einlassen kann. Darum geht es in der Folge dieses Buches.

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Kapitel 5 Philosophie und Spiritualität: ein Blick auf die Tradition

Die zentrale Frage dieses Buches ist die nach der Beziehung zwischen Philosophie und Spiritualität: Gibt es eine solche Beziehung, und wenn ja (was die Voraussetzung dieser ganzen Abhandlung ist), welcher Art ist sie? Ich hatte diese Hauptfrage in zwei Unterfragen aufgeteilt. Die erste betrifft die Erklärung des Phänomens der Spiri­ tualität aus der Sicht des Zuschauers. In dieser Haltung nimmt die Philosophie, wie bereits erwähnt, die Spiritualität als Gegebenheit an und versucht, davon eine wohlwollende (aber nicht unkritische) Interpretation zu geben. Aber sie engagiert sich bisher nicht daran. Diese Übung habe ich in den vorangehenden Kapiteln durchgeführt. Nun also die zweite Teilfrage: Besitzt die Philosophie selbst auch eine spirituelle Dimension, hat sie nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Beziehung zum geistigen Phänomen? Nun genügt ein Blick auf die philosophische Tradition, zumindest auf einen Großteil davon, um diese Frage zu bejahen. Wenn Spiritua­ lität und Religiosität eine innere Affinität zum hohen Stil haben, so gilt dies nicht minder für eine lange Reihe von philosophischen Kon­ zeptionen der abendländischen Philosophie. Ich beschränke mich hier schon aus Kompetenzgründen auf die abendländische Tradition, aber im indischen, chinesischen, japanischen, amerikanisch-indianischen und russischen Kulturkreis sieht es nicht anders aus. Zum größten Teil tragen diese Traditionen ein religiöses Gepräge, wie schon die Klassifizierungen als hinduistische, buddhistische und taoistische Philosophie deutlich machen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Säkularisierung, die für die moderne westliche Kultur cha­ rakteristisch ist, in diesen Gesellschaften nicht, oder zumindest in viel weniger weitgehenden Form, stattgefunden hat. Das soll nicht heißen, dass ein tieferes religiöses Bewusstsein in weiten Kreisen der Bevölkerung vielleicht nur oberflächlich vorhanden gewesen ist, so dass die Religion nur eine dünne Firnisschicht auf der Gesellschaft war. Das gilt aber nicht für die Philosophien jener Gesellschaften, die eindeutig religiös geprägt waren. Auch der größte Teil der westlichen

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Kapitel 5 Philosophie und Spiritualität: ein Blick auf die Tradition

Kulturgeschichte ist eng mit Philosophie und Spiritualität bzw. Reli­ giosität verbunden. Mit dem Fortschreiten der Modernisierung wird diese Bindung jedoch schwächer oder verschwindet sogar ganz, so dass eine spirituell geprägte Philosophie heute eher die Ausnahme als die Regel ist.

Griechische Philosophie Um einen selektiven Blick auf die Geschichte der abendländischen Philosophie zu werfen – mehr als ein selektiver Blick ist nicht nötig, denn es geht hier nur darum zu zeigen, dass die Philosophie auch in dieser Tradition ein deutlich spirituelles Moment besitzt- einer der ersten griechischen Philosophen, Parmenides (ca. 540 – 480 v. Chr.), teilt uns eine Vision mit, dass er von Göttinnen aus dem Haus der Nacht (der alltäglichen Welt der Sinne und der unzuverlässigen Meinung) in das Haus des Lichts (die Sphäre der wahren Einsicht in die Wirklichkeit) geführt wird. Dort wird er von einer namenlosen Göttin empfangen und erfährt die Wahrheit, und zwar, dass die wahre Wirklichkeit die des einen Seins ist, das keine Zeit, kein Werden und keine Veränderung kennt und nur durch das Denken erkannt werden kann. Dies gilt auch weiterhin für die Hauptströmung der griechischen Philosophie: dass es eine Realität gibt, die sich von der Sphäre der »gewöhnlichen« Erfahrung unterscheidet und dem Denken zugänglich ist. Dieses Denken muss jedoch auf griechische Art und Weise verstanden werden, als ein Schauen mit den Augen des Geistes, wobei alles eine plastische Form annimmt – hat nicht Platon, über den gleich mehr zu sagen sein wird, von »Ideen« gesprochen, was wörtlich »Formen« bedeutet, Urmodelle der Dinge, die sich scharf gegen den geistigen Himmel abzeichnen? Die Griechen waren ja stark auf den Sehsinn ausgerichtet, und die Begriffe für wissen und kennen leiten sich im Allgemeinen von Verben her, die für Weisen des Sehens und Schauens stehen. Das Denken ist also eine Form des Schauens, und so interpretie­ ren die Kommentatoren die Einsicht des Parmenides auch, dass die wahre Realität die des ewigen, unveränderlichen Seins ist. Hinter dieser Einsicht steht eine »extatische Erfahrung«, wie bereits erwähnt die »geistige Vision«, die ihm von »der Göttin« gezeigt wurde, wie

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Wolfgang Schadewalt schreibt101, also eine Einsicht, die ihm von oben geschenkt wurde. Und Hermann Fränkel sieht in dieser Erkenntnis sogar die Erfahrung einer unio mystica mit dem Sein. »Wir können ihn [den Inhalt dieser Erfahrung, vdW] nicht anders umschreiben als ›Ich bin, und ich bin das All-Eine, außer mir ist nichts‹. Es bleibt also kein Raum für ein zweites, kein Raum für einen Jemand, der daneben steht und von diesem Sein Kenntnis nimmt. Vielmehr muss Parmenides sich im Zustand der Erhebung als identisch mit dem Sein erlebt haben: ›Ich bin das All-Eine‹. Darin liegt beschlossen, dass er als Entrückter nicht nur seiner Weltlichkeit und Menschlichkeit ledig geworden ist, sondern auch seiner Individualität und Zeitlichkeit.«102 Im Hinblick auf die unio mystica schreibt Nietzsche, von dem man das angesichts seines späteren Werkes nicht gerade erwarten würde, dass »eigentlicher Zweck alles Philosophierens die intuitio mystica« ist.103 Ihm zufolge gibt es überhaupt eine enge Verbindung zwischen Philosophie und Mystik, vor allem in seinem Jugendwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, aber auch zum Beispiel in seinem Zarathustra-Buch. Mystische Ideen sieht er schon bei Thales am Werk, der als erster der griechischen Philosophen gilt. Der Grund dafür ist dessen Behauptung, dass Wasser der Ursprung oder das Grundprinzip aller Dinge ist. Dazu bemerkt Nietzsche: »Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, dass das Wasser der Ursprung und der Mut­ terschoß aller Dinge sei. Ist es wirklich nötig, hierbei stillezustehen und ernst zu werden? Ja, aus drei Gründen: erstens, weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge sagt; zweitens, weil er [d.h. Thales] dies ohne Bild und Fabelei tut; und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist: ›alles ist eins‹. Der erstgenannte Grund lässt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft und zeigt ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph.« Das heißt, dass Thales' Behauptung noch als Ursprungs­ mythos gedeutet werden kann, sein Denken insofern noch in der Sphäre der Religion und des Aberglaubens angesiedelt ist (das ist 101 Bei Karl Albert, Einführung in die philosophische Mystik, WBG, Darmstadt 1996, S. 8. 102 Albert, a.a.O.., S. 9. 103 Nietzsche, Sämtliche Werke (Kritische Studien-Ausgabe), 11.232. Siehe ferner Albert, o.c., 2ff.

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für Nietzsche gehupft wie gesprungen), er also ein Theologe und kein Philosoph war. Darüber hinaus kann die These des Thales als eine erste, noch sehr grobe Form der Naturwissenschaft angesehen werden, verbleibt er damit in der Sphäre der konkreten empirischen Erfahrung. Weil aber in seiner These die Einheit aller Dinge enthalten ist, ist er, so Nietzsche, ein Philosoph, der über die empirische Erfahrung hinaus zur Einheit allen Seins zurückgeht. Dann haben wir es mit einer metaphysischen Behauptung zu tun, bei der auch in seinem Fall eine mystische Intuition angenommen werden muss. Nicht anders stehen die Sachen bei Herakleitos (ca. 540–483 v. Chr.), dem großen Antipoden des Parmenides, mit seiner Auffassung, dass »alles fließt«, d. h. in ununterbrochener Entwicklung und Verän­ derung begriffen ist, so dass man nicht zweimal in denselben Fluss hinuntersteigen kann. Werden besteht in einer ständigen Bewegung entgegengesetzter Kräfte. Daher ist »Krieg aller Dinge Vater.«104 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass dieser Prozess der unaufhörlichen Veränderung durch gegensätzliche Kräfte ein chaotisches Geschehen ist. Dahinter, gut Griechisch, steht das Weltgesetz, das garantiert, dass die Dinge den rechten Maß einhalten. »Helios [Gott der Sonne] wird seine Maße nicht überschreiten; sonst werden ihn die Erinnyen, der Dike [Göttin der Gerechtigkeit] Schergen, ausfindig machen.« (Fr. 94) Auch dieses Tableau der Wirklichkeit, darum geht es mir, wird von der Einsicht beherrscht, »alles sei eins« (Fr. 50). Eine Philosophie, die ebenfalls eine deutliche spirituelle Prägung trägt, ist die der Pythagoräer. Pythagoras (ca. 580 – ca. 500 v. Chr.) gründete nach vielen Wanderungen, die den antiken Quellen zufolge bis nach Ägypten und in den Orient führten, schließlich eine religiös-philosophische Bruderschaft in Croton in Süditalien. Er war der erste, der sich »Philosophos«, Liebhaber der Weisheit, nannte, weil er es anmaßend fand, »Sophos«, Weiser, genannt zu werden. Seine Sicht der Welt105 ist die eines Kosmos [wörtlich: Orna­ ment], eines schönen und harmonischen Ganzen – von ihm stammt auch die Bezeichnung der Welt als Kosmos. Dieser Kosmos ist auf ein mathematisches Muster von Zahlenproportionen gestickt. Wie bereits erwähnt, hatte er dies aus der Musik abgeleitet, wo sich die verschiedenen Harmonien in numerischen Verhältnissen der Saiten­ 104 Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Rowohlt, Hamburg 1957, 27 (Fr. 53). 105 Siehe dazu Jamie James, The Music of the Spheres, Abacus, London 1995, S. 20– 40.

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länge ausdrücken lassen. So weist das Intervall einer reinen Oktave (z.B. c-c) ein Verhältnis von 2 zu 1 auf (die Saite wird um die Hälfte verkürzt, um das eine Oktave höhere c zu erreichen), die reine Quarte (c-f) ein Verhältnis von 4 zu 3, die reine Quinte (c-g) das von 3 zu 2 usw. Mit anderen Worten: Musik ist Zahl. Wenn man dann noch davon ausgeht, wie Aristoteles die Auffassung von Pythagoras wiedergibt, dass »die Elemente der Zahlen die Elemente der Dinge in der Wirklichkeit sind«, bedeutet dies, dass Mathematik, Musik und das Universum (der Kosmos) in einer inneren Beziehung zueinander stehen. Die Wirklichkeit selbst macht also auf dreierlei Weise Musik: die der Instrumentalmusik, die des menschlichen Organismus, ins­ besondere im Hinblick auf die harmonische (oder disharmonische) Resonanz von Seele und Körper, und die des Kosmos als Ganzes, die später als »die Musik der Sphären« bezeichnet wurde. Die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Seele und Körper als eine musikalische Angelegenheit betrachtet werden kann, wobei Krankheit als eine Form der Disharmonie angesehen werden kann, führt dann zu der von Platon und anderen oft nachgefolgten Idee, dass Musik eine heilende Wirkung hat. Die Schule des Pythagoras war, wie bereits erwähnt, eine Bruder­ schaft oder eine Art Orden, der eine Lebensweise verfolgte, die auf der oben erwähnten Auffassung von der Wirklichkeit beruhte. Leit­ prinzipien waren Reinheit, Bescheidenheit und Mäßigung, das Nicht­ töten von Tieren, die den Menschen nicht angreifen, und die Regel, jeden Abend sein Gewissen zu prüfen, um zu sehen, welche Fehler man gemacht und welche Gebote man vernachlässigt hatte. Darüber hinaus war das Leben im Orden durch die Betätigung von Musik, Gymnastik und Medizin und vor allem durch die wissenschaftliche Ausbildung geprägt. Theorie und Praxis sind hier, kennzeichnend für eine spirituelle Lebenseinstellung im Sinne der vorhin genannten Definition, eng miteinander verwoben.

Platon Es kann hier nicht die Absicht sein, und ist auch nicht notwendig, die philosophischen Konzeptionen eine nach der anderen durchzugehen und sie auf ihren spirituellen Gehalt hin zu untersuchen. Ziel des Gedankengangs ist es, wie bereits erwähnt, zu zeigen, wie weite Teile der abendländischen Philosophie von einem hohen Stil geprägt

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sind, von einem visionären Moment, das die Wirklichkeit und unser Menschsein in einem anderen (»höheren«) Licht erscheinen lässt als dem der Alltagserfahrung. Ein absoluter Höhepunkt in dieser Hin­ sicht ist unverkennbar die Philosophie Platons, die die abendländische philosophische Tradition so sehr geprägt hat, dass Whitehead, zwar übertreibend, aber nicht ganz unbegründet, schreiben konnte, dass diese Tradition aus Fußnoten zu Platon besteht. Wenn es in der Tat ein philosophisches Werk gibt, das man als hochstilig bezeichnen kann und von der Suche nach dem »Höheren« beherrscht wird, dann ist es das von Platon. Schon die Sprache, in der es geschrieben ist, ist von großer Schönheit, Grund genug, es schon deswegen zu den Höhepunkten der Weltliteratur zu zählen. Dieses poetische Sprachge­ wand passt aber auch wunderbar zum Inhalt der Gedanken. Auch hier bei Platon wieder geht es darum, Einsicht in das Wesen der Dinge zu gewinnen, das, was dem Leben Glanz und Richtung gibt. Zur Veranschaulichung kann ein Blick auf das wohl berühmteste Werk Platons, das Symposion, dienen. Das Thema des Dialogs ist die Liebe. Während eines Abendes­ sens im Hause Agathons werden mehrere Reden zu diesem Thema gehalten, unter anderen von Sokrates, Platons Lehrer, dem er in seiner mittleren Periode, zu der auch das Symposion gehört, zunehmend seine eigenen Ansichten in den Mund legt. So auch in diesem Dialog. In seiner Rede erzählt Sokrates eine Geschichte, die er von der Priesterin Diotima (›Gottgeliebte‹) über den Ursprung von Eros, des (Halb-)Gottes der Liebe, gehört haben will. Er ist, so die Geschichte, der Sohn von Poros (Erfolg), einem Mitglied der Götterfamilie, und Penia (Armut), einer menschlichen Bettlerin. Der Eros ist also eine Art Zwischenwesen zwischen Reichtum und Armut. Einerseits »ist er immer arm, und weit davon entfernt, zart oder schön zu sein, wie man gewöhnlich denkt, sondern eher hart, arm, schlecht gekleidet, obdach­ los, er verbringt die Nacht immer auf dem Boden ohne Bettzeug, schläft in Veranden und unter freiem Himmel auf der Straße, gemäß der Natur seiner Mutter immer in Not lebend. Andererseits ist er, wie sein Vater, immer auf der Suche nach dem Schönen und Wertvollen. Er ist mutig und energisch, ein großer Jäger, der geradewegs auf sein Ziel zugeht, immer mit Plänen beschäftigt, jemand, der alles verstehen will, und mit Erfolg, der sein ganzes Leben lang nachdenkt (...).«106 106 Zitiert in Anlehnung an die Übersetzung von Gerard Koolschijn, Plato, Schrijver (Platon, Schriftsteller), Ooievaar/Prometheus, Amsterdam 200010, S. 54f.

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Diese Zwischenstellung ist auch genau die Situation der Phi­ losophie. »Ein Gott denkt nicht und begehrt keine Einsicht, denn er hat sie bereits. Wenn man die Dinge versteht, strebt man im Allgemeinen nicht nach Einsicht. Andererseits denken auch dumme Menschen nicht nach und wollen auch nicht verstehen. Es ist gerade das Ärgerliche an der Dummheit, dass jemand ohne jedes Niveau und ohne jedes Verständnis immer noch mit sich selbst zufrieden ist. Wer nicht glaubt, dass ihm etwas fehlt, begehrt auch nicht das, was er zu vermissen glaubt. Diejenigen, die denken und nach Erkenntnis streben (die Philo­ sophen), befinden sich demnach zwischen diesen beiden Gruppen, nehmen eine Zwischenposition ein, so wie Eros oder die Liebe. ›Einsicht ist eines der schönsten Dinge, die es gibt, und da sich die Liebe auf alles Schöne richtet, ist es unvermeidlich, dass die Liebe nach Einsicht strebt. Und in diesem Streben steht die Liebe zwischen Einsicht und Unwissenheit. Auch das liegt an seiner Abstammung, denn er hat einen vernünftigen und erfolgreichen Vater und eine törichte, arme Mutter.‹ Die Philosophie strebt also immer nach dem Schönen. Aber nicht so sehr nach konkreten schönen Dingen, wie ein schönes Gesicht, eine schöne Figur oder einen schönen Gedanken, sondern nach der Schönheit selbst. ›Um im Leben so weit zu kommen, mein lieber Sokrates‹, sagte die Frau aus Mantinea [d.h. Diotima], ›ist das Wich­ tigste, was ein Mensch erreichen kann: die wahre Schönheit zu sehen. Wenn du sie jemals zu sehen bekommst, wirst du sie unvergleichlich schöner finden als die kostbarsten Gegenstände oder die schönsten jungen Menschen, von denen du jetzt so begeistert bist, wenn du sie siehst, dass du bereit bist, du und alle möglichen anderen, wenn du deine Geliebte siehst und immer bei deiner Geliebten bist, (...) nicht zu essen oder zu trinken, sondern nur zu schauen und bei ihnen zu sein. Was sollten wir denn erwarten‹, sagte sie, ›wenn es dir gelänge, die wahre Schönheit zu sehen, in echter, reiner, unvermischter Form, nicht mehr bedeckt mit menschlichem Fleisch oder Farbe und allerlei anderem sterblichen Unsinn, sondern die wahre göttliche Schönheit, wenn du sie in ihrer reinen Form wahrnehmen könntest?‹« Dass ein solches Verständnis der Schönheit selbst möglich ist, wie auch der Gerechtigkeit selbst und all der anderen idealen Formen (Ideen) der Dinge, die uns in der empirischen Welt in unvollkomme­ ner Form begegnen, liegt nach Platon daran, dass die Seele je in jener höheren Wirklichkeit verweilt hat und die Ideen aus direkter

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Beobachtung kennt. Sie ist daher von hoher Herkunft. Nur durch einen unglücklichen Zufall gelangte sie in die Welt der Sinne, wo diese Kenntnis der Dinge in ihrer idealen Form verloren ging. Durch Nachdenken ist es dann möglich, dieses vergessene Wissen wiederzu­ erlangen und sich die Vision der ursprünglichen Formen der Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Wirkliches Wissen kommt also nicht aus der sinnlichen Erfahrung, sondern aus der Erinnerung, wozu die Erfahrung nur der Anlass sein kann. Die Philosophie Platons ist wohl ganz besonders Ausdruck einer Sehnsucht nach dem »Höheren«, Edlen und Reinen, die das Phäno­ men der Spiritualität kennzeichnet. Nicht zuletzt deshalb hat sie tiefe Spuren in der Geschichte der abendländischen Geistesgeschichte hin­ terlassen. Dies gilt nicht nur für die philosophische Tradition, sondern nicht weniger für die Literatur, die Kunst und nicht zu vergessen die Religion. Das Christentum ist zutiefst vom platonischen Denken geprägt107, so dass Nietzsche das Christentum sogar als »Platonismus fürs Volk« bezeichnen konnte; er meint damit offensichtlich das Christentum als Volksreligion. Aber auch in seiner anspruchsvolleren Form, mit Theologen wie Origenes, Augustinus, Dionysius dem Areopagiten, Johannes Scotus Eriugena und Bonaventura, um nur einige zu nennen, ist der Einfluss Platons unverkennbar. Und was die Literatur betrifft, so kann man an Dante, Goethe und viele andere denken. Vor allem in Form des Neuplatonismus, wie er von Plotinos (203–269) entwickelt wurde. Auch bei Plotinos ist die grundlegendste Frage seiner Philoso­ phie diejenige der griechischen Philosophie im Allgemeinen, nämlich die Frage nach der Einheit in der Vielfalt der Phänomene. Plotinos identifiziert dieses grundlegendste Prinzip der Wirklichkeit als das Eine, das in allem wirkt und gleichzeitig von ihm unterschieden ist und in sich selbst ruht. Die uns bekannte Wirklichkeit fließt aus dem Ur-Einen durch eine Kaskade von Seinsformen, nämlich die des Geistes, der Seele, der Natur und der Materie, die die Endstation des abwärts gerichteten Weges, der »Katabasis«, darstellt. Die Entstehung der Dinge ist also ein Prozess der Emanation, des Ausströmens der 107 Zur Patristik, der christlichen Theologie der ersten Jahrhunderte, sagt Ernst von Aster in seiner sehr gründlichen Geschichte der Philosophie: »Die Philosophie der Patristik trägt im ganzen, im Osten wie im Westen, das Gepräge des Platonismus; sie ist sogar eine Fortsetzung, ein Zweig der neuplatonischen Bewegung der Spätantike, die in Plotin ihren Höhepunkt erreichte.« (S. 135).

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Dinge aus dem göttlichen Einen. Die Tatsache, dass alles aus dem Einen herausgeflossen ist, bedeutet zugleich, dass es tief mit ihm verbunden ist, wie weit es sich auch von ihm entfernt haben mag. Das Viele, die uns bekannte Wirklichkeit, ist also das Eine im Modus des Anderen, der Entfremdung, wie die moderne Philosophie sagen würde. Diese Entfremdung kann dann auch durch einen Weg zurück, den »Weg nach oben« oder die »Anabasis«, aufgehoben werden. Die Rückkehr der Seele zu dem Einen ist möglich durch Denken, Reflexion und schließlich durch die Intuition der Verschmelzung mit dem Einen in der mystischen Ekstase. Und dies wiederum beruht auf der Vorstellung von der Wesensverwantschaft der Seele mit Gott. Denn weil Gleiches Gleiches kennt, weil wir in der Tiefe von Gottes Geschlecht sind108, ist der Weg zurück zum Einen möglich. Goethe formulierte diese Erkenntnis in gemeißelter Form in den bekannten, schon mal zitierten Verszeilen: Wär' nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Wär' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?109

Plotinos’ Philosophie ist also eine Form der Mystik – ich werde darauf noch zurückkommen – eine meditative Philosophie der Konzentra­ tion, der Einkehr und der Abkehr von der geschäftigen Welt des Vielen. Als solche steht sie sowohl für eine Lebenseinstellung als auch für eine philosophische Vision.

Die Stoa Wenn es darum geht, Beispiele von philosophischen Konzeptionen mit spirituellem Einschlag zu geben, darf die Philosophie der Stoa nicht fehlen. Zwar ist diese Philosophie in erster Linie eine Lebens­ lehre, in deren Mittelpunkt die Ethik als Lebenskunst steht: wie man die »Eudämonie«, das Glück oder den Seelenfrieden erlangt. Aber sie tut dies auf der Grundlage einer Weltanschauung, in der sie den bei­ den Grundbegriffen der griechischen Philosophie, »Logos« (Vernunft oder Vernünftigkeit) und »Physis« (Natur oder Kosmos), eine eigene 108 109

So auch der Apostel Paulus, Apostelgeschichte 17:28. Zahme Xenien III (1827), Goethes Werke (WA), Weimar, I, 3, 279.

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Interpretation gibt. In der stoischen Sicht der Dinge ›durchwohnt‹, wie sie sagen, der Logos als das göttliche Ordnungsprinzip der Dinge das Universum. Alles, was geschieht, hat auf diese Weise einen göttlichen Stempel, auch wenn es auf den ersten Blick zufällig und irrational erscheint. Indem er diese Einsicht gewinnt, kann sich der Mensch den Ereignissen anpassen, die durch das göttliche Weltgesetz geregelt werden, und kann er »Gleichmut«, Unerschütterlichkeit erreichen und sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Daher die Lebensregel der Stoa, die alle anderen Pflichten und Tugenden zusammenfasst: »im Einklang mit der Natur leben«. Aber das ist, wie gesagt, nur möglich, weil es eine göttliche Ordnung in dieser Natur gibt. Dieses göttliche Ferment durchdringt also auch uns Menschen, die wir uns mit dem Göttlichen verwant wissen dürfen. Unter diesem Gesichtspunkt können die Stoiker dann auch die Volksreligion mit ihren vielen Göttern betrachten: Sie sind für die Stoiker Personifikationen der göttlichen Weltvernunft, die poetisch und metaphorisch mit dem Namen des obersten Gottes Zeus bezeichnet werden kann. Dies geschieht in so vielen Worten in der schönen Zeushymne des Cleanthes110, dem deutlichsten Ausdruck stoischer Religiosität: »Höchster, allmächtiger Gott, den viele Namen benennen, Zeus, du Herr der Natur, der du das All nach dem Gesetz lenkst, Sei mir gegrüßt! Dein Preis geziemt den sterblichen Menschen. Sind wir doch alle entsprossen von dir und mit Sprache (logos) begabet sind wir allein von allem, was lebt und webt hier auf Erden. Preisen will ich drum und deine Macht immer verkünden. Dein ist das Weltgebäude, das um die Erde sich drehet, folgt dir, wie du es führst, fügt willig sich deinem Gebote (....) Durch ihn (den feurigen Blitz) lenkst du die Welt, dass in allem Vernunft sich bewähre. (...) Ja, es gibt nichts auf Erden, was deiner Gottheit entzogen, Nichts im Reiche des Äthers noch drunten in Fluten des Meeres. ur was Böses die Menschen vollbringen, das tut ihre Torheit. Aber du weißt auch das Krumme zum Graden zu richten. Was hässlich, schön wird es in deiner Hand, was feindlich ergibt sich der Liebe; Cleanthes (ca. 330 – ca. 230 v. Chr.), das zweite Oberhaupt der Schule der Stoiker. Übersetzung von Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, 109f.

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Gutes und Böses, sie werden vereint zu einem Verbande; Eine Vernunft herrscht ewig, fasst alles harmonisch zusammen. (...) Drum, du allgütiger Zeus, inmitten des dunklen Gewölkes, Herr des schimmernden Blitzes, sei gnädig uns Menschenkindern! Nimm auch das Dunkel der Torheit, o Vater, von unserer Seele! Einsicht gib uns und rechten Sinn, dein königlich Erbe! Ehrst du uns so, dann können auch wir die Ehre dir geben, stimmen das Loblied dir an, wie es ziemet sterblichen Menschen. Denn kein höheres Amt ward Göttern und Menschen verliehen, als das Gesetz zu preisen, das beide im Rechte verbindet.«

Kurzum, abermals eine Philosophie mit einer eindeutig spirituel­ len Ausrichtung. Auch aus der mittelalterlichen und modernen Philosophie las­ sen sich viele Beispiele von spirituell durchglühten Konzeptionen anführen. Ich möchte nur einige von den vielen nennen, die in Frage kommen. Da ist zunächst das Werk von Johannes Scotus Eriugena (810–877), einem der Väter der scholastischen Philosophie, der in Paris lehrte. Er ist der Autor eines Werkes Über die Einteilung der Natur, wo alles Seiende aus Gott als dem Grund aller Gründe hervor­ geht. Aus dieser »ungeschaffenen, alles schaffenden Natur« entstehen von Ewigkeit her die Ideen als Urbilder aller Dinge, von ihm als »geschaffene und schöpferische Natur« bezeichnet. Daraus wiederum ergibt sich die raumzeitliche Welt, die »geschaffene, aber selbst nicht mehr schöpferische Natur«. Die Wirklichkeit wird hier also als Theo­ phanie, als Manifestation des Göttlichen gelesen. Alles, was aus dem ewigen Ursprung hervorgegangen ist, wendet sich aus seiner inneren Verfassung heraus wieder diesem Ursprung, Gott, zu und kehrt zu ihm zurück. So wird auch hier der Weltprozess als ein Streben nach einem immer tieferen und reineren Sein aufgefasst, das zugleich ein immer reineres Gutes ist, das den Willen anleitet. Eine faszinierende Verschmelzung von neuplatonischem und christlichem Denken. In diesem Zusammenhang steht auch das Denken von Bonaven­ tura (1221–1274), dem dritten Leiter des Franziskanerordens. Seine Vorstellung von der Wirklichkeit ist durch und durch symbolistisch: Die uns bekannte Welt ist ein großer Komplex von Symbolen, die auf die ewigen Archetypen oder »Exempla« der Dinge verweisen (Exemplarismus). Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit zeigt überall die Spuren ihres Schöpfers, die wir lesen lernen müssen, um immer höhere Stufen des Verstehens zu erklimmen und so Gott immer näher

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zu kommen und schließlich mit ihm zu verschmelzen. Das Leben ist, kurz gesagt, eine »Pilgerreise der Seele zu Gott«, wie es in seiner feinsinnigen und bekanntesten Schrift heißt. Die neuplatonische Schnur, modern transformiert, wird vom großen Denker der Übergangszeit vom Mittelalter zur Moderne, Nicolaus Cusanus (1401–1461), weitergesponnen. Sein Interesse am Unendlichen, das das charakteristische Streben des modernen europä­ ischen Menschen nach Überwindung aller Grenzen111 widerspiegelt, weist in Richtung der Moderne. Dies im Gegensatz zum griechischen und mittelalterlichen Geist, der überall in Termini von Maaß und Grenzen denkt. So entwickelte Cusanus auf rein spekulativer Basis die Idee eines unendlichen Universums, in dem sich, lange vor Kopernikus und Kepler, eine sich bewegende Erde befindet. Charakteristisch für sein Denken ist auch, dass er versucht, die Wirklichkeit mit Hilfe mathematischer Konzepte und Gleichungen zu verstehen (Hintergrund dessen ist die Überzeugung, dass Gott die Welt auf mathematische Weise geordnet hat). Doch diese Mathe­ matik zeigt auch moderne Züge: Im Gegensatz zur griechischen Geometrie, die in statischen, klar abgegrenzten Figuren und Körpern denkt, werden die Dinge bei Cusanus auch mathematisch fließend, kreisen sie um den Limitbegriff und die Annäherung an ihn.112 Er spielt zum Beispiel mit der Idee, dass der Umfang eines Kreises mit unendlichem Radius eine gerade Linie ist. Aber das höchste Ziel unseres Denkens, ihm zufolge, ist es, Gott als das höchste Wesen und innerste Wesen der Dinge zu erkennen. Dieses höchste Seiende ist das Absolute, in dem alle Gegensätze, die unser endliches Denken unterscheidet, aufgehoben sind (coincidentia oppositorum), oder auch das aktuell Unendliche, in dem das Größte und das Kleinste zusammenfallen. Dies liegt jedoch jenseits unseres Verständnisses, und so enden wir hier in einem Nicht-Wissen, dessen Gründe wir kennen: einem »gelehrten Nicht-Wissen« (docta ignoran­ tia). Alles in allem haben wir auch hier wieder einen Versuch vor uns, uns mit den Mitteln unseres endlichen Denkens darüber zu erheben, kurz gesagt, eine von tiefer Religiosität oder Spiritualität erfüllte Philosophie. Für weitere Einzelheiten siehe meine Studie Die Wirklichkeit aus neuer Sicht, a.a.O., 66ff. 112 Dies geht in die Richtung des von Newton und Leibniz geschaffenen und von ihren Nachfolgern weiterentwickelten Kalküls bzw. der Differential- und Integralrechnung. 111

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Man könnte noch eine ganze Reihe von Philosophen aus der abendländischen philosophischen Tradition nennen, deren Denken von einem solchen spirituellen Moment geprägt ist. Um nur einige zu nennen: Philosophen der Renaissance in neuplatonischer Tradition wie Marsiglio Ficino (1433–1499) und Pico della Mirandola (1463– 1494), ferner Denker, die in ihren Überlegungen den »existenziellen« oder Gefühlsaspekt betonen, wie Jacob Böhme (1575–1624), Johann Georg Hamann (der »Magus des Nordens«, 1730–1788), Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der romantische Theologe und Philo­ soph Friedrich Daniel Schleiermacher (1786–1834), der Däne Sören Kierkegaard (›Vater der Existenzphilosophie', 1813–1855), amerika­ nische Philosophen wie Ralph Waldo Emerson (1803–1882) und Josiah Royce (1855–1916), die Deutschen Romano Guardini (1885– 1968) und Josef Pieper (1904–1997), Russische Denker wie Wladi­ mir Solowjew (1853–1900) und Nicolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874–1948), Niederländer wie Henk Oldewelt (1897–1986) und Otto Duintjer (1932–2020) und viele andere. Aus der neueren Philosophie möchte ich drei näher erwähnen: Henri Bergson, Ernst Bloch und Cornelis Verhoeven. Von Henri Bergson (1859–1941) stammt die Aussage: »Ein Philosoph, der diesen Namen verdient, hat nie mehr als eine Sache gesagt.«113 Diese Aussage gilt vor allem auch für ihn selbst. Seine gesamte Philosophie ist die fortlaufende Entfaltung eines Grundge­ dankens oder vielmehr einer Grunderfahrung, die er durch sorgfäl­ tige Beobachtung des Bewusstseins gewonnen hat. Das Bewusstsein entpuppt sich als ein ununterbrochener Strom miteinander verfloch­ tener Inhalte, von denen jeder seine eigene spezifische Qualität hat, wie wir durch sorgfältige Introspektion feststellen können. Berg­ son bezeichnet diesen der unmittelbaren Erfahrung zugänglichen Bewusstseinsvorgang als ›durée', als Zeit. Aufgrund des sich über­ lagernden Prozesscharakters der Zeitpunkte und ihrer sich ständig ändernden qualitativen Färbung ist es unmöglich, in allgemeinen Worten über sie zu sprechen. In unserem Denken und Sprechen versuchen wir es mit Hilfe von wohldefinierten Begriffen und Worten in den Griff zu bekommen und bringen so den fließenden Bewusst­ seinsprozess immer wieder zum Stillstand und zerteilen ihn in Teile. Auf diese Weise verräumlichen wir, wie Bergson sagt, die Zeit, aber 113 Henri Bergson, »L'intuition philosophique«, in: La Pensée et le Mouvant, Alcan, Paris 1934, S. 141: »Un philosophe digne de ce nom n'a jamais dit qu'une seule chose.«

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auf Kosten ihrer tieferen Natur. Die Philosophie versucht dann, den Blick auf diese zugrundeliegende Dimension zu öffnen, indem sie die Verräumlichung der Zeiterfahrung abstreift. Bergson weitet dann die aus der unmittelbaren inneren Erfah­ rung gewonnene Sicht des Bewusstseins auf die Wirklichkeit als Ganzes und ihre verschiedenen Bereiche aus. Diese Realität offenbart sich dann als ein fortlaufender evolutionärer Prozess, der von einem schöpferischen Elan angetrieben wird und so immer wieder neue Formen hervorbringt. Übertragen auf Moral und Religion bedeutet diese Sicht der Dinge, dass sie ständig zu Systemen fester Verpflich­ tungen und feststehender Dogmen und Rituale erstarren, zu geschlos­ senen Formen von Moral und Religion, wie er sie nennt. Aber auch hier erfüllt sich das tiefere, authentische moralische und religiöse Bewusstsein nur durch die Öffnung des Horizonts für lebendige, offene Formen davon. Auch Gott kann dann nicht als ein Wesen mit einer festen Identität verstanden werden, sondern als eine werdende Gottheit in einer fortlaufenden schöpferischen Evolution der Wirk­ lichkeit. Ernst Bloch (1885–1977) ist in vielerlei Hinsicht ein Außenseiter der Philosophie. Dies gilt schon gleich für seinen Schreibstil: nicht der eher prosaische, argumentative, mit Begriffen operierende Stil, der in philosophischen Schriften allgemein üblich ist, sondern eine stark mit Bildern, Allegorien, Metaphern und Symbolen arbeitende, oft auch aphoristische Denkweise. Dieser Sprachgebrauch, der zum Poetischen tendiert, ist die Form, die dem Inhalt seiner Philosophie entspricht. In Blochs Vision ist die Wirklichkeit, sowohl die des Menschen als auch die der Natur, eine offene, unvollendete Wirk­ lichkeit, ein Reservoir noch nicht verwirklichter Möglichkeiten. Ein Denken, das nicht einfach nur registriert und beobachtet, sondern das Neue hervorruft, korrespondiert damit. Dazu passt das Bild in seiner konkreten Anschaulichkeit besser als der abstrakte Begriff. Ganz in diesem Sinne schenkt Bloch in seinem Denken der Kunst, der Poesie und dem Mythos große Aufmerksamkeit als Orte par excellence, die uns auf die Spur des Neuen, noch Ungedachten bringen können. Blochs Philosophie lässt sich also als der Versuch charakterisie­ ren, das Neue und noch Ungedachte in immer neuen Ansätzen sicht­ bar zu machen. So entwirft er die Konturen einer Ontologie (Theorie des Seins oder der Wirklichkeit) des Noch-nicht-Seins (eben nicht des Seins als des tatsächlich Seienden). Sie ist auf das Kommende ausgerichtet, das nicht einfach eine Fortsetzung des Bestehenden ist,

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sondern es in eine offene Zukunft übersteigt. Seine Philosophie hat somit einen eindeutig utopischen Charakter, der Aussicht und Hoff­ nung auf eine bessere Welt bietet – daher der Titel seines Hauptwerks Das Prinzip Hoffnung. Blochs Denken ist angesichts dessen, was ich gerade gesagt habe, von einem Transzendieren des Gegebenen geprägt. Diese Bewegung gipfelt jedoch nicht in einem endgültigen Endpunkt, der Transzendenz oder Gott, wie bei Aristoteles oder dem Gott der christlichen Tradition. Blochs Transzendenz ist eine »Transzendenz ohne Transzendenz«, wie er selbst schreibt. Er bezeichnet sich selbst als Atheist, hat sich aber wiederholt als homo religiosus, als religiöser Mensch, bezeichnet. Daher hat er sich eingehend mit Religion beschäftigt. Religionen können eine festgeschriebene Realität bilden und sind dann Ideo­ logien, Rechtfertigungen des Bestehenden. Aber sie alle besitzen ein transzendierendes Potenzial. Dieses Potenzial muss ausgelöst werden, was vor allem durch Ketzer und Rebellen (wie Jesus in Blochs Sicht einer war) geschieht, die deshalb seine ausgesprochene Aufmerksamkeit haben. Aber wenn die Religion ein Ort der Offenheit und der Hoffnung sein soll, darf sie sich nicht mit einer endgültigen Transzendenz abschließen, muss sie mit anderen Worten atheistisch sein. Daher eine Aussage wie: »Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, aber ebenso kann nur ein Christ ein guter Atheist sein.« Blochs Philosophie ist, kurz gesagt, eine Philosophie der Über­ schreitung des Bestehenden, des Neuen und der Offenheit. Sie hat also eine unverkennbare spirituelle Note, zumal wenn dies in einer bildreichen Sprache geschieht. Zum Abschluss dieses Rundgangs durch die abendländische philosophische Tradition wollen wir uns noch dem niederländischen Denker Cornelis Verhoeven (1928–2001) zuwenden. Aber, noch­ mals, ließe sich die Reihe der spirituellen Denker um viele Namen erweitern, ein Beweis dafür, wie tief diese ganze Tradition von einem spirituellen Ferment durchdrungen ist, die moderne Philosophie nicht ausgenommen. Verhoeven gilt als der originellste Denker des niederländischen Sprachraums im 20. Jahrhundert. Er ist ein Meister des kontem­ plativen Denkens, das er bezeichnenderweise vor allem in Form von Essays praktizierte – Essays also im ursprünglichen Sinne von »Experimenten«, Versuchen des forschenden Denkens. In der Tat sind

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sie immer vom Staunen114 über die Reichtümer der Welt geprägt. Oft sind es ganz gewöhnliche, alltägliche Dinge, die er als Thema wählt; seine Dissertation beispielsweise ist der Symbolik des Fußes gewidmet. Gewöhnliche Dinge sind also bei näherer Betrachtung keineswegs »gewöhnlich«, sondern halten immer wieder unerwartete und überraschende Aspekte für uns bereit. Wenn man sich dafür nur öffnet. Deshalb ist Verhoevens Denken geprägt von einer Haltung der Passivität, der Empfänglichkeit und des Geschehenlassens. Und wendet er sich gegen das »begreifende« Denken, das Erklärungen für das Wie und Warum der Dinge liefern will, nicht zuletzt, um sie zu kontrollieren und zu lenken. Für Verhoeven ist die Wirklichkeit immer reicher, als sie auf den ersten Blick erscheint. Ein wesentliches Merkmal dieses Werks ist es, mit einer suchenden, tastenden und umkreisenden Denkweise das Gegebene als etwas immer wieder Überraschendes aufleuchten zu lassen. Kurz gesagt, das Gewöhnliche in einem neuen Licht zu sehen. Von Spiritualität gesprochen! Eine interessante Frage zum Abschluss dieses Rundgangs durch westliche Philosophien mit religiöser oder spiritueller Affinität ist, ob eine Reihe zeitgenössischer, so genannter postmoderner dekon­ struktivistischer Positionen als negative indirekte Annäherungen an das religiöse Phänomen gelesen werden können. Sie würden dann mit anderen Worten ein philosophisches Gegenstück zur negativen Theologie bilden. Eine Sammlung von Überlegungen ist dieser Frage unter dem Titel Uns fehlen heilige Namen. Negative Theologie in der zeitgenössischen Kulturphilosophie115 gewidmet. Darin wird das Den­ ken von Philosophen wie Derrida, Marion, Nancy und anderen auf Züge untersucht, die gewisse Parallelen zur Tradition der negativen Theologie aufweisen. Diese Tradition ist, wie bereits erwähnt, davon überzeugt, dass von Gott oder dem Göttlichen nur in negativen, verneinenden Begriffen gesprochen werden kann. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass es sicherlich keine direkte Verbindung oder direkte Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Denkstilen gibt. Negative 114 Siehe z.B. sein Buch Inleiding tot de verwondering (Einführung zur Verwunderung), Damon, Budel 20215. 115 Niederländischer Titel Ons ontbreken heilige namen. Negatieve theologie in de hedendaagse cultuurfilosofie (red. en inl. van Ilse N. Bulhof en Laurens ten Kate), Kok Agora, Kampen 1992.

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Kapitel 5 Philosophie und Spiritualität: ein Blick auf die Tradition

Theologie bleibt Theologie, d.h. sie bleibt an der Idee Gottes oder des Göttlichen orientiert, auch wenn in der menschlichen Sprache keine positiven, sondern nur negative Aussagen darüber gemacht werden können. Der Schatten des Todes Gottes liegt jedoch über den oben genannten modernen Philosophien. Insofern sie aber das Denken in abschließenden Systemen, in denen alles adäquat seinen Platz finden kann, durchbrechen (›dekonstruieren‹), also die Wirklichkeit für vernachlässigte oder unzureichend zur Sprache gebrachte Erfah­ rungsformen offen zu halten versuchen, kann auch damit (indirekt) Erfahrungen des Heiligen oder Transzendenten der Weg geöffnet wer­ den.

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Kapitel 6 Philosophische Religionskritik

Doch auch wenn es angesichts des (selektiven) Überblicks über die abendländische philosophische Tradition im vorangegangenen Kapi­ tel zutreffen mag, dass ihr eine spirituelle Dimension keineswegs fremd ist, so ist es doch ebenso unbestreitbar, dass dies keine Selbst­ verständlichkeit ist. Im Gegenteil, auch hier setzt sich das kritische Potential der Philosophie durch. Diese philosophische Kritik betrifft vor allem die Religion in ihrer mehr gängigen Form. Sie beginnt schon sehr früh. Schon einer der ersten griechischen Philosophen, Xenophanes von Kolophon (560–478 v. Chr.), übt eine scharfe Kritik an den religiösen Vorstellungen seiner Zeit, wie sie vor allem in der Dichtung Homers und Hesiods Gestalt angenommen hatten: Götter, die sich gegenseitig in den Weg treten und betrügen, die Ehebruch begehen und eifersüchtig sind, die kurzum alle menschlichen Fehler und Untugenden aufweisen, dann aber in einer vergrößerten, den Göttern passenden Form. Xenophanes' Kritik an der Religion betrifft mit anderen Worten den Anthropomorphismus und Immoralismus der Volksreligion. Siehe Aussagen wie: »Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossenähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.«116 Und: »Alles haben den Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur bei Men­ schen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.« (Fr. 11). Xenophanes' Kritik an der Religion betrifft jedoch nicht das Phänomen der Religion als solches, sondern nur eine bestimmte Erscheinungsform davon, die er für minderwertig hält.117 Man kann darin eine erste Form des Projektionsdenkens erkennen: die These, 116

Herman Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Rowohlt, Hamburg 1957, S. 19, Fr

15. 117 Das Gleiche gilt für den aufklärerischen Tragödiendichter Euripides (484–406 v. Chr.), der ebenfalls eine schneidende Kritik an der überkommenen Religion übt. Besonders steht in seiner Kritik das unsittliche Handeln der Götter zentral. Aber

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dass der Mensch Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Aber das bestimmt für ihn nicht das ganze Bild der Religion. Im Gegenteil, er setzt ihr eine andere, gereinigte Form der Religion entgegen, eine Vorstellung von der Gottheit als gütig, ewig und frei von anthropo­ morphen Makeln: »Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen [d.h. den Menschen] ähnlich noch an Gedanken.« (Fr. 23) Und: »Gott ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr.« (Fr. 24) Dies bleibt das Bild in vielen philosophischen Konzeptionen mit spiritueller Ausrichtung, bei Pythagoras, Platon, den Stoikern, Plotin, Cusanus, Spinoza, Kierkegaard, Bergson und vielen anderen. Ihre Vorstellung von Gott oder dem Göttlichen unterscheidet sich tiefgreifend von derjenigen der Volksreligion und stellt somit eine vertiefte Form der Religiosität dar. Es ist bemerkenswert, dass diese philosophische Religionskritik mit derjenigen der alttestamentlichen Propheten wie Jesaja, Jeremia, Amos, Hosea, Micha und anderen übereinstimmt, in deren Reihe sich auch Jesus stellt. Auch hier geht es immer darum, sich von einer Religion des äußeren Scheins zu distanzieren, für die es ausreicht, wenn nur die vorgeschriebenen Rituale erfüllt werden, man sozusa­ gen auf Autopilot religiös sein kann. Im Gegensatz dazu plädieren diese Propheten für eine Verinnerlichung und moralische Vertiefung des religiösen Bewusstseins. Wesentlich ist für sie nicht so sehr die körperliche Beschneidung (obwohl sie nicht sagen, dass sie nicht mehr praktiziert werden sollte)118, sondern die Beschneidung des Herzens, die Übernahme einer verinnerlichten Lebenseinstellung. Und aus religiöser Sicht geht es in ihren Augen nicht so sehr um all die Rituale wie Opfer, religiöse Feste, Tempelbesuche usw., sondern um eine fromme Haltung, um Fürsorge und Gerechtigkeit für andere, insbesondere für die Schwachen in der Gesellschaft: die Armen, Witwen und Waisen.

ebenso wie bei Xenophanes bedeutet diese Kritik nicht die pauschale Verwerfung der Religion. »Mit seiner entschiedenen Kritik will Euripides jedoch nicht die Religion insgesamt, sondern nur bestimmte Erscheinungen treffen in der Absicht, sie zu rei­ nigen und zu läutern.« So Jörg Dittmer in seiner vorzüglichen Abhandlung ›Ma’at und Logos. Vergleichende Untersuchungen zur mentalen Infrastruktur der altägyptischen und der griechischen Kultur‹ (http://www.chairete.de/Frstart.htm, S. 58). 118 Im gleichen Sinne z.B. Joel 2, 12/13: Tut Buße für eure falschen Wege. »Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider ...«

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In diesem Sinne schreibt der Prophet Micha: »Womit soll ich vor den Herrn treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde?« Nichts von alledem, sagt der Prophet. Danach formuliert er kompakt, worum es geht: »Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes (!) als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.« (Micha 6, 6–8) Jimmy Carter zitierte diese Worte bei seiner Amtseinführung als Präsident der Vereinigten Staaten im Jahr 1977 als Leitfaden für seine Art zu regieren. Und wie bereits erwähnt, setzt Jesus diese Linie seiner alttes­ tamentlichen Vorgänger fort, wenn er z. B. sagt, dass man, wenn man opfern will, aber mit seinem Bruder oder seiner Schwester im Streit liegt, sein Opfer auf dem Altar liegen lassen und sich zuerst mit der anderen Person versöhnen muss (Mt. 5,23f). Ohne die Wiederherstellung dieser Beziehung ist das Opfer mit anderen Worten sinnlos. Dass hier, in dieser inneren Aneignung des religiö­ sen Lebens und Denkens, der Kern des Religiösen liegt, ist in den verschiedenen Religionen, dem Christentum, dem Judentum, dem Islam, dem Hinduismus, dem Buddhismus usw. immer wieder betont worden. Ganz im Einklang also mit der philosophischen Konzeption von Religiosität und Spiritualität in der ganzen Kette von Denkern von Xenophanes bis Bergson und darüber hinaus, wie bereits erläutert.

Die Entfremdung von moderner Philosophie und Spiritualität Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die moderne Philoso­ phie weitgehend irreligiös und unspirituell geworden ist. Und das, so glaube ich, aus zwei Gründen. Erstens: Weil die institutionalisierte Religion (die im Mittelpunkt der Kritik stand) ihren religiösen Kern weitgehend vergessen hatte, sie immer wieder zu einem Vehikel poli­ tischer, wirtschaftlicher und sogar militärischer Gruppeninteressen verkommen war. Religion als Institution hat sich im Laufe der Zeit immer wieder als repressive, unterdrückerische Institution in den Händen von ihrer Lebenseinstellung nach sehr irreligiösen Eliten gezeigt. Auf diese Weise ist das authentisch Religiöse immer wieder bis zur Unkenntlichkeit überwuchert und entstellt worden, indem es

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für andere als religiöse Zwecke instrumentalisiert wurde. Gegen diese unheiligen Allianzen einer nominell religiösen Institution wettert Marx natürlich (zu Recht), und mit ihm viele andere, die dann leider nicht mehr in der Lage sind, die Spreu vom Weizen zu trennen: Alle Religion ist Spreu oder Opium vom oder für das Volk. Aber wenn man die Identifikation der Religion mit ihrer Perver­ sion nicht mitmachen würde, dann wäre es prinzipiell möglich, die Trennung der Spreu vom Weizen zu vollziehen und das Religiöse in seiner authentischen Form wiederzuentdecken, so schwierig das in der Praxis auch sein mag. Das ist ja auch das Ziel all der Reformbewegun­ gen, die es in den verschiedenen Religionen immer wieder gegeben hat. Das würde auch der philosophischen Religionskritik im Sinne von Xenophanes und all den anderen oben genannten entsprechen, die die Religion nicht pauschal auf den Müllhaufen werfen, sondern nur eine bestimmte (möglicherweise sehr weit verbreitete) Version davon. Und die dann für eine gereinigte Form der Religiosität plädieren. Ein zweiter Grund, warum sich Philosophie und Spiritualität in der Neuzeit entfremdet haben (der übrigens oft mit dem eben genannten Grund Hand in Hand geht), hängt mit dem zuvor disku­ tierten Erdrutsch im soziokulturellen Bereich zusammen, der sich in der westlichen Gesellschaft beim Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit vollzog – ich komme hier auf den Gedankengang des Exkurses in Kapitel 1 zurück. Dort ging es darum, zu erklären, warum ein Misstrauen gegenüber dem hohen Stil mit seiner Ausrichtung auf das Erhabene, auf Visionen und metaphysische Intuitionen (Zagajew­ ski) für große Teile der modernen Kunst charakteristisch geworden ist. Jetzt geht es darum, dass man in der heutigen Zeit oft nur noch an das glaubt, was direkt und massiv greifbar ist, an das Gewöhnliche, Alltägliche und oft nicht sehr Edle. Symptomatisch dafür ist der große Einfluss der so genannten »Meister des Misstrauens«, Marx, Nietzsche und Freud, auf das heutige Bewusstsein. Ihrer Ansicht nach verbergen sich hinter allen höheren Ausdrucksformen der Kultur wirtschaftliche Motiven und Interessen (Marx), Machtkämpfe (Nietz­ sche) oder Sublimierungen sexueller Triebe (Freud). Ich habe dieses Ereignis, das man auch als Modernisierungsprozess bezeichnen kann und das die westliche Gesellschaft und Zivilisation nachhaltig geprägt hat, die »Umkehrung der Welt« genannt119, es wurde bereits erwähnt. In der modern-westlichen Welt wird, wie ebenfalls bereits erwähnt, 119

Siehe Anmerkung 34.

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im Vergleich zur Vormoderne alles unter umgekehrtem Vorzeichen gelesen. In einer vormodernen Perspektive wird die Wirklichkeit von oben betrachtet (eigentlich, aber oft implizit, von einem göttlichen Standpunkt aus): Veränderung oder Werden ist dort eine Ableitung des Seins (das immer Gleiche), Zeit von Ewigkeit, das Unvollkom­ mene vom Vollkommenen, Irrtum von Wahrheit, Torheit von Weis­ heit, Böses von Gutem, Unsinn von Sinn usw. Die letzteren Begriffe der Begriffspaare sind die Ankerpunkte und Parameter, an denen die anderen gemessen werden. Sie verlieren diese Position jedoch an der Wende von der Vormoderne zur Moderne und werden nun entweder praktisch bedeutungslos oder bestenfalls zu Grenzbegriffen, die von ihren Antipoden aus gedacht werden: Sein von Werden, Ewigkeit von Zeit, Wahrheit von Irrtum120, Sinn von Unsinn usw. Kurz gesagt, das »Höhere« wird von dem »Niederen« her interpretiert, das Ideale vom Nicht-Idealen her. Ich habe vorhin gesagt, dass ein Merkmal der Moderne die Tren­ nung von Realität und Idealität ist. In einer vormodernen Perspektive sind beide immer miteinander verbunden: Das Ideale schimmert in allem Realen durch. Die Mythen erzählen uns zum Beispiel, wie alle Dinge »am Anfang« von höheren Mächten angeordnet wurden, was ihr »Zweck« ist, auch wenn dieser durch den Lauf der Zeit ständig verdeckt wird. Und wie durch Rituale, Gebete, Meditation usw. Dinge, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, wieder in Ordnung gebracht werden können. Religion und nicht zuletzt Spiritualität leben von dieser Orientie­ rung am Ideellen. Wenn diese jedoch in der heutigen Zeit zunehmend prekär und problematisch wird, verlieren Religion, Religiosität und Spiritualität zunehmend den Boden unter den Füßen. Und genau das ist im Laufe des Modernisierungsprozesses geschehen – nicht über Nacht, sondern in einer kontinuierlichen Bewegung. Tatsächlich sind die Folgen dieses Prozesses vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten immer deutlicher zutage getreten, und gleichzeitig hat sich die Krise von Religion und Spiritualität vertieft und verschärft. In der Linie des Misstrauens gegenüber »dem Höheren« entsteht dann zum Beispiel die Ansicht, dass hinter aller Religion priesterlicher 120 Man denke zum Beispiel an Nietzsches bekannten Satz »Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne die eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte«. Aus dem Nachlass der achtziger Jahre, Werke in drei Bänden (hgg. Von Karl Schlechta), Hanser, München 1956, Bd. III, 844.

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Betrug steckt, dass es sich also um eine große Verschwörung einer bestimmten Kaste der Bevölkerung gegen den Rest handelt, um die­ sen beherrschen und ausbeuten zu können. Die Religion ist in dieser Sichtweise, um es mit den Worten von Marx zu sagen, das »Opium des Volkes«, eine Droge, die das Volk ruhig hält. Analog dazu, um nur das zu erwähnen, wird in der Psychologie und Psychiatrie um 1900 die Religion weithin als Krankheit und abnormer Geisteszustand verstanden. Religion wird dann als eine Sache der Hysterie oder der Halluzination betrachtet. So betrachtete der Psychiater Pierre Janet, der auch Freud bekannt war, die Mystik als Kulminationspunkt oder als eigentliche Manifestation dieser Krankheit. In einem Artikel mit dem Titel ›Une extatique mystique' (Eine ekstatische Mystikerin) beschreibt Janet die Krankheit einer Patientin und ihre mystischen Erfahrungen – der Artikel wurde typischerweise in der Zeitschrift Histoire de la folie (Geschichte des Wahnsinns) veröffentlicht. Und sein großes Buch De l'angoisse à l'extase (Von der Angst zur Ekstase) trägt den Untertitel »Une délire religieux chez une extatique« (Ein religiöses Delirium bei einer Ekstatikerin).121

Ist die »Umkehrung der Welt« die ganze Geschichte? Wenn das die ganze Geschichte wäre, wenn die ganze Kultur aus moderner Sicht ein Ausdruck von Interessen, Machtstreben und Triebhaftigkeit wäre, dann wäre die Sache der Religion, der Religiosi­ tät und der Spiritualität eine hoffnungslose und verlorene Sache. In einer menschlichen Gesellschaft, die sich im Modus des Skeptizismus, des Misstrauens und des Konflikts befindet, ist dann die Orientierung an Harmonie, Sinn, Wahrheit, Güte und Schönheit, die für Religion und Spiritualität wesentlich ist, eine illusorische Angelegenheit, – der »Tod Gottes« ist dafür, wie bereits erwähnt, die zusammenfas­ sende Bezeichnung. Und das ist in der Tat der tiefere Sinn einer bestimmten Auffassung von Aufklärung und Modernisierung, die als unaufhaltsamer Prozess der Entzauberung der Welt und einer umfassenden Reinigung von Vorurteilen (»Idolen«) verstanden wird. Nicht umsonst steht die Aufklärung (oder vielmehr ein bestimmtes Entliehen von Gerrit Steunebrink, ›Warum definiert Bergson Religion von der Mystik her?‹, in: JRaT, Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society 5 (2019), 98–119, hier 102.

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Konzept der Aufklärung), wie bereits erwähnt, im Zeichen der Kritik, die sich ursprünglich gegen bestimmte Vorurteile religiöser und poli­ tischer Art richtete, letztlich aber in einem umfassenden Kahlschlag auf geistigem und sozialem Gebiet gipfelte. Auf diese Weise haben wir das antiseptisch gereinigte moderne Universum erhalten, das von einem zumindest methodologischen (aber oft verkappt in einem ontologischen Sinne aufgeschütteten) Materialismus beherrscht wird, ebenso wie von Atheismus, Skepti­ zismus oder Agnostizismus usw. Es stellt sich also die Frage, ob die Antisepsis der Moderne nicht ein wenig zu radikal war, oder anders gesagt, ob wir nicht Pestizide eingesetzt haben, mit denen wir nicht nur das Unkraut, sondern auch den halben Garten und mehr weggespritzt haben und nur die widerstandsfähigsten Pflanzen stehen gelassen haben, nämlich jene, die sich im rauhen Wind des entzauberten Weltbildes und seines reduzierten Erfahrungsbegriffs (dazu später mehr) behaupten können. In der Tat gibt es gute Gründe dafür, dass dies nicht die ganze Geschichte ist, sondern dass eine philosophisch unhaltbare Demontage unserer Erfahrungswirklichkeit oder eine »Halbierung des Weltbildes«122 stattgefunden hat. Dafür habe ich zwei Gründe: 1) die Betonung des Gewöhnlichen, Alltäglichen und unmittelbar Greifbaren in der Moderne hat einen reduzierten Erfahrungsbegriff als Ausdruck einer Desensibilisierung oder gar Blindheit gegenüber bestimmten Arten von Phänomenen hervorgebracht, eine Entwick­ lung, die ich als Phänomenfinsternis bezeichne; und 2) auf der Grundlage faszinierender Entwicklungen insbesondere in den Naturund Lebenswissenschaften des letzten Jahrhunderts glaube ich, aus wissenschaftlichen Gründen also, feststellen zu können, dass das entzauberte bzw. mechanisierte Weltbild neuen Einsichten zufolge keine adäquate Darstellung der Wirklichkeit ist. Es gibt also gute Gründe für eine Rehabilitierung vernachlässigter und abgeschriebe­ ner Erfahrungsformen, unter denen die der Religion und Spiritualität. Ich möchte beide Aussagen näher erläutern.

122 Siehe ›De halvering van het wereldbeeld‹. »Die Halbierung des Weltbildes. Oder das andere Gesicht der Moderne«, in: G.A. van der Wal, Recht met reden. Verzamelde opstellen, Kluwer, Deventer 2003, 387–402.

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Zu 1) Phänomenfinsternis Die Behauptung, unsere moderne Kultur leide unter einer mehr oder weniger systematischen Phänomenfinsternis, klingt zumin­ dest bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die Astronomie, die Elementarteilchenphysik, die Molekularbiologie, die Genetik usw. immer wieder Phänomene ans Licht bringen, die zuvor noch nie beob­ achtet worden waren. Wenn man jedoch genau hinschaut, bemerkt man, dass es sich immer um eine bestimmte Art von Phänomenen mit einer entsprechenden Art von Erfahrung handelt. Es betrifft immer Phänomene, die im äußerlichen Sinn beobachtet werden können (wenn auch immer weniger »direkt«, d. h. mit dem bloßen Auge, sondern zunehmend durch den Einsatz von hochentwickelten Gerä­ ten). Erfahrung ist hier also identisch mit äußerer Wahrnehmung. Descartes identifiziert die grundlegende Eigenschaft dieser Art von Phänomenen sehr genau mit dem Begriff der Ausdehnung oder Räumlichkeit, d. h. der Äußerlichkeit. Es handelt sich mit anderen Worten um Entitäten ohne inneres Wesen, Bewusstsein, Wahrneh­ mung, Streben usw. Zum Beispiel kann er Tieren konsequent, aber sehr kontraintuitiv das Schmerzempfinden absprechen, was meiner Meinung nach ein sehr bezeichnendes Beispiel für eine Phänomen­ verfinsterung ist. Wir wissen, wie die Entwicklung verlaufen ist. Die allgemeine Tendenz besteht darin, alle Arten von Erfahrungen als Nebeneffekte und Derivate der oben genannten Art von Erfahrung zu betrachten, d. h. als eine Angelegenheit der äußeren Wahrnehmung. Parallel dazu werden alle Qualitäten der Wirklichkeit auf diejenigen reduziert, die für diese Art von Erfahrung zugänglich sind, die bekannte Geschichte der Reduktion der so genannten sekundären und tertiären Qualitä­ ten auf die primären. Es kann auch so ausgedrückt werden, dass die allgemeine Tendenz des modernen Denkens darin besteht, das »Höhere« durch das »Niedere« zu erklären. So wird beispielsweise aus soziologischer Sicht die Religion als Kitt der Gesellschaft verstanden, soziale Phänomene wie die Moral wiederum werden aus biologischer Sicht als Instrumente des Überlebens der menschlichen Spezies im Kampf ums Dasein interpretiert, eine Stufe weiter wird die Lehre von den Phänomenen des Lebens zu einem Kapitel der Biochemie, usw. Nun ist an sich nichts dagegen einzuwenden, sogenannte reduk­ tive Analysen durchzuführen, bei denen Phänomene einer bestimm­ ten Ebene mit Kategorien und Methoden untersucht werden, die auf

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einer »grundlegenderen« Ebene üblich sind und sich dort bewährt haben. Solange dies nur ein Weg ist, um die Realität zu begreifen, einen Weg zu gehen, um zu sehen, wohin er uns führt – das hat schon oft Früchte getragen –, ist dagegen nichts einzuwenden. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn die Übertragung der Phänomene auf eine andere Ebene nicht als methodischer Kunstgriff betrachtet wird, um ein neues Licht auf die Phänomene zu werfen und sie im Prinzip unangetastet zu lassen, sondern wenn die Phänomene einer Ebene durch eine reduktive Analyse als ohne weiteres im Idiom der grundlegenderen Ebene interpretierbar betrachtet werden. Reli­ giöse Phänomene sind dann in soziologischen (und psychologischen) Kategorien erschöpfend analysierbar. Die Moral wird dann Teil der Biologie, und diese wiederum Teil der Chemie. Reduktive Analysen werden dann zu Reduktionismus, zu nichts-anders-als Denken. Und die These ist, dass der moderne Erfahrungsbegriff zumindest implizit, oft aber auch explizit, reduktionistisch ist. Dies entspricht natürlich einem reduzierten oder halbierten Bild der Realität.

Homogenisierung der Erfahrung Der deutsche Philosoph Robert Spaemann hat diese Verengung des Erfahrungsbegriffs und damit des Wirklichkeitsbegriffs als Homoge­ nisierung oder Domestizierung der Erfahrung bezeichnet.123 Damit meint er folgendes: Während Erfahrung das bezeichnet, was uns, oft ungefragt, mit der vor uns liegenden Wirklichkeit konfrontiert, hat sich Erfahrung in der Moderne auf das reduziert, was in unse­ rem eigenen bestimmten Rahmen oder unter von uns bestimmten Bedingungen reproduziert werden kann (daher die Charakterisierung »Domestizierung der Erfahrung«). Diese Art von Erfahrung begegnet uns natürlich am stilvolls­ ten bei wissenschaftlichen Experimenten. Denn dort werden die Phänomene unter von uns konstruierten Bedingungen untersucht. Aber dieser Begriff der Erfahrung entspricht der Auffassung von Rationalität mehr im Allgemeinen, die für das moderne Denken charakteristisch geworden ist. Auch hier wieder unterscheidet sich das moderne Denken in Bezug auf den Begriff der Rationalität radikal vom vormodernen Denken: Dort ist die Wirklichkeit eine Gegebenheit 123

Robert Spaemann, Philosophische Essays, Reclam, Stuttgart 1994, 240ff.

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mit dem Denken vorgegebenen Eigenschaften oder Essenzen. Denken bedeutet dort den Versuch, herauszufinden, wie die Dinge unabhängig von diesem Denken aufgebaut sind. Das Denken folgt dem Sein, wie die mittelalterlichen Philosophen sagen; es zeichnet die Wirklichkeit nur nach, will sie möglichst begriffsgetreu abbilden, verändert sie jedoch nicht und kann sie auch nicht verändern. Richtiges Denken ist also Denken in Übereinstimmung mit der Realität; Wahrheit ist in dieser Perspektive die Übereinstimmung von Denken und Sein. Mit anderen Worten, hier wird ein kontemplatives Konzept von Wissen vertreten. Völlig anders ist das moderne Konzept der Rationalität. Hier gehen Wissen und Machen eine innere Beziehung ein. In der Tat: Die Herstellbarkeit wird zu einem Kriterium der Wissbarkeit. Kant, auch hier ein Philosoph der Neuzeit, hat es in seiner unübertroffenen Prägnanz formuliert: »Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde.«124 Mit anderen Worten: Was nicht herstellbar ist, kann auch nicht wirklich erkannt werden. Die moderne Denkweise besteht also darin, alles unter dem Aspekt des Machbaren zu betrachten und darauf zu vertrauen, dass alles, vielleicht jetzt noch nicht, aber im Prinzip zu gegebener Zeit, machbar und konstruierbar ist. Dies ist die »Philosophie« und das Wissenschaftsverständnis der Moderne. Die Mathematik ist eine exakte Wissenschaft, weil wir die mathematischen Einheiten selbst konstruieren, sie sind also ein Pro­ dukt des Geistes. Nach Hobbes ist die Politik eine echte Wissenschaft, weil wir ihren Gegenstand, die Gesellschaft, durch den Gesellschafts­ vertrag selbst herstellen. Nicht anders verhält es sich bei Marx, für den die Gesellschaft ebenfalls menschengemacht ist, nämlich durch die produktive Arbeit. Kurzum, hier herrscht ein operativer Wissens­ begriff vor, der Rationalitätsbegriff einer technischen Kultur, die von Kontrolle, Überwachung, Planung und Management beherrscht wird. Philosophisch kulminierte diese Sichtweise in der Konstitutionsphi­ losophie von Kant, Hegel, Cassirer, Husserl und anderen, in der die Vernunft die Wirklichkeit (zumindest ihrer erfahrungsmäßigen Form nach) schafft und die Bedingungen aller Erfahrung im Subjekt liegen, das somit bestimmt, wie die Wirklichkeit erscheinen wird. 124 I. Kant, Brief an Plückner vom 26.1.1797, in: Gesammelte Schriften, Akad.-Ausg. Bd. XII, Berlin/Leipzig 1922, S. 57. In diesem Sinne hat der deutsche Soziologe Helmut Schelsky Kant als »den ursprünglichen Philosophen der modernen Technik« bezeichnet. Schelsky, ›Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation‹, in: id., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Diederichs, Düsseldorf 1965, S. 448.

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Außerdem ist dieses Konzept von Wissen und Erfahrung natürlich die Kehrseite des modernen Autonomiedenkens. Nochmals: Jedes Zeitalter bekommt die Philosophie, die es »verdient«, d.h. die zu ihm passt.

Ein Kampf gegen das Wunderbare oder eine Lektion in Enthaltsamkeit Eine interessante Illustration dieser Verengung des Erfahrungsbe­ griffs ist eine Geschichte aus dem Jahr 1740, die von J.H. van den Berg, dem Autor des bekannten Buches Metabletica, mehrfach beschrieben wurde. Im Sommer desselben Jahres wohnte der Naturforscher Trem­ bley im Haus Sorgvliet im Haag, dem späteren Catshuis (Amtswoh­ nung des niederländischen Ministerpräsidenten).125 Bei der Unter­ suchung der Teiche und Gräben rund um das Anwesen entdeckt er ein wundersames Wesen, das noch von niemandem beschrieben wurde und von dem unklar ist, ob es sich um eine Pflanze oder ein Tier handelt. Sein Freund Réaumur gibt ihm den Namen »Polyp«. Trembley unterdrückt sein anfängliches Erstaunen und schneidet den Polypen in zwei Teile, um zu sehen, was passiert. Seitdem hat sich dies unzählige Male bei allen Arten von Tieren und Pflanzen wiederholt. Laut Van den Berg ist Réaumur noch ein Naturforscher, der vom Wunder der Naturphänomene, ›le merveilleux', höchst fasziniert ist. Trembley unterdrückt diese Reaktion, die auch bei ihm vorhanden ist. Aber in der Wissenschaft muss man das überwinden: Es geht nicht darum, was man sieht, sondern wie man sieht, die Methode der Beobachtung. »Darin liegt der Unterschied zwischen einer ama­ teurhaften und einer wissenschaftlichen Sichtweise. (...) Wissenschaft ist eine Lektion im Sehen. Die Wissenschaft führte (im achtzehnten Jahrhundert) eine neue Art des Sehens ein. Dieses wissenschaftliche Sehen ist das Ergebnis eines Kampfes – eines Kampfes gegen das Wunderbare, einer »lutte contre le merveilleux«. (...) Von nun an wird die lebendige Natur ohne eine Spur von Erstaunen beobachtet und beschrieben. (...) Eine neue, reduzierte Welt wird durch Trembleys Handlung geschaffen, so Van den Berg...«. Die wissenschaftliche 125 Ich folge hier der Darstellung von Hub Zwart, »Een vijver« (Ein Teich), in: Maarten Coolen und Koo van der Wal (Hrsg.), Het eigen gewicht van de dingen. Milieufilosofische opstellen (Das Eigengewicht der Dinge. Umweltphilosophische Aufsätze), Damon, Budel 2002, 155ff.

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Beobachtung ist, kurz gesagt, eine Form der intellektuellen Askese, eine Lektion in Enthaltsamkeit, bei der Dimensionen der Erfahrung absichtlich ignoriert werden. Kurz gesagt, der Wissenschaftler zwingt sich selbst, die Realität auf eine bestimmte, sehr begrenzte Weise wahrzunehmen. Diese Art der Wahrnehmung war einerseits sehr pro­ duktiv, andererseits hat sie sie aber auch stark eingeengt und verarmt. Wenn in diesem Zusammenhang der Ausdruck »Homogenisie­ rung der Erfahrung« verwendet wird, dann aus der Erkenntnis heraus, dass es eine Reihe von Erfahrungstypen gibt, die sich nicht auf diese Weise homogenisieren oder domestizieren lassen, womit sie in die Position der Quasi-Erfahrung manövriert werden, d.h. nichts über die Wirklichkeit aussagen (was sich dann darin erweisen würde, dass sie technisch nicht anwendbar sind). Aber die Erkenntnis, dass die homogenisierte Erfahrung nicht der Standardtypus ist, sondern eher ein Ausnahmefall, ist eigentlich bereits im Begriff »Erfahrung« selbst eingeschlossen. Der Begriff kommt von »fahren«, »segeln«, »reisen«, »sich fortbewegen«. Er-fah­ ren heißt dann: indem man durch die Welt reist, lernen von dem, was man dabei sieht, von dem, was einem wider-fährt. Erfahren heißt, kurz gesagt: mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden, oft ungefragt, von ihr überrascht (oder vielleicht auch erschüttert) zu werden. Um einige Beispiele zu nennen: Wir alle kennen die Erfahrung, von Ereignissen, die uns unerwartet zustoßen, überrascht zu werden. Indem plötzlich bei uns selbst oder einer geliebten Person eine ernsthafte Krankheit festgestellt wird, die unser ganzes Leben über den Haufen wirft. Oder indem, wie im Fall der Corona-Pandemie im Jahr 2020, aus heiterem Himmel eine epidemische Krankheit ausbricht, die das soziale und wirtschaftliche Leben auf globaler Ebene durcheinanderbringt. Oder wenn uns Gefühle, die uns unwi­ derstehlich zu einem anderen Menschen hinziehen, mitreißen, wir, wie die Engländer sagen »fall in love«, wir vom Staunen überwältigt werden, alles Geschehnisse, wobei wir nicht die Akteure, sondern das »Akkusativobjekt« dieser Ereignisse sind. Etc.

Zugabephänomene Darüber hinaus kennen wir eine ganze Reihe von Phänomenen, die nicht gezielt bewerkstelligt werden können (eben nicht), denen aber

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dennoch in der heutigen Zeit ein hoher Stellenwert zugemessen wird. Dazu gehören Glück, Freude, Liebe, Freundschaft, Autorität, Vertrauen, Authentizität, Intimität, persönliche Überzeugungen und andere. Vor allem Max Scheler betonte, dass Glück, nicht anders als zum Beispiel Freude, nicht das Ergebnis von Bemühungen sein kann, es direkt zu erreichen. Im Gegenteil, es entsteht erst vermittelt durch andere Zustände, »auf dem Rücken von Handlungen«, wie Scheler sagt, die auf Inhalte ganz anderer Art gerichtet sind. Deshalb, schreibt Josef Pieper, »wird uns, wann immer es uns widerfährt, glücklich zu sein, etwas Unvorhergesehenes zuteil, etwas, das nicht vorausgesehen werden konnte und also der Planung und dem Absehen entzogen blieb. Glück ist wesentlich Geschenk.«126 Es liegt in der Natur der Sache, dass man Glück nicht erzwingen kann, wie man es ausdrücken könnte. Der Psychiater Viktor Frankl hält den Wunsch danach sogar für ein Symptom einer neurotischen Haltung.127 Er zitiert Kierke­ gaard, der einmal bemerkte, dass sich die Tür zum Glück nur nach außen öffnet, also muss sie für einen geöffnet werden. Wer versucht, sie einzurennen, wirft sie nur noch fester ins Schloss. Glück, so Frankl, ist nur möglich, wenn es einen Grund dafür gibt, und der kann nur in Erfahrungen von Sinnhaftigkeit und in der liebevollen Begegnung mit anderen bestehen. Glück ist nur indirekt erreichbar, über diesen »Grund« und als ein ihn begleitendes Phänomen, nicht indem man direkt darauf fokussiert. Das Gleiche gilt dann für die anderen oben genannten Phäno­ mene. Erich Fromm stellt zum Beispiel in Bezug auf die Freude fest: »Freude ist eine Begleiterscheinung produktiven Tätigseins.«128 Wer sie zielgerichtet verfolgt, wird über einen Zustand erzwungener, aber leerer Freude nicht hinauskommen. Auch Autorität und Respekt, um es dabei nun bewenden zu lassen, können nicht durch gezieltes Handeln erworben werden. Sie eignen sich nicht zum »Scoren«, sondern können nur als Zugabe Menschen zufallen, die mit dem Herzen bei der Sache sind, womit sie sich beschäftigen, bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit, ihrer Kunst, der Führung eines Unterneh­ mens, der Betreuung und Pflege von hilfsbedürftigen Menschen oder was auch immer. Ich bezeichne sie als Zugabephänomene, die uns im Laufe unserer ansonsten zielgerichteten Aktivitäten en passant Josef Pieper, Glück und Kontemplation, Kösel Verlag, München 1957, 22. Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper, München/Zürich 19854, 101. 128 Erich Fromm, Haben oder Sein, DTV, München 19804, 115. 126 127

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zufallen. Sie erfordern daher nicht so sehr eine aktivistische, sondern eine rezeptive Haltung, eine Haltung des Sich-Öffnens für nicht inszenierte Erfahrungen. Man kann sich diesem Thema auch auf folgende Weise nähern: Die von uns gelenkte (domestizierte) Erfahrung verlangt vom Lenker (Experimentator, Planer usw.), dass er seine eigene Subjektivität so weit wie möglich ausschaltet. Karl Jaspers verwendet deshalb für dieses methodisch reduzierte Subjekt den Begriff »Bewusstsein überhaupt«. Er beinhaltet also einen Verzicht auf jemandes Lebensund Selbsterfahrung, auf seine emotionale Veranlagung, auf seine Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl usw. Wissen ist hier, kurz gesagt, unpersönliche Information, die den Empfänger weitgehend unberührt lässt und daher relativ leicht zu übertragen ist. Neben dieser Art von Erfahrung gibt es aber auch viele andere, die weitreichendere Bedingungen erfordern. Es handelt sich dann um Erfahrungen, die man nicht machen kann, ohne sich persönlich ins Spiel zu bringen, die man sich passieren lassen muss, ohne vorher die Voraussetzungen zu schaffen, für die man deshalb grundsätzlich die kontrollierende und experimentelle Haltung aufgeben muss. Wer sich experimentell von der Treue seines Lebenspartners oder Freundes überzeugen möchte, wird das Phänomen gar nicht in den Blick bekommen. Wer coûte que coûte der Regisseur seines eigenen Lebens sein will, d.h. sich selbst nicht loslassen kann, kann keine Erfahrungen wie Vertrauen, Freundschaft oder Liebe machen. Dies gilt für viele Phänomene in zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch außerhalb davon, etwa in der Beziehung zu Tieren und zur Natur im Allgemeinen. Für viele dieser Phänomene, und bei genauerer Betrachtung sind es nicht wenige, gilt, dass sie sich nicht beliebig herbeirufen lassen. Man kann an all jene Phänomene denken, die bestimmte Haltungen erfordern, wie sich zu öffnen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Weiter an Phänomene, für die man eine Sensibilität entwickelt, indem man bestimmte ungeplante, oft gera­ dezu schmerzhafte Erfahrungen macht (der Psychiater Kuiper spricht in diesem Zusammenhang von »befindlichem Wissen«129, Wissen aus eigener, persönlicher Erfahrung). Oder auch an Phänomene, für die bestimmte Vorbereitungen (»spirituelle Übungen«) notwendig sind, man denke z.B. an ästhetische oder mystische Erfahrungen, P.C. Kuiper, Ver heen. Verslag van een depressie (Weit hin. Bericht über eine Depression), SDU, Den Haag 1988.

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obwohl diese Vorbereitungen keine Garantie dafür sind, dass diese Erfahrungen auch tatsächlich eintreten werden. Eine Zeit lang (und immer noch) hatten diese Formen der Erfahrung in der kargen Atmosphäre der modernen Kultur einen schweren Stand; sie wurden vorzugsweise in die Reservate der subjek­ tiven Erfahrung verbannt. Dennoch scheint sich in breiteren Kreisen die Erkenntnis durchzusetzen, dass diese Vielfalt alternativer Erfah­ rungstypen (gemessen an der homogenisierten Erfahrung), wie psy­ chische, soziale, erotische, ästhetische, moralische und andere Formen der Erfahrung, alle ihre Berechtigung und Plausibilität haben. Dass sie an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden müssen (und nicht an denen anderer, vor allem domestizierter Erfahrungsarten) und ihren eigenen spezifischen Wahrheitsgehalt haben. Das gilt auch für religiöse und spirituelle Erfahrungen – auch wenn deren Legitimität und Plausibilität noch zu beweisen sein wird.

Das Gleichnis vom Ichthyologen Dass es nicht nur eine Art von Erfahrung gibt, die einer Art von Phä­ nomenen entspricht, kann durch ein schönes Gleichnis aus der Wis­ senschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts veranschaulicht werden, nämlich das Gleichnis vom Ichthyologen (Fischkundigen), das von dem Astrophysiker und Naturphilosophen Sir Arthur Eddington130 stammt. In diesem Gleichnis vergleicht er den Naturwissenschaftler mit einem Fischkundigen, d.h. mit jemandem, der das Leben im Meer erforscht. Zu diesem Zweck wirft letzterer sein Netz aus, holt es wieder ein und untersucht seinen Fang auf seine übliche Art und Weise. Nach vielen Fängen glaubt er, ein grundlegendes Gesetz der Fischkunde ableiten zu können, nämlich, dass alle Fische größer als fünf Zentimeter sind. Er hält diese Aussage für ein grundlegendes Gesetz, da sie bei jedem Fang ausnahmslos bestätigt wird. Ein Zuschauer wendet ein, dass dieses Grundgesetz mit der Maschenweite des Netzes, die fünf Zentimeter beträgt, zu tun haben könnte. Was Eddington damit sagen will, ist natürlich, dass das, was wir sehen, in hohem Maße von dem verwendeten Begriffsnetz oder kategorialen Schema abhängt. Dies macht die Dinge greifbar, aber 130 Arthur Eddington, The Philosophy of Physical Science, CUP, Cambridge 1939, S. 16.

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gleichzeitig auch ungreifbar, wenn sie diesem kategorialen Schema nicht entsprechen. Der Zuschauer hält die vom Ichthyologen gehand­ habten Bedingung der Fangbarkeit in seinem Netz zu Recht für eine inakzeptable subjektive Verengung der Wirklichkeit. Er bestreitet nicht, dass der Ichthyologe Wirklichkeit »einfängt«, sondern dass es sich um die gesamte Wirklichkeit handelt, um das gesamte Spektrum der in den Meeren lebenden Fische. Eddington geht es darum, auf die grundsätzliche Begrenztheit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse hinzuweisen. Dies bedeutet, dass Phänomene, die bei den heute verwendeten Netzen non-existent sind, das bei der Verwendung anderer Modelle morgen möglicher­ weise nicht mehr zu sein brauchen. Mit anderen Worten: Ganze Grup­ pen von Phänomenen oder deren Dimensionen können übersehen worden sein. Eine weitere Konsequenz, die aus dem Gleichnis gezogen werden kann, ist, dass verschieden geknüpfte Netze verschiedene Arten von Phänomenen heraufbringen können, ohne dass sie notwen­ digerweise im Widerspruch zueinander stehen. Mit anderen Worten, es gibt sehr unterschiedliche Zugänge zu »derselben« Realität, je nach dem spezifischen Blickwinkel, aus dem die verschiedenen Disziplinen die Phänomene betrachten. Während wir uns bisher im Bereich der Wissenschaften bewegt haben, lässt sich aus dem Gleichnis eine dritte Schlussfolgerung ziehen, nämlich dass nicht-wissenschaftliche Zugänge zur Wirklichkeit prinzipiell wieder ihren Platz erhalten, wie der der Alltagserfahrung und -praxis, aber auch der der Kunst, der Moral, der Religion, des Mythos und der mystischen Erfahrung – natürlich unter der Voraussetzung, dass sie sich als gültige Formen der Erkenntnis und Erfahrung legitimieren können. Es gibt, kurz gesagt, eine Vielzahl von Erfahrungsarten, die alle ihre prinzipielle Berechtigung haben, und so auch die der Spiritualität.

Zu 2) Das frühneuzeitliche mechanistische Weltbild, Charakterisie­ rung und Kritik Der obige Gedankengang wird durch eine zweite Argumentationsli­ nie gestützt. Parallel zur Homogenisierung der Erfahrung gibt es in der Moderne eine Homogenisierung der Phänomene. Ich beziehe mich auf die vorherrschende Sicht der Realität in der modernen Kultur, die der Historiker der Naturwissenschaft E.J. Dijksterhuis als

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die »Mechanisierung des Weltbildes«131 bezeichnet hat. Eines der prägendsten Merkmale der Neuzeit ist der Aufstieg der modernen mathematischen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert mit Namen wie Kepler, Galilei, Huygens, Stevin als Galionsfiguren, eine Entwick­ lung, die in der ersten großen Unifizierung der Physik durch Newton gipfelte. Diese Naturwissenschaft wurde auch richtungweisend für die Wirklichkeitsauffasung in der Philosophie bei Denkern wie Descartes, Spinoza, Hobbes, La Mettrie und Kant. Und das mechanistische Modell dieser frühneuzeitlichen Naturwissenschaft (Physik ist hier Mechanik) wird auch von anderen Wissenschaften übernommen, etwa der Medizin (man denke an Harveys Entdeckung der Funktions­ weise des Herzens als Pumpe) und der Politikwissenschaft: der Staat als Automat (Hobbes, Kant). Eine der Grundideen dieses mechanisierten Weltbildes ist die Vorstellung, dass die (gesamte) Realität aus letzten elementaren Bau­ steinen aufgebaut ist. Alle Vorgänge in der Natur bestehen dann darin, dass Elementarteilchen zusammengesetzt und eventuell wieder aus­ einandergenommen und anders zusammengesetzt werden, d.h. die Wirklichkeit wird als Legokasten gedacht. Wie Newton es ausdrückte: »Nach all diesen Überlegungen scheint es mir wahrscheinlich, dass Gott am Anfang der Dinge die Materie in massiven, harten, undurch­ dringlichen und beweglichen Teilchen geschaffen hat. (...) Wenn also die Natur von beständiger Dauer sein soll, muss die Veränderung der materiellen Dinge ausschließlich in den verschiedenen Trennungen, neuen Verbindungen und Bewegungen dieser permanenten Teilchen begründet sein (...).«132 Hier findet ein radikaler Bruch mit der qualitativen Naturwis­ senschaft à la Aristoteles statt, in der die Natur als ein organisches und belebtes Ganzes gedacht wird. Nicht zuletzt ist diese Natur teleologisch geordnet: Alles strebt nach der vollkommensten Verwirk­ lichung des eigenen Wesens (dies ist eine Form des Selbstentfaltungs­ denkens), strebt dadurch aber zugleich nach höheren Formen der Wirklichkeit, letztlich nach dem höchsten, vollkommensten Sein: Gott. So kann man sagen, dass Aristoteles' Naturauffassung von

E.J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Springer, Berlin 1956. I. Newton, Optics (Hrsg. B. Cohen), New York 1952, S. 400. Zitiert in Michael Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie, WBG, Darmstadt 2002, S. 18f. 131

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einer »Sehnsucht der Materie nach Gott«133 beherrscht wird. Die Naturwissenschaft ist hier, kurz gesagt, Teil einer metaphysischen Konzeption der Wirklichkeit. Nichts dergleichen in der (früh)modernen Physik. Die Wirklich­ keit ist hier ein Ensemble toter Dinge ohne Inneres oder eigenes Streben, völlig träge, wobei alle Ereignisse von außen ausgelöst wer­ den müssen – Hans Jonas134 hat diese Konzeption der Wirklichkeit als eine Ontologie des Todes bezeichnet, im Gegensatz zu der vormo­ dernen des beseelten Verbandes. Alles geschieht da rein mechanisch durch Stoß und Druck, es herrscht da lückenlose Kausalität unter der Regie eiserner Naturgesetze. Der französische Mathematiker und Astronom Pierre Laplace (1749–1827) hat einst den Gedanken vorgebracht, dass ein allwissender Geist, der über einen perfekten Überblick über den Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügt, gepaart mit einer perfekten Kenntnis der Naturgesetze, somit in der Lage wäre, jeden zukünftigen Zustand der Welt vorherzusagen oder jeden vergangenen Zustand »zurückzusagen«. Diese Auffassung von Natur und Naturwissenschaft hatte zwei weitreichende Implikationen. Erstens: Wenn die Natur letztlich aus letzten massiven und unteilbaren Teilchen der Materie besteht und alle Prozesse in der Natur nichts anderes sind als das Zusammenfü­ gen, Auseinandernehmen und anderweitig Wiederzusammensetzen dieser elementaren Bausteine, dann sind alle Prozesse faktisch physi­ kalische Prozesse. Und sind alle Regelmäßigkeiten dieser Prozesse, genau genommen, physikalische Gesetze. Das bedeutet aber, dass alle Phänomene letztlich von gleicher Art sind, ebenso wie ihre Eigen­ schaften und Gesetzmäßigkeiten. Mit anderen Worten, wir haben es hier mit einer grandiosen Gleichschaltung oder Homogenisierung der Phänomene zu tun, mit all ihren Implikationen, wie etwa, dass es nur eine Art von Materie, Kausalität, Energie, Zeit und Raum gibt. Zu den beiden letztgenannten Begriffen siehe wiederum Newton, wenn er die Zeit der mathematischen Physik als wahre Zeit der scheinbaren Zeit z. B. der Alltagserfahrung gegenüberstellt: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt aus sich selbst heraus und gemäß ihrer Natur gleichmäßig, ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem (...); die 133 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Mohr, Tübingen 192110, S. 122. 134 Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Suhr­ kamp, Frankfurt a.M. 1997, 28ff.

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relative, scheinbare und alltägliche Zeit ist ein sinnlich wahrnehmba­ res und äußeres (...) Maß, an dem die Zeit durch Bewegung gemessen wird und das gewöhnlich anstelle der wahren Zeit verwendet wird, wie eine Stunde, ein Tag, ein Monat, ein Jahr.«135 In gleicher Weise wird der einzig wahre, absolute Raum gegen alle anderen Erscheinungen, zum Beispiel die der Alltagserfahrung, ausgespielt. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet dies weiter, dass es letzt­ lich nur eine einzige grundlegende Wissenschaft mit einer einzigen Methode gibt: die der Physik.136 Nach dieser Auffassung sind alle anderen Wissenschaften im Grunde genommen Zweigstellen der Physik und sollten sich, wenn sie ernsthafte Wissenschaften sein wollen, zumindest ihrer Denkweise und Methoden bedienen. So hat sich die Medizin seit dem 17. Jahrhundert zunehmend als Naturwis­ senschaft verhalten: Gesundheitsprobleme wurden (und werden) als Fehlfunktionen des als Mechanismus aufgefassten Körpers betrachtet, an dem mit mechanischen oder pharmakologischen Mitteln herumge­ pfuscht werden muss. Ich will damit nicht sagen, dass diese Methode nicht fantastische Ergebnisse erbracht hat. Aber hier geht es darum, ob dies die ganze Geschichte ist, ob der Körper nur ein Mechanismus ist und Krankheit nur eine Fehlfunktion dieses Mechanismus (quod non, ich werde darauf zurückkommen). Außerdem hat man sich bemüht, die Biologie zu einer Provinz der Physik und Chemie zu machen und das Leben mit deren Mitteln zu erklären (bisher ohne Erfolg). Und der Mainstream der Soziologie und der Verwaltungswissenschaft verwendet seit geraumer Zeit Methoden aus der Naturwissenschaft, oft mit subtilen, aber sterilen Ergebnissen. Neben dieser weitgehenden Homogenisierung der Phänomene hatte die früh-moderne Sicht der Wirklichkeit eine weitere, nicht minder weitreichende Implikation: In diesem geschlossenen, in sich gerundeten Universum war kein Platz mehr für eine ganze Reihe von Phänomenen wie Leben, Bewusstsein, zielgerichtetes Handeln, Normativität oder Werte, Verantwortung, (Willens-)Freiheit, Auto­ nomie, Sinnhaftigkeit und viele andere. Ganze menschliche Institu­ tionen wie die Moral, die Politik, das auf Haftung und Schuld basie­ Newton, Principia mathematica philosophiae naturalis, Übersetzung von Florian Cajori (1934), zitiert in Jon. Westphal & Carl Levenson (eds.), Time (Hacketts Read­ ings in Philosophy), Hackett, Indianapolis 1993, S. 37. 136 So noch 1919 (!) Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.11: »Die Gesamtheid der wahren Sätze ist die gesamte Natuurwissenschaft (oder die Gesamt­ heit der Naturwissenschaften).«

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rende Strafrecht und auch die Religion wurden obdachlos in dieser Sicht der Dinge. Ohne obengenannte Ideen werden wir Menschen jedoch unerkennbar für uns selbst, übrigens nicht nur wir, sondern auch Tiere und andere Wesen. Vor dem Hintergrund des technisierten Weltbildes ist die Diskussion um Willensfreiheit, Moral, die Grundla­ gen des Rechts und letztlich um unser Selbstverständnis als Menschen deshalb nicht mehr zur Ruhe gekommen. Ein zentrales und vielleicht das zentrale Motiv der Philosophie Kants war es zum Beispiel, die Moral in eine völlig deterministisch konzipierte Natur zu retten, die für so etwas wie Moral überhaupt keinen Raum lässt. Schließlich kennt die Natur in dieser Sichtweise nur blinde Ereignisse, aber keine Handlungen aus Absichten. In einem mechanistisch verstandenen Universum gibt es, kurz gesagt, keinen Platz für uns Menschen, wie wir uns selbst erleben. In einer solchen Welt kann sich der Mensch nur als völliger Außen­ seiter, als Vertriebener oder als »Zigeuner am Rande eines fremden Universums« verstehen, um es mit den Worten des französischen Molekularbiologen Jacques Monod zu sagen.

Zwei Optionen Dann hat der Mensch nur zwei Möglichkeiten: Entweder er missach­ tet seine eigene Natur völlig und begreift sich als Marionette blinder Naturprozesse (das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: sich als dieses oder jenes zu begreifen, ist dann schon zu viel gesagt); oder er schafft sich eine Plattform außerhalb der Natur, auf der eine völlig andere Ordnung als die der Natur herrscht. Das ist die Lösung von Descartes, Kant und vielen anderen. Doch wo ein Problem »gelöst« wird, entsteht gleichzeitig eine Reihe anderer Aporien wie das Leib-Seele-Problem. Denn es ist unbestreitbar, dass der physische und der psychische Bereich keine zwei wasserdicht voneinander abge­ schotteten Sphären sind, sondern mehr oder weniger eng miteinander verwoben sind. Wie dies jedoch gedacht werden kann, wenn diese Bereiche eine radikal unterschiedliche Ordnung voneinander besitzen (was der eine Bereich hat, z.B. Räumlichkeit und Materialität, fehlt dem anderen und umgekehrt), blieb ein ungelöstes Rätsel. Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion, das auch in der Neuzeit ein ständiger Stolperstein war. Dies ist unvermeidlich, wenn die Realität der Wissenschaft die der

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mechanisierten Weltanschauung ist, der die Religion gegenübersteht, die eine völlig andere, meist als mythisch bezeichnete Sicht der Realität hat. Ich möchte dies durch eine kurze Charakterisierung beider Ansichten veranschaulichen. Zunächst die mythisch-religiöse Sicht der Wirklichkeit, die den größten Teil der Menschheitsgeschichte geprägt hat (und oft noch prägt): In dieser Sicht haben alle Ereignisse einen Handlungscharakter. Hinter allem stehen menschenähnliche Akteure mit ihren Motiven und Absichten. Nichts geschieht einfach so; der Zufall hat in dieser Sicht der Realität keinen Platz. Wenn also Krankheiten, Viehsterben, Missernten, Überschwemmungen, Dürren oder was auch immer auftreten, müssen die in höheres Wis­ sen Eingeweihten (Priester, Schamanen, Wahrsager usw.) versuchen herauszufinden, welche Akteure mit welchen Motiven hinter diesen Ereignissen stecken, um Maßnahmen zu ergreifen, um diese Akteure zu besänftigen (durch Opfer, Gebete, magische Beschwörungen, Gastmähler oder alle möglichen anderen Rituale). Die Wirklichkeit wird hier, wie bereits erwähnt, als ein beseelter Kontext konzipiert, in dem alles lebendig ist – tote, anonyme Dinge oder Prozesse haben in dieser Perspektive keinen Platz. Um das kurz an der Medizin zu illustrieren: In dieser Sichtweise werden Krankheit und Leiden immer als Strafe von oben für die Verfehlungen oder Unzulänglichkeiten der Menschen gesehen. Um ein paar Beispiele aus dem Alten Testament zu nennen (aber es gäbe viele ähnliche Beispiele aus der Religionsgeschichte und der Kulturanthropologie). Als der ägyptische Pharao dem Volk Israel den Auszug verweigerte, brachen im ganzen Land Ägypten von Gott gesandte Geschwüre und Furunkel unter Menschen und Tieren aus (Exodus 9,8f). Wenn sich die Israeliten nicht an Gottes Satzungen und Gebote halten, wird ihnen »Schwindsucht und Fieber (verheißen), die das Augenlicht zum Verlöschen bringen und den Atem ersticken« (Levitikus 26,16). Als Mirjam, die Schwester von Mose, sich gegen ihn wendet, wird sie mit Aussatz bestraft (Numeri 12). Etc. Jesus Sirach bringt es in seinem Buch der Weisheit auf den Punkt: »Wer gegen seinen Schöpfer sündigt, der ihn gemacht hat, möge in die Hände des Arztes fallen.« (38,15) Wenn hinter jedem Ereignis ein Akteur mit seinen Motiven steht, dann unterscheidet sich jedes Ereignis von allen anderen in Abhängigkeit von dieser Absicht. In dieser Sicht der Dinge gibt es also keine allgemeinen Naturgesetze, von denen die einzelnen

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Ereignisse ein Sonderfall sind. In das Naturgeschehen kann jederzeit eingegriffen werden, insbesondere von oben. So heißt es zum Beispiel, dass Josua, der Anführer der Israeliten, die in Kanaan einmarschieren, eine Schlacht gewinnt, aber der Tag neigt sich dem Ende zu, so dass er seinen Feinden nicht den entscheidenden Schlag versetzen kann. Dann befiehlt er der Sonne (und dem Mond), stillzustehen, um die Zeit zu bekommen, die er braucht, und siehe da, die Sonne stand still (Josua 10,12f).137 Aber die unterschiedlichsten Mythologien, ob griechisch, germanisch, keltisch, ägyptisch, indisch usw., haben viele ähnliche Geschichten. Unmittelbar damit verbunden ist die Tatsache, dass alle Ereig­ nisse in Form von Geschichten oder besser gesagt heiligen Geschich­ ten (Mythen) darüber interpretiert werden, wie die Dinge entstanden sind und wie sie sein sollen. Daher wird dieses Bild der Realität auch als mythisch bezeichnet. Außerdem gibt es in dieser Sichtweise eine Allverwandtschaft aller Seienden, einschließlich des Menschen. Er hat seinen Platz in der Welt, ist dort »zu Hause«. Diese Allverwandtschaft bedeutet unter anderem, dass alles mit allem kommunizieren kann (man denke an Franz von Assisi, der den Vögeln und Fischen predigte; oder auch an die Märchen aus aller Welt, die diese Denkweise widerspiegeln). Es bedeutet auch, dass alles zu allem werden kann.138 Zum Beispiel kön­ nen Menschen zur Strafe in Frösche, Spinnen, Möwen, Bären, Blumen usw. verwandelt werden.139 Auch die Idee der Seelenwanderung ist ein Ausdruck dieser Denkweise. 137 Schon damals muss dies als sehr bemerkenswert empfunden worden sein, wie wir in der Fortsetzung sehen: »Nie hat es einen Tag gegeben wie diesen, an dem der Herr auf die Stimme eines Menschen gehört hätte; der Herr kämpfte nämlich für Israel« (V. 14). Aber trotz der auch damals schon außergewöhnlichen Tatsache, dass die Sonne still stand, wird es als wahres Ereignis erwähnt. Aus mythischer Weltsicht wird es an sich nicht als sonderbar empfunden, dass die Gestirne aus irgendwelchem Grund ihren Lauf ändern. So kennen wir aus der griechischen Literatur die Geschichte der beiden Söhne des Pelops, Atreus und Thyestes, die einander die Königswürde von Mykene streitig machen. Als der Streit vorläufig durch Betrug zugunsten von Thyestes entschieden ist, stimmt dieser der Rückgabe des Throns an Atreus zu, sobald sich die Sonne rückwärts bewege und im Osten untergehe, ein Ereignis, das Zeus dann zustande bringt. 138 Siehe zum Beispiel die Metamorphosen von Ovid. 139 Eine ganze Reihe von Beispielen solcher Metamorphosen aus der griechischen Mythologie findet sich in Stephen Fry, Mythos. The Greek Myths Retold, Penguin Random House, London 2018, 299ff.

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Wenn aber alles einen Handlungscharakter hat und alles (prin­ zipiell) mit allem kommunizieren kann, dann bedeutet dies wiede­ rum, dass alle Ereignisse einfühlbar sind. Die Ding sind uns nicht grundsätzlich fremd, sondern verhalten sich auf eine Weise, die uns Menschen mit unserer Ausrüstung zugänglich ist (zumindest denjenigen, die in höheres Wissen eingeweiht sind). Deshalb hat man dieses Bild der Wirklichkeit auch als »sympathetisch« bezeichnet. Ein weiteres sehr wichtiges Merkmal dieser Sicht der Dinge ist ihre Symbolik. Viele oder sogar alle Ereignisse und Dinge haben einen tieferen Sinn, der in ihrer Erscheinung durchscheint. In dieser Perspektive darf man also nicht bei der Oberflächenschicht der Phä­ nomene stehen bleiben, sondern muss sie auf ihren tieferen Sinn und Zweck hin befragen. So ist es kein Zufall, dass Bonaventura, einer der großen Theologen/Philosophen des Mittelalters (siehe vorheriges Kapitel), in allen Dingen ein dreifaches Symbol sieht, wie das dreiblättrige Kleeblatt, aber auch die drei Fähigkeiten des menschlichen Geistes: Denken, Fühlen und Wollen. Auf diese Weise lassen sich in allem Spuren des dreieinigen Schöpfers erkennen, der auf alles seinen Stempel gedrückt hat. Mit anderen Worten: Alles verweist auf Gott, und sich dessen bewusst zu werden, ist der Sinn des Nachdenkens über die Natur. Die Aufmerksamkeit für die Natur betrifft also nicht so sehr sie selbst, sondern die Tatsache, dass sie auf eine höhere Wirklichkeit hinweist. Schließlich ist in dieser Sichtweise die Wirklichkeit ein sinnvoller Zusammenhang, sie ist von A bis Z von Sinn durchzogen. Für ein Bewusstsein von Sinnlosigkeit oder Absurdität ist hier kein Platz. Auch wenn es gelegentlich am Rande auftaucht, zum Beispiel im alttestamentlichen Buch Kohelet oder in dem Text aus dem Mittleren Reich Ägyptens, der als das »Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele« bekannt ist, so ist es doch letztlich in eine endgültige Harmonie der Dinge eingebunden.

Eine kontrastierende Sicht der Realität Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, wie sehr dies im Wider­ spruch zur (früh-)modernen, Newtonschen oder mechanistischen Weltsicht steht. In dieser Sichtweise haben Naturereignisse keinen Handlungscharakter; es gibt keine personenähnlichen Akteure mit ihren Absichten dahinter. Es handelt sich um anonyme Prozesse, die

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nach allgemeinen Gesetzen ablaufen, wie zum Beispiel eine Lawine, die eine Gruppe von Bergsteigern überrollt, ein Taifun, der sich unter bestimmten Bedingungen entwickelt und dann seine zerstörerische Bahn über das Land zieht, eine monatelange sengende Dürre, ein Vulkanausbruch und so weiter. Alle Naturphänomene werden auf natürliche Weise erklärt; von einem Eingreifen von Göttern oder anderen übernatürlichen Wesen, sei es als Strafe oder als Hilfe, wie in der Geschichte von Josua, kann keine Rede sein. Daher ist die moderne Wissenschaft zumindest methodisch naturalistisch oder areligiös, was viele Wissenschaftler und Laien dann zu einer atheisti­ schen oder sogar antireligiösen Position ausweiten. Die moderne Wissenschaft im hier betrachteten Sinne interpre­ tiert die Phänomene auch nicht mehr mit Hilfe von Geschichten, sondern mit Hilfe von Theorien, in denen diese Phänomene als Spe­ zialfälle allgemeiner Gesetze verstanden werden. Auch wird diesen Phänomenen kein tieferer symbolischer Sinn oder Zweck zugeschrie­ ben. Die Dinge haben nur eine faktische Seinsweise, gehen in dieser reinen Faktizität denn auch auf. Insbesondere ist den Naturphänome­ nen jede normative oder ideelle Dimension fremd: Die Trennung von Tatsachen und Werten ist ein grundlegendes Merkmal dieser Sicht der Wirklichkeit. Wie bereits erwähnt, ist das moderne Denken durch eine Entkopplung von Realität und Idealität gekennzeichnet. Und Sinn sollte auch nicht in diesem Universum gesucht werden. Im Gegenteil wird die Wirklichkeit oft als eine sinnlose und absurde Angelegenheit betrachtet, in die wir Menschen »hineingeworfen« wurden und nun als sinnsuchende Wesen versuchen müssen, Fetzen von Sinn zu stiften. Wenn man sich dieses Tableau ansieht, versteht man das Dilemma, in dem sich religiöse Menschen, die gleichzeitig Teil der modernen Kultur sind, in der Moderne befinden, unabhängig davon, ob sie Wissenschaftler sind und sich tagtäglich der naturalistischen Geisteshaltung bedienen, die in der Wissenschaft vorherrscht, oder ob sie gewöhnliche Bürger sind, die von dem allgemeinen modernis­ tischen geistigen Klima geprägt wurden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es schwer zu glauben, dass die Sonne tatsächlich für einige Stunden stillstand, um einem Heerführer die Möglichkeit zu geben, seine Arbeit zu erledigen, oder dass auf ein Gebet hin Regen oder sogar Feuer vom Himmel fällt, dass auf dem Wasser gegangen wird, leib­ haftig in den Himmel aufgestiegen wird oder dass Brot und Wein durch das Aussprechen einer bestimmten Formel tatsächlich in den

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Leib und das Blut Christi verwandelt werden. Ich beschränke mich hier auf einige jüdisch-christliche Wahrheiten, aber das Gleiche gilt auch für nicht-christliche Überzeugungen. Was hier über religiöse Darstellungen gesagt wird, gilt übrigens auch für den spirituellen Bereich: Auch dafür ist in der mechanisierten Wirklichkeitsauffassung kein Platz. Selbstverständlich wurden alle möglichen Versuche unternom­ men, um eine Lösung für diesen langjährigen Meinungskonflikt zu finden. Aber wer ehrlich ist, muss zugeben, dass es sich dabei um (oft sehr gesuchte und erfundene) Notlösungen handelt, die sich immer wieder als unplausibel herausgestellt haben. Die Konsequenz daraus scheint zu sein, dass man nur die Wahl hat, entweder »ungläubig« zu werden in dem Sinne, dass man seine religiösen Überzeugungen und die damit verbundene Praxis loslässt, mit wieviel Pein im Herzen auch, oder sich auf einer religiösen Insel von der modernen Kultur zu isolieren, wenn das überhaupt möglich ist. Bei scheinbar unlösbaren Dilemmata hängt, wie klar ist, alles davon ab, wie die scheinbar unvereinbaren Sachen, die sogenannten »Hörner« des Dilemmas, charakterisiert werden. So auch in diesem Fall. Es stellt sich also die Frage, ob Religion identisch ist mit der Art und Weise, wie sie sich üblicherweise präsentiert, d.h. als eine Lebensform, die eine mythische Vorstellungsweise widerspiegelt. Könnte es auch sein, dass wir es mit einer Interpretation unserer Erfahrung zu tun haben, die auf den ersten Blick verständlich ist, aber bei näherem Nachdenken angepasst werden muss? Wir sind dieser Möglichkeit bereits in der philosophischen Religionskritik von Denkern wie Xenophanes, den Stoikern, Cusanus, Bergson und anderen begegnet, die sich von den alltäglicheren Formen der Religion distanzieren, um ihnen eine gereinigtere Form entgegenzustellen.

Kritik am mechanisierten Weltbild. Eine alternative Naturphilosophie Im Folgenden werde ich mich auf die andere Seite des Dilemmas konzentrieren, nämlich auf eine Wirklichkeitsauffassung, die aus einem bestimmten Wissenschaftskonzept, nämlich der Newtonschen mechanistischen Physik, abgeleitet wurde, dann allmählich immer mehr bis in alle Schichten der modernen Kultur durchgesickert ist und in dieser Form die Sichtweise in der täglichen Praxis der modernen Gesellschaft weitgehend bestimmt hat.

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Interessant ist nun, dass die mechanisierte Sichtweise der Rea­ lität von Seiten der Wissenschaft selbst zunehmend in die Kritik geraten ist. Von philosophischer Seite wurde diese Sicht der Realität bereits mehrfach kritisiert. Aber hatte die Philosophie in der Neuzeit ihren Anspruch auf eine gültige Erklärung der Wirklichkeit nicht an die Wissenschaft abtreten müssen? Wurde ihre Rede von der Wirklichkeit nicht mit der von Literatur und Kunst gleichgesetzt, die zwar schöne Bilder und Darstellungen dieser Wirklichkeit entwickeln, sich aber nicht auf die »echte« Wirklichkeit beziehen und daher keinen Anspruch auf Wahrheit erheben können? Ist es in der modernen Arbeitsteilung nicht das Privileg der Wissenschaft, wahrheitsgemäße Aussagen über die Wirklichkeit zu machen?140 Die Dinge sehen jedoch anders aus, wenn die mechanisierte Sicht der Realität von Seiten der Wissenschaft selbst unter Beschuss gerät. Und tatsächlich zeigt das mechanistische physikalische Modell à la Newton (und damit das gesamte damit verbundene Realitätsbild) immer mehr Risse.141 Ein geeignetes Thema, um dies zu veranscauli­ chen, ist der Begriff der Zeit. Die Zeit spielt in jeder Vorstellung von der Wirklichkeit eine zentrale Rolle, so dass es heißt: Nennen Sie mir Ihre Vorstellung von der Zeit, und ich sage Ihnen, was Ihre Vorstellung von der Wirklichkeit ist. Mit anderen Worten: Der Begriff der Zeit ist mit allen anderen Begriffen einer Realitätskonzeption (Materie, Energie, Kausalität, Raum usw.) innerlich verwoben. Das heißt: wenn eines dieser Konzepte, insbesondere das der Zeit, eine Bedeutungs­ verschiebung erfährt, dann geschieht dies mit allen eng miteinander verbundenen Konzepten dieses Netzwerks und erfährt das gesamte Bild der Realität eine mehr oder weniger radikale Neukalibrierung. So wurde beispielsweise gesagt, dass es bei Einsteins Relativitätstheorie im Wesentlichen um eine Neukalibrierung des Zeitkonzepts geht, mit all seinen Implikationen für die anderen physikalischen Konzepte.142 Ein erster großer Riss in diesem physikalischen Modell wurde mit der Entwicklung der Wärmelehre (Thermodynamik) im 19. Jahr­ hundert sichtbar. Aus dieser Perspektive haben natürliche Prozesse eine Richtung oder einen Pfeil. Stellen Sie sich eine Tasse mit heißem Kaffee vor, die nach einiger Zeit abgekühlt ist und ihre ursprüngliche Siehe nochmals Wittgensteins Aussage, Fußnote 135. Siehe meine Studie Die Wirklichkeit aus neuer Sicht, Springer, Wiesbaden, Kapitel 4, 77–95. 142 Siehe zum Beispiel Bertrand Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, Rowohlt, Hamburg 1972, S. 16, 41f, 62 und passim. 140 141

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Temperatur nicht von selbst wieder erreicht, ohne dass neue Wärme zugeführt wird. Trotz vieler Anstrengungen, die Wärmelehre in das mechanistische physikalische Modell zu integrieren, erwies sich dies als aussichtsloses Unterfangen. Mit anderen Worten: Die Mechanik erwies sich als ein zu begrenztes Modell, um die Gesamtheit der Naturphänomene zu erklären. In der Folge hielt das Konzept der Zeit eine Reihe weiterer Über­ raschungen bereit. In der Chemie beispielsweise stellte sich heraus, dass eine zunehmende Zahl von Prozessen ihre eigenen Zeitformen und Rhythmen haben, die unter dem Begriff »chemische Uhr«143 zusammengefasst werden. Ebenso aufschlussreich sind die eigenen Zeiten und Rhythmen im biologischen Bereich, die als »biologische Uhr« bekannt sind. Organismen, aber auch ihre »Bestandteile« wie Zellen und Organe (man denke z. B. an den Herzschlag oder die Atmung), haben ihre eigenen spezifischen Zeiten und Rhythmen, wie z. B. ihr artspezifisches Alter, ihre Lebentempi usw.. Wenn dagegen zu sehr verstoßen wird, kommt es zu Störungen wie Stress, Jetlag, Burn-out usw. Als die Augen für dieses Phänomen der eigenen Zeiten und Rhythmen in den verschiedenen Bereichen geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass es fast überall vorhanden ist: in der Meteorolo­ gie (z. B. Klimaschwankungen), Geologie, Astronomie, Wirtschaft (Wirtschaftszyklen wie der Kondratieff-Zyklus) usw. Fazit: Es gibt nicht nur eine Art von Zeit (Newtons wahre, mathematische Zeit), sondern eine ganze Reihe verschiedener Zeitarten, die zu bestimmten Arten von Phänomenen gehören. Und in Analogie dazu erwies sich die Kausalität als »ein Wort, aber viele Dinge«, wie die englische Wissenschaftsphilosophin Nancy Cartwright diese Angelegenheit zusammenfasst.144 Mit anderen Worten: Kausalität ist zwar ein Begriff, der aber eine Vielzahl von Kausalitätsvarianten umfasst. Ein pluralistischer Zeitbegriff erfordert also einen pluralistischen Kausa­ litätsbegriff. Dies lässt sich dann auf die Begriffe Raum, Materie, Energie, Leben, Bewusstsein usw. und schließlich auf den Begriff der Natur als Ganzes ausdehnen, die allesamt Dinge mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen bezeichnen. Dies wiederum steht im Einklang Siehe Die Wirklichkeit aus neuer Sicht, a.a.O., 85ff. Nancy Cartwright, »Causation: one word, many things«, in: Philosophy of Science 71 (Dec. 2004), 805–819.

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mit einer Pluralisierung von Erfahrung, Rationalität und Wahrheit. In jedem dieser Bereiche gibt es eine Vielzahl von Typen, von denen jeder sein eigenes Recht besitzt.

Ein systemtheoretischer Ansatz Dies lässt sich am besten mit Hilfe der allgemeinen Systemtheorie erklären. Ein System, um mit einer Umschreibung anzufangen, ist eine Gesamtheit von interdependenten Komponenten, die durch eine gemeinsame Organisationsform und Funktionsweise gekennzeichnet ist. Dies gilt für künstliche Systeme wie z. B. einen Automotor, der als Ganzes eine bestimmte Funktion erfüllen soll, nämlich das Fahrzeug anzutreiben. Die Teile sind nach diesem übergreifenden Konzept konzipiert: Motorblock, Kolben, Zündkerzen, Zündspule usw. Form und Funktion dieser Teile lassen sich nur aus der Vorstellung vom Motor als Ganzem heraus verstehen. Aber, und das ist hier der wichtigste Punkt, etwas Ähnliches gilt für die meisten, wenn nicht sogar für alle natürlichen Entitäten. Sie können als Systeme im definierten Sinne betrachtet werden, wie Atome, Moleküle, Zellen, Organismen, ökologische Systeme, soziale Systeme usw. Ein System ist also per definitionem mehr als die Summe seiner Teile, da die Seins- und Verhaltenweise der »Teile« durch ihren Platz und ihre Funktion im Ganzen bestimmt wird. Dies ist eine völlige Abkehr vom Newton'schen »Baukasten-Denken«, das das Ganze als Aggregat betrachtet, wobei die Eigenschaften des Ganzen aus den Eigenschaften der einzelnen Bestandteile erklärt werden. Nun gibt es die unterschiedlichsten Systeme: – –



geschlossene und offene Systeme, d. h. Systeme, die völlig in sich geschlossen sind und keine Beziehung zur Umwelt haben, und Systeme, die mit der Umwelt interagieren; lineare Systeme, die durch eine proportionale Beziehung zwi­ schen Ursache und Wirkung gekennzeichnet sind (kleine Ursachen, kleine Wirkungen oder große Ursachen, große Wirkungen), und nichtlineare Systeme, die durch eine nichtpro­ portionale Beziehung zwischen Ursache und Wirkung gekenn­ zeichnet sind (dann können kleine Ursachen große Wirkungen haben, z. B. eine Kettenreaktion auslösen); komplexe gegenüber relativ einfach organisierten Systemen;

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stabile Systeme, die sich in einem relativen Gleichgewichtszu­ stand befinden, im Gegensatz zu instabilen, dynamischen Syste­ men, die sich mehr oder weniger weit von einem Gleichgewichts­ zustand entfernt haben oder sich davon entfernen.

Inzwischen ist immer deutlicher geworden, dass der »Normalfall« in der Natur das offene, nichtlineare, komplex organisierte, mehr oder weniger gleichgewichtsferne, dynamische System ist mit dem Organismus als Modellfall. Diese Systeme haben also eine innere Beziehung zur Zeit (eine unumkehrbare Zeit mit einem in eine bestimmte Richtung zeigenden Pfeil), d.h. eine innere Beziehung zu Werden, Veränderung und Erneuerung. In der auf diese Weise verstandenen Natur entwickeln sich also ständig ›emergent‹ neue Phänomene und Eigenschaften. Im Gegensatz dazu war der Normal­ fall im »Newton'schen« Universum, der exemplarischen Version des mechanisierten Weltbildes, das geschlossene, lineare, gleichgewichts­ orientierte, einfach organisierte, stabile System – ein peripherer Fall unter idealisierten Bedingungen dessen, was heute als der »Normal­ fall« in der Natur erscheint. In dieser Newton'schen Sicht der Natur ist die Zeit, wie bereits erwähnt, reversibel, kontinuierlich fließend, gleichförmig und hat immer die gleichen Auswirkungen. Aus der sich jetzt ergebenden Sicht ist diese (Newtonsche) Zeit also keine Zeit im eigentlichen Sinne, weil alles da mehr vom Gleichen ist und nie etwas Neues passiert. In der sich nun entwickelnden Sichtweise der Natur ist das offene, dynamische, nicht-lineare usw. System, wie gesagt, zentral. Bei die­ ser »ganzheitlichen« Betrachtungsweise hängen seine Eigenschaften mit dem Organisationsmuster des Systems als Ganzes zusammen. Diese Eigenschaften sind also keine Eigenschaften der Bausteine des Systems oder von ihnen abzuleiten, sondern ergeben sich aus der Konfiguration des Ganzen, sind also, wie gesagt wird, systemische Eigenschaften. Das Organisationsmuster (oder Struktur, Konfigura­ tion, Form oder welchen Ausdruck man auch immer dafür wählt) der Dinge scheint also das grundlegendste Merkmal der Wirklichkeit zu sein. Diese offenen, nichtlinearen, dynamischen usw. Systeme haben bei zunehmender Komplexität kritische Schwellenwerte, jenseits derer sie sprunghaft zu anderen Verhaltensweisen übergehen und völlig neue, »emergente« Eigenschaften aufweisen, die sich nicht aus der Situation vor dem Kipppunkt ableiten lassen. Die Natur weist somit eine ganze Reihe oder »Leiter« von Ebenen zunehmender Komple­

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xität mit ihren eigenen nicht reduzierbaren Eigenschaften auf. Als solche Ebenen können die von Atomen, Molekülen, Zellen, Organen, Organismen, Ökosystemen, Galaxien, Gesellschaften und anderen genannt werden. In dieser Perspektive ist die Natur nicht einheitlich (wie im Newtonschen Universum), sondern eine reiche Vielfalt von Seinsformen mit entsprechenden spezifischen Eigenschaften. Als Beispiel kann das bereits erwähnte Phänomen der Zeit genannt werden: Es gibt nicht nur eine Art von »wahrer« Zeit, wie bei New­ ton, sondern eine ganze Reihe von Zeitformen und -rhythmen, die mit den verschiedenen Organisationsebenen zusammenhängen. Das Gleiche gilt für die zahlreichen Varianten der Kausalität, die mit den verschiedenen Arten von Phänomenen und ihren spezifischen Orga­ nisationsmustern zusammenhängen. Kurzum, zu einer pluriformen Natur gehört auch ein pluraliformer Begriff von Kausalität, Zeit, Raum, Materie usw. Einerseits zeigt die Natur auf diese Weise eine große Vielfalt von Seinsformen auf den verschiedenen Organisationsebenen, wobei der Übergang von einer Ebene zur anderen über kritische Schwellen oder Kipppunkte erfolgt. So gesehen besteht die Natur aus einer diskontinuierlichen Reihe von Phänomentypen auf verschiedenen Organisationsebenen. Andererseits gibt es eine Einheit in dieser Vielfalt. Die »gleichen« Phänomene treten auf verschiedenen Ebenen auf, nur in der der jeweiligen Ebene angemessenen Form. So stellt sich beispielsweise heraus, dass das Phänomen des Stoffwechsels, das lange Zeit als charakteristisch für die Phänomene des Lebens angesehen wurde, sich bereits auf der physikalischen Ebene findet; man denke nur an die Kerzenflamme, in der ja Aufnahme, Durchfuhr und Abfuhr von Stoffen, also eine Form des Stoffwechsels, stattfindet. Analoge Geschichten lassen sich für Zeit, Kausalität, Materie usw. erzählen (siehe oben). Es handelt sich dabei um vertikale, homologe Verwandtschaftsstrukturen, die die gesamte Natur von unten nach oben durchziehen und eine Einheit in der Vielfalt schaffen.145 Eine Möglichkeit, dies zu denken, ist, dass die verschiedenen Seinsformen in der Natur Manifestationen einer zugrundeliegenden Realität sind, die niemals als solche erscheint, sondern nur in der Form der verschiedenen Phänomene, die durch ihre spezifische Konfi­ guration bestimmt wird. Das würde bedeuten, dass die »Materie«, die 145 Homologie steht für eine innere Beziehung zwischen Phänomenen, im Gegensatz zur Analogie, die nur eine Beziehung äußerer Ähnlichkeit anzeigt.

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im Newton'schen Schema regelmäßig als der Träger der Wirklichkeit angesehen wird, ebenfalls nur eine der Erscheinungsformen der Natur wäre, nämlich auf einer bestimmten Organisationsebene. In dieser unterliegenden Schicht der Natur läge auch ihr Einheit stiftendes Moment. Und das wiederum würde bedeuten, dass die verschiedenen Seinsformen trotz ihrer (erheblichen) Unterschiede im Vordergrund (etwa zwischen Geist und Materie) in der Tiefe einander verwandt sind. Dies könnte der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses und der gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Seele sowie beispielsweise der so genannten paranormalen Phänomene sein. Die Beziehung zwischen den verschiedenen Ebenen ist ebenfalls zweiseitig: Einerseits wirken sich die Gesetze der unteren Ebenen auf die höheren aus (Organismen unterliegen beispielsweise auch der Schwerkraft, nicht anders als physikalische Objekte), andererseits werden die Eigenschaften und Gesetze der unteren Ebenen von denen der höheren Ebenen in ihren Dienst genommen oder von ihnen »überformt«. So gibt es neben der Aufwärtskausalität (die Dinge und Prozesse auf den unteren Ebenen bedingen die auf den höheren Ebenen) auch eine Abwärtskausalität (downward causation). Auf diese Weise ließe sich der Einfluss des Geistes auf den Körper erklären, ebenso wie das Phänomen der Willensfreiheit. Ein besonderes Merkmal der Systeme in dieser neuen natur­ philosophischen Perspektive ist schließlich ihre Fähigkeit zur Selbst­ organisation oder Selbstordnung. Das bedeutet, dass die Ordnung und Aktivität der Systeme nicht nur (wenn selbstverständlich auch) von außen kommt wie im Newtonschen Universum, sondern auch und vor allem von innen. Diese Fähigkeit zur Selbstordnung und Eigenaktivität zeigt sich umso deutlicher, je komplexer die Konfigu­ rationsmuster sind, sehr deutlich zum Beispiel auf der Ebene der Lebens- oder Bewusstseinsphänomene. In Anbetracht all dessen kann die Schlussfolgerung nur lauten, dass wir in einer dynamischen, schöpferischen, offenen, vielgestalti­ gen und facettenreichen, tiefen Natur leben, die ständig »emergent« neue Arten von Phänomenen mit neuen Eigenschaften hervorbringt. Und so den großen Gegensatz zum »Newtonschen« oder mechani­ sierten Weltbild bildet, einförmig, »flach«, passiv und tot, wie die Natur dort ist.

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Erkenntnistheoretische Konsequenzen Eine so starke Veränderung der Wirklichkeitsauffassung erfordert einen anderen theoretischen Zugang zu dieser Wirklichkeit. In der Newton'schen Sichtweise war die Vorstellung weit verbreitet, dass wir früher oder später in der Lage sein würden, die Natur in der Art des allwissenden Geistes von Laplace vollständig zu überblicken. Der bekannte Physiker Steven Hawking hat mit der Idee einer »Theorie von allem« gespielt, die eines Tages verwirklicht werden kann. Mit dieser endgültig unifizierten Theorie läge uns die Natur, um es mit seinen Worten zu sagen, transparent zu Füßen, und hätten wir die Antwort auf alle großen Fragen, z. B. warum wir existieren und warum das Universum existiert. »Wenn wir die Antwort auf diese Frage kennen, ist das die Krönung der menschlichen Vernunft – denn dann kennen wir den Geist Gottes.«146 Es gibt mehrere Gründe, warum eine solche Theorie nicht mög­ lich ist. Die wichtigste ist, dass sie von der Annahme ausgeht, dass das Universum ein geschlossenes System ist, in dem nichts wirklich Neues passiert, ein Universum ohne Geschichte also. Im Gegensatz dazu entfaltet sich derzeit das Bild der Natur als offenes System, das wirklich innovativ und kreativ ist. Mit großer Regelmäßigkeit bringt sie »emergent« neue Formen des Seins hervor, die zuvor unbekannt und unvorhersehbar waren. Der schon genannte Astronom und Naturphilosoph Eddington hat diese Erkenntnis in das Bonmot gegossen, dass das Universum nicht nur seltsamer ist, als wir es uns vorstellen, sondern seltsamer, als wir es uns vorstellen können. In diesem Zusammenhang lancierte der Physiker David Bohm die Idee einer ein- und einer ausgefalteten Ordnung der Natur. Wir kennen nur die letztere, aber daneben wird die natürliche Realität als ein Arsenal von Potenzialen verstanden, die unter bestimmten Bedingungen realisiert werden können. Das ruft das Staunen und auch die Demut hervor, vor einer Natur zu stehen, die weit über uns hinausgeht und von der wir nur einen flüchtigen Blick erhaschen können. Siehe z.B. die bereits zitierte Aussage Einsteins: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen 146

S. Hawking, A Brief History of Time, Bantam Press, New York 2011, p. 209f.

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tot und sein Auge erloschen. Das Erlebnis des Geheimnisvollen (...) hat auch die Religion gezeugt. Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivs­ ten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinne und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.«147 Die Natur als ein wunderbares Geheimnis also. Wie weit verbrei­ tet dieses Gefühl ist, vor allem unter den großen Physikern, zeigt eine Sammlung nachdenklicher Aufsätze, die von Hans-Peter Dürr, selbst ein bedeutender deutscher Kernphysiker, herausgegeben wurde. Der Titel lautet Physik und Transzendenz, mit dem vielsagenden Unter­ titel: »Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begeg­ nung mit dem Wunderbaren«.148 Bemerkenswerterweise wurde fast zeitgleich mit Dürrs Sammlung und scheinbar völlig unabhängig voneinander eine ähnliche Anthologie von Texten führender Physiker aus dem letzten Jahrhundert, in denen sie über ihr physikalisches Handwerk nachdenken, von Ken Wilber unter dem Titel veröffent­ licht: Quantum Questions. Mystical Writings of the World’s Great Physicists.149 »Mystical Writings«! Und in der Tat kommt Wilber zu dem Schluss: »They all became mystics«, Sie wurden alle Mystiker, überzeugt von einer tieferen Realität als der unmittelbar greifbaren. Für diese Physiker verschwindet das Rätsel der Realität nicht mit dem Fortschritt ihrer Wissenschaft, wie Hawkings Gedanke nahelegt. Im Gegenteil, es schärft ihr Bewusstsein davon. So kann der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker schreiben, dass die Physik die Rätsel der Natur nicht wegerklärt, sondern sie auf tiefere Geheimnisse zurückführt.150 Hier ist die Wirklichkeit keineswegs geschlossen, sondern offen, wie Hermann Weyl schreibt, ich zitiere ihn noch einmal: »Die heutige Wissenschaft, soweit ich mit ihr durch meine eigene wissenschaftliche Arbeit vertraut bin, die Mathematik und Physik, zeigen die Welt mehr und mehr als eine offene Welt, als eine Welt, die nicht geschlossen ist, sondern über sich hinausweist. (...) Die Wissenschaft sieht sich durch die erkenntnistheoretische, die physikalische und die konstruktiv-mathematische Seite ihrer 147 148 149 150

Albert Einstein, Mein Weltbild, Ulstein, Frankfurt a.M. 1956, 9f. Scherz, Bern 1986. Shambala, Boston/London 1985. C.F. von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Hirzel, Stuttgart 19494, 20.

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eigenen Methoden und Ergebnisse zugleich gezwungen, diese Lage anzuerkennen. Es muss hinzugefügt werden, dass die Wissenschaft nicht mehr tun kann, als diesen offenen Horizont aufzuzeigen; wir sollen nicht versuchen, durch Einbeziehung des transzendenten Bereichs von neuem eine geschlossene (wenn auch umfassendere) Welt zu gestalten.«151 Kurzum, diese Physiker sind alle davon überzeugt, dass sie in einer offenen Realität leben und denken, deren Dimensionen uns nicht alle gleichermaßen zugänglich sind, Dimensionen, die jenseits des Horizonts der Wissenschaften und sogar unseres Denkens und Erfahrens im Allgemeinen liegen. Begriffe wie Transzendenz, Myste­ rium, das Wunderbare usw. sind hier keine Fremdwörter, denen man in unserer wissenschaftlich geprägten Welt kaum eine Bedeutung zuschreiben kann. Im Gegenteil weisen sie auf ein Bewusstsein hin, das in dem modernen Menschen und nicht zuletzt in dem Wissen­ schaftler immer wieder aufgehen kann. Durch die Sichtbarmachung (s.o., ad 1), dass Erfahrung und Rationalität plural sind, ist im Prinzip Raum für eine eigene Art von spiritueller Erfahrung geschaffen worden, die ihr eigenes Recht und ihre eigene Version von Wahrheit hat. Letzteres bedeutet, dass es sich nicht nur um eine subjektive Angelegenheit handelt, die keinen Bezug zur Realität hat, sondern dass es darum geht, mit einer bestimmten Erscheinungsform dieser Realität in Kontakt zu treten. Unterstützt wird dieser Gedankengang dann (siehe ad 2) durch die Einsicht, dass die Wirklichkeit eine reiche Vielfalt von Seinsformen kennt, die alle ihre eigene Ordnungsform und entsprechende Zugangsweisen haben. Dies alles im Gegensatz zu einer im »Newtonschen« Sinne verstandenen Wirklichkeit, die nur eine Art von Phänomenen mit einer Ordnung kennt, die nur einem methodischen Ansatz zugäng­ lich ist und auch nur im Sinne einer Art von Wahrheit verstanden werden kann. In dieser Vorstellung von der Wirklichkeit war, wie erläutert, kein Platz für so etwas wie eine spirituelle Erfahrung, die auf ihre eigene Weise Ausdruck einer Beziehung zur Wirklichkeit wäre. Kurzum, Glaube und Wissenschaft mussten hier in eine Beziehung des Konflikts und der gegenseitigen Ausgrenzung geraten. Mit der Entwicklung eines differenzierten Konzepts von Reali­ tät, Erfahrung und Rationalität sind dem Problem zumindest im Prinzip die Giftzähne ausgebrochen worden. Das bedeutet jedoch 151

Siehe Anmerkung 56.

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Kapitel 6 Philosophische Religionskritik

keineswegs, dass jetzt »alles möglich« ist. Die verschiedenen Dimen­ sionen der Wirklichkeit und die Formen der Erfahrung stehen, wie bereits gezeigt wurde, nicht einfach nebeneinander, sondern haben eine Form von Kohärenz. So dass, was aus der einen Perspektive ein Ding der Unmöglichkeit ist, aus einer anderen Perspektive getrost als Möglichkeit betrachtet werden könnte. Zum Beispiel dass aus mythisch-religiöser Sicht die Sonne für eine Weile angehalten werden kann, um einem Heerführer die Möglichkeit zu geben, seine Sache zu erledigen. Religion wird dann, um Einstein zu zitieren, blind, d.h. ohne Berücksichtigung der von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse. Genauso wie umgekehrt Wissenschaft ohne Religion, d.h. ohne eine Antenne für das Geheimnis der Dinge, lahm wird.

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Kapitel 7 Die spirituelle Armut eines Großteils der modernen Philosophie

Mit den vorangegangenen Kapiteln ist die Bühne für den Schlussakt dieses Buches bereitet: den Versuch, die Frage zu beantworten, ob die Philosophie eine spirituelle Dimension besitzt, und wenn ja, wie. Obwohl, die Philosophie? Wie bereits erwähnt, hat ein nicht unerheblicher Teil der philosophischen Positionen im Laufe der Jahr­ hunderte keinen oder nur einen geringen spirituellen Gehalt, wie die der Sophisten, Kyniker und Skeptiker im antiken Griechenland und einflussreiche Philosophien wie die von Descartes, Locke, Hume, Kant bis hin zu Foucault, Sartre, Habermas und anderen in der Neuzeit, ganz zu schweigen von der analytischen Philosophie, in der sich die Philosophie auf die Untersuchung von Begriffen, Argumentations­ mustern und Sprache verengt hat. Um auf die eingangs erwähnte Bipolarität der Philosophie zurückzukommen, liegt der Schwerpunkt hier einseitig auf ihrem kritischen Aspekt und vernachlässigt sie ihre visionäre Dimension. Wenn in diesem kritischen Klima Themen mit eindeutig religiö­ sem oder spirituellem Charakter aufgegriffen werden, verdorren und verkümmern sie im rauhen Wind des zerebralen Denkens. Wie zum Beispiel in Wilhelm Weischedels letztlich sterilem Buch Der Gott der Philosophen.152 Alle Gottesvorstellungen werden dort mit der Säure einer durchdringenden rationalen Kritik übergossen und lösen sich darin auf. Weischedel charakterisiert Philosophie als radikales Fragen (I,27; II,1 und passim). In diesem radikalen Fragen besteht die »besondere Grunderfahrung der Philosophie« (I, 98). Fragen zielen naturgemäß auf Antworten ab, die Bestand haben (II, 156 et al.). Doch im Zuge dieses radikalen Weiterfragens der Philosophie erweist sich jede Antwort, die behauptet, sicher zu sein, als Fehlschlag (I,30). So bleibt am Ende nur die allgemeine Fraglichkeit, Bodenlosigkeit und Nichtigkeit allen Seins, kurz: ein totales Erschüttert-Sein. Da nichts Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, I und II, WBG, Darmstadt 19722.

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Kapitel 7 Die spirituelle Armut eines Großteils der modernen Philosophie

Bestand hat, droht eine durchdringende Skepsis und das »Gespenst des Nihilismus« (I,29). Wenn Weischedel seinerseits denn doch versucht, so etwas wie einen Gott der Philosophie zu retten (aber warum eigentlich?), so kommt er nicht weiter, als dass er diesen Gott als »das (!) Woher, das Unzugängliche, Unsagbare und Unvordenkliche« bezeichnet (II,245). Aber warum sollten wir uns an die Idee eines so reduzierten Got­ tes klammern, wenn alles zutiefst fragwürdig ist, philosophisches Hinterfragen nie Fuß fassen kann und letztlich zur Nichtigkeit alles Bestehenden führt? Und wenn die ganze Argumentation nicht ein Gedankenspiel bleiben soll, muss sie einer Erfahrung entsprechen. Aber war die spezifisch philosophische (oder metaphysische) Erfahrung nicht die einer grundsätzlichen Fragwürdigkeit allen Seins und Denkens? Darin liegt auch einer von Weischedels Irrtümern, nämlich dass es eine besondere, von allen anderen Erfahrungen getrennte philosophische Erfahrung geben soll, die uns den Weg zu Gott oder zur Transzendenz zeigen soll. Es ist dasselbe Missverständnis, das wir bei den Trans0­ zendentalphilosophen (Kant, Wittgenstein, Heidegger und wieder beim niederländischen Philosophen Duintjer) finden, dass es neben der »gewöhnlichen« alltäglichen und wissenschaftlichen empirischen Erfahrung eine ganz andere Art von Erfahrung gibt, die die Transzen­ denz für uns greifbar macht, anstatt dass sie ein vertiefender Aspekt all dieser anderen Arten von Erfahrung ist (künstlerische, literarische, moralische, erotische, landschaftliche, Naturerfahrung usw.). Das Hauptproblem bei einem Vorhaben wie dem von Weischedel ist jedoch, dass Gott oder Transzendenz symbolische Hinweise auf einen idealen Bezugspunkt am Horizont oder daran vorbei sind, der dem Dasein eine Richtung gibt. Wenn in der Neuzeit Gott getötet wurde, wie Nietzsche schreibt, dann bedeutet dies, wie bereits erwähnt, dass wir auch diesen idealen Bezugspunkt aufgegeben haben und beim Nihilismus von Weischedel (und Nietzsche) gelandet sind. Von einer Lebensweise, die von einer inspirierenden Geschichte über das Gewöhnliche hinaus getragen wird, kann dann keine Rede sein. Kurz gesagt, Weischedels philosophische Theologie ist spirituell ste­ ril. Ähnliches geschieht bei Kant, wenn die Religion auf das Pro­ krustesbett der ›bloßen Vernunft‹ gelegt oder mit der Logik des Mähfeldes behandelt wird (Kant beschränkt den Geltungsbereich der Vernunft auf die gewöhnliche Erfahrung, jeder Gebrauch der

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Vernunft über dieses Mähfeld hinaus wird von ihm als illegitim bezeichnet). Er reduziert die Religion letztlich auf die Moral, die für ihn ein Fenster (aber auch das einzige) zu einer höheren Welt jenseits der gewöhnlichen Erfahrung ist. Hier kommt bei Kant also ein visionäres Moment ins Spiel, wie sein Herzenserguss beweist, dass »zwei Dinge (…) das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«153 Dieses »moralische Gesetz in mir« stellt für Kant etwas »Heiliges« (seine eigenen Worte) dar, etwas, das den Menschen über die Welt der gewöhnlichen Alltagsdinge (die »Tierheit«) erhebt. Von diesen moralischen Grundsätzen sagt er, dass er »nicht auf sie verzichten kann, ohne in seinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein«. 154 Logischerweise hätte also ebenfalls der »Sternenhimmel über mir« (der zur Welt der Natur gehört) ein Fenster zu einer höheren Wirklichkeit sein müssen, aber er ist in Kants Denken ein Findlingsblock geblieben, der in seiner Naturauffassung keine Spur hinterlassen hat – man schaue sich darauf nur die Kritik der reinen Vernunft an. Dort bleibt er in der Sphäre des Newtonschen wissenschaftlichen Denkens. Im Sinne dieses wissenschaftlichen, an der greifbaren Erfahrung orientierten Denkens will er sogar eine Metaphysik entwerfen, wie schon der Titel eines seiner Bücher andeutet: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können155. Was dann nur scheitern kann, weil hier ein Kategorienfehler gemacht wird: Das, worum es in der Metaphysik (und in unserem Fall in der Spiritualität) geht, ist von einer anderen Ordnung als die gewöhnliche Empirie, die das Untersuchungsfeld der Wissenschaft ist.156 Will man sich der spirituellen Erfahrung (die nach einer Erklärung in einer konstruktiven visionären Philosophie verlangt) mit den Mitteln der Wissenschaft nähern, so ist sie a priori außer Sichtweite (oder, wie bei Kant, auf die Moral verengt). Kritik der praktischen Vernunft, Kants Gesammelte Schriften, Akad.-Ausg., Bd V, Berlin 1913, S. 161. Vgl. auch seine Apotheose der Pflicht: »Pflicht! du erhabener, großer Name usw.«,, KpV, a.a.O., V, 86. 154 Kritik der reinen Vernunft, a.w., Bd III, 531ff. 155 Kant’s gesammelte Schriften, Akad.-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1903. 156 In gleicher Weise sagt Kant, dass die echte (!) Philosophie »alles auf Weisheit (bezieht), aber durch den Weg der Wissenschaft«, Kritik der reinen Vernunft, a.w., III, 641. 153

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Wenn es also eine spirituelle Philosophie oder eine Philosophie mit einer spirituellen Dimension geben soll, muss sie sich auf Formen spiritueller Erfahrung stützen, die einen Mehrwert gegenüber der normalen Alltagserfahrung darstellen. Genauso wie jede Philosophie auf die Erfahrung hin befragt werden muss, deren Erklärung sie ist. Nun, es mag stimmen, dass gerade in der modernen Philosophie eine solche spirituelle Dimension weitgehend fehlt, aber andererseits haben viele philosophische Konzeptionen, explizit oder eher implizit, eine spirituelle Ausstrahlung. Wir haben uns davon überzeugt, als wir in Kapitel 5 einen Rundgang durch die Geschichte der abendlän­ dischen Philosophie unternommen haben (aber es gilt sicher nicht weniger für die indische, chinesische und japanische Philosophie). Was jetzt zur Diskussion steht, ist jedoch keine historische, son­ dern eine systematische Frage, nämlich ob eine spirituell inspirierte Philosophie unter modernen Bedingungen haltbar ist. Mit anderen Worten: ob den Begriffen, die in der kategorialen Analyse überprüft wurden, eine philosophisch vertretbare Bedeutung zugeschrieben werden kann.

Transzendenz Spiritualität (ebenso wie Religion und Religiosität) steht und fällt mit einer sinnvollen Interpretation des Begriffs der Transzendenz. An sich ist es immer noch ein unbestimmter Begriff, der erst durch das, was transzendiert wird, Bedeutung erlangt. Dies können reine Gedan­ kenbewegungen bleiben, mit denen sich das Denken über sich selbst erhebt, ohne sagen zu können, wohin. Ähnliches geschieht in der Literatur bei Dichtern wie Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, deren Streben »von dem geprägt war, was Friedrich ›leere Transzendenz' nennt, eine Orientierung auf eine Welt und eine Wirklichkeit jenseits des Wahrnehmbaren, ohne dass klar wäre, wie man sie sich vorstellen sollte. Stärker noch: jede konkrete Vorstellung von der angestrebten Transzendenz wäre unzureichend, ja sogar schädlich für die Reinheit des Strebens nach Erhebung der Seele und Loslösung vom Irdischen. Das gilt besonders für Mallarmé, für den ›das Absolute‹ und ›das Nichts‹ identische Begriffe sind.«157 Das Absolute oder das Nichts ist der Gegenbegriff zum alltäglichen Denken und zum Materialismus 157

Goedegebuure, a.a.O..,7f.

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(›das Irdische‹), von dem sich die genannten Dichter abwenden, ohne zu sagen, wohin. Wenn das alles ist, bleibt die Transzendenz in der Sprache stecken. Für eine Philosophie, die sich nicht auf die Sprache und das rationale Denken beschränken will (sie will ja eine Inter­ pretation der gesamten menschlichen Erfahrung geben und hat als ausgereifte Philosophie eine expressive und existentielle Dimension), ist das zu wenig. Genau dieses existentielle Moment ist in der Philosophie von Karl Jaspers entscheidend für den Begriff der Transzendenz. In einer erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Übung zeigt er, dass das Denken, das von Natur aus immer im objektivierenden Modus steht, sich nie zu einem Gesamtbild der Wirklichkeit vervollständigen kann. Die wissenschaftliche Erforschung des Seins ist ein unabschließbarer Prozess; in dieser Perspektive stellt sich die Wirklichkeit als bodenlos, zerrissen und kontingent dar. Hier gibt es mit anderen Worten keinen Halt und keine Orientierung im Leben. Gleichzeitig dämmert hier das Bewusstsein von Dimensionen der Wirklichkeit, die in diesem Rahmen nicht erfasst werden können, sondern aus einer anderen Quelle, nämlich der der existentiellen Erfahrung, d.h. der Erfahrung als ein von innen heraus gelebtes Selbst, ergänzt werden müssen. Als solcher erlebe ich mich in den Grenzerfahrungen des Leidens (meines Leidens), des Todes (meines Todes), des Kampfes, der Schuld, aber auch der tief erlebten Liebe und Freude, die nicht anonyme, unpersönliche Dinge aus der Sphäre der Objektivität sind, sondern mich als diese einzigartige, unverwechselbare Person, durch die ich zu mir komme, unmittelbar betreffen. Dieses Selbst ist also nicht etwas Gegebenes, sondern etwas mir Aufgegebenes. Die ganze Intention von Jaspers' Philosophie besteht also darin, die Menschen zu diesem Selbstsein (oder vielmehr Selbstwerden) zu erwecken, und nicht (eben nicht) eine weitere Theorie des Menschseins zu entwickeln. Kurzum, Jaspers' Philosophie ist keine deskriptive, sondern eine evokative, ansprechende Philosophie.158 Das menschliche Selbst, und hier kommt der Gedanke der Trans­ zendenz ins Spiel, erfährt sich selbst als eine letztendlich nicht in sich selbst ruhende Freiheit, sondern als sich selbst geschenkt und damit 158 Siehe meine Studie Karl Jaspers, Wereldvenster, Baarn 1970; und Jozef Waanders, Sporen van transcendentie. De filosofie van Karl Jaspers (Spuren von Transzendenz. Die Philosophie von Karl Jasper), Gompel & Svacina, Oud-Turnhout/’s Hertogen­ bosch 2018.

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angewiesen auf eine Instanz außerhalb seiner selbst. Diese Instanz, also die Transzendenz, »existiert« nicht in einem objektiven Sinne, sondern zeigt sich nur in der existentiellen Erfahrung des Bezogen­ seins auf den Grund unserer Freiheit. Dieser Grund liegt jenseits aller Vorstellbarkeit; er leuchtet nur in Symbolen oder »Chiffren« als Geheimschrift der Transzendenz auf.159 Die Transzendenz, die im Lichte des sich selbst beschränkenden theoretischen und alltäglichen Denkens nur als leere Möglichkeit erscheinen konnte, erhält so durch die existentielle Erfahrung Sub­ stanz. Wird sie aber auf diese Weise nicht der reinen Subjektivität preisgegeben, wenn ihr jede Objektivität abgesprochen wird? Diese Objektivität, die Jaspers auch »die Welt« nennt, scheint zwischen allen Stühlen zu sinken, wenn er schreibt, dass »die Welt eine verschwin­ dende Existenz zwischen Transzendenz und Immanenz«160 hat. War die Transzendenz zuvor »leer«, was angesichts des unheil­ baren metaphysischen Bedürfnisses des Menschen unbefriedigend ist, so ist dies bei einer Transzendenz, die ganz in der Sphäre der Subjektivität liegt, nicht weniger der Fall. Hier rächt sich die existenzphilosophische Position von Jaspers. Die Existenzphilosophie hat zu Recht die Aufmerksamkeit auf ver­ nachlässigte Formen der Erfahrung gelenkt, nämlich auf die der durchlebten Erfahrung in der ersten Person von innen heraus. In der abendländischen Tradition standen philosophische Entwürfe weitge­ hend im Zeichen der objektivierenden Erfahrung in der dritten Person, gänzlich – und darum geht es mir hier – als sich die Philosophie der Neuzeit am naturwissenschaftlichen Denken orientierte. Deshalb ist diese Philosophie auch sehr zerebral, eine Sache des kühlen, zuschau­ enden Verstandes. Das soll nicht heißen, dass sie nicht manchmal auch persönliche, existenzielle Züge hat – man denke an Kants Erguss der tiefen Ehrfurcht, die der Sternenhimmel über ihm und das Sittengesetz in ihm hervorrufen, oder sein fast lyrisches Loblied auf die Pflicht. Aber dies sind Blitzlichter einer anderen Art von Erfahrung als derjenigen, die in seiner philosophischen Konzeption als Ganzer zum Ausdruck kommt. Diese »andere« Erfahrung wird von ihm jedoch nicht thematisiert. Wenn die Existenzphilosophie dies nun tut, öffnet sie die Augen für Phänomene und die damit verbundene Art von Erfahrung, die 159 160

Siehe Karl Jaspers, Chiffren der Transzendenz, Piper, München 1970. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, Piper, München 1954, S. 28.

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im Mainstream der philosophischen Tradition – mit Ausnahmen wie Pascal und Montaigne – lange Zeit systematisch ignoriert wurde. In diesem Sinne geht es in der Existenzphilosophie wiederum um die »Rettung der Phänomene«, darum, ein neues Fenster zu den Dingen zu öffnen, was, wie gesagt, eine der wichtigsten Funktionen, wenn nicht die wichtigste, der Philosophie ist. Die Existenzphilosophie, und darum geht es mir hier, hat sich jedoch nicht vom kartesischen Dualismus befreien können. Sie schuf einen starken Gegensatz zwischen innerer und äußerer Erfahrung. Vielleicht musste sie das tun, um ihren Standpunkt deutlich zu machen und diese innere, existenzielle, persönlich tief durchlebte Erfahrung zu thematisieren und eindringlich darzustellen. Aber damit blieben die Phänomene, auf die sie sich konzentrierte, auf die Inner­ lichkeit beschränkt und ohne »objektiven« Status, wie Freude, Angst, Leid, Schuld und damit auch die Transzendenz. Wir erkennen jedoch, dass diese Phänomene nicht nur innerer, subjektiver Natur sind, sondern auch eine »objektive« Seinsweise aufweisen. Dies zu leugnen, ist immer noch einer Orientierung an der äußeren Erfahrung zuzuschreiben, an dem unmittelbar sinnlich Erfassbaren als dem, was wirklich real genannt werden kann. Im vorigen Kapitel haben wir diese Art von Erfahrung als homogenisierte Erfahrung bezeichnet, die auch als Modell für den wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff dient. Angesichts dieser Verengung haben wir bereits für die Anerkennung eines ganzen Spektrums von Erfahrungs­ typen mit ihren eigenen Formen von Wahrheit, Realität und Objek­ tivität plädiert. Damit stehen wir im Einklang mit dem radikalen Empirismus von William James und seinem Ernstnehmen der reichen Vielfalt der Erfahrungstypen.161 Und damit gegen das Messen dieser verschiedenen Arten von Erfahrungen an einem Standardmodell, dem der äußeren Wahrnehmung. Nur so können wir unserem Gefühl gerecht werden, dass diese verschiedenen Arten von Erfahrungen alle auf ihre Weise Formen der Erschließung der Wirklichkeit sind. Das gilt auch für unser Bewusstsein der Transzendenz. Wir alle sind auf die eine oder andere Weise mit der Erfahrung einer Realität vertraut, die über uns hinausgeht, sei es ein schweres Gewitter oder der Eindruck, den der endlose Ozean, die hohen Berge oder der Sternenhimmel auf uns machen, oder das Über-uns selbst-hinausge­ 161 William James, Essays in Radical Empiricism & A Pluralistic Universe (edited by Ralph Barton Perry), Dutton, New York 1971.

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hoben-werden (›verzückt‹ werden) durch ein schönes Musikstück, ein fesselndes Buch oder was auch immer. Die Frage ist also, wie wir diese Erfahrung der Transzendenz philosophisch einordnen und interpretieren können.

Nochmals der naturphilosophische Ansatz Die im vorangegangenen Kapitel skizzierte Natur- bzw. Wirklich­ keitskonzeption kann hier als Leitfaden dienen. Erstens durchbricht sie den kartesianischen Dualismus zweier Realitätsbereiche völlig unterschiedlicher Natur: auf der einen Seite eine Realität materiel­ ler, räumlicher Dinge ohne inneres Wesen, also eine Sphäre reiner Äußerlichkeit, und auf der anderen Seite die geistige Sphäre von Wesenheiten (›Seelen‹ oder ›Geister‹), die nur eine innere Seinsweise haben. Dies führte dann zu den großen Aporien der modernen Philosophie, nämlich dem Leib-Seele-Problem und dem Problem der Willensfreiheit.162 Im kartesianischen Schema ist es unerklär­ lich, wie Seele und Körper sich gegenseitig beeinflussen können, da es sich um zwei geschlossene Bereiche der Wirklichkeit mit unvereinbaren Ordnungsformen handelt. Die Erfahrung zeigt jedoch nur allzu deutlich, dass dieser Einfluss kontinuierlich und in beide Richtungen geht. Die Medizin zum Beispiel ist seit kurzem mit diesem Problem konfrontiert. Seit dem 17. Jahrhundert, als sie sich mehr und mehr dem naturwissenschaftlichen Modell anschloss, ist es zu einem Dogma der regulären medizinischen Wissenschaft und Praxis geworden, dass körperliche Gesundheitsprobleme ausschließ­ lich körperliche Ursachen haben. Wir kennen jedoch eine Reihe von Phänomenen, die nicht in dieses Paradigma passen, wie z. B. Herz-, Magen- und Rückenbeschwerden aufgrund von Problemen am Arbeitsplatz, Geldsorgen, Streit mit Nachbarn, Scheidungsproblemen usw. sowie »unverstandene Krankheiten«, auch SOLK (somatisch unzureichend erklärte körperliche Beschwerden) genannt, wie z. B. das chronische Müdigkeitssyndrom, das Reizdarmsyndrom oder die Fibromyalgie (Bindegewebs- und Muskelschmerzen), kurz gesagt, 162 Man könnte auch das Problem des Solipsismus nennen, die Ansicht, dass ich mit meinen Bewusstseinsinhalten das einzig Wirkliche bin. Dann gibt es keine Außenwelt. Aber es hat wohl nie einen radikalen Solipsisten gegeben, der in der Praxis an seiner theoretischen Überzeugung festgehalten hat. Schopenhauer sagte deshalb, dass die Verfechter des radikalen Solipsismus ins Irrenhaus gehören.

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psycho- oder soziogene körperliche Leiden. Auch der Placeboeffekt, also die Wirksamkeit von Scheinmedikamenten, ist in dieser kartesi­ schen Sichtweise nicht verständlich. Wir müssen also nach einem anderen Konzept des Organismus Ausschau halten, der offensichtlich als psycho-physische Einheit funktioniert. Das Gleiche gilt für die Willensfreiheit, die zu deutlich erfahren wird, um sie zu leugnen, die aber auch nicht in einen kartesianischen Denkrahmen mit seiner radikalen Trennung von innerer und äußerer Realität eingeordnet werden kann. Ich schließe mich nun der Auffassung einiger Lebenswissen­ schaftler163 an, dass wir es spätestens mit dem Auftreten von Leben auf der Erde mit Phänomenen (d.h. Organismen) zu tun haben, die eine Dimension der Innerlichkeit oder »Subjektivität« besitzen. Sie zeigen Formen des Selbstseins, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, die von noch sehr verworren bis hin zu immer deutlicher und klarer reichen. Das bedeutet, dass sie sich von der sie umgebenden Realität abgrenzen und nun aktiv auf sie reagieren. Auf diese Weise nehmen Organismen eine Innenperspektive ein, nehmen von dort aus ihre Umwelt wahr und reagieren von ihrer Seite aus auf sie. In der hier vertretenen anderen Sichtweise der Wirklichkeit muss man sich das Leben dann als eine Seinsform vorstellen, die durch das Überschreiten einer kritischen Schwelle in Bezug auf hochkomplexe chemische Strukturen (Proteine) entstanden ist, wodurch »emergent« eine neue Art von Phänomenen mit bisher unbekannten Eigenschaf­ ten auf der Weltbühne »aufgetaucht« ist. Eigenschaften, die einer ganz bestimmten Organisationsform derjenigen Phänomene zuzu­ schreiben sind, für die die Verwobenheit von Außen und Innen charakteristisch ist. Nebenbei bemerkt, kann man sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob sich diese Innerlichkeit erst mit den Phänomenen des Lebens (und da mit den frühesten Lebensformen noch sehr vage und im Pianissimo) manifestiert hat, oder ob sie nicht schon vorher in der einen oder anderen Form vorhanden war. Und ob sie überhaupt für alle Formen der Wirklichkeit angenommen werden kann, wie »Panexperientialisten« wie William James und Philosophen

163 Hans Jonas, Adolf Portmann u.a. Siehe meine Studie Die Wirklichkeit aus neuer Sicht, 127f.

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in der Nachfolge Whiteheads meinen.164 Ich lasse diese Frage hier unentschieden. In jedem Fall aber zeigt sie, dass eine Verflechtung von Externalität und Internalität viel natürlicher ist, als lange Zeit im Mainstream der westlichen philosophischen und wissenschaftlichen Tradition angenommen wurde (und oft noch wird). Das eröffnet die Möglichkeit, dass Transzendenz nicht nur, wie bei Jaspers, ein Phänomen der Innerlichkeit ist, sondern auch eine »objektive« Dimension hat. In der hier vertretenen Sicht der Dinge ist die Transzendenz in vielen Formen vorhanden. Jedes Mal, wenn eine kritische Schwelle von einer Ebene der Phänomene zu einer anderen von höherer Komplexität überschritten wird, wodurch sich eine neue Art von Phänomenen ergibt, kann von Transzendieren gesprochen werden. Diese Entwicklung hin zu immer neuen Orga­ nisationsgraden ist im Prinzip unabschließbar. Das bedeutet, dass die Realität nach oben hin offen ist. Dies steht im Gegensatz zu all jenen Vorstellungen, die von einer sich zu einer endgültigen Totalität abrundenden Wirklichkeit ausgehen, sei es die »Theorie von allem« oder die einer realisierten Eschatologie à la Hegel und seinen Anhängern (einschließlich Marx). Wir leben, so gesehen, in einem tiefen, dynamischen und unerschöpflichen Universum, eine Idee, die unter anderem David Bohms bereits erwähnter Unterscheidung zwischen einer ausgefalteten Ordnung der uns bekannten Dinge und einer eingefalteten Ordnung der uns grundsätzlich unbekannten Potenzen entspricht. Aus dieser Sicht ist Transzendieren ein inhärentes Merkmal der Realität, in der wir leben, es ist auf allen Ebenen dieser Realität aktiv und hat somit viele Gesichter. Und es durchdringt diese Realität als ein sich von unten nach oben bewegendes Prinzip. Aber, und das ist ein ganz wesentlicher Punkt bei unserem Versuch, das Phänomen der Spiritualität zu interpretieren, es endet nie in einer endgültigen und höchsten Form der Transzendenz als dem Höhepunkt dieser Bewe­ gung. Das ist zum Beispiel, wie schon erwähnt, bei Aristoteles der Fall, wo Gott die höchste Form der in sich ruhenden Wirklichkeit ist, zu der alles strebt.165 Und in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Siehe z. B. David R. Griffin (Hrsg.), The Reenchantment of Science, SUNY Press, New York 1988, 151ff und andere. 165 Wie von Windelband in seinem viel benutzten Lehrbuch der Geschichte der Phi­ losophie (Mohr, Tübingen 192110) unter dem Titel ›Sehnsucht der Materie nach Gott‹, S. 122, erwähnt. 164

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ist Gott als das »vollkommenste Wesen« (ens perfectissimum) auch das letzte Ziel allen menschlichen Strebens und Seins. Wenn wir das G-Wort überhaupt verwenden, dann eher als Hinweis auf die alles durchdringende schöpferische Kraft der Wirk­ lichkeit, als immanente Transzendenz also.166 Mit der entsprechenden Idee der fortlaufenden Schöpfung (»creatio continua«). Die Transzendenz hat, wie bereits erwähnt, viele Gesichter. Dies steht im Einklang mit unseren Erkenntnissen aus Kapitel 1, in dem wir die vielen Arten spiritueller Erfahrungen untersucht haben. Die Philosophie, als Phänomenologie der Erfahrung im weitesten Sinne, muss mit diesem Erfahrungsmaterial anfangen. Es lässt sich dann problemlos in eine Sichtweise der Realität einfügen, wie sie hier vertreten wird. In dieser Sichtweise ist der Mensch auf seine Weise Teil des umfassenden Ganzen einer unerschöpflichen schöpferischen Wirklichkeit, anstatt außerhalb oder über ihr zu stehen, wie es in der modernen Kultur seit Descartes die vorherrschende Auffassung war. In dem hier verfolgten Gedankengang nimmt er dagegen seinen Platz im großen Orchester der Schöpfung wieder ein, um gemeinsam mit seinen Mitgeschöpfen die Symphonie der Natur aufzuführen. Diese Sicht der Dinge steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass wir inmitten einer Wirklichkeit167 leben, die uns bei weitem übersteigt und der gegenüber nur eine Haltung der Demut und Ehrfurcht (»awe«) angemessen ist. Die Erfahrung dieser uns übersteigenden, erhabenen Realität ist eine nicht inszenierte, der wir uns nur staunend öffnen können. Und war das Erstaunen nicht schon nach Platon und Aristoteles der Ursprung aller Philosophie? Wie es das immer bei Wissenschaftlern ist, vor allem bei den Großen unter ihnen, aber auch bei Natur- und Kunstliebhabern. In diesem Zusammenhang entsteht auch ein Bewusstsein für das unergründliche Geheimnis der uns umgebenden Wirklichkeit, den unerschöpflichen Hintergrund und Horizont für alle unsere Fragen. Wenn es bei der Spiritualität um das »Mehr« in Bezug auf das Gewöhnliche und Vertraute geht, dann hat eine philosophische Betrachtung der Realität, wie sie hier vertreten wird, eine unauslöschliche spirituelle Note.

166 Man denke z.B. an Schelers selbstverwirklichendes Gottwerden (Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1949, 70, 87, 90) oder an das von Bergson (s.o.). 167 Um dies zu veranschaulichen, denken Sie an Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde »Mönch am Meer«.

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Eine erkenntheoretische Reflexion So viel zur ontologischen Seite der Sache. In die gleiche Richtung weist auch eine erkenntnistheoretische Reflexion. Die Wirklichkeit umfasst nämlich eine ganze Reihe von Phänomenen oder Dimensionen, die uns nicht oder nur teilweise zugänglich sind. Mit anderen Worten: Unsere kognitive Ausstattung, d.h. unsere intellektuellen Fähigkeiten mit dem entsprechenden Sinnesapparat, haben ihre offensichtlichen Grenzen. So können wir zum Beispiel bestimmte hohe oder tiefe Töne nicht hören (im Gegensatz zu Hunden zum Beispiel). Und im Gegensatz zu bestimmten Tierarten können wir weder Farben im infraroten und ultravioletten Teil des Farbspektrums noch Radio­ wellen, Röntgenstrahlen, Atome usw. sehen. Auch auf hochgradig abstrakte Denkprozesse, bei denen uns die Vorstellungskraft im Stich lässt, ist unser Verstand nicht eingerichtet. Denn der Ausgangspunkt unserer Erkenntnis ist, wie uns die philosophische Anthropologie von Philosophen wie Plessner und Merleau-Ponty verdeutlicht hat, die unmittelbare leibliche Erfahrung. Unsere räumliche Repräsentation (vorne/hinten, fern/nah usw.) ergibt sich aus unserer körperlichen Situierung in der Wiege. Und unser Verständnis von Kausalität rührt von der Erfahrung her, dass wir uns beim Umgang mit Gegenständen anstrengen müssen, z. B. beim Bewegen schwerer Dinge oder beim Öffnen von Türen. Mit anderen Worten: Der Begriff der Kausalität entstammt der Sphäre des Handelns, der physischen Anstrengung im Umgang mit den Dingen. Dies im Gegensatz zu Humes und Kants Ansicht, dass Kausalität eine Sache des zuschauenden Verstandes ist, eine von Hause aus theoretische Vorstellung. Wenn also unser direkter leiblicher Kontakt mit den Dingen der archimedische Punkt unseres Wissens ist, dann schließt er die Umstände ein, unter denen wir Menschen im evolutionären Prozess die Form und die Seinsart angenommen haben, die wir tatsächlich haben. Die irdischen Bedingungen, unter denen wir einst lebten, sind die Umgebung, an die unsere körperlichen und geistigen Eigenschaf­ ten und Fähigkeiten angepasst wurden. Wie Ronald Graham schreibt, ist unser Gehirn durch die Evolution so geformt worden, dass wir bei Regen Schutz suchen, bei Hunger nach Beeren Ausschau halten und bei Gefahr fliehen. Aber es ist nicht darauf programmiert, große

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Zahlen und komplexe mathematische Strukturen zu verstehen, wie zum Beispiel Dinge mit vielen Dimensionen.168 Das Gleiche gilt für die Physik. Der Astrophysiker Paul Davies schreibt: »Ich glaube, dass die von der modernen Physik gezeigte Wirklichkeit dem menschlichen Verstand grundsätzlich fremd ist und sich allen Versuchen direkter Vorstellung widersetzt. Die geistigen Bilder, die mit Ausdrücken wie ›gekrümmter Raum‹ und ›Singulari­ tät‹ heraufbeschworen werden, sind bestenfalls höchst unzureichende Metaphern, die dazu dienen, uns einen Gegenstand einzuprägen, weniger dazu, uns darüber ins Bild zu setzen, wie die physikalische Welt wirklich ist.« Am besten sei es daher, »das Bedürfnis, sich etwas vorzustellen«, aufzugeben und zu der tröstenden Erkenntnis zu gelan­ gen, »dass der Mensch nicht alles auf der Welt begreift.«169 Etwas Ähnliches gilt aber auch für unsere hochkomplexe gesellschaftliche Realität, die uns in der Tat über den Kopf gewachsen ist – jeder Tag bringt neue Beweise dafür. Kurz gesagt, die Realität, in der wir leben, hat eine ganze Reihe von Dimensionen, für die unser kognitives Instrumentarium nicht geeignet ist.

Über Metaphern und Symbole Und dennoch, und das ist eine bemerkenswerte Tatsache, obwohl unser kognitiver Apparat unter bestimmten, recht überschaubaren Umständen entstanden ist und dazu »bestimmt« war, uns in dieser Situation durch die Welt zu lotsen, stellt sich heraus, dass er in Bezug auf diese Situation über zusätzliche Potenzen verfügt. Das heißt, er ermöglicht es uns, über die Umstände hinauszugehen, für die er 168 Zitiert in Clifford A. Pickover, The Book of Mathematics, Librero, Kerkdriel 2010, S. 516. Im gleichen Sinne schreibt der prominente Molekularbiologe Gunther Stent (Paradoxes of Progress, Freeman, San Francisco 1978, 51f): »Diese [intellektuelle Begrenzung der Physik] ergibt sich aus dem Umstand, dass die grundlegenden und, wie ich annehme, angeborenen erkenntnistheoretischen Konzepte des Menschen, wie Realität und Kausalität, aus einer Dialektik zwischen den Lebensumständen unserer kindlichen Umwelt und dem genetisch bedingten Schaltplan unseres Gehirns entste­ hen. Die Evolution hat dieses Gehirn (...) auf die Fähigkeit hin selektiert, mit ober­ flächlichen, alltäglichen Phänomenen ›erfolgreich‹ umzugehen, aber es wurde nicht für den Umgang mit solch tieferen Problemen wie der Natur der Materie oder des Kosmos selektiert.« 169 Paul Davies & John Gribbin, The Matter Myth. Beyond Chaos and Complexity, Penguin, London 1992, 104.

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ursprünglich geschaffen wurde – man könnte dies auch als eine Form von Transzendieren betrachten. So können wir allerart Phänomene, die nicht direkt beobachtbar sind, indirekt vorstellbar machen. Und können wir uns auf Umwegen Dinge und Dimensionen der Realität vorstellen, die nicht direkt vorstellbar sind. Wir müssen dafür auf Bilder, Allegorien, Metaphern, Gleichnisse und Symbole zurückgrei­ fen – kurz gesagt, auf allerlei Formen von bildlichem Sprechen und Denken. Susan Sontag nannte uns wegen dieser Abhängigkeit von Bildern daher Bildjunkies (›image-junkies‹). Dies geschieht bereits kontinuierlich im täglichen Leben. Wir sagen von einer fröhlichen Person, dass sie der Sonnenschein des Hauses ist, von einem großen Mann, dass er ein Baum von einem Kerl ist, sprechen von einem Bruch in der Familie, von einem Loch im Haushalt, sagen von einer selbstbewussten Person, dass sie ihren eigenen Weg im Leben geht, oder dass jemand in letzter Zeit viel Gegenwind hatte, aber jetzt das Ende des Tunnels sieht, oder dass das, was jemand sagt, die nackte Wahrheit ist, usw. Die Alltagssprache ist daher voll von Bildern und Metaphern.170 Nicht anders verhält es sich jedoch mit der philosophischen und wissenschaftlichen Sprache, wie Hans Blumenberg in seiner »Meta­ phorologie« zeigt.171 Der Leitgedanke bei diesem Projekt war die Idee, dass es alles außer einer strikten Trennlinie zwischen Bild und Begriff gibt, dass viele Konzepte mit anderen Worten eine Bildkomponente haben. Was die Wissenschaft anbelangt, so hat Davies, wie erwähnt, bereits gesagt, dass Begriffe wie »gekrümmter Raum« lediglich Meta­ phern sind, die der Sache nicht gerecht werden, die wir aber brauchen, um eine Vorstellung von den Dingen zu bekommen. Mit dieser Auffassung, dass die Grenze zwischen Bild und Verstand fließend ist, polemisiert Blumenberg indirekt mit der Idee von Descartes und vielen anderen, dass es sich bei Wissenschaft und Philosophie um »klare und deutliche« Ideen handelt. Alle unsere Begriffe, so Blumenberg, beruhen auf einem Fundament des »Verstehens«, das dem begrifflichen Verstehen vorausgeht und sich vor allem in Bildern ausdrückt. Er spricht in diesem Zusammenhang von Formen des 170 Siehe z.B. George Lakoff & Mark Johnson, Metaphors We Live by, University of Chicago Press, Chicago 1980: unser gesamtes Denken ist stark metaphorisch, selbst das vermeintlich wörtliche. Folglich ist der Gegensatz zwischen wörtlich und bildlich oder Prosa und Lyrik viel weniger bedeutsam, als man oft denkt. 171 Ästhetische und metaphorologische Schriften (Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001.

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»unbegreiflichen Begreifens«, entwickelt eine »Theorie der Unbegriff­ lichkeit«. Dies passt natürlich hervorragend zu Merleau-Pontys Einsicht, die er in seinem meisterhaften Buch Phänomenologie der Wahrneh­ mung172 entfaltet hat, dass unser gesamtes Verständnis der Realität ursprünglich in einer präreflexiven Vertrautheit mit der uns umgeben­ den Realität wurzelt. Der Ausgangspunkt unseres Verhältnisses zur Welt ist in seiner Terminologie die Wahrnehmung, die eine Tätigkeit eines leiblichen Subjekts ist, das immer schon in die umgebende Wirklichkeit eingetaucht ist. Mit anderen Worten: Das Subjekt ist also keine Entität, die nur sekundär mit der Umwelt in Beziehung tritt; im Gegenteil, die Kommunikation mit ihr ist ein sie kennzeichnen­ des Wesensmerkmal. Die Wahrnehmung als grundlegende Aktivität dieses »corps-sujet«, wie Merleau-Ponty es nennt, ist in der Tat dieser intime Kontakt mit der Umgebung. Nicht die objektivierende Tätigkeit aus einer primären Haltung der Distanz zu den Dingen ist also charakteristisch für die Wahrnehmung, sondern gerade eine teilnehmende Haltung. Kurz gesagt, die Teilnahme, die der Objekti­ vierung vorausgeht, ist das Grundmerkmal unserer Wahrnehmung: eine Art stilles Gespräch mit den Dingen. Auf dieser Unterlage der partizipatorischen Wahrnehmung ruht also jede Form eines mehr objektivierenden Verhältnisses zur Wirklichkeit. Oder noch einmal: Es gibt eine präreflexive und vorbegriffliche Urvertrautheit mit der uns umgebenden Wirklichkeit, die jeder diskursiven und reflexivbewussten Beziehung zu ihr vorausgeht.173 William James drückte auf seine Weise etwas Ähnliches aus, indem er feststellte, dass es sehr unterschiedliche Bewusstseinsfor­ men gibt, »dass unser normales Wachbewusstsein, das vernünftige Bewusstsein, wie wir es nennen, nur eine Art des Bewusstseins ist, 172 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Übersetzung von Rudolf Boehm), De Gruyter, Berlin 1966. 173 In eine ähnliche Richtung, wenn auch sicher nicht in der gleichen Bedeutung wie Merleaus-Pontys präreflexives »Wissen«, geht die Idee des stillschweigenden oder vorbewussten Wissens von Michael Polanyi, The Tacit Dimension, Doubelday, New York 1966, passim. Theoretisches Wissen (knowing-that) setzt eine bestimmte Fähig­ keit (knowing-how) voraus. Ohne diese Fähigkeit oder dieses stillschweigende Wissen wären wir nicht in der Lage, theoretisches Wissen zu erwerben. Man denke auch an Bertrand Russells »Wissen durch Bekanntschaft«, Wissen aus direkter Vertrautheit mit einer Sache, im Gegensatz zu »Wissen durch Beschreibung«, indirektem Wissen, das durch Schlussfolgerung aus anderem Wissen gewonnen wird.

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während es von allen Seiten, durch einen hauchdünnen Schirm von ihm getrennt, von potenziellen, ganz anderen Bewusstseinsformen umgeben ist. (...) Keine Erklärung des Universums und seiner Totali­ tät kann vollständig sein, die diese anderen Formen des Bewusstseins ausklammert. Die Frage ist, wie sie zu verstehen sind – denn sie haben wenig mit dem gewöhnlichen Bewusstsein zu tun. Doch sie können Haltungen schaffen, obwohl sie keine Formeln liefern, und sie eröffnen ein Feld, obwohl sie keine Karte davon liefern. Auf jeden Fall verbieten sie uns, unser Konto mit der Realität vorzeitig zu schließen.«174 Eine solche »andere« Form des Bewusstseins ist die der Mystik: Mystische Zustände »brechen die Autorität des nicht-mystischen oder rationalistischen Bewusstseins, das nur auf dem Verstand und den Sinnen beruht. Sie zeigen, dass letzteres nur eine Form des Bewusstseins ist. Sie eröffnen die Möglichkeit, dass es andere Ord­ nungen der Wahrheit gibt, auf die wir, sofern etwas in uns lebens­ wichtig reagiert, vertrauen können«.175 Mystische Erfahrungen sind in dieser Sichtweise ebenso unmittelbare Wahrnehmungen der Wirk­ lichkeit bzw. von Dimensionen der Wirklichkeit wie die der sinnlichen Erfahrung. James' Schlussfolgerung am Ende seines Buches lautet daher, dass es Arten von Erfahrungen gibt, die uns »unwiderstehlich über die engen ›wissenschaftlichen‹ Grenzen hinausdrängen. Tatsäch­ lich ist die reale Welt von anderer Natur – komplexer strukturiert, als die Naturwissenschaft [oder die unmittelbare Sinneserfahrung, vdW] annimmt.«176 Dies bringt uns auf einem anderen Weg zurück zu der Aussage, dass die Wirklichkeit zu reichhaltig ist, um durch eine einzige Art von Erfahrung und Denken erschlossen zu werden.177 Eine Philosophie, die sich dieser Einsicht öffnet, die die Vielfalt der Erfahrungstypen und William James, Varieties of Religious Experience, Mentor Book, New York 1958, 298. 175 A.a.O., S. 324. 176 Ibid., S. 391. 177 Diese Ansicht wird auch von Suzanne Langer in ihrem bekannten Buch Philosophy in a New Key (Harvard University Press, Cambridge, Mass., 1960) mit Nachdruck vertreten. Sie schreibt dort, dass »menschliches Verstehen in verschiedenen Formen ausgedrückt werden kann« (S. 9; Kursivdruck der Autorin). »(D)ie Wissenschaft, aber auch der Mythos, die Analogie, das metaphorische Denken und die Kunst«, sie alle sind Perspektiven auf die Wirklichkeit und damit Formen der Erkenntnis oder des Symbolismus, wie sie es nennt. Einige dieser Formen der Symbolik, wie Mythen, Rituale und Kunst, sind nicht-diskursiver oder intuitiver Natur. 174

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die entsprechenden Dimensionen der Wirklichkeit ernst nimmt, kann kaum umhin, spirituelle Züge zu zeigen. Sie erkennt, dass unsere menschliche Existenz in einer reichen und geheimnisvollen Realität stattfindet, die über uns hinausgeht. Es ist unvermeidlich, dass dies unsere Einstellung zum Leben und unseren Umgang mit den Dingen beeinflusst. Die Philosophie wird damit zu einer äußerst praktischen Angelegenheit, die ihrer Idee von Weisheit schon immer innewohnte. Die Philosophie stellt also nicht nur eine Sicht der Dinge dar, sondern hat, wie bereits erwähnt, auch eine existenzielle und expressive Bedeutung. Und was diese Sicht der Dinge, diese Konzeption der Wirklichkeit betrifft, so ist sie nicht nur konstativ, sondern zugleich auch performativ: Sie bleibt nicht eine Theorie aus der Position des Außenstehenden, sondern betritt das Spielfeld, engagiert sich, ist kurz gesagt ein Denken, das sich in einer Lebensweise verwirklicht. Philosophie ist das Unterfangen, die gesamte Bandbreite menschlicher Erfahrung zum Sprechen zu bringen und zu erkunden. Wenn diese Erfahrung, wie gesagt, eine reiche Vielfalt aufweist, braucht es auch eine entsprechende Vielfalt an Denkmitteln. Dies gilt vor allem für die Dimensionen der Erfahrung und der Wirklichkeit, die ein »Mehr« im Vergleich zur gewöhnlichen Alltagserfahrung beinhalten, worum es bei dem Phänomen der Spiritualität und Religiosität geht. Wie ich bereits sagte, müssen wir dazu Bilder, Allegorien, Metaphern, Gleichnisse und Symbole verwenden – kurz gesagt, alle Arten von metaphorischem Sprechen und Denken.

Spiritualität und Symbole In einer spirituellen Interpretation des Daseins sind wir davon voll­ ständig abhängig. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Menschheit eine Fülle von Bildern und Symbolen entwickelt, mit denen sie die Welt und ihre eigene Existenz betrachtet. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass in den unterschiedlichsten Kulturen immer die gleichen oder ähnliche Bilder und Symbole verwendet werden, um die Realität zu erfahren und zu interpretieren. Um nur einige zu nennen: Sonne, Licht, Weg, Feuer, Wasser, Meer, Brunnen, Berg, Baum, Rose, Ei, Rad oder Kreis, Löwe, Schlange, Vogel oder Schmetterling, usw. Sie werden daher als natürliche und nicht als konventionelle Symbole bezeichnet. Letztere beruhen, wie das Wort schon sagt, auf einer Konvention oder Vereinbarung, wie die Symbole der Mathematik

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(≤, ≥, +, –, x, ∞, ∑, √, π usw.) oder die Zeichen für männlich und weiblich ♀ und ♂ oder die Zeichen auf Verkehrsschildern. Wir hätten da auch andere Zeichen wählen können, da es keine innere Beziehung zwischen Zeichen und bezeichneter Sache gibt. Unserer Erfahrung nach ist dies jedoch bei natürlichen Symbolen wohl der Fall. Das Wort Symbol, griechisch symbolon, leitet sich von dem griechischen Verb symballein ab, zusammenwerfen, zusammenfügen, verbinden. Ein Symbol, d. h. etwas aus der beobachtbaren Welt, verweist auf nichtkonventionelle Weise auf etwas anderes, das nicht direkt beobachtet oder dargestellt werden kann. Und zwar auf der Grundlage einer natürlichen Verbindung oder inneren Korrespon­ denz. Dies könnte erklären, warum überall auf der Welt die gleichen oder analoge Bilder auftauchen, um bestimmte Dinge anzuzeigen. Jung spricht in diesem Zusammenhang von Archetypen, kollektiven Urbildern des menschlichen Unbewussten, die den ältesten Schichten der Seele entstammen, deren Grundstrukturen und Muster wider­ spiegeln und sich besonders im Traum manifestieren. Er weist darauf hin, dass Symbole, gerade weil sie auf etwas anderes verweisen, das über die unmittelbare Bedeutung der Bilder hinausgeht, eine gewisse Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit aufweisen. Sie sind, wie er sagt, »schwanger mit unbekannten Bedeutungen«. Im gleichen Sinne sagt Ricoeur, dass das Symbol zum Denken anregt, »le symbole donne à penser«178. Ein entsprechender Gedanke, nämlich dass Symbole einen Bedeutungsüberschuss haben im Vergleich zur gewöhnlichen Spra­ che, in der angeblich alles genau179 gesagt werden kann, findet sich bei Blumenberg, um noch einmal auf ihn zurückzukommen. Seine Metaphorologie konzentriert sich insbesondere auf das, was er »absolute Metaphern« nennt. Es handelt sich um Metaphern, die sich nicht in die »klaren und eindeutigen« Begriffe des diskursiven, rationalen Denkens und Sprechens übersetzen lassen, sondern die einen permanenten Mutterboden von Bildern und Vorstellungen bilden, aus dem sich das begriffliche Denken ständig nährt. Absolute Metaphern, so Blumenberg, geben eine Antwort auf »naive Fragen«, Siehe Paul Ricoeur, ›Le symbole donne à penser‹, in: ESPRIT 1959 (27), 60–76. Denken wir noch einmal an Wittgensteins Diktum, dass alles, was gesagt werden kann, klar gesagt werden kann und dass man über das, was man nicht sagen kann, schweigen sollte. Tractatus logico-philosophicus, Vorrede und Schluss, Satz 7. Rilkes Widerspruch dazu findet sich in seinem oben zitierten Gedicht »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«. 178

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die grundsätzlich unbeantwortbar, aber gleichzeitig unausweichlich sind, weil sie durch das Dasein selbst gegeben sind. Wir können mit anderen Worten nicht ohne sie auskommen.

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Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole

An dieser Stelle füge ich ein Kapitel ein, um einige dieser Urbilder aus der Schatzkammer der Menschheit Revue passieren zu lassen. Es handelt sich also um universelle Schnittpunkte in der Flut menschli­ cher Erfahrungen, die, wie bereits erwähnt, auch sehr unterschiedlich interpretiert werden können.

Die Sonne Zunächst zur Sonne, dem Himmelskörper, der für uns Erdbewohner die Quelle des Lichts, der Wärme und der Lebenskraft ist. Es ist kein Wunder, dass sie in nahezu allen Mythologien, Literaturen, Philosophien und natürlich im täglichen Leben eine zentrale Rolle spielt. In vielen Religionen ist der Sonnengott auch das Oberhaupt des Pantheons, sei es in Babylon, Indien, Ägypten, Kanaan, Griechenland, den Persern, den Römern, den Germanen, den Azteken, den Mayas, den Indianern usw. Verschiedenen Mythologien ist die Vorstellung eines Sonnengottes bekannt, der auf seinem von vielen Rössern gezogenen Sonnenwagen über den Himmel reitet und so den Rhyth­ mus von Tag und Nacht bestimmt. Als Lichtbringer wird er daher als derjenige gesehen, der die Dunkelheit mit ihren dämonischen Kräften und auch Krankheiten vertreibt. Nicht zuletzt erscheint er als Quelle der Einsicht, Wahrheit und Gerechtigkeit (man denke an das Motto der Universität Utrecht: Sol iustitiae, illustra nos, Sonne der Gerechtigkeit, erleuchte uns). Nicht verwunderlich, dass die Sonne aufgrund ihrer unverzicht­ baren Funktion für das Leben von Mensch und Natur ein wiederkeh­ rendes Thema ist. Um bei einigen Beispielen aus der abendländischen Literatur zu bleiben: Berühmt ist der Sonnengesang des Franz von Assisi, in dem er Gott anspricht: Gelobt seist Du, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen, Zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den Du uns leuchtest.

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Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: Von Dir, Höchster, ein Sinnbild.

Nicht weniger bewegend ist das Gedicht »Ego flos« (Ich bin eine Blume) vom flämischen Dichter Guido Gezelle: Ich bin eine Blume und blühe vor Deinen Augen, dem großen Sonnenlicht, das ewig unirdisch, mich, winziges Kreatürchen, im Leben dulden willst (...). Ich bin weit von Dir entfernt, obwohl Du, süße Quelle von allem, was Leben ist oder jemals leben machst, Dich mir am Nächsten näherst und schicke mir, oh süße Sonne, bis in die Tiefen meines Wesens Deine alles durchdringende Glut.180

In der christlichen religiösen Dichtung gibt es zahlreiche Stellen, an denen die Sonne als Zeichen Gottes (wie bei Franziskus) angerufen oder auch direkt mit ihm (oder Christus) identifiziert wird: Wo bist du, Sonne, blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, Die Nacht, des Tages Feind; Fahr hin, ein andre Sonne, Mein Jesus, meine Wonne, Gar hell in meinem Herzen scheint.181

Oder: Christe, der du bist Tag und Licht, vor dir ist, Herr, verborgen nichts; du väterlichen Lichtes Glanz, lehr uns den Weg der Wahrheit ganz.182

Die Philosophie befasst sich meist mit dem Phänomen des Lichts; die Sonne wird seltener direkt183 behandelt. Aber natürlich steht sie als

Guido Gezelle, Gedichten, Het Spectrum, Utrecht/Antwerpen 197613, 294f (eigene Übersetzung). 181 Paul Gerhardt (1607–1676), zweite Strophe des bekannten Gedichts ›Nun ruhen alle Wälder‹. 182 Martin Luther (1533), Evangelisches Kirchengesangbuch, Nr. 353. 183 Sie erscheint nicht in Ralf Konersmann, Wörterbuch der philosophischen Meta­ phern, Fundgrube der philosophischen Metaphern, WBG, Darmstadt 2007. 180

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Lichtquelle dahinter. Auch in Platons Höhlengleichnis184 wird dies mit sovielen Worten gesagt. Dort vergleicht er bekanntlich unser nor­ males irdisches Dasein mit dem Leben in einer Höhle, in der die dort Lebenden nur Schatten an der Wand von Gegenständen sehen, die draußen vorbeigetragen werden und von denen sie glauben, dass es sich dabei um die wirklichen Dinge handelt, also um falsches Wissen. Wirkliches Wissen ist natürlich die Betrachtung dieser Objekte selbst, wenn die Menschen aus der Höhle herausgeholt werden. Anfangs werden sie von dem hellen Licht geblendet, aber nach und nach gewöhnen sie sich daran und können so die Dinge selbst unterschei­ den. »Wenn er so weit gekommen ist«, schreibt Platon, »kann er auch die Himmelskörper und den Himmel selbst betrachten, und zwar leichter bei Nacht, wenn er das Licht der Sterne und des Mondes betrachtet, als bei Tag die Sonne und das Sonnenlicht. Schließlich könnte er dann auch die Sonne beobachten, und zwar nicht nur die Spiegelung im Wasser oder in einer anderen Oberfläche, sondern die Sonne selbst in ihrer tatsächlichen Position, und untersuchen, wie sie ist. Dabei würde er schließlich zu dem Schluss kommen, dass es diese Sonne ist, die für die Jahreszeiten und die Jahre sorgt, die alles in der sichtbaren Welt regiert und somit in gewisser Weise auch die Ursache für all das ist, was sie selbst dort unten [in der Höhle] gesehen hatten.«185

Das Licht Die Symbolik der Sonne steht, wie aus dem oben Gesagten hervor­ geht, in direktem Zusammenhang mit der des Lichts. Licht steht immer für das Höhere, das Gute und Wahre, im Gegensatz zur Finsternis und dem Reich des Bösen. Es ist kein Zufall, dass letzteres im Westen liegt, wo die Sonne untergeht. Der Osten ist der Ort, von dem aus das Licht in der Morgendämmerung wieder aufgeht. »Es taget im Osten, es lichtet sich überall«, so beginnt eine mittelalterliche Volksballade über ein Mädchen, das bei Tagesanbruch auf ihren

184 Platon, Politeia 515a­518b. Übersetzung in Anlehnung an Plato, Schrijver (Schrift­ steller), ausgewählt und übersetzt von Gerard Koolschijn, Ooievaar, Amsterdam 2000, 185ff. 185 Zitiert in Gerard Koolschijn, a.a.O., 186f.

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Liebhaber wartet. Nachdem sie die Nachricht von seinem Tod erhalten und ihn beerdigt hat, tritt sie in ein Kloster ein.186 Nicht umsonst wohnen die Götter im Reich des Lichts, auf hohen, von Licht umgebenen Bergen, oder werden sie sogar mit ihm identifiziert. Denken Sie an die obigen Gedichtzeilen, in denen Christus, der auch als der göttliche schöpferische Logos bezeichnet wird, das ewige Licht genannt wird. Von Gott sagt der Bibelschreiber Johannes: »Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis« (1. Johannes 1,5). So wie von Gott im Alten Testament gesagt wird, dass er in einen Mantel aus reinem Licht gehüllt ist (Ps 36,10; 104,2 usw.).187 Dementsprechend war in der altpersischen Religion Zarathustras Ahura Mazda (wörtlich: der weise Herr, später Ormazd genannt) der Gott des Lichts und der Wahrheit, mit Angra Mainyu (dem bösen Geist, später Ahriman genannt) als Gegenspieler, dem Gott des Bösen und der Dunkelheit. In ähnlicher Weise war der persische Gott Mithra(s) ein Lichtgott, dessen Kult sich im gesamten Römischen Reich verbreitete. In dualistischen Religionen wie dem Manichäismus und dem Gnostizismus wird das Reich des Lichts, des Geistes und des Guten dem Reich der Dunkelheit, der Materie und des Bösen gegenübergestellt. Die menschlichen Seelen als Geistwesen sind in dieser Sichtweise Lichtfunken, die sich in der Welt der Materie verirrt haben und durch rechtes Wissen (Gnosis) daraus erlöst werden können. Mythen des Lichts spielen also in allen Religionen188 eine große Rolle. Mit anderen Worten: Licht ist eine absolute Metapher par excellence. In der christlichen Philosophie des Mittelalters ist die Wirklich­ keit in ihrer tiefsten Essenz Licht, insbesondere in ihrer höchsten Form, Gott. Augustinus nennt ihn lucifera lux, Licht machendes Licht, das von innen heraus alles durchstrahlt. Und bei Eriugena lesen wir, dass alle seiende Dinge, Lichter sind (»Omnia quae sunt, lumina sunt«), dass also alles eine lichtartige Natur hat.

186 Die Ballade wurde zu einem bekannten Weihnachtslied umgearbeitet: »Nun tagets im Osten, das Licht scheint überall«, und zwar mit der Ankunft Christi als dem Bringer von Licht und Trost. 187 In Jesaja 10, 17 wird Gott als Israels Licht bezeichnet. Siehe auch 1. Timotheus 6, 16, wo von Gott gesagt wird, dass er »allein die Unsterblichkeit besitzt, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag«. 188 Siehe z.B. G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Mohr, Tübingen 19562, 55ff.

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Die Ankunft des Lichts bedeutet nach allgemeinem religiösen Empfinden Erlösung, neues Leben, Hoffnung. Daher gibt es überall auf der Welt Lichtfeste, d. h. Feste, bei denen die Ankunft des Lichts nach einer Periode der Dunkelheit gefeiert wird und zu deren Zustan­ dekommen beigetragen wird; unser Weihnachts- oder Mittwinterfest ist ein Ableger davon. Viele Völker haben auch den Brauch, in der Sil­ vesternacht die Lichter und Feuer zu löschen, um sie am Neujahrstag wieder anzuzünden, als Zeichen eines Neuanfangs mit neuer Energie und Lebenskraft. Es ist kein Zufall, dass es ein weit verbreiteter Brauch ist, zu dieser Zeit ein Feuerwerk abzubrennen. Überhaupt machen wir Licht, wenn es dunkel wird, zünden wir in dunklen Zeiten eine Kerze an, kurzum, es ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, mit Licht zu leben. In Homers Odyssee zum Beispiel klagt Achilles, der größte Held des griechischen Heeres im Trojanischen Krieg, der sich aber nach seinem Tod im Totenreich wiederfindet, dass er lieber ein Tagelöhner mit einem mittellosen Mann dort auf der Erde (d. h. unter den Lebenden im Licht) sein möchte als König im Hades, dem Reich der Schatten (Odyssee XI, 488ff). Dieses Schattenreich wird von Homer auch als das Reich der Nacht bezeichnet. Darüber hinaus wird das Licht als Voraussetzung und Quelle der Ordnung betrachtet. Es ist kein Zufall, dass die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 mit der Erschaffung des Lichts beginnt. Wir hören dort, dass die Erde vor der Schöpfung ungeordnet und leer war und dass sich Dunkelheit über die Urflut legte. Schöpfung bedeutet, Ordnung in diesen Zustand des Chaos zu bringen, und zwar indem zunächst am ersten Schöpfungstag einmal Licht entzündet wird. Licht also als Grundvoraussetzung für eine geordnete Wirklichkeit. Kein Wunder also, dass Licht mit Wahrheit assoziiert wird. So bittet der Dichter des biblischen Psalms 43 (42 in römisch-katho­ lischer Zählung): »Sende dein Licht und deine Wahrheit ....«. Mit anderen Worten: Mit Licht sehen wir die Dinge in ihrer wahren Form und können dann weitergehen. In der jüdischen Bibel wird die Tora (das Gesetz oder die Unterweisung des Mose) als »meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade« bezeichnet (Ps. 119,105). Vor allem in der Philosophie sehen wir diese Verknüpfung von Licht und Wahrheit. Der bereits erwähnte Hans Blumenberg befasst sich in seinem Artikel »Licht als Metapher der Wahrheit« mit diesem

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Thema.189 Das Licht erscheint hier, wie gesagt, als eine der »absoluten Metaphern«, die unserem ganzen Denken und Sprechen eine Rich­ tung geben, ohne selbst ausreichend in rationale Begriffe übersetzbar zu sein. In der philosophischen Tradition wird diese Verbindung von Licht und Wahrheit näher expliziert. Einige Beispiele: In seinem Lehrgedicht »Über die Natur« erzählt Parmenides (siehe oben, Kapitel 5), wie er von den Töchtern der Sonne aus dem »Haus der Nacht« in das »Haus des Lichts« gebracht wird, um die »altbekannte Wahrheit« zu hören, nämlich dass Denken und Sein identisch sind. Das heißt, nur das Sein (im Gegensatz zum Werden) ist real und kann Gegenstand des Denkens sein. Platon setzt diesen Gedankengang fort, dass das, was im Licht erscheint, tatsächlich ein Sein, d.h. eine wirkliche Realität hat. Auf der anderen Seite ist das Nicht-Sein das Dunkle (Politeia 479cd). Aber letztlich ist es eine intelligible Lichtquelle, nämlich die Idee des Guten, die die Welt des Denkbaren erhellt. Die Philosophie Platons ist also eine Metaphysik des Lichts. Ihm folgen Plotin und die gesamte neuplatonische Tradition bis zu Goethe und später. Bei Plotin (siehe Kapitel 5) ist die Wirklichkeit Emanation aus dem Einen, die in einer Kaskade von Seinsformen und damit in Abstufungen, die vom Licht des Ursprungs durchstrahlt werden, bis hin zur dunklen, lichtfernen Materie ausströmt. Augustinus geht diesen Weg weiter: Gott ist intelligentes, transzendentes Licht, das in unseren Verstand hineinscheint und so unser Denken erleuchtet, die Erleuchtungslehre der Erkenntnis. Deshalb müssen wir in uns selbst Einkehr halten, denn die Wahrheit wohnt in unserem Innern.190 Und natürlich verwendet die Aufklärung, um diesen Abschnitt damit abzuschließen, wieder die Metapher des Lichts, die Bewegung also, die alle Vorurteile und Täuschungen ausräumen wollte, um den Weg zur reinen Wahrheit zu ebnen. Auch Buddha, der »Erleuchtete«, stellt diese Verbindung zwischen »Bodhi«, Erleuchtung und Wahrheit oder rechtem Glauben her, wenn er von der edlen Wahrheit des achtfachen Pfades spricht, der zur Beseitigung des Leidens führt. So viel zur Verknüpfung von Licht und Wahrheit. Immer wieder dient das Licht als offenbar unverzichtbares Symbol oder »absolute Metapher«, um die Verständlichkeit der Dinge zu erfassen. Hat Einstein nicht Studium Generale 10 (1957), 432–447. Augustinus, De vera religione 72: »Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas« (Geh nicht hinaus, geh hinein, im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit). 189

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gesagt, dass die Begreifbarkeit der Wirklichkeit das Unbegreiflichste auf der Welt ist?

Weitere Symbole Wir könnten diese Darstellung natürlicher, universell vorkommender Symbole oder »absoluter Metaphern« fast unbeschränkt fortsetzen. Zum Beispiel, wie Berge das Majestätische und Erhabene symboli­ sieren; wie sie Orte des Kontakts mit dem Höheren und Orte der Meditation, der spirituellen Erfahrung und »Offenbarung« sind. So ziehen sich Jesus und Bonaventura zum Meditieren auf einen Berg zurück, und Mose empfängt auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote und andere Gesetze für das Volk Israel. Noch Zarathustra steigt in Nietzsches Also sprach Zarathustra mit seiner Botschaft »von den Bergen herab«. Der Vogel, weiter, ist ein in Mythologien weit verbreitetes Sym­ bol für die Seele, wenn sie beispielsweise in Form eines Vogels (oder Schmetterlings) den Körper beim Tod verlässt und zu höheren Orten aufsteigt. »Vögel«, schreibt Ton Lemaire in seinem schönen Buch Auf Flügeln der Seele. Vögel in Darstellung und Phantasie191 sind »sinnliche Gebilde, die etwas Nichtsinnliches hervorrufen und ausdrücken, Dar­ stellungen, die auf das Unvorstellbare verweisen. Der Vogel ist also ein natürliches, sichtbares Wesen, das etwas Unsichtbares und Imma­ terielles zum Ausdruck bringen will; er ist sozusagen das Vehikel, mit dem der Mensch die Grenzen seiner Sinne zu überwinden sucht. Denn die Seele wird per Definition als etwas Immaterielles, Unsichtbares und Geistiges betrachtet. Da ein Vogel fliegen kann, ätherisch und dünn erscheint, eignet er sich als verdichtete Darstellung – also als 191 Niederländischer Titel Op vleugels van de ziel. Vogels in voorstelling en verbeelding, Ambo, Amsterdam 2007. Die Idee der geflügelten Seele ist ein beliebtes Motiv der Dichter. Siehe z. B. das schöne Gedicht »Mondnacht« des spätromantischen Dichters Joseph von Eichendorff, das Thomas Mann als »Perle der Perlen« der deutschen Lyrik bezeichnete und das Schumann und Brahms mehrfach vertonten. Nachdem es die Atmosphäre der Nacht heraufbeschworen hat, wie ein Windhauch durch die Felder ging, die Ähren sich sanft wiegten und die Wälder leise rauschten, fährt das Gedicht fort: Und meine Seel spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.

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Symbol – des vermeintlich geistigen oder gar göttlichen Funkens im Menschen.« (S. 19) Man könnte auch den Adler erwähnen, den »König der Vögel« mit seinem scharfen Blick und seinem königlich hohen Flug, der hoch oben in den Bergen nistet und ein Sinnbild des Königlichen und Majestätischen ist. Oder die Rose als Urbild der Schönheit, der Kreis (die »vollkommene Figur«) als Bild des Vollkommenen, das Wasser als Darstellung der Reinheit und der reinigenden Kraft, der Baum als Hinweis auf Wachstumskraft, Unerschütterlichkeit und Schutz usw., usw. Zum Abschluss dieses Überblicks über die natürlichen Symbole möchte ich noch auf zwei von ihnen eingehen, nämlich auf den Weg und das Meer, auch wegen ihrer Bedeutung für die Philosophie.

Das Meer Zunächst einmal ist das Meer ein Symbol oder Archetyp, der in vielen Mythologien vorkommt. Und zwar in drei verschiedenen Bedeutun­ gen: als Urelement, als Ort der Kräfte des Chaos und des Bösen und als Bild des Unendlichen, des Großartigen und Unermesslichen. Im ersten Fall wird das Meer als die Ursubstanz betrachtet, aus der die Welt entstanden ist, als ein Reservoir von Potenzen und Keimen, aus denen die uns bekannte Wirklichkeit hervorgehen würde. Es ist die Mutter aller Gewässer, die Quelle aller Existenzformen, die ursprüng­ liche und undifferenzierte Substanz, die aller Form vorausgeht und der Ausgangspunkt der Schöpfung ist. Im alten Ägypten ist es der Ozean, aus dem der Urhügel auftaucht, in den alten indischen Veden liegen in den Wassern die Grundlagen der Welt, sind sie die Quelle der schöpferischen Kraft, werden sie mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht und sogar als Elixier der Unsterblichkeit bezeichnet. Ein ähnliches Bild wird in Babylonien, Phönizien und im Alten Testament gezeichnet, wo der ursprüngliche Zustand als eine in Dunkelheit gehüllte Urflut dargestellt wird. Schaffen bedeutet, Ordnung in das Ungeformte zu bringen, das Chaos zu zähmen und zurückzudrängen, dem Meer Grenzen zu setzen, Meer und Land zu trennen. Bei vielen Völkern wird die Erde als ein Kuchen dargestellt, der auf den Wassern schwimmt und von ihnen umgeben ist, bei den Griechen zum Beispiel von konzentrischen Ozeanen, von denen der äußerste nicht schiffbar ist und von einem Himmelsgewölbe überdacht wird, über dem sich der obere Ozean befindet.

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In vielen Religionen gibt es den Brauch des Untertauchens in Wasser, der eine Rückkehr zum Ungeformten bedeutet. Dies geschieht, um den Übergang von einer Lebensphase oder einem Lebensstil zu einer anderen zu markieren, eine Regeneration darzu­ stellen (und durchzuführen!), neuen Potenzialen eine Chance zu geben, die Lebenskraft wieder fließen zu lassen. Das Auftauchen aus dem Wasser ist dann eine Art Wiederholung der Kosmogonie, eine Wiedergeburt, eine Initiation in eine neue Existenz. Auch die christliche Taufe muss in dieser Perspektive gesehen werden. Auch das Bild der Sintflut, das sich in vielen Mythologien findet, gehört in diesen Zusammenhang: Eine Welt, die zu einem Sumpf des Bösen geworden ist, wird weggespült, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Daneben ist, zweitens, das Meer, ein Symbol für das Chaos und das Böse. Nicht umsonst werden die Mächte des Bösen oft als Meeresungeheuer personifiziert: Tiamat, Leviathan, Rahab, Typhon, der Seedrache Yam oder wie auch immer sie heißen mögen. Diese Sichtweise auf das Meer führt bei vielen Völkern (Westafrika, Mada­ gaskar, Sumatra, die peruanischen Indianer) zu einem Tabu, das Meer zu sehen, zumindest für den König.192 Auch im Alten Testament ist das Meer der Ort des Chaos, des Bedrohlichen, Furchterregenden und Feindlichen. Aus diesem Grund überließen die alten Juden die Schifffahrt anderen Völkern, wie z. B. den Phöniziern. Einmal, wie bereits erwähnt, hat sich jemand eingeschifft, nämlich der Prophet Jona, aber das endete denn auch sofort in einer Katastrophe. Nicht umsonst heißt es im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, dass es auf der neuen Erde, wenn das Böse beseitigt ist, kein Meer mehr geben wird (Offb. 21,1). Drittens fungiert das Meer als Symbol des Unendlichen, Umfas­ senden, in dem wir uns nur als Wellen erleben (Freuds »ozeanisches Gefühl«) oder vor dem wir unsere verschwindende Kleinheit erfahren (man denke wieder an Caspar David Friedrichs Gemälde »Mönch am Meer«). Das kann zu dem Wunsch führen, ganz in dem aufzugehen, was uns übersteigt, und so von unserer menschlichen Kleinheit und Individualität mit ihren Sorgen und Leiden befreit zu werden. Denken Sie an Kloos' Gedichtzeilen in seinem berühmten Sonett ›De Zee' (Das Meer): Zu diesem »Schrecken des Meeres« siehe Sir James Frazer, The New Golden Bough (überarbeitet und herausgegeben von Theodor H. Gaster), Mentor Book, New York 1964, S. 190. 192

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O Meer, wär‹ ich wie Du in all Deiner Unbewusstheit, Dann erst wäre ich voll und ganz glücklich. [O, Zee, was ik als Gij in ál uw onbewustheid, Dán zou ik eerst gehéél en gróót gelukkig zijn.]

Das Meer kann aber auch, wie es in der modernen Philosophie oft der Fall ist, zum Blickfang für die Kontingenz, Bodenlosigkeit und Ungewissheit der Existenz werden. In diesem Fall ist es am besten, sich auf festen Boden zurückzuziehen, wie es Kant tut. Er charakterisiert das »Land der reinen Vernunft« als eine Insel im Meer der Kontingenz. Diese Insel »ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Ent­ deckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflicht, von denen er niemals ablassen, und sie doch niemals zu Ende bringen kann«.193 Angesichts des Meeres von Kontingenz, das uns umgibt, ist das Dasein dann der Versuch, Reste von Festigkeit zu finden, mehr geht nicht. Das Meer kann aber auch, wie bei Jaspers, zu einer Chiffre (Geheimzeichen) des Transzendenten, des uns Übersteigenden wer­ den.

Der Weg Schließlich ist der Weg oder der Pfad ein weit verbreitetes ikonisches Bild der menschlichen Vorstellungskraft. Es geht dann um einen bestimmten Weg, der eingeschlagen wird, zum Beispiel wenn es um den Lebensweg von Menschen geht, aber vor allem um die Art und Weise, wie dieser Weg beschritten wird, die Art zu leben und zu arbeiten. Dies betrifft nicht nur die menschliche Realität, sondern auch die der Götter und der Welt als Ganzes. Letzteres ist im Taoismus der Fall: Das Tao, das »Weg« bedeutet, steht für die Art und Weise, wie das Universum »funktioniert«. Aber nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern als das unnennbare Geheimnis (sogar »tiefer als jedes Geheimnis«) im Hintergrund von allem. Dieses namenlose Tao wirkt, indem es nicht wirkt, und darin müssen die Weisen es nachahmen. 193

KrV, B 293f.

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Aber der Ausdruck »Weg« bei Plotinos bezieht sich ebenso auf die Art und Weise, wie alles ins Sein gekommen ist: durch Emanation einer Kaskade von Seinsformen aus dem Einen, von Plotinos als »der Weg nach unten« beschrieben. Durch Reflexion und Meditation können wir jedoch nach einer »Umkehr« wieder den »Weg nach oben« finden, zu einer Verschmelzung mit dem Einen. Der Weg wird so zu einem Weg der Erlösung von der Entfremdung, möglicherweise sogar im kosmischen Maßstab. Die Idee des Pfades als Heilsweg findet sich in der hinduistischen Bhagavadgita oder in der Lehre des Buddha über den achtfachen Pfad zum Heil. Aber findet sich ein ähnlicher Gedanke nicht auch in dem schönen meditativen Buch des mittelalterlichen Theologen und Philosophen Bonaventura Pilgerbuch der Seele zu Gott? Dort steigt die Seele über sechs Stufen des Nachdenkens über die Schöpfung zu ihrem Schöpfer auf, um sich am siebten Tag mit ihm zu vereinen. Diese Vorstellung vom Leben als einer Pilgerreise ist übrigens ein beliebtes Thema, man denke nur an John Bunyans Die Reise des Christen in die Ewigkeit. Auf seine Weise verwendet Spinoza am Ende seiner Ethik die Metapher des Weges für den Prozess des Erreichens des richtigen Verständnisses der Dinge und des wahren Seelenfriedens. »Und obwohl der von mir aufgezeigte Weg dorthin ungeheuer schwierig zu sein scheint, so kann er doch gefunden werden. Und eine Sache muss sehr schwierig sein, die man so selten findet. Denn wie kann es sein, dass das Heil, das so offensichtlich und ohne große Schwierigkeiten zu finden ist, dennoch an fast allen vorbeigeht? Aber alles, was ausgezeichnet ist, ist ebenso schwierig wie selten.« Die Idee eines Weges, der in Etappen zurückgelegt werden muss, um mit dem Absoluten zu verschmelzen, ist natürlich der Grundge­ danke der Mystik in ihren vielen Formen. Der Weg also als Metapher für einen spirituellen Wachstums- und Reifungsprozess, in dem der Mensch über die Zwischenstufen der Umkehr, der Läuterung und der Erleuchtung (!) danach strebt, sich mit dem göttlichen Seinsgrund zu vereinen. Das Bild des Weges hat viele Anwendungen, wie z. B. die einer Wahl zwischen zwei Wegen, einem kurzen und einfachen zum Bösen und einem langen, steilen zur Tugend, wie bei Hesiod, eine auch in christlichen Kreisen bekannte Vortsellung, nämlich der breite Weg, der zur Hölle, und der schmale Weg, der zum Himmel führt. Interessanterweise gibt es diese Idee auch im Islam, nur ist es dort

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der breite Weg, der zum Himmel führt. Im Alten Testament, der jüdischen Bibel, finden wir dieses Bild vom richtigen und falschen Weg in Psalm 1. In der Bibel ist übrigens viel von Gottes Wegen die Rede: dass er gerecht ist auf all seinen Wegen (Ps. 145,17), dass seine Wege unerforschlich und sogar dunkel sind (Röm. 11,33), usw. Im Koran findet sich das Gebet, Gott möge den Menschen auf den »rechten Weg« führen (Sure 1,5–6). Eine interessante Anspielung auf das Bild des Weges in Philo­ sophie und Wissenschaft findet sich im Begriff der Methode (vom griechischen »hodos«, Weg): als der richtige Weg, um bei der Annä­ herung an Phänomene, der Herangehensweise an Probleme oder der Darstellung von Beweisen194 vorzugehen. Kurzum, auch beim Bild des Weges haben wir es mit einem Archetyp oder einer »absoluten Metapher« zu tun, die tief in der menschlichen Vorstellungskraft verwurzelt ist.

Eine symbolistische Sicht der Realität Mehrere dieser Motive finden sich bei Goethe, dem »Dichter-Philoso­ phen«, wie er oft genannt wird.195 Seine Weltanschauung kann ohne weiteres als symbolistisch bezeichnet werden. Für ihn ist die Natur eine produktive, schöpferische, göttliche Kraft, eine Sichtweise, die viele Gemeinsamkeiten mit der in diesem Buch vertretenen Sicht der Dinge als Grundlage für eine spirituelle Denk- und Lebensweise aufweist. Nach Goethes Auffassung hat die Natur ein göttliches Inne­ res, das eine untrennbare Einheit mit dem sichtbaren Äußeren bildet. Deshalb kann er die Natur auch »der Gottheit lebendiges Kleid« oder auch »Gottes Handschrift« nennen. Weil die uns zugängliche vordergründige Wirklichkeit auf diese hintere Dimension verweist, wenn sie auch nur in Form von Symbolen aufleuchtet, können wir uns eine Vorstellung davon machen und uns mit ihr verbunden fühlen. Da unser Auge »sonnenhaft« ist, können wir das Licht sehen. Auf 194 So werden die fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin als die »quinque viae«, die fünf Wege, bezeichnet. 195 Zu Goethes stark religiös geprägter Wirklichkeitsauffassung siehe Günter Niggl, »In allen Elementen Gottes Gegenwart«. Religion in Goethes Dichtung, WBG, Darm­ stadt 2010.

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dieselbe Weise sind wir wesentlich mit dem göttlichen Inneren der Wirklichkeit verbunden, ich zitiere nochmals: Wär' nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken?196 Wär' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?

Aber diese Tiefendimension der Wirklichkeit, das »Göttliche«, offen­ bart sich, wie ich schon sagte, nur in symbolischer Form. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«, heißt es am Ende vom Faust. So kann Goethe sogar zu dem Philologen Riemer, eine Zeit lang sein Hausgenosse, sagen, dass »alles [!] unser Wissen symbolisch ist«. Natur und Kunst haben also beide Symbolcharakter, wobei das Sym­ bol die Veranschaulichung der Idee in der Natur und im Kunstwerk ist. Symbol ist verkörperte Bedeutung. Aber weil es einen Überschuss hinsichtlich des Anschaulichen besitzt, ist es gleichzeitig mehrdeutig, unerschöpflich, weist es auf eine Dimension der Wirklichkeit hin, die zutiefst unaussprechlich ist. Die Wirklichkeit ist mit anderen Worten letztlich unergründlich, ›unerforschlich', ein von Goethe oft verwendeter Begriff, kurz: ein Mysterium. Das unergründliche Geheimnis der Wirklichkeit, so Goethes Grundhaltung, kann nur »still verehrt« werden. Die verschiedenen Religionen können nun als ebenso viele kon­ kretere Interpretationen von Clustern von Symbolen verstanden wer­ den. Dies bedeutet, dass ihr symbolischer Charakter missverstanden wird, wenn man sie wörtlich nimmt. Infolgedessen sind immer wieder erbitterte Kämpfe um die »Wahrheit« der Interpretationen religiöser Symbole entbrannt. Ein Beispiel: In der römisch-katholischen Messe werden Brot und Wein durch den Priester in den Leib und das Blut Christi verwan­ delt, indem er die Einsetzungsworte »Das ist mein Leib« und »Das ist mein Blut« spricht (Konsekration). Diese Auffassung ist seit 1215 im Dogma der Transsubstantiation197 festgeschrieben. Diese Lehre wird so genannt, weil man davon ausgeht, dass Brot und Wein bei der Konsekration ihrer Substanz, d. h. ihrem Wesen nach, in den Leib und Auch hier die Sonnen- und Lichtsymbolik. Transsubstantiation: Veränderung der Substanz. Eine Substanz, wörtlich das, was ist oder darunter liegt: das, was unter allen äußeren Veränderungen gleich bleibt, was das Wesen einer Sache ist.

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das Blut Christi verwandelt werden, obwohl sie weiterhin die äußeren Merkmale von Brot und Wein aufweisen. Wie wörtlich dies manchmal genommen wurde, geht aus einer Formulierung hervor, die auf einer Synode in Rom im Jahr 1050 aufgestellt wurde, nämlich »dass Brot und Wein, welche auf den Altar gelegt werden, nach der Konsekration nicht nur ein Sakrament, sondern auch der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus sind und in sinnlicher Weise, nicht nur sakramental, sondern in Wahrheit von den Händen der Priester gefasst, gebrochen und von den Gläubigen mit den Zähnen zermalmt werden.«198 Bei dieser »realistischen« Auslegung fehlt jeglicher Sinn für eine symbolische Bedeutung des Sakraments. Damit wird auch ein Bild der Transsubstantiationslehre selbst gezeichnet, die eine gezwungene Theorie ist, die die Lücke zwischen Sinnesmaterie und symbolischer Bedeutung schließen soll. Symbole werden in dieser Sichtweise auf die gleiche Ebene gestellt wie sinnliche Tatsachen (»von den Händen der Priester gefasst, gebrochen und von den Gläubigen mit den Zähnen zer­ malmt«). In der Geschichte der Religionen ist dies immer wieder geschehen, wenn Opfer, Trankopfer, Tänze, Gebete – kurz gesagt, rituelle »heilige« Handlungen in ihrer physischen Form – das Heil bewirken und das Böse abwenden sollten. Die Symbole verlieren auf diese Weise nicht nur ihre Tiefenwirkung, sie erfahren auch eine enorme Verflachung. Hier liegt aber auch eine Ursache der Kontroverse zwischen »Glauben« und »Wissenschaft«. Wenn beide unterschiedliche oder gegensätzliche Geschichten über »dieselbe« Sache erzählen (z. B. über den Ursprung des Universums oder des Lebens) und sie dies im gleichen faktischen Sinne meinen, dann ist ein Vergleich unmöglich. Generationen von Gläubigen standen (und stehen wahrscheinlich immer noch) vor dem äußerst schmerzhaften Problem der Wahl für das eine oder das andere, weil Symbole als Tatsachen gelesen wurden und der symbolische Charakter der Sym­ bole nicht erkannt wurde. Dieses Dilemma kann nur durchbrochen werden, wenn man erkennt, dass sich Fakten und Symbole auf ver­ schiedene Arten von Erfahrungen mit ihren eigenen, entsprechenden Arten von Wahrheit beziehen.

Zitiert in Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1963, 148. Der so genannte »Abendmahlsstreit«, d.h. der Streit darüber, wie die Messe genauer zu verstehen sei, dauerte von etwa 850 bis 1050.

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Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole

In der obigen Diskussion ging es um die Auslegung des Messesa­ kraments und damit der Sakramente im Allgemeinen: Darüber gab es immer wieder heftige Debatten. Ein Sakrament ist ja eine Sache aus der bekannten Welt, das uns mit einer höheren Wirklichkeit in Kontakt bringt und in diesem Sinne ein Vermittler des »Heils« ist. Aus diesem Grund ist sie von einem Heiligenschein der Kraft und Heiligkeit umgeben, der mit Vorsicht und Ehrfurcht behandelt werden sollte. Sakramente bilden auf diese Weise Brücken zu dieser zugrunde liegenden Wirklichkeit, »devulgarisieren« Aspekte unserer Alltags­ wirklichkeit199 und haben somit einen symbolischen Charakter par excellence. Es stellt sich natürlich die Frage, wie man sich das näher denken sollte. Und genau da beginnen all jene Debatten. Dabei spielt eine nicht unwesentliche Rolle, dass in unserer modernen, von Wissenschaft und Technik geprägten und damit stark an der sinnlichen Wirklichkeit orientierten Gesellschaft das symbolische Bewusstsein stark geschwächt ist. Jung hat von einer »beispiellosen Verarmung an Symbolik« in unserer modernen Kultur gesprochen.200 Es ist genau die Empfänglichkeit für das Symbol, um die es bei Religion und Spiritualität geht. Wenn dies ausgehöhlt wird, ist es nicht verwunderlich, dass Religion und Spiritualität ein schwieriges Dasein führen, wenn sie nicht schon versiegt sind. Sakramente sind, wie gesagt, symbolische Darstellungen der zugrunde liegenden Realitäten. Als »Bild-Junkies« kommen wir nicht umhin, uns solcher sichtbaren, hörbaren oder greifbaren Mittel zu bedienen, um mit dem dahinter Liegenden in Kontakt zu treten. Jede Religion hat ihre eigene Auswahl bestimmter Dinge getroffen, die als Vermittler zu jener uns übersteigenden Realität dienen. Wenn wir uns aber auf die Symbolik dieser sakramentalen Symbole einlassen, können wir sie im Prinzip alle würdigen und miterleben – auch wenn dies im konkreten Fall die notwendige Empathie und Vorstellungs­ kraft erfordert. Alle Sakramente und religiösen Symbole sind in dieser Sicht­ weise Hinweise auf die zugrunde liegenden Dimensionen der Wirk­ lichkeit und letztlich auf das Geheimnis der Wirklichkeit selbst. Auf Siehe R.R. Marett, Sacraments of simple folk, Oxford 1933, S. 19: »Das Sakrament begegnet der Welt auf halbem Wege und ordnet durch die Einführung von Heiligkeit, die man fast mit Devulgarisierung übersetzen könnte, in eine gewöhnliche Transak­ tion den materiellen Gewinn dem moralischen Ergebnis unter.« Zitiert in G. van der Leeuw, Sakramentstheologie, Callenbach, Nijkerk 1949, S. 135. 200 Von den Wurzeln des Bewusstseins, Rascher, Zürich 1954, S. 31 et al. 199

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diese Weise visieren die verschiedenen Religionen alle zutiefst das Gleiche, nur auf unterschiedliche Weise. Wenn dann jede Religion ihre Perspektive so umfassend und erschöpfend wie möglich erforscht und artikuliert, so wie große Künstler die Möglichkeiten ihres Stils voll ausschöpfen, dann können sie sich gegenseitig auf großartige Weise ergänzen, stimulieren und bereichern. Die Geschichte der Religion, aber auch die der Literatur und der Kunst, bildet auf diese Weise einen beeindruckenden Schatz an symbolischen Deutungen der Wirklichkeit und unserer Existenz. Der Philosoph kann sich dann frei und selbstbewusst auf Feiern unterschiedlichster Konfessionen einlassen, vorausgesetzt, es werden keine Zugeständnisse an die Symbolizität des Symbols gemacht. Mit dem Pansakramentalismus könnte schließlich alles ein Sakrament sein: jede Blume, jeder Baum, jeder Schmetterling, jeder Vogel, jeder Bach, jeder Berg usw. Indirekt könnte das uns auch zu einem sorgsameren Umgang mit der Natur als bisher führen.

Negativer Platonismus Eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang. Religion und Spi­ ritualität stehen, wie schon gesagt, im Zeichen einer Realität, die uns übersteigt und umfasst. Der Begriff der Transzendenz wurde immer wieder verwendet, um dies zu bezeichnen. In der abendländischen philosophischen Tradition wurde immer wieder versucht, diese Trans­ zendenz näher zu bestimmen, sei es in Form einer höheren idealen Wirklichkeit wie Platons Ideenhimmel, sei es in Form von Gott als dem vollkommensten Wesen in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, sei es in Form einer alles durchwaltenden göttlichen Ordnung der Dinge wie bei den Stoikern oder Spinoza usw. Die Transzendenz wird dann also auf eine bestimmte Weise interpretiert. Im Laufe einer langen abendländischen Denktradition, in der sich jede inhaltliche Interpretation der Transzendenz als problematisch erwies und aufgegeben werden musste, sind wir misstrauisch gewor­ den gegenüber jeder Behauptung, eine solche nähere Bestimmung dieser zugrundeliegenden Wirklichkeit gefunden zu haben (z.B. bei Hegel) und sogar gegenüber der Existenz einer solchen Wirklichkeit überhaupt. Dies hat in weiten Kreisen zur Abkehr von jeglicher Form der Metaphysik geführt, die ja ihrem Wesen nach versucht, dem Begriff der Transzendenz Ausdruck zu verleihen. In dieser metaphy­

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sikfreien Perspektive sind die Dinge (und auch der Mensch) das, was sie sind, reine Faktizität oder »Realität«. Dann aber verflüchtigt sich jede Form von Idealität, von einer Gültigkeit von Idealen wie Wahrheit, Güte und Schönheit, die ja die Faktizität an einem Maßstab messen, der nicht in dieser Faktizität aufgeht, sondern sie beurteilt. Dann ist kein Platz mehr für so etwas wie Spiritualität, denn sie dreht sich um die Überzeugung, dass nicht alles kalte, karge und flache Realität ist. Die Tatsache, dass wir diese Ideale des Wahren, Guten und Schönen nicht konkretisieren können, bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht ständig in unserer menschlichen Realität wirken. Ohne sie wür­ den wir uns selbst gegenüber völlig unverständlich und inakzeptabel werden, reduziert auf hirnlose Automaten, für die alles gleichwertig oder, besser noch, wertlos ist. Ein solcher Relativismus (mit einer dennoch durchschimmernden Wertedimension) ist für den Menschen unerträglich. Implizit und performativ bestätigen wir ständig den normativen Aspekt des Menschseins. Wenn Nietzsche z.B. sagt – und darauf beziehe ich mich noch einmal –, dass »Wahrheit die Art von Irrtum ist, ohne die eine bestimmte Art von Lebewesen nicht leben könnte«201, dann ist eine solche Aussage nicht möglich ohne den Rekurs auf ein nichtrelativistisches Wahrheitsideal. Schon der Begriff »Irrtum« verweist auf die Norm der Wahrheit, eine Norm, die in der Aussage implizit enthalten ist, wenn sie nicht eine sich selbst sprengende, bedeutungslose Aussage sein soll. Und in Analogie dazu kann man für das Ideal des Guten argumentieren, wenn es um eine Sache wie zum Beispiel die Gerechtigkeit geht, die schon bei kleinen Kindern als Urbewusstsein funktioniert, auch wenn sie es noch kaum erklären können.202

Nietzsche, Werke in drei Bänden, hgg. Von Karl Schlechta, Carl Hanser Verlag, München 1954, Bd. 3 (Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, Nr. 844). 202 Dieser Urgedanke der Gerechtigkeit steht auch hinter der mehr als zweitausend Jahre alten Idee des Naturrechts, der Vorstellung, dass es eine Reihe allgemeingültiger, überzeitlicher materialer Rechtsprinzipien gibt, die in der natürlichen Ordnung der Dinge verankert sind und die Grundlage und den Kern allen Rechts bilden. Hans Welzel zeigt in seinem meisterhaften Werk Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 19624), dass sich jede weitere inhaltliche Bestimmung dieser naturrechtlichen Grundsätze als problematisch erwiesen hat. Dennoch schreibt er im Hinblick auf eine solche letzte Grundlage des irdischen Rechts, dass »wir wahrscheinlich nie mehr über diese letzte Stütze sagen können, als dass sie da ist« (S. 218). 201

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Die Tatsache, dass die Ideale des Wahren, Guten und Schönen nie konkret ausgefüllt werden können, sondern immer als implizites Kriterium fungieren, von dem aus jede konkrete Ausfüllung immer wieder revidiert werden kann oder sogar muss, hat der tschechische Philosoph und Gründer der Charta 77 Jan Patočka als negativen Platonismus bezeichnet. »Der negative Platonismus erlaubt es, sich einer Wahrheit anzu­ vertrauen, die nicht relativ ist, auch wenn sie inhaltlich nicht positiv formuliert werden kann. Sie zeigt, wie viel Wahrheit in dem ewigen metaphysischen Ringen des Menschen um das Ewige und Transzen­ dente steckt. Auch wenn der negative Platonismus von der inneren geschichtlichen Determiniertheit des Menschen ausgeht, kämpft er weiterhin gegen einen Relativismus der Werte und Normen.«203 Auch wenn es uns Menschen nicht gegeben ist, in unverhüllter Wahrheit und Güte zu leben, erhält die menschliche Existenz erst durch den Versuch, dies zu tun, ihre Farbe und Kraft, wie es Patočka und in seinem Gefolge Vaclav Havel taten. Nur in dieser Haltung gewinnt das Dasein Substanz, werden Werte wie Wahrhaftigkeit, Integrität und Authentizität zu Sachen, für die man einsteht, und findet man die innere Kraft, sich gegen Lügen und Einschüchterung zu behaupten, auch wenn man dabei den Verlust seines Lebens riskiert, wie im Fall von Patočka, oder seiner (äußeren) Freiheit, wie im Fall von Havel. Letzterer hat diese Einbindung in eine Transzendenz als Bezugs­ punkt, der unserem Denken und Handeln Orientierung bietet, auch wenn er sich dem unmittelbaren Blick entzieht, einmal wie folgt aus­ gedrückt (er verwendet dafür die Metapher eines letzten Horizonts): »Hinter dem sich ständig verändernden konkreten Horizont des Pilgers bleibt immer ein »Horizont als solcher« oder »Horizont an sich«. Die Linie des Horizonts bleibt verborgen, wird sichtbar, verändert sich auf jede erdenkliche Art und Weise, aber der Horizont selbst bleibt bestehen, unabhängig von diesem Verborgensein oder diesen Veränderungen: das ist meist ein Horizont, der nur sehr abstrakt, verschleiert und schwer zu fassen ist: aber gleichzeitig ist er paradoxerweise auch der sicherste (er bleibt bestehen, auch wenn alles Konkrete zusammenbricht); das ist der letzte und absolute Horizont 203 Zitiert in Guido Vanheeswijck, De draad van Penelope. Europa tussen ironie en waarheid (Der Faden der Penelope. Europa zwischen Ironie und Wahrheit), Polis, Kalmthout 2016, 249.

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Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole

(als letzter Bezugspunkt in allem, was man im Leben tut), und es ist dieser Horizont – metaphysischer Fluchtpunkt des Lebens, der seinen Sinn bestimmt –, den viele als Gott erfahren.«204 All die Begriffe, die wir verwenden, um diese zugrundeliegende Wirklichkeit zu charakterisieren: göttlich, transzendent, ewig, unend­ lich, absolut, bedingungslos, erhaben, wunderbar, ehrfurchtgebie­ tend, heilig, unergründlich, unaussprechlich und andere – sie sind ebenso viele Begriffe, um jenen Horizont oder jenen »metaphysischen Fluchtpunkt« zu bezeichnen, der sich unserem unmittelbaren Zugriff entzieht und dennoch, wie eine Art Pol eines Magnetfeldes, unser Denken und Handeln lenkt. Mit anderen Worten, es handelt sich um ebenso viele Grenzbegriffe des Idioms, mit dem wir die uns bekannten Phänomene beschreiben, um Begriffe im Superlativ oder darüber hinaus. Wenn zum Beispiel Albert Schweitzer, Bach-Kenner par excellence, über die Arie »Sanfte soll mein Todeskummer« aus Bachs Osteroratorium schreibt, diese Musik sei so etwas wie »die Ewigkeit dargestellt als ein Weizenfeld, das sich im Winde wiegt«, dann heißt das, dass er eigentlich keine Worte findet, um die überwäl­ tigende Schönheit des Musikstücks zu beschreiben. Doch durch die versagenden Worte hindurch bekommen wir ein Gefühl für dasjenige, was er meint. Das gleiche Bewusstsein für einen solchen »metaphysischen Fluchtpunkt« spricht aus Abel J. Herzbergs schönem Gedicht aus seiner Novelle Drei rote Rosen. Es ist der letzte Brief, den Salomon Zeitscheck, die Hauptperson der Novelle, der alle seine Angehörigen im Krieg verloren hat, kurz vor seinem Tod an Hiob, die Hauptfigur des biblischen Buches Hiob, schreibt, in dem es um das Warum des Leidens geht. Das Leitmotiv des Briefes ist, dass unsere conditio humana von Zerbrochenheit geprägt ist: Alles in unserem Leben, auch wir selbst, sind Bruchstücke. Schon durch das Aussprechen des Wortes Teilt, trennt und verletzt man Das Umfassende, das man nicht kennt, Das ich gegenwärtig weiß oder nur vermute, Dass ich nicht aussprechen kann und doch aussprechen muss, Das mich beherrscht und mir befiehlt, zuzuhören. Aber wenn ich suche und lausche, finde ich es nicht.

204

In Vanheeswijck, a.a.O.., 255f.

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Kapitel 8 Aus der Schatzkammer der Symbole

Doch dem Gedicht zufolge ist das nicht die ganze Geschichte. Ein Trost bleibt: In jedem Wort steckt ein Wort, Das zum Unaussprechlichen gehört; In jedem Teil steckt ein Teil des unteilbaren Ganzen, Wie in jedem noch so kurzen Kuss Das ganze Leben mitgegeben wird.205

Der Briefschreiber alias der Dichter selbst bemerkt dazu: »Alles, was wir sind, was wir sehen, erleben, sagen und tun, ist fragmentarisch. Aber es gibt kein Fragment, oder die Seele von allem, was lebt, drückt sich in ihm aus. Es gibt keinen Augenblick ohne Ewigkeit, kein sterbliches Wesen, wie entstellt oder wohlgeformt es auch sein mag, in dem sich nicht die unsterbliche Schöpfung offenbart. Es gibt keine Wohltat, kein Verbrechen, kein Geist und kein Stoff, keine Grenze und keine Dauer, die kein Teil der Einheit des Seins wären.« Dennoch kommen wir als anschaulich veranlagte Wesen nicht ohne eine weitere Konkretisierung von Begriffen wie Transzendenz, Ewigkeit, Unendlichkeit usw. aus. Daher bedienen wir uns ausgiebig der Symbole, Metaphern, Analogien und Gleichnisse, um unsere Vor­ stellungswelt damit auszustatten. Genauso wie wir der Lebenspraxis durch Rituale, Zeremonien, Feste, Rezitationen, Lieder – kurz: durch das gesamte Ensemble von Musik, Tanz, Theater, Literatur und Kunst – eine Form geben, die diesen Vorstellungen entspricht. Aber durch all das hindurch strahlt, philosophisch gesprochen, die Ausrichtung auf jenen letzten Fluchtpunkt, der sich unserem Blick entzieht.

Denken Sie auch an die Gedichtzeilen von William Blake, wie sie in Anmerkung 40 wiedergegeben sind.

205

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Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Konturen einer von Spiritualität geprägten Philosophie skizziert. Der Schwerpunkt lag da auf dem Ideengehalt einer solchen Philosophie. Ich habe Spiritualität bereits als eine Lebensweise beschrieben, ein Lebenskonzept, das man verinnerlicht hat und nun in Form einer bestimmten Lebenshaltung praktiziert. Mit anderen Worten: Spiritualität ist nicht etwas, das auf der Ebene der Vorstellungen und Ideen bleibt, sondern eine ausgesprochen praktische Angelegenheit. Und das sogar allem voran. Denken und Leben sind dabei untrennbar miteinander verwoben. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Idee der Philosophie als einem Streben nach Einsicht, aus der heraus gelebt werden kann, das für jede Philosophie, die diesen Namen verdient, charakteristisch ist. Sie steht auch in direktem Zusammenhang mit dem, was ich den expressiven und existentiellen Aspekt der Philosophie genannt habe. Diese eminent praktische Ausrichtung der Philosophie ist es auch, die sie in einen inneren Zusammenhang mit (wohlverstande­ ner) Religion, Religiosität und Spiritualität bringt. Nach einem langen Leben des Nachdenkens und der Ausübung einer religiösen Gesin­ nung beschrieb Albert Schweitzer im letzten Jahr seines Lebens die Religion auf einem Blatt Papier als eine praktizierte Ehrfurcht vor dem Leben, man könnte es als eine Art geistiges Testament betrachten. Mit anderen Worten: Religion oder Spiritualität ist in erster Linie Praxis und eine verinnerlichte Lebenseinstellung. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Joseph Epes Brown, Eth­ nologe und Professor für Religionswissenschaften an der Universität von Montana (USA), widmet sein Buch The Spiritual Legacy of the American Indian [Das spirituelle Erbe des amerikanischen Indianers]206 »Hehaka Sapa (Schwarzer Elch), der ein lebendiger Vertreter der tiefs­ ten spirituellen Weisheit des Lakota-Volkes war«. In seinem Buch erzählt Brown, wie er mehr als ein Jahr mit diesem Medizinmann 206

Crossroad, New York 1982.

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Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

verbrachte und täglich in langen Gesprächen über die Religion, Lebens- und Denkweise der Sioux-Lakota-Indianer unterrichtet wurde. Aber, so schreibt Brown, egal wie beeindruckend der Einblick in die reiche Geisteswelt der Sioux war, den Schwarzer Elch ihm eröff­ nete, »das meiste, was ich von Schwarzer Elch gelernt habe, war nicht das, was er sagte, so wertvoll es auch war, sondern das, was er von seinem ganzen Wesen her war«. (S. 33) Hier gab es also keinen Unterschied zwischen »Lehre« und »Leben«, sondern eine Form der Erkenntnis, die ihre lebendige Verkörperung im Wesen eines Men­ schen gefunden hatte. Vielleicht ist das die beste Beschreibung, die man für »Weisheit« geben kann, nämlich als eine Einsicht in tiefere Formen des Menschseins, die dem Leben in all seinen Aspekten Ori­ entierung bietet. Dies im Gegensatz zu Formen der Einsicht, die sich nur auf Teilaspekte der Realität oder der Existenz beziehen, wie dies insbesondere in der westlichen Tradition der Fall gewesen ist. Schon Aristoteles unterscheidet bekanntlich zwischen »Sophia«, einem Begriff, den wir gewöhnlich mit »Weisheit« übersetzen und der hier das theoretische Wissen über die unveränderlichen und »ewigen« Aspekte der Wirklichkeit betrifft, und »Phronesis«, der praktischen Einsicht.207 Der »Weise« muss hier nicht weise im oben erwähnten praktisch-existentiellen Sinne sein, so wie Aristoteles von Leuten wie Anaxagoras und Thales ausdrücklich sagt, sie hätten theoretisches Wissen über »die erhabensten Dinge«, aber keine praktische Einsicht in »die Dinge, die für die Menschen gut sind«.208 Und diese Kluft zwischen theoretischem und praktischem Wissen ist in weiten Teilen der westlichen Kultur und der menschlichen Geschichte ein proble­ matisches Merkmal geblieben.209 Es ist in der Tat ein bemerkenswertes Symptom der Externa­ lisierung und Intellektualisierung des Daseins, vor allem in der westlichen Moderne, dass hier eine Wissenschaftsform entstehen konnte, die sich als Theologie (›Gottesgelehrtheit‹) mit einem eige­ nen Gegenstand, nämlich Gott, präsentierte, analog zur Biologie, Soziologie usw. oder zur Jurisprudenz, den Wissenschaften, die sich mit dem Leben oder makrosozialen Phänomenen oder dem Recht befassen. Nirgendwo gibt es das außerhalb der modernen abendlän­ dischen Kultur, die auf diese Weise die Ausnahme vom Allgemeinen Nikomachische Ethik, VI, 33vv, 1139b14vv. O.c., VI,7, 1141b6vv. 209 Ich habe diese Passage meinem Artikel »Indianische Weisheit« entnommen, siehe den Anhang. 207

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Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

Menschlichen Muster (AMM) bildete, wie der Historiker Jan Romein die entsprechende Tiefengrammatik aller nicht-westlichen Kulturen genannt hat. Aber auch innerhalb des abendländischen Kulturkreises ist die Entwicklung einer Theologie nach wissenschaftlichem Modell erst später erfolgt. Die Theologie der Kirchenväter und der frühmittelal­ terlichen Theologen war eine »doctrina sancta« (heilige Lehre), bei der Frömmigkeit und Reflexion Hand in Hand gingen. Hans Urs von Balthasar weist darauf hin, dass sich die Situation bereits mit Thomas von Aquin, d.h. im späteren Mittelalter, änderte, weil bei ihm der Wille vorsitzt, über den Einsatz aller rationalen Mittel die Theologie gegenüber den aufkommenden exakten Wissenschaften als Wissenschaft (und nicht nur als spirituelle ›Weisheit‹) zu positio­ nieren.210 Seitdem versteht sich die Theologie hier im Westen als Wissenschaft und hat ihren Platz neben den anderen Disziplinen an den Universitäten. Im östlich-orthodoxen Christentum hingegen gibt es keine sol­ che eigenständige Theologie, die die religiösen Wahrheiten oder Dogmen des Christentums wissenschaftlich durchdenkt. Der Religi­ onswissenschaftler Ernst Benz schreibt: »Das Dogma selbst nimmt in der orthodoxen Kirche nicht jene isolierte Stellung ein, die Lehre und Bekenntnis erwa im protestantischen [und römisch-katholischen, vdW] Kirchentum innehaben. Das Dogma steht in einem unmittel­ baren Zusammenhang mit dem liturgischen Leben der Kirche. Die Glaubensbekenntnisse der orthodoxen Kirche sind nicht abstrakte Formulierungen einer ›reinen Lehre‹, sondern sind Hymnen der Anbetung, die ihren Platz in der Liturgie haben (....). Das Dogma hat also innerhalb der orthodoxen Kirche seine ursprüngliche liturgische Funktion noch voll und ganz bewahrt.«211 Die Theologie, sofern dies ein angemessener Begriff ist, steht hier also in einem inneren Zusammenhang mit Liturgie und Frömmigkeit. Sie ist eher eine Form der Meditation als der losgelösten intellektuellen Kontemplation und somit direkt in die Praxis eingebunden.

210 H.U. von Balthasar, ›Spiritualität‹, in: id, Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I (1960), S. 229. 211 Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche, Rowohlt, Hamburg 1957, S. 39.

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Gleichgewicht und Ruhe Die Frage ist dann, wie eine spirituell durchstrahlte Philosophie in der Praxis funktioniert. Zunächst in Form einer gewissen inneren Ausgeglichenheit und Ruhe – denn Philosophie bedeutet ohnehin und dann verstärkt durch ihre spirituelle Ausrichtung, dass die Dinge nicht für bare Münze genommen, sondern auf ihre tieferen Hintergründe hin untersucht werden. Sie werden nicht sofort mit uns weglaufen, wir lassen uns nicht so leicht von ihnen aus dem Konzept bringen. Aber eine gewisse Distanz und milde Skepsis wird eine solche spirituell geprägte Haltung kennzeichnen, gerade Anbetungauf einer tieferen Ebene die Aufmerksamkeit für die Dinge liegt, die wirklich wichtig sind. Das ist es, was die Stoiker mit ihrer »apatheia«, Affektlosigkeit212 oder Unerschütterlichkeit, meinten, oder zumindest können wir es so verstehen. Denn sie leben, wie bereits erwähnt, von der Überzeugung, dass die Wirklichkeit »logos-durchwohnt« ist, also nach einem göttli­ chen Ordnungsprinzip funktioniert. Wenn der Mensch in Harmonie damit lebt, fühlt er sich von dieser kosmischen Kraft gestützt, gewinnt dadurch Boden unter den Füßen und lässt sich von den Wechselfällen der Daseinsoberfläche nicht so leicht aus der Bahn werfen. Indem man lernt, sich mit diesem tieferen, das Universum durchwehenden Prinzip zu identifizieren, beginnt man, mehr »innerlich« als »nach außen gerichtet« zu leben, befreit man sich von äußerem Druck (natürlich nur bis zu einem gewissen Grad, aber immerhin), erreicht man, kurz gesagt, ein gewisses Maß an Abgeklärtheit, Gleichmut und innerem Gleichgewicht. Dies ist auch wohl das, was Spinoza als »tranquillitas animi«, Seelenruhe, bezeichnete, als Ziel der philoso­ phischen Reflexion.

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Siehe Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, WBG, Darmstadt 1995, 139ff.

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Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

»Glaube« als Grundvertrauen Eine solche spirituelle Philosophie, die man sich zu eigen gemacht hat und die somit in tiefen Schichten der Psyche verwurzelt ist, schafft einen gewissen Widerstand gegen die Launen des Schicksals. Daran denkt wohl auch der Psychiater Rümke, wenn er in seinem Buch Karakter en aanleg in verband met de ongeloof (Charakter und Veran­ lagung in Bezug auf den Unglauben)213 behauptet, dass ein »Glaube« ein Zeichen einer gesunden menschlichen Entwicklung und Reifung ist. Denn »unser ganzes Leben beruht auf vertrauendem Glauben«. (S. 10) Dies steht im Einklang mit dem, was wir zuvor mit MerleauPontys existenzieller Phänomenologie als das vorreflexive und vor­ begriffliche Vertrauen bezeichnet haben, das die Grundlage unseres Umgangs mit und unserer Erkenntnis der Wirklichkeit bildet und das für jede gesunde menschliche Entwicklung charakteristisch ist. So kommt Rümke zu der Aussage: »Unglaube ist eine Entwicklungsstö­ rung.« (S. 12; Kursivschrift von Rümke). Er wendet sich damit gegen die Projektionstheorie der Religion, die diese als psychologisch reduzierbar und, wie bei Freud, als infantilneurotisch in einer Entwicklungsphase Steckenbleiben betrachtet, das auf dem Weg zum Erwachsensein hinter sich gelassen werden muss. Rümkes Erfahrung als Psychiater und Psychoanalytiker weist in die entgegengesetzte Richtung, nämlich »dass der sogenannte Unglaube eine viel stärkere Affinität zur Neurose hat als der ›echte‹ Glaube« (S. 64). Freud beschrieb seiner Meinung nach denn auch keinen ›ech­ ten‹, sondern faktisch unechten Glauben. Rümke hingegen sah, z.B. im Hinblick auf das Gottesbild, »wie über lange Jahre immer mehr Projektionen, immer mehr Übermalungen weggenommen werden, wie immer mehr unsere infantile Haltung ihm gegenüber abnimmt, bis – Gott das Unerkennbare, Unbenennbare, Unbeschreibliche, Grundlose, ganz Andere wird« (S. 62f). Als Christ merkt er an, dass wir nur durch Christus einen schwachen Abglanz von diesem Unaus­ sprechlichen haben, er also das Bild oder Symbol des Göttlichen ist. Aber können wir das nicht genauso gut von Buddha, Franziskus, Ghandi, Schwarzer Elch, Schweitzer, Hammerskjøld und all den gro­ ßen »Gläubigen« sagen, die mit ihrem Leben gezeigt haben, was »echter« Glaube, echte Spiritualität bedeutet? Für Rümke steht jeden­ falls fest – und ich glaube, zu Recht –, dass der Mensch von Natur aus 213

Ten Have, Amsterdam 1963.

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Kapitel 9 Spiritualität und Praxis

ein homo religiosus ist und in dieser reifen Religiosität oder Spiritua­ lität par excellence sein menschliches Potenzial verwirklicht. Wie verletzlich Menschen werden, die ohne ›Glauben', d.h. ohne eine solche tiefere geistige Verankerung leben, zeigt, um noch einmal darauf zu verweisen, Franz Werfels in Kapitel 1 erwähnter Roman Der veruntreute Himmel«. Solange das Leben reibungslos verläuft, so heißt es, führen die Mitglieder der reichen Familie Argan ein angenehmes Leben ohne Sorgen. Doch als dieses Leben durch einen verhängnisvollen Unfall unterbrochen wird, sind sie verzweifelt und völlig verloren. Dass Werfel dieser »ungläubigen« Lebenseinstellung den schlichten Glauben der alten Dienerin Teta gegenüberstellt, mag zu der irrigen Annahme führen, dass »Glaube« von Natur aus etwas Naives, »Infantiles« sei. »Glaube« hat offensichtlich seine Abstufungen; manche Formen davon sind in unserer modernen Zeit eigentlich nicht mehr lebbar, dafür sind wir zu ›aufgeklärt‹ geworden. Aber es gibt eine Art von »Aufklärung«, die einen geläuterten, reifen »Glauben« als etwas aner­ kennt, das dem Menschen völlig angemessen ist. Obwohl eine erste Naivität durch eine erste Aufklärung als überholt angesehen wird, stellt eine tiefgreifendere zweite Aufklärung eine Form der Naivität als eine grundlegende menschliche Tatsache wieder her. Es ist diese zweite Naivität, die wir nicht anders als performativ leben können. Mit anderen Worten: Wir können nicht anders, als »gläubig« zu sein. Dieser »Glaube« zeigt sich dann in einer bestimmten Praxis. Auch hier gilt: Man erkennt den Baum an seinen Früchten. Wenn ein einfacher Glaube wie der von Teta die Früchte trägt, die er hervorbringt, wenn er sie sicher und zuversichtlich in der Welt stehen lässt, dann erfüllt er eine tiefe menschliche Sehnsucht. Dieses Verlangen, so könnte man einwenden, könnte einer Fata Morgana nachlaufen. Es ist in der Tat nicht nachweisbar, dass dies nicht der Fall ist. Dass es sich dabei jedoch nicht um ein müßiges und auf eine Fiktion gerichtetes Verlangen handelt, zeigt sich in der Praxis durch den Frieden und die Festigkeit, die es vermittelt. Und theoretisch kann, wie gesagt, der durch eine erste Aufklärung aufgeworfene Zweifel, ob die Erfüllung dieses Verlangens nicht eine Illusion ist, durch eine zweite Reflexion widerlegt werden. Eine spirituelle Philosophie, so lässt sich zusammenfassen, kann durch ihre inspirierende Geschichte Menschen eine Lebensperspek­ tive bieten, sie auch in ausweglosen Situationen unterstützen und ihnen neuen Lebensmut geben. Dies war zum Beispiel bei Jacques

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Maritain (1882–1973) der Fall, der später mit Schriftstellern und Philosophen wie Charles Péguy, Paul Claudel und Etienne Gilson den »Renouveau Catholique«, die Bewegung zur Erneuerung des Katholizismus in Frankreich, gründete. Maritain, der protestantisch erzogen worden war, hatte seinen Glauben verloren und geriet sogar in eine tiefe existenzielle Krise, die ihn zusammen mit seiner Frau an den Rand des Selbstmordes brachte. Bergsons Philosophie eröffnete ihm dann einen Ausweg aus der Erfahrung tiefer Sinnlosigkeit, zog ihn aus der Grube heraus und ermöglichte es ihm, sein Leben mit neuem Elan wieder aufzunehmen. Eine andere Geschichte über die Macht einer philosophischen Vision, die Menschen geistig aufrecht hält, ist die des großen deutschen Historikers Friedrich Meinecke. Als in den späteren Jahren des Zweiten Weltkriegs Berlin unter stän­ digem Bombardement stand, las Meinecke inmitten der Gewalt und Verwüstung seinen Goethe, das poetische Werk mit seiner starken spirituell-philosophischen Ausrichtung. Das Gleiche gilt natürlich ebenso für Musik, Kunst und Literatur als Quellen der Ermutigung und des Trostes.

Philosophie als Quelle des Trostes Die Philosophie kann also erheben und trösten. Es gibt sogar ein gan­ zes Genre von Literatur, das als »Konsolations- bzw.Trostliteratur«214 bekannt ist und tröstende Argumente bietet, um Menschen bei der Bewältigung von großem Kummer zu helfen, insbesondere beim Tod eines geliebten Menschen oder bei der Erfahrung von Unglück wie Armut, Alter oder Blindheit. Es handelt sich dann um Gedanken wie z.B., dass es wunderbar ist, den Verstorbenen in ihrer Mitte gehabt zu haben, vielleicht sogar für eine lange Zeit; dass der Verstorbene ein gutes Leben hatte; dass er oder sie von weiterem Leid verschont wurde; dass man Unterstützung durch das Mitgefühl und die Gesell­ schaft anderer hat, usw., Gedanken, die wir immer noch jeden Tag 214 Das bekannteste Exempel dieser Gattung ist Boëthius' De consolatione philoso­ phiae (Trost der Philosophie), das vor allem im Mittelalter, aber auch später viel gelesen wurde. Zugleich wird am Ende des Buches deutlich, dass es zweifelhaft ist, ob die Philosophie mit ihrer als Trost gedachten Argumentation wirklich Trost spenden kann. Siehe dazu u.a. Cornelis Verhoeven, »Filosofie van de troost« (»Philosophie des Trostes«), in: id., Rondom de leegte (Rund um die Leere), Ambo, Utrecht o.J., 51–81.

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hören oder lesen können. Die Philosophie hingegen systematisiert diese Gedanken, vertieft sie und stellt sie in größere Zusammenhänge. Während es in der Trostliteratur darum geht, die Nachtseiten des Lebens (besser) zu überstehen, erweist sich auf der positiven Seite eine spirituell gefärbte Philosophie immer wieder als Quelle intensi­ ver Freude und Glückserfahrung. Das gilt übrigens für alle Formen der Spiritualität, die ich in Kapitel 1 unterschieden habe. Man denke nur an die Entzückung (und den Trost!), die Musik auslösen kann, an die Freude am Musizieren und Singen, an die tiefe Ergriffenheit durch ein schönes Gedicht oder eine schöne Geschichte, an die Freude, die Wissenschaftler immer wieder bei ihrer Arbeit empfinden (De Valk unterschied sogar zwölf Freuden der Wissenschaft), sowie an die vielen, oft stillen Freuden des täglichen Lebens. Um nur eine zu nennen, die von Victor Hugo in Worte gefasst wurde: Vieillir à Deux Quand deux coeurs en s'aimant ont doucement vieilli Quel bonheur profond, intime, recueilli! Amour! (...) Il garde ses rayons même en perdant ses flammes (...) Il a la paix du soir avec l‘éclat du jour Et devient l'amitié tout en restant l'amour. (Gemeinsam alt werden Wenn zwei Herzen, die sich lieben, sachte alt geworden sind Oh, welch tiefes, inniges und geschenktes Glück! Liebe! (...) Sie behält die Wärme ihrer Strahlen trotz des Verlustes ihres Gluts. (...) Sie hat den Frieden des Abends mit dem Glanz des Tages Und wird Freundschaft, während die Liebe intakt bleibt.)

Freude Eine spirituelle Philosophie hat ebenfalls einen inneren Zusammen­ hang mit Freude und Glück. Wir sind bereits in Kapitel 5 auf Beispiele dafür gestoßen, als wir dem spirituellen Gehalt der abendländischen philosophischen Tradition nachgegangen sind. Freude und Glück durchdringen, zumindest implizit, Philosophien wie die von Pythago­ ras, Platon, den Stoikern, Plotin bis hin zu Goethe, Schelling, Berg­

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son215 und anderen, z. B. in der herausragenden Stellung, die sie der Liebe und der Freundschaft einräumen, oder in ihrer Bewunderung für die Schönheit der Dinge oder des Universums als Ganzes, das nicht zufällig als Kosmos, Ornament bezeichnet wird. Aber regelmäßig wird diese Freude oder »Glückseligkeit« auch ausdrücklich erwähnt, wie bei Spinoza, wenn er die Freude216 als den Übergang von einer geringeren zu einer höheren Vollkommenheit definiert und schreibt, dass sie nichts anderes ist als die Glückseligkeit, die aus der intuitiven Erkenntnis Gottes217 entspringt. Diese intuitive Gotteserkenntnis ist die unmittelbare (nicht mehr diskursive) Einsicht in das Eingebun­ densein in die göttliche Liebe, die alles durchdringt. Mit anderen Worten: Wir haben Anteil an der göttlichen Natur, ruhen in ihr und sind, sofern es uns gelingt, diesen Zustand zu erreichen, frei von allen äußeren Widerwärtigkeiten, d.h. wahrhaft frei und glücklich. Mit anderen Worten: Unsere Freude hat ihren Höhepunkt erreicht. Vorhin haben wir die Philosophie als eine Phänomenologie der Erfahrung beschrieben. In Kapitel 3 wird eine Reihe von Zeugnissen über spirituelle Erfahrungen gegeben, in denen eine überwältigende Freude herrscht. Pascal schreibt in seinem »Memorial« über seine niederschmetternde religiöse Erfahrung: »Gewissheit, Gewissheit. Bedrängnis. Freude. Frieden. (...) Freude, Freude, Tränen der Freude. (...) Ewig in Freude für einen Tag Übung auf Erden.« Und bei Havel lesen wir anlässlich seiner mystischen Erfahrung, ich zitiere nochmals: »Eine tiefe Verwirrung über die Souveränität des Seins verwandelte sich in ein schwindelerregendes Gefühl eines endlosen Sturzes in den Abgrund seines Geheimnisses, in eine unbändige Freude, weil ich am Leben war, weil mir die Chance gegeben wurde, alles zu erleben, was ich erlebt habe, und weil alles einen tiefen und klaren Sinn hat (...); ich war überwältigt von einem Gefühl des höchsten Glücks und des Einklangs mit der Welt und mit mir selbst...« Und um es dabei zu belassen, schreibt der bereits zitierte Trevor in Bezug auf seine Erfahrung, in eine Art kosmisches Bewusstsein eingetaucht zu sein: »Auf dem Rückweg [von einem Spaziergang] 215 Siehe z. B. seine Aussage: »Mit ihren Anwendungen, die nur auf die Annehm­ lichkeiten des Lebens abzielen, verspricht uns die Wissenschaft Wohlbefinden, bes­ tenfalls Vergnügen. Aber die Philosophie könnte uns die Freude geben.« L'intuition philosophique«, La pensée et le mouvant, Alcan, Paris 1934, S. 162. 216 Ethik, III, Definitionen der Affekte. 217 Ibid., IV Anhang; V, 42.

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spürte ich plötzlich und ohne Vorwarnung, dass ich im Himmel war – ein innerer Zustand des Friedens und der Freude und eine unbe­ schreiblich intensive Gewissheit, begleitet von dem Gefühl, in ein warmes Licht getaucht zu sein (...)«. Und auch Jeroen Windmeijer war nach dem, was er selbst als »Gotteserlebnis« bezeichnete, »glücklicher als je zuvor«. Nicht umsonst sagt man der indianischen spirituellen Lebensauffassung nach, dass sie die Menschen mit Gefühlen tiefer Freude und Schönheit erfüllt.218 Die Philosophie als das Streben nach einer möglichst haltbaren Auslegung der Erfahrung versucht dann, diese Erfahrungen tiefer Freude näher zu deuten. Zum Beispiel als ein Verweilen im erfüllten Jetzt, gleichsam befreit von der Flüchtigkeit der Zeit, eingetaucht in das reine Sein, d.h. in eine ganz andere Seinsweise als die der zeitlichen Existenz. So beschreibt Augustinus in seinen Bekenntnis­ sen219 ein Gespräch, das er mit seiner Mutter in Ostia am Tiber führte, als er am Fenster stand und auf den Garten blickte. In diesem Gespräch, so schreibt er, stiegen sie höher und höher, bis sie »den Bereich der unerschöpflichen Fülle« erreichten, der sie mit tiefer Freude erfüllte und den er als Christ als Vorgeschmack der ewigen Seligkeit betrachtet. Freude als die Erfahrung, in einem zeitlosen Jetzt zu leben, das als Ewigkeit und reines Sein gedacht wird. Eine ähnliche Erfahrung beschreibt Eugène Ionesco in seinem Tagebuch: »Alles wurde gleichzeitig zutiefst real und zutiefst unwirk­ lich: Unwirklichkeit vermischt mit Wirklichkeit, beides eng, untrenn­ bar verbunden. (...) Überschwängliche Freude stieg in mir auf, warm und strahlend, es war eine absolute Präsenz da.«220 Eine andere Interpretation von Erfahrungen tiefer Freude, wie sie Havel und Trevor gemacht haben, stammt von Rousseau und Bergson. Nämlich ein Ausstieg (Rousseau verwendet auch ausdrücklich das Wort Ekstase) aus dem gewöhnlichen Alltagsselbst, das Bergson das oberflächliche Selbst, »le moi superficiel«, nennt, und ein Aufgehen in einem umfassenden Sein oder die Erfahrung eines tieferen Selbst, eines »moi profond«. Diese Loslösung, dieses Heraustreten aus dem

Siehe Anhang. IX.10.24. 220 Zitiert in Karl Albert, Einführung in die philosophische Mystik, WBG, Darmstadt 1996, 39. 218

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oberflächlichen Selbst221, wird von der Erfahrung tiefer Freude beglei­ tet. Wie in dem bereits zitierten lyrischen Erguss von Camus: »Bald, in alle vier Ecken der Welt verstreut, bin ich dieser Wind und in diesem Wind, bin ich jene Säulen und jener Bogen, jene Bodensteine, die sich warm anfühlen, und jene bleichen Berge, die die verlassene Stadt umgeben. Und nie zuvor habe ich mich so losgelöst von mir selbst und so präsent in der Welt gefühlt.« Die dauerhafte Freude, die sich vom vergänglichen Vergnügen oder der flüchtigen Heiterkeit unterscheidet, kann als Ausdruck eines Grundgedankens der abensländischen Philosophie betrachtet werden, mit Ausnahme einiger weniger wie Schopenhauer. Nämlich, dass die Wirklichkeit grundsätzlich gut und »in Ordnung« ist. Diese Überzeugung liegt der jonischen Naturphilosophie zugrunde, mit der die westliche philosophische Tradition in der Regel beginnt, den verschiedenen Formen des Platonismus und Aristotelismus, der Stoa, den Philosophien von Leibniz, Hegel, Bergson, Jaspers, Bloch, Jonas und vielen anderen, nicht zu vergessen der Mystik. Karl Albert hat überzeugend gezeigt, wie sehr die abendländische Philosophie von letzterer beeinflusst ist.

Eine positive Einstellung zum Leben Das abendländlische philosophische Denken ist also durch ein tiefes Einverständnis mit der Realität gekennzeichnet. Natürlich nicht mit allen Formen, in denen sich diese Realität darstellt. Das gibt ihr das nagende und unruhige Problem des Bösen auf. Doch wie wesentlich es auch sein mag, in der abendländischen philosophischen Tradition steht das Böse niemals gleichberechtigt neben dem Guten. Daher weit davon entfernt die Realität als Blendwerk zu betrachten wie im Brahmanismus oder als durch und durch kummervoll wie im Buddhis­ mus, wo die Erlösung nur in der Auslöschung der bekannten Realität bestehen kann, wird das Sein im Westen als etwas von Natur aus Man kann sich nicht von seinem tieferen Selbst entfernen. Dieses Selbst kann jedoch als Teil eines größeren Selbst erfahren werden, wie in Spinozas oder in der hinduistischen Einsicht der Identität von Atman und Brahman, von meinem Selbst und dem Grund der Welt: »tat tvam asi«, das ist dein Selbst. Diese Überzeugung (und Erfahrung!), dass mein tieferes Selbst eins ist mit einer zugrunde liegenden Realität »hinter« oder »unter« der gewöhnlichen Alltagsrealität, ist der Kern aller Formen von Mystik. 221

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Gutes aufgefasst. Rettung bedeutet hier also: die Wiederherstellung einer aus den Fugen geratenen Realität oder die Verbesserung der bestehenden Situation. Glück, Wohlbefinden, ein gutes Leben und ein freudiges Dasein sind, kurz gesagt, Dinge, die in der westlichen Tradition positiv zu bewerten sind. Man könnte sogar sagen, dass sich die westliche Philosophie um die Suche nach diesen Dingen dreht. Auch mehrere philosophische Strömungen sagen dies mit so vielen Worten. Aber auch dort, wo es nicht explizit gesagt wird, kommt es in vielen philosophischen Konzeptionen indirekt zum Ausdruck – ich habe es zuvor die expressive Dimension der Philosophie genannt. Richtig betrachtet sind diese Philosophien immer Ausdruck einer positiven Grundeinstellung zur Wirklichkeit. Solche Philosophien können, da sie eine durchdachte Geschichte präsentieren, anregen und dazu führen, dass man eine positive Lebenseinstellung hat und diese in seinem Handeln zum Ausdruck bringt. Aber hatten wir Spiritualität nicht als ein Leben aus einer ideellen Inspiration heraus beschrieben, als eine Lebensweise, die von einer Vision geleitet wird, die man verinnerlicht hat? Nun, Spiritualität, selbst in ihrer philosophischen Form, ist nichts, wenn sie nicht in einer Lebensweise praktiziert wird. Und ging es in diesem Kapitel nicht darum, was Spiritualität in der Praxis bedeutet?

Ein spielerischer Ansatz für Lebensfragen Aber wenn Spiritualität in ihrer idealen Form (die wir vielleicht nie erreichen222) von einer Art heiterer Freude und Entspannung begleitet wird, dann bekommt sie auch etwas Unbeschwertes und Spielerisches. Wenn wir erkennen, dass wir uns dem Geheimnis unseres Daseins nur umkreisend und mit Hilfe von Metaphern und Symbolen nähern können, dann schafft das auch den Raum, um spielerisch damit umzugehen. Wir erkennen dann in den verschiede­ nen Interpretationen kreative Versuche, das nicht direkt Vorstellbare ein wenig näher zu bringen. Wir können dann ungehemmt auf die Daseinsdeutungen anderer hören, auf das, was sie als Perlen Die stoische Philosophie ist in ihrem Kern eine Theorie der Weisheit, die aufzeigt, worin das Glück besteht und wie es erreicht werden kann. Die Stoiker haben jedoch mehrfach gesagt, dass es vielleicht nie einen wahren Weisen gegeben hat. 222

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aus der Tiefe an die Oberfläche gebracht haben. Zumal die Frage nach der Wahrheit im spirituellen Bereich nicht mit den Mitteln des Alltagsdenkens entschieden wird (obwohl diese sicherlich auch eine Rolle spielen), sondern, wie bereits erwähnt, in einer liebevollen und humanitären Praxis. Beispiele für ein solches kreatives Spiel mit den Inhalten des Glaubens, das sie aus der Versteinerung befreit, sind Rilkes Stunden­ buch, seine Erzählungen vom lieben Gott oder seine beiden Briefe Über Gott – aber unterschätzen Sie nicht die Ernsthaftigkeit und Intensität dieser spielerischen Suche. Rilkes Schriften offenbaren eine sehr vielschichtige Gottesvorstellung; Gott hat, wie er selbst schreibt, tausend Gesichter, er ist für jeden anders. Er kann von Gott als einem Schatz sprechen, der ans Licht gebracht werden muss, und vom Menschen als einem Schatzsucher in sich selbst. Oder Gott erscheint als dunkel, schweigsam und unbewusst. Wir müssen an ihm bauen, malen und schreiben. Sein Reich reift durch die Arbeit eines jeden Einzelnen. Auf diese Weise wird Gott gleichzeitig zu einer Chiffre oder einer Metapher für die Kunst. Andererseits ist Gott derjenige, der den (großen) Tod gebiert, der eine Metamorphose zum ewigen Leben ist. Aber auch wieder ist Gott in jedem Teil der Schöpfung zu finden, ein Gottesbild, das zum Pantheismus tendiert. Dies alles sind (und dies ist nur eine Auswahl) spielerische Versuche, das Geheimnis der Existenz und die eigene Position darin zu deuten.223 Man kann auch an die Art und Weise denken, wie Kabarettisten wie in den Niederlanden Toon Hermans und Herman Finkers mit ihren religiösen Überzeugungen spielen, ohne ihre tiefere Glaubwür­ digkeit zu beeinträchtigen. Oder denken Sie an die Leichtigkeit, mit der ernste Themen angesprochen werden, wie in dem folgenden Gedicht des Textdichters Willem Wilmink: GOTT WOHNT IN DER FOKKE SIMONSZSTRAAT Ich habe es von einem ehrwürdigen einem sehr alten Pfarrer gehört: der Herr wollte sich mit unserer Erde nicht einen Tag länger einlassen.

223 Siehe dazu z.B. Alla Soumm, Rainer Maria Rilkes ›Das Stundenbuch‹. Eine dich­ terische Umdeutung des biblischen Gotteskonzepts«, literaturkritik.de, Archiv, Nr. 12, dezember 2015.

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Auch wenn wir ihn überschütten sollten mit Gottesdienst und Danksagung, Es würde nichts nützen: Es wurde darunter ein Schlussstrich gezogen. Doch siehe da: Am selben Morgen war ein Lausbub in der großen Stadt dabei eine schwerkranke Taube zu pflegen die er auf der Straße gefunden hatte. Mein Gott, was sollst du? Was willst du? Ja, sieh mich mal an. Godsallejeisis, Tier, wie du zitterst. Beruhige dich, Mann. Da zügelte der Herr seinen Zorn, denn er hatte Freude an dem Fall. Also schonte er den kleinen Jungen, die kranke Taube und das All.

Hier wird auf subtile, aber spielerische Weise ein, zumindest nach Ansicht eines »ehrwürdigen und sehr alten Pfarrers«, grimmig stren­ ger Gott in Frage gestellt, der keine Gnade mit der Welt mehr kennt. Aber der Dichter erlaubt ihm, sich durch etwas so Unbedeutendes (zumindest im Weltmaßstab) wie die Pflege eines Stadtjungen für eine kranke Taube eines Besseren zu besinnen. Dann lebt Gott, aber ein ganz anderer Gott als der des Pfarrers, in einer gewöhnli­ chen Straße irgendwo in einer Großstadt. Keine lange Predigt oder Abhandlung kann dagegen ankommen.

Ironie, Humor und Selbstspott Ironie, Humor und Selbstspott sind weitere Mittel, um starre Denkund Handlungsmuster zu durchbrechen. Diese Instrumente wurden in der Geschichte des abendländischen Geistesgeschichte immer wie­ der gegen Torheit, Grobheit, Monopolisierung der Wahrheit, schiefe gesellschaftliche Verhältnisse und Arroganz der Herrschenden ein­ gesetzt, von Sokrates und Diogenes von Sinope über Erasmus, Rabelais, Montaigne, Swift und viele andere bis zu Shaw, Kästner und Havel. Der belgische Philosoph Guido Vanheeswijck hat in einer (oben schon erwähnten) meisterhaften Monographie mit dem Titel De draad van Penelope. Europa tussen ironie en waarheid (Der Faden

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der Penelope. Europa zwischen Ironie und Wahrheit), gezeigt, dass das ironische Lachen, das Distanz schafft, ein wesentliches Merkmal der europäischen Geisteshaltung ist, Ausdruck der Fähigkeit zum Zweifel, zur Offenheit und zur Selbstkritik. In den meisten Fällen hatten dieser Zweifel und diese Selbstkritik jedoch nicht das letzte Wort, sondern standen im Dienst einer Wahrheitssuche, einer Wahrheit jedoch, die nie endgültig erreicht wird. Deshalb, so Vanheeswijck, finden wir bei Sokrates nicht nur ein Lachen »über die Wahrheit, das die einfachen Selbstverständlichkeiten der herrschenden Werte und Wahrheiten betrifft«, sondern auch ein Lachen aus einer Wahrheit, »die niemals konkret ausgefüllt werden kann, sondern immer das Kriterium bleibt, das jede konkrete Ausfüllung immer wieder in Frage stellen muss. Beide Formen des Lachens sind untrennbar, wie der doppelte Aus­ druck der sokratischen Ironie.« (S. 46) Diesem doppelten Lachen steht das einfache von Diogenes gegenüber, der nur über die Wahrheit lacht, ja sie sogar weglacht, indem er alles und jeden ironisiert. Havel z.B. folgt den Spuren von Sokrates, bei ihm steht das Lachen im Dienste des Versuchs, in der Wahrheit zu leben.224 Er unterscheidet daher zwischen zwei Formen der »Torheit« (offensicht­ lich eine Anspielung auf Erasmus' Lob der Torheit), nämlich die zerstö­ rerische Torheit des Fortschrittsglaubens und der »besseren Torheit«: »die Torheit unseres Ideals einer friedliebenden gesamteuropäischen Gemeinschaft, die Torheit unseres europäischen Bewusstseins.« Ich zitiere Vanheeswijck, besser kann man es nicht ausdrücken: »Vor allem in den Briefen an Olga unterstreicht er [Havel], dass dieses Lachen, diese ›Torheit‹, dem Bewusstsein einer undefinierbaren, aber deshalb nicht weniger präsenten absoluten Wahrheit entspringt. Mehr als alles andere, so glaubt er, trägt die absurde Kunst mit ihrem verzweifelten Protest gegen den Verlust des Sinns der Dinge den Glauben in sich selbst. Der ›absurde‹ Künstler lacht aus der Wahrheit. (...) Das Lachen lehnt jeden dogmatischen Wahrheitsanspruch ab. Aber das Lachen lehnt nie die Wahrheit selbst ab, im Gegenteil, es wird aus ihr geboren. Für Havel ist eine sinnvolle menschliche Exis­ tenz nicht denkbar ohne einen Horizont der Unvergänglichkeit, zu dem sie sich ständig wie zu einer unsichtbaren Quelle hinwendet. In typisch phänomenologischem Jargon beschreibt er Glaube und Hoff­ 224 Vaclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen, Rowohlt, Hamburg 1989.

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nung als »Einschreibung« am absoluten Horizont, dem einzigen rea­ len Hintergrund, der uns die Garantie bietet, dass nicht alles für immer verschwindet und dass deshalb am Ende nichts überflüssig ist.« (S. 255f.)

Die soziale Bedeutung der Spiritualität Wenn es um die praktischen Auswirkungen einer spirituell orien­ tierten Philosophie geht – das ist ja das Thema dieses Kapitels – ist es wichtig festzustellen, dass dies nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist. Sie hat auch eine eminent soziale Bedeutung. Wenn Spiritualität, wie gesagt, eine Lebensweise ist, die von einer verinnerlichten Vision geleitet wird, dann hat dies in erster Linie mit der Auffassung des Glücks oder des menschlichen Wohlergehens zu tun. Aus spiritueller Sicht geht es auch hier, wie bei der Freude, um das, was Bergson das »tiefe Ich« (moi profond) nennt. Aber war es nicht genau das, was die Stoiker im Sinn hatten, als sie den Weg zum Glück unter anderem darin suchten, sich von den äußeren Wechselfällen des Daseins unabhängig zu machen? Und sie es dachten als ein Leben aus einem in der Tiefe verankerten Selbst, in einer Natur, die von einem göttlichen Ordnungsprinzip durchdrungen ist? Glück also als ein Leben aus der Kraft dieses tieferen Selbst. Tatsache ist nun, dass die moderne Gesellschaft eine überwie­ gend äußere Vorstellung von Glück und Wohlbefinden (und Freiheit) hat. In der Moderne haben wir unser Augenmerk auf äußere Fakto­ ren zur Förderung des Wohlbefindens gerichtet: Beherrschung der Natur (einschließlich unserer eigenen), Versuch, äußere Angriffe auf das Wohlbefinden durch Vorbeugung zu beseitigen (»Pech muss weg«), Erhöhung des Komforts durch Befriedigung möglichst vieler Wünsche (und nicht nur Bedürfnisse). Zu diesem Zweck haben wir ein immer größeres Arsenal an Kontrollmechanismen geschaffen, und zwar in Form des WTK-Komplexes, wie ihn der belgische Philo­ soph Etienne Vermeersch nannte, des Komplexes von Wissenschaft, Technologie und Kapitalismus, die eine Allianz miteinander einge­ gangen sind.225 225 Ich ziehe es vor, anstelle von Kapitalismus von Ökonomie als Oberbegriff zu sprechen, denn die moderne Wirtschaft ist ohnehin kapitalistisch (Staats- oder Marktkapitalismus). Also: WTÖ-Komplex.

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Dieser WTÖ-Komplex, so die Vorstellung, ist der Motor und der bestimmende Faktor der modernen Gesellschaft, alle anderen Bereiche (Politik, Kultur, Sport, Kunst usw.) sitzen im Anhänger. Das Problem dabei ist, dass alle drei Komponenten des WTÖ-Kom­ plexes im instrumentalistischen Modus stehen: Sie sind nicht Selbst­ zweck, sondern dienen als Mittel für externe Zwecke, letztlich, so die Annahme, für das menschliche Wohl. Und die Idee ist, dass jede Erweiterung dieses Arsenals an Mitteln ein Beitrag zur Förderung des menschlichen Wohlergehens ist. Deshalb arbeiten wir jeden Tag hart an der Entwicklung und Perfektionierung unseres technischen, wis­ senschaftlichen und wirtschaftlichen Instrumentariums. Das gesamte Gewicht der Förderung des menschlichen Wohlbefindens und Glücks liegt hier somit im Bereich der Ressourcen. Kurz gesagt, die moderne Gesellschaft mit ihrem Lebensstil beruht auf einem äußerlichen Konzept des Wohlbefindens. Auch hier zeigt sich, dass es sich um eine Kultur der Äußerlichkeit handelt. Nun ist diese Vision (denn auch dies ist eine Vision, nur eine falsche) vom menschlichen Glück, das auf einem festen Griff nach der Natur beruht, welche die Ressourcen für das moderne Projekt bereitstellen muss, höchst problematisch. Dass ein solcher Griff eine völlige Schimäre ist, schärft uns die Natur fast täglich durch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Tsunamis, Taifune und jetzt die Viruspandemie ein. Es wird immer unverständlicher, dass wir ernsthaft geglaubt haben, wir könnten der Natur fast unbegrenzt unseren Willen aufzwingen oder ihr etwas vorschreiben. Hat Kant nicht geschrieben, dass wir die Naturgesetze nicht von der Natur ablesen, sondern sie ihr vorschreiben? Und dass die oberste Gesetz­ gebung der Natur in uns selbst liegt, d.h. in unserer Vernunft?226 Welche Arroganz! Kurzum: Wer das menschliche Glück auf diese Weise sichern (organisieren)227 will, baut auf Sand. Ich rufe nochmals die Verzweiflung der Familie Argan in Franz Werfels Der veruntreute 226 Kant, »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, Kants Gesammelte Schriften, Akad.-Ausg., Bd IV, Berlin 1903, 319f. 227 So heißt es bereits in der technologischen Utopie Nova Atlantis (1627) von Francis Bacon (1561–1626): »Die Technokraten, die Mitglieder des Hauses Salomons [wie die Organisation der Wissenschaftler und Technologen in Neu-Atlantis genannt wird], garantieren, dass das Wohlergehen und das Glück der Bewohner mehr oder weniger automatisch eintreten werden.« Hans Achterhuis, De maat van de techniek (Das Maß der Technik), Ambo, Baarn 1992, S. 12. Diese Auffassung kann allgemein als charak­ teristisch für die Entwicklung der westlichen Zivilisation angesehen werden.

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Himmel in die Erinnerung zurück. Aber dass wir uns in unserer Gesell­ schaft auf sehr dünnem Eis bewegen, mag vielen dunkel bewusst sein. Der philosophische Psychiater Erich Fromm bezeichnete unsere Gesellschaft denn auch als eine notorisch unglückliche Gesellschaft. Wir sollten es daher viel weniger in den Äußerlichkeiten des Daseins suchen, viel weniger »nach außen gerichtet« und viel mehr »nach innen gerichtet«. Damit würden wir nicht nur uns selbst, son­ dern auch der Natur und der Gesellschaft einen großen Dienst erwei­ sen. Eine spirituell geprägte Philosophie kann dabei behilflich sein, indem sie uns daran erinnert, in welcher Richtung wahres Wohlbe­ finden nicht zu finden ist, wie angedeutet nicht in einem Lebensstil des Konsums und des Großgebrauchs mit dem damit einhergehenden Zeit- und Leistungsdruck, der Hektik und Anspannung. Kurzum, indem man sich nicht von Äußerlichkeiten, Besitz, Status, Einfluss usw. abhängig macht. Eine solche Philosophie könnte aber vor allem auch im positiven Sinne Hinweise darauf geben, wo das wahre Glück zu finden ist: in der geistigen Vertiefung, in der Zeit für Besinnung, Reflexion und Ruhe, in der Entfaltung der eigenen Talente, in liebe­ vollen persönlichen Kontakten, in der Fürsorge füreinander, in einer angenehm entspannten Arbeitsatmosphäre, in der konstruktiven Zusammenarbeit mit anderen und nicht zuletzt im Genießen der Reichtümer der Natur. Zusammen mit der Literatur, der Kunst und auch den Wissenschaften kann die Philosophie Entwürfe für ein gutes Leben entwickeln, die inspirieren und an denen die Menschen sich aufrichten können. Dann brauchen wir keine Überflussgesellschaft mehr, die nur falsches Glück vorspiegelt. Kurz gesagt, wir können uns von einer Gesellschaft des »Habens« abwenden und eine Lebensweise des »Seins« praktizieren.228 Was die praktischen Konsequenzen einer spirituellen Lebensein­ stellung betrifft, so scheinen mir diese in freundlichen, toleranten und friedlichen zwischenmenschlichen Beziehungen und Umgangs­ formen zu liegen. Schließlich hat niemand eine privilegierte Bezie­ hung zum »metaphysischen Fluchtpunkt«, den jeder auf seine Weise anvisiert. Wenn Spiritualität, wie gesagt, eine positive Lebensein­ stellung beinhaltet, wird sie sich in Wohlwollen, Rücksichtnahme Siehe dazu Balthasar Staehelin, Haben und Sein, Siebenstern Taschenbuch Verlag, Hamburg 1969; und Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, DTV, München 19804. 228

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und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen, ja sogar in einer gewissen Geduld mit lästigen Mitmenschen äußern. Wie der Kaiser-Philosoph Mark Aurel sich sagte: »Früh am Morgen muss man sich sagen: Heute werde ich Men­ schen begegnen, die aufdringlich, undankbar, aggressiv, unzuverläs­ sig, eifersüchtig und egoistisch sind. Sie sind so geworden, weil sie nicht wissen, was gut und was schlecht ist. Ich habe jedoch erkannt, dass das Gute von Natur aus schön und ehrenhaft und das Böse hässlich und schändlich ist, und dass der Übeltäter selbst von Natur aus mit mir verwandt ist, nicht weil wir vom gleichen Blut oder Samen sind, sondern weil wir beide an der gleichen Vernunft teilhaben, das heißt, ein kleines Stück des Göttlichen in uns haben. Deshalb kann mir keiner von ihnen schaden (denn niemand kann mich zwingen, schlechte Dinge zu tun), noch kann ich mich über jemanden ärgern oder jemanden hassen, der mit mir verwandt ist. Schließlich sind wir dazu geboren, zusammenzuarbeiten, wie die Füße und die Hände, die Augenlider und die unteren und oberen Zähne. Gegeneinander zu sein, ist gegen die Natur, und andere zu ärgern und sich von ihnen abzuwenden, ist eine Form des Widerspruchs.«229 Weil wir alle derselben Natur angehören und einen göttlichen Funken in uns tragen, so Mark Aurel, sollen wir aufeinander achten und aufeinander Rücksicht nehmen. (S. 78 und passim) Ein nach­ denklicher Mensch geht außerdem nicht über seine Verhältnisse, son­ dern lebt einfach und nüchtern und ist ehrlich. »Ehrlichkeit und Bescheidenheit, das ist es, worum es in der Philosophie geht.« (S. 161) Ein schönes Zeugnis einer spirituellen Philosophie. Spiritualität, so die obige Behauptung, hat praktische Auswir­ kungen in drei Richtungen: auf uns selbst, die Gesellschaft und die Natur. – Im Übrigen kann Spiritualität nur um ihrer selbst willen praktiziert werden, niemals um ihrer Wirkungen willen; das würde ihre Instrumentalisierung und damit ihre Pervertierung bedeuten. Mit anderen Worten, die Wirkungen können nur von der Art der Zugabephänomene sein, nicht-intendierte Nebenfolgen einer auf andere Dinge gerichteten Aufmerksamkeit, hier die spirituelle Vertie­ fung.– Die Auswirkungen auf uns selbst und die Gesellschaft wurden oben erörtert. Nun zu den Auswirkungen auf die Natur.

Marc Aurel, eigene Übersetzung in Anlehnung an Persoonlijke notities (Persönli­ che Notizen; Übersetzung von Simone Mooij-Valk), Ambo, Amsterdam 20075, S. 68.

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Natur und Spiritualität Es stellt sich dann sofort die Frage: Gibt es eine Beziehung zwischen Spiritualität und Natur? Zweifellos. In Poesie und Prosa finden sich zahllose Aussagen, die von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur sowie einer großen Bewunderung für ihre Schönheit und ihren Reich­ tum zeugen. Dass die Natur lebt und spricht, dass sie ein lebendiges Ganzes ist, in das sich der Mensch einbezogen fühlt, ist ein immer wiederkeh­ rendes Thema in der langen Tradition der Naturlyrik, sei es beim heiligen Franziskus (sein Sonnengesang), bei dem schon erwähnten Joseph von Eichendorff (»Schläft ein Lied in allen Dingen«) oder bei Rilke (»Die Dinge singen hör' ich so gern«), um nur einige230 zu nennen. Ähnliche Ansichten sind in der niederländischen Literatur von Gezelle, Kloos, Gorter, Andreus, Gerhardt und vielen anderen zu hören. Analoge Erfahrungen einer rätselhaft bedeutungsvollen Natur, die sich in Symbolen oder »Chiffren« kundtut, finden ihren Ausdruck in der Malerei, bei Expressionisten, Symbolisten, bei Kandinski, Klee und anderen. Alles Zeugnisse von Erfahrungen einer uns übersteigen­ den Natur. In Kapitel 3, unter der Überschrift »Zeugnisse«, sind wir bereits auf solche Erfahrungen gestoßen, dass wir uns im Kontext einer Natur, die uns umfasst, einbezogen fühlen. Wenn die natürliche Umgebung, wie im Fall von Bede Griffiths, indem er aufmerksam wird auf den Gesang der Vögel, eine andere, wundersame Gestalt annimmt und er von einem Gefühl der Ehrfurcht überwältigt wird. Oder wenn, wie bei Havel, er beim Betrachten des kaum wahrnehmbaren Zitterns der Baumblätter vor dem wolkenlosen, unendlichen Himmel plötzlich spürte, wie er sich gleichsam »über die Koordinaten seines momentanen Daseins in der Welt zu einem Zustand über der Zeit erhob, in dem all das Schöne, das er je gesehen und erlebt hatte, in einer totalen ›Gegenwart‹ existierte«. Was in ihm »ein Gefühl des höchsten Glücks und der höchsten Harmonie mit der Welt und mit mir selbst« hervorrief. Malwida von Meysenburg und J. Trevor vermittelten uns analoge Erfahrungen des »Einsseins mit allem, was ist«, oder einer Art Aus­ tritt aus dem gewöhnlichen Ich inmitten einer in ein warmes Licht Siehe zum Beispiel die Sammlung Deutsche Naturlyrik. Vom Barock bis zur Gegenwart (hgg. von Gunter E. Grimm), Reclam, Stuttgart 1995.

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getauchten Landschaft. Diese Erfahrungen sind immer von Gefühlen der Demut, Kleinheit und Ehrfurcht begleitet. Selbst Kant, der Phi­ losoph einer mechanistischen und entzauberten Naturanschauung, schreibt – ich erinnere nochmals an eine seiner berühmtesten Aus­ sagen –, dass »zwei Dinge (…) das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung (erfüllen), je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«231 Jener Sternenhimmel, sagt Kant, verweist auf das »unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen überdem noch in grenzenlosen Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer«, verweist also auf das Große und Erhabene. Ihr Anblick, so nochmals Kant, macht mich zu einem zufälligen Passanten und »vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muss, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen«. Wenn selbst jemand wie Kant angesichts grandioser Naturphänomene lyrisch und ehrfürchtig wer­ den kann (was in seinem Denken jedoch ein Findlingsblock bleibt), sagt das etwas über die Emphase aus, mit der sich uns die Natur als erhabene Wirklichkeit präsentiert. Ähnliche Erfahrungen machen Menschen immer wieder, wenn sie mit Großem und Imposantem konfrontiert werden, sei es eine schneebedeckte Alpenkette, der Grand Canyon, das weite Meer oder ein Wasserfall wie der Niagara. Es kann auch eine Zeiterfahrung sein, wie der Nimwegener Naturphilosoph Martin Drenthen schreibt: »Wenn man in einer Tropfsteinhöhle ist und das Licht ausgeht, ist man mit der Tiefenzeit [deep time] konfrontiert, der tiefen Zeit der Welt, Millionen von Jahren bevor wir da waren. Dann erkennt man, dass die Dinge, die uns wichtig sind, im Lichte der Ewigkeit eigentlich nichtig sind. (...)«232 Aber ein solches Gefühl der Ehrfurcht und Bewunderung kann genauso gut beim Anblick einer winzigen schönen Blume oder eines wunderschön gebauten Kristalls auftreten. Eine solche Sicht der Natur kann nur zu einer Haltung der Bescheidenheit und Demut führen, anstatt dass der Mensch zum »Herrn und Besitzer« der Natur wird (Descartes), wie es für die KpV, Kants Gesammelte Schriften, Akad. Ausg. Bd. V, Berlin 1908 (Repr. 1968), 161. 232 Volzin, Bd. 18/12 (2019), S. 25.

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moderne Gesellschaft typisch ist. Aus spiritueller Sicht ist die Hal­ tung eines Teilnehmers an der natürlichen Welt für den Menschen besser geeignet als die eines Betreibers. Das heißt, um noch einmal dieses Bild zu verwenden, er nimmt seinen Platz im Orchester seiner Mitgeschöpfe wieder ein, um gemeinsam die Sinfonie der Natur zu spielen. Die Philosophie kann es sich dann zur Aufgabe machen, diese spirituelle Naturerfahrung zu reflektieren und auf diese Weise zu einem schonenderen Umgang mit der Natur beizutragen.

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Wenn wir an dieser Stelle auf den Weg zurückblicken, den wir in diesem Buch zurückgelegt haben, können wir, glaube ich, nur zu dem Schluss kommen, dass Philosophie und Spiritualität eine tiefe innere Verwandtschaft haben. Ein kurzer Streifzug durch die Geschichte der abendländischen Philosophie hat bereits gezeigt, wie sehr ein spirituelles Ferment viele philosophische Konzeptionen, insbeson­ dere die prägenden, durchdringt. Wenn dieses geistige Moment im Mainstream der modernen Philosophie verloren gegangen ist, weil sie sich an einem verengten Erfahrungs- und Rationalitätsbegriff orien­ tiert, so ist damit dennoch die Erkenntnis keineswegs verschwunden, dass hier etwas verloren gegangen ist, was zum Kernbestand der Philosophie als Weisheitsstreben gehört.233 Denken Sie auch an das weithin empfundene Bedürfnis nach »Sinn«. Offensichtlich besteht ein ständiges Bedürfnis, über die großen Fragen des Lebens nachzudenken, wie z. B. über das Warum und Wozu des Daseins und der Realität im Allgemeinen, über die Natur und Herkunft des Bösen in der Welt, über unsere tiefste Identität usw. Wenn wir »Metaphysik« als die Suche nach den Dimensionen der Wirklichkeit »hinter« der sinnlichen Realität definieren, dann stellen sich »metaphysische« Fragen wie die erwähnten auch im metaphysik-unfreundlichen Geistesklima der Neuzeit. Kant, der als einer der Totengräber der Metaphysik gilt, war übrigens der erste, 233 Amüsant ist in dieser Hinsicht die Anekdote, die Gerhard Krüger einmal über seinen Lehrer Nicolai Hartmann, Autor dicker philosophischer Bücher, erzählte. Eines Tages wurde Hartmann von einem Vater besucht, dessen Sohn Philosophie studieren wollte. Der Vater wollte von Hartmann wissen, wozu ein Philosophiestudium gut sein könnte. »Und als Nicolai Hartmann ihn von den Problemen einer `Neuen Ontologie', von den Aufgaben einer Metaphysik der Erkenntnis, von den Schwierigkeiten einer philosophischen Ästhetik zu berichten versuchte, gab sich dieser Vater damit nicht zufrieden. Ohne die philosophische Tradition zu kennen, formulierte er selbst die Forderung, die bei den Philosophen vom Fach in Vergessenheit zu geraten schien: `Ich will Ihnen sagen, Herr Professor, was Sie tun sollen: Sie sollen die Menschen besser und glücklicher machen.'” Günther Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1978, S. XIX.

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der auf die Unausweichlichkeit dieser eigentlich unbeantwortbaren Fragen hingewiesen hat. Die Idee hinter diesem Buch war also, dass die Philosophie, die ihrer Idee als Philosophie treu bleibt, nicht umhin kommt, über diese Fragen nachzudenken. Wenn wir also Spiritualität als Praxis der Metaphysik im oben genannten Sinne betrachten, bedeutet dies, dass es auch in unserer Zeit allen Grund gibt, sich mit Metaphysik und Spiritualität und ihrem gegenseitigen Verhältnis zu befassen. Die Hauptfrage dieses Buches ist, wie bereits erwähnt, die nach dem Verhältnis von Philosophie und Spiritualität. Das Buch geht von der Annahme aus, dass spirituelle Erfahrungen eine Gegebenheit sind, die in den verschiedensten Bereichen des Daseins ihre Spuren hinterlassen (siehe Kapitel 1). Der gesamte Gedankengang ist von diesem Ausgangspunkt aus aufgebaut. Das Argument wird dann an zwei Unterfragen festgemacht, nämlich a)

b)

wie eine philosophische Analyse des Phänomens Spiritualität näher aussehen würde, d.h. als Beschreibung der grundlegenden Merkmale des Phänomens; mit anderen Worten, als Grund­ lagenforschung von einem Meta-Standpunkt aus, wie es die Philosophie mit den verschiedensten Bereichen (Wissenschaft, Politik, Kunst, Moral, Recht, etc.) tut; und ob die Philosophie selbst auch eine spirituelle Dimension besitzt, sie nicht, wie in der vorhergehenden Frage, am Rande steht und das Spiel auf dem Feld aus der Zuschauerposition beobachtet, sondern auch als Spieler am Spiel teilnimmt und sich dazu ver­ bindet.

Was die erste Frage betrifft, so ging es immer um ein »Mehr« in Bezug auf die gewöhnliche Alltagserfahrung, für die immer wieder Qualifikationen wie heilig, ewig, unendlich, absolut, transzendent usw. auftauchten. Wir haben die weitere Erforschung dieses Themas als kategoriale Analyse des Phänomens der Spiritualität bezeichnet. Bei der Frage b) ging es darum, ob die in der kategorialen Analyse unterschiedenen Begriffe eine sinnvolle philosophische Interpreta­ tion erfahren können. Die letztgenannte Übung bestand aus zwei Schritten. Erstens eine Untersuchung der Gründe, warum spirituelle Erfahrungen in der modernen Philosophie diskreditiert oder als Erfahrungen abgetan wurden, die (wie die der Kunst, der Moral usw.) keinen Realitätswert haben, sondern lediglich subjektive Geisteszustände widerspiegeln

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(wobei Mystik, wie erwähnt, sogar als ein Zustand des Wahnsinns betrachtet werden konnte). Dieser Grund liegt in dem, was man als Homogenisierung und Domestizierung der Erfahrung bezeichnen kann. Mit anderen Worten, dass nur das, was der sinnlichen Erfahrung zugänglich ist, als Realität gelten kann. Wenn Wissenschaft als die methodische Erkundung der Sinneserfahrung in ihren verschiedenen Bereichen beschrieben werden kann, dann bedeutet dies in dieser Denkrichtung, dass der Wissenschaft das Monopol auf die Erkenntnis der Wirklichkeit zuerkannt wird. Daher kann alles, was nicht diesem wissenschaftlichen Standardmodell von Wissen und Erfahrung ent­ spricht, nicht als gültiges Wissen über die Realität gelten. Meiner Meinung nach habe ich zeigen können, dass dieses Modell von Erfahrung und Wissen (viel) zu eng ist. Wir sind nicht bereit und sogar nicht in der Lage, auf allerlei Arten von Erfahrun­ gen zu verzichten, wie z.B. auf die persönliche, innerlich durchlebte Erfahrung meiner selbst als ganz einzigartiges Wesen mit unverwech­ selbar eigenen Gemütszuständen wie Schmerz, Angst, Trauer, Freude usw., und auf all die zwischenpersönlichen Erfahrungen von Liebe, Respekt, Aufmerksamkeit, Fürsorge, auf die unmittelbar erlebte Wil­ lensfreiheit usw. Wir können nicht anders, als diese Dinge zumindest performativ auszuüben, müssen sie dann aber auch philosophischreflektierend ernst nehmen. Auf diesem so genannten indirekt-apa­ gogischen Weg werden also Blockaden für die Anerkennung einer ganzen Reihe von Erfahrungstypen mit ihrer irreduziblen Eigenart beseitigt. Und wird so Raum geschaffen, um spirituelle Erfahrungen ernst zu nehmen. Entlang einer anderen Argumentationslinie, nämlich der von erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Überlegungen, sind wir zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, nämlich zu einem Ernstnehmen der spirituellen Erfahrung und damit zu einer Rehabi­ litierung der spirituellen Dimension der Philosophie. Erstens durch die Einsicht, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker herausgebildet hat, dass es nicht nur Eine Art von Erfahrung und Rationalität gibt, sondern ein ganzes Spektrum davon – ich deutete oben schon darauf. Damit wurde eine wichtige Blockade gegen die Anerkennung einer Pluralität von Wirklichkeitsdimensionen mit jeweils eigenen Formen der Erfahrung, Erschlieβung und Erkenntnis, wie die der Literatur, der Kunst, der Moral, des Mythos und damit auch der spirituellen Erkenntnis, beseitigt. Folglich liefert auch die Spiritualität Wissen über die Realität.

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Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass unser kognitives Vermö­ gen, das sich in einem evolutionären Prozess entwickelt hat, nicht in gleichem Maße für die verschiedenen Dimensionen der Realität geeignet ist, da es aus Überlebensgründen auf Situationen ausgerich­ tet ist, die direkt mit den Sinnen erfasst werden können. Kein Wunder also, dass der »gesunde Menschenverstand« und die Wissenschaft unser Denken und Sprechen so sehr im Griff haben: Sie spielen ein Heimspiel. Aber auch wenn sich die Reichweite unserer kogniti­ ven Fähigkeiten hauptsächlich auf die Realitäten unserer Sinne und unserer vitalen Bedürfnisse beschränkt, scheinen sie dennoch über eine überschüssige Kapazität zu verfügen, die uns einen gewissen Zugang zu den weniger leicht zugänglichen Aspekten der Realität verschafft. Als »Bildjunkies« müssen wir auf indirektere Mittel wie Bilder, Gleichnisse, Allegorien, Metaphern und Symbole zurückgrei­ fen, um die Geheimschrift der Realität zu deuten. Eine naturphilosophische Reflexion fügte hinzu, dass unsere Realität vielschichtig ist und aus einer Seinsleiter besteht, die auf jeder Ebene besondere, irreduzible Eigenschaften aufweist, die alle ihre eigenen, entsprechenden Erschlieβungsmittel erfordern. Vor allem aber stellte sich heraus, dass diese Realität eine offene, unabgeschlos­ sene Realität ist, die ständig neue »emergente« Phänomene mit bisher unbekannten Eigenschaften hervorbringt. Sie ist mit anderen Worten kreativ, innovativ und unerschöpflich, sowohl ontologisch als auch epistemologisch. Die Wirklichkeit, in der wir leben, trägt also zutiefst geheimnisvolle Züge, die nur Bewunderung und Staunen hervorrufen können. Dieses Staunen über das Geheimnis der Wirklichkeit ist viel­ leicht der Kern aller Spiritualität. Alle ihre Spielarten, die der Wis­ senschaft, der Literatur und der Kunst, der Religion ebenso wie die des täglichen Lebens, stimmen darin überein. So sagte Einstein, wer nicht mehr staunen könne, sei tot, ob wissenschaftlich, künstlerisch oder religiös, und Dürr gab seinem Buch Physik und Transzendenz den bezeichnenden Untertitel: Die großen Physiker unseres (des 20.) Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren. In ähnli­ cher Weise sagte Goethe zu seinem Gesprächspartner Eckermann, dass das Höchste, was der Mensch erreichen kann, das Staunen sei – ja, dass wir dazu da seien, zu staunen. So wie Wislawa Szymborska schrieb, dass das Staunen die wichtigste Aufgabe des Dichters ist. Von Thomas von Aquin, weiter, stammt die Aussage, dass der Philosoph und der Dichter sich beide mit dem »mirandum«, dem Erstaunlichen,

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beschäftigen. Und war nicht auch nach Platon und Aristoteles die Verwunderung der Ursprung aller Philosophie? Es gibt, kurzum, viele Möglichkeiten, die Realität mit anderen Augen zu sehen und sich von der gewöhnlichen Alltagserfahrung abzuheben. Wenn aber Philosophie und Spiritualität beide vom Staunen leben, dann können sie nicht umhin, eine tiefe innere Verwandtschaft aufzuweisen. Auch in dem Sinne, dass sie beide für eine Sicht der Dinge stehen, die sich in einer Lebensweise ausdrückt. So schlieβt sich die Spannungskurve dieses Buches: Spiritualität entspringt einer Selbstbesinnung, die im weitesten Sinne philosophisch genannt wer­ den kann, während Philosophie, die diesen Namen verdient, von einer dazugehörigen Lebenspraxis begleitet wird. Mit anderen Worten: eine spirituell durchatmete Philosophie und eine philosophisch reflektierte Spiritualität bilden die beiden Brennpunkte der Ellipse einer Lebens­ weise aus einer ideellen Inspiration.

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Weisheit als Lebenseinstellung Wenn man über den Glauben und die Lebensweise der amerikani­ schen Indianer spricht, wird oft das Wort Weisheit verwendet. Um einige Beispiele zu nennen: Käthe Recheis und Georg Bydlinski veröffentlichten eine Sammlung von Sprüchen und Gedichten von Indianern unter dem Titel Weisheit der Indianer. Vom Leben im Einklang mit der Natur234. Der Zoologe David Suzuki und der Publi­ zist Peter Knudtson haben ein Buch mit dem Titel Wisdom of the Elders und dem Untertitel Honoring sacred native visions of nature235 geschrieben. Unter diesen »Eingeborenen-Visionen« nehmen wiede­ rum die der Indianer des amerikanischen Kontinents, in diesem Fall einschließlich der Indianer Mittelamerikas und des Amazonagebiets, einen großen Platz ein. Und um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Wilfred Pelletier, selbst ein Odawa-Indianer, dessen indianischer Name »Baibomsecy« lautet, schrieb das Buch A Wise Man Speaks (Ein weiser Mann spricht) auf der Grundlage seiner Kontakte mit alten Medizinmännern und »Weisen«. Um es nicht nur bei Buchtiteln zu belassen: Joseph Epes Brown, Ethnologe und Professor für Religionswissenschaften an der Univer­ sität von Montana, widmet sein Buch The Spiritual Legacy of the American Indian (Das spirituelle Erbe des amerikanischen Indianers)236 Hehaka Sapa (Black Elk), »der ein lebendiger Vertreter der tiefsten spirituellen Weisheit des Lakota-Volkes war«. In seinem Buch erzählt Brown, wie er mehr als ein Jahr mit diesem Medizinmann verbrachte und täglich in langen Gesprächen über die Religion, Lebensweise und * Dank an Ton Lemaire für seine Kommentare zu einer früheren Version dieses Arti­ kels. 234 Orbis Verlag, München 1993. 235 Bantam Books, New York 1992 236 Crossroad, New York 1982.

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Denkweise der Sioux-Lakota-Indianer unterrichtet wurde. Aber, so schreibt Brown, so beeindruckend Black Elks Einblick in die reiche spirituelle Welt der Sioux auch war, »das meiste, was ich von Black Elk gelernt habe, war nicht das, was er sagte, so wertvoll es auch war, sondern das, was er von seinem Wesen her war.237 Hier gab es also keinen Unterschied zwischen »Lehre« und »Leben«, sondern im Gegenteil eine Form der Erkenntnis, die ihre lebendige Verkörperung im Wesen eines Menschen gefunden hatte. Vielleicht ist das auch die beste Beschreibung, die man für »Weisheit« geben kann, nämlich als eine Einsicht in vertiefte Formen des Menschseins, die dem Leben in all seinen Aspekten Orientierung bietet. Dies steht im Gegensatz zu Formen der Einsicht, die sich nur auf Teilaspekte der Realität oder der Existenz beziehen, wie dies insbesondere in der abendländischen Tradition der Fall ist. Schon Aristoteles unterscheidet bekanntlich zwischen »Sophia«, einem Begriff, den wir gewöhnlich mit »Weis­ heit« übersetzen und der hier das theoretische Wissen über die unveränderlichen und »ewigen« Aspekte der Wirklichkeit betrifft, und »Phronesis«, der praktischen Einsicht238. Der »Weise« muss hier nicht weise im oben erwähnten praktisch-existentiellen Sinne sein, so wie Aristoteles von Leuten wie Anaxagoras und Thales aus­ drücklich sagt, sie hätten theoretisches Wissen über »die erhabensten Dinge«, aber keine praktische Einsicht in »die Dinge, die für die Menschen gut sind«.239 Und diese Kluft zwischen theoretischem und praktischem Wissen ist in weiten Teilen der westlichen Kultur und Geistesgeschichte ein problematisches Merkmal geblieben. Jost Trier hat eine ähnliche Bedeutungsverschiebung des mit­ telhochdeutschen wîse festgestellt240. Während sich das Wort im Zeitalter des Rittertums noch auf die Gesamtheit der menschlichen Existenz in religiöser, moralischer und sozialer Hinsicht bezog, fand im 14. Jahrhundert eine Verengung auf den intellektuellen Inhalt statt. Aus »weise« wird dann »klug«, »wissend«. Im Einklang mit dieser Intellektualisierung wird Kant dann von der Philosophie sagen,

Op.cit., S. 33. Nikomachische Ethik, VI,33ff, 1139b14ff. 239 Op. cit., VI,7, 1141b6ff. 240 Jost Trier, ›Die Idee der Klugheit in ihrer sprachlichen Entfaltung‹, Zeitschrift für Deutschkunde 46 (1932), 625­635, zitiert in Werner Müller, Indianische Welterfah­ rung, Klett-Cotta, Stuttgart 1987 (3e. Aufl.), S. 80. 237

238

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dass es sich um Weisheit handelt, aber »durch den Weg der Wissen­ schaft«.241 Wie bereits angedeutet, steht die indianische Auffassung von Weisheit in scharfem Kontrast zu all dem. Aus dieser Perspektive ist es eine Sicht der Wirklichkeit und des Menschen, die in Personen lebendige Gestalt annimmt und sie so zu Vorbildern für andere werden lässt. Der spanische Missionar Pater Bernardino de Sahagún (1499–1590) zum Beispiel hat uns das folgende Bild eines indiani­ schen »Philosophen« gegeben: »Der Weise ist eine Lampe, eine mächtige Fackel, ein klarer Spiegel. (...) Er ist ein Vorbild für die Menschen, er ist der Weg, der Führer, der sie inspiriert, der Führer, der ihnen vorausgeht. Der wahre Weise ist wie ein Arzt, ein gelehrter Beschützer, ein Mann, dem man vertraut und der dieses Vertrauens würdig ist, und der es wert ist, dass man ihm glaubt. Er ist ein Lehrer der Wahrheit, einer, der ermahnt und erzieht, einer, der ein gutes Beispiel gibt, einer, der Augen und Ohren öffnet, einer, der den Weg weist, einer, der den Weg verkürzt und einen immer begleitet. Er hält den Menschen einen Spiegel vor und entlockt ihnen Geständnisse. Er ist es wert, in medizinischen Fragen konsultiert zu werden und als Vorbild zu gelten. Er erleuchtet die Welt über uns und hat Kenntnis vom Land der Toten.242

Ein durch und durch religiöses Weltbild In dem obigen Zitat wurden bereits Hinweise auf die Einsicht des Weisen gegeben, die er selbst in seinem Leben verkörpert. Um ein kohärenteres Bild von dem zu erhalten, was hier als einzelne Elemente dargestellt wird, kann die indianische Weisheit am besten als spiri­ tuelle Einsicht beschrieben werden. Weisheit ist, wie oben bereits deutlich gemacht wurde, in der indianischen Perspektive nicht separat erhältlich. Mit anderen Worten, sie steht in direktem Zusammenhang mit einer ganzheitlichen Sicht der Realität. Und diese Sichtweise kann nur als spirituell oder religiös bezeichnet werden – obwohl es in keiner der indianischen Sprachen einen eigenen Begriff gibt, der unserem Wort »Religion« entspricht, ebenso wenig wie es einen eigenen Begriff für das gibt, was wir »Kunst« nennen. Mit anderen 241 242

Kritik der reinen Vernunft, B 878f. Zitiert in Müller, op. cit., S. 13f.

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Worten: Die Religion als Verehrung höherer Mächte mit den dazuge­ hörigen Ritualen ist so sehr mit der gesamten indianischen Kultur und Lebensweise verwoben, dass sie nicht als separates Phänomen neben anderen erlebt wird. Hinzu kommt ein weiterer Faktor – ich werde darauf zurückkom­ men –, nämlich dass die indianische Denkweise sehr anschaulich eingestellt ist, das heißt, sie bleibt sehr nah an den konkreten Phäno­ menen mit ihrem Reichtum an qualitativen Merkmalen. Sie arbeitet nur in sehr beschränktem Maβe mit abstrakten Begriffen – »abstrakt« tatsächlich im wörtlichen Sinne von »abgezogen«, unter Verzicht auf die vielen Besonderheiten. Man spricht hier also nicht von einem Baum im Allgemeinen, sondern immer von einer Eiche, einer Buche, einem Ahorn usw.; nicht von einem Fisch im Allgemeinen, sondern von einer Forelle, einem Aal oder einer Barbe; nicht vom Essen im Allgemeinen, sondern davon, dass man Suppe oder Brei ohne die Zähne verzehrt, oder dass man Fleisch isst, ohne die Zähne zu benutzen. Die Indianer sprechen nicht vom Gehen im Allgemeinen, sondern sie unterscheiden mindestens acht Arten des Gehens, je nachdem, ob man auf dem Weg zu einem Ort ist, dort ankommt, während man dort wohnt oder nicht usw. Dass ein abstrakter und blasser Begriff wie »Religion« in ihrem Wortschatz nicht vorkommt, überrascht also nicht. Wenn wir dann aber kaum umhin können, das indianische Denken und Erleben mit Hilfe unserer Kategorien zu charakterisieren – wir können nicht außerhalb unserer eigenen Schuhe stehen –, dann kommen wir nicht umhin, die indianische Sicht und Haltung zur Wirklichkeit als durch und durch religiös zu charakterisieren.243 Denn in dieser Perspektive hat alles, um einen anderen Begriff aus der westlichen Religionswissenschaft zu verwenden, eine sakrale Dimension. Alles, was existiert, seien es Tiere, Pflanzen, Bäume, Ströme, Winde usw., und vor allem auch die Erde, die als Mutter alles Leben hervorbringt und nährt – all das ist Manifestation von Wakan-Takan, dem Großen Geist, oder vielleicht besser, wie es auch übersetzt wird: das Große Mysteriöse, das die ganze Wirklichkeit durchdringt und trägt. Diese Sicht der Realität kann daher auch als symbolistisch bezeichnet werden. Schließlich ist alles eine Manifestation oder ein 243 Z.B. auch Richard Brandt, Hopi Ethics, University of Chicago Press, Chicago 1954, 18ff.

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Symbol des großen Mysteriösen.« Symbol« muss dann in einem realistischen, nicht-konventionellen Sinne verstanden werden. Das heißt, dass das Symbol und das Symbolisierte in einer inneren Bezie­ hung zueinander stehen, faktisch identisch mit einander sind. Alles in dieser Vision der Realität hat also einen Bezugswert, ist eine Manifestation oder »Offenbarung« des Großen Mysteriösen, das auf diese Weise in der gesamten wahrnehmbaren Wirklichkeit präsent ist. Solche Symbole, in denen das Heilige in einer greifbaren und wahrnehmbaren Form präsent ist, werden in unserer Kultur auch als Sakramente bezeichnet. Da in der indianischen Wirklichkeitserfah­ rung die Welt ein großes Netzwerk von Symbolen ist, könnte man diese Sicht der Dinge auch als pansakramental bezeichnen.

Ein kosmischer Familienverband Kurzum, alles, was existiert, ist in dieser Sichtweise Träger heiliger Kräfte oder in seinem Wesen heilig, wenn auch – und hier erinnere ich an das, was vorhin über den konkret-anschaulichen Charakter des indianischen Denkens gesagt wurde – immer in der spezifischen Weise der jeweiligen Entitäten. Mit anderen Worten: Das Heilige manifestiert sich in der reichen Vielfalt der verschiedenen Arten von Wesen mit ihren besonderen konkreten Merkmalen. Weil aber das Sakrale in jeder Seinsform (d.h. in der spezifischen Art und Weise dieser Seinsform) »innewohnt« und gegenwärtig ist, die gesamte Natur so von einer geheimnisvollen göttlichen Kraft durchdrungen ist, aus diesem Grunde kann die Natur auch als ein großer Familien­ verband gesehen und erlebt werden. Um aus der berühmten Rede von Häuptling Seattle aus dem Jahr 1854 zu zitieren, als die amerikanische Regierung das Land des Stammes der Dwamish kaufen wollte, weil es dort Mineralien gab: »Wir sind Teil der Erde und die Erde ist Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern, das Rentier, das Pferd und die großen Adler unsere Brüder. Die Schaumköpfe im Fluss, der Saft der Wiesenblumen, der Schweiß des Ponys und des Mannes, das ist alles vom selben Geschlecht, unserem Geschlecht.«244 244 »Wie kann man die Luft besitzen?«, Veröffentlichung der Aktie Strohalm, Ekolo­ gische Uitgeverij, Utrecht 1983, S. 7. Über die Echtheit der Rede von Seattle (richtiger Name: Seeathl) ist viel diskutiert worden. Siehe z. B. Suzuki/Knudtson. op. cit. (Anmerkung 2), S. XX-XXIII. und H. Gruhl, Häuptling Seattle hat gesprochen. Der

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Aber wahlverwandte Wesen können miteinander sprechen. Die Wirklichkeit ist in dieser Sichtweise eine einzige große kommunika­ tive Gemeinschaft. Um Lame Deer, den Medizinmann der Sioux, zu zitieren: »Lasst uns hier in der freien Prärie sitzen ... nicht auf einer Decke....Das Gras soll unsere Matratze sein, damit wir seine Schärfe und seine Weichheit erleben können. Lasst uns wie Steine sein, wie Pflanzen und Bäume. Lasst uns Tiere sein, lasst uns denken und fühlen wie sie. Hören Sie die Luft! Man kann sie hören, fühlen, riechen und schmecken. Woniya wakan, die heilige Luft, die alles mit ihrem Atem erneuert..... Das ist ein guter Anfang, um über die Natur nachzudenken und über sie zu sprechen. Aber lasst uns nicht über sie sprechen – lasst uns zu ihr sprechen, lasst uns zu den Flüssen, den Seen und den Winden sprechen wie zu unseren Verwandten.«245 Im gleichen Sinn sagt Tatanya Mani (Walking Buffalo), Häuptling der Stoney in Kanada: »Wisst ihr, dass die Bäume sprechen? Ja, sie sprechen. Sie sprechen zueinander und sie sprechen zu dir, wenn du zuhörst.... Ich selbst habe viele Dinge von den Bäumen gehört: manchmal über das Wetter, manchmal über Tiere, manchmal über den Großen Geist.«246 Der bereits erwähnte Joseph Brown kommentiert solche Aussa­ gen: »Im Gegensatz zu den begrifflichen Kategorien der westlichen Kultur fragmentieren die indianischen Traditionen die Erfahrung im Allgemeinen nicht in sich gegenseitig ausschließende Dichotomien, sondern betonen eher die Art und Weise, wie sie über die Bedeutungs­ kategorien hinweg miteinander verbunden sind, wobei sie niemals die letztendliche Ganzheit aus den Augen verlieren. Unsere Dichotomie von belebt und unbelebt oder unsere Kategorien von Tier, Pflanze und Mineral zum Beispiel haben keine Bedeutung für den Indianer, der sieht, dass alles, was existiert, belebt ist, jede Form auf ihre eigene Art

authentische Text seiner Rede mit einer Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit, 1984 (2e ed.). Ich schließe mich der Auffassung an, dass die Rede, auch wenn sie mögli­ cherweise (und wahrscheinlich) nicht genau so gehalten wurde, nach Inhalt und Tenor ein wahres Bild der indischen Sichtweise und Einstellung zu den Dingen vermittelt. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass sie im Allgemeinen mit den vielen anderen Aussagen von Indianerhäuptlingen, Medizinmännern und Dichtern übereinstimmt. 245 J. Fire/Lame Deer & Richard Erdoes, Lame Deer, Seeker of Visions. The Life of a Sioux Medicine Man, Simon & Schuster, New York 1972. 246 Zitiert in Recheis/Bydlinski, op. cit. S. I,10.

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und Weise, so dass sogar Felsen ein eigenes Leben haben und man glaubt, dass sie unter bestimmten Bedingungen sprechen können.«247 Aber nicht nur die Kommunikation zwischen den verschiedenen Lebensformen ist möglich, sondern auch die Übertragung und der Austausch von Eigenschaften. Dies gilt, wie das eben angeführte Zitat von Tatanya Mani zeigt, für Tiere, denen in gewisser Hinsicht besondere Einsicht zugeschrieben wird. Sie können daher als Lehrer der Menschen oder als Sprecher in Visionen auftreten. Aber auch Menschen können die Kraft, Beweglichkeit oder Geschwindigkeit von Tieren nachahmen. Es ist daher kein Zufall, dass viele Indianerhäupt­ linge und Medizinmänner Namen tragen, die von Tieren abgeleitet sind: Schwarzer Elch, Sitzender Stier, Verrücktes Pferd, Laufender Büffel, Fliegender Adler, Vier Bären, usw. Bei den Hopi zum Beispiel tragen die Clans, wie bei fast allen Indianerstämmen, die Namen von Tieren: Bär, Spinne, Kojote usw.248 Wenn aber die gesamte Natur als Familien- und Kommunika­ tionsgemeinschaft gesehen und erlebt wird, bedeutet das, dass die Einstellung zu diesen Verwandten, zu allen Lebewesen, eine positive Haltung von Rücksichtnahme und Fürsorge sein muss. Das gilt selbstverständlich in erster Linie für die menschliche Gemeinschaft, insbesondere für den eigenen Stamm. Luther Standing Bear zum Beispiel sagt: »Bei den Lakota hatten alle Menschen, ob stark oder schwach, die gleichen menschlichen Rechte. Jeder war verpflichtet, das Recht des anderen auf Kleidung und Nahrung zu respektieren und darauf zu achten, dass niemand benachteiligt wurde. Das war so selbstverständlich wie der Sonnenschein, die saubere Luft und der Regen, der allen gehörte. Die Natur versorgte uns mit allem, was wir zum Leben brauchten, und sie war unerschöpflich. Dinge zu sammeln und zu horten war sinnlos. Wir verdanken unsere Stärke und Macht allein der Natur, und vor der Ankunft der Weißen wäre kein Lakota auf die Idee gekommen, über andere zu herrschen und dadurch Macht zu erlangen. Keiner war einem anderen untertan, sondern jeder versuchte, sich zu beherr­ schen – Mütter, Väter, Schwestern und Brüder, alle ordneten sich freiwillig dem Wohl der Gemeinschaft unter. Und weil wir dieses Gesetz anerkannt haben, war niemand von uns jemals ohne Hilfe oder Schutz. Aus diesem Grund gab es in der Lakota-Gemeinschaft keine 247 248

Op. cit., p. 71. Brandt, op. cit., p. 18

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Hungernden oder Übersättigten, keine Kriecher oder Hochmütigen, keine Gefängnisse, keine Richter, keine Armenhäuser, keine Bordelle und keine Waisenhäuser.«249

Respekt vor der Natur Wenn aber, wie bereits gesagt, die Blumen, Rentiere, Pferde, Adler usw. unsere Schwestern und Brüder sind, dann gilt diese Fürsorge und Rücksichtnahme nicht nur für unsere Mitmenschen, sondern für alle Wesen. Daher ist ein sparsamer und schonender Umgang mit der Natur für die gesamte indianische Lebensweise charakteristisch. Wenn man denn schon Leben nehmen muss, um zu leben, dann nicht mehr als unbedingt nötig und schon gar nicht, um Handel zu treiben und reich zu werden. Außerdem werden Rituale durchgeführt oder Gebete gesprochen, um sich mit dem Geist der erlegten Tiere oder gefällten Bäume zu versöhnen. Ein Beispiel dafür ist folgendes Gebet der Kwakiutl-Indianer beim Fällen einer jungen Zeder: »Sieh mich an, Freund. Ich bin gekommen, um dich um dein Gewand zu bitten. Du gibst uns alles, was wir brauchen – dein Holz, deine Rinde, deine Äste und die Fasern deiner Wurzeln, weil du dich unserer erbarmst ... Ich bitte dich, mein Freund, sei nicht zornig und sei nicht nachtragend gegenüber dem, was ich dir antun werde.«250 Oder noch treffender ist das Gedicht von Jimalee Burton, einer Frau vom Stamm der Cherokee, die zu einem geschossenen Hirsch spricht: »Es tut mir leid, dass ich dich töten musste, kleiner Bruder. Aber ich brauche dein Fleisch, denn meine Kinder sind hungrig. Verzeih mir, kleiner Bruder. Ich möchte deinen Mut, deine Stärke und deine Schönheit ehren – schau! Ich hänge dein Geweih an diesen Baum. Jedes Mal, wenn ich vorbeikomme, werde ich an dich denken und deinen Geist ehren. Es tut mir leid, dass ich dich töten musste; vergib mir, kleiner Bruder. Schau, zu deiner Erinnerung rauche ich die Pfeife, brenne diesen Tabak.«251 Es gibt einen weiteren Grund für diese Zurückhaltung im Umgang mit den Mitgeschöpfen. Alles ist, wie bereits erwähnt, Luther Standing Bear, Land of the Spotted Eagle, University of Nebraska Press, Temple City 1933 (reprint 2006). 250 Zitiert in Recheis/Bydlinski. Op. cit., S. I,12. 251 Ebd., S. I,14. 249

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auf seine Weise eine Manifestation des großen Mysteriösen, das dem gesamten Kosmos »innewohnt«. Auf diese Weise hat alles eine sakrale Dimension, ist »heilig«. So sagt Häuptling Seattle in der oben erwähnten Rede: »Jedes Stück dieses Landes ist meinem Volk heilig. Jede Fichte, die in der Sonne glänzt, jeder Sandstrand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jeder offene Platz, jede summende Biene ist in den Gedanken und Erinnerungen meines Volkes heilig.«252 Was »heilig« ist, ruft Ehrfurcht hervor, besitzt eine Form von Unantastbarkeit. Aufgrund dieser Eigenschaft der Heiligkeit muss alles mit Ehrfurcht und Respekt behandelt werden, selbst jede Fichte und jede summende Biene. Und das gilt besonders für die Erde, die als Mutter erlebt wird, die alles hervorbringt und erhält. Die Erde ist also kein beliebiges Stück Land, zu dem man nur eine äußere Beziehung hat, das man also ausbeuten und möglicherweise verkaufen kann. Dies sei die Haltung des weißen Mannes, sagt Seattle: »Für ihn ist ein Stück Land gleichwertig mit einem anderen. Er ist ein Fremder, der in der Nacht kommt und sich vom Land nimmt, was er braucht«253, und so zieht er wieder weiter. Wie anders ist das Loblied der Blackfeet-Indianer: »Die Erde liebt uns, sie freut sich, wenn sie uns singen hört! Sie versorgt uns mit Nahrung.«254 Ganz ähnlich drückten es die westkanadischen Tahltan aus: »Die Erde lebt und ist wie unsere Mutter. Denn wenn es die Erde nicht gäbe, gäbe es auch keine Menschen. Die Menschen sind ihre Kinder, und die Tiere sind es auch. Sie kümmert sich um sie und versorgt sie mit Nahrung. Die Steine sind ihre Knochen und das Wasser ihre Milch... Die Tiere sind den Menschen gleich, sie sind von gleichem Blut, sie sind verwandt.«255 Es handelt sich hier also nicht um eine äußere Beziehung, son­ dern um eine sehr persönliche, die Respekt beinhaltet und jede Form von Ausbeutung oder Ausplünderung ausschließt. Die Unantastbar­ keit der Erde drückte Häuptling Smohalla vom Stamm der Wanapum in Nordkolumbien gegenüber einem Vertreter der US-Regierung mit folgenden Worten aus: »Sie fordern mich auf, den Boden zu pflügen. Soll ich ein Messer nehmen, um die Brust meiner Mutter zu verwunden... Du forderst mich auf, nach Steinen zu graben. Soll ich ihr 252 253 254 255

Op. cit., S. 6. Ebd., S. 12. Zitiert in Müller, Indianische Welterfahrung, S. 42. Ebd.

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unter die Haut gehen und in ihren Knochen wühlen? Ihr fordert mich auf, Gras zu mähen, Heu zu machen und es zu verkaufen, um reich zu werden wie die Weißen. Aber wie kann ich es wagen, meiner Mutter die Haare abzuschneiden?«256 Ist es da verwunderlich, dass angesichts der gigantischen Umweltzerstörung durch die westliche prometheische Lebensweise (auf die die Indianer nur mit Entsetzen blicken konnten) die indiani­ sche Denkweise und Lebenseinstellung von Vertretern der westlichen Umweltbewegung als weise bezeichnet wurde? Es bedurfte jedoch nicht unbedingt eines Umweltproblems, um die Westler von der »Weisheit« des indianischen Denkens zu überzeugen. Ein interes­ santes Beispiel ist das des exzentrischen deutschen Dichters Stefan George (1868–1933), der einmal, als das Gespräch auf den Autor von Also sprach Zarathustra kam, verlauten ließ: »Nietzsche kannte die Philosophen, aber ich kenne die Indianer«. George gehört zum Kreis der Symbolisten, die den Realismus und Naturalismus der bürgerli­ chen Kultur ablehnen und sich gegen die Verwissenschaftlichung des Denkens und die Technisierung der Gesellschaft, kurz gesagt, gegen die Entzauberung der modernen Existenz wenden. Demgegenüber machen sie auf die geheimnisvolle Tiefendimension der Wirklichkeit aufmerksam, die sich unserem Zugriff entzieht und der wir uns nur durch Symbole und mehrdeutige Metaphern nähern können. Nun, anscheinend ist Nietzsche für George (nicht ganz zu Unrecht) die Verkörperung des westlichen himmelstürmerischen Strebens, den Dingen durch unsere Konstruktionen unseren Willen aufzuzwingen und alle Ordnung als von uns begründet zu betrachten. Im Gegensatz dazu stehe das indianische Denken, das die Wirklich­ keit als vielgestaltige Erscheinung einer heiligen kosmischen Ord­ nung erlebt, die nicht vom Menschen geschaffen wurde, sondern in die sich der Mensch einfügen müsse. Wieder Seattle: »Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewebt. Er ist nur ein Faden davon.«

256 James Mooney, »Die Gost-Tanz-Religion. Jahresbericht des Bureau of American Ethnology 1892­1993.« Washington 1896, 721, zitiert in Müller, op. cit., S. 48. Smo­ halla (ca. 1815­1895) war eine der treibenden Kräfte hinter der Bewegung zur Wie­ derbelebung der Kultur und Lebensweise der amerikanischen Ureinwohner.

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Deshalb: »Die Erde gehört nicht dem Menschen. Der Mensch gehört der Erde«.257

Sich an der kosmischen Ordnung orientieren In der Tat richtet sich der Indianer während seiner gesamten Existenz an der Ordnung des Kosmos aus. Oft, bei den Zuni, den Pueblo, den Delaware und anderen Stämmen wird die Welt als ein großes Haus oder Zelt betrachtet, dessen Dach von einer zentralen vertikalen Achse, der Weltsäule, getragen wird. Die Rituale werden dann in einem großen, von Menschen errichteten Zelt durchgeführt, das von einer zentralen Stange getragen wird. Dies soll darauf hinweisen, dass das, was auf der menschlichen Ebene, im Mikrokosmos, geschieht, ein Spiegelbild des kosmischen Geschehens oder des Makrokosmos ist. Jeder Wigwam oder jedes Tipi hat diese Form, so wie die gesamte Siedlung in ihrer Ordnung an den Himmelsgegenden ausgerichtet ist. Auf allen Ebenen ist die Ordnung des menschlichen Lebens also eine Nachahmung einer übergreifenden kosmischen Ordnung. Kurz gesagt, die richtige Einstellung ist die der Integration in die großen Rhythmen der Realität. Denn auch hier gilt: Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewebt, sondern ist nur ein Faden in ihm. Seine Existenz wird also durch das Ganze bestimmt, von dem er ein Teil ist. Die Ordnung der Wirklichkeit ist außerdem durch eine Harmo­ nie, ein Gleichgewicht oder eine Ausgewogenheit polarer Aspekte wie Gut und Böse, Positiv und Negativ, männlich und weiblich, Mensch und Universum gekennzeichnet. Wenn Menschen dieses Gleichgewicht in ihrem Leben aufrechterhalten, gedeihen sie. Ist das Gleichgewicht jedoch gestört, kommt es zu einer Katastrophe, wie z.B. einer Krankheit, die ein Zustand der Disharmonie mit dem Universum ist. Deshalb ist die indianische Lebensweise, wenn sie ihrer Idee ent­ spricht, durch Ausgeglichenheit, Gelassenheit und Frieden gekenn­ zeichnet. Sie ist das Gegenteil von moderner Hast und Hektik, d. h. sie geht nicht immer weiter, wie Häuptling Seattle über den modernen Menschen sagt, sondern versteht die Kunst, bei den Dingen zu verwei­ len. So kann Lame Deer, um auf ein früheres Zitat zurückzukommen, dazu einladen, sich in der offenen Prärie zu setzen, alle Sinne zu öffnen 257

Op. cit., S. 20.

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und alles um uns herum auf uns wirken zu lassen, zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Kurz gesagt, diese ganze Geisteshaltung strahlt ein hohes Maß an Gelassenheit aus, d. h. dass sie stark auf Widerfahren ausgerichtet ist und nicht auf Eingreifen und Sich-die-Dinge-gefügig-Machen. Dies spiegelt sich in der Sprache wider, gemäß der bekannten These von Sapir und Whorf, dass die Sprache keineswegs ein neutrales Kommunikationsmittel ist, sondern vielmehr eine Weltanschauung und Lebenseinstellung impliziert, mit der alle Neuankömmlinge in der Gemeinschaft imprägniert werden. Der schwedische Linguist Nils Holmer258 hat zwei Arten von Sprachen unterschieden, pathozentri­ sche und ergozentrische, d. h. Sprachen, die eine passive, rezeptive Haltung, und solche, die eine aktive Haltung widerspiegeln. Sie wer­ den auch als ›Sprachen des Erleidens‹ und ›des Handelns‹ bezeichnet. Der Anthropologe Boas hatte bereits zwischen Verben, die Zustände ausdrücken, und solchen, die Handlungsweisen ausdrücken, unter­ schieden. Während im letzteren Fall z. B. gesagt wird: »Ich binde« oder »Ich rufe«, heißt es im ersteren Fall: »Ich befinde mich in einer bindenden Situation in Bezug auf mich«. Es handelt sich also um einen Zustand, während der Aspekt der Handlung und des Handelns nicht hervorgehoben wird. Nun, die indianischen Sprachen gehören überwiegend zum pathozentrischen Typ. Werner Müller sagt über dieses indianische Idiom: »it avoids whenever possible the active form of ›I‹, and retreats to a view in which all actions and events are understood as happening to oneself (as a Widerfahrnis).«259 Dies steht, wie man sieht, in scharfem Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen, die zum ergozentrischen Typ gehören. Um noch einmal Müller zu zitieren: »This ›passive‹ (duldende), receiving, and feminine struc­ ture indicates an attitude which is miles apart from an active will. The ›I‹ imposes itself on the world, the ›me‹ adapts itself tot the world; the ›I‹ wants to act, the ›me‹ wants to absorb, the ›I‹ wants to change, the ›me‹ wants to preserve.« Kurz gesagt, »the obsession to

Nils Holmer, ›Amerindische Strukturtypen‹, Sprakliga Bidrag, 2 (1956), 1-29. Werner Müller, »The ›Passivity‹ of Language and the Experience of Nature. A Study in the Structure of the Primitive Mind«, in: J.M. Kitagava & Ch.H. Long (eds.), Myths and Symbols. Studies in Honor of Mircea Eliade, Univ. Of Chicago Press, Chicago 1969, pp. 227ff, here p. 246. 258

259

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conquer, rule, and subdue the world is completely absent from him [viz. the Indian, vdW]«.260

Das Leben als Meditation Die indianische Welterfahrung ist auf diese Weise eine des Seins bei und mit den Dingen, die, wie erwähnt, alle als eine Manifestation des Großen Mysteriösen gesehen und angesprochen werden. Diese ganze Geisteshaltung kann daher als eine Form von ›Weltfrömmigkeit‹ charakterisiert werden. Wie bereits erwähnt, kann die indianische Sicht der Dinge als durch und durch religiös bezeichnet werden, so dass Religion nicht als separates Phänomen erlebt wird. Alle »Hand­ lungen« (wegen der pathozentrischen Natur der indischen Sprache, wie oben beschrieben, jetzt in Anführungszeichen gesetzt) haben also eine religiöse Note. Ob es sich um die Jagd oder das Flechten von Körben, das Weben von Decken und Kleidern, das Schneiden von Gebrauchsgegenständen oder was auch immer handelt, sie alle sind »sakrifizielle« Handlungen, die auf ihre Weise den schöpferischen Ordnungsprozess der Welt übernehmen und daran teilnehmen. Alle diese Handlungen sind daher von Ritualen umgeben, mit Fasten, Zaubersprüchen, Gebeten und dergleichen. Mit anderen Worten, sie erfordern eine »kontemplative« Haltung bzw. sind eine Form von Meditation. Von einer Kunst als eigenständigem Kulturbereich kann also keine Rede sein, ebenso wenig wie von einer derartigen Religion. Mit anderen Worten: Alles hat einen »künstlerischen« Aspekt. Aus diesem Grund und in Verbindung mit der bereits erwähn­ ten Eigenschaft, dass bei den Indianern, um einen Ausdruck von Ton Lemaire zu verwenden, das Leben »mit offenen Sinnen« eine herausragende Rolle spielt, ist der Sinn für Schönheit bei ihnen hoch entwickelt. Die Schlussworte eines zeremoniellen Navajo-Nachtge­ sangs sind vielsagend: »Schönheit sei vor mir. Schönheit sei hinter mir. Schönheit sei unter mir. Schönheit sei über mir.

260

Ebd., S. 231.

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Schönheit sei um mich. In Schönheit ist alles vollendet.«261

Die letzte Zeile: »In Schönheit ist alles vollendet« ist die Formel für den Abschluss eines Gebetes, ähnlich wie das ›Amen‹ in der christlichen Tradition. Und dem folgenden Gedicht des Dakota John Laughing Wolf aus dem Jahr 1975, das Ausdruck des neu erwachten indianischen Selbstbewusstseins ist, braucht nichts mehr hinzugefügt werden: »Die Erde ist schön. Der Himmel ist schön. Mein Volk ist schön, Mein Herz ist voller Freude. Wofür es sich lohnt zu leben, Dafür lohnt es sich auch zu sterben. Hokahey!« (Letzteres ist der Kriegsschrei der Dakota, der hier in einem spirituell-übertragenen Sinn verwendet wird).262

Kurz gesagt, Schönheit ist ein zentraler Begriff in der indianischen Lebensauffassung, der in direktem Zusammenhang mit der wichtigen Rolle steht, die Harmonie, Gleichgewicht und beispielsweise perfekte Symbole wie der Kreis oder der Ring in ihrer Sicht der Realität spielen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ihre Welt sehr poetisch ist und ihr Sprachgebrauch einen ausgeprägten blumigen, poetischen Charakter hat, insbesondere wenn es um religiös-zeremonielle Ange­ legenheiten geht. Aber, wie bereits erwähnt, hat nicht alles in ihrer Welt eine religiöse und künstlerische Dimension? »Mein Herz ist voller Freude«, hieß es soeben. Die Indianer sagen oft, dass ihre Welt und ihre Lebensweise die Menschen mit Freude erfüllt. Auch das entspricht ganz der Haltung, offen zu sein für die Wirklichkeit in ihrer unerschöpflichen Vielfalt von Seinsformen und Qualitäten, die in dieser Kultur tiefe Freude bereitet.

261 262

Zitiert in Recheis/Bydlinski, op. cit. S. I, 61. Ebd., I, 52.

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Abschluß Das Thema dieses Aufsatzes ist die indianische Weisheit. Um einen Einblick in diese zu bekommen, in ihr Wesen und ihren ›Sitz im Leben‹, war es notwendig, ihre Sicht der Dinge und ihre Lebensein­ stellung zu skizzieren. In dieser Tradition bedeutet Weisheit, wie überall, von einer zugrunde liegenden Konzeption zu leben, die dem Dasein Kohärenz und dauerhafte Orientierung bietet. Diese Vorstellung wird hier noch durch das Bewusstsein gefärbt, ständig von einer Fülle von Seinsformen umgeben zu sein, die Manifestationen einer geheimnisvollen göttlichen Macht sind und daher mit Sorgfalt und Respekt behandelt werden müssen. Dies wird begleitet von einer Haltung der Gelassenheit, des Friedens, der Demut, der Freundlich­ keit und der Großzügigkeit. Weisheit ist hier weiter eine Haltung der Ausrichtung auf den kosmischen Kontext und seine Ordnung – man kommt nicht umhin, gewisse Parallelen zu Bewegungen wie dem chinesischen Taoismus oder der antiken Stoa zu sehen. Und so wie der Makrokosmos durch ein harmonisches Verhältnis zwischen den verschiedenen polaren Elementen gekennzeichnet ist, so ist es ein Merkmal der Weisheit auf der menschlichen Ebene, sowohl in der Gemeinschaft als auch im Individuum, ein solches Gleichgewicht zu verwirklichen und zu erhalten. Selbstverständlich ist das oben Gesagte ein idealisiertes Bild dessen, was Weisheit im indianischen Kontext bedeutet. Aber wie könnte es auch anders sein, denn Weisheit ist ein Ideal des Menschen, dem man sich nur in der Praxis annähern kann – von Seiten der stoischen Philosophen wurde manchmal der Verdacht geäußert, dass es vielleicht nie einen wahren Weisen gegeben hat. Auch bei den Indianern entsprach die Praxis nicht immer ihrer Idealvorstellung. Es gibt Beispiele für die Jagd auf Büffel oder Biber, die nicht mit dem skizzierten Respekt vor Mitgeschöpfen übereinstimmen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Indianer also nicht von anderen Gemeinschaften, die fast alle ihre Weltanschauung und einen entspre­ chenden Verhaltenskodex haben, in der Praxis aber manchmal (oder sogar oft) davon abweichen. Die ideale Geschichte behält jedoch ihre Gültigkeit, in der Regel sogar für die Übeltäter. Joseph Brown sagte, dass er, noch mehr als was Black Elk sagte, davon beeindruckt war, wer er in seiner Authentizität war. Die gesamte indianische Geistes- und Lebenswelt beeindruckt darüber hinaus als eine reich stilisierte Form des Menschseins, als ein Mus­

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terbeispiel für »Weisheit«. Und wenn Philosophie der Versuch der Selbsterkenntnis ist, dann bietet die indianische Lebens-, Erfahrungsund Denkweise eine hervorragende Gelegenheit, uns selbst aus dem immensen Kontrast in diesem Spiegel zu betrachten und über den Sinn und vielleicht vor allem den Unsinn unserer Denk- und Lebens­ weise nachzudenken.

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