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German Pages [375] Year 2017
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PHILOSOPHIE DER TIERFORSCHUNG
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Die Tierphilosophie ist eines der lebendigsten Felder der Gegenwartsphilosophie. In ihrem Mittelpunkt standen bislang Fragen nach dem Geist der Tiere, der Tier-Mensch-Unterschied oder Probleme der Tierethik. Die auf drei Bände angelegte »Philosophie der Tierforschung« wirft einen neuen Blick auf dieses Gebiet mit dem Ziel einer strukturierten Untersuchung der Tier-Mensch-Verhältnisse in den methodischen Zugängen der Tierforschung. Der erste Band »Methoden und Programme« stellt die Geschichte und Systematik der biologischen Tierforschung, insbesondere der Verhaltensforschung, in den Mittelpunkt. Die philosophische Analyse der verschiedenen Forschungsansätze folgt dem Gedanken des Milieus und berücksichtigt so die mannigfaltigen Faktoren der jeweiligen Forschungsumwelten. Dazu dient ein theoretischer Rahmen, dessen Schlüsselkonzept der Begriff der methodologischen Signatur von Forschungsprogrammen ist. Diese umfasst eine Reihe von Kenngrößen, die solche Programme identifizieren und sie mit anderen Ansätzen vergleichbar machen. Dazu gehören an zentraler Stelle die bevorzugten Referenztiere und deren primär untersuchte Vermögen, aber auch kategoriale Vorentscheidungen (etwa bezüglich der Konzeption des Tierlichen oder der Mensch-Tier-Beziehung) sowie die verwendeten Forschungsmethoden, die gewählten Forschungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen oder die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen.
Die Herausgeber: Martin Böhnert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Theoretische Philosophie der Universität Kassel; Kristian Köchy ist Leiter dieses Fachgebiets; Matthias Wunsch führt dort angegliedert sein eigenes DFG-Projekt »Personale Lebensform und objektiver Geist« durch. Alle drei Herausgeber sind Mitglieder des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären LOEWE Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel.
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Martin Böhnert / Kristian Köchy / Matthias Wunsch (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 1
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Der Band ist im Zusammenhang mit den Forschungen des LOEWESchwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« an der Universität Kassel entstanden. Die Drucklegung wurde durch Mittel der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie der Universität Kassel unterstützt.
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Martin Böhnert / Kristian Köchy / Matthias Wunsch (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 1:
Methoden und Programme
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Einbandgestaltung: Martin Böhnert Satz: Frank Hermenau, Kassel Herstellung: CPI books Gmbh, Leck Printed in Germany
ISBN: 978-3-495-48741-9 E-ISBN: 978-3-495-81131-3
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Inhalt
Kristian Köchy, Matthias Wunsch, Martin Böhnert Einleitung: Philosophie der Tierforschung. Die methodologische Signatur von Forschungsprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Eve-Marie Engels Tierforschung, Anthropologie und Ethik im Horizont von Darwins Abstammungstheorie. Darwins wissenschaftliche und philosophische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Kristian Köchy ‚Scientist in Action‘: Jean-Henri Fabres Insektenforschung zwischen Feld und Labor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Martin Böhnert und Christopher Hilbert C. Llyod Morgan’s Canon. Über den Gründervater der komparativen Psychologie und den Stellenwert epistemischer Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Heiner Fangerau Tierforschung unter mechanistischen Vorzeichen. Jacques Loeb, Tropismen und das Vordenken des Behaviorismus . . . . . . 183 Carlo Brentari Jakob von Uexkülls Theorie der tierlichen Handlung zwischen Neovitalismus und Vergleichender Verhaltensforschung . . . . . 209 Gerald Hartung und Matthias Wunsch Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie. Wolfgang Köhlers Experimente zum Verhalten von Schimpansen . . . . . . 241 Matthias Wunsch Instinktverhalten bei Tieren. Die Debatte zwischen Konrad Lorenz und Daniel Lehrman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Inhalt
Randolf Menzel Von der reduktionistischen zur kognitiven Verhaltensbiologie. Wie Verhaltensbiologen über Kognition bei Tieren streiten – Forschungen über die Navigation bei Insekten . . . . . . . . . . . . . . 341 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
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Kristian Köchy, Matthias Wunsch, Martin Böhnert
Einleitung: Philosophie der Tierforschung. Die methodologische Signatur von Forschungsprogrammen
In den letzten Jahren hat die philosophische Auseinandersetzung mit Tieren – das, was inzwischen unter dem Namen „Tierphilosophie“1 rangiert – wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Neben dem Problem des Tier-Mensch-Unterschiedes stehen dabei unter theoretischen Vorzeichen die Frage nach dem Geist der Tiere und unter praktischen Vorzeichen die Themenfelder der Tierethik im Fokus.2 Unter Beteiligung der Philosophie hat parallel dazu eine rege Diskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt eingesetzt, die unter dem Titel „Human-Animal Studies“ ein interdisziplinäres Profil gewonnen hat. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf die historische, kulturelle und soziale Bedeutung von Tieren sowie auf die gesellschaftliche Dimension von MenschTier-Verhältnissen.3 Mit dem auf drei Bände angelegten Projekt 1 2
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M. Wild, Tierphilosophie zur Einführung, 3. korrigierte Aufl., Hamburg 2013. Einen Überblick über die Debatten bieten: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt a. M. 2005; S. Hurley, M. Nudds (Hrsg.), Rational Animals?, Oxford 2006; H. W. In gensiep, H. Baranzke, Das Tier, Stuttgart 2008; U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tier ethik, Stuttgart 2008; R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009; H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich. Diszipli nenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tier schutz, Göttingen 2012; K. P. Liessmann (Hrsg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur, Wien 2013; K.-P. Rippe, U. Thurnherr (Hrsg.), Tierisch menschlich: Beiträge zur Tierphilosophie und Tierethik, Erlangen 2013; F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin 2014. Vgl. die Bibliographie auf (http://www.animalstudies.msu.edu/bibliography. php), zuletzt abgerufen am 08.01.2016; ebenso das Archiv auf (http://www. animalsandsociety.org/human-animal-studies/society-and-animals-journal/ society-animals-archive/), zuletzt abgerufen am 08.01.2016; vgl. auch J. A. Serpell, In the Company of Animals. A Study of Human-Animal Relationships (1986), New York 2008; C. P. Flynn (Hrsg.), Social Creatures. A Human and Animal Studies Reader, New York 2008; M. DeMello (Hrsg.), Teaching the Animal. Human-animal Studies across the Disciplines, New York 2010; Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.), Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011;
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einer Philosophie der Tierforschung werden die bislang geführten Diskurse durch eine stärkere Berücksichtigung des gesamten Kontextes der naturwissenschaftlichen Tierforschung ergänzt. Zu diesem Kontext gehören die Handlungslogiken, die Denkstile und die Sprachspiele der Forschungskollektive, ebenso die philosophischen bzw. ethischen Hintergrundannahmen und Implikationen, maßgeblich aber auch die jeweils ausgewählten Modelltiere. Im Einzelnen geht es in dem Projekt, dessen erster Band hier vorliegt, um Methoden und Theorieprogramme der Tierforschung (Bd. 1), um deren praktische Maximen und kulturelle Konsequenzen (Bd. 2) sowie um die Milieus der Tierforschung und die Rollen der Tiere und Forschenden in ihnen (Bd. 3). Der vorliegende erste Band widmet sich der Geschichte und Systematik der biowissenschaftlichen Tierforschung und insbesondere der Verhaltensforschung. Der Fluchtpunkt dieses Vorhabens besteht darin, die theoretische Richtung der Tierphilosophie durch eine historisch-systematische Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung zu erweitern. Die hier versammelten Beiträge liefern Grundlagen und Beispiele für eine solche Wissenschaftsphilosophie. Dabei stellen sie die relationalen Aspekte der Tierforschung und insbesondere die entsprechenden Mensch-Tier-Beziehungen in den Mittelpunkt. Formuliert man das Anliegen vor dem Hintergrund des theoretischen Zweigs der bisherigen Tierphilosophie, so geht es um mehr als die bisher im Vordergrund stehende möglichst präzise Bestimmung grundlegender Konzepte des Mentalen („Bewusstsein“, „Intentionalität“, „Denken“) sowie deren Anwendbarkeit auf Tiere. Denn Überlegungen zur Wesensstruktur und Erkennbarkeit von animal minds präsupponieren bereits ein, wenn auch nicht unbedingt reflektiertes Verständnis von theoretischen und praktischen Zugängen zu Tieren oder Menschen. Neben der philosophisch zweifellos wichtigen Bemühung, begrifflich eindeutig zu bestimmen, wie die mentale Dimension der Bezugsobjekte dieser Zugänge beschaffen ist, müssen diese Zugänge selbst und die Kontexte der damit ver-
C. Freeman, E. Leane, Y. Watt, Considering Animals. Contemporary Studies in Human-Animal Relations, Farnham 2011; L. Birke, J. Hockenhull (Hrsg.), Crossing Boundaries: Investigating Human-Animal Relationships, Boston, Lei den 2012; N. Taylor, Humans, Animals, and Society. An Introduction to HumanAnimal Studies, New York 2013; A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen, Bielefeld 2015; R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kultur wissenschaftliches Handbuch, Stuttgart, Weimar 2015.
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Einleitung: Philosophie der Tierforschung
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bundenen Relationen zwischen Menschen und Tieren eine angemessene philosophische Berücksichtigung finden. Wo Überlegungen zum Geist der Tiere auf verlässliche und überprüfbare Resultate abzielen, ist man insbesondere auf wissenschaftliche und näherhin experimentelle Zugänge angewiesen. Bereits Gaston Bachelard hat festgestellt, dass die (ontologische) Bestimmung einer Entität in den experimentierenden Wissenschaften maßgeblich von den dort verwendeten Verfahren abhängt. Der operative Zugang wird so zum Teil der Definition einer Entität.4 Allerdings darf diese Einsicht nicht konstruktivistisch überdehnt werden. In diesem Sinn hat Maurice Merleau-Ponty einschränkend geltend gemacht, dass uns gerade der Operationalismus als praktische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit immer auch auf die präoperativen, den Gegenstandsbereich selbst auszeichnenden Merkmale verweist.5 Dies gilt umso stärker dort, wo die betreffenden Dinge und Prozesse diejenige Eigenständigkeit und Eigendynamik aufweisen, die Lebendiges als solches auszeichnet. Insofern lässt sich ein angemessenes Verständnis der Tiere im Horizont der naturwissenschaftlichen Tierforschung nur da gewinnen, wo der gesamte Forschungskontext einbezogen wird, also sowohl die Forschungsverfahren, Forschungsorte (Labor/Feld), Forschungsideale (Denkstile, philosophische Leitbilder, epistemische Tugenden) als auch die jeweils an dieser Forschung beteiligten Tiere und Menschen. Dieses Verständnis der Tierforschung erschöpft sich nicht in der Kenntnis ihrer Resultate, sondern erfordert die Einsicht in die Methodenrelativität ihrer Tiervorstellungen und der damit verkoppelten Menschenbilder, letztlich auch die Tierrelativität bestimmter Methodenprogramme. Das gilt für die aktuelle ebenso wie für die historische Tierforschung. Ein Durchgang durch die verschiedenen Forschungsansätze der biowissenschaftlichen Tierforschung,6 wie er hier vorgelegt wird, kann den Blick dafür freigeben. Obwohl die Zusammenstellung der Aufsätze an zentralen Forscherpersönlichkeiten orientiert ist, geht es nicht darum, eine weitere Geschichte ‚großer Wissenschaftler‘ zu erzählen. Vielmehr geht es im kontex4 5 6
G. Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist (1934), Frankfurt a. M. 1988, S. 48: „Das Experiment ist also Bestandteil der Definition einer Entität.“ M. Merleau-Ponty, Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000, S. 277 f. Vgl. auch R. A. Stamm (Hrsg.), Tierpsychologie. Die biologische Erforschung tierischen und menschlichen Verhaltens. Kindlers ‚Psychologie des 20. Jahrhun derts‘, Weinheim, Basel 1984.
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tualistischen Sinn jeweils um ganze Forschungsprogramme. Dabei sind insbesondere die jeweiligen ‚Umwelten‘ dieser Protagonisten, von den wissenschaftlichen und philosophischen Hintergrundannahmen, den von ihnen zur Klärung bestimmter Fragen eingesetzten Methoden bis hin zu den für die jeweilige Untersuchung ausgewählten Modellorganismen, deren Vermögen und Fähigkeiten zu berücksichtigen. Der Bezug auf den Gedanken der Umwelt7 oder des Milieus8 bedeutet für das vorliegende Projekt mehrerlei: Zunächst ist damit hinsichtlich der thematisierten Tiere zum Ausdruck gebracht, dass nicht die Binnenperspektive organismischer Beschaffenheit im Vordergrund der vorliegenden Betrachtung steht, sondern die Aktionen und Interaktionen der Tiere in und mit den sie umgebenden natürlichen oder künstlichen Situationen. Es geht deshalb nicht primär um die anatomische Struktur von oder die physiologischen Funktionsabläufe in Tieren, sondern um deren Verhalten. Damit ist nicht nur die Perspektive auf das „ganze“ Tier, sondern zugleich eine überorganismische und überindividuelle Perspektive eingenommen. Nicht mehr das einzelne Tier, sondern Das Tier als soziales Wesen kommt in den Blick.9 Nicht mehr der Organismus wird betrachtet, sondern Organismus-Umwelt-Beziehungen.10 Durch diesen Kontext rückt nicht zuletzt der für philosophische Re7 Vgl. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. vermehrte und verbesserte Aufl., Berlin 1921; vgl. dazu auch M. Merleau-Ponty, Die Natur, S. 232 ff.; vgl. auch zum philosophischen Rahmen B. Buchanan, Onto-Ethologies. The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty and Deleuze, New York 2008. 8 Vgl. G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“ (1946/47), in: G. Can guilhem, Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 233-279; vgl. auch G. Gan dolfo, „Le concept de milieu dans les sciences du vivant“, in: Noesis, 14/2008, S. 237-247. 9 So der Buchtitel von A. Portmann, Das Tier als soziales Wesen, Zürich 1953; vgl. auch K. Lorenz, „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen“ (1935), in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, 2 Bde. in einem Bd., Frankfurt a. M., Wien, Zürich 1967, S. 95-228; N. Tinbergen, Tiere untereinander, Berlin, Hamburg 1955. 10 Vgl. N. Tinbergen, Das Tier in seiner Welt, 2 Bde., München 1978. Vgl. mit Be zug auf Uexküll das Buch von R. Langthaler, Organismus und Umwelt. Die bio logische Umweltlehre im Spiegel traditioneller Naturphilosophie, Hildesheim, Zürich, New York 1992; zur Vorgeschichte dieser Reflexion vgl. T. Cheung, Or ganismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten (1780–1860), Bielefeld 2014.
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flexionen zentrale Ansatz von Jakob von Uexküll in den Fokus. Nach anfänglicher starker Orientierung an objektivistischen Idealen hatte sich gerade Uexküll in seinen späteren (auch philosophischen) Arbeiten für den Subjektstatus von Tieren stark gemacht.11 Mit dem Umweltgedanken ist philosophisch darüber hinaus auch der bereits von Helmuth Plessner und Frederik J. J. Buytendijk in die Debatte eingebrachte Gedanke einer Umweltintentionalität verbunden, einer gerichteten, sinnvollen Beziehung von Lebewesen auf ihre Umgebung, die Tiere und Menschen miteinander teilen und die einem möglichen epistemischen Zugang auf die Innenwelt der Tiere den Weg ebnen könnte.12 Der Umweltgedanke integriert somit im Fall der biologischen Tierforschung auch die Beziehung zwischen Forschenden und den Tieren als deren Forschungsgegenständen in die Reflexion. Von Seiten der Tiere aus betrachtet, kommt damit jenseits natürlicher Umweltbeziehungen eine invasive, den künstlichen Zielen naturwissenschaftlicher Untersuchung gehorchende, Konfrontation mit menschlichen Interessen in den Blick, deren Einfluss die Tiere erleiden, passiv hinnehmen oder aktiv beantworten können – wieder stehen ‚Zulassen‘ oder ‚Verweigern‘ für verschiedene Aktionsformen der Tiere. Von Seiten der Menschen aus betrachtet,13 wird – so zeigen es nicht nur die Überlegungen dieses Bandes, sondern auch die der Folgebände – in vielen Hinsichten deutlich, dass das Gegenüber eben nicht in allen Hinsichten ein passives Material der Forschung im Sinne eines Forschungsgegenstandes ist oder sein darf, sondern eben als Lebewesen mit eigenen ‚Interessen‘ Berücksichtigung finden muss.
11 Vgl. etwa J. v. Uexküll, „Die Rolle des Subjekts in der Biologie“ (1931), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, hrsg. von T. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 343-356; J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer subjektbezo genen Nomenklatur in der Biologie“ (1935), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, S. 129-142. Zu Uexküll vgl. den Beitrag von Brentari in diesem Band. 12 H. Plessner (und F. J. J. Buytendijk), „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, Bd. 7, S. 71-129. Zu der Bezugnahme von Plessner auf Uexküll vgl. K. Köchy, „Helmuth Pless ners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners Stufen des Organischen im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 25-64. 13 Vgl. schon die Beiträge in H. Friederich (Hrsg.), Mensch und Tier. Ausdrucks formen des Lebendigen, München 1968.
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Der Umweltgedanke bedeutet schließlich für die Metaperspek tive einer philosophischen Analyse, dass die mannigfaltigen Faktoren des Forschungsumfeldes der Tierforschung in ihrem jeweiligen Kontext14 gewürdigt werden müssen. Es sind die Geschichten nicht nur der Forschenden, sondern auch diejenigen ‚ihrer‘ Forschungs tiere zu schreiben. Es sind die Momente nicht nur der Forschungsmethoden, sondern auch deren Interaktionen mit den zu untersuchenden Eigenschaften und Fähigkeiten der Tiere zu erfassen. Es sind nicht nur einzelne Untersuchungsverfahren, sondern ganze Räume der Forschung zu untersuchen. Für die strukturierte Untersuchung der Tier-Mensch-Verhältnisse mit Fokus auf die methodischen Zugänge der Tierforschung scheint den Herausgebern dieses Bandes – und dabei beziehen sie sich auch auf die Überlegungen weiterer Mitglieder ihrer Arbeitsgruppe15 wie Christopher Hilbert, Robert Meunier oder Francesca Michelini – deshalb ein theoretischer Rahmen sinnvoll, dessen Schlüsselkonzept durch den Begriff der methodologischen Signa tur von Forschungsprogrammen bestimmt ist.16 Die methodologische Signatur eines Ansatzes der Tierforschung umfasst eine Reihe von Kenngrößen, die ihn identifizieren und mit anderen Ansätzen vergleichbar machen. In diese Reihe gehören die bevorzugten Referenztiere, deren primär untersuchte Leistungen, kategoriale Vorentscheidungen (etwa bezüglich der Konzeption des Tierlichen oder der Mensch-Tier-Beziehung), die verwendeten Forschungsmethoden, die gewählten Forschungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen und die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen. Die in diesem Band enthaltenen Beiträge von Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe (Böhnert, Hilbert, Köchy und Wunsch) suchen diesen Gedanken direkt in Forschungsfragen umzusetzen und seine Fruchtbarkeit anhand von ausgewählten historischen Fallbeispielen 14 Vgl. zum kontextualistischen Ansatz in Biophilosophie und Bioethik u. a. K. Köchy, Biophilosophie zur Einführung, Hamburg 2008; K. Köchy, „Kontextua listische Bioethik. Zur Rolle biowissenschaftlicher Fakten bei bioethischen Fra gen“, in: M. Zichy, H. Grimm (Hrsg.), Praxis in der Ethik, Berlin, New York 2008, S. 153-184. 15 Vgl. (http://www.integrative-biophilosophie.de), zuletzt abgerufen am 08.01.2016. 16 Vgl. dazu auch K. Köchy, M. Wunsch, „Zu methodischen Aspekten der Philoso phie der Tierforschung anhand von Jean-Henri Fabre und Henri Bergson“, in: Forschungsschwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft (Hrsg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung, Bielefeld 2016 (im Druck).
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zu demonstrieren.17 Die weiteren Beiträge des Bandes folgen diesem Gedanken zumindest indirekt, geleitet durch die konzeptionellen Vorüberlegungen, die der Planung für dieses Buch zugrunde lagen. Die Herausgeber danken bereits an dieser Stelle den Beitragenden dafür, dass sie diese Vorgabe aufgenommen und konstruktiv für ihre eigenen Arbeiten umgesetzt haben. Eve-Marie Engels zeichnet in ihrem Beitrag die Auswirkungen von Charles Darwins (1809–1882) Forschungsprogramm auf die biologische Tierforschung, die Anthropologie und die Ethik nach. Den Hintergrund bilden dabei Darwins wissenschaftliche, methodische und philosophische Ausrichtung einerseits sowie die von ihm gewonnenen empirischen Befundlagen und theoretischen Deutungen andererseits. Der Entdeckungszusammenhang der Forschungsfahrt auf der H. M. S. Beagle findet ebenso Berücksichtigung wie der wissenschaftstheoretische Rechtfertigungszusammenhang im Kontext der viktorianischen Wissenschaftslandschaft oder dessen ‚metaphysische‘ Überlegungen in Notizbüchern. Für die Frage nach der Beziehung von Menschen und Tieren sind – neben späteren Fehlschlüssen sozialdarwinistischer Provenienz – vor allem die mit Darwins Theorie verbundene Idee eines evolutionären Kontinuums relevant sowie dessen Überlegungen zum Menschen als moralfähigem Tier. Für die spätere biologische Tierforschung hat sich insbesondere Darwins Arbeit zum Ausdruck der Gemütsbewe gungen bei Mensch und Tier als paradigmatisch erwiesen. Die hier vorgenommene Zuschreibung von Erkenntnis-, Empfindens- und Leidensfähigkeit bei Tieren formt einerseits eine Begründungsfigur für die evolutionär motivierte Vergleichende Verhaltensforschung von Lorenz und Tinbergen oder für spätere Ansätze der kognitiven Ethologie. Sie bildet andererseits auch die Basis für die ethische Berücksichtigung von Tieren als leidensfähigen Wesen. Seinen Beitrag widmet Kristian Köchy der Forschungsumwelt von Jean-Henri Fabre (1823–1915), dessen Insektenforschung als Paradigma und Urform ethologischer Feldforschung gilt. Der de17 Weitere Teilstudien zu diesem Zusammenhang sind folgendem Band zu entneh men: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen; siehe außerdem: K. Köchy, „Organismen als Maschinen? Zur Debatte zwischen Plessner, Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismen. Die Erklärung des Lebendigen, Freiburg, München 2016 (im Druck).
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tailgenaue Blick auf die einzelnen Abläufe und Elemente von Fabres Forschungsprogramm zeigt allerdings den Forscher in ständiger Bewegung zwischen seinen Gängen ins Feld, den Freilandexperimenten im Protolaboratorium des ‚Harmas‘ und den Untersuchungen im Arbeitszimmer. Wesentliches Glied der so aufscheinenden komplexen Forschungsumwelt Fabres sind dabei stets die Insekten, die bewundernd und geduldig beobachtet oder akribisch experimentell untersucht werden, die aber auch selbst als methodisch handelnde Subjekte erkennbar werden und experimentellen Eingriffen ihren Widerstand entgegensetzen. Fabres Insektenforschung ist mit ihrer wesentlichen Unterscheidung von Insekteninstinkt (als Wissen, das nichts von sich weiß) und Menschenintelligenz zudem maßgebliche Folie für eine entsprechend dichotome anthropologische Differenz in der Lebensphilosophie Henri Bergsons. Nicht nur mit diesem Aspekt erweist sich Fabres positivistische – und deswegen theoriefeindliche, darwinistischen Spekulationen gegenüber skeptische – Forschungsagenda als innig verwoben mit einer romantischen Metaphysik, was seinen methodischen Niederschlag auch in der Fusion von Kunst und Wissenschaft findet. Der Beitrag von Martin Böhnert und Christopher Hilbert widmet sich der kontroversen Debatte um den Aussagewert und die Relevanz des häufig als Sparsamkeitsprinzip verstandenen „Morgan’s Canon“. Benannt nach und begründet durch Conwy Lloyd Morgan (1852–1936), einem der Gründerväter der komparativen Psychologie, kommt dieser Regelsatz bis in die Gegenwart bei der Interpretation tierlichen Verhaltens hinsichtlich der mentalen Vermögen von Tieren zur Anwendung. Durch eine Relektüre der Überlegungen Morgans unter Einbeziehung von deren zeitlichem und systematischem Kontext belegen Böhnert und Hilbert, dass Morgan zwar einen methodologischen Paradigmenwechsel für die komparative Psychologie einleitete, der Kanon dabei jedoch lediglich den zentralen Lehrsatz eines umfassenden Forschungsansatzes darstellt, welcher auf den umfänglichen metaphysischen Grundannahmen Morgans beruht. Die zentrale epistemische und methodologische Fragestellung, auf welche Morgan mit seiner Arbeit reagierte, bleibt damals wie heute aktuell: Lässt sich das Fremdpsychische eines Tieres objektiv mit den Mitteln der Naturwissenschaft erforschen und was sind die Grenzen einer solcher Forschung? Die Untersuchung von Heiner Fangerau zum Forschungsprogramm von Jacques Loeb (1854–1924) ergänzt die Betrachtungen zu Fabres letztlich vitalistisch motivierter Feldforschung durch das https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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diametral entgegengesetzte Programm einer mechanistisch ausgerichteten Laborforschung. Doch zeigt auch die Arbeit Loebs, für den Lebewesen nichts anderes sind, als den Gesetzen von Physik und Chemie folgende Maschinen, deren Verhalten (Tropismus) einer durch Reize ausgelösten Mechanik unterliegt, dass den untersuchten Tieren diverse Akteursqualitäten zukommen. Obwohl Loeb sich wenig für die Biologie seiner Tiere jenseits seines Versuchsregimes interessiert und er in ihnen lediglich Material für seine Arbeit oder Objekte seiner Experimente sieht, sind seine wissenschaftlichen Vollzüge doch maßgeblich von verschiedenen Labortieren, deren Fähigkeiten und Eigenschaften, mitbestimmt. Nicht nur deren Widerständigkeit gegen Eingriffe, sondern auch deren Produktivität zur Erzeugung neuen Materials prägt seine Forschung. Zudem sind nicht nur die Rollen der Tiere vielfältig, auch der Forscher wechselt vom Beobachter zum Manipulator oder zum teilnehmenden Kontrolleur. Carlo Brentari untersucht das Forschungsprogramm Jakob von Uexkülls (1864–1944), wobei er sich auf die Wandlung von dessen Theorie der tierlichen Handlung konzentriert und diese im Kontext der Debatten um Neovitalismus und Mechanismus sowie in ihrem engen Bezug auf die Befundlagen der Vergleichenden Verhaltensforschung Konrad Lorenz’ liest. Damit werden nicht nur die grundlegenden Befunde und Begriffe Uexkülls entfaltet, sondern es wird auch das methodische Problem des wissenschaftlichen Zugriffs auf die subjektive Dimension tierlicher Handlungen jenseits beobachtbarer Verhaltensäußerungen deutlich. Brentari stellt Uexkülls Programm im Hinblick auf dessen theoretischen Rahmen als eine am Konzept der Planmäßigkeit ausgerichtete transzendentale Umwelttheorie mit Kantischen Wurzeln dar. Auch wird deren semiotischer Charakter erkennbar, da Uexküll die Hervorbringungen der Tiersubjekte als Zeichen deutet. In Uexkülls Rückgriff auf die natürliche Planmäßigkeit zeigt sich zudem, dass sein Ansatz sowohl teleologisch orientiert ist als auch einem vitalistischen Gedanken folgt. Durch den steten Bezug auf empirische Beispiele aus Konrad Lorenz’ Forschung sowie durch die Modifikation seiner frühen, primär auf Befunde an Wirbellosen abgestimmten, Handlungstheorie von 1928 vermittels einer stärkeren Berücksichtigung des Verhaltens höherer Tiere zeigt sich die prinzipielle Anschlussfähigkeit von Uexkülls Überlegungen an die moderne Verhaltensforschung. Zugleich beschränkt der vitalistische Rahmen jedoch die Erklärungskraft dieses Ansatzes. Um Uexkülls Überzeugung von der subjektiven Qualität und Spontaneität tierlichen Lebens heute noch biohttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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philosophisch fruchtbar machen zu können, müsste eine Revision von Uexkülls Forschungsprogramm erfolgen, die die These von der natürlichen Entwicklung semiotisch-transzendentaler Umwelten jenseits des Vitalismus stützt. Gerald Hartung und Matthias Wunsch widmen sich dem Forschungsprogramm Wolfgang Köhlers (1887–1967). Sie argumentieren für die These, dass Köhlers Erforschung tierlichen Verhaltens in einem engen systematischen Zusammenhang zur Gestalttheorie steht. Im Ausgang von einer Skizze der Anfänge der Gestalttheorie arbeiten sie Köhlers Beitrag zu dieser philosophischen und psychologischen Grenzdisziplin heraus, um dann das „methodischmethodologische Gesamtprofil seiner Tierforschungsagenda“ zu erörtern. Die Referenztiere von Köhlers Tierforschung sind Schimpansen. Die fragliche Leistung – „Intelligenz“ – wird durch qualitative Experimente erforscht, die eine offene Situation schaffen, die den Probanden indirekte Verfahren ermöglicht, an ein nicht direkt erreichbares Ziel zu gelangen. Entscheidend ist Köhlers innerwissenschaftliche Abgrenzung von theoretisch geprägten Fehldeutungen des Beobachteten. Sein Hauptgegner ist die Zufallstheorie, der zufolge intelligente Verhaltenslösungen durch eine Kombination natürlicher Impulse auf zufällige Weise bruchstückhaft entstehen. Köhler vermeidet in seiner Kritik den damals verbreiteten Rückgriff auf „Agentien jenseits der Erfahrung“ und schlägt stattdessen eine nicht-vitalistische Alternative zur Zufallstheorie vor: die Gestalttheorie. Er empfiehlt diese Theorie aber nicht nur für die Tierpsychologie, wo sie sich in der Konzeption und Deutung intelligenten Verhaltens bewährt, sondern als Theorie der Gesamtwirklichkeit. Der Fluchtpunkt seiner Überlegungen besteht damit in einer einheitlichen theoretischen Konzeption von Erkenntnis- und Seinsbereichen, die die Physik, Biologie und Psychologie umspannt. Der Beitrag von Matthias Wunsch rekonstruiert eine der großen Debatten der Tierforschung des 20. Jahrhunderts: die zwischen Konrad Lorenz (1903–1989) und Daniel S. Lehrman (1919–1972) in Bezug auf spezies-typisches Verhalten geführte Auseinandersetzung um den Begriff des Angeborenen. Da nicht unterschiedliche Daten, deren Interpretation oder einzelne Tatsachen Gegenstand des Streits sind, sondern letztlich ganze Forschungsprogramme, wird ein aufwändiges Analyseverfahren nötig. Zunächst wird Lorenz’ Forschungsansatz einer Vergleichenden Verhaltensforschung mit Blick auf seine „methodologische Signatur“ vorgestellt. Dann wird Lehrmans berühmte „Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“ in ihhttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
Einleitung: Philosophie der Tierforschung
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ren institutionellen und methodologischen Kontext eingebettet und Zug um Zug nachgezeichnet. Damit ist die Bühne bereitet, auf der sich die Auseinandersetzung zweier Denkschulen der Tierforschung in der Mitte der 1950er Jahre rekonstruieren lässt. Dabei spielt nicht nur Lehrmans Doktorvater Theodore C. Schneirla eine wichtige Rolle, sondern auch Lorenz’ Weggefährte Niko Tinbergen. Während Lorenz eine kompromisslose Haltung einnahm, verstand sich Tinbergen als Brückenbauer von der „European ethology“ zur „American psychology“ und entwickelte einen bis heute einflussreichen inte grativen Forschungsrahmen, der die unterschiedlichen Interessen der Streitparteien in einer einheitlichen Verhaltensbiologie zu bündeln suchte. In einem Ausblick fragt Wunsch nach aktuellen Anknüpfungen an die Positionen der Kontrahenten und eröffnet die Perspektive einer vergleichenden Philosophie der Tierforschung. Der Beitrag von Randolf Menzel komplettiert die vorwiegend auf Vorläufer heutiger Tierforschung gerichteten anderen Beiträge des Bandes durch ein aus seiner eigenen Forschungspraxis stammendes aktuelles Beispiel der kognitiven Ethologie. Auch diese dem Orientierungsverhalten (Navigation und Kommunikation) von Bienen gewidmete Untersuchung belegt die komplexe Verwobenheit von theoretischen Hintergrundannahmen, methodischen Entscheidungen aber auch biologischen Bedingungen, in diesem Fall den Leistungen von Bienen. Sie zeigt nebenbei auch, welche Folgen der Wechsel des Untersuchungstiers haben kann; welche theoretischen und experimentalpraktischen Konsequenzen es hat, wenn man statt bodenlebender Ameisen fliegende Bienen erforscht. Menzels Beitrag ist für die Frage nach den Tier-Mensch-Relationen in den Umwelten der Tierforschung vor allem lehrreich, weil er einen aktuellen Disput um die Deutung der Orientierungsleistungen zum Thema hat. Hierbei geht es offensichtlich nicht nur um experimentelle Paradigmen, sondern wesentlich auch um die Entscheidung, das zielgerichtete Auffinden von Futterstellen oder Nestern durch soziale Insekten mittels der Zuschreibung von Kognition oder aber unter Rekurs auf Morgans Kanon elementar (durch Mechanismen der Vektoraddition) zu erklären. Menzels Beitrag zeigt nicht nur, auf welche Vorbehalte kognitive Erklärungen gerade bei ihrer Anwendung auf Insekten stoßen. Er zeigt mit seinem wesentlichen Bezug auf die planende Verhaltensleistung der novel shortcuts (die Wahl eines bisher unbekannten kürzesten Wegs zum Ziel) und deren paradigmatische Deutung durch Edward C. Tolman (1886–1959) auch, wie Verhaltensforscher versuchen, das Konzept der Intentionalität von Tieren zu operationalisieren. https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Eve-Marie Engels
Tierforschung, Anthropologie und Ethik im Horizont von Darwins Abstammungstheorie Darwins wissenschaftliche und philosophische Revolution*
Darwins Origin of Species wurde als „the book that shook the world“1 beschrieben. Mit diesem Werk wurde unser Verständnis von der Stellung des Menschen in der lebendigen Natur auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Darwin entwarf nicht nur eine neue Theorie, sondern ein Forschungsprogramm, in das der Mensch als Lebewesen einbezogen ist. Seit Darwin können wir vom Menschen und anderen Tieren, von menschlichen und nicht menschlichen Tieren sprechen. Und Herders vorevolutionäre Einsicht „Der Menschen ältere Brüder sind die Tiere“2 gewinnt mit Darwin eine naturwissenschaftliche Grundlage. Dies hat Konsequenzen für unser Verhältnis zu anderen Tieren in Theorie und Praxis, für die vergleichende Verhaltensforschung, Anthropologie und Ethik. Einige dieser Konsequenzen sollen in meinem Beitrag dargestellt werden.
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Meiner wissenschaftlichen Hilfskraft, Frau M. A. Judith Zinsmaier, danke ich herzlich für ihre Recherchen in der Darwin-Korrespondenz, für ihre Literatur beschaffung zu einzelnen Themen meines Beitrages und für ihre Unterstützung beim Redigieren des Textes. Die Grundlage für diesen Beitrag bilden verschiede ne Veröffentlichungen von mir, die hier mit eingeflossen sind, vor allem meine Monografie Charles Darwin, München 2007 (Beck’sche Reihe Denker Nr. 575). Artikel von mir mit Relevanz zu speziellen Fragen sind jeweils im Text ange geben. 1 E. Mayr, „Introduction“ in Ch. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859), Faksimile Cambridge (Mass.), London 1964, S. vii.; E. Mayr, „Charles Darwins Autobiographie“, in: Ch. Darwin, Mein Leben 1809–1882, Vollständige Ausgabe der ‚Autobiographie‘, hrsg. von seiner Enkelin N. Barlow, mit einem Vorwort von E. Mayr, übers. von C. Krüger, Frankfurt a. M. 2008, S. 17: „Dieses Buch hat die Welt aus den Angeln gehoben.“ Diese Charakterisierung von Dar wins Origin of Species lässt sich auch unbeschadet der Anerkennung bedeuten der Vorläufer Darwins unterstützen. 2 J. G. Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791), in: J. G. Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hrsg. von M. Bollacher et al., Frankfurt a. M. 1989, S. 67.
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Darwin wird dabei, entsprechend der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Textsammlung, vor allem als Verhaltensforscher fokussiert. Um seine Bedeutung für die Verhaltensforschung verständlich zu machen, ist es jedoch notwendig, den revolutionären und innovativen Charakter von Darwins Ansatz vorzustellen. Dabei werde ich zunächst die Bedeutung von Darwins Weltreise auf der Beagle als den Entdeckungszusammenhang, den „context of discovery“, für die Entstehung seiner Theorie vorstellen (1. Kap.). Anschließend werde ich anhand seiner Notizbücher zeigen, dass sich Darwin bereits über zwanzig Jahre vor dem Erscheinen seines ersten Hauptwerkes On the Origin of Species mit dem Verhältnis von Mensch und Tier aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive befasste (2. Kap.). Es folgt eine kurze Darstellung von Darwins Theorie auf der Grundlage von Origin of Species unter Berücksichtigung von The Variation of Animals and Plants under Domestication (3. Kap.). Um zu zeigen, dass Darwin in seiner Arbeit eine reflektierte wissenschaftstheoretische Strategie verfolgt, mit der er sein Vorgehen begründet (context of justification), werde ich Darwins verstreute methodologische Äußerungen im Überblick vorstellen und damit seine Wissenschaftstheorie beleuchten (4. Kap.). Anschließend werde ich anhand der Werke Descent of Man und The Expression of the Emotions in Man and Animals Darwins evolutionäre Anthropologie in enger Verbindung mit seiner Tierforschung und Darwins Bild von der Beziehung zwischen Tier und Mensch bzw. zwischen nichtmenschlichen Tieren und dem menschlichen Tier darstellen. Dabei werden auch die Besonderheiten des Menschen als moralfähiges Tier und Darwins Verständnis von moralischem Fortschritt in der menschlichen Kulturgeschichte herausgearbeitet (5. Kap.). Es folgen Überlegungen zu den Konsequenzen für eine aufgeklärte Tierethik, die sich des verwandtschaftlichen Zusammenhangs des Menschen mit der gesamten lebendigen Natur bewusst ist (6. Kap.).
1. Der Context of Discovery von Darwins Theorie Lange vor der Veröffentlichung seines ersten Hauptwerkes über die Entstehung der Arten, On the Origin of Species (1859), war Darwin davon überzeugt, dass sich Pflanzen- und Tierarten einschließlich des Menschen in langen erdgeschichtlichen Zeiträumen allmählich aus anderen Arten entwickelt haben. Der Anstoß hierzu kam zum https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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einen aus seinen persönlichen Erfahrungen, die er als junger Naturforscher während der Weltreise auf der Beagle gemacht hatte, zum anderen durch die wissenschaftstheoretischen und philosophischen Überlegungen, die in Darwins Denken bereits früh einen breiten Raum einnahmen. Die Reise mit der Beagle war nach Darwins eigener Beschreibung „das wichtigste Ereignis meines Lebens und hat meine ganze Berufslaufbahn bestimmt.“3 Und schließlich resultierten diese Überzeugungen aus der Unterstützung durch die scientific community, die Darwin half, seine Funde zu interpretieren und zu bestimmen. Nach seinem Bachelor of Arts-Examen am Christ’s College der Universität Cambridge bekam Darwin die Einladung, als unbezahlter Naturforscher unter dem Kommando von Kapitän FitzRoy an einer Weltreise auf der H. M. S. Beagle teilzunehmen. Der Zweck dieser Reise war der Abschluss von Vermessungsarbeiten des südamerikanischen Kontinents, die fünf Jahre zuvor mit dem Ziel begonnen worden waren, einen reibungslosen Handel mit Südamerika zu ermöglichen. Auch sollte eine Reihe chronometrischer Messungen rund um die Erde vorgenommen werden. Obwohl Darwin nach dem Abbruch seines Medizinstudiums in Edinburgh nun von 1828–1831 in Cambridge ein allgemeines BA-Studium absolvierte,4 war er dort bereits für sein leidenschaftliches Inte3 4
Ch. Darwin, Mein Leben, übersetzt von C. Krüger, Frankfurt a. M., Leipzig 2008, S. 86. Die Annahme, dass Darwin in Cambridge Theologie studierte, ist weit verbreitet und wurde zunächst auch von mir gemacht, weil Darwins Autobiographie dies nahezulegen scheint. Darwin schreibt hier: „After having spent two sessions in Edinburgh, my father perceived or had heard from my sisters, that I did not like the thought of being a physician, so he proposed that I should become a clergyman. […] I liked the thought of being a county clergyman. […] As it was decided that I should be a clergyman, it was necessary that I should go to one of the English universities and take a degree.“ (Ch. Darwin, The Autobiography of Charles Darwin, New York, London 1969, S. 56 f.; deutsch: Ch. Darwin, Mein Leben, S. 65 f.). So ging er nach Cambridge ans Christ’s College. Darwin hatte jedoch zunächst ein allgemeines Bachelor of Arts-Studium zu absolvieren und hier einen akademischen Grad zu erwerben. Erst im Anschluss daran hätte er ein Theologiestudium absolvieren können, um die Priesterweihe zu erlangen. „It is often said that Darwin studied theology or divinity at Christ’s. This is not correct. Darwin was a candidate for an ordinary Bachelor of Arts degree, or B. A. after which he could have taken divinity training prior to taking Holy Orders. Darwin never undertook divinity training.“ (J. van Wyhe, Darwin in Cambridge, Cambridge 2009, S. 18) Darwin selbst schreibt in seiner Autobiographie, dass seine Absicht, Pfarrer zu werden, während seiner Reise auf der Beagle „eines natürlichen Todes“ starb: „Considering how fiercely I have been attacked by the orthodox it seems ludicrous that I once intended to be a clergyman. Nor was this
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resse an der Naturforschung, an Botanik, Zoologie und Geologie, bekannt und hatte Kontakt zu den einschlägigen Experten und Professoren wie J. St. Henslow, W. Whewell, A. Sedgwick.5 So erlaubte Darwins Vater Robert Warren Darwin seinem Sohn schließlich die Teilnahme an der Weltreise, nachdem Josiah Wedgwood II., Charles Darwins Onkel und späterer Schwiegervater, den Vater davon überzeugen konnte, dass eine solche Reise für den Ruf seines Sohnes als Geistlicher, der er auf Vorschlag seines Vaters werden sollte, förderlich wäre. Naturforschung spielte in der naturtheologischen oder auch physikotheologischen Tradition Englands, in der Darwin aufwuchs, eine bedeutende Rolle. Gottes Allmacht, Weisheit und Güte ließ sich am besten durch das minutiöse Studium seiner Geschöpfe nachweisen. Naturwissenschaft und Naturtheologie waren daher für viele untrennbar miteinander verknüpft. Statt geplanter zwei Jahre dauerte die Beagle-Reise fünf Jahre, von 1831 bis 1836. Auf dieser Reise machte Darwin Erfahrungen, die seinen Glauben an die Konstanz der Arten ins Wanken gerieten ließen und ihn schon bald dazu brachten, eine Theorie zu entwerfen, in welcher der Mensch zum evolutionären Verwandten anderer Tiere wird. Mit Darwins evolutionärem Denkstil eröffnet sich eine neue Gesamtperspektive auf den Menschen und seine Beziehung zu anderen Tieren. In seiner Autobiographie führt Darwin drei Entdeckungen an, die er während seiner Beagle-Reise machte und die in ihm Zweifel an der Idee der Konstanz der Arten aufkommen ließen:6 Erstens fand er in der Pampasformation Südamerikas große tierliche7 Fossilien, die die gleichen Panzer trugen wie die noch heute existierenden Gürteltiere. Zweitens fiel ihm auf, wie nahverwandte
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intention and my father’s wish ever formally given up, but died a natural death when on leaving Cambridge I joined the Beagle as Naturalist.“ (Ch. Darwin, The Autobiography of Charles Darwin, S. 57; deutsch: S. 66). Bereits in Edinburgh hatte sich Darwin mit dem Zoologen R. E. Grant ange freundet, der bereits ein überzeugter Anhänger des Evolutionsgedankens war und Lamarck verehrte. Grant wurde später Professor für vergleichende Anato mie und Zoologie an der Universität London und 1836 Fellow der Royal Society. Über Darwins ideengeschichtliche Voraussetzungen und die Bedeutung seiner Weltreise auf der Beagle siehe auch W. Maier, „Darwins Weltreise mit der HMS ‚Beagle‘ (1831–1836) – Historische Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie“, in: E.-M. Engels, O. Betz, H.-R. Köhler, T. Potthast (Hrsg.), Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften, Tübingen 2011, S. 43-76. In Analogie zum Adjektiv „menschlich“ verwende ich hier außer bei Zitaten be wusst den seltener verwendeten Begriff „tierlich“.
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Tiere im Lauf des Vorrückens über den Kontinent nach Süden einander ablösen. Drittens war er davon beeindruckt, dass die meisten auf dem Galápagos-Archipel vorkommenden Tier- und Pflanzenarten südamerikanischen Charakter hatten und vor allem, auf welche Weise sie auf jeder Insel der Galápagos-Gruppe leichte Verschiedenheiten zeigten. Da keine dieser Inseln geologisch sehr alt zu sein schien, mussten diese Tier- und Pflanzenarten erdgeschichtlich jünger als diejenigen auf dem Festland sein. „Es lag auf der Hand, daß derartige Tatsachen, wie viele andere auch, sich erklären ließen, wenn man annahm, daß die Arten sich allmählich verändern; und dieses Thema ließ mir keine Ruhe. Es lag aber ebenso auf der Hand, daß weder die Einwirkung der Umwelt noch der Wille der betreffenden Organismen (besonders im Falle der Pflanzen) als Erklärung dafür fungieren konnten, daß Organismen aller Arten ihrer Lebensweise so wunderbar angepaßt sind – zum Beispiel ist ein Specht oder ein Baumfrosch so ausgerüstet, daß er auf Bäume klettern kann, oder ein Same kann sich mit Hilfe seiner Haken oder seiner Flügel verbreiten. Anpassungen dieser Art hatte ich immer sehr erstaunlich gefunden, und solange sie nicht zu erklären waren, schien mir der Versuch, durch indirekte Beweisführung darzulegen, daß Arten sich ändern, verlorene Mühe zu sein.“8 Darwin spricht hier von drei Entdeckungen, es handelt sich jedoch um vier, denn bei den Erfahrungen auf den Galápagos-Inseln macht er zwei unterschiedliche Beobachtungen. Die erste der beiden bezieht sich auf die Beziehungen zwischen der südamerikanischen Tier- und Pflanzenwelt und der auf dem Galápagos-Archipel, die zweite auf die Variationsbreite der Lebewesen auf dem Archipel selbst. Da Darwin weder vom biblischen Schöpfungsbericht im wörtlichen Sinne noch, wie aus dem vorigen Zitat hervorgeht, von Lamarcks Erklärung zur Entstehung von Arten und Anpassungen überzeugt war – für Lamarck waren ein innerer Wille (sentiment intérieur) der betreffenden Organismen und eine Fortschrittstendenz im Artenwandel entscheidend – suchte er nach einer neuen Lösung. Zur Auswertung seiner Funde, ihrer Bestimmung, war Darwin allerdings auf Experten aus der scientific community angewiesen. Dies spiegelt sich auch in der von ihm herausgegebenen Reihe über die Zoologie der Voyage of the Beagle wider, die von Experten einzelner Bereiche (R. Owen für fossile und J. Waterhouse
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Ch. Darwin, Mein Leben, S. 128; Hervorhebung E.-M. E.
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für rezente Säugetiere, Th. Bell für Reptilien, J. Gould für Vögel, L. Jenyns für Fische) verfasst wurden. Im Januar 1837 hatte Darwin der Zoologischen Gesellschaft von London 80 Säugetiere und 450 Vögel übereignet, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, und sein Geschenk an die Bedingung geknüpft, dass alle Exemplare präpariert und klassifiziert, d. h. taxonomisch eingeordnet würden. Dies war eine Aufgabe für Museumsleute und Experten, die in der Identifikation fossiler und rezenter Tierarten auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung Routine besaßen. Darwin fand für seine Funde und Präparate die besten Experten, die ihre Ergebnisse dann auch in der von Darwin herausgegebenen Reihe veröffentlichten. Owen entdeckte bei der Auswertung der ihm von Darwin überlassenen Fossilien Überreste riesengroßer Tiere, die er als Riesenfaultier (Megatherium), Riesengürteltier, Riesenlama und als Riesennager bestimmte und damit Darwins Klassifikation bestätigte. Im Februar 1837 stellte Lyell vor der Geologischen Gesellschaft Londons mit Owens Zustimmung die wichtigsten Ergebnisse vor, zu der dieser bei seiner Bestimmung von Darwins Fossilfunden gelangt war. Lyell formulierte auf der Grundlage der von Owen klassifizierten Funde die wesentlichen Implikationen, die Darwin die Bedeutung dieser Fossilien erst vor Augen führten. In Südamerika gab es bestimmte rezente Tiergruppen, die ausschließlich dort lebten, also auf den südamerikanischen Kontinent beschränkt waren. Hierzu gehörten das Gürteltier (Armadillo) und das Lama (Guanako). Darwins Funde stützten nach Lyell nun die „Tatsache, dass der eigentümliche Organisationstyp, der für südamerikanische Säugetiere nun charakteristisch ist, auf jenem Kontinent während einer langen Zeitperiode entwickelt wurde, die zumindest für das Aussterben vieler großer Vierfüßerarten ausreicht.“9 Lyell verwies dabei auf ähnliche Verhältnisse in Australien, wo Fossilien riesengroßer Kängurus und anderer Beuteltierarten gefunden worden waren, also von Tieren, die für diesen Kontinent spezifisch 9
Wenn nicht anders angegeben, sind die Übersetzungen der englischen Original zitate von Eve-Marie Engels. Ch. Lyell, „Address to the Geological Society, de livered at the Anniversary, on the 17th of February, 1837“, in: Proceedings of the Geological Society of London, 2/1838, S. 479-523, hier S. 511: „These fossils […] establish the fact that the peculiar type of organization which is now character istic of the South American mammals has been developed on that continent for a long period, sufficient at least to allow of the extinction of many large species of quadrupeds.“
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sind. Nach Lyell erhellen die südamerikanischen Tatsachen ein „allgemeines Gesetz“, das zuvor bereits aus den Beziehungen zwischen rezenten und ausgestorbenen Vierfüßern Australiens abgeleitet worden war. Dies ist das Gesetz der „Nachfolge von Typen“ („succession of types“).10 „Säugetiere werden auf jedem Kontinent durch ihre eigenen Verwandten ersetzt.“11 Über das Wie der Nachfolge war damit jedoch noch nichts ausgesagt. Es konnte sich um „special creation“,12 Neuschöpfungen, handeln oder um Varietäten ein und derselben Art. Bei Lyell ist davon auszugehen, dass er noch nicht an einen evolutionären Zusammenhangs zwischen ausgestorbenen und lebenden Arten dachte, also nicht an eine Abstammungstheorie. Von Januar bis März 1837 präsentierte Gould in mehreren Sitzungen der Zoologischen Gesellschaft von London besonders auffällige Exemplare der Vögel, die Darwin von den Galápagos-Inseln mitgebracht hatte. Dabei handelte es sich auch um diejenigen Finkenarten, die später als „Darwin-Finken“ in die Biologiegeschichte eingegangen sind. Darwin selbst hatte diese mit recht unterschiedlichen Schnäbeln ausgestatteten Tiere für Vertreter verschiedener Unterfamilien gehalten.13 Gould ließ sich jedoch durch die Variationsbreite der Schnabelformen nicht irritieren und erkannte bald, dass es sich bei allen diesen Exemplaren um Finkenarten handelte. Sie waren so eigentümlich, dass er sie zu einer neuen Finkengruppe mit dreizehn Arten zusammenfasste, die er unter eine Gattung und drei nahverwandte Untergattungen subsumierte und deren Auftreten auf die Galápagos-Inseln beschränkt zu sein schien.14 Bezüglich der Rhea hatte Darwin schon vermutet, neue Arten vor sich zu haben, was von Gould bestätigt wurde.15 Ausschlaggebend für Darwins Zweifel an der Konstanz der Arten war auch Goulds Bestimmung einer Gruppe von Vögeln der Galápagos-Inseln als unterschiedliche
10 G. de Beer, Charles Darwin. Evolution by Natural Selection, London, New York 1963, S. 79. 11 A. Desmond, J. Moore, Darwin, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 242. 12 G. De Beer, Charles Darwin. Evolution by Natural Selection, S. 79. 13 F. Sulloway, „Darwin and His Finches: The Evolution of a Legend“, in: Journal of the History of Biology, 15(1)/1982, S. 1-53, hier S. 8 f. 14 Bericht von J. Gould über „a group of Ground Finches from Mr. Darwin’s col lection, with characters of the New Species“, in: Proceedings of the Zoological Society of London, 5/1837, S. 4-7. 15 Hierzu und zum Folgenden siehe S. Herbert, „Red Notebook. Introduction“, in: P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, 1836-1844, Ithaca, New York 1987, S. 18 f.
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Arten der Gattung Orpheus, während Darwin angenommen hatte, er habe Varietäten einer einzigen Art vor sich.16 Im März 1837 fand Darwins erstes Treffen mit Gould statt, bei dem dieser ihm seine Ergebnisse mitteilte. Darwin war tief davon beeindruckt, weil für ihn damit die Idee der Konstanz der Arten ins Wanken geriet. In seinem Red Notebook finden wir 1837 Reflexionen über einen möglichen Artenwandel, „if one species does change into another“, und über die Frage der Art und Weise dieses Wandels, ob er graduell oder sprunghaft verläuft.17 In seinem Ornithologischen Notizbuch zog er in Erwägung, dass die Idee der Konstanz der Arten unter bestimmten Bedingungen unterminiert werden könnte, wenn sich nämlich herausstellen würde, dass diejenigen Tiere, die Darwin für Varietäten ein und derselben Art hielt, stattdessen zu verschiedenen Arten gehörten.18 Nicht seine reinen Beobachtungen auf der Beagle-Reise also, sondern erst deren Identifikation und Einordnung in das biologische Klassifikationssystem durch Spezialisten wie Gould und Owen führten Darwin die Bedeutung seiner Funde für die Frage der Entstehung von Arten vor Augen. Darwins Finken wurden also entgegen der Legende erst nach Abschluss der Beagle-Reise zu „Darwin’s finches“.19 In denselben Protokollen der Zoologischen Gesellschaft von London wird auch die von Darwin gefundene neue Straußenart erwähnt, der Gould den Namen Rhea Darwinii gab.20 Darwin selbst war an der Entwicklung der Legende um die Darwin-Finken nicht beteiligt. Im Vorwort seines 1845 erschienenen Journal of Researches werden die fünf Wissenschaftler unter Angabe ihres jeweiligen Beitrages namentlich angeführt, sie sind auch die Autoren des von ihm herausgegebenen fünfteiligen Werkes The Zoology of the Voyage of the Beagle.21
16 Bericht von J. Gould über „Three species of the genus Orpheus, from the Ga lapagos, in the Collection of Mr. Darwin“, in: Proceedings of the Zoological Society of London, 5/1837, S. 26 f.; siehe auch F. Sulloway, „Darwin and His Finches: The Evolution of a Legend“, S. 22. 17 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Dar win’s Notebooks, S. 62 f. 18 N. Barlow (Hrsg.), „Darwin’s Ornithological Notes“, in: Bulletin of the British Museum (Natural History) Historical Series, 2(7)/1963, S. 201-278, hier S. 262. 19 F. Sulloway, „Darwin and His Finches: The Evolution of a Legend“, S. 45-47. 20 Bericht von J. Gould, „On a New Rhea (Rhea Darwinii) from Mr. Darwin’s Collection“, in: Proceedings of the Zoological Society of London, 5/1837, S. 35 f. 21 Die fünf Teile sind 1986 als Bände 4-6 der Works of Charles Darwin, hrsg. von P. H. Barrett, R. B. Freeman, London erschienen.
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Darwin den Anstoß für seine Zweifel an der Konstanz der Arten vor allem durch seine Erfahrungen mit Tieren in Südamerika und auf den Galápagos-Inseln bekam. Es waren also zunächst einmal Freilandbeobachtungen, die ihn zum Nachdenken brachten. Für die Einschätzung seiner Beobachtungen war Darwin allerdings ganz wesentlich auf die Einbindung in eine scientific community, einen Kreis exzellenter, erfahrener Experten, angewiesen, ohne die er seine Funde nicht hätte bestimmen und einordnen können. Daher finden wir beim Jahr 1837 in Darwins „Journal“, einem kleinen, von ihm stets geführten Tagebuch, die aufschlussreiche Eintragung: „Im Juli begann ich das erste Notizbuch über ‚Artenwandel‘. Ich war etwa seit März vom Charakter der südamerikanischen Fossilien und der Arten auf dem Galápagos-Archipel tief beeindruckt. Diese Tatsachen (vor allem die letztgenannten) sind der Ursprung all meiner Ansichten.“22 In diese Notebooks soll im Folgenden ein Einblick gegeben werden.
2. Theoriewerkstatt – Tiere und Menschen in Darwins frühen Notizbüchern Darwins Annahme einer Verwandtschaft von Tieren und Menschen lässt sich bereits in seinen frühen Notizbüchern aus den dreißiger Jahren nachweisen. 1837 begann er mit Notizen zum Artenwandel (transmutation of species), bereits 1838 mit metaphysischen Untersuchungen (metaphysical enquiries), die auch den evolutionären Zusammenhang des Menschen mit anderen Tieren zum Gegenstand hatten. Die posthum erschienenen Notizbücher ermöglichen uns einen Einblick in die Theoriewerkstatt des jungen Darwin. Hier legt er den Grundstein für seine evolutionäre Anthropologie und vertritt bereits die Idee einer evolutionären Kontinuität, eines verwandtschaftlichen Zusammenhangs zwischen dem Menschen und anderen Tieren. Darüber hinaus übt er Kritik an menschlicher Arroganz und an der Anthropozentrik, die den tierlichen Ursprung 22 „In July opened first note book on ‚Transmutation of Species’– Had been greatly struck from about Month of previous March on character of S. American fossils – & species on Galapagos Archipelago. These facts origin (especially latter) of all my views.“ (Ch. Darwin, „Journal“, in: G. de Beer (Hrsg.), Bulletin of the British Museum (Natural History) Historical Series, 2(1)/1959, S. 3-21, hier S. 7).
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des Menschen ausblendet. Diese privaten, ausschließlich für seinen persönlichen Gebrauch angelegten Notizbücher zeigen Darwins intellektuelle Unabhängigkeit und Unerschrockenheit beim Bruch von Denktabus. Hier begegnen wir dem jungen Darwin mit seinen Äußerungen zu theologischen und philosophischen Fragen in einer Unmittelbarkeit und Radikalität, die sich in seinen späteren Veröffentlichungen nicht findet. Das Medium des Notizbuchs machte es nicht erforderlich, auf mögliche Empfindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen und auf Reinschrift zu achten. In ihnen können wir, so die Herausgeber der Notizbücher Gruber und Barrett, „if we look carefully, almost catch his thought on the wing.“23 Die Notizbücher eröffnen darüber hinaus einen Einblick in das breit gefächerte Spektrum an Literatur, mit der sich der junge Darwin befasst, die er geradezu verschlingt. Er rezipiert, exzerpiert und kommentiert Autoren aus Medizin, Psychologie, Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie, politischer Ökonomie, Geschichte und anderen Disziplinen. Daher haben die Notizen einen fragmentarischen Charakter. Sie geben Darwins Gedanken wieder, die ihm beim Lesen und Reflektieren kommen; sie enthalten jedoch auch Gedankenexperimente zur Auslotung der theoretischen Möglichkeiten. Daher dürfen seine Notizen nicht an den Maßstäben philosophischer und philologischer Textkritik gemessen werden. Für eine Rekonstruktion der Entstehung von Darwins Abstammungstheorie und das Verständnis seines philosophischen und geistesgeschichtlichen Hintergrundes sind die Notizbücher unverzichtbar. Obwohl sie wie Aphorismen erscheinen, sind Darwins philosophisches Programm, seine Forschungslogik und seine Auseinandersetzung mit der traditionellen Naturtheologie und Metaphysik in viel stärkerem Maße diesen Notizbüchern und seinem Briefwechsel als Origin of Species zu entnehmen. Sie verdeutlichen zudem einprägsam, dass der Mensch von Anfang an zum intendierten Anwendungsbereich von Darwins Theorie gehört. Darwin wagt es im Rahmen seines gerade entstehenden evolutionären Naturalismus auch, neue Deutungen für klassische philosophische Fragen zu denken und alte Antworten als obsolet zurückzuweisen. Auch sticht Darwins Kritik am Anthropozentrismus hervor. Schließlich eröffnen die Notizbücher einen Einblick in die damals aktuelle naturwissenschaftliche Literatur und ihre Verflechtung mit theologi23 H. Gruber, P. H. Barrett (Hrsg.), Darwin on Man. A Psychological Study of Scientific Creativity, London 1974, S. xv.
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schen und philosophischen Fragen und sind damit ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument. Darwin hinterlässt auch in den von ihm durchforsteten Werken aus den unterschiedlichsten natur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen seine Spuren in Form von unzähligen Randbemerkungen, die ebenfalls herausgegeben wurden.24 Die Notizbücher über metaphysische Untersuchungen tragen auf dem Buchdeckel den Buchstaben M bzw. N und den Titel „Expression“. Die Überschrift von Notizbuch M lautet „This Book full of Metaphysics on Morals & Speculations on Expression – 1838“, diejenige von Notizbuch N „Metaphysics & Expression“. Diese beiden Bücher wurden parallel zu den Notizbüchern D und E der Notebook-Serie B bis D geführt und behandeln vor allem Themen, die in Darwins Werken Descent of Man (1871, 2. Aufl. 1874) und The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) aufgegriffen werden. Die metaphysischen Untersuchungen berühren ein breites Spektrum philosophischer Fragen, nicht nur metaphysische Betrachtungen im engeren Sinne. Darwin begann damit im Juli 1838, als er eine Zeit lang im Hause seines Vaters in Shrewsbury verbrachte. Er thematisiert darin Fragen und Ideen zur Entstehung des Menschen einschließlich seiner geistigen, sozialen und moralischen Fähigkeiten aus vormenschlichen Lebewesen, die Stellung des Menschen in der Natur im Verhältnis zu anderen Lebewesen, das Leib-Seele- bzw. das Gehirn-Geist-Problem, die Frage der Willensfreiheit, die Rolle von Angeborenem und Erfahrung beim Erkennen und Handeln und anderes. Die Notizen enthalten viel Zündstoff, und die Mehrheit von Darwins zeitgenössischer Leserschaft hätte sie wohl als Provokation empfunden. Darwin äußert sich hier ebenso spontan wie unbefangen zu den großen Themen und Denkern der Philosophie (Platon, Locke, Herschel, Whewell, Hume, Kant u. a.). Obwohl er kein Philosoph im engeren Sinne ist, lassen sich seine Gedanken als Anregung aufgreifen, sich mit diesen Philosophen aus einem anderen Blickwinkel als dem der traditionellen Philosophie zu befassen. Mit Darwins evolutionärem Denkstil eröffnet sich eine neue Gesamtperspektive auf den Menschen. Im Folgenden werde ich einige dieser
24 M. Di Gregorio, with the assistance of N. W. Gill (Hrsg.), Charles Darwin’s Marginalia, Bd. 1, New York, London 1990.
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Notizen zur Veranschaulichung herausgreifen.25 Die Notizen sprechen für sich, ihre Inhalte werden von Darwin vor allem in Descent of Man und Expression of the Emotions ausgeführt: „Es ist absurd zu sagen, dass ein Tier höher als ein anderes steht.– Wir betrachten jene, bei denen die {Gehirnstrukturen, die intellektuellen Fähigkeiten}, am weitesten entwickelt sind, als die höchsten.– Eine Biene würde dies zweifellos tun, wenn die Instinkte am weitesten entwickelt wären.“26 „Wenn alle Menschen tot wären, dann würden die Affen zu Menschen und die Menschen zu Engeln“.27 „Tiere, die wir zu unseren Sklaven gemacht haben, betrachten wir nicht gern als unseresgleichen. – Tiere mit Zuneigung, Imitation, Furcht […] Schmerz. Trauer um die Toten. – Respekt.“28 „Wenn man einmal zugibt, dass Arten einer Gattung ineinander übergehen. – zugibt, dass ein Instinkt erworben wird […], dann gerät das ganze Gebäude ins Wanken und bricht zusammen. – schau ins Ausland, erforsche die Abstufungen, erforsche die Einheit des Typus – erforsche die geografische Verteilung, erforsche die Beziehungen zwischen den fossilen und lebenden Organismen, so bricht das Gebäude zusammen! Aber der Mensch – – der wunderbare Mensch. ‚divino ore versus coelum attentus […]‘ ist eine Ausnahme. – Er ist ein Säugetier. […] Er ist kein Gott, sein Ende in der gegenwärtigen Form wird kommen. […] Dann ist er keine Ausnahme. – Er besitzt einige derselben allgemeinen Instinkte und Gefühle wie Tiere. – sie können andererseits denken – aber der Mensch hat 25 Bei den folgenden Zitaten aus Darwins Notebooks wurden seine orthografischen und grammatischen Besonderheiten beibehalten. Die Klammern > mar kieren Darwins Einfügungen, die Klammern < > seine Auslassungen. 26 „It is absurd to talk of one animal being higher than another. – We consider those, where the {cerebral structure, intellectual faculties} most developed, as highest. – A bee doubtless would when the instincts were. –“ Im Werk stehen „cerebral structure“ und „intellectual faculties“ über einander und sind mit einer gemeinsamen Klammer umschlossen (vgl. P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 189 [B 74]). 27 „If all men were dead then monkeys make men. – Men makes angels –“ (in ebd., S. 213 [B 169]). 28 „Animals – whom we have made our slaves we do not like to consider our equals. – Animals with affections, imitation, fear […]. pain. sorrow for the dead. – respect“ (ebd., S. 228 [B 231]).
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Denkvermögen im Übermaß statt genau festgelegter Instinkte. – Dies ist ein Ersatz in der mentalen Maschinerie – so analog wie wir es beim Körper sehen, dass es mich nicht wundert. – Welche Bedingungen mögen notwendig gewesen sein, damit der Mensch entstehen konnte! Der Mensch, (der rauhe, unzivilisierte Mensch) hätte vielleicht nicht gelebt, wenn bestimmte andere Tiere leben würden, die untergegangen sind.“29 „Ich denke viel über meine Auffassung nach, dass ein spezieller Instinkt ein Erinnerungsvermögen ohne Bewusstsein ist, was sehr gut möglich ist […] schau einen Schlafwandler an! Der erste Schritt besteht wahrscheinlich darin, dass eine Handlung zur Gewohnheit wird, und eine gewohnheitsmäßige Handlung beinhaltet einen Mangel an Bewusstsein und Willen und kann daher als „instinktiv“ bezeichnet werden. Aber warum werden einige Handlungen erblich und instinktiv und andere nicht?“30 „In seiner Arroganz hält sich der Mensch für ein großes Werk, das es würdig ist, durch Gottes Wirken hervorgebracht zu sein. Bescheidener und, wie ich glaube, zutreffender ist die Annahme, dass er aus Tieren erschaffen wurde.“31
29 „Once grant that one genus may pass into each other. – grant that one instinct to be acquired […] & whole fabric totters & falls. – look abroad, study gradation. study unity of type – Study geographical distribution study relation of fossil with recent. the fabric falls! But Man – – wonderful Man. ‚divino ore versus coelum attentus […]‘ is an exception. – He is Mammalian. – his […] origin has not been indefinite – he is not a deity, his end will come […] then he is no exception. – he possesses some of the same general instincts, […] & […] feelings as animals. – they on other hand can reason – but Man has reasoning powers in excess. instead of definite instincts. – this is a replacements in mental machinery – so analogous to what we see in bodily. that […] it does not stagger me. – What circumstances may have been necessary to have made man! […] man, (rude, uncivilized man) might not have lived when certain other animals were alive, which have perished.“ (ebd., S. 263 f. [C 76-78]) 30 „Reflect much over my view of particular instinct being memory transmitted without consciousness . – an action becomes habitual is probably first stage, & an habitual action implies want of consciousness & will & therefore may be called instinctive. – But why do some actions become heredetary & instinctive & not others. – “ (ebd., S. 292 [C 171]). 31 „Man in his arrogance thinks himself a great work. worthy the interposition of a deity, more humble & I believe true to consider him created from animals. –“ (ebd., S. 300 [C 196 f.]); Hervorhebungen in der Übersetzung E.-M. E.
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„Unsere Abstammung ist also der Ursprung unserer bösen Leidenschaften!! – Der Teufel in Gestalt des Pavians ist unser Großvater!“32 „Die Affen verstehen die Ähnlichkeit mit dem Menschen besser als der prahlerische Philosoph selbst. Das zeigt sich vor allem bei alten männlichen Affen.“33 „Wenn man mich fragen würde, durch welche Macht der Schöpfer so verschiedenartige Tiere mit Denken ausgestattet hat, würde ich meine tiefe Unwissenheit bekennen. – Aber da ich solche erworbenen und erblichen Leidenschaften und solche bestimmten Gedanken sehe, werde ich nie anerkennen, dass der Mensch einen anderen Ursprung hat, weil es eine Kluft zwischen dem Menschen und anderen Tieren gibt.“34 „Der Ursprung des Menschen ist nun bewiesen. – Die Metaphysik muss aufblühen. – Wer den Pavian verstünde, würde mehr zur Metaphysik beitragen als Locke.“35 „Platon […] sagt im Phaidon, dass unsere ‚notwendigen Ideen‘ aus der Präexistenz der Seele entstehen und nicht aus Erfahrung ableitbar sind. – Lies ‚Affen’ statt ‚Präexistenz’.“36 „Oft wird behauptet, dass sich die Sprache beim Menschen sehr stark von der aller Tiere unterscheidet – aber überschätzt das nicht – Tiere kommunizieren miteinander. […] gleicherweise müssen sie wechselseitig ihre Ausdrucksformen, Laute und Signalbewegungen verstehen. – Einige sagen, dass Hunde den Gesichtsausdruck des Menschen verstehen […] Es ist nicht leicht zu wissen, inwieweit sie kommunizieren. – aber diese Fähigkeit, die Sprache zu verstehen, ist
32 „Our descent, then, is the origin of our evil passions!! – The Devil under form of Baboon is our grandfather! –“ (ebd., S. 550 [M 123]). 33 „The monkeys understand the affinities of man, better than the boasted philo sopher himself it is chiefly shown in old male. –“ (ebd., S. 553 f. [M 138]); Hin zufügung in brauner Tinte. 34 „If I be asked by what power the creator has added thought to […] so many animals of different types. I will confess my profound ignorance. – but seeing such passions acquired & heredetary & such definite thoughts, I will never allow that because there is a chasm between Man […] and animals that man has different origin.“ (ebd., S. 310 [C 222e-223]) 35 „Origin of man now proved. – Metaphysic must flourish. – He who understands baboon […] would do more towards metaphysics than Locke“ (ebd., S. 539 [M 84e]). 36 „Plato […] says in Phaedo that our ‚necessary ideas‘ arise from the preexistence of the soul, are not derivable from experience. – […] read monkeys for preexistence […] –“ (ebd., S. 551 [M 128]); Erasmus war Darwins älterer Bruder.
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beachtlich, so beim Zugpferd und beim Hund. – bei Vögeln gibt es viele Rufe, Affen teilen einander viel mit.“37 Ich bin versucht zu sagen, dass Handlungen, die durch Generationen hinweg notwendig gefunden wurden (wie Freundschaft mit anderen Tieren bei sozialen Tieren) jene sind, die gut sind und konsequenterweise Freude erzeugen […] Descent of Man Moral Sense“.38 Von besonderer Bedeutung für Darwins Denken ist die Philosophie des englisch-schottischen Empirismus, an erster Stelle David Hume.39 In Darwins Notizbüchern finden sich mehrfach Hinweise auf Humes erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Schriften: „Hume has section (IX) on the Reason of animals“.40 Auch „Hume’s essay on the Human Understanding“ sei „well worth reading“, und Darwin macht sich Notizen dazu.41 In Descent kommt er auf das Thema der Entstehung von Religion und auf Humes Ethik zurück. Dort äußert er sich auch zur Funktion der Religion. Auch Adam Smith wird verschiedentlich erwähnt, vor allem dessen Theorie der moralischen Gefühle. Hume unterstreicht die kognitiven Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier und ist in diesem Sinne ein wichtiger Vorläufer Darwins. Es ist anzunehmen, dass er Darwin mitbeeinflusst hat, ob37 „The distinction of language in man is very great from all animals – but do not overrate – animals communicate to each other. […] they likewise must understand each other expressions, sounds, & signal move ments. – some say dogs understand expression of man’s face. – […] How far they communicate not easy to know, – but this capability of understanding language is considerable, thus carthorse & dog. – birds many cries. monkeys communicate much to each other.“ (ebd., S. 542 f. [M 96 f.]) 38 „I am tempted to say that those actions which have been found necessary for long generation, (as friendship to fellow animals in social animals) are those which are good & consequently give pleasure […] Descent of Man Moral Sense“ (ebd., S. 552 [M 132e]). Der fett gedruckte Text „Descent of Man Moral Sense“ wurde von Darwin später hinzugefügt und bezieht sich auf das 3. Kapitel „Comparison of the Mental Powers of Man and the Lower Animals“ seines Werks Descent of Man, das in der 2. Auflage 1874 das 4. Kapitel ist. 39 Siehe hierzu auch W. B. Huntley, „David Hume and Charles Darwin“, in: Journal of the History of Ideas, 33/1972, S. 457-470; J. Hodge, Origins and Species. A Study of the Historical Sources of Darwinism and the Contexts of Some Other Accounts of Organics Diversity from Plato to Aristotle On, New York, London 1991; M. Vogt, Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg 1997; L. Arnhart, Darwinian Natural Right. The Biological Ethics of Human Nature, Albany 1998. 40 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 591 [N 401]. 41 Ebd., S. 559 [M 155].
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gleich sich dieser in Descent auf eine ganze Reihe von Naturforschern berufen kann, die sich aus ihren eigenen Beobachtungen und Überlegungen heraus zum Verhältnis von Intelligenz und Instinkt bei Tieren geäußert haben und für das Vorhandensein kognitiver Fähigkeiten bei Tieren argumentieren. Ohne das Wissen um Humes und Smiths Theorie des moral sense hätte Darwin den Verlauf der Evolution unserer moralischen und sozialen Fähigkeiten jedoch vermutlich anders konzeptualisiert. Darwin bezieht sich auf die Abschnitte „Skeptische Zweifel in betreff der Verstandestätigkeiten“, „Skeptische Lösung dieser Zweifel“ und „Über die Vernunft der Tiere“ aus Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand. Ihr Gegenstand ist unser Denken in kausalen Zusammenhängen.42 Dass wir Ereignisse aufgrund früherer Erfahrungen vorhersagen können, „eine Art prästabilierter Harmonie zwischen dem Laufe der Natur und der Abfolge unserer Vorstellungen“43 besteht, beruhe ausschließlich auf Gewohnheit oder Übung (custom or habit).44 Dieses „Prinzip der menschlichen Natur“ ist nach Hume für unsere Lebensbewältigung und die Erhaltung der menschlichen Spezies notwendig,45 so dass seine Ausübung nicht von der irrtumsanfälligen Vernunft, sondern von einem zuverlässigen Mechanismus zu erwarten ist. Zur zusätzlichen Bestätigung seiner Theorie verweist Hume auf die „übliche Weisheit der Natur“, wie sie sich auch bei Tieren äußert. Gerade das Beispiel instinktgeleiteter Tiere eignet sich dazu, die Bedeutung solcher Mechanismen zu demonstrieren.46 Hume versteht unter „Instinkt“ im engeren Sinne ein Wissen, das Tiere nicht durch Beobachtung lernen, sondern „ursprünglich aus der Hand der Natur empfangen“. Anhand von Beispielen zeigt er zusätzlich, dass Tiere wie der Mensch aus Erfahrung lernen und ableiten, dass gleiche Ereignisse aus den gleichen Ursachen folgen. Doch auch unsere menschliche, auf Erfahrung basierende Vernunfttätigkeit ist für Hume „eine Art von Instinkt oder mechanischer Kraft“. Angeborene Instinkte und zur Gewohnheit gewordene Vernunfttätigkeit als Quasiinstinkt erfüllen dieselbe Funktion für die Lebenserhaltung, wenngleich ihr Ursprung ein anderer ist. Diese
42 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 2005, S. 36. 43 Ebd., S. 68. 44 Ebd., S. 55. 45 Ebd., S. 68 f. 46 Ebd., S. 124, S. 126.
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„Weisheit der Natur“ eröffne jenen, die ein Interesse an der „Entdeckung und Betrachtung von Zweckursachen“ haben, ein weites Feld für Staunen und Bewunderung.47 Hume formuliert hier ein Forschungsprogramm, dessen Ausführung sich Darwin und die Evolutionäre Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts zum Ziel setzen, wobei Darwin und die Evolutionäre Erkenntnistheorie die Zweckmäßigkeit im Lebendigen nicht mehr durch Finalursachen, sondern durch natürliche Selektion erklären. Im Notizbuch C bezeichnet Darwin den Instinkt als „Gedächtnis, übertragen ohne Bewusstsein“.48 Auch verwendet er hierfür öfter den Ausdruck „erbliches Gedächtnis“ (heredetary memory).49 Dieser Begriff kommt dem Begriff des „Artgedächtnisses“ nahe, wie er etwa von Franck zur Bezeichnung der in den Erbanlagen eines Individuums liegenden Information für angeborene Verhaltensweisen verwendet wird.50 Humes Ansatz kommt Darwins Idee der evolutionären Kontinuität von Tier und Mensch und seiner Annahme „erblicher Gewohnheiten“ entgegen, wenngleich Hume selbst noch keine evolutionäre Perspektive einnimmt. Allerdings besteht für Darwin die Besonderheit des Menschen im Vergleich zu anderen Tieren in der „freien Intelligenz“ und im „freien Willen“ des Menschen. Mit dem Begriff der „freien Intelligenz“ hebt Darwin die Plastizität der kognitiven Leistungen im Unterschied zur Starrheit der Instinkte hervor. Für ihn ist damit auch ein freier Wille verbunden, denn er grenzt Handlungen aus freiem Willen von instinktivem, fixiertem, ungelehrtem (untaught) Verhalten ab. Dabei schließt er – bedingt durch den biologischen Wissensstand seiner Zeit – nicht die Möglichkeit aus, dass instinktgeleitetes Verhalten seinen starren Charakter im Laufe der Zeit verliert und umgekehrt intelligentes Handeln, das zur Gewohnheit geworden ist, in instinktives Verhalten übergeht. Darwin beansprucht damit nicht, das metaphysische Problem der Willensfreiheit tangiert zu haben. Probleme wie die des freien Willens und der Prädes-
47 Ebd., S. 68. 48 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 292 [C 171]. 49 Ebd., S. 614 f. [OUN 37, 38]. 50 D. Franck, Verhaltensbiologie. Einführung in die Ethologie, 2. überarb. Auflage, Stuttgart, New York 1985, S. 81 f.
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tination hält er für unlösbar.51 Wenn er von „freiem Willen“ spricht, so meint er wohl die in der Selbsterfahrung gegebene, unmittelbar erfahrbare Freiheit, sich Ziele zu setzen und diese im Handeln zu verfolgen. Solche spezifisch philosophischen Fragen im engeren Sinne werden von ihm auch eher berührt als diskutiert. Auch Hume hat auf einen Aspekt des Mentalen aufmerksam gemacht, der über gewohnheitsmäßiges Schließen hinausgeht und für Darwins Ethik wichtig ist, die Bedeutung der Imagination. Allerdings geht Darwin mit seiner Bestimmung der Aufgaben und Möglichkeiten der Vernunft über Hume hinaus.52
3. Darwins Abstammungstheorie Darwin bezeichnet seine Theorie als „theory of descent with modification through natural selection“, „Abstammungstheorie mit Abänderung durch natürliche Selektion“, und später korrekter als „theory of descent with modification through variation and natural selection“, wobei die Variation als wesentliches Element bereits von Anfang an in seiner Theorie enthalten ist. Wie kam Darwin zu seiner Theorie? Er geht von einer Analogie zwischen der Entstehung neuer Pflanzen- und Tierrassen durch Züchtung domestizierter Lebewesen und der Entstehung neuer Arten in der freien Natur aus. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die beobachtbare Praxis der Pflanzen- und Tierzucht mit ihrer Hervorbringung neuer Rassen. Diese Analogie wird von Darwin in Origin nicht weiter begründet, doch ist hier von einer Inspiration durch seine Lektüre von J. S. Sebright auszugehen.53 Ein zweiter Stützpfeiler für diese Analogie kann Herschels Analogieprinzip gewesen sein sowie dessen Methode zur Auffindung der „wahren Ursache“ eines Phänomens. Bei der vom Menschen durchgeführten künstlichen Selektion unterscheidet Darwin zwei Formen der Zuchtwahl, die „methodische“ und die „unbewusste Selektion“. Bei der ersten ist das Ziel die
51 Ch. Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domestication (1868), 2 Bde., 2. Auflage 1875, in: P. H. Barrett, R. B. Freeman (Hrsg.), The Works of Charles Darwin, Bd. 19 und 20, London 1988, Bd. 20, S. 371 f. 52 E.-M. Engels, Charles Darwin, München 2007, S. 184. 53 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 686 [C 133, D 179].
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Hervorbringung von Organismen, die sich für bestimmte Zwecke des Menschen besonders eignen. Durch fortgesetzte Auswahl der jeweils besten Individuen und ihrer Vermehrung verbessern sich die Organismen entsprechend den Zielvorstellungen der Züchter. Dabei sind folgende Elemente zentral: die individuellen Unterschiede zwischen den Organismen (individuelle Variation) einer Rasse, die bewusste Auswahl (Selektion) bestimmter Exemplare für die Zucht, die über die erwünschten Merkmale bereits verfügen, die Erblichkeit eines Großteils ihrer Merkmale (Vererbung), die Verhinderung von Rückkreuzungen (reproduktive Isolation) und die Möglichkeit, aus einer Stammrasse mehrere Rassen zu züchten (Vervielfältigung von Rassen). Züchter wählen diejenigen Organismen einer Rasse aus, die über bestimmte Eigenschaften (Merkmale) verfügen, welche für ihren jeweiligen Züchtungszweck nützlich sind, und bringen diese Individuen durch Paarung gezielt zur Vermehrung. Im Laufe eines generationenlangen Vererbungsprozesses setzen sich die vom Züchter ausgewählten Eigenschaften, sofern sie vererbbar sind, allmählich durch bzw. nehmen eine vom Züchter intendierte, besondere Ausprägung an. Um die jeweils erzielten Merkmalsveränderungen zu erhalten, muss die Kreuzung mit anderen Individuen, die nicht über die erwünschten Merkmale verfügen, verhindert werden, etwa durch Einzäunung. Aus einer Rasse lassen sich auch mehrere verschiedene Rassen züchten. „Der Schlüssel zu allem diesem ist das Vermögen des Menschen, immer wieder Individuen zur Zuchtwahl auszuwählen, kurz, sein akkumulatives Wahlvermögen. Die Natur schafft allmähliche Veränderungen, und der Mensch gibt ihnen die für ihn nützliche Richtung. In diesem Sinne kann er von sich sagen, er schafft sich selbst seine nützlichen Rassen.“54 Nach Darwin gibt es bei dieser künstlichen Selektion neben der oben beschriebenen „methodischen und absichtlichen“ Selektion eine zweite Form der Selektion, die er für seine theoretischen Zwecke für wichtiger hält. Diese bezeichnet er als „unbewusste und unbeabsichtigte“ Selektion. Die über einen längeren Zeitraum erfolgende gezielte Selektion auf die Verbesserung bestimmter Merkmale hin kann im Laufe von Jahrhunderten dazu führen, dass mit gezielten Zuchtbemühungen nicht nur die Individuen einer Rasse verbessert werden, sondern dass sich die Rasse als solche allmählich verändert. Dabei können auch verschiedene Stämme (strains) entstehen. Diese Zuchtwahl bezeichnet Darwin als „unbewusst“, „weil die 54 Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 59.
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Züchter das erzielte Resultat weder erwartet noch gewünscht haben können.“55 Darwin konzipiert die Entstehung von Arten in der freien Natur in Analogie zur künstlichen Selektion. Er charakterisiert den Aufbau seines Werkes Origin als eine „einzige lange Beweiskette“ (one long argument). Auch diese Theorie besteht aus fünf zentralen Elementen. Diese sind die Annahmen 1. der individuellen Variation, 2. der natürlichen Selektion, 3. der Vererbung, 4. des Gradualismus und 5. der Vervielfältigung von Arten (Divergenzprinzip). Er geht von der Beobachtung aus, dass es zwischen den Organismen einer Art immer individuelle Unterschiede oder Varianten gibt und damit auch unterschiedlich gute Anpassungen an die jeweiligen Umweltbedingungen. Diejenigen Organismen, die im Hinblick auf die jeweiligen Überlebenserfordernisse auf Grund ihrer Eigenschaften besser angepasst sind, d. h. zweckmäßiger ausgestattet sind als ihre Artgenossen, haben größere Überlebenschancen und können sich durchschnittlich erfolgreicher vermehren als die anderen, d. h. es findet eine natürliche Selektion der besser Angepassten statt. Ihre für das Überleben vorteilhaften Eigenschaften können sich daher über viele Generationen hinweg allmählich durch Vererbung anhäufen und sich dabei gegenüber den Merkmalen der Stammart zunehmend verändern. Dies ist nach Darwin ein sich graduell, nicht sprunghaft vollziehender Prozess. Er vertritt somit einen Gradualismus und lässt sich dabei vom naturphilosophischen Kontinuitätsmodell leiten, wonach die Natur keine Sprünge macht, „natura non facit saltum“.56 Dieser Vorgang führt nach Darwin zur Entstehung neuer Varietäten, Unterarten und schließlich zu neuen Arten. Dabei können aus einer Art mehrere verschiedene Arten hervorgehen (Divergenzprinzip). Die natürliche Selektion erfüllt also nicht nur die Funktion einer Erklärung des Aussterbens von Arten, sondern in erster Linie die konstruktive Funktion einer Erklärung der Entstehung neuer Arten.57 Ab der 5. Auflage verwendet Darwin neben 55 Ebd., S. 65; Ch. Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domesti cation, Bd. 19, S. 3, S. 196 f. 56 Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 265, S. 654. 57 Zur heutigen differenzierteren Sichtweise der Artentstehung und ihrer Mecha nismen sowie zu verschiedenen Artkonzepten siehe O. Betz, „Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität – Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer Sicht“, in: E.-M. Engels, O. Betz, H.-R. Köhler, T. Potthast (Hrsg.), Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften, Tübingen 2011, S. 89-119.
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dem Begriff der natürlichen Selektion auch den von Spencer geprägten Ausdruck „survival of the fittest“.58 Wodurch wird aber in der freien Natur die Auslese bewirkt, wo der bewusst planende und handelnde Züchter fehlt? Nach Darwin sind es die je spezifischen, überlebensrelevanten Herausforderungen, mit denen die Organismen einer Art unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen konfrontiert werden. Darwin bezeichnet diese Herausforderungen mit dem Begriff „struggle for life“ oder auch „struggle for existence“ und lässt sich dabei durch Malthus’ Bevölkerungsgesetz inspirieren, das er im September 1838 durch Lektüre von dessen Essay on the Principle of Population kennen lernt. Da sich die Anzahl der Individuen einer Art nach Darwin im Großen und Ganzen stabil hält, muss es in der Natur einen Mechanismus geben, der diese Stabilität bewirkt. Knappe Ressourcen, die bei Malthus ausschlaggebend sind, können dabei eine von vielen Äußerungsweisen dieses „struggle for existence“, des Ringens um die Existenz, sein, es sind aber nicht die einzigen. Darwin legt das Bevölkerungsgesetz weiter aus als Malthus selbst und fasst unter diesen Begriff sämtliche Bewährungsproben, denen Organismen während ihres Lebens ausgesetzt sind und die einen Einfluss auf Überleben und Fortpflanzung haben können. Dabei können die kleinsten Unterschiede, Varianten, zwischen den Lebewesen einer Art bzw. Population, ein „Körnchen in der Waagschale“, für Überleben und Fortpflanzungserfolg ausschlaggebend sein.59 Darwins Ausdruck „struggle for existence“ wurde vielfach missverstanden und dabei auf die Bedeutung eines schonungslosen Kampfes aller mit allen eingeengt. Darwin selbst weist jedoch von Anfang an auf das weite Bedeutungsspektrum des Begriffs hin, der je nach Lebenskontext die Konkurrenz zwischen Individuen derselben Art (innerartliche Konkurrenz), die Konkurrenz zwischen Individuen unterschiedlicher Arten (zwischenartliche Konkurrenz), das Ringen um die Existenz eines Lebewesens mit Umweltbedingungen 58 Bisweilen wird gegen die Evolutionstheorie auch mit Verweis auf den Ausdruck „survival of the fittest“ der Einwand erhoben, dass diese Theorie tautologisch und damit keine Theorie über Empirisches sei: der Ausdruck „survival of the fittest“ bedeute nichts anderes als „survival of the survivor“. Dieser Einwand ist jedoch nicht berechtigt, da sowohl die Definitionen von „survival“ und „fitness“ als auch die Kriterien ihrer Überprüfung unterschiedlich sind (vgl. hierzu E.-M. Engels, Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 133-140). 59 Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 650.
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(Trockenheit, Dürre, Kälte, Nässe usw.), das Hinterlassen von Nachkommenschaft und die Abhängigkeit der Lebewesen untereinander bedeuten kann. Der Begriff ist situationsspezifisch auszulegen, und es gibt demnach unterschiedliche Bewältigungsstrategien des Ringens um die Existenz, zu denen Konkurrenz ebenso gehört wie Kooperation, ein Aspekt, der in der russischen Darwin-Rezeption besonders hervorgehoben wurde.60 Begriffe wie „struggle for life“ und „war of nature“ wurden auch nicht von Darwin geprägt, sondern waren bereits geläufig, als er sein Buch verfasste. Der besondere Hinweis auf die Möglichkeit einer unbewussten Selektion bei der künstlichen Selektion bietet sich nach meiner Deutung für Darwin an, weil er damit auch die Funktionsweise der natürlichen Selektion erläutern und plausibel machen kann, wie neue Arten in der freien Natur entstehen können, wo kein Züchter vorauszusetzen ist. Wenn sich sogar bei einer künstlichen Selektion unter Beteiligung von Züchtern in jahrhundertelangen Zeiträumen neue, nicht beabsichtigte Stammformen entwickeln können, so gewinnt Darwins Theorie der natürlichen Selektion an Plausibilität. Denn Darwin muss erklären können, wie die zweckmäßige Ausstattung von Organismen in der Natur entstehen kann, in der keine bewusste Absicht auf Herauszüchtung bestimmter Merkmale vorauszusetzen ist. Obgleich der Züchter es nicht darauf abgesehen hat, bestimmte, für ihn nützliche Merkmale beim Tier zu züchten, kann es dennoch im Lauf langer Zeiträume als unbeabsichtigtes, „unbewusstes“ Nebenprodukt einer in anderer Absicht erfolgten Züchtung zu großen Veränderungen kommen.61 So unterteilt Darwin das Prinzip der Selektion „conveniently“ in drei Selektionsarten, die methodische, die unbewusste und die natürliche Selektion. „With domestic productions, Natural Selection comes to a certain extent into action, independently of, and even in opposition to, the will of man.“62
60 D. Todes, Darwin without Malthus. The Struggle for Existence in Russian Evo lutionary Thought, New York, Oxford 1989; D. Todes, „Darwins malthusische Metapher und russische Evolutionsvorstellungen“, in: E.-M. Engels (Hrsg.), Charles Darwin und seine Wirkung, Frankfurt a. M. 2009, S. 203-230. 61 Vgl. auch J. Secord, „Nature’s Fancy: Charles Darwin and the Breeding of Pigeons“, in: Isis, 72/1981, S. 163-186, hier S. 185. 62 Ch. Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domestication, Bd. 20, S. 153.
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4. Darwins Wissenschaftstheorie und Forschungsmethode Darwins Theoriebildung und -überprüfung erfolgt von Anfang an im Lichte wissenschaftstheoretischer Reflexionen, die sein gesamtes Schaffen durchziehen. Er ist von Herschels und Whewells Wissenschaftsphilosophie angetan, mit deren Werken er sich nachweislich befasst,63 so dass hier von einem direkten Einfluss auszugehen ist.64 Herschel und Whewell heben die Bedeutung von Induktion und Deduktion für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung hervor. Wissenschaft hat Naturgesetze unterschiedlicher Allgemeinheit zu entdecken und die „wahren Ursachen“ (verae causae) der Dinge im Sinne Newtons aufzuspüren, d. h. „causes recognized as having a real existence in nature, and not being hypotheses or figments of mind.“65 Für das Aufspüren solcher Ursachen ist nach Herschel die Analogie zentral. Sehen wir etwa, wie ein an einer Schnur befestigter Stein im Kreise herumgeschleudert wird und davonfliegt, wenn sie reißt, so ist für uns evident, dass die Kraft, welche den Stein zum Mittelpunkt richtet, die Spannung der Schnur war. „We have here the direct perception of the cause.“66 Wenn wir sehen, wie sich der Mond um die Erde bewegt und nicht davon fliegt, können wir nach Herschel nicht umhin anzunehmen, dass auch hier eine Kraft wirkt, die konstant auf das Zentrum gerichtet ist, auch wenn diese kein materielles Band ist.67 In dieser Allgemeinheit ist Herschels Aussage jedoch fraglich, da zunächst einmal die Vergleichbarkeit zwischen Phänomenen sichergestellt werden muss, bevor auf die Gemeinsamkeit ihrer Ursachen geschlossen werden kann.
63 Dies ist durch zahlreiche Quellen belegt, insbesondere durch Darwins Marginalia, seine Notizbücher und seine Korrespondenz: M. Di Gregorio, with the assistance of N. W. Gill (Hrsg.), Charles Darwin’s Marginalia, Bd. 1; P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks; F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1821–1836), Bd. 1, (1837–1843), Bd. 2 und weitere. 64 Vgl. auch E. Manier, The Young Darwin and his Cultural Circle, Dordrecht, Boston 1978; D. Hull, „Die Rezeption von Darwins Evolutionstheorie bei britischen Wissenschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts“, in: E.-M. Engels (Hrsg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 67-104. 65 F. Herschel, A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy, Fak simile der 1830er Edition, New York, London 1966, S. 144. 66 Ebd., S. 149. 67 Ebd.
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Kennzeichen eines wahren Naturgesetzes (true statement of any law of nature) ist es, „that the facts observed must follow from it as necessary logical consequences, and this, not vaguely and generally, but with all possible precision in time, place, weight, and measure.“68 Ein wahres Naturgesetz muss also Quantifizierbarkeit und Voraussagen ermöglichen. Für Whewell besteht die Stärke einer wissenschaftlichen Theorie darüber hinaus in ihrer Möglichkeit, Phänomene aus ganz unterschiedlichen Tatsachenbereichen aus gemeinsamen „wahren Ursachen“ zu erklären. Hierfür prägt er den Begriff „Übereinstimmung der Induktionen“ (consilience of inductions).69 „Dementsprechend gehören Fälle, in denen Induktionen von ganz unterschiedlichen Klassen von Tatsachen [classes of facts] auf diese Weise zusammengesprungen [jumped together] sind, nur zu den best etablierten Theorien der Wissenschaftsgeschichte […] ich werde sie Consilience of Inductions nennen.“70 Sowohl die Analogie als auch die Idee der „Übereinstimmung der Induktionen“ spielen in Darwins Forschungslogik nachweislich eine zentrale Rolle, und der Begriff „vera causa“ ist ihm geläufig.71 Darwin entwirft die natürliche Selektion nach Analogie zur künstlichen Selektion. Und er betont immer wieder die erklärende und integrative Kraft seiner Theorie. Im engen Sinn ist mit einer Voraussage die Prognose zukünftiger Ereignisse gemeint. In einem erweiterten Sinn ist dieser Begriff jedoch auch unabhängig von zeitlichen Verhältnissen anwendbar. Mit „Voraussage“ kann auch der Schluss von Prämissen auf zu Erwartendes gemeint sein, auf bereits existierende Phänomene, die noch zu entdecken oder zu verifizieren sind. Ob die Voraussage zutrifft, ist durch Erfahrung, Induktion, zu entscheiden. Voraussetzung hierfür sind eine Theorie und entsprechende Ausgangsbe dingungen. Beispiele sind die Voraussage des Vorhandenseins von Rudimenten in einem Organismus auf Grund seiner Abstammungsgeschichte, der Schluss auf die Funktion bestimmter Organe auf Grund ihrer Struktur und materiellen Beschaffenheit, der Schluss von einzelnen Knochenfunden auf den Organismus, dem
68 Ebd., S. 25. 69 W. Whewell, The Philosophy of the Inductive Sciences, 2 Bde., London 1840, Bd. 2, S. 230. 70 Ebd. 71 Ch. Darwin, On the Origin of Species (1859), Faksimile Cambridge (Mass.), Lon don 1964, S. 159, S. 352, S. 482.
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sie entstammen und von der Form eines Organismus auf seine Umwelt, in der er lebt. Diese Schlüsse nennt Charles S. Peirce „Hypothesen“, auch „Abduktionen“ oder „Retroduktionen“.72 Dieses Verfahren liegt auch Indizienbeweisen zugrunde, es ist die Methode von Sherlock Holmes.73 Bereits in seinen Notizbüchern sieht Darwin den Vorteil der Entdeckung von Naturgesetzen in ihren Erklärungs-, Voraussage- und Systematisierungsmöglichkeiten (u. a.).74 Die von ihm durchgängig mit seiner Theorie verfolgte Strategie besteht darin, durch Induktion eine Hypothese zu bilden und diese anschließend auf andere Phänomene anzuwenden, um zu überprüfen, ob sie sich damit erklären lassen.75 Doch auch der erste Schritt, die Beobachtung vieler Einzelphänomene, erfolgt bei Darwin bereits im Lichte einer Fragestellung. In seiner Autobiographie schreibt er zwar, dass er beim Anlegen seines ersten Notizbuchs streng nach Baconschen Prinzipien vorgegangen sei und ohne jede Theorie möglichst umfassend Tatsachen zusammengetragen habe.76 Dies ist jedoch missverständlich, und es kann nur damit gemeint sein, dass er noch keine spezielle Hypothese über die Mechanismen des Artenwandels hatte, dessen Existenz er jedoch als Hypothese bereits voraussetzt.77 Denn er äußert sich kritisch über Naturforscher, die ihre Aufgabe nur darin sehen, „die Kieselsteine zu zählen und Farben zu beschreiben“.78 In einem Brief an Henry Fawcett gibt Darwin diesem eine positive Rückmeldung auf das Manuskript seiner Rede vor der British Association for the Advancement of Science in Manchester über Darwins Origin und die darin befolgte Methode, mit der Fawcett eine Kontroverse auslöste: „Sie werden einen guten Dienst erwiesen haben, indem Sie Naturwissenschaftler auf die Mittel und Gesetze des Philosophierens 72 Ch. S. Peirce, Zur Entstehung des Pragmatismus, in: Ch. S. Peirce, Schriften, Bd. 1, hrsg. von K.-O. Apel, Frankfurt a. M. 1991; J. von Kempski, Charles Sanders Peirce und der Pragmatismus, Stuttgart, Köln 1952. 73 T. Sebeok, J. Umiker-Sebeok, „Du kennst meine Methode“. Charles Sanders Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt a. M. 1982. 74 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 280, S. 281, S. 283, S. 355 [C 135, C 138, C 145, D 67]. 75 Ebd., S. 370 [D 117]. 76 Ch. Darwin, Mein Leben 1809-1882, S. 128 f. 77 M. T. Ghiselin, The Triumph of the Darwinian Method, Mineola, New York 2003, S. 33. 78 F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1861), Bd. 9, Cambridge 1994, S. 269.
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aufmerksam machen. Soweit ich es von den Vorträgen her beurteilen konnte, waren Ihre Gegner Ihrer unwürdig. […] Wie hochgradig ignorant muss B. über die eigentliche Natur der Beobachtung sein! Etwa vor dreißig Jahren wurde viel darüber gesprochen, dass Geologen nur beobachten und nicht theoretisieren sollten; und ich erinnere mich gut daran dass jemand sagte, dass in diesem Fall jemand ebenso gut in eine Kiesgrube gehen, die Steine zählen und die Farben beschreiben könne. Wie skurril es ist, dass jemand nicht sehen sollte, dass alle Beobachtung für oder gegen eine Ansicht sein muss, um überhaupt von Nutzen zu sein!“79 Von seiner Weltreise ist er auf Grund der dort gesammelten Erfahrungen mit großen Fragen zurückgekehrt, und die von ihm entdeckten Phänomene ließen sich nur erklären, wie er selbst schreibt, wenn man von der Annahme des Artenwandels ausging.80 Er sammelt also bereits im Lichte seiner Abstammungshypothese alles, was ihm für deren Untermauerung dienlich sein konnte. Für ihn kann niemand ein guter Beobachter sein, ohne zugleich ein aktiver Theoretisierer zu sein.81 Bei seiner Lektüre von Whewell macht er sich die Notiz: „Alle Wissenschaft ist Vernunft, die nach Prinzipien vorgeht, systematisiert.“82 Darwin „machte sich zum Anwalt eines neuen Gleichgewichtes zwischen Theorie und sorgsamer Beobachtung von Tatsachen in den Naturwissenschaften und befürwortete eine rigorose Bindung an Experimente.“83 Da Darwin bereits Ende der dreißiger Jahre von einer Analogie zwischen künstlicher und natürlicher Selektion ausging, bildete die Tier- und Pflanzenzucht mit der sich darin manifestierenden Breite an Varietäten eine wichtige empirische Grundlage für die 79 „You will have done good service in calling the attention of scientific men to means and laws of philosophising. As far as I could judge by the papers, your opponents were unworthy of you [...] How profoundly ignorant B must be of the very soul of observation! About thirty years ago there was much talk that geologists ought only to observe and not theorise; and I well remember some one saying that at this rate a man might as well go into a gravel-pit and count the pebbles and describe the colours. How odd it is that anyone should not see that all observation must be for or against some view if it is to be of any service!“ (ebd., S. 269; Hervorhebung in der Übersetzung E.-M. E.). 80 Ch. Darwin, Mein Leben 1809-1882, S. 128. 81 F. Darwin, The Life and Letters of Charles Darwin, Bd. 1, 3. Auflage, London 1887, S. 149. 82 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 567 [N 14]. 83 J. O. Wisdom in Ch. Darwin, Mein Leben 1809-1882, S. 174 f.
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Ausarbeitung seiner Theorie. Darwins eigenes Experimentierfeld war vor allem die Taubenzucht, die im England des 19. Jahrhunderts sehr populär und institutionell organisiert war und vielfältige Anlässe für den Austausch mit Experten bot. Darwin wurde Mitglied zweier Londoner Taubenclubs und machte sich drei Jahre lang ihren konzeptionellen Denkstil und ihre Praxis zu eigen.84 Da Darwin für seine Theorie jedoch eine breite Erfahrungsgrundlage mit verschiedensten Tieren benötigte und er nicht alle Experimente selbst machen konnte, war er auf Erfahrung anderer aus einzelnen Bereichen angewiesen. Daher entwickelte er Fragebogen zu verschiedenen Themen, sowohl zur Fundierung seiner allgemeinen Abstammungstheorie, wozu vor allem die Fragen zum „Breeding of Animals“85 dienten, als auch zur speziellen Frage des Ausdrucks der Gefühle bei Menschen und Tieren für sein Buch Expression of the Emotions in Man and Animals (vgl. 5.2). Diese Fragebogen sandte er an zahlreiche Tierzüchter und Landwirte. Auch pflegte Darwin einen ausgedehnten Briefwechsel mit Menschen in aller Welt, um Informationen über ihre jeweiligen Forschungsgegenstände zu erhalten. Die Korrespondenz stellte für Darwin geradezu eine Forschungsmethode dar. „So umfangreich die Studien zum Darwinismus in Europa und anderswo auch gewesen sein mögen, sie beziehen sich nur auf einige wenige von mehreren Tausend Personen, mit denen Darwin während seiner Laufbahn korrespondierte. […]86 Darwin warf sein Netz extrem weit aus in seinem Bemühen, Informationen und Unter84 J. Secord, „Nature’s Fancy: Charles Darwin and the Breeding of Pigeons“; J. Secord, „Darwin and the Breeders: A Social History“, in: D. Kohn (Hrsg.), The Darwinian Heritage, Princeton 1985, S. 519-542. Siehe auch J. Browne, The Power of Place. Charles Darwin, New York 2002, darin vor allem Part Two: „Experimenter“, S. 163-321. 85 R. B. Freeman, P. J. Gautrey, „Darwin’s Questions about the Breeding of Animals, with a Note on Queries about Expression“, in: Journal of the Society for the Bibliography of Natural History, 5(3)/1969, S. 220-225. 86 P. J. Bowler, „Scientific Attitudes to Darwinism in Britain and America“, in: D. Kohn (Hrsg.), The Darwinian Heritage, Princeton 1985, S. 641-681; P. Corsi, P. J. Weindling, „Darwinism in Germany, France and Italy“, in: D. Kohn (Hrsg.), The Darwinian Heritage, Princeton 1995, S. 683-730; E.-M. Engels (Hrsg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995; T. F. Glick (Hrsg.), The Comparative Reception of Darwinism: With a New Preface, Chicago, London 1988; T. F. Glick, M. A. Puig-Samper, R. Ruiz (Hrsg.), The Reception of Darwinism in the Iberian World: Spain, Spanish America and Brazil, Dordrecht, London 2001; F. Scudo, F. M. Acanfora, M. Acanfora, „Darwin and Russian Evolutionary Biology“, in: D. Kohn (Hrsg.), The Darwinian Heritage,
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stützung für seine verschiedenen Forschungen zu sammeln. Von Anbeginn pflegte er Beziehungen zu Personen mit unterschiedlichem Hintergrund, Beruf und Stand. Darwins Korrespondenz mit Taubenzüchtern und -liebhabern, von denen einige Künstler waren, ist wohlbekannt […]. Er korrespondierte auch mit Gärtnern und Experten aus Baumschulen, Ingenieuren, Missionaren und Kolonialbeamten, Naturforscherinnen, Erziehern und Sozialreformern [...].87 All diese höchst verschiedenartigen und höchst regionalen Antworten auf Darwin können in unserer Rezeptionsgeschichte berücksichtigt werden zusammen mit Überlegungen zu den institutionellen, disziplinären und politischen Kontexten […]88.“89 So schrieb Darwin 1838 an seinen Cousin zweiten Grades, William Darwin Fox: „I am delighted to hear, you are such a good man, as not to have forgotten my questions about the crossing of animals. It is my prime hobby & I really think some day, I shall be able to do something on that most intricate subject species & varieties.“90 Darwin befasste sich zu dieser Zeit intensiv mit der Frage der Artentstehung und dem Verhältnis von Varietäten und Arten. Von Fox erhält er einen ausführlichen Brief über das Ergebnis seiner „enquiries about Dogs, Geese, &c, which you requested me to see about.“91 Fox geht dabei in die Details. Wir erfahren von ihm, dass Züchtungsversuche manchmal an persönlichen Besonderheiten der Tiere scheitern. So war der Ganter eines Paares kanadischer Gänse so schüchtern, dass er nie seinen „ehelichen Pflichten“ („Marital Duties“) nachkommen wollte, so dass ein gemeiner Ganter („Common Gander“) diese für ihn übernahm. Doch nur im ersten Jahr kamen fünf Junge zur Welt, deren Gefieder eher dem kanadischen als dem gemeinen Ganter ähnelte. Im darauffolgenden Jahr waren fünf Eier aus einem Gelege von sechs Eiern faul, und es gab nur ein überlebendes Tier. Auch von den Paarungen zwischen chinesischem
87 88 89 90 91
Princeton 1985, S. 731-752; J. Secord, „Nature’s Fancy: Charles Darwin and the Breeding of Pigeons“; J. Secord, „Darwin and the Breeders: A Social History“. F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1861), Bd. 9. Siehe hierzu die Beiträge zur Darwin-Rezeption in den verschiedensten Ländern Europas: E.-M. Engels, T. F. Glick (Hrsg.), The Reception of Charles Darwin in Europe, 2 Bde., London, New York 2008. P. White, „Korrespondenz als Medium der Rezeption und Aneignung“, in: E.-M. Engels (Hrsg.), Charles Darwin und seine Wirkung, Frankfurt a. M. 2009, S. 5879, hier S. 60. F. Burkhardt, et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1837–1843), Bd. 2, Cambridge 1986, S. 92. Ebd., S. 111 f.
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Ganter und gemeiner Gans und den Fortpflanzungserfolgen und -misserfolgen der jeweiligen Kombinationen berichtet Fox. Darwin erfährt von Fox auch, dass einer seiner besten Hundejungen und dessen Nachkommen immer an derselben Stelle einen Knoten im Schwanz („Knot in the tail“) hatten, bis Fox endlich eine Kreuzung mit einem von Lord Aylesfords Bluthunden gelang und damit der Knoten verschwand.92 Auch von Domestikationserfolgen bei Kühen und Ochsen erfährt Darwin aus seiner Korrespondenz. William Yarrell schreibt ihm im Dezember 1838 hierzu ein „Zoological memorandum“.93 In einem weiteren Brief informiert er Darwin über seine Kreuzungsexperimente mit verschiedenfarbigen Angorakaninchen und über die Farbe ihrer Nachkommen. Auch über Kreuzungsversuche mit Schweinen wird berichtet, wobei hier die Aufmerksamkeit auf den unterschiedlichen Fußformen, „undevided“ und „devided feet“, liegt.94 Darwin formulierte einen Katalog von 21 „Questions on the Breeding of Animals“,95 den er 1839 druckte und verteilte. Bekannt sind die Repliken zweier Korrespondenten, George Tollet und Richard Sutton Ford, die beide Erfahrung in der Tierzucht hatten und Darwins Fragen, wenn auch nicht komplett, beantworteten.96 Darwins Fragenkatalog an Mr. Wynne zeigt die breit gefächerten evolutionsbiologischen Interessen, die Darwin bereits 1838 hatte,97 ebenfalls seine „Questions & Experiments“ von 1842, die er an Pflanzen- und Tierzüchter richtet.98 Nach Peter Vorzimmer weisen Darwins Fragen darauf hin, dass Darwin bereits Arbeitshypothesen gebildet hatte und von den Antworten auf seine Fragen Bestätigungen oder Widerlegungen erwartete.99 Darwins Forschungslogik, die sich in der Bildung, Untermauerung und Überprüfung seiner Theorie konkretisiert, ist ein beispiel92 93 94 95 96 97 98 99
Ebd., S. 111. Ebd., S. 134. Ebd., S. 141. Ch. Darwin, „Questions about the Breeding of Animals“, in: F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 2, S. 446-449. Die Antworten von George Tollet und Richard Sutton Ford sind abgedruckt in F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 2, S. 187192. Ch. Darwin, „Questions for Mr Wynne“, in: F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 2, S. 70 f. Ch. Darwin, „Questions & Experiments“, in: P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 489-516. P. Vorzimmer, „Darwin’s Questions About the Breeding of Animals (1839)“, in: Journal of the History of Biology, 2/1969, S. 269-281.
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haftes wissenschaftstheoretisches Lehrstück, das zugleich lebendige Wissenschaft im Vollzug darstellt. Hier wird eine gemischte Strategie angewandt. Induktive, abduktive, deduktive Verfahren sowie Intuition, sind einzeln und in ihrer Verknüpfung unverzichtbar. In Übereinstimmung mit Herschels und Whewells Methodologie leitet Darwin nach Aufstellung seiner Theorie aus ihr Hypothesen ab, die er wiederum an der Erfahrung überprüft. Huxley identifiziert Darwins hypothetisch-deduktive Methode anerkennend als das von Mill in seinem „bewundernswerten Kapitel“ über die „deduktive Methode“ beschriebene Verfahren.100 Darwin gibt auch an, welche Phänomene seine Theorie widerlegen („annihilate“) würden, wann sie „völlig zusammenbrechen“ würde („absolutely break down“).101 Er fordert, seine Theorie unter dem Aspekt ihres Lösungspotentials und ihrer Möglichkeit, Verbindungen von Fakten herzustellen, zu beurteilen.102 Sie hat eine größere Erklärungskraft als andere Ansätze. „In scientific investigations it is permitted to invent any hypothesis, and if it explains various large and independent classes of facts it rises to the rank of a well-grounded theory.“103 Für Darwins Zeitgenossen Hermann von Helmholtz besteht die Bedeutung dieses „wesentlich neuen schöpferischen Gedankens“ nicht zuletzt darin, die Ergebnisse verschiedener Einzeldisziplinen, die bislang als „Anhäufung räthselhafter Wunderlichkeiten“ schienen, in einen systematischen Zusammenhang bringen zu können.104 All dies dient dazu, Darwins Theorie zu bestätigen („corroborate“).105 Durch die historische Betrachtungsweise der Abstammungstheorie lassen sich nach Cassirer systematische Probleme der Biologie lösen, indem die Erklärung des Werdens von Organismen das Verständnis ihrer Struktur eröffnet.106 Darüber hinaus gelingt es Darwin, bereits 100 Th. H. Huxley, „The Origin of Species“ (1860), in: T. H. Huxley, Darwiniana. Collected Essays (1893), Bd. 2, New York 1968, S. 22-79, hier S. 72. 101 Ch. Darwin, On the Origin of Species (1859), S. 201, S. 189. 102 P. H. Barrett, P. J. Gautrey, S. Herbert, D. Kohn, S. Smith (Hrsg.), Charles Darwin’s Notebooks, S. 356 [D 71]. 103 Ch. Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domestication, Bd. 1 (Vol. 19), S. 7. 104 H. von Helmholtz, „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft“ (1869), in: H. von Helmholtz, Das Denken in der Naturwissenschaft, Darmstadt 1968, S. 31-61, hier S. 54. 105 Ch. Darwin, On the Origin of Species (1859), S. 243. 106 E. Cassirer, „Der Darwinismus als Dogma und als Erkenntnisprinzip“, in: E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4, Darmstadt 1973, S. 167-182, hier S. 177 ff.
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existierende Erfahrungen und Hypothesen, wie die der Variation, Selektion, des „struggle for existence“, zu einer Theorie zu synthetisieren. Liest man Darwins historischen Abriss über seine zahlreichen Vorläufer am Anfang von Origin, fragt man sich zunächst, worauf sich Darwins Ruf als wissenschaftlicher Revolutionär begründet. Die Antwort ist, dass niemand vor ihm diese Einzelelemente in eine überzeugende Gesamttheorie zu integrieren vermochte.107 Aus diesen Gründen sieht Ghiselin Darwins besondere Leistung auf methodologischem Gebiet.108 Darwin hatte mit seiner Theorie zugleich ein „langfristig angelegtes Forschungsrahmenprogramm für die gesamte Biologie entworfen, dessen konkrete Umsetzung und Ausfüllung bis heute nicht an Attraktivität verloren hat.“109 Er leistete selbst auf zahlreichen Gebieten einen substanziellen Beitrag zur Naturgeschichte und gab zugleich den Anstoß zu zahlreichen neuen Forschungsprogrammen und fruchtbaren Fragestellungen. Darwin wendet die hypothetisch-deduktive Methode auch auf den Kreationismus an und zeigt, dass die aus ihm abzuleitenden Schlüsse nicht mit der Erfahrung übereinstimmen. Zudem lassen sich mit Hilfe seiner eigenen Theorie zahlreiche Phänomene erklären, die für die Lehre der Sonderschöpfungen Anomalien darstellen, d. h. für sie unerklärlich bleiben. Auch seinem Freund, dem renommierten amerikanischen Botaniker und Naturtheologen Asa Gray (1810–1888), beschreibt er diese methodologischen Vorzüge seiner Theorie.110 Er hebt auch die Übereinstimmung seiner Theorie mit dem Sparsamkeitsprinzip hervor, wonach nicht mehr Entitäten oder Annahmen zur Erklärung von etwas vorauszusetzen sind als nötig, und führt hier Pierre-Louis Maupertuis (1698–1759) als Gewährsmann an. Diesem Prinzip fällt auch Jean-Baptiste Lamarcks Annahme eines inneren Willens („sentiment intérieur“) des Tieres zur Erklärung des Artenwandels zum Opfer, die zudem nicht überprüfbar ist. Von zahlreichen Zeitgenossen, so auch von dem Bota107 Vgl. auch G. de Beer, Charles Darwin. Evolution by Natural Selection, S. 95 f. 108 M. T. Ghiselin, The Triumph of the Darwinian Method; vgl. auch D. Livingstone, Darwin’s Forgotten Defenders, Vancouver 1984, S. 37 ff. 109 Siehe auch E.-M. Engels, „Darwin, der ‚bedeutendste Pfadfinder‘ der Wissen schaft des 19. Jahrhunderts“, in: S. Samida (Hrsg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 213243, hier S. 237. 110 F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1858–1859), Bd. 7, Cambridge 1991, S. 445 f.
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niker Matthias J. Schleiden (1804–1881), wird Darwins Theorie wegen ihrer Einfachheit mit dem Ei des Columbus verglichen.111 Dem Einwand, dass seine Theorie keiner direkten Bestätigung fähig sei, begegnet Darwin, wie auch sein Advokat Huxley, mit dem Verweis auf eine andere akzeptierte Theorie, die Wellentheorie des Lichts, deren Stärke wie seine Theorie ebenfalls in der Erklärung und Harmonisierung einer Reihe andernfalls disparater Klassen von Fakten liege. Darwin erinnert auch an die Kontroverse zwischen Leibniz und Newton über das Wesen der Anziehungskraft und die damaligen Debatten über „okkulte Qualitäten“.112 Die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts hat das generelle Problem einer direkten Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Theorien deutlich gemacht. Imre Lakatos zeigte mit seinem über Karl Popper hinausgehenden Ansatz eines „raffinierten Falsifikationismus“, dass Theorien noch nicht aufgegeben werden müssen, wenn es reproduzierbare Ereignisse gibt, die ihnen widersprechen, sondern dass sie erst dann abgelöst werden, wenn eine bessere Theorie verfügbar ist. In diesem Sinne wurde mit Darwins Theorie eine progressive Problemverschiebung vollzogen, d. h. sie hatte eine größere Erklärungskraft als ihre Vorgänger und ermöglichte neuartige Voraussagen.113 Darwin selbst war sich der revolutionären Bedeutung seiner Theorie schon früh bewusst. Seine Worte an Huxley lesen sich wie eine Vorwegnahme der Überlegungen von Thomas S. Kuhn: „[…] wenn meine Sichtweise jemals allgemein akzeptiert wird, wird dies durch die jungen heranwachsenden Männer sein, welche die alten Arbeiter ersetzen werden, und dadurch, dass die Jungen entdecken, dass sie auf der Basis des Abstammungsbegriffs besser Fakten anordnen und neue Forschungswege aufspüren können als auf der Grundlage der Schöpfungslehre.“114 111 M. J. Schleiden, Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur, Leipzig 1863, S. 39; K. B. Heller, Darwin und der Darwinismus, Wien 1869, S. 26 f.; G. Seidlitz, Die Darwin’sche Theorie. Elf Vorlesungen über die Entstehung der Thiere und Pflanzen durch Naturzüchtung, Dorpat 1871, S. 18. 112 Ch. Darwin, The Origin of Species by means of Natural Selection, or the Pre servation of Favoured Races in the Struggle for Life (1876), in: P. H. Barrett, R. B. Freeman (Hrsg.), The Works of Charles Darwin, Bd. 16, London 1988, S. 439. 113 I. Lakatos, „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungs programme“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfort schritt, Braunschweig 1974, S. 89-189, hier S. 115 f. 114 F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1860), Bd. 8, Cambridge 1993, S. 507. Vgl. auch Watson an Darwin zum revolutio
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Die Idee der natürlichen Selektion erfüllte wichtige methodologische Leitfunktionen in der Biologie des 19. Jahrhunderts:115 Erstens beförderte sie die Durchsetzung der Deszendenztheorie als einer naturwissenschaftlichen Theorie, die ohne metaphysische Hilfshypothesen auskommen konnte, indem sie einen kausal und mathematisch beschreibbaren Mechanismus der Artentstehung angab. Denn Darwins Ausdruck „Kampf ums Dasein“ war eine Metapher für eine mathematisch beschreibbare Relation zwischen zwei unterschiedlich schnell wachsenden Größen, der Reproduktionsrate von Organismen und der Zunahme von Subsistenzmitteln. Das Selektionsprinzip wurde daher in der Rezeption in erster Linie in seiner Funktion der naturwissenschaftlichen Fundierung der Deszendenztheorie betrachtet, als eine „Hilfstheorie der Abstammungslehre“.116 Darwin hatte den Weg gewiesen, wie eine naturwissenschaftliche Begründung der Abstammungstheorie aussehen könnte, selbst wenn es dieser speziellen Variante vielen noch an Überzeugungskraft zu fehlen schien. Zweitens erfüllte Darwins Selektionstheorie eine wichtige heuris tische Funktion für die Definition biologischer Forschungsprogramme. So wurde Darwin metaphorisch als der „bedeutendste Pfadfinder“ der Wissenschaft im 19. Jahrhundert bezeichnet.117 Darwins Hypothese bezeichne einen „nicht blos methodischen, sondern einen die wissenschaftliche Erkenntniß wesentlich erweiternden Fortschritt“.118 Drittens wurde immer wieder die Integrationsfunktion der Darwinschen Theorie hervorgehoben. Die Ergebnisse verschiedener
115 116 117 118
nären Charakter von Darwins Theorie in F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Cor respondence of Charles Darwin (1858–1859), Bd. 7, Cambridge 1991, S. 385. Siehe auch E.-M. Engels, „Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen“, in: E.-M. Engels (Hrsg.), Die Rezeption von Evolu tionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 13-66. W. Stempell, „Zur Erinnerung an Darwin“, in: Sitzungsberichte der Medi zinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft zu Münster i. W. Hauptver sammlung am 12.2.1909, S. 1-10, hier S. 4. A. Dodel-Port, „Charles Robert Darwin, sein Leben, seine Werke und sein Erfolg“, in: Die Neue Zeit, 1/1883, S. 105-119, hier S. 105. J. V. Carus, „In Memoriam!“, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, 45/1882, S. 269-274, hier S. 272. Dieser Aspekt kommt im 20. und 21. Jahrhundert in den Arbeiten von Daniel Todes deutlich zum Ausdruck: D. Todes, Darwin without Malthus. The Struggle for Existence in Russian Evolutionary Thought; D. Todes, „Darwins malthusische Metapher und russische Evoluti onsvorstellungen“.
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biologischer Einzeldisziplinen konnten nun in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden.119 Die Bedeutung dieser Theorie wurde darin gesehen, ein „Ariadnefaden in dem Labyrinth der erdrückenden Fülle von Einzeltatsachen zu sein, die das organische Reich bietet“.120 Darwins theoretische Leistung und deren Wirkung beschränkt sich damit nicht auf die biologischen Fachdisziplinen. Für Darwin gehört der Mensch einschließlich seiner kognitiven, sozialen und moralischen Fähigkeiten von Anfang an zum intendierten Anwendungsbereich seiner Theorie, und zwar bereits zu einer Zeit, als diese Theorie noch in Entstehung begriffen ist. Sigmund Freud, der zu Darwins prominentesten Anhängern gehörte und mit diesem verglichen wurde, zählt Darwin zu denjenigen, durch welche die „narzißtische Illusion“ der Menschheit zerstört worden sei, und er spricht in diesem Zusammenhang von den drei „Kränkungen“ der naiven Eigenliebe des Menschen, der kosmologischen Kränkung durch Kopernikus, der biologischen durch Darwin und der psychologischen durch seine eigene Theorie.121
5. Darwins Vergleichende Verhaltensforschung, Anthropologie und Ethik Darwins Abstammungstheorie eröffnete für das Verständnis des Lebendigen, von Pflanzen, Tieren und Menschen, eine neue Gesamtperspektive, wobei in diesem Beitrag die Konzentration auf dem Verhältnis von nichtmenschlichen und menschlichen Tieren 119 Zu diesen Aspekten s. auch H. von Helmholtz, „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft“ (1869). Die konzeptionelle Integrationsfunktion, die gerade Darwins „Deszendenz-Theorem“ für die Zoologie des 19. Jahrhunderts zukam, hat Wolfgang Maier am Beispiel der Wirbeltier-Morphologie, insbe sondere anhand der Schriften von Carl Gegenbaur, erläutert. Siehe W. Maier, „Wirbeltier-Morphologie im 19. Jahrhundert; erläutert an den Schriften von Carl Gegenbaur (1826-1903)“, in: W. F. Gutmann, D. Mollenhauer, D. S. Peters (Hrsg.), Morphologie & Evolution, Senckenberg-Buch 70, Frankfurt a. M. 1994, S. 41-53. 120 H. Potonié, „Charles Darwin zu seinem hundertsten Geburtstag“, in: Natur wissenschaftliche Wochenschrift, Neue Folge 8, 24(7)/1909, S. 97-101, hier S. 98. 121 S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), in: S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1966, S. 294 f.
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liegt. In seinen Werken Descent of Man und The Expression of the Emotions in Man and Animals122 verbindet er die Evolution des Menschen mit der Naturgeschichte anderer Tiere. Dabei stützt er sich auf das Prinzip der Kontinuität, das eine lange Tradition hat. Im Kontext seiner Theorie wird dieses statische Prinzip jedoch dynamisch. Die verschiedenen Arten sind nach Darwin durch ihre Evolutionsgeschichte miteinander verbunden. Menschen sind eine Tierart, die von vormenschlichen Tieren abstammt und deren stammesgeschichtliche Erfahrung durch Vererbung geradezu einverleibt hat. Dies betrifft auch den Ursprung der kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Menschen. Menschen teilen bestimmte Merkmale mit anderen ausgestorbenen oder noch lebenden Tieren durch eine gemeinsame Abstammung. Der Mensch einschließlich seiner kognitiven und sozialen Fähigkeiten wird in diesen Evolutionszusammenhang eingebettet und in seiner Entstehung von dort her erklärt. Die Erkenntnis dieses verwandtschaftlichen Zusammenhangs führte zur Herausbildung neuer interdisziplinärer Ansätze, wie den der Vergleichenden Verhaltensforschung, der Evolutionären Erkenntnistheorie, der Evolutionären Ethik, der evolutionären Anthropologie, der Soziobiologie und anderer. Damit stellten sich auch innerhalb der Philosophie Herausforderungen für Ethik, Erkenntnistheorie und philosophische Anthropologie. Mit der Herausbildung von Molekularbiologie und Genetik und der Entdeckung der Universalität des genetischen Codes wurde ein weiterer Meilenstein in der Erkenntnis dieses verwandtschaftlichen Zusammenhangs zwischen dem Menschen und der gesamten lebendigen Natur gesetzt. Damit konnte auch auf der Ebene der genetischen Information die evolutionäre Zusammengehörigkeit der Organismen demonstriert werden.123 Das Genom von Organismen der verschiedensten Arten ist aus denselben molekularen Bausteinen oder „Buchstaben“ zusammengesetzt, wobei die Vielfalt des Lebendigen durch deren unterschiedliche Zusammensetzung zu „Wörtern“ und „Texten“ entsteht. Molekularbiologische Methoden werden heute auch zur Rekonstruktion von Stammbäumen angewandt, um neben den traditionellen morphologischen und palä122 Für Darwin ist dieser Zusammenhang auch in seinen anderen Schriften allge genwärtig. Ich greife diese beiden heraus, weil Darwin hier die Verwandtschaft des Menschen mit anderen Tieren zum Schwerpunkt macht. 123 Zur Allgemeingültigkeit des genetischen Codes trotz vereinzelter Abwei chungen vgl. W. Hennig, Genetik, Berlin, Heidelberg, New York, 1995, S. 255 f.
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ontologischen Methoden noch auf anderem Wege Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Organismengruppen nachzuweisen. Hierdurch wird eine Reihe neuer Fragen für Anthropologie, Vergleichende Verhaltensforschung, Ethik, Naturphilosophie und andere Disziplinen aufgeworfen. Die Verwandtschaft des Menschen mit der übrigen lebendigen Natur, die durch die Evolutionstheorie, Genetik, Zellbiologie, Neurowissenschaften usw. gestützt wird,124 macht es auf eine andere Weise als bisher notwendig, die Stellung des Menschen in der Natur in seinem Verhältnis zu den übrigen Lebewesen zu reflektieren und diese damit auch neu zu bestimmen. Zahlreiche Fähigkeiten, die Jahrhunderte lang dem Menschen vorbehalten schienen, lassen sich nun durch ihre abstammungs- und evolutionstheoretische Erklärung neu deuten. Vogel spricht in seiner Einführung zur Kröner-Ausgabe von Darwins Die Abstammung des Menschen kritisch von den „uns heute teilweise geradezu rührend-naiv anmutenden ‚vermenschlichenden’ Vor- und Darstellungen tierischen Verhaltens“ und führt diese „Anthropomorphismen in der Interpretation tierischen Verhaltens“ darauf zurück, „daß Darwin weitgehend auf dilettantische Berichte angewiesen war und daß es eine ‚Ethologie‘ im Sinne einer modernen biologischen Wissenschaft mit strengen Dokumentations- und Interpretationskriterien tierischen Verhaltens seinerzeit noch nicht gab.“125 Dem ist entgegenzuhalten, dass im Rahmen eines evolutionstheoretischen Ansatzes nicht jede Beschreibung von Tieren unter Verwendung mentaler und emotiver Kategorien eine unzulässige Übertragung menschlicher Eigenschaften auf andere Tiere darstellt. Der Vorwurf des Anthropomorphismus, mit dem viele schnell bei der Hand sind, wenn bei Tieren kognitive, psychische und soziale Fähigkeiten beschrieben werden, verliert für weite Bereiche seine Berechtigung. Wenn wir auch für Tiere Empfindungs- und Erkenntnisfähigkeiten annehmen, stellt dies keine unzulässige Übertragung menschlicher Eigenschaften auf das Tierreich dar. Nach der Logik 124 Siehe die Beiträge in E.-M. Engels (Hrsg.), Charles Darwin und seine Wirkung und E.-M. Engels, O. Betz, H.-R. Köhler, T. Potthast (Hrsg.), Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften, in denen aus der Perspektive einzelner Wissenschaften Darwins Einfluss auf diese Wissenschaften darge stellt wird. Zur internationalen Darwin-Rezeption vgl. E.-M. Engels, T. S. Glick (Hrsg.), The Reception of Charles Darwin in Europe. 125 C. Vogel, „Charles Darwin, sein Werk ‚Die Abstammung des Menschen‘ und die Folgen“, in: Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen, hrsg. von C. Vogel, 5. Aufl., Stuttgart 2002, S. XXVII.
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der Evolutionstheorie und ihrer Annahme der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Tier und Mensch verfügt umgekehrt der Mensch nur deshalb über Erkenntnis-, Empfindungs- und Leidensfähigkeit, weil er von vormenschlichen Lebewesen abstammt, die auf je artspezifische Weise bereits mit kognitiven und emotionalen Fähigkeiten ausgestattet waren. Damit wird nicht behauptet, dass es sich hierbei im gesamten Tierreich um dieselben Fähigkeiten handelt. Dies wäre eine unzulässige Vereinfachung. Doch wie es in Bezug auf die Entwicklung körperlicher Merkmale Homologie- und Analogiebildungen gibt, so auch für Erkenntnis-, Empfindungsund Leidensfähigkeit.126 Mit demselben Argument weist auch Paul White den Vorwurf des Anthropomorphismus zurück: „But this misses the point of Darwin’s argument, which links the human with the animal, especially through a delineation of their shared emotional nature.“127 Auch ist es nicht gerechtfertigt, hier von „Dilettantismus“ zu sprechen, es sei denn, es würde auch der heutige Wissensstand aus der Perspektive zukünftiger Wissenschaftsgeschichte als „Dilettantismus“ charakterisiert. Es mag durchaus sein, dass die Vorgehensweise damals noch vorwiegend anekdotisch war. Doch gibt es erstaunliche Parallelen zwischen der damaligen und heutigen Diskussionsstruktur sowie den erzielten Ergebnissen. Die Vergleichende Verhaltensforschung einschließlich der kognitiven Ethologie hat bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, auch im Bereich des Sozialverhaltens eine überwältigende Fülle differenzierter Verhaltensabläufe und -muster zutage gefördert, für welche die einfachste Erklärung das Vorhandensein höherer kognitiver Fähigkeiten ist. Aber auch bei entfernteren Verwandten des Menschen aus dem Tierreich sind größere Spielräume der Fähigkeit des Lernens auf der Grundlage individueller Erfahrung und Nachahmung sowie selbständige kognitive Leistungen entdeckt worden, als früher angenommen wurde, wie etwa im Bereich der Werkzeugherstellung.128 Hinzu kommt, dass nicht nur 126 Siehe E. M. Engels, Charles Darwin, S. 149. 127 P. White, „Darwin’s Emotions. The Scientific Self and the Sentiment of Ob jectivity“, in: Isis, 100/2009, S. 811-826, hier S. 823. 128 M. N. Haidle, „Darwin, Lucy und das Missing Link – Evolutionäre Anthro pologie im 21. Jahrhundert“, in: E.-M. Engels, O. Betz, H.-R. Köhler, T. Pott hast (Hrsg.), Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften, Tübingen 2011, S. 203-224; J. Benz-Schwarzburg, Verwandte im Geiste, Fremde im Recht. Sozio-kognitive Fähigkeiten bei Tieren und ihre Relevanz für Tier ethik und Tierschutz, Erlangen 2012.
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kognitive Fähigkeiten überlebensrelevant sind, sondern auch die Schmerzempfindung für den Organismus eine wichtige Funktion erfüllt, indem sie das Lebewesen vor Gefahren warnt. Der evolutionstheoretische Erklärungsrahmen stützt daher auch die Annahme der Empfindungs- und Schmerzfähigkeit als evolutionäre Anpassungen bei nichtmenschlichen Lebewesen. Diese Beispiele mögen hier genügen, um die wichtige Funktion von Darwins Theorierahmen für eine Neubesinnung des Menschen auf seine Stellung in der Natur und sein Verhältnis zu anderen Lebewesen zu zeigen. Zugleich wird damit die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den biologischen Einzelwissenschaften (wie der evolutionären Ethologie) und ihnen nahestehenden Disziplinen einerseits sowie philosophischen Disziplinen (wie philosophischer Anthropologie, Erkenntnistheorie und Ethik) andererseits deutlich. Der Philosoph Helmuth Plessner (1892–1985) hob die Verschränkung von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit beim Menschen hervor129 und rückte den Menschen damit, ob gewollt oder nicht, in die Nähe der Tiere. Umgekehrt zeigt uns die Vergleichende Verhaltensforschung heute die Flexibilität und Lernfähigkeit vieler Tiere und rückt sie damit ihrerseits in die Nähe des Menschen. Auch für die Ethik ergeben sich hieraus wichtige Konsequenzen. Wenn wir unter einer „evolutionären Ethik“ nicht den naiven und unrealisierbaren Anspruch einer simplen Ableitbarkeit von Werten und Normen aus unserer Kenntnis der Evolution verstehen, sondern vielmehr das Bemühen, das Wissen um den evolutionären Ursprung des Menschen und seinen verwandtschaftlichen Zusammenhang mit der übrigen Natur für die Neubesinnung auf einen verantwortlichen Umgang mit der Natur fruchtbar zu machen, so liegt hier ein reichhaltiges Potential für eine noch zu entwickelnde evolutionäre Ethik. Andererseits verfügt jede neue Art von Lebewesen über besondere Merkmale, die es ihr ermöglicht, sich auf spezifische Weise von anderen Arten zu unterscheiden. Darwin kennzeichnet den Menschen als das einzige Lebewesen, das über Vernunft, Selbstbewusstsein und Moralfähigkeit verfügt. Der moralische Sinn ist für ihn ein komplexes menschliches Merkmal mit verschiedenen Elementen, von denen einige ihre Wurzeln in unserer Naturgeschichte haben. 129 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“ (1950), in: H. Plessner, Condition humana. Gesammelte Schriften Bd. 8, Darmstadt 2003, S. 77-87.
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Darwin ist jedoch kein Reduktionist. Er behauptet nicht, dass der moralische Sinn des Menschen auf tierliche Instinkte reduzierbar ist. Daher nimmt er in der Verhaltensforschung eine besondere Position ein. Er erkennt die spezifischen Merkmale des menschlichen Tieres an, ohne es von seinen tierlichen Vorfahren zu trennen. Reduktionistische Theorien, die den Menschen als einen durch Gene gesteuerten Roboter betrachten, können sich daher nicht auf Darwin stützen. Diejenigen, welche die Sonderstellung des Menschen als Krone der Schöpfung durch die Konstanz der Arten gewährleistet wissen wollten, empfanden Darwins Abstammungstheorie häufig als Bedrohung. Durch sie wurde der Mensch in einen realen verwandtschaftlichen Zusammenhang mit anderen Lebewesen gestellt. Wie der Mensch aber eine Sonderstellung in der Natur einnehmen kann, wenn er von affenähnlichen Vorfahren abstammt und das Ergebnis eines blinden, ungerichteten Evolutionsprozesses ist, ist eine heute noch aktuelle Frage. Andere setzten dagegen große Hoffnungen in Darwins Theorie. Sie glaubten, endlich den Schlüssel zum Verständnis des Fortschritts in der Hand zu haben, legte Darwin ihrer Auffassung nach doch die Mechanismen offen, welche aus einfachen und niederen Lebensformen immer komplexere und höhere Organismen entstehen ließen, bis sie schließlich das höchste Lebewesen, den Menschen, hervorgebracht hatten. Damit schien zugleich ein Rezept für die Verbesserung der Menschheit in Gegenwart und Zukunft gewonnen zu sein, da von der bewussten und gezielten Nachahmung dieser Mechanismen durch den Menschen auch ein Fortschritt im Bereich des Ethischen, Politischen und Sozialen erwartet wurde. Beide Deutungsweisen sind jedoch verfehlt. Weder sollte der verwandtschaftliche Zusammenhang des Menschen mit anderen Tieren als Bedrohung empfunden werden, noch lassen sich aus Darwins Theorie Maßstäbe für die Gestaltung von Gesellschaft und Politik oder moralische und ethische Richtlinien ableiten. Darwin selbst hat solche Ansprüche auch nicht erhoben. Indem er auch die geistigen, sozialen und moralischen Fähigkeiten des Menschen aus der Perspektive seiner Theorie beleuchtete, zeigte er vielmehr die Grenzen einer biologischen Erklärung für ein angemessenes Gesamtverständnis vom Menschen als geistiges und moralisches Wesen auf. Vor allem in Descent of Man hob er die geistige und moralische Dimension des Menschen als eine eigenständige, wirkmächtige Kraft des kulturellen Fortschritts hervor https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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und vertrat im Gegensatz zu manchen „Darwinianern“ keinen Monismus. 5.1. Die Abstammung des Menschen von anderen Tieren und sein moralischer Sinn In Darwins Descent of Man stehen vier Fragen im Mittelpunkt: Erstens, ob der Mensch wie andere Arten von einer früher existierenden Form abstamme, zweitens die Frage nach der Art und Weise seiner Entwicklung und drittens die Bedeutung der Unterschiede zwischen den „so genannten Menschenrassen“.130 Schließlich möchte Darwin die Frage nach dem Ursprung des moralischen Sinns oder des Gewissens („moral sense or conscience“) beantworten, denn niemand habe sich dieser bedeutenden Frage bisher „ausschließlich aus der Perspektive der Naturgeschichte“ angenähert. Darwin möchte wissen, inwieweit das Studium der Tiere Licht auf eine der „höchsten psychischen Fähigkeiten des Menschen“ wirft.131 Ursprünglich hatte Darwin geplant, seinem Werk einen Essay über den Ausdruck der Gefühle beim Menschen und den Tieren hinzuzufügen. Hierzu war er durch das Werk des Anatomen und Physiologen Charles Bell The Anatomy and Philosophy of Expression132 angeregt worden. Dessen Annahme, dass der Mensch vom Schöpfer mit einzigartigen Gesichtsmuskeln ausgestattet worden sei, um seinen Mitmenschen seine Gefühle mitteilen zu können, wollte Darwin „umstoßen“ („upset“), wie er 1867 in einem Brief an Wallace schreibt.133 Demgegenüber will Darwin den Nachweis erbringen, dass Ausdrucksnuancen, auch ganz feine und komplexe, allmählich und natürlich in einem Evolutionsprozess entstanden sind, in dem sich der Mensch 130 Ch. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1874/1877), in: P. H. Barrett, R. B. Freeman (Hrsg.), The Works of Charles Darwin, Bd. 21, London 1989, S. 4: „The sole object of this work is to consider, firstly, whether man, like every other species, is descended from some pre-existing form; sec ondly, the manner of his development; and thirdly, the value of the differences between the so-called races of man.“ 131 Ebd., S. 102: „The investigation possesses, also, some independent interest, as an attempt to see how far the study of the lower animals throws light on one of the highest psychical faculties of man.“ 132 Ch. Bell, The Anatomy and Philosophy of Expression (1806), 3. Auflage, Lon don 1844. 133 F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1867), Bd. 15, Cambridge 2006, S. 141.
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aus anderen Tieren entwickelt hat. Da dies jedoch in einem kurzen Essay nicht möglich war, verfasste er ein separates Werk, das 1872 unter dem Titel The Expression of the Emotions in Man and Animals in erster Auflage erschien. Ein zweites Anliegen, das Darwin mit Expression verband, war der Nachweis, dass es bei allen Menschenrassen gemeinsame Ausdrucksformen gibt. Mit diesen Ausdrucksuniversalien wollte er die Zugehörigkeit der sogenannten Menschenrassen zu einer einzigen Art (Monogenie) belegen. Die Annahme, dass Menschenrassen bei all ihrer phänotypischen Unterschiedlichkeit zu einer Spezies gehören, war im 19. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich. Auch verabscheute Darwin die Sklaverei, so dass die Gemeinsamkeit der Ausdrucksformen von Menschen aller Ethnien der Unterstützung seiner Ablehnung diskriminierender Einstellungen und Praktiken entgegenkam. Heute hat sich herausgestellt, dass eine Unterscheidung zwischen den sogenannten Menschenrassen auf genetischer Ebene nicht möglich ist, weil das menschliche Genom ein „Mosaik“ aller Rassen ist.134 Darwin war also in mehrfacher Hinsicht seiner Zeit voraus. Darwin schöpft sein Wissen über Tiere und Menschen aus verschiedenen Quellen. Neben persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen ist es eine Fülle an Literatur, wozu die Werke des bekannten deutschen Zoologen und Forschungsreisenden Alfred Brehm (1829–1884) gehören, auf dessen Hauptwerk Thierleben (1864) Darwin vielfach Bezug nimmt, sowie die Naturgeschichte der Säugethiere von Paraguay (1830) des Schweizer Naturforschers, Mediziners und Forschungsreisenden Johann R. Rengger (1795–1832), das für Darwin ebenfalls eine reichhaltige Erfahrungsquelle darstellt. Rengger folgte den Tieren tagelang bei seinen Freilandbeobachtungen. Sein Werk erfuhr gleich nach seinem Erscheinen eine große Wertschätzung durch die Fachwelt, u. a. durch Alexander von Humboldt (1769–1859). Für die Insekten stützt sich Darwin auf den französischen Wissenschaftler Pierre Huber. Die gründliche Lektüre dieser Schriften äußert sich nicht nur in Darwins Detailbeschreibungen in Descent, sondern sie lässt sich auch anhand seiner Randbemerkungen in den rezipierten Werken rekonstruieren.135 Auch mit der naturtheologischen Literatur zum Tierverhalten (Henry Lord Brougham, John Fleming, William Kirby, William Spence 134 S. Pääbo, „The mosaic that is our genome“, in: Nature, 421/2003, S. 409-412. 135 M. Di Gregorio, with the assistance of N. W. Gill (Hrsg.), Charles Darwin’s Marginalia, Bd. 1.
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u. a.) war Darwin vertraut, wie aus seinen Notebooks hervorgeht.136 Hinzu kommen Darwins eigene Beobachtungen von Tieren, auch in zoologischen Gärten. In Descent of Man stellt Darwin zunächst „three great classes of facts“, seine „evidences“ aus Embryologie und vergleichender Anatomie vor, mit denen er seine Annahme der Abstammung des Menschen von anderen Tieren fundiert.137 Diese drei Klassen von Tatsachen, welche Darwin in Origin of Species bereits ausführlich behandelt hat, sind erstens die Homologien bei den Tieren ein und derselben Tierklasse sowie der zu einem Stamm gehörenden Klassen untereinander, zweitens bestimmte Fakten aus der Embryologie, wie die Ähnlichkeit von Embryonen unterschiedlicher Arten – vergleichend abgebildet sind ein menschlicher Embryo und ein Hundeembryo – und drittens die Rudimente, d. h. Merkmale von Vorfahren einer anderen Spezies, die bei diesen eine Funktion gehabt haben mögen, jedoch bei den rezenten Organismen nicht mehr, wie der Ohrhöcker. Diese Fakten lassen sich für Darwin am besten durch eine gemeinsame Stammesgeschichte erklären. Zahlreiche weitere Disziplinen, wie moderne Genetik, kognitive Ethologie, Paläontologie, Paläoanthropologie u. a. bestätigen Darwin heute. Er geht bereits davon aus, dass die nächsten Verwandten des Menschen Schimpanse und Gorilla sind und die gemeinsame Geburtsstätte Afrika ist. Die Verwandtschaft des Menschen mit anderen Tieren äußert sich nicht nur in körperlichen, sondern auch in mentalen und emotiven Ähnlichkeiten. Auch Tiere fühlen „Freude und Schmerz, Glück und Elend“ und eine Bandbreite weiterer Emotionen. Ihr Glück äußert sich am besten bei jungen Tieren im Spiel, bei Welpen, Kätzchen, Lämmern und sogar bei jungen Insekten, „wie bei unseren eigenen Kindern.“138 In Descent beschreibt Darwin die beim Menschen und den sogenannten höheren Tieren anzutreffenden Gefühle wie Eifersucht, Liebe und das Bedürfnis, 136 R. J. Richards, „Instinct and Intelligence in British Natural Theology: Some Contributions to Darwin’s Theory of the Evolution of Behavior“, in: Journal of the History of Biology, 14/1981, S. 193-230; ders., Darwin and the Emergence of Evolutionary Theories of Mind and Behavior, Chicago, London 1987. 137 Zum Folgenden siehe die Kapitel IV „Die evolutionäre Anthropologie“ und V „Der Mensch – das moralfähige Tier“, in: E.-M. Engels, Charles Darwin, S. 217 ff., S. 164 ff. 138 Ch. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, S. 73: „[…] pleasure and pain, happiness and misery“ […] „like our own children“. Zum Spiel bei Tieren siehe auch K. Groos, Die Spiele der Tiere, 3. Aufl., Jena 1930.
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geliebt zu werden, Wetteifer, das Bedürfnis nach Zustimmung und Lob, weiterhin Stolz und Selbstzufriedenheit; Scham im Unterschied zu Furcht, Bescheidenheit, Verachtung, Rache, Misstrauen. Die meisten komplexen Gefühle haben die höheren Tiere und der Mensch gemeinsam. Gestützt auf die Literatur und Berichte führt Darwin als Gemeinsamkeit zwischen Tier und Mensch auch Hilfsbereitschaft und mütterliche Zuneigung an, die sich über den eigenen Nachwuchs hinaus auch auf kranke, schwache und verwaiste Artgenossen und sogar auf Mitglieder anderer Arten erstreckt, wie das Beispiel artüberschreitender Adoption bei Affen zeigt.139 Die mehr intellektuellen Gemütsbewegungen und Fähigkeiten wie Verwunderung und Neugier sind als Grundlage für die Entwicklung der höheren Vermögen von besonderer Bedeutung.140 Tiere kooperieren miteinander und leisten einander Hilfe. Von seinen tierlichen Vorfahren hat der Mensch nicht nur emotive, sondern auch kognitive und soziale Fähigkeiten geerbt. Zwar verfügt er nicht mehr über feste soziale Instinkte wie sie, wohl aber über instinktive Impulse. Diese bilden auch die Grundlage für die Möglichkeit menschlicher Moral. Ohne Spuren solcher Instinkte wäre der Mensch ein „unnatürliches Monster“.141 Der geistige Unterschied zwischen höheren Tieren und Menschen sei ein gradueller, kein wesensmäßiger (one of degree and not of kind), aber dennoch immens.142 Darwin kennzeichnet den Menschen „im rohesten Zustand, in dem er jetzt existiert“, als „das dominanteste Tier, das jemals auf dieser Erde erschienen ist“.143 Er verdankt seine ungeheure Überlegenheit seinen intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung mit seiner Sprache und seinen sozialen Tugenden. Hier zeigt sich der Einfluss von Alfred R. Wallace (1823–1913) auf Darwin. Wallace’ „großer Leitgedanke“, dass während der späteren Evolutionsphasen des Menschen dessen Geist in viel größerem Maße als sein Körper Veränderungen unterworfen war, ist für Darwin „ganz neu“, wie er in einem Brief an Wallace unterstreicht.144 139 Ebd., S. 74 ff. 140 Ebd. S. 75 f. 141 Ebd., S. 116: „A man who possessed no trace of such instincts would be an unnatural monster.“ 142 Ebd., S. 130. 143 Ebd., S. 52: „Man in the rudest state in which he now exists is the most do minant animal that has ever appeared on this earth.“ 144 F. Burkhardt et al. (Hrsg.), The Correspondence of Charles Darwin (1864), Bd. 12, Cambridge 2001, S. 216.
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Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Menschwerdung war die Entwicklung des aufrechten Ganges und damit einhergehende weitere körperliche Veränderungen mit einem Zuwachs an Kompetenzen. Die vorderen Affenhände wurden von der Funktion der Fortbewegung befreit, das Tastgefühl verfeinerte sich, ein gezielterer Umgang mit Objekten wurde möglich. Die Evolution des Gehirns, der Sprechorgane und ihrer Funktionen beeinflussten sich wechselseitig bei der Menschwerdung. Auf der Herausbildung gesteigerter kognitiver Fähigkeiten in Verbindung mit sozialen Kompetenzen lag ein besonderer Selektionsdruck. Indem sich der Selektionsdruck vom Körper auf die Herausbildung seiner intellektuellen und moralischen Fähigkeiten verlagerte, kam die körperliche Veränderung des Menschen mit Ausnahme des Gehirns als „Organ des Geistes“ und des Schädels weitgehend zum Stillstand.145 Der besondere Vorteil der intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten des Menschen liegt für Wallace und Darwin darin, „mit unverändertem Körper noch in harmonischem Verhältnis zu dem sich verändernden Universum bleiben zu können.“146 Der Mensch kann seine Umwelt in Anpassung an seine Bedürfnisse selbst schaffen, statt sich umgekehrt an diese durch die allmähliche Veränderung seiner körperlichen Struktur anpassen zu müssen. Wallace sieht hierin ein neues Argument für die Sonderstellung des Menschen. Seine Entstehung bedeutet eine „Revolution“ in der Natur. Kein Lebewesen konnte bisher dem Gesetz der Abänderung seines Körpers unter dem Druck wechselnder Umweltbedingungen entkommen. Der Mensch hat sich jedoch nicht nur von der Wirkung der natürlichen Selektion auf seinen Körper befreit, sondern er hat die Natur darüber hinaus auch bis zu einem gewissen Grade durch Technik entmachtet. Wallace betrachtet den Menschen nicht nur als Spitze und Kulminationspunkt in der großen Reihe der Lebewesen, sondern „in gewissem Grad als eine neue und andere Seinsordnung“ („new and distinct order of being“). Darwin greift Grundannahmen der englisch-schottischen Moralphilosophie (Hume, Smith, Mackintosh, Bain) auf und integriert
145 A. R. Wallace, „The Origin of Human Races and the Antiquity of Man deduced from the theory of ‘Natural Selection’“, in: Journal of the Anthropological Society of London, May 1864, 2, S. clviii-clxx, Diskussion S. clxx-clxxxvii. 146 Ch. Darwin, The Descent of Man, S. 132; A. R. Wallace, „The Origin of the Human Races and the Antiquity of Man deduced from the theory of ‘Natural Selection“, S. clxiii-clxvii. Hervorhebung E.-M. E.
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sie in seine Abstammungstheorie. Setzten die Ethiker noch den moralischen Sinn beim Menschen als gegeben voraus, fragt Darwin nach seinen evolutionären Wurzeln in der Naturgeschichte, die uns mit anderen Tieren verbindet. Diese verfügen über gut ausgeprägte soziale Instinkte, deren Fundament das Mitgefühl (sympathy) ist. Ihre Entstehung erklärt Darwin selektionstheoretisch mit ihrer Funktion für die Erhaltung der Gruppe. Während der Evolution des Menschen vom Urmenschen bis heute hat sich eine Instinktreduktion vollzogen. Zwar wurzelt unser moralischer Sinn im „Instinkt der Sympathie“, doch erschöpft er sich nicht darin, sondern stellt ein qualitativ neues Vermögen dar. Moral besteht für Darwin im bewussten Urteilen und Handeln nach verallgemeinerbaren Normen, er erwähnt Kants Pflichtkonzept und die Goldene Regel.147 Die von ihm betonte evolutionäre Kontinuität von Tieren und Menschen beinhaltet somit keine Nivellierung ihrer Unterschiede. Vielmehr entfaltet Darwin die moralische Sonderstellung des Menschen innerhalb seines naturalistisch-evolutionären Rahmens. Der Mensch ist für ihn das einzige moralfähige Tier und hat Menschenwürde. Doch hält Darwin es für wahrscheinlich, dass jedes mit ausgeprägten sozialen Instinkten ausgestattete Tier bei entsprechender geistiger und sprachlicher Entwicklung unweigerlich einen moralischen Sinn entwickeln würde,148 womit er nicht behauptet, dass dies genau derselbe moralische Sinn wie der des Menschen wäre.149 Moralfähigkeit setzt nach Darwin neben der sympathy auch Selbstbewusstsein, Reflexionsfähigkeit, Sprache und die Fähigkeit der Bewertung von Absichten und Handlungen nach ethischen Maßstäben voraus, „freien Willen“ und „freie Intelligenz“.150 Diese Vermögen sowie Erziehung, Religion, Gesetz und öffentliche Meinung münden in das komplexe Gebilde des moralischen Sinns. Moral ist nach Darwin somit ein kulturgeschichtliches Phänomen mit naturgeschichtlichen Wurzeln.151 Menschenwürde besaßen unsere halbmenschlichen Vorfahren, die noch stärker durch Instinkte als Vernunft geleitet wurden, noch nicht.152 147 Kants Pflichtkonzept und sein kategorischer Imperativ sind jedoch nach Kant von der Goldenen Regel zu unterscheiden. 148 Ch. Darwin, The Descent of Man, S. 102. 149 Ebd., S. 103. 150 Ebd., S. 71 f. 151 E.-M. Engels, Charles Darwin, S. 203. 152 Ch. Darwin, The Descent of Man, S. 50: „If we look back to an extremely remote epoch, before man had arrived at the dignity of manhood, he would have been
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In der menschlichen Evolution und Kulturgeschichte findet nach Darwin eine sukzessive Erweiterung und Verfeinerung des moralischen Sinns und moralischer Fortschritt statt. Im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts vereinigten sich Stämme zu größeren Gemeinwesen. Damit vergrößerte sich nicht nur die Anzahl tugendhafter Individuen (quantitativer Fortschritt), sondern es vollzog sich auch allmählich eine Verfeinerung und Erweiterung der sympathy (qualitativer Fortschritt), eine Verbesserung des Maßstabes des Moralischen wie auch eine Erweiterung des Kreises derjenigen, die von uns moralisch berücksichtigt werden. Dies äußert sich auch in der Unterstützung Schwacher, Kranker und Hilfloser, deren absichtliche Vernachlässigung aus Gründen der Artgesundheit zu einem Verfall unseres moralischen Sinns, des „edelsten Teils“ unserer Natur, führen würde. Der Vorwurf des Sozialdarwinismus kann damit für Darwin selbst zurückgewiesen werden.153 Darwin ist vielmehr ein Verfechter der Humanität, deren Höhepunkt er erreicht sieht, wenn Moral sich nicht nur auf alle Menschen, sondern auch auf die Tiere erstreckt. Die „uneigennützige Liebe zu allen Lebewesen“ hält er für die „edelste Eigenschaft des Menschen“.154 Gemeinsam mit seiner Frau Emma Darwin praktizierte Darwin auch im Alltag seine Vorstellungen eines „expanding circle“155 der Humanität, der die Tiere mit einschloss, indem er sich für den Schutz von Wild- und Haustieren einsetzte.
guided more by instinct and less by reason that are the lowest savages at the present time.“ 153 E.-M. Engels, Charles Darwin, S. 198-200. 154 Ch. Darwin, The Descent of Man, S. 130: „[…] disinterested love for all living creatures, the most noble attribute of man“. 155 Peter Singer verwendet für die Erweiterung unserer sozialen Tugenden über den Nahbereich hinaus, so dass sie schließlich alle empfindungsfähigen We sen einschließen, den Ausdruck „expanding circle“ (P. Singer, The Expanding Circle. Ethics and Sociobiology, Oxford 1983, S. 124). Die Idee eines „circle expanding“ wurde bereits im 19. Jahrhundert von dem Historiker W. E. H. Lecky formuliert, dessen Werk Darwin in Descent of Man rezipiert, ohne sich jedoch ausdrücklich auf Leckys Idee eines „circle expanding“ zu beziehen (W. E. Lecky, History of European Morals from Augustus to Charlemagne, 2 Bde, London 1869).
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5.2 Der Ausdruck der Gefühle beim Menschen und bei Tieren The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) dient dem weiteren Nachweis der Verwandtschaft von Tieren und Menschen und der Einheit der menschlichen Spezies. Das Buch war bei Erscheinen ein Bestseller, 9.000 Exemplare wurden in den ersten vier Monaten verkauft.156 Es ist in methodologischer Hinsicht besonders interessant, weil sich Darwin zweier neuer Methoden bediente, die der Objektivierung seiner Ergebnisse dienen sollen, der Fotografie und der bereits erwähnten Methode des Fragebogens.157 Eine der Varianten seines Fragebogens ist auch in seinem Buch Expression of the Emotions abgedruckt. Seine Forschungsmethoden beschränkten sich damit nicht auf „country-house experiments“ im eigenen Garten. Darwin pflegte eine umfangreiche Korrespondenz mit Freunden und Bekannten sowie Vertretern aller möglichen Professionen in England und zahlreichen anderen Ländern. Er nutzte dieses Netzwerk und bat darum, seinen Fragebogen weiter zu senden „to missionaries, merchants, and travelers who might have encounters with remote peoples. Replies were returned from Australia, New Zealand, Borneo, Malaysia, China, Calcutta, Ceylon, southern and western Africa, and North and South America.“158 Da 156 Paul Ekman weist darauf hin, dass das Werk anschließend jedoch neunzig Jahre lang in Vergessenheit geriet. In seiner Einführung in die von ihm herausgege bene Ausgabe schlägt er als Erklärung fünf Gründe vor: Ch. Darwin, The Ex pression of the Emotions in Man and Animals, Third Edition with an Introduc tion, Afterword and Commentaries by P. Ekman, London 1998, S. xxix-xxxiv. 157 Nach bisherigem Stand der Darwin-Forschung gibt es fünf Varianten sei nes Fragebogens zu menschlichen Gefühlsäußerungen. Zu verschiedenen Versionen von Darwins Fragebogen über „expression“ siehe R. B. Freeman, P. J. Gautrey, „Charles Darwin’s Queries about expression“, in: Journal of the Society for the Bibliography of Natural History, 7(3)/1975, S. 259-263. (http://darwin-online.org.uk/EditorialIntroductions/Freeman_Queriesabout Expression.html), zuletzt abgerufen am 12.01.2016; J. van Wyhe (Hrsg.), The Complete Work of Charles Darwin Online (http://darwin-online.org.uk), zu letzt abgerufen am 12.01.2016; C. R. Darwin, „Physiognomy“, in: Notes and queries on anthropology, for the use of travellers and residents in uncivilized lands. (Drawn up by a Committee appointed by the British Association for the Advancement of Science), London 1874, S. 12 f. 158 Siehe hierzu P. White, „Darwin’s Emotions. The Scientific Self and the Sen timent of Objectivity“; siehe auch S. de Chadarevian, „Laboratory Science versus Country-House Experiments: The Controversy between Julius Sachs and Charles Darwin“, in: British Journal for the History of Science, 29/1996, S. 17-41; zur Bedeutung von Country-House Experiments bei Jean-Henry Fabre vgl. den Beitrag von Köchy in diesem Band.
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es eines seiner Ziele war zu ermitteln, inwieweit Ausdrucksformen „innate or instinctive“ oder aber „conventional or artificial“ sind, war es für ihn besonders interessant, die Ausdrucksformen Eingeborener, die wenig Kontakt zu Europäern hatten, zu ermitteln, sowie von Kindern, da sie noch unmittelbarer, natürlicher in ihren Ausdrucksformen als Erwachsene sind, welche bereits stark durch Erziehung und Kultur geprägt sind und ihre Gefühle besser verbergen können. Beispiele für die in diesem Zusammenhang zu stellenden Fragen sind „Wird Verachtung durch ein leichtes Vorstrecken der Lippen, durch Emporheben der Nase, verbunden mit einer leichten Exspiration ausgedrückt?“ (9. Frage); „Wird das Lachen jeweils so weit getrieben, daß es Tränen in die Augen bringt?“ (12. Frage); „Wenn Kinder mürrisch oder eigensinnig sind, lassen sie dann den Mund hängen, oder strecken sie die Lippen vor?“ (14. Frage); „Wird bei der Bejahung der Kopf in senkrechter Richtung genickt und bei der Verneinung nach den Seiten geschüttelt?“ (16. Frage). Darwin unterstützt in Expression seine Fragen zur Veranschaulichung mit Fotografien. Darwin stellte auch an seinem Sohn William im Zeitraum vom 7. Lebenstag bis zu etwa einem Jahr Untersuchungen bzw. Beobachtunggen an.159 Er beschreibt detailliert Williams Reaktionen auf Berührungen, wie die seiner nackten Fußsohle mit einem Blatt Papier am 7. Tag, um seine Reflexbewegungen zu untersuchen. Darwin protokolliert somit im Laufe von Williams Entwicklung während seines ersten Jahres Gefühlsäußerungen wie „anger“, „fear“, „pleasurable sensations“, „affection“ und kognitive Leistungen wie, „association of ideas, reason, &c“, „curiosity“, „moral sense“, „unconsciousness“, „shyness“, „means of communication“. Neben der Suche nach Belegen für die Einheit der menschlichen Spezies wollte Darwin in Expression of the Emotions auch überprüfen, ob es für seine Annahme einer evolutionären Verwandtschaft des Menschen mit anderen Tieren Evidenz gebe. Dabei kann er sich neben der Beobachtung des Verhaltens auch auf die physiologischen Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Tieren stützen, die bei bestimmten Gefühlen auftreten, wie Muskelzittern, Herzklopfen, Haarsträuben u. a. Darwin greift dabei auf Vorarbeiten namhafter Experten aus Anatomie, Neuroanatomie, Verhaltensforschung zurück. „Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei ver159 Ch. Darwin, „A Biographical Sketch of an Infant“, in: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy, 2(7)/1877, S. 285-294.
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schiedenen, aber verwandten Spezies, so die Bewegungen derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Menschen und bei verschiedenen Affen, wird etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Vorläufer glauben. Wer aus allgemeinen Gründen annimmt, daß der Körperbau und die Gewohnheiten aller Tiere allmählich entwickelt worden sind, wird auch die ganze Lehre vom körperlichen Ausdrucke der Seelenzustände in einem neuen und interessanten Lichte erblicken.“160 In Descent of Man hat Darwin die Moralfähigkeit als Besonderheit des Menschen herausgestellt, die ihn von anderen Tieren unterscheidet. In Expression kommt Darwin darauf zurück, indem er ausführt, dass die Moralfähigkeit ihren Ausdruck in einer anderen, spezifisch menschlichen Eigenschaft findet, dem Erröten. Kein Tier ist hierzu in der Lage, doch beim Menschen ist Erröten eine kulturübergreifende Universalie, die bei allen Menschenrassen161 vorkommt, womit wiederum die Einheit der menschlichen Spezies (Monogenie) hervorgehoben wird. Dem Thema „Erröten“ widmet Darwin in Expression ein ganzes Kapitel. Sein Interesse daran lässt sich bis in die Notebooks M und N zurückverfolgen. Die Ursache für das Erröten im Zusammenhang mit der Moral ist nach Darwin der Gedanke, dass andere uns für schuldig halten oder wissen, dass wir schuldig sind. Die Fähigkeit des Errötens setzt also die Fähigkeit der Reflexion voraus. Andere Ursachen für das Erröten sind Verstöße gegen die Etikette und Bescheidenheit.162 Paul White hebt die Präzision der von Darwin formulierten Fragen hervor und verweist in methodischer Hinsicht damit auf die 160 Ch. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von P. Ekman. Übersetzt von J. V. Carus und U. Enderwitz, Frankfurt a. M. 2000, S. 20. Die Ausgabe von Ekman enthält hilfreiche Kommentare zu Darwins Text.; Ch. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, S. 19: „The community of certain expressions in distinct though allied species, as in the movements of the same facial muscles during laughter by man and by various monkeys, is rendered somewhat more intelligible if we believe in their descent from a common progenitor. He who admits on general grounds that the structure and habits of all animals have been gradually evolved, will look at the whole subject of expression in a new and interesting light.“ 161 Ich verwende in diesem Beitrag den Begriff „Menschenrasse“, weil ich mich auf die Diskussionen im 19. Jahrhundert beziehe, als der Begriff geläufig war. Heute ist der Begriff, wie ausgeführt, auf Grund des Erkenntnisstandes der Biologie gegenstandslos und daher nicht fundiert; darüber hinaus ist er auf Grund leidvoller historischer Erfahrungen verfehlt. 162 Ch. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, S. 331 ff.
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Komprimierung des Fokus von Darwins anfänglichen Narrativen auf ein straffes Spektrum von Fragen über spezifische Gefühle und die damit verbundenen Ausdrucksbewegungen.163 Paul Ekman sieht in Darwins Verwendung dieser Fragebogen dagegen mehrere methodische Schwächen. Diese sind erstens die geringe Anzahl an Repräsentanten für das jeweilige Land; zweitens verließ sich Darwin auf Beobachtungen seiner im Ausland lebenden oder reisenden Landsleute. Besser wäre die Befragung der Einheimischen selbst gewesen; drittens seien Darwins Fragen Suggestivfragen gewesen, er habe sie so formuliert, dass sie die Antwort, die er hören wollte, nahelegten.164 Ironischerweise habe sich Darwins Einsicht, dass die Gesichtsausdrücke beim Menschen universal sind, jedoch als richtig erwiesen. Der letztgenannte Einwand erscheint mir jedoch nicht überzeugend, da die von Darwin formulierten Fragen bejaht oder verneint werden konnten. In Expression stellt Darwin drei „allgemeine Prinzipien des Ausdrucks“ auf, die nach ihm für Tiere und für Menschen gelten. Diese Prinzipien oder Gesetze sind: „I. Das Prinzip zweckmäßiger assoziierter Gewohnheiten. – Gewisse komplizierte Handlungen sind unter gewissen Seelenzuständen von direktem oder indirektem Nutzen, um gewisse Empfindungen, Wünsche usw. zu erleichtern oder zu befriedigen; und sobald derselbe Seelenzustand herbeigeführt wird, so schwach dies auch geschehen mag, so ist infolge der Macht der Gewohnheit und der Assoziation eine Neigung vorhanden, dieselben Bewegungen auszuführen, wenn sie auch im gegebenen Falle nicht von geringstem Nutzen sind […]. II. Das Prinzip des Gegensatzes. – Gewisse Seelenzustände führen zu gewohnheitsmäßigen Handlungen, welche, nach unserm ersten Prinzip, zweckmäßig sind. Wenn nun ein direkt entgegengesetzter Seelenzustand herbeigeführt wird, so tritt eine sehr starke und unwillkürliche Neigung zur Ausführung von Bewegungen einer direkt entgegengesetzten Natur ein, wenn auch dieselben von keinem Nutzen sind, und derartige Bewegungen sind in manchen Fällen äußerst ausdrucksvoll.
163 P. White, „Darwin’s Emotions. The Scientific Self and the Sentiment of Ob jectivity“, S. 817. 164 Ch. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, S. 411 f.
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III. Das Prinzip, daß Handlungen durch die Konstitution des Nervensystems verursacht werden, von Anfang an unabhängig vom Willen und in einem gewissen Maße unabhängig von Gewohnheit. […] Es werden hierdurch Wirkungen hervorgebracht, welche wir als ausdrucksvoll anerkennen. Dieses dritte Prinzip kann der Kürze wegen das der direkten Tätigkeit des Nervensystems genannt werden.“165 In der Vergleichenden Verhaltensforschung des 20. Jahrhunderts wurden Darwins Überlegungen zu verschiedenen Themen vielfach aufgegriffen. Paul Leyhausen etwa nimmt auf Darwins Ausdrucksprinzipien im Zusammenhang mit bestimmten Verhaltensweisen von Katzen, Wölfen und Menschen Bezug.166 Auch Irenäus Eibl-Eibesfeldt würdigt Darwins Leistung. Dieser habe den „Grundstein zu einer vergleichenden Ausdrucksforschung“ gelegt. Allerdings habe ihm das Mittel der objektiven Verhaltensdokumentation gefehlt, da es das Medium des Films zu seiner Zeit noch nicht gab.167 Für die Vorstellung der Erweiterung unserer sympathy über den Kleingruppenbereich hinaus auf alle Menschen verweist er auf Darwin.168 Auch die unterschiedlichen Darwin-Interpretationen bei Thomas Huxley einerseits und Pjotr Kropotkin werden von EiblEibesfeldt erwähnt.169 Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie, wie Konrad Lorenz, Rupert Riedl, Gerhard Vollmer oder Franz Wuketits stützen sich auf Darwin, indem sie unser Erkennen als durch Anpassung entstandene, überlebensnotwendige Gehirnfunktion verstehen.170 Die Psychologin Ursula Hess und der Psychologe Pascal Thibault zeigen in ihrem Beitrag „Darwin and Emo-
165 Ebd., S. 36 f.; Ch. Darwin, The Expressions of the Emotions in Man and Ani mals, S. 34; vgl. auch A. R. Wallace, „The Expression of the Emotions in Man and Animals“, in: The Quarterly Journal of Science, III January/1873, S. 113118, und als kritische Würdigung W. Wundt, „Ueber den Ausdruck der Ge müthsbewegungen“, in: Deutsche Rundschau, 11/1877, S. 120-133. 166 P. Leyhausen, „Biologie von Ausdruck und Eindruck“ (1967), in: K. Lorenz, P. Leyhausen, Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens, Gesammelte Abhandlungen, 4. Auflage, München 1973, S. 297-408, hier S. 330, S. 347. 167 I. Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhal tensweisen, 4. Auflage, München, Zürich 1989, S. 25. 168 Ebd., S. 119. 169 Ebd., S. 12 f. 170 Zur Diskussion der Evolutionären Erkenntnistheorie vgl. E.-M. Engels, Er kenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolutionären Erkenntnistheorie.
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tional Expression“171 anhand zahlreicher aktueller Publikationen, wie stimulierend sich Darwins Werk noch auf die heutige Forschung auswirkt. Darwins Experimente werden in Cambridge im Rahmen eines online Crowdsourcing-Projekts wiederholt, an dem jeder teilnehmen kann.172 Darwins Werk wird auch in der heutigen philosophischen und neurowissenschaftlichen Diskussion über die Bedeutung von Gefühlen positiv rezipiert.173
6. Konsequenzen für Vergleichende Tierpsychologie, Verhaltensforschung und Tierethik Im Anschluss an die Veröffentlichung von Darwins Werken kam es im 19. Jahrhundert schon bald zu einer intensiven Diskussion über die ethische Relevanz des von ihm angenommenen Modells einer evolutionären Kontinuität, seiner Annahme, dass es zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen, insbesondere „höheren Tieren“, nur einen „graduellen“, aber keinen „wesentlichen“ oder „fundamentalen“ Unterschied gebe (one of degree and not of kind).174 Darwin löste damit eine bis heute anhaltende breite vergleichende Forschung über die psychischen und kognitiven Fähigkeiten von Tieren und Menschen sowie über die ethischen Implikationen der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen dem Menschen und anderen Tieren aus. Georg von Gizycki hält die „Ausdehnung der Humanität über die Grenzen der Menschheit hinaus bis auf Wohl und Wehe unserer ‘erstgeborenen Brüder‘“ für die „nächste Consequenz der Entwicklungslehre auf moralischem Gebiet“.175 Unter dem Eindruck von Darwins „Umwälzung“ formuliert Fritz Jahr 1926 seinen „bio=ethischen Imperativ“: „Achte jedes Lebewesen
171 U. Hess, P. Thibault, „Darwin and Emotion Expression“, in: American Psycho logist, 64(2)/2009, S. 120-128. 172 St. Hegarty, „Crowdsourcing Darwin’s experiment on human emotions“, 9. November 2011: (http://www.bbc.com/news/magazine-15600203), zuletzt ab gerufen am 01.01.2016. 173 A. Damasio, Ich fühle, also bin ich, 4. Auflage, München 2003; A. Damasio, Descartes’ Irrtum, München 2004. 174 Ch. Darwin, The Descent of Man, S. 130, ähnlich S. 69 f. 175 G. von Gizycki, Philosophische Consequenzen der Lamarck-Darwin’schen Entwicklungstheorie. Ein Versuch, Leipzig 1876, S. 41.
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grundsätzlich als einen Selbstzweck und behandle es nach Möglichkeit als solchen!“176 In der Nachfolge der Darwinschen Abstammungstheorie mit ihrer Annahme verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Tieren und Menschen sowie der evolutionstheoretischen Erklärung des menschlichen Empfindungs- und Erkenntnisvermögens entsteht im 19. Jahrhundert ein lebhaftes Interesse an einer vergleichenden Psychologie von Mensch und Tier, das sich in einer Vielzahl von Publikationen niederschlägt. Bereits 1863, vier Jahre nach dem Erscheinen von Darwins revolutionärem Werk über den Ursprung der Arten, veröffentlicht Wilhelm Wundt (1832–1920) seine zweibändigen Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, in die zentrale Annahmen der Darwinschen Theorie eingehen: „Zwischen Mensch und Thier besteht keine tiefere Kluft als innerhalb des Thierreichs selber. Alle beseelten Organismen bilden eine Kette gleichartiger Wesen, die fest zusammenhängt, in der nirgends eine Lücke bleibt. [...] nachdem es uns gelungen ist, das gesammte geistige Leben als ein großes Ganze darzuthun, müssen wir auch zugeben, daß alles Beseelte Theil hat an diesem Ganzen [...]. Alle geistigen Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades, nicht der Art.“177 Als vorrangige Aufgabe einer zukünftigen Tierpsychologie betrachtet Wundt die Untersuchung von Tiersprachen, da deren Entschlüsselung uns über die Seele der Tiere, worunter Wundt die Gesamtheit ihrer kognitiven und psychischen Beschaffenheit versteht, Aufschluss gebe. 1885, drei Jahre nach Darwins Tod, veröffentlicht Wundt einen Essay mit dem Titel „Die Tierpsychologie“. Wundt bemängelt hier, dass „nicht ganz selten noch in modernen psycholo176 F. Jahr, „Wissenschaft vom Leben und Sittenlehre“, in: Die Mittelschule, XL/1926, S. 604-605; F. Jahr, „Bio=Ethik. Eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und Pflanze“, in: Kosmos, 24/1927, S. 2-4; E.-M. Engels, „The importance of Charles Darwin’s theory for Fritz Jahr’s conception of bioethics“, in: A. Muzur, H.-M. Sass (Hrsg.), Fritz Jahr and the Foundations of Global Bioethics, Wien, Berlin 2012, S. 97-120; E.-M. Engels, „Fritz Jahr als Pionier einer interdisziplinären anwendungsbezogenen Ethik“, in: F. Steger, J. C. Joerden, M. Schochow (Hrsg.), 1926 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895–1953), Frankfurt a. M. 2015, S. 85-111; zahlreiche Originalarbeiten von Jahr sind ab gedruckt in: F. Steger (Hrsg.), Fritz Jahr – Begründer der Bioethik (1926), 22 Originalarbeiten des protestantischen Theologen aus Halle (Saale), HalleWittenberg 2014. 177 W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele (1863), 1. Bd., Berlin 1990, S. 458.
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gischen Werken ‚das Thier‘ als ein großes unbestimmtes Collectivwesen behandelt“ werde178 und hebt Darwins Werk Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen demgegenüber als eine „Fundgrube feiner psychologischer Wahrnehmungen“ hervor. Nach Wundt scheitern Tierpsychologen gewöhnlich an zwei Klippen, nämlich an der mangelhaften Kritik vermeintlicher oder angeblicher Beobachtungen, wie sie in den Berichten anderer beschrieben werden, sowie an der „Aufstellung schlechter Analogien“.179 Der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), einer der eifrigsten Verfechter der Abstammungstheorie in Deutschland, handelt die „Anthropologie als Theil der Zoologie“ ab und würdigt Wundts Vorlesungen als den ersten ernstlichen Versuch in neuerer Zeit, sich vom „scholastischen Zwange der traditionellen Speculation zu befreien und eine monistische Psychologie auf dem einzig festen Boden der vergleichenden Zoologie zu begründen“.180 Bereits kurz nach Darwins Tod erscheinen auch die Schriften von George J. Romanes (1848–1894), dem Darwin seine Manuskripte zu Themenstellungen im Umkreis der Psychologie mit der Bitte übergeben hatte, Teile daraus in Romanes Werk über Mental Evolution in Animals (1883) zu übernehmen. Romanes ließ daher vieles von diesen Manuskripten in sein Werk einfließen. Dieses und das 1882 erschienene Buch Animal Intelligence versteht er als Beiträge zur vergleichenden Psychologie, sein Werk Mental Evolution in Man (1888) als deren Fortsetzung. Romanes’ und andere Beiträge zur Tierpsychologie sind von dem Anliegen getragen, kognitive Fähigkeiten wie Verstand, Intentionalität, Vorstellungsvermögen u. a. in ihrer Anwendung auf Tiere wissenschaftlich zu legitimieren und sie von anderen Konzepten wie Instinkt und Gewohnheit abzugrenzen. Wie bereits Haeckel in seiner Würdigung von Wilhelm Wundt zum Ausdruck bringt, bedeutet die Anerkennung eines tierlichen Seelenlebens unter Berücksichtigung des biologischen Kenntnisstandes seiner Zeit gerade eine Abkehr von spekulativen, empiriefremden Ansätzen. Es gilt als wissenschaftlich, auch bei Tieren Empfindungen, Wahrnehmungsleistungen, geistige Fähigkeiten, kurz, ein Seelenleben vorauszusetzen. Da wir unter der Voraussetzung der 178 W. Wundt, „Die Thierpsychologie“, in: ders., Essays, Leipzig 1885, S. 182-198, hier S. 182 f. 179 Ebd. S. 184. 180 E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, S. 437, Fuß note 1.
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Abstammungs- und Evolutionstheorie nur deshalb erkennen können, weil es vor uns bereits Lebewesen gab, die über Erkenntnisfähigkeiten verfügten und diese im Laufe der Stammesgeschichte an uns weitervererbt haben, beinhaltet die Voraussetzung von Erkenntnisleistungen im nichtmenschlichen Tierreich keine unzulässige Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Tiere, keinen Anthropomorphismus.181 Nichtmenschliche Tiere sind Subjekte von Erfahrungen, und die Erkundung der je spezifischen Besonderheit ihrer Subjektivität stellt eine Aufgabe und Herausforderung für die Ethologie dar (vgl. Abschnitt 5). Im September 1912 wurde die „Gesellschaft für Tierpsychologie“, zu deren Mitgliedern unter anderem Ernst Haeckel, Ludwig Plate, Julius Schaxel und Heinrich Ernst Ziegler gehörten, eigens in der Absicht gegründet, den Geistesfähigkeiten von Tieren im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Im „Aufruf zur Beteiligung an der Gesellschaft für Tierpsychologie“ in der 1. Nummer der Mitteilungen der Gesellschaft im Jahre 1913 wurden die Zielsetzungen dieser Gesellschaft programmatisch formuliert. Ihre Forderungen sollten nicht allein im Dienste rein theoretisch-wissenschaftlicher Interessen stehen, sondern „von weittragender, praktischer und allgemeiner Bedeutung werden“. Der neueren Tierpsychologie müsse es gelingen, „die Stellung des Tieres zu heben und seine Seele der menschlichen näher zu bringen“. Die Gründer der Gesellschaft wollten durch die Ergebnisse ihrer Forschungen den Tierschutzbestrebungen „die wissenschaftliche Grundlage“ geben.182 1913/14 erschien auch eine Zeitschrift mit dem Titel Tierseele. Zeitschrift für vergleichende Seelenkunde, welche von ihren theoretischen und praktischen Zielsetzungen her umfangreich angelegt war.183 Neben der „Förderung der tierpsychologischen Wissenschaft“ standen die „Geschichte der Tierseelenkunde“ sowie die „vertiefte Begründung vom Schutz und Recht des Tieres“ auf dem Programm. Verwiesen wird auf die „Bedeutung dieser Erkenntnisse für Fragen der Kultur und Weltanschauung, auf ihre Wirkung als
181 Ebd., S. 20. 182 In: Mitteilungen der Gesellschaft für Tierpsychologie, 1(1)/1913, S. 1 f. 183 Siehe zu weiteren Entwicklungen im 19., beginnenden 20. Jahrhundert E.-M. Engels, „Orientierung an der Natur? Zur Ethik der Mensch-Tier Beziehung“, in: M. Schneider (Hrsg.), Den Tieren gerecht werden. Zur Ethik und Kultur der Mensch-Tier-Beziehung, Tierhaltung Band 27, Kassel 2001, S. 68-87.
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Prüfstein der Entwicklungslehre und ihren Wert für Lehr- und Erziehungskunst“.184 Viele der damals im Zusammenhang mit dem Tierschutz diskutierten Themen haben heute nicht an Aktualität verloren, wie auch die Zeitschrift Der Tier- und Menschenfreund. Allgemeine Zeitschrift für Tierschutz, herausgegeben vom „Internationalen Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Tierfolter“ zeigt. In seiner Tierpsychologie nannte der Zoologe Heinrich Ernst Ziegler (1858–1925) als „das höchste Ziel der vergleichenden Psychologie oder Tierpsychologie“ eine „Stammesgeschichte der Seele“.185 Indem die Tierpsychologie als eine vergleichende Psychologie konzipiert wurde, deklarierte man den von Darwin angenommenen verwandtschaftlichen Zusammenhang von Tier und Mensch zum Programm einer Wissenschaft. Karl Lutz unterscheidet innerhalb der „wissenschaftlichen Tierpsychologie“ zwischen zwei Richtungen, die er als subjektive und objektive Tierpsychologie bezeichnet und als zwei einander ergänzende Zugänge zum Verständnis von Tieren versteht. Während die subjektive Tierpsychologie, als deren Vertreter er u. a. Wilhelm Wundt angibt, im Ausgang von den Phänomenen des menschlichen Seelenlebens per Analogieschluss zum Verständnis der Tierseele zu gelangen versuche, ziele die objektive Tierpsychologie, als deren Vertreter u. a. Jakob von Uexküll angegeben wird, auf das Studium des Verständnisses des Organismus im Kontext seiner Außenwelt. Beide Ansätze ergänzen nach Lutz einander insofern, als auch das Beobachtungsmaterial einer Deutung bedürfe. Dabei werde die „Tierpsychologie ganz von selbst zu einer Art von vergleichender Psychologie [...], die der subjektiven Sprache nicht entbehren kann.“186 Von entscheidender Bedeutung für eine Verbesserung der Stellung des Tieres gegenüber dem Menschen ist der umwelttheoretische Ansatz des Biologen Jakob von Uexküll (1864–1944), der das Tier in seiner Subjektivität auf systematische Weise zum Untersuchungsgegenstand der Biologie macht.187 Er grenzt sich von Versu184 Schriftleitung: „Was wir wollen“, in: Tierseele. Zeitschrift für vergleichende Seelenkunde. Hrsg. und Leiter Karl Krall, 1(1/2)/1913. 185 H. E. Ziegler, Tierpsychologie, Berlin, Leipzig 1921, S. 8. 186 K. Lutz, Tierpsychologie. Eine Einführung in die vergleichende Psychologie, Leipzig, Berlin 1923, S. 13. 187 Jakob von Uexküll stand Darwins Theorie und dem Darwinismus kritisch gegenüber, was meines Erachtens teilweise auf einem Missverständnis von Darwins Position beruht, teilweise jedoch auch auf dem damals viele Fragen
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chen ab, sich dem Tier „durch Abbau und Umbau der menschlichen Seele zur Tierseele“ zu nähern.188 Stattdessen gewinnen wir nach von Uexküll einen Zugang zum tierlichen Subjekt, indem wir das Tier und sein Verhalten im Kontext seiner Umwelt studieren. Das Tier als Subjekt zu verstehen, bedeutet nicht, unsere spezielle Weise des menschlichen Erlebens in es hineinzuprojizieren, sondern es selbst als „Mitte“ einer perspektivischen Ordnung anzuerkennen, die individual- und artspezifisch variiert. Von Uexkülls Umweltbegriff ist nicht mit dem der Ökologie gleichzusetzen. Er unterscheidet zwischen einer Umgebung und der Umwelt des Tieres. Der Begriff Umgebung bezeichnet alle Gegenstände, die unabhängig vom Tier existieren, also die das Tier umgebende Welt aus der Perspektive des menschlichen Beobachters, während seine Umwelt diejenige Wirklichkeit ist, die vom Tiersubjekt selbst in seinen „Funktionskreisen“ des Wirkens und Merkens hergestellt, konstruiert wird. Sie bildet daher die Merkwelt und Wirkwelt des Tieres. Nur aus jenen äußeren Gegebenheiten, jenen Aspekten der Umgebung, die in Beziehung zu den Merk- und Wirkmöglichkeiten des Tieres stehen und die für das Tier im biologischen Sinne relevant sind, kann es seine Umwelt aufbauen.189 Die Eigenschaften oder Merkmale der Umwelt werden somit vom Tier konstruiert, womit sie zur Wirklichkeit des Tiersubjektes werden. Die Umwelt eines Lebewesens ist also nichts fertig Gegebenes, sondern wird von ihm durch seine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Verhaltensleistungen konstruiert. Daher kann ein Objekt, das aus unserer menschlichen Perspektive ein und derselbe Gegenstand ist, nicht nur für verschiedene Tiere, sondern auch für dasselbe Tier in Abhängigkeit von seinen jeweiligen augenblicklichen Funktionskreisen Unterschiedliches darstellen. Von Uexküll versteht seinen Ansatz als Erweiterung der Forschungen von Immanuel Kant nach zwei Richtungen hin, nämlich „1. die Rolle unseres Körpers, besonders unserer Sinnesorgane und offenlassenden und ungeklärten Verständnis von Vererbung und Embryonal entwicklung. Zur Kritik am Darwinismus siehe T. von Uexküll, „Einleitung: Plädoyer für eine sinndeutende Biologie“, in: ders. (Hrsg.), J. v. Uexküll, Kom positionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Aus gewählte Schriften, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 17-85, hier S. 59-64. Zu Uexküll vgl. den Beitrag von Brentari in diesem Band. 188 J. von Uexküll, „Vorschläge zu einer subjektbezogenen Nomenklatur in der Biologie“ (1935), in: Kompositionslehre der Natur, S. 129-143, hier S. 132. 189 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen (1934), Frankfurt a. M. 1983.
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unseres Zentralnervensystems mit zu berücksichtigen und 2. die Beziehungen anderer Subjekte (der Tiere) zu den Gegenständen zu erforschen“.190 Die Hervorstreichung des Subjektcharakters nichtmenschlicher Lebewesen und ihrer konstruktiven Leistungen ohne Anthropomorphisierung der Tiere ist ein besonderes Anliegen dieses Ansatzes. Obgleich der Begriff „Tierpsychologie“ im Laufe des 20. Jahrhunderts dem der Ethologie weichen musste, teilt die heutige moderne kognitive Ethologie191 Fragestellungen und Interessen mit der Tierpsychologie und hat in Bezug auf viele Tierarten eine vertiefte Kenntnis ihres kognitiven Leistungsspektrums gewonnen. Neben der Ethologie gibt es andere biologische Disziplinen, welche konvergierend die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren belegen. Hierzu gehört insbesondere die Molekulargenetik mit ihrer Entdeckung der Universalität des genetischen Codes. Mit ihrer Methode lassen sich heute präziser phylogenetische Zusammenhänge, d. h. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Organismen verschiedener Taxa rekonstruieren, als dies rein morphologisch möglich ist. Die Ethologie kann daher heute fundierter als je zuvor an die Voraussetzung eines naturgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen Mensch und Tier anknüpfen. Darwins Abstammungstheorie hat weitreichende ethische Implikationen für unsere Beziehung zu anderen Lebewesen. Eine Anthropozentrik, die nur für den Menschen einen inhärenten Wert, eine Würde, eine Schutzwürdigkeit um seiner selbst willen anerkennt, lässt sich nicht begründen und gerät in Selbstwidersprüche. Der Dualismus von Mensch (anthropos) und Natur (physis) ignoriert die Tatsache, dass auch der Mensch nicht nur ein Kulturwesen ist, sondern als Lebewesen einen Teil des Gesamtzusammenhangs der Natur bildet, aus dem er hervorgegangen ist. Eine solche An thropozentrik basiert auf einem verkürzten Menschenbild. Sie grenzt sich nicht nur von der nichtmenschlichen Natur ab, sondern grenzt auch wesentliche Bestandteile des menschlichen Lebewesens aus, weil wir uns nicht nur durch unsere Geistigkeit auszeichnen, son-
190 J. v. Uexküll, Theoretische Biologe (1920), Frankfurt a. M. 1973, S. 9 f. 191 Auf diesem Gebiet gibt es inzwischen eine Fülle an Literatur. Siehe die Schrift von J. Benz-Schwarzburg und die dort berücksichtigte Literatur: J. BenzSchwarzburg, Verwandte im Geiste, Fremde im Recht. Sozio-kognitive Fä higkeiten bei Tieren und ihre Relevanz für Tierethik und Tierschutz. Vgl. auch den Beitrag von Menzel in diesem Band.
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dern auch leibliche Wesen sind. Die Ergebnisse der heutigen Biologie legen in mehrfacher Hinsicht die Relativierung der ethischen Anthropozentrik nahe: Jede Tierart nimmt gegenüber anderen Arten eine Sonderstellung ein, da sie sich von diesen unterscheidet. Je tiefer die Naturwissenschaften mit ihren Instrumenten in den biologischen Mikrokosmos vordringen, desto augenfälliger wird die Komplexität selbst kleinster Lebewesen. Hinzu kommt, dass die Evolution einen kontinuierlichen Zusammenhang darstellt und der Mensch mit den übrigen Lebewesen mehr oder weniger nah verwandt ist. Der evolutionstheoretische Erklärungsrahmen stützt daher auch die Annahme der Empfindungs- und Schmerzfähigkeit nichtmenschlicher Organismen als evolutionäre Anpassungen. Hier könnten sich evolutionäre Ethologie und philosophische Anthropologie einander annähern. Die Überwindung des Dualismus von Mensch und Natur durch die Einbettung des Menschen in den Zusammenhang der Natur eröffnet – zusammen mit anderen Prämissen – die argumentative Möglichkeit, eine moralische Verpflichtung des Menschen gegenüber Tieren zu begründen: Ausgehend von der Erkenntnis, dass Menschen und Tiere ungeachtet der kulturschöpferischen Tätigkeit des Menschen ein und demselben Naturzusammenhang angehören, ausgehend vom Wissen um die emotionalen und kognitiven Fähigkeiten von Tieren, ihren konstruktiven Leistungen beim Aufbau ihrer Umwelt sowie von der Voraussetzung, dass der Mensch für sich selbst eine Schutzwürdigkeit in Anspruch nimmt, die sich nicht nur auf sein Selbstbewusstsein, seine Sprach- und Moralfähigkeit, sondern auf den gesamten Menschen, seine Leiblichkeit, bezieht, ist es nur konsistent, wenn auch für nichtmenschliche Lebewesen diese Schutzwürdigkeit um ihrer selbst willen anerkannt wird. Dass nur der Mensch ein moralisches Wesen, also Subjekt von Moral (moral agent) sein kann, beinhaltet zudem nicht, dass auch nur er Objekt moralischen Verhaltens (moral patient) sein kann, dass wir also nur ihm gegenüber eine moralische Verpflichtung haben. Hans Jonas hat die Bedeutung der Darwinschen Theorie für die Ethik in seinen Ansätzen zu einer philosophischen Biologie im Kapitel „Philosophische Aspekte des Darwinismus“ überzeugend dargelegt: „So untergrub der Evolutionismus den Bau Descartes’ wirksamer, als jede metaphysische Kritik es fertiggebracht hatte. In der lauten Entrüstung über den Schimpf, den die Lehre von der tierischen Abstammung der metaphysischen Würde des Menschen angetan habe, wurde übersehen, daß nach dem gleichen Prinzip dem https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Gesamtreich des Lebens etwas von seiner Würde zurückgegeben wurde. Ist der Mensch mit den Tieren verwandt, dann sind auch die Tiere mit dem Menschen verwandt und in Graden Träger jener Innerlichkeit, deren sich der Mensch, der vorgeschrittenste ihrer Gattung, in sich selbst bewußt ist. […] Und es stellt sich heraus, daß der Darwinismus, der mehr als jede andere Lehre für die nunmehr dominierende evolutionäre Schau aller Wirklichkeit verantwortlich ist, ein von Grund auf dialektisches Ereignis war. Das wird zunehmend sichtbar, je mehr seine Lehren philosophisch assimiliert werden. Alle derzeitigen Revisionen der überlieferten Ontologie [...] gehen fast axiomatisch von der Auffassung des Seins als eines Werdens aus und suchen im Phänomen der kosmischen Evolution nach dem Schlüssel für einen möglichen Standort jenseits der alten Alternativen.“192 Auch die Tierethiker Peter Singer und Tom Regan, die auf der Grundlage unterschiedlicher ethischer Positionen einen strengen Tierschutz vertreten, gehen unter Berufung auf Darwins Annahme eines graduellen, aber nicht wesentlichen Unterschiedes zwischen Tieren und Menschen von der Relevanz der Darwinschen Theorie für die Tierethik aus.193
192 H. Jonas, Das Prinzip Leben, Frankfurt a. M. 1994, S. 100 f. (Erstveröffentli chung als Organismus und Freiheit, Göttingen 1973. Aus dem Englischen: The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology, New York 1966). 193 T. Regan, The Case for Animal Rights (1983), Berkeley, Los Angeles 2004, mit einem neuen Vorwort; P. Singer, Practical Ethics (1980), Cambridge 2011. Deutsch: Praktische Ethik, 3. rev. u. erw. Auflage, Stuttgart 2013.
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Kristian Köchy
‚Scientist in Action‘: Jean-Henri Fabres Insektenforschung zwischen Feld und Labor
1. Fabres Wissenschaft als ‚Forschungsprogramm‘ Ziel der folgenden Überlegungen ist es, die Arbeiten des französischen Insektenforschers Jean Henri Fabre (1823–1915)1 als ein wissenschaftliches Forschungsprogramm darzustellen. Der Begriff ‚Forschungsprogramm‘ ist dafür aus der Wissenschaftsphilosophie von Imre Lakatos entlehnt.2 Grund für diese Entlehnung ist, dass mit Lakatos’ Überlegungen eine Vorstellung von Wissenschaft verbunden ist, die diese als eine komplexe Verflechtungsmatrix von innerwissenschaftlichen und philosophischen Annahmen versteht. Für Lakatos ist ein Forschungsprogramm ein ganzheitliches Netzwerk von Vorstellungen, bei dem man zwei Areale unterscheiden kann, die sich nach dem Modell von Kreiszentrum und Peripherie ergänzen: Die Rolle der Peripherie (protective belt) ist es, als ‚positive Heuristik‘ zu fungieren. Dieser Bereich enthält die theoretischen Überlegungen oder wissenschaftlichen Hilfshypothesen, die einen direkten Anschluss zu empirischen Befundlagen herstellen, quasi den Kontakt des Denkens mit der Welt sichern. Die Rolle des Kreiszentrums (hard core) ist es, zentrale und konstituierende 1 Vgl. K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn. Die Begegnung mit J.-H. Fabre, Zürich, Stuttgart 1959; G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, New York 1971; A. Portmann, „Jean-Henri Fabre (1823–1915)“, in: R. A. Stamm (Hrsg.), Tierpsy chologie, Weinheim, Basel 1984, S. 37-43; Y. Delange, Fabre l’homme qui aimait les insectes, Paris, Geneve 1986; M. Auer, Ich aber erforsche das Leben. Die Le bensgeschichte des Jean-Henri Fabre, Weinheim 1995; P. Tort, Fabre. Le miroir aux insectes, Paris 2002; A. Delage, Jean-Henri Fabre. L’observateur incompara ble, Cahors 2005. 2 I. Lakatos, „Falsification and the Methodology of Scientific Research Pro grammes“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, S. 91-196; I. Lakatos, „Die Geschichte der Wissen schaft und ihre rationalen Rekonstruktionen“, in: W. Diederich (Hrsg.), Theo rien der Wissenschaftsgeschichte. Beitrage zur diachronen Wissenschaftstheo rie, Frankfurt a. M. 1974, S. 55-119.
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Überzeugungen zu versammeln. Hiermit sind all diejenigen Grundüberzeugungen einer Wissenschaft gemeint, die Thomas S. Kuhn als ‚quasimetaphysische Bindungen‘ der normalwissenschaftlichen Forschung bestimmt hatte.3 Es geht in diesem Bereich sowohl um zentrale Annahmen zum Status und zur Beschaffenheit der zu untersuchenden Bereiche oder Grundstrukturen der Welt als auch um korrespondierende Vorgaben für jeweils angemessene Untersuchungs- oder Belegverfahren. Dieser Bereich umfasst also ontologische und methodologische Aspekte und ist vor allem nicht mehr rein fachwissenschaftlich festgelegt, sondern ebenso durch diejenigen Charakterzüge bestimmt, die frühere positivistische Wissenschaftsphilosophie als ‚Metaphysik‘ aus der Wissenschaft aus klammern wollte. Für Lakatos ist eine solche Exklusion allerdings unmöglich. Im Gegenteil, metaphysische Anteile sind konstituierende Elemente von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen. Hierzu gehören – so kann man mit Kuhn ergänzen – Grundannahmen über Begriffe, Aussagen und Gesetze, über Untersuchungsverfahren, Instrumente und Apparate oder über das methodische Ethos der Forschung (dasjenige, was Lorraine Daston und Peter Galison ‚epistemische Tugenden‘4 nennen). Unserer Auffassung nach, und das gilt es im Folgenden durch die Tat zu belegen, ist diese komplexe Verflechtungsmatrix von wissenschaftlichen und metaphysischen, von methodisch-methodologischen und ontisch-ontologischen, von empirischen und spekulativen Elementen bestens geeignet, die Spezifik von Fabres Forschung wiederzugeben (wie sie überhaupt bei genauer, kontextueller Analyse bestens in der Lage ist, die Besonderheiten und vielfältigen Elemente vieler spezifischer Forschungsansätze wiederzugeben). Zur Erhöhung der Angemessenheit und Relevanz dieser Rekonstruktion wird allerdings zusätzlich davon ausgegangen, dass die eher theoriezentrierten, dem Paradigma möglichst umfassender Rationalisierung folgenden Überlegungen von Lakatos im Sinne moderner Wissenschaftsforschung zu erweitern sind. Dazu gehört erstens der Verzicht auf die strikte Unterscheidung zwischen internen (methodologischen) und externen (gesellschaftlichen) Momenten der Forschung. Die Aufhebung dieser Grenzziehung ist seit der Science in Context Bewegung anerkannt und wurde vor allem 3 4
T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1991, S. 55. L. Daston, P. Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 41 ff.
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in den Arbeiten von Bruno Latour durch viele Fallbeispiele belegt und ausformuliert.5 Ebenso gehört zu unserem Ansatz zweitens eine Erweiterung von Lakatos’ Aufmerksamkeitsbereich. Wir konzentrieren uns nicht nur auf die theoretisch-begrifflichen Anteile der Wissenschaft, sondern beziehen praktisch-materiale Anteile im Sinne des practical turn der Wissenschaftsphilosophie in unsere Betrachtung ein. Dabei verdienen im Fall der Forschungen Fabres insbesondere Verfahren und Techniken der Beobachtung und Darstellung Aufmerksamkeit. Insgesamt ist die folgende Ausführung deshalb der Versuch, die methodologische Signatur von Fabres Forschungsansatz zu rekonstruieren.6 Zu ihren Kenngrößen gehören neben dem bevorzugten Forschungskontext, den eingesetzten Verfahren oder den primär für die Forschung relevanten Vermögen der untersuchten Lebewesen auch die jeweils untersuchten Modellorganismen, die implizit oder explizit vorliegende Konzeption von Tier-Mensch-Beziehungen in diesem Ansatz oder die ihn begleitenden oder strukturierenden philosophischen Hintergrundannahmen. Ein wesentlicher Aspekt der Insektenforschung Fabres wird dabei durch die Vorgaben des Projektrahmens dieses Buches hervorgehoben: Es ist dies die nachgerade triviale Tatsache, dass Fabres Forschung, wie alle biologische Forschung, eine Erforschung von Lebewesen ist. Jenseits der damit verbundenen Betonung der Rolle von Modellorganismen7 oder der Spezifität biologischer Fragestellungen und Methoden, die zur Erforschung besonderer Vermögen oder Merkmale von Lebewesen eingesetzt werden, welches Gegenstand einer differenzierenden Wissenschaftsphilosophie wäre, geht es uns deshalb insbesondere um das in Fabres Forschung zum Ausdruck kommende Netzwerk von Tier-Mensch-Interaktionen. Es wird eine Aufgabe dieser Untersuchung sein, den damit einhergehenden Besonderheiten von Fabres Forschung nachzugehen, wobei 5
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Vgl. etwa T. Lenoir, „Praxis, Vernunft und Kontext. Der Dialog zwischen Theorie und Experiment“, in: T. Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M., New York 1992, S. 172-208; L. Daston, „Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität“, in: M. Hagner (Hrsg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 137-160; B. Latour, „Der Blutkreislauf der Wissenschaft“, in: B. Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 96-136. Einem vergleichbaren Ziel folgen auch die Beiträge von Böhnert/Hilbert und von Wunsch in diesem Band. Vgl. dazu etwa M. Lederman, R. Burian (Hrsg.), The Right Organism for the Job, Schwerpunkt in: Journal of the history of biology, 26(2)/1993, S. 233-368.
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diese sich insbesondere bei Berücksichtigung des jeweiligen context of discovery zeigen. Die sich noch in Fabres schriftlicher Niederlegung dieses Entdeckungszusammenhangs abbildenden Momente der Sondierung, des Scheiterns und des Neuanfangs, welche insbesondere in Phasen apparativ-materieller Interaktion mit dem Untersuchungsgegenüber deutlich werden, verweisen uns immer wieder darauf, dass sich dieses Gegenüber des Forschers durchgehend in seiner subjektiven Charakteristik und seinen Widerständigkeiten zum Ausdruck bringt und in die Forschung einschreibt. Den Gedanken, Jean-Henri Fabres Studien als Forschungsprogramm zu interpretieren, kann man bereits den Ausführungen Adolf Portmanns in dessen Buch Das Tier als soziales Wesen entnehmen.8 Portmann vergleicht hier die Arbeiten Fabres mit den Forschungen des Tinbergen-Schülers Gerard P. Baerends (1916– 1999).9 Sein Vergleich erweist sich bei genauer Betrachtung als Gegenüberstellung zweier Forschungsansätze der Feldforschung. Portmanns Versuch einer Klärung von deren Grundstruktur ist umso lehrreicher, als er zwei Konzepte für seinen Vergleich aussucht, bei denen Teilbereiche der methodologischen Signatur unverändert bleiben: So untersuchen sowohl Fabre als auch Baerends die gleiche Tierart (Sandwespe Ammophila) und sie interessieren sich für das gleiche Vermögen dieser Lebewesen (deren ‚Instinkt‘). Die Ansätze von Fabre und Baerends verbindet zudem die geteilte Überzeugung, eine angemessene Erforschung tierlichen Verhaltens erfordere die Beobachtung von Tieren in deren natürlichem Lebensraum. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch ebenso auffällige Unterschiede in Forschungsstil und Forschertypus. Mit dem Vergleich zwischen Fabre und Baehrends betrachtet man den Übergang vom solitären Einzelforscher10 zur sozialen Arbeitsform 8 A. Portmann, Das Tier als soziales Wesen, Zürich 1953, S. 34 ff. 9 Zu Fabre und Baerends vgl. auch N. Tinbergen (Tiere untereinander. Soziales Verhalten bei Tieren insbesondere Wirbeltieren, Berlin, Hamburg 1955, S. 123): „Der große französische Insektenforscher Fabre hat gezeigt, wieviel Wichtiges man durch bloßes Zusehen entdecken kann. So wertvoll sein Werk für seine Zeit war, ist es doch für unsere Zwecke nicht genau genug. Was man aus Dauerbe obachtung individuell bekannter Insekten erschließen kann, dafür ist Baerends’ Arbeit über das Verhalten der Sandwespe Ammophila ein gutes Beispiel.“ 10 Die Frage, inwiefern es sich bei der Betonung der eigenen Sonderposition und Opposition zur akademischen Wissenschaft um ein stilisiertes Narrativ handelt, das angesichts der tatsächlichen Bezugnahmen Fabres auf vorhandene Wissensbestände, einschlägige Publikationen und wissenschaftliche Positionen sowie auch angesichts von Fabres eigener ‚Politik‘ (vgl. P. Tort, Fabre. Le miroir
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der Wissenschaft. Die Haltung Fabres, der als Frondeur in lebenslanger Einsamkeit seine Einzelbeobachtungen im Feld umsetzt, folgt noch den Idealen der Naturgeschichte einer besonderen Tierart. Baerends Forschung hingegen ist von Detailfragen zu speziellen Vermögen von Tieren bestimmt. In diesem Zusammenhang kommt es auch zu einem Wandel von Habitus und Methoden der Feldarbeit. Nicht mehr lange Streifzüge durch das Exkursionsgebiet wie bei Fabre bilden die Grundlage der Wissenschaft, sondern ein eingegrenztes, parzelliertes und laborähnlich gemachtes Terrain, das der nun ortsfeste Forscher langfristig beobachtet. Den großen Entwicklungssprung ermöglicht auch die – aus Karl v. Frischs Bienenforschung übernommene – neue Methode der Markierung und Identifizierung von Individuen.
2. Vom Freiland zum Labor und zurück: Fabres Insektenlabor als ‚Laboratop‘ Nehmen wir diesen Gedanken als Ausgang (wobei sich zeigen wird, dass Portmanns klare Grenzziehung bei genauerer Rücksicht auf die Details von Fabres Forschung weichere Konturen bekommt und fließende Übergänge zwischen Fabres Ansatz und der heutigen Ethologie entstehen), dann ist er nicht nur ein Hinweis auf die Bedeutung der epistemischen Tugenden spezifischer Forschertypen, die anhand von Fabres Forschung zu thematisieren wären, sondern wir können die Überlegungen Portmanns auch so interpretieren, dass wir Fabres Forschung in erster Näherung als Paradigma einer spezifischen Form der ethologischen Freilandforschung11 verstehen. An exponierter Stelle seines Werkes – in den einleitenden Überlegungen des zweiten Bandes seiner Souvenirs Entomologiques – hat Fabre diese Ausrichtung selbst hervorgehoben: Sein ‚Labor‘ ist das Freilandlabor, sein von Wildkräutern überwucherter Garten in
aux insectes, S. 75 ff.) zu relativieren wäre, wird in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt. 11 A. Portmann, „Jean-Henri Fabre“, S. 38: „Entgegen einer der damaligen Zeit tendenzen, die im Laboratorium die wichtigste Forschungsstätte sehen wollte, hat Fabre das ‚Freie‘ zu seiner Arbeitsstätte gemacht […].“ Y. Delange, Fabre, S. 112: „[…] c’est l’étude en plein air, dans la nature, qui a eu la grande faveur du naturaliste.“
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der Provence (Sérignan-du-Comtat, Vaucluse), den er „Harmas“12 (provenzalisch für ‚Brachland‘) nennt. Das Laboratorium der Physiologen oder das Museum der Systematiker13 als alternative Forschungsorte lehnt er hingegen ab: „Genau das habe ich mir gewünscht, hoc erat in votis: ein Stück Land, oh!, nicht groß, aber umzäunt und den Unannehmlichkeiten der öffentlichen Straße entzogen, vernachlässigt, unfruchtbar, ausgedörrt, gut für Disteln und Hautflügler. Hier könnte ich, von Passanten ungestört, Sandwespe und Grabwespe befragen, mich diesem schwierigen Gespräch widmen, bei dem Frage und Antwort in der Sprache des Experiments erfolgen. […] Ja, das war mein Wunsch, mein lang gehegter Traum, der immerfort in den Nebeln der Zukunft verschwand. Ja, es ist nicht einfach, sich ein Laboratorium im Freien zu leisten, wenn einen die Sorge um das tägliche Brot bedrängt.“14 Wichtig an dieser Textpassage ist, dass Fabre seine eigene Freilandforschung explizit mit der Arbeit im Labor gleichsetzt und dass er genau betrachtet den Akzent nicht eigentlich auf die Beobachtung, sondern vielmehr auf das Experiment legt. Bevor wir diese beiden Akzentuierungen genauer würdigen, seien jedoch Fabres Überlegungen zunächst in einen allgemeineren theoretischen Rahmen gestellt: Hierzu ist anzumerken, dass Feldforschung generell als Alternative oder Ergänzung zur Laborforschung gilt.15 Dabei steht das Feld idealtypisch für eine ursprüngliche Situation der Forschung, die durch unmittelbare Auseinandersetzung mit der Umwelt gekennzeichnet ist. Wissenschaft entsteht hier ohne vorgefertigte 12 Vgl. A. Delage, Jean Henri Fabre, S. 197 ff. 13 Zur Kritik an der Systematik und zur Orientierung an Biologie und Ökologie vgl. Y. Delange, Fabre, S. 102, S. 156 ff. 14 J.-H. Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, übersetzt von F. Koch, Ber lin 2010 ff., Bd. 2, S. 7 (frz. J.-H. Fabre, Souvenirs Entomologiques. Etudes sur l’Instinct et les Mœurs des Insectes, Nouvelle Edition Illustrée, Edition Sciences Nat, Compiègne (o. J.) 1985, Bd. 2, S. 9). Die deutschen Bände werden bis Bd. 7 zitiert (die übrigen Bände befiden sich derzeit erst im Erscheinen), die franzö sische Ausgabe jeweils in Klammer. Die übrigen Bände werden nur nach der französischen Ausgabe zitiert. 15 Vgl. K. Köchy, „Feld, Beobachtung“, in: P. Sarasin, M. Sommer (Hrsg.), Evo lution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 167-171; K. Köchy, „Labor, Experiment“, in: P. Sarasin, M. Sommer (Hrsg.), Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 171-175; K. Köchy, „Feldforschung“, in: M. Sommer, S. Müller-Wille, C. Reinhardt (Hrsg.), Hand buch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart, Weimar 2016 (im Druck).
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Konzepte quasi „aus dem Nichts“, während im Gegensatz dazu der Laborzugang immer schon vermittelt ist und ein der Wissenschaft angemessenes, kulturell hergestelltes Universum voraussetzt.16 Dem ursprünglichen Status der Feldforschung entspräche es, dass Beobachten, Zeigen, Sammeln oder Darstellen wichtiger wären als Experimentieren, Eingreifen, Formalisieren oder Herstellen. Feldforschung wäre dann auch insofern ursprünglich, als sie in von Menschen nicht gemachten Umgebungen (in der ‚Natur‘) stattfindet, während Laborforschung vom Menschen Gemachtes wie spezielle Gebäude oder Apparate voraussetzte. Berücksichtigt man zudem die Fülle von Variablen, die die Arbeit der Feldforscher prägen, dann repräsentiert das Feld nicht nur positiv die Unmittelbarkeit der natürlichen Umgebung, sondern eben auch negativ die Irritation und Überforderung durch eben diese natürliche Fülle. Mit der Distanz der Laborforschung ist deshalb auch ein Anspruch auf Kontrolle, Beherrschung und Überblick verbunden, den eine ‚gesteigerte‘, weil nach menschlichen Vorgaben geformte Umwelt gewährleistet.17 Während Laborforschung den Idealen der Vereinfachung, Normierung und Standardisierung genügt, womit Laboratorien zu ‚place less places‘ werden, ist Feldforschung eher durch ‚practices of place‘ bestimmt,18 die alternative ‚epistemische Tugenden‘ erfordern, wie etwa Offenheit gegenüber dem Unerwarteten, Streben nach Realitätsnähe oder Würdigung der Relevanz wissenschaftlichen Wissens. Nicht nur die Forschung von Jean-Henri Fabre belegt allerdings, dass diese mehr oder weniger formale Karikatur einer diametralen Gegenüberstellung von Feld und Labor die deutlich komplexeren Beziehungen zwischen beiden alternativen Forschungsstrategien und den Räumen oder Forschungsumwelten, die mit ihnen thematisch werden, nur verzerrt wiedergibt. So ist auch Fabres Arbeit zwar durch bestimmte epistemische Typiken des Feldansatzes geprägt – etwa die Betonung der sorgsamen Beobachtung, die Ausbildung einer nachgerade poetischen Beschreibung im Sinne naturhistorischer Narrationen, die Akzentuierung von Besonderheiten des Einzelbefundes, die Verwendung der Anekdote oder die Suche nach einfachen Versuchen in Freiland und Arbeitszimmer. Zugleich 16 B. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 43. 17 K. Knorr Cetina, Wissenskulturen, Frankfurt a. M. 2002, S. 45 f. 18 R. E. Kohler, „Place and Practice in Field Biology“, in: History of Science, 40(128)/2002, S. 189-210; R. E. Kohler, Landscapes & Labscapes. Exploring the Lab-Field-Border in Biology, Chicago, London 2002.
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finden sich jedoch bei ihm alle Übergänge – die Ergänzung der Beobachtung durch das gezielte und sondernde Experiment, der Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität und Allgemeingültigkeit der erhobenen Befunde, der Einsatz umfänglicher und sorgsamer Beobachtung gegen Erfindung, Mythos und bloßes Dafürhalten, eine positivistisch ablehnende Haltung zur Spekulation oder die intensive Kombination von Feldarbeit und sorgfältigen Experimentalstudien im ‚Labor‘ seines Arbeitszimmers. Auf vergleichbare Übergänge zwischen Labor und Feld haben schon die Arbeiten von Bruno Latour aufmerksam gemacht, die ihrerseits als Feldstudien in dieser Kontaktzone erfolgten. Typisch ist dessen Bericht über eine bodenkundlich-botanische Exkursion ins Amazonasgebiet, der eine kettenartige Verschränkung epistemischer Kontexte aufdeckt, in welchen jeweils weder reine Feldarbeit noch reine Laborarbeit geleistet wird. Mit diesem Befund stützt Latour auch sein eigenes epistemologisches Modell der zirkulierenden Referenz19 und unterstreicht damit, wie sehr das Freiland bereits ein ‚Protolaboratorium‘ ist und durch Parzellierung, Kartierung, Protokollierung, Normierung und Markierung die ‚natürliche‘ Situation überformt. Genau dieses lässt sich prägnant auch an den Forschungen Fabres illustrieren: Trotz seiner vehementen Kritik am Labor werden Feld- und Laborforschung auch bei Fabre als sich ergänzende Forschungsstrategien erkennbar, die in stetem Austausch von Ressourcen, epistemischen Verfahren, Instrumenten, Techniken, Theorien oder Forschern stehen.20 Betrachtet man deshalb Fabres vehemente Kritik am Laboratorium, dann ist diese neben persönlichen Motiven21 – auch der Frustration, die eigene Forschung in ärmlichen Verhältnissen und ohne finanziellen Rückhalt durch öffentliche Förderer umsetzen zu müssen,22 während etwa das Ozeanographische Institut des Prin-
19 B. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 36 ff. 20 R. E. Kohler, „Place and Practice in Field Biology“, S. 189. 21 J.-H. Fabre (Erinnerungen, Bd. 6, S. 339; frz., Bd. 6, S. 244) verweist auch auf sein Ungeschick im Umgang mit Laborutensilien („will mir mit diesen Gerät schaften nichts Rechtes gelingen“). 22 Ebd., S. 395 (frz., S. 283): „Gerne würde ich auf meine geliebte Chemie zurück greifen; aber dazu sind Reagenzien nötig, eine Ausrüstung, ein Laboratorium, ein teures Instrumentarium, von dem ich nur träumen kann; ich leide an einem furchtbaren Übel, dem üblichen Los der Forscher: an Geldmangel.“
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zen von Monaco umfängliche Finanzierung erfuhr23 –, immer auch durch weltanschauliche Vorbehalte begründet. In Bezug auf den letzten Punkt zeigt sich, dass Fabres Kritik am Labor auch eine Kritik an der artifiziellen Grundhaltung und am trennenden Verfahren der analytischen Forschung ist, der Fabre seinen eigenen Ansatz als organismische Lebensforschung24 entgegen stellt und die bei aller positivistischen Methodologie eine quasi romantische Grundhaltung zum Ausdruck bringt (auf diesen Punkt wird unten noch einzugehen sein): „Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm ein Objekt des Abscheus und des Mitleids, ich mache es liebenswert; ihr arbeitet in einer Werkstatt, wo gefoltert und zerstückelt wird, ich beobachte unter blauem Himmel beim Gesang der Zikaden; ihr behandelt Zelle und Protoplasma mit Chemikalien, ich studiere den Instinkt in seinen erhabensten Formen; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.“25 Konzentrieren wir uns jedoch zunächst nicht auf diesen weltanschaulich-metaphysischen Kern des Forschungsprogramms oder die Polemiken des Forschers, sondern betrachten die in Fabres Schriften dokumentierten konkreten Arbeitsabläufe und die Räume, in denen sie vollzogen werden, dann gelangt vor allem der – im Sinne der Überlegungen Latours – strukturierte und parzellierte Aufbau von Fabres Garten in den Blick – zugleich ein Bild für die freie Natur als auch ein Latoursches Protolaboratorium par excellence. Hugh Raffles verweist in seiner luziden und facettenreichen Studie zu Fabres Forschung auf die Arbeiten von Madame Slézec, die im Auftrag des Muséum nationale d’Histoire naturelle die Gartenanlage von Fabre 1967 rekonstruierte.26 Demnach sind drei Areale des Harmas zu unterscheiden: ein Blumengarten vor dem Haus, dann ein Areal heimischer Sträucher und Bäume, die nach der Pflanzung sich selbst überlassen wurden und schließlich ein großes Areal mit Bäumen (parc arboré). Die beiden letzten Areale dienten als Freilandlabor, das 23 K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 216. Vgl. auch G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 127. 24 Vgl. zu den parallelen Entwürfen einer solchermaßen organismischen Biologie im angelsächsischen Sprachraum M. Esposito, Romantic Biology 1890–1945, London, Vermont 2013. 25 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 9 (frz., Bd. 2, S. 10). Vgl. dazu auch K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 67 ff. 26 H. Raffles, „Evolution“, in: H. Raffles, Insektopädie, Berlin 2013, S. 48-70, hier S. 50 f.
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erste hingegen zur Erbauung von Familie und Besuchern. Bedeutsam ist dabei auch, dass die scheinbar ungezähmten und naturbelassenen Bereiche des Gartens durchaus dem Ideal eines romantischen Landschaftsgartens folgen und insofern das Ergebnis umfänglicher Kultivierung sind. Dieser Übergang von Natur zu Kultur oder von kultivierter Natur im Modus vermeintlicher Wildnis,27 verweist uns dann bereits auf einen gemeinsamen Grundzug aller weiteren ‚Räume des Wissens‘28 bei Fabre. Zugleich steht der Harmas mit seiner ihn umgrenzenden hohen Mauer auch als äußeres Zeichen für die solitäre Haltung des Menschen und Forschers Fabre, sowie als Symbol für die Notwendigkeit der Fokussierung auf den wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand und die Konzentration auf die Forschungsaufgabe.29 Darüber hinaus weckt der so inszenierte Forschungsgarten weitere religiöse und literarische Assoziationen.30 So findet Fabres Forschung durchaus nicht nur im Freien statt, denn hier wäre die Beobachtung allzu sehr vom Zufall abhängig.31 Vielmehr werden ausgeklügelte Untersuchungsansätze und Experimente (die allerdings alle mit den simplen Materialien des All-
27 Vgl. T. Kirchhoff, L. Trepl (Hrsg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009. Folglich ist die Anmerkung E. Jüngers (Subtile Jagden, Stuttgart 1967, S. 336 f.) aufschlussreich, der über einen Besuch in Sérignan schreibt: „Auch in Serignan verblaßt, ver gilbt, verwittert die gehortete Substanz – das riesige Herbar, Sammlungen von Insekten, Pilzen, Fossilien. […] Auch draußen im Garten hat die Zeit gewirkt. Er ist verwildert, die Macchia zog ein.“ Ebenso der Bericht von K. Guggenheim (Sandkorn für Sandkorn, S. 232): „Nachher schritten wir, meine Frau und ich, […] durch den stillen ‚Harmas‘. Zwar waren die Wege von Unkraut überwuchert, doch man konnte auf ihnen gehen, die Sträucher waren zurückgeschnitten.“ 28 Vgl. H.-J. Rheinberger, M. Hagner, B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wis sens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. 29 Vgl. P. Tort, Fabre, S. 63: „La solitude, creuset du mérite, est également condition de sérénité dans l’observation, l’expérimentation, l’écriture.“ 30 Vgl. ebd., S. 67: „L’Harmas rénové, aménagé pour la vie et l’étude à l’abri de sa clôture, pépinière et piège à insectes, ‚laboratoire d’entomologique vivante‘, est pour Fabre comme le dernier nid, où l’aurea mediocritas horacienne se mêle à l’évocation génésiaque de l’Éden.“ 31 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 197 (frz., Bd. 4, S. 150): „Diese unvorher gesehenen Beobachtungen, die manchmal auf einer öffentlichen Straße gemacht werden, dem denkbar schlechtesten Labor, sind nur halb befriedigend. Bei diesen rasend schnellen Szenen, die man nicht so lange wiederholen kann, bis man überzeugt ist, fürchtet man immer, dass man nicht genau oder nicht alles gesehen hat. Eine kontrollierbare Methode böte größere Gewähr; vor allem, wenn sie zu Hause praktiziert wird […]“.
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tags umgesetzt werden)32 im Laboratorium seines Arbeitszimmers durchgeführt. Insofern steht die Forschung Fabres, wie auch die Forschung Darwins,33 für die Tradition der Privatlaboratorien im Country-house und ist entsprechender Kritik von Seiten professioneller Laboratorien ausgesetzt. Für die apparative Ausstattung seiner Forschung setzt Fabre auf die Erfahrung mit selbst gebastelten34 Laboratorien, die er bereits in seiner Zeit als Lehrer gesammelt hat.35 Dieses Arbeitszimmer steht dann allerdings nicht nur im übertragenen Sinne für den Übergang vom Feld zum Labor, sondern es ist vielmehr in seiner faktischen Ausgestaltung eben dieser Übergang: Es besitzt etwa zum Garten hin zwei Fenster, von denen eines stets geöffnet ist und den Insekten freien Zugang ermöglicht:36 „Um meinen Arbeitstisch, meine Bücher, meine Glasbehälter, meine Apparate schwirrt eine summende Population, die immerzu hinaus- und hereinfliegt. Ich rate allen Hausbewohnern, im Insektenlaboratorium [le laboratoire aux bêtes] nichts mehr zu berühren […].“37 So ist das Arbeitszimmer nicht nur ein kultürlicher Ort, ein Laboratorium zur Untersuchung von Insekten, sondern auch ein natürlicher Ort, ein Lebensraum dieser Tiere und zugleich ein Teil des Lebensraums ihres Erforschers. Es ist im wahren Sinne ein „Laboratop“.38 Diese offene Grenze zwischen Freiland und Arbeitsraum spielt in verschiedenen Untersuchungen Fabres eine zentrale Rolle. Sie 32 Vgl. das Vorwort von M. Lindauer und J. M. Franz (in: J.-H. Fabre, Wunder des Lebendigen, Zürich 1992, S. 11): „Er selbst braucht kein kostspieliges Instru mentarium zur Beantwortung der von ihm gestellten Fragen. Er hat seine Sin ne geschult, um das Wesentliche im Verhalten zu erkennen. Sein Erfindergeist weiß, wie man mit simplen Experimenten das Insekt aus seiner eigenen Welt herauslockt.“ 33 S. de Chadarevian, „Laboratory science versus country-house experiments. The controversy between Julius Sachs and Charles Darwin“, in: The British journal for the history of science, 29(1)/1996, S. 17-41. 34 Zum Motiv des Bastlers (Bricoleur, Tinkerer) im Labor vgl. etwa H. J. Rhein berger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Pro teinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 22 ff.; K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt a. M. 2002, S. 17 ff. 35 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 68 (frz., Bd. 6, S. 47) spricht von seinen Stu dien der Physik in einem unmöglichen und selbstgebastelten Labor („un labora toire impossible, ouvrage de mon industrie“). 36 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 296 (frz., Bd. 3, S. 216); vgl. K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 183 f.; M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 110. 37 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 297 (frz., Bd. 3, S. 216). 38 Vgl. dazu K. Amann, „Menschen, Mäuse und Fliegen. Eine wissenschaftssozio logische Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte“, in: Zeitschrift für Soziologie, 23(1)/1994, S. 22-40.
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ermöglicht ihm sowohl die kontinuierliche Beobachtung des Insektenverhaltens, während er andere Arbeitsprozesse (etwa die Arbeit des wissenschaftlichen Protokollanten oder die des Schriftstellers) vollzieht, als auch den Einsatz besonderer (zumeist simpler) Beobachtungsapparaturen oder Experimentalsysteme.39 So stellt sich Fabre etwa für die Untersuchung der Lebensweise, der Brutablage und der „psychischen Fähigkeiten“ von Mauerbienen (Osmia) die Frage, ob es ihm nicht gelänge, ausgewählte „Hautflügler zu veranlassen, an einem bestimmten Ort, sogar in meinem Arbeitszimmer, zu nisten.“40 Er nutzt die Tatsache, dass Mauerbienen zu ihrem Ausschlupfort zurückkehren, lässt gesammelte Kokons in seinem Arbeitszimmer schlüpfen und bietet den heimkehrenden Bienen Glasröhren zum Nisten an, in denen er sie gut beobachten kann.41 Bereits diese marginale Öffnung des Labors zum Freiland hin beschwört jedoch sofort die negativen Momente der Faktorenfülle und mangelnden Kontrolle des Feldes herauf, denn der Forscher sieht sich plötzlich umschwirrt von Mauerbienen, „die viel zu zahlreich sind, als dass ich die Tätigkeit der einzelnen verfolgen könnte.“42 Um die Laborkontrolle wieder zurück zu erlangen, muss Fabre auf Verfahren zur Individualisierung seiner Beobachtungsobjekte zurückgreifen und einzelne Tiere mit farbigen Punkten markieren.43 Ganz im Sinne der Überlegungen Latours stellt das genannte Arbeitszimmer damit eine Mischung aus Schreibstube, Archiv oder Museum (an den Wänden befinden sich Vitrinen mit den Sammlungen von Muscheln aus dem Mittelmeerraum, dem riesigen Herbarium, der Sammlung der Insektenfauna Südfrankreichs etc.)44 und Labor dar. Berücksichtigt man zudem den Umfang der Sammlungen, die auch Fabres Aquarelle über die Pilze der Umgebung, eine Sammlung antiker Münzen oder archäologische Fundstücke wie Pfeilspitzen und Keramiken umfassen, kann sogar der Eindruck einer ‚Wunderkammer‘ entstehen. Im Zentrum des Arbeitszimmers 39 H.-J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 18 ff. 40 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 294 (frz., Bd. 3, S. 215); J.-H. Fabre, Erinne rungen, Bd. 4, S. 197 (frz., Bd. 4, S. 150): „Am liebsten würde ich meine Tiere auf dem Tisch beobachten, an dem ich ihre Geschichte schreibe. Hier würden mir wenige ihrer Geheimnisse entgehen.“ 41 Vgl. dazu die Abbildung in J. H. Fabre, Souvenirs, Bd. 3, S. 217. 42 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 297 (frz., Bd. 3, S. 216). 43 Zur Markierungs- und Isolierungstechnik Fabres vgl. Y. Delange, Fabre, S. 112. 44 Vgl. H. Raffles, Insektopädie, S. 49 f.; M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 110 f.; K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 227 ff.
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befindet sich ein großer Tisch, auf dem Behälter, Terrarien, Käfige und Gebrauchsgegenstände wie Marmeladengläser oder Glocken aus Drahtgeflecht angeordnet sind, die in wissenschaftliche Aufzucht- und Beobachtungsstationen verwandelt werden.45 Hier kann Fabre Details des Insektenverhaltens beobachten, die ihm bei mühsamen Freilandstudien entgehen.46 Immer wieder wird schließlich sein kleiner, mobiler Arbeitstisch erwähnt, an dem auch die Protokollarbeiten und die schriftstellerische Tätigkeit des Forschers erfolgen. Dieser kleine Tisch, ein Schulschreibtisch, den Fabre nach Belieben umstellt, ist zunächst wegen seiner Funktionalität von Interesse. Er lässt verschiedene Orte der Arbeit zu, etwa um sich beim Schreiben den Lichtverhältnissen anzupassen oder im Winter die Wärme des Kamins auszunutzen. Selbst dieses Arbeitsmöbel verliert jedoch in den Augen seines Nutzers den Status eines bloßen Kulturgegenstandes oder baulichen Bestandteils seines Labor-Arbeitszimmers. Es wird ebenfalls transformiert in einen Lebensraum von Insekten. Fabre erwähnt den in ihm lebenden Holzwurm und das Insekt, das die verlassenen Holzwurmgänge als Brutraum für seine Larven nutzt: „Un peuple t’exploite les flancs, ô ma vieille table: j’écris sur un grouillement d’insectes. Nul appui ne convenait mieux à mes souvenirs entomologiques [… ich schreibe auf einem Gewimmel von Getier. Keine Unterlage passte besser für meine Erinnerungen eines Insektenforschers].“47 45 Es wäre angesichts der Bedeutung dieses Möbels für Fabre und die Fabre-Literatur quasi eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte dieses Einrichtungsgegenstandes zu schreiben: K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 228 f.: „Vertraut auch der große Tisch in der Mitte des Raumes, mit den Drahtglocken, mit dem berühmten, aber von Fabre so selten gebrauchten Mikroskop, ein Ge schenk des Chemikers Dumas, die Waage, auch die Instrumente, die man ihm gebracht und vermacht hatte, als das landwirtschaftliche Laboratorium in Avignon aufgelöst wurde.“ M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 111: „Die Mitte des Raums nahm ein großer Tisch ein, Nußbaumholz, darauf die Gerätschaften des Forschers, billig, improvisiert, zweckentsprechend: Flacons, Glasröhrchen, alte Sardinendosen, um darin Tausende von unbekannten Keimen heranzuziehen, die Arbeit der Larven zu beobachten, die Verfertigung der Kokons, die kleinen Wunder des Ausschlüpfens.“ 46 Vgl. etwa die Beobachtungen der Eiablage des spanischen Mondhornkäfers Copris in J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 94 (frz., Bd. 5, S. 73). 47 J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 9, Kap. XIV, Souvenirs mathématiques – Ma petite table, S. 119 ff., hier S. 122; Vgl. K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 153 f., S. 229; M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 111 f.; H. Raffles, Insektopädie, S. 49.
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Versuche im Arbeitszimmer werden vor allem dann notwendig, wenn langwierige Abläufe wie der Schlupf von Insektenlarven beobachtet werden sollen oder aber wenn die Variation der natürlichen Abläufe durch künstlich veränderte Außenbedingungen beabsichtigt ist. Dabei ist sich Fabre durchaus bewusst, dass schon die normalen Erfordernisse der menschlichen Beobachtung und die natürlichen Lebensbedingungen der Insekten deutlich voneinander abweichen können: Um etwa die Modellierung der Pille des Pillendrehers beobachten zu können, benötigt der menschliche Beobachter Helligkeit, der Pillendreher für seine Modellierung hingegen Dunkelheit – er ist ein Künstler des Dunkels (ténébreux artiste).48 Die Entwicklung künstlicher Beobachtungsapparate oder -situationen wird damit notwendig. Fabre beobachtet den Pillendreher in einem mit Erde gefüllten Glasbehälter und unter Einsatz künstlicher Verdunkelung. Besonders aufschlussreich sind für diesen Punkt die künstlichen Beobachtungseinrichtungen, die Fabre zur Beobachtung des Verhaltens des Stierkäfers Minotaurus (Minotaurus typhoeus) bauen ließ.49 Im Unterschied zum Skarabäus, für den Fabre durch lange Beobachtung die Behauptung kooperierender Tätigkeit bei der Brutpflege als falsch nachwies (siehe dazu unten), leben diese Tiere als Paare, die gemeinsam ihre Arbeit verrichten. Fabre begründet seine Forschung zu diesem Thema deshalb damit, das Leben in seiner ganzen unerschöpflichen Vielfalt darstellen zu wollen.50 Das Erreichen dieses Ziels ist allerdings durch besondere Herausforderungen für den Beobachter erschwert: Die Tiere erstellen Erdbauten, die über einen Meter in die Tiefe hinab reichen und deren Brutkammer nur schwer zugänglich ist.51 Gerade diese Untersuchung belegt den innigen Transfer zwischen Freiland und Arbeitszimmer und verweist zudem – durchaus im Sinne von Latours epistemischen Modellen einer „Kette von Übersetzungen“ oder eines „Kreislaufs wissenschaftlicher
48 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 45 f. (frz., Bd. 5, S. 35). 49 Vgl. die Abbildungen in J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 19 und S. 35 (Erster und zweiter Beobachtungsapparat). Vgl. auch Y. Delange, Fabre, S. 111 f. 50 J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 8: „la vie dans l’inépuisable variété de ses ma nifestations“. So auch J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 75 (frz., Bd. 5, S. 57): „Das Studium dieser Variationen, dieser auf verborgenen Ursachen beruhenden Eigenheiten, ist sogar das Reizvollste für den Beobachter […].“ 51 Vgl. J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 14.
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Tatsachen“52 – auch auf die verschiedenen Etappen oder Knotenpunkte dieses Transfers: Fabre gräbt zunächst mit Hilfe seines Sohnes unter Mühen die Brutkammern im Freiland aus, beobachtet und konstatiert die Anordnung der Tiere und verbringt dann die Eier der Insekten in sein Arbeitszimmer, wo er das Schlüpfen und das Wachsen der Larve in einer künstlichen Umgebung beobachten möchte, welche aber den natürlichen Bedingungen (les conditions naturelles) soweit wie möglich entsprechen soll.53 Dazu verwendet er ein mit Sand gefülltes Glasrohr im Durchmesser des Baus. Fabre will jedoch vor allem das Verhalten der Tiere unter der Erde beobachten, aber dieses möglichst, ohne die Insekten dadurch zu stören.54 Die hierzu fehlende Fähigkeit des Beobachters, im Dunkeln sehen zu können, kompensiert er durch Erfindungskraft: „Il me faudrait ici le regard du lynx, capable, dit-on, de sonder l’opaque, et je n’ai que l’ingéniosité pour essayer de voir clair dans le ténébreux.“55 Er weiß allerdings genau, dass der von ihm ausgedachte Beobachtungsapparat wegen seiner simplen Machart, als ein bäuerliches Werk (œuvre de paysan), angesichts bestens ausgestatteter Laboratorien (les laboratoires qui tant raffinent l’outillage) fast lächerlich wirkt.56 Sein Credo ist jedoch: Das Ärmliche und Einfache steht dem Aufwendigen auf der Suche nach Wahrheit nicht nach. Dieser im Garten stehende simple Beobachtungsapparat besteht aus einem ein Meter langen Glasrohr von drei Zentimetern Durchmesser, das mit einem Gemisch aus Sand und Erde gefüllt ist. Durch drei Bambusröhren im Lot gehalten, ist es in einen Blumentopf gesetzt und oben durch eine kleine sandgefüllte Terrine abgedeckt, deren Boden durchlöchert ist. Dieser obere Bereich dient zu Ablagerung des Abraums der Grabetätigkeiten der Insekten. Das Glas hat einen etwas größeren Durchmesser als der Schacht der Stierkäfer und da deren Gang nicht vollkommen senkrecht verläuft, hofft Fabre (wie sich zeigt, zu Recht) auf Kontaktzonen zwischen Gang und Glas, die als Beobachtungsfenster auf das Grabegeschehen fungieren können. Damit diese Fenster außerhalb der Beobachtungszeiten kein Licht einlassen, wird das Glasrohr zudem mit einer Papierhülle
52 53 54 55 56
B. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 110, resp. S. 121. J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 21.
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umgeben.57 Obwohl die Beobachtung wie prognostiziert gelingt, ist der Blick durch die „Fenster“ doch nicht wirklich zufriedenstellend, er ist durch einen Schleier von Erde getrübt und zudem sind die „Fenster“ durch die Grabeaktivität der Tiere nicht ortsfest. Um deshalb die Zusammenarbeit des Stierkäfer-Paares genauer erfassen zu können, verlagert Fabre die Beobachtung aus dem Freilandlabor in sein Arbeitszimmer und arbeitet dort mit einem Glasrohr geringeren Durchmessers, ohne Füllung mit Erde und ohne verdunkelnde Hülle.58 Hierdurch gelingt die Beobachtung zwar besser und Fabre kann die Details des Arbeitsprozesses der Tiere erfassen, das Glasrohr erschwert jedoch das Klettern der Insekten und insofern sind auch diese Beobachtungsergebnisse nur bedingt aussagekräftig. Die Einschränkungen durch die artifizielle Beobachtungssituation werden allerdings nicht nur vom Beobachter als begrenzte Einsicht in die Details des Verhaltensablaufs registriert, sie äußern sich ebenso deutlich auch im Verhalten der Tiere selbst. Deren Grabearbeiten geraten ins Stocken (les travaux cessent), die Tiere werden unruhig (leur inquiétude) und wollen dem Behältnis entfliehen (veulent s’en aller).59 Wieder wird deutlich: Die künstlichen Bedingungen der Beobachtung im ‚Labor‘ sind für den Beobachter gut, für die Insekten jedoch schlecht. Insofern schwenkt Fabre erneut (auch stilistisch in seinem Text) vom Labor im Arbeitszimmer zum Apparat des Freilandlabors zurück, in dem die Arbeit vorangeht (Revenons au grand appareil, où le travail marche de façon correcte). Jedoch wird auch dieser immer noch künstliche Apparat durch Beobachtungen aus der freien Landschaft (observations à la campagne) ergänzt und korrigiert. Die dort gemachten Erfahrungen geben Hinweise darauf, wie weit die (sich der direkten Beobachtung entziehenden) Arbeiten der Insekten im Apparat fortgeschritten sein dürften.60
57 Wieder wird der Unterschied zwischen den Beobachtungsbedingungen des For schers und den Lebensbedingungen der Insekten deutlich: „Pour me réserver ces fenêtres et les épargner à l’insecte […]“ (ebd., S. 18). 58 Ebd., S. 22; Zur Kombination beider Beobachtungskontexte ebd., S. 28. 59 Ebd., S. 23 und S. 28. 60 Ebd., S. 23. Eine weitere Konstellation zwischen Freilandbeobachtung und Beob achtung unter künstlichen Bedingungen im Treibhaus zeigt die Untersuchung des meteorologischen Instinktes der Raupen des Pinienprozessionsspinners (J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 339 f.; frz., Bd. 6, S. 244 f.): das Treibhaus ist die Untersuchungsstation ohne meteorologische Störungen durch Niederschläge und Wind, das Freiland ist die Station mit diesen Störungen. Ein Vergleich bei
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Letztlich erweisen sich jedoch die Aufzuchtbedingungen in dem hier geschilderten Versuchsaufbau zwar für einen ersten Aufschluss der Verhaltensdetails der Tiere beim Graben als tauglich, für die Erfassung ihres gesamten Lebenszyklus jedoch sind sie zu begrenzt. Der dem Minotaurus fremde Apparat (d’aménagement si étranger aux usages du Minotaure)61 schränkt erneut nicht nur die Erkenntnis des Forschers ein, sondern er tangiert ganz unmittelbar das Leben der Tiere: Zwar wird eine Bruthöhle angelegt und Nahrungspakete werden gebildet, die Eiablage jedoch unterbleibt. Fabre mutmaßt gravierende Unterschiede zum Freiland als Ursache: Im freien Feld (aux champs) sei der Raum im Boden unbegrenzt, im Apparat hingegen begrenzt. Auch die Nahrungsversorgung sei im Freiland anders als in Fabres bisheriger Anordnung.62 Fabre zieht daraus die praktische Konsequenz, einen neuen, modifizierten Apparat zur Beobachtung zu konzipieren, den er wieder vor der Tür, im Freien (en plein air) aufstellt. Er lässt sich zwei prismenförmige Holzsäulen von Marius Guigue schreinern, die jeweils eine zu öffnende Seite besitzen, was ihm erlaubt, ohne Durcheinander zu erzeugen (sans ébranlement du contenu),63 den oberen, mittleren und unteren Teil der Apparate separat zu besichtigen. Am oberen Ende der Beobachtungssäulen befinden sich mit aus Metalldraht gefertigten Kuppeln abgedeckte Beobachtungsplattformen, die die natürliche Umgebung des Baus simulieren sollen (représentant les alentours du terrier naturel). Wieder ist das Innere der prismenförmigen Beobachtungssäulen mit sandiger Erde gefüllt. Damit die Erde nicht austrocknet (eine wesentliche Bedingung sowohl für die Anlage des Erdbaus als auch für das Überleben der Insekten), wird jede Installation in einen Blumenkübel gesetzt, dessen Erde durch leichtes Gießen feucht gehalten wird. Aufschlussreich ist, dass die technisch erforderliche Standfestigkeit des Beobachtungsapparats und die biologisch geforderte Vermeidung der Austrocknung des Bodens in dieser Wahl zusammen fallen. Zugleich macht dieses Beispiel weiter deutlich, dass – wieder im Sinne von Latour – das Geflecht von methodisch-technischen und biologisch-ontologischen Parametern und Rücksichten in der Entscheidung für einen der – unter Bezug auf Daten über den Luftdruck – erlaubt es also, die Faktoren der Beeinflussung des Verhaltens durch die Umwelt zu separieren. 61 J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 31. 62 Ebd., S. 32 f. 63 Ebd., S. 33.
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bestimmten Forschungsansatz durch weitere gesellschaftliche, ästhetische oder weltanschauliche Aspekte ergänzt werden muss: Bei Fabre ist die Entscheidung für simple Beobachtungsansätze nicht nur eine weltanschauliche Entscheidung (gegen das wohlausgestatte Labor und für eine lebensnahe Forschung im Freiland) oder eine epistemische Forderung (gegen die künstliche Zerstörung von Lebensabläufen durch die eingreifende Laborforschung und für eine möglichst naturnahe Erfassung des Lebens), sondern sie ist schlicht eine ökonomische Notwendigkeit. Gern hätte er sich weitere Apparate bauen lassen, um alle Fragen zu beantworten (tant il surgissait de questions à résoudre), ihm fehlt aber schlicht das Geld dazu.64 Über die bereits genannten Faktoren hinaus, werden die Beobachtungspylone für Besucher und Bewohner des Hauses zu einer fremdartigen Architektur (une sorte de pylône d’architecture étrange), für ihren wissenschaftlichen Benutzer hingegen zum Ort der Beobachtung, des Glücks und der Andacht (Aux aguets, dans le voisinage de mon pylône, que de bons moments j’ai passés, surveillant et méditant!).65 Insbesondere versprechen sie jedoch Einsichten, die über die Ergebnisse aus den bisherigen Anordnungen hinausgehen. Trotz dieser Absicht ist das Ergebnis nicht das gewünschte. Der Bau erfolgt zwar, aber ohne Nestbildung. Es werden keine Nahrungspakete für die Eier gebildet. Die Eiablage unterbleibt und die Insekten versterben. Für Fabre wird der Mangel der Anordnung erneut in einer Widerständigkeit oder Verweigerung der Insekten evident: „la mère a refusé de pondre, et par suite le père s’est abstenu de moudre.“66 Obwohl die zugeführte Feuchtigkeit den Boden im Apparat vor Austrocknung schützte, waren in diesem Fall allerdings die natürlichen Bedingungen der Umgebung des Freilands schlecht (im Frühjahr 1906 später Schneefall, danach endlose Trockenheit). Fabre mutmaßt, dass die hohe meteorologische Sensibilität der Mutter sie möglicherweise über diese für die zukünftigen Larven fatalen Überlebensbedingungen im Außenmedium informierte. Ihrem natürlichen Impuls, die Trockenheit durch eine tiefere Grabung ihres Baus zu kompensieren, standen dann erneut die künstlichen Bedingungen des Apparates (der nur 1,40 m hoch ist) entgegen. Fabre sieht also keine andere Erklärung für die Fehlversuche als 64 Ebd., S. 34. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 38.
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ungünstige Wetterverhältnisse. Zugleich demonstriert auch dieses Beispiel, wie komplex die Beziehungen zwischen künstlicher Versuchsapparatur und natürlicher Umgebung sein können. Auch im zweiten Apparat verweigert sich das Muttertier (opiniâtre escapade),67 möglicherweise aber hier aus Gründen der biologischen Partnerwahl, die Fabre als Unvereinbarkeit der Charaktere von weiblichem und männlichem Tier deutet, welche er künstlich zusammensetzte (‚verheiratete‘ – „Je marie mes captives“).68 Wären die Dinge nach den Regeln der Natur verlaufen, dann hätte das weibliche Tier (die ‚Braut‘ – la nubile) die Wahl gehabt, ihren Partner zurückzuweisen und einen anderen auszusuchen69 – diese Herstellung von wechselseitiger Sympathie (mutuelle sympathie) war aber unter den künstlichen Versuchsbedingungen unmöglich. Die Tiere verweigern sich deshalb den ordnenden Eingriffen des Forschers (mes rappels à l’ordre). Erst bei Austausch der Tiere kommen die Verhältnisse wieder auf die normale Bahn (le cours normal) und gehen dann nach Wunsch des Beobachters voran. Diesmal erfolgt die Eiablage, allerdings weisen die aufgefundenen Larven einen deutlichen Entwicklungsrückstand gegenüber Tieren des Freilands auf.70 Fabre kennt die Gründe dieser Fehlentwicklung nicht, denkt über hygienische Mängel nach und resümiert, dass es ihm bei aller Sorgfalt nicht gelungen sei, die Bedingungen für das Wohlbefinden (conditions de bien-être) herzustellen, welche die Larven in der Feuchtigkeit uneingeschränkter (illimité) Bodentiefe gefunden hätten. Es sind diese Begrenzungen, die Fabre für seine Untersuchungen und Beobachtungen benötigt und die die Laborähnlichkeit seiner Freilandstudien ausmachen. Zugleich verändern die Eingriffe jedoch die Lebensbedingungen der Insekten in einer Weise, die die Entwicklung oder das Überleben verhindert. Die gesuchte fragile Balance zwischen epistemisch-methodisch geforderter Einschränkung und existenziell-ontisch geforderter Aufhebung solch einschränkender Eingriffe ist es, die die Versuche von Fabre (letztlich jedoch alle Laborforschung am Lebendigen71) prägt. Sind die künstlichen Eingriffe zu gering, dann ist die Beobachtung wegen
67 68 69 70 71
Ebd., S. 39. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42. Vgl. K. Köchy, „Lebewesen im Labor. Das Experiment in der Biologie“, in: Philo sophie naturalis, 43(1)/2006, S. 74-110.
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der komplexen natürlichen Bedingungen des Lebens der Insekten unmöglich, werden sie aber zu stark, dann stirbt das zu beobachtende Lebewesen. Wegen der verfremdenden Einflüsse durch artifizielle Umgebungen sind die häuslichen Zuchten und Beobachtungen stets zu ergänzen durch Feldversuche. Als Grund dafür nennt Fabre sowohl die Gefahren der nur eingeschränkten Aussagekraft der Aufzuchtund Haltungsbedingungen in seinen ‚Volieren‘,72 die das Verhalten der Tiere beeinflussen könnten, als auch umgekehrt die Notwendigkeit, im Freiland erworbene Kenntnisse zur angemessenen Umsetzung von experimentellen Forschungen im ‚Labor‘ zu berücksichtigen. Bei Fehleinschätzungen macht sich das Manko an ‚Natürlichkeit‘ der Beobachtungssituation immer auch als ‚Widerstreben‘ der Versuchstiere bemerkbar: „Feldforschungen sind jedoch unerlässlich; sie sind oft bedeutsamer als das, was uns die häusliche Aufzucht enthüllt; denn obwohl einige Mistkäfer trotz der Gefangenschaft mit gewohntem Eifer arbeiten, misstrauen andere, die ängstlicher, vielleicht auch klüger sind, meinem Bretterpalast und offenbaren mir ihre Geheimnisse nur widerstrebend […]. Und dann muss ich, um meine Menagerie gut zu führen, wissen, was draußen geschieht, und sei es auch nur, um die für meine Pläne günstigen Zeitspannen zu ermitteln. Unsere häuslichen Studien müssen durch Beobachtungen in der Natur ergänzt werden.“73 Diese Ergänzung würden auch solche Versuche erfordern, die durch die Enge der künstlichen Beobachtungskäfige Verhaltensartefakte erzeugten, welche im Freiland kaum auftreten. Fabre ist diesbezüglich zwar durchaus skeptisch, so etwa, wenn er den Verzehr von männlichen Gottesanbeterinnen durch ihre Weibchen nach der Paarung bei seinen Käfigbeobachtungen beschreibt und darüber nachdenkt, dass ihm vergleichbare Daten aus Freilandbeobachtungen nicht vorliegen. Allerdings hält diese Zurückhaltung nicht lange an und er äußert sich schnell überzeugt: „Ich kann nur auf die Ereignisse in meinen Volieren zurückgreifen […]. Was sie hier machen, machen sie gewiss auch unter normalen Umständen.“74 Insofern zeigt sich bei aller Reflexion Fabres auf die Unterschiede zwischen künstlicher Beobachtungssituation und natürlichen 72 Vgl. die Abbildung in J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 1, S. 29. 73 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 15 (frz., Bd. 5, S. 12). 74 Ebd., S. 258 (frz., S. 209).
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Bedingungen im Freiland ein durchaus ungebrochenes Vertrauen in die Aussagekraft seiner Befunde, das auch durch die steten Versuche der Anpassung seiner künstlichen Versuchsansätze an die Bedingungen der Natur – eine zirkulierende Referenz im Sinne Latours – befördert wird. Auch im Fall der Stierkäfer, bei denen Fabre am Ende der Phase der Nahrungsversorgung der Brut das tote Männchen am Boden seines künstlichen Beobachtungsapparates findet, wird die Frage danach, ob es sich hierbei möglicherweise um die Folge einer mangelhaften Versuchsanordnung (une installation défectueuse) handelt, deshalb mit dem Verweis auf ähnliche Funde im Freiland negiert.75 Fabres Versuche bilden auch in dieser Hinsicht eine Übergangszone von Kultur und Natur.
3. „Theorien waren nie mein Fall“: Beobachtung, Experiment und Darwinismus-Kritik Typisch für Fabres Forschung ist die explizite Opposition gegen Theorien und Spekulationen, eine Haltung, die Fabre mit vielen Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts teilt. Gerade durch negative Erfahrungen mit ausufernder naturphilosophischer Spekulation ist die Skepsis in den Reihen der Naturwissenschaften groß.76 Im Sinne des positivistischen Paradigmas votiert deshalb auch Fabre für die Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung.77 Damit einhergehend findet sich bei ihm eine betonte Enthaltung oder Skepsis gegenüber philosophischen oder weltanschaulichen Entwürfen. Hierin ist u. a. ein zentrales Motiv für Fabres Kritik am
75 J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 29. 76 Vgl. etwa H. Schlüter, Die Wissenschaften vom Leben zwischen Physik und Metaphysik, Weinheim 1985. Typisch ist hier das Votum von H. v. Helmholtz („Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wis senschaft“ (1862), in: H. v. Helmholtz, Das Denken in der Naturwissenschaft, Darmstadt 1968, hier S. 8 f.) gegen den Ikarusflug der Spekulation. Eine Ab wägung der Vor- und Nachteile der Gegenüberstellung von Empirie und Spe kulation findet sich bei C. G. Carus („Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften“ (1822), in: C. G. Carus, Zwölf Briefe über das Erdleben, hrsg. von E. Meffert, Stuttgart, S. 12-20, hier S. 14 f.). 77 Vgl. dazu etwa A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (Discours sur l‘esprit positif) (1844), übers. und hrsg. von I. Fetscher, Hamburg 1956, S. 25 ff.
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Darwinismus zu sehen,78 wiewohl Darwin selbst Fabre für seine Beobachtungen Tribut zollte und ihn als „the inimitable observer“79 ehrte. Man kann allerdings auch diese Abwehr Fabres (im Sinne der obigen Überlegungen zum konzeptionellen Aufbau von Forschungsprogrammen) als Ausdruck einer impliziten Metaphysik im Kern seines Programms verstehen. Insofern wären damit auch die naturphilosophischen und religiösen Vorstellungen von Fabre tangiert, wenn es darum geht, Fabres Zurückweisung des Transformismus zu würdigen. Wir kommen auf diesen Punkt weiter unten zurück. Zunächst jedoch halten wir fest: Immer wieder betont Fabre die Fundierung seiner Befunde in Beobachtung und Experiment. Er setzt auf die Logik der Tatsachen. Theorien hingegen lehnt er ab:
78 In dieser streng nach Bacons Prinzipien verfahrenden, auf die Empirie setzen den und eine große theoretische Enthaltung in der Befundaufnahme fordernden Haltung stimmen Fabre und Darwin jedoch eigentlich überein (vgl. D. Hull, „Die Rezeption von Darwins Evolutionstheorie bei britischen Wissenschaftsphiloso phen des 19. Jahrhunderts“, in: E.-M. Engels (Hrsg.), Die Rezeption von Evolu tionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 67-104, hier S. 83). Vgl. dazu auch I. Yavetz, „Jean Henri Fabre and Evolution: Indifference or Blind Hatred?“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 10(1)/1988, S. 3-36; C. Favret, „Jean-Henri Fabre: His life experiences and predisposition against Dar winism“, in: American Entomologist, 45(1)/1999, S. 38-48; Vgl. auch A. Delage, Jean Henri Fabre, S. 216 ff.; P. Tort, Fabre, S. 131 ff.; Die besondere Rolle der Faktenorientierung und der Ausrichtung auf die Beobachtung für die DarwinKritik unterstreicht vor allem I. Yavetz, „Theory and Reality in the Work of Jean Henri Fabre“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 13/1991, S. 33-72, hier S. 41 ff. 79 C. R. Darwin, On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favored races in the struggle for life, 4th Edition, London 1866, S. 100: „How low in the scale of nature the law of battle descends, I know not; male alligators have been described as fighting, bellowing, and whirling round, like Indians in a war-dance, for the possession of the females; male salmons have been seen fighting all day long; male stag-beetles sometimes bear wounds from the huge mandibles of other males; the males of certain hymenopterous insects have been frequently seen by that inimitable observer M. Fabre, fighting for a particular female, who sits by an apparently unconcerned beholder of the struggle, and then retires with the conqueror.“ Vgl. ebenso C. R. Darwin, The descent of man, and selection in relation to sex, London 1871, Volume 1, S. 364. Fabre dazu in J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 39 ff. (frz., Bd. 6, S. 33): „Seit Darwin mir den Titel des unvergleichlichen Beobachters verliehen hat, ist mir diese Bezeichnung immer wieder begegnet, ohne dass ich recht begreife, womit ich sie eigentlich verdiene. Es ist doch so natürlich, scheint mir, so naheliegend, so verlockend für jeden, sich für alles zu interessieren, was da um uns herum wimmelt!“ Zu Darwin vgl. den Beitrag von Engels in diesem Band.
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„Theorien waren nie mein Fall; sie sind mir alle suspekt. Genauso wie verworrenes Argumentieren mit zweifelhaften Prämissen. Ich beobachte, ich experimentiere und lasse die Tatsachen sprechen.“80 Mit seiner auf Beobachtung ausgerichteten Forschung wendet sich Fabre insbesondere auch gegen wissenschaftliche Mythen, unbegründete Erzählungen und Anekdoten.81 Fabres vierzehn Jahre dauernde Beobachtung des Heiligen Pillendrehers Skarabäus etwa dient allein der Entkräftung der Behauptung des Insektenforschers Émile Blanchard (1819–1900), der eine gegenseitige Hilfeleistung der Tiere postuliert hatte.82 Fabre betont in diesem Zusammenhang erneut sein experimentelles, auf artifizielle Situationen setzendes Vorgehen. Zur Untersuchung der Altruismusthese Blanchards habe er Situationen herbeigeführt, „in denen das Insekt dringend Hilfe brauchte“, nie aber sei ihm „ein Beweis für Freundschaftsdienste zu Augen gekommen.“83 Demnach haben unzureichende Beobachtungen (observations incomplètes) dazu geführt, aus „einem dreisten Straßenräuber“ einen Helfer zu stilisieren, der seine Arbeit liegen lässt, um einen anderen beizuspringen. Kritisch an dieser Fehldeutung ist für Fabre nicht nur das entstehende falsche Bild über die soziale Interaktion der Skarabäen, sondern vor allem die Unterstellung eines zu weit entwickelten Kommunikationsvermögens bei diesen Insekten, das notwendig wäre, um die behauptete Kooperation sicherzustellen. In Fabres Selbsteinschätzung ist seine besondere Beobachtungsgabe der wesentliche Punkt seiner naturwissenschaftlichen Neigungen – er versteht sich als geborener Tierbeobachter.84 Diese Haltung 80 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 38 (frz., Bd. 3, S. 28); Vgl. auch J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 39 (frz. Bd. 6, S. 32). Vgl. G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 190: „But Fabre will suppose nothing; he will only record the facts“ und A. Delage, Jean Henri Fabre, S. 249 ff. 81 Vgl. J.-H. Fabres (Erinnerungen, Bd. 6, S. 112 ff.; frz., Bd. 6, S. 78 ff.) Ausein andersetzung mit den Anekdoten zum Verhalten von Necrophorus vespillo (To tengräber). 82 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 1, S. 17 ff. (frz., Bd. 1, S. 17 ff.). Vgl. auch M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 91 ff. 83 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 1, S. 19 (frz., Bd. 1, S. 18). 84 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 41 (frz., Bd. 6, S. 33), ebd., S. 71 (frz., S. 49): „Ich habe die Gabe der Beobachtung. […] Ich war zum Tierbeobachter [ani malier] geboren.“ Vgl. G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 135 f.: „There is an art of observation, and the gift of observation is a true function of that constantly alert intelligence, continually dominated by the need of delving untiringly down the ultimate truth accessible […].“
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verbindet ihn mit vielen späteren Ethologen – etwa Niko Tinbergen oder Konrad Lorenz.85 An vielen Stellen seines Werks schildert Fabre die aufopferungsvolle und langwierige Beobachtung seiner Insekten, zu denen er oft Stunden in der erbarmungslosen Mittagssonne86 der Provence auf dem Boden liegend verbringt.87 Er schildert auch die Irritationen der Landbevölkerung und hebt die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit und Leidensbereitschaft hervor, die seiner Arbeit zugrunde liegt. Die „Haupttugend des Beobachters“ ist für ihn die Geduld.88 Fabre ist somit der typische ‚Augenmensch‘, dessen Forschung immer auch durch bestimmte Visualisierungstechniken begleitet wird – bemerkenswert ist hier der frühe Einsatz von Fotografien, die insbesondere sein Sohn Paul Henri umgesetzt hat.89 Wie 85 K. Lorenz (Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, 10. Auflage, Wien 1954, S. 5 f.): „Es gibt keinen guten und erfolgreichen Biologen, der nicht aus inniger Freude an den Schönheiten der lebendigen Kreatur zu seinem Le bensberufe gelangt wäre […]. Und mehr noch als für alle anderen Zweige der Lebenskunde gilt dies für das Forschungsgebiet, dem ich selbst meine Lebens arbeit gewidmet habe, nämlich die Erforschung des Verhaltens der Tiere. Diese verlangt eine so unmittelbare Vertrautheit mit dem lebenden Tier, aber auch eine so unmenschliche Geduld des Beobachters, daß das theoretische Interesse am Tier allein nicht hinreichte […].“ Vgl. auch N. Tinbergen, Tiere untereinan der, S. 118 ff. 86 J.-H. Fabre (Erinnerungen, Bd. 3, S. 143 f.; frz., Bd. 3, S. 109) schreibt zu seinen geduldigen Beobachtungen der ebenfalls ‚geduldigen‘ Erkundungen der Nester von Stein- und Schuppen-Mörtelbiene durch Leucospis gigas, dass er in der Hit ze beobachtend ausharrte, während sein Hund Bull sich in die Kühle des Hau ses zurück zog: „Von Anfang bis Ende der mitunter stundenlangen Operation lag ich auf der Erde und schaute dem Tier genauestens zu […]. Ich kehrte halb gekocht und braun wie eine Grille heim […] Warum will der Mensch wissen? Warum hat er nicht die Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, diese erhabene Philosophie der Tiere?“ 87 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 29 (frz., Bd. 5, S. 24): „Auf dem Boden liegend […] schaue ich begierig.“ 88 M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 166; in J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 165 (frz., Bd. 4, S. 125 f.) wird die „[h]eilige Geduld“ (sainte patience) des Be obachters am Beispiel der Beobachtung der Jagd der Wespe Odynerus nidulator durch Fabres Tochter Claire geschildert; vgl. auch den Bericht über den Sohn Paul in Erinnerungen, Bd. 6, S. 212 (frz., Bd. 6, S. 155); ebenso Souvenirs, Bd. 10, S. 27: „patience et discrétion“. Die Beobachtung ist Konzentration (Erinnerun gen, Bd. 6, S. 73; frz., Bd. 6, S. 52): „Außerdem ist ja durch die Welt zu hasten und seine Aufmerksamkeit auf viele Gegenstände zu verteilen kein Beobachten.“ Geduldiges Beobachten verlangt viel Zeit (ebd., S. 75; frz., S. 52). 89 Vgl. Y. Delange, Fabre, S. 109 f.; zur Rolle der Fotografie im Wissenschaftsprozess vgl. u. a. P. Geimer (Hrsg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissen schaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002; vgl. auch L. Daston, P. Galison, Objektivität, S. 121 ff.
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viele andere Biologen auch war Fabre zudem ein begnadeter Maler, wovon seine Aquarelle ein Zeugnis ablegen, die er ebenfalls an seinem kleinen Tisch umsetzte.90 Es gilt also: „Die Verhaltensforschung erfordert stundenlange Beobachtung an Ort und Stelle, wo das Objekt, dessen Handlungen man erforscht, unter den für seine Instinkte günstigen Umständen lebt.“91 Dass diese, wenn auch noch so aufwendige Beobachtung dann stets bloß den Anfang der Wissenschaft markiert, zeigen etwa Fabres Überlegungen anlässlich des Nestbaus der ‚Schlammarbeiterin‘ (Pelopeia). Die in diesem Fall von ihm aufgebrachten Mühen der Beobachtung ließen sich, so Fabre, mit Blick auf deren Ergebnisse gegenüber möglichen Nachfragen aus der Lebenswelt des Alltags nur schwer rechtfertigen. Die gewonnenen Daten schienen doch zunächst von nur „mäßigem Interesse“, alle Details des Nestbaus und Beutefangs „ziemlich belanglos“ und lediglich für den „Sammler“ und dessen „Systematik“ von Bedeutung.92 Dann allerdings verschiebt sich der Akzent: Gegen alle Alltagsskepsis setzt Fabre die These, hier könnten im Gegensatz zum ersten Eindruck die großen Fragen der Menschheit zur Klärung anstehen: „Was ist Leben?“ „Was ist menschliche Intelligenz?“ „Was ist Instinkt?“ „Sind die Arten durch die Evolution miteinander verbunden?“ Angesichts solcher Fragen jedoch haben dann „tausend theoretische Ansichten nicht den Wert eines einzigen Faktums“, vielmehr ist eine „Unmenge gesicherter Daten“ gefordert, um sie zu klären. Während das Imaginäre ein weites Feld ist, in das jeder seine Gedanken einpflanzen kann,93 bieten nur die Fakten Verlässlichkeit. Mit dieser methodischen Forderung legitimiert sich dann auch die Arbeit des Entomologen: „Und darum beobachte und vor allem experimentiere ich.“94 Aber Beobachtung allein sei eben nicht ge90 Y. Delange, Fabre, S. 107; vgl. die ca. 700 farbigen Aquarelle in J.-H. Fabre, Pilze, Berlin 2015; Zur Bedeutung von Sehen und Zeichnen in der Biologie vgl. A. Arber, Sehen und Denken in der biologischen Forschung, Reinbek bei Hamburg 1960; Vgl. auch K. Köchy, „Zur Funktion des Bildes in den Biowissenschaften“, in: S. Majetschak (Hrsg.), Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München 2005, S. 215-240. 91 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 282 f. (frz., Bd. 6, S. 207). 92 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 33 (frz., Bd. 4, S. 27). 93 Ebd., S. 232 (frz., S. 173). 94 Ebd., S. 34 (frz., S. 37). Vgl. hierzu die Bewertung des bekannten Entomologen Martin Lindauer (in: J.-H. Fabre, Wunder des Lebendigen, S. 111): „Auch der Insektenforscher des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der mit Mikroelektrode, mit Elektrophorese, mit Kernspinresonanz, mit Computer umzugehen weiß,
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nug: „Man muss experimentieren, das heißt, sich einmischen und Bedingungen schaffen, die das Tier nötigen, uns etwas zu offenbaren, was es unter normalen Umständen nicht sagen würde.“ Dieses Vorgehen ist insbesondere – so wiederholt Fabre die seit Francis Bacon95 geltende Faustregel aller Empiristen – notwendig, um nicht in den Vorgaben der eigenen Logik und den eigenen Handlungsantrieben verfangen zu bleiben, sondern wirklich die Natur zu befragen. Nach Fabre liefert die bloße Beobachtung der subjektiven Deutung von Fakten im Lichte unserer Vorannahmen und Theorien Vorschub: „Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, müssen wir uns des Experiments bedienen, das allein die komplizierte Frage der tierischen Intelligenz ein wenig aufzuklären vermag.“ Die weit verbreitete Annahme, Zoologie sei keine experimentelle Wissenschaft,96 träfe nur dann zu, wenn man sich auf Beschreiben und Klassifizieren beschränke. Dieses seien jedoch die unwichtigsten Aufgaben der Zoologie: „Sie hat höhere Ziele; und wenn sie das Tier nach einem Lebensproblem befragt, dann über das Experiment. […] Die Beobachtung stellt das Problem, das Experiment löst es, wenn es denn lösbar ist; falls es nicht alles aufklärt, erhellt sie zuwird mit Hochachtung jene geniale Idee von Fabre würdigen, mit der er einen Schwarm frisch geschlüpfter Mauerbienen in seine Glasröhrchen, Schilfrohrhal me, Schneckenhäuschen lockte und so alle Details der Bautätigkeit und der Brut pflege ausfindig machte. Er hat sie nicht nur mit reiner Beobachtung beschrie ben, sondern auch durch scharfsinnige experimentelle Eingriffe […] analysiert.“ Vgl. dazu A. Delage, Jean Henri Fabre, S. 267 ff. 95 F. Bacon, dessen Ziel es ist von der unbesonnenen Antizipation der Natur (Anti cipationes Naturae) zu einer legitimen Interpretation der Natur (Interpretatio nem Naturae) zu kommen (Neues Organon, hrsg. mit einer Einleitung von W. Krohn, Hamburg 21999, Bd. 1, § 26, S. 92/93), plädiert gegen das scholastische Buchwissen für die „Untersuchung und Durchwanderung der Welt“ (ebd., S. 52/53). Aber auch für ihn sind die Mitteilungen der Sinne unzuverlässig und trügerisch. Die Beobachtung läuft Gefahr, unregelmäßig und gleichsam zufällig zu sein. Einen zuverlässigen Weg der Induktion verspricht deshalb nur das Ex periment (ebd., S. 48/49), das über die Sache das Urteil spricht. 96 Vgl. dazu die Methodendebatten in der Biologie des 19. Jahrhunderts (H. Quer ner, „Die Methodenfrage in der Biologie des 19. Jahrhunderts: Beobachtung oder Experiment?“, in: I. Jahn (Hrsg.), Geschichte der Biologie, Heidelberg, Berlin 2000, S. 420-430). So noch P. Duhem (Ziel und Struktur der physikalischen Theorien (1908), Hamburg 1978, S. 193), der die physiologischen Experimente als Berichte von konkreten Tatsachen zur Alltagswelt rechnet und sie insofern qualitativ von den physikalischen Experimenten (als abstrakten Berichten von symbolischen Tatsachen) abgrenzt, die in der abgeschlossenen Welt des physi kalischen Labors stattfinden und nur bei Kenntnis der physikalischen Theorien verständlich sind.
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mindest die Ränder der undurchdringlichen Wolke.“97 Insofern gilt: Nur dem Experiment ist zu vertrauen.98 Häufig genug werden dann Prognosen und Vermutungen experimentell korrigiert und das Vermutete erweist sich als Gegenteil des Faktischen.99 Dabei ist die wissenschaftliche Überprüfung durch eine Reihe von Voraussetzungen bestimmt: häufige und fortlaufende Untersuchung sowie die Untersuchung unter Einsatz wechselnder Versuchsanordnungen.100 Fabres Ablehnung der Spekulation richtet sich allerdings nicht wie bei den (in den einführenden Sätzen dieses Kapitels erwähnten) naturwissenschaftlichen Protagonisten in Deutschland (etwa Hermann von Helmholtz 1821–1894) oder bei den positivistischen Vertretern in Frankreich und England primär gegen Naturphilosophie oder Metaphysik, sondern vielmehr gegen eine bestimmte erfahrungswissenschaftliche Theorie. Fabres Einwände sind vor allem gegen die für ihn spekulativen Erklärungen der Darwinisten formuliert.101 Dass es bei dieser Kritik – wie in der Darwin Rezeption von George Cuvier (1769–1832), Claude Bernard (1813–1878) oder Louis Pasteur (1822–1895)102 – insbesondere um die Seite der Spekulation geht,103 wird in der gegenseitigen Hochachtung zwi97 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 35 (frz., Bd. 4, S. 28). 98 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 250 (frz., Bd. 3, S. 185); Vgl. auch J.-H. Fab re, Erinnerungen, Bd. 6, S. 113 (frz., Bd. 6, S. 81): „[…] befragen wir vor allem das Experiment. Eine zufällig aufgeschnappte Tatsache, die man nicht kritisch prüft, macht noch kein Gesetz.“ 99 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 254 (frz., Bd. 3, S. 187: le prévu, le contraire du réel). 100 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 115 (frz., Bd. 6, S. 81). 101 Vgl. M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 174 ff.; G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 189 ff. 102 Vgl. E. Radl, Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit, 2 Bde., Leipzig 1909, Teil II, S. 157: „In Frankreich wurde Darwin sehr kalt aufgenommen; die Pariser Wissenschaft zehrte von Cuviers Tradition oder neigte mehr zu Comtes positiver Philosophie, welche auf die Exaktheit der Methode, auf die Klarheit der Schlüsse und besonders auf die Experimente Nachdruck legte.“ 103 In seiner Erörterung der Darwin-Kritik Fabres geht C. Favret („Jean-Henri Fabre: His Life Experiences and Predisposition against Darwinism“, S. 43 f.) auf die mit dem Beobachtungsideal verbundenen Einwände Fabres gegen den hypothetischen Charakter der Evolutionslehre sowie auf die am Befund der Unabänderlichkeit von Instinkten ausgerichteten Einwände gegen die Annah me eines zufälligen Wandels ein. Der Einwand der Hypothetizität ist nach die ser Studie unter französischen Naturalisten weit verbreitet. Als wesentliche Motive für Fabres Antievolutionismus nennt Favret jedoch religiöse Gründe sowie dessen Demut gegenüber der Natur. Zudem unterstellt er ihm eine nicht ausreichende wissenschaftlich-intellektuelle Ausbildung, um die Überlegun
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schen Darwin und Fabre deutlich. Darwins Kennzeichnung von Fabre als unvergleichlichem Beobachter wurde bereits erwähnt. Auch Fabre zollt umgekehrt Darwin seine Hochachtung: „[…] denn wenngleich mich meine Sicht der Tatsachen seinen Theorien entfremdet, hege ich dennoch eine große Verehrung für seinen edlen Charakter und seine wissenschaftliche Redlichkeit.“104 Die Korrespondenz zwischen Fabre und Darwin entspinnt sich denn auch, weil Darwin, den auch Fabre als „aufmerksame[n] Beobachter“105 (profond observateur) charakterisiert, zur Untersuchung der Orien tierungsleistung und des Heimfindevermögens der Mörtelbienen (Chalicodoma) ein Experiment vorschlägt, das zur Bestimmung der Orientierung bei Tauben eingesetzt wurde. Fabre setzt Darwins Vorschlag einer experimentellen Überprüfung auch wegen der be-
gen der Evolutionstheorie zu erfassen („He did not have the mental tools and training to speak to the scientific issue that was evolution“, ebd., S. 45, S. 47). Zumindest was diesen Punkt betrifft, kann man allerdings angesichts der nach weislichen breiten wissenschaftlichen Kenntnis Fabres skeptisch sein. Favrets Überlegung läuft letztlich darauf hinaus, Fabre gänzlich als Wissenschaftler zu diskreditieren und ihn als Laienforscher, Naturliebhaber oder Künstler einzu ordnen („a popular writer instead of savant“, „not a trained scientist“, „acting as naturalist rather than scientist“, ebd., S. 47). Diese Einordnung wird erstens der für Fabre wesentlichen Fusion von Wissenschaft und Kunst nicht gerecht und sie wiederholt zweitens lediglich tradierte Narrative des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Na turgeschichte (Vgl. R. E. Kohler, Landscapes & Labscapes, S. 23 ff.; M. J. S. Rud wick, The Great Devonian Controversy. The Shaping of Scientific Knowledge among Gentlemanly Specialists, Chicago, London 1985; J. A. Secord, Contro versy in Victorian Geology. The Cambrian-Silurian Dispute, Princeton 1986). Mit Rücksicht auf die de facto vollzogene wissenschaftliche Methodik Fabres und deren Ergebnisse ist diese Einschätzung wohl nicht zu halten. Ebenso er scheint Favrets Ableitung von Fabres Evolutionskritik aus einer durch persön liche Verlusterfahrung und Momente des Scheiterns beförderten Religiosität (C. Favret, „Jean-Henri Fabre: His Life Experiences and Predisposition against Darwinism“, S. 45 ff.) zumindest kurzschlüssig. Die Erfahrung mit dem Tod der eigenen Kinder etwa teilt Fabre nicht nur mit vielen seiner Zeitgenossen, sondern eben auch mit Darwin selbst (vgl. dazu R. Keynes, Annies Schatulle. Charles Darwin, seine Tochter und die menschliche Evolution, Berlin 2002). Vgl. schließlich zur ähnlich wie Fabres Kritik an Darwin gearteten Kritik aus den Reihen der englischen Wissenschaftsphilosophie (Whewell, Herschel, Mill) die Ausführungen von D. L. Hull, „Die Rezeption von Darwins Evoluti onstheorie“, S. 87 ff. Gegen die unmittelbare Verbindung zwischen der Reli giosität Fabres und dessen Darwinismus-Kritik werden auch von anderer Seite Einwände erhoben, vgl. Y. Delange, Fabre, S. 146. 104 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 89 (frz., Bd. 2, S. 73). 105 Ebd., S. 90 (frz., S. 73).
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stätigenden Hinweise der Laien in seiner Umgebung um: Um das Vermögen des Heimfindens von in der Umgebung freigelassenen (und zuvor desorientierten) Bienen zu überprüfen, ordnet er alte Nester – nicht ohne sich dabei Gedanken darüber zu machen, wie er „Erbeinflüsse“ (influences héréditaires) durch seine „Experimente eliminieren“ kann106 – an seinem Haus in einer Weise an, die „das Beobachten leicht macht und mir die Plagen von früher erspart“107 und die zugleich den Bedürfnissen der Mauerbienen am besten entspricht.108 Die für die Experimente ausgesuchten Bienen werden mit einer Markierung in unterschiedlichen Farben versehen (wobei die Methode der Markierung solange modifiziert wird, bis sie ohne Beeinträchtigung der Bienen funktioniert). Mit einer auf Darwins Bemerkungen hin eingesetzten Schleuder werden die Tiere durch Herumdrehen im Kreise desorientiert, bevor sie weit vom Nest entfernt aufgelassen werden. Die Beobachtung der heimfliegenden Bienen bereitet Fabre allerdings Schwierigkeiten, da sie so schnell abfliegen. Die Rückkehr wird dann von den Familienmitgliedern Fabres protokolliert. Das Ergebnis wiederholter Experimente entspricht jedoch nicht Darwins und Fabres Prognosen: „[…] das Experiment ist oft genug gemacht worden, aber es endet nicht, wie Darwin – und auch ich – gehofft hatte“.109 Beide hatten vermutet, die Insekten merken sich den Weg, den sie vom Nest weg getragen werden und verlieren folglich, wenn sie im Dunkeln getragen und danach durch Schleudern desorientiert werden, die Fähigkeit, zurückzufinden. Im Gegensatz zu diesen Vermutungen gelingt den Bienen jedoch auch nach Einsatz dieser Verfahren die Rückkehr.110 Gleiches gilt auch für im folgenden Jahr 1881 durchgeführte noch kompliziertere Orientierungsversuche. Auch hier reißt die Korrespondenz mit Darwin nicht ab: „Ich hatte Charles Darwin von meinen ersten negativen Ergebnissen […] berichtet. Da er einen Erfolg erwartet hatte, war er sehr erstaunt.“111 Darwin schlägt einen neuen Versuch vor – die Beeinflussung der Tiere mit einer Induktionsschleife, um eine mögliche Magnetfeldorientierung zu stören. Fabre ist skeptisch und 106 Ebd., S. 92 (frz., S. 75). 107 Ebd., S. 93 (frz., S. 76). 108 Ebd.: „Wenn sie sich an das neue Domizil gewöhnen sollen, muss ich ihnen das Leben angenehm machen.“ 109 Ebd., S. 102 (frz., S. 82). 110 Vgl. dazu den Beitrag von Menzel in diesem Band. 111 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 105 (frz., Bd. 2, S. 84 f.).
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zeigt dabei Vorbehalte gegen die für ihn ansonsten hochgeschätzte Physik112: „Ich habe nur mäßiges Vertrauen in unsere Physik, wenn sie sich anheischig macht, das Leben zu erklären“.113 Trotzdem setzt er aus „Hochachtung für den berühmten Meister“ die vorgeschlagenen Versuche um. Auch dieses Experiment wird mit einfachsten Mitteln umgesetzt, beinhaltet jedoch komplizierte Handgriffe, so dass es ratsam ist, diese zu üben, „bevor man das Experiment draußen macht“.114 Die Wirkung des Anbringens von magnetisierten Nadeln ist frappant. Die Tiere lassen sich fallen und rollen wie wild auf dem Boden herum. Hinsichtlich der Schlussfolgerungen ist Fabre, „stets vorsichtig, wenn ich Unbekanntes erkunde“,115 zurückhaltend. Er testet die Möglichkeit, dass das Geschirr allein (ohne Magnetisierungseffekt) die gleiche Wirkung erzeugt und sieht sich danach bestätigt, weil die beobachteten Folgen im Verhalten erneut auftreten. Insofern ist das Experiment mit dem Magneten nicht durchführbar. Trotz diesem offenen Ausgang seiner experimentellen Untersuchung spekuliert interessanterweise Fabre am Ende seines Versuchsdurchganges selbst und dieses vermutlich auf Grund der eingangs geäußerten methodologisch-ontologischen Skepsis hinsichtlich der Aussagekraft der Physik für das Leben: „Was würde es [das Experiment, K. K.] uns sagen, wenn das Tier mitmachte? Ich glaube, nichts. Auf das Heimkehrvermögen hat ein Magnet nicht mehr Einfluss als ein Stückchen Stroh.“116 Berücksichtigt man diese Hochachtung gegenüber Darwin und die bereitwillige Übernahme von dessen Überlegungen durch Fabre in diesem Beispiel, dann wird deutlich, dass nicht die Beobachtungsfähigkeit oder die experimentelle Logik Darwins von Fabre abgelehnt werden, sondern vielmehr die spekulative Qualität seiner Theorie und die Konsequenzen für eine anekdotische Deutung der Verhaltensvermögen in Darwins Perspektive, wie sie insbesondere in George J. Romanes (1848–1894) Berichten117 über tierliches Verhalten zum Ausdruck kommen, an den auch andere Vertreter der Tierpsychologie Kritik geübt haben. Gegen diese Formen pole112 113 114 115 116 117
Vgl. dazu I. Yavetz, „Theory and Reality in the Work of Jean Henri Fabre“, S. 35. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 106 (frz., Bd. 2, S. 85). Ebd., S. 107 (frz., S. 86). Ebd., S. 108 (frz., S. 86). Ebd., S. 108 (frz., S. 86). J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 195 (frz., Bd. 4, S. 149). Zur Kritik an Ro manes‘ Position durch C. Lloyd Morgan siehe den Beitrag von Böhnert/Hilbert in diesem Band.
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misiert Fabre als „erbauliche[n] Geschichten, die man zusammenstoppelt, um den Menschen auf den Gorilla zurückzuführen“.118 Statt solcher Kurzschlüsse plädiert Fabre für Zurückhaltung. Liegen keine ausreichenden Belege vor, dann verzichtet er auf Erklärung und beschließt seine Überlegungen mit einem Fragezeichen.119 Die Betonung der spekulativen Note der Evolutionstheorie durch Fabre ergibt sich demnach auch aus seiner stark auf unmittelbar beobachtbare Fakten ausgerichteten Haltung. Demgegenüber ist die Evolutionstheorie aus seiner Sicht zu sehr auf mittelbare Schlüsse und durch ihre Ausrichtung auf die Vergangenheit angewiesen: „Der Transformismus stellt Behauptungen für die Vergangenheit und für die Zukunft auf, aber von der Gegenwart redet er möglichst wenig.“120
4. „Das Vorauswissen, das nichts von sich weiß“: Fabres Insekten als Instinktwesen Fabres Forschung ist jedoch nicht nur eine an den Fakten ausgerichtete Freilandforschung, sondern sie ist weiterhin auch ein spezielles Untersuchungsprogramm in der Instinktforschung.121 Damit ist allerdings ein weites Feld fachwissenschaftlicher und biophilosophischer Debatten eröffnet, die bis in die Antike zurück reichen.122 Wir können deshalb hier lediglich die für das Verständnis von Fabres Ansatz und die mit ihm verbundenen Fragen unseres Beitrags wichti118 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 117 (frz., Bd. 5, S. 92). 119 Ebd., S. 151 (frz., S. 116). 120 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 96 (frz., Bd. 3, S. 72). Eine ähnliche Argu mentation finden wir auch bei J. v. Uexküll („Die Bedeutung der Planmäßigkeit für die Fragestellung in der Biologie“ (1925), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Th. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 213-217, hier S. 217): „Es macht zudem einen durchaus dilettantischen Eindruck, wenn man Vorgänge, die sich vor unseren Augen ab spielen durch Ursachen erklärt, die vor Tausenden von Jahren vielleicht einmal wirksam gewesen sind.“ 121 Y. Delange, Fabre, S. 101; P. Tort, Fabre, S. 114 ff. 122 Vgl. G. Toepfer, „Instinkt“, in: G. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stuttgart 2011, Bd. 2, S. 195-214. Vgl. auch K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffes“ (1937), in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre, 2 Bde. in einem Bd., Frankfurt a. M., Wien, Zürich 1967, Bd. 1, S. 229-275.
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gen Punkte skizzieren: So steht der Instinktbegriff bis zu den Kontinuitätsüberlegungen des Darwinismus in den meisten Fällen für die Unterscheidung von regelmäßigen und unveränderlichen Abläufen in der lebendigen Natur einerseits von variablen, situations- und kulturspezifischen Geschehnissen, die die menschliche Vernunft veranlasst andererseits. Dieser Aspekt, der Tiere als Instinktwesen von Menschen als Intelligenzwesen trennt, wird in den abschließenden biophilosophischen Reflexionen zu Fabre und Bergson eine Rolle spielen. Instinkt steht zudem als angeborenes Vermögen für den Unterschied zu erlerntem, gewohnheitsmäßigem Verhalten. Diesen Aspekt hebt insbesondere Fabre immer wieder hervor und er spielt bei späteren Debatten um den Instinktbegriff im Anschluss an Konrad Lorenz’ Vergleichende Verhaltensforschung eine wichtige Rolle.123 Den Instinkt prägt zudem das von Conwy Lloyd Morgan (1852–1936) hervorgehobene methodologische Grundproblem der Tierpsychologie, dass er sich wie alle anderen mentalen Vermögen zwar auch in beobachtbaren Verhaltensweisen in Raum und Zeit äußert, aber doch als innerer Antrieb der direkten Beobachtung entzogen ist, wir also zwischen beobachtbaren Verhaltenstatsachen und psychologischen Schlussfolgerungen zu unterscheiden haben.124 Dieser Aspekt hat Konsequenzen für das stark auf die Empirie fokussierte Methodenprogramm Fabres und verweist hier auf eine grundsätzliche methodologische Grenze der von Fabre stark gemachten Enthaltung von jeglicher Theorie. Instinkt steht zudem in vielen (bio-)philosophischen Ausdeutungen für ein Prinzip der organischen Natur, ein auf einen Zweck hin ausgerichtetes, wiewohl unbewusstes Geschehen oder eine a-mechanische Kraft. Andererseits gibt es jedoch immer wieder Versuche, Instinkte als aus elementaren Abläufen zusammengesetzte Reflexgeschehen zu deuten – dieses hatte schon der für unsere späteren Überlegungen zu Bergson wichtige Herbert Spencer (1820–1903) getan und dieser Gedanke leitet etwa auch die von Darwin und Spencer inspirierte Instinkttheorie Heinrich E. Zieglers (1858–1925).125 Eine ebenfalls mechanische Deutung liefert der mit dem Begriff ‚Tropismus‘ ope-
123 Zu dieser Debatte vgl. den Beitrag von Wunsch in diesem Band. 124 C. Lloyd Morgan, Instinkt und Gewohnheit, Leipzig, Berlin 1909, S. 3 f. Zu Morgan vgl. den Beitrag von Böhnert/Hilbert in diesem Band. 125 H. E. Ziegler, Der Begriff des Instinktes einst und jetzt, Jena 1920, S. 78 ff.; H. E. Ziegler, „Über den Begriff des Instinktes“, in: Verhandlungen der Deutschen zoologischen Gesellschaft 1892, S. 122-136.
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rierende einflussreiche Ansatz von Jacques Loeb (1859–1924).126 Sowohl die Spannung in der Deutung von Instinkten als bereits sinnvollen angeborenen Dispositionen oder aber als eine durch trialand-error Verfahren erworbene Gewohnheit als auch die Spannung ihrer Deutung als Willensausdruck einer organischen Natur oder aber als mechanische Äußerung eines maschinenanalogen Lebens verweisen dann auf eine letzte Seite der Instinktdebatte: Gerade am Instinktbegriff macht sich eine Diskussion um lamarckistische und darwinsche Interpretationen der Evolution fest.127 Diese Offenheit befördert bereits Darwin selbst, der einerseits komplexe Instinkte als schrittweise entstandene Ergebnisse der natürlichen Selektion versteht,128 der aber andererseits auch über zur Gewohnheit gewordene, dann vererbbare Vermögen nachdenkt, die ursprünglich willentliche Aktionen (voluntary actions) waren.129 Für Fabre ist der Instinkt das erste Prinzip des Insektenlebens. Instinkte werden nicht durch Nahrung, Umwelt oder Material geformt, sondern sie sind bereits vorher fertig und stellen umgekehrt ihrerseits das Gesetz für Nahrungssuche, Umweltbezüge und Gestaltbildung: „Baustelle, Arbeit, Nahrung haben den Instinkt nicht determiniert. Der Instinkt ist zuerst da […]; er erlegt das Gesetz
126 J. Loeb, The Dynamics of Living Matter, New York 1906, S. 158 und S. 160: „It is obvious that the tropisms furnish the understanding for many purposeful in stinctive reactions, and that what is generally called an instinct is often nothing more than a compulsory turning and moving of an organism in a given direc tion. […] The tropisms thus furnish an insight into the origin of purposeful re actions by the blind forces of nature.“ J. Loeb, Das Leben, Leipzig 1911, S. 40 f.: „Daß im Falle unseres inneren Lebens eine physikalisch-chemische Erklärung nicht jenseits des Bereiches der Möglichkeit liegt, wird dadurch bewiesen, daß es heute schon möglich ist, einfache Manifestationen tierischer Instinkte und tierischen Willens wenigstens im Prinzip physikalisch-chemisch zu erklären, nämlich die Erscheinungen, die ich unter dem Namen der tierischen Tropismen in einer Reihe von Arbeiten besprochen habe.“ Zu Loeb vgl. auch den Beitrag von Fangerau in diesem Band. 127 W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, 7. und 8. Auflage, Leipzig 1922, S. 492: „Bewegungen, die ursprünglich aus einfachen oder zu sammengesetzten Willensakten hervorgegangen, dann aber entweder während des individuellen Lebens oder im Laufe einer generellen Entwicklung vollständig oder teilweise mechanisiert worden sind, nennen wir nun Instinkthandlungen.“ 128 C. R. Darwin, On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favored races in the struggle for life, 1st Edition, London 1859, Kapitel 7 ‚Instinct‘, S. 209 f. 129 C. R. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animal, London 1872, S. 357.
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auf, anstatt ihm zu unterliegen.“130 Mit seiner Interpretation und Bestimmung des Instinktes liefert Fabre eine deutliche Abgrenzung des eigenen Ansatzes von konkurrierenden Erklärungsansätzen und Theorien. Zudem zeigt sich, dass diese Bestimmung, will man sie angemessen verstehen, nicht allein unter logischen oder ontologischen Vorzeichen betrachtet werden kann (etwa als sprachphilosophische Erörterung zu Klarheit oder Vagheit des Instinktbegriffs oder als ontologische Betrachtung zur Verfasstheit von Lebewesen als Instinktwesen). Stets müssen die Reflexionen zu Fabres Instinktbegriff in den Kontext der von ihm eingesetzten methodischen Verfahren gestellt werden. Tut man dieses, dann lässt sich gerade an den Bestimmungen Fabres eine Verflechtungsmatrix von Beobachtungsbedingungen und -methoden mit den Untersuchungsobjekten (‚Modellorganismen‘) und deren Vermögen nachweisen. Auch wird der Übergang von Befundlagen zu deren theoretischer Deutung erkennbar. Wir gehen deshalb näher auf diesen Zusammenhang ein. Angesichts der von ihm immer wieder beobachteten komplexen Abfolge von Bewegungen und Verhaltensabläufen seiner Insekten ist Fabre fest davon überzeugt, dass deren Instinkt keine während des Lebens der Tiere erworbene Fähigkeit im Sinne einer Gewohnheit ist: „Wo Erfahrung und Nachahmung nichts vermögen, gebietet der Instinkt mit seinem unbeugsamen Gesetz“.131 Bei Instinkt muss es sich vielmehr um ein angeborenes Vermögen handeln, das von Beginn an für seine biologischen Funktionen vollkommen angepasst ist.132 Es handelt sich weder um eine freie, noch um eine bewusste Fähigkeit. Ihre Handlungsphasen sind prädeterminiert und 130 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 215 (frz., Bd. 3, S. 162). 131 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 62 (frz., Bd. 4, S. 49). 132 Ebd.: „Diese Fähigkeit ist in jeder Gattung von Anfang an perfekt, sonst hät te das Insekt keine Nachkommen. Die Zeit gibt nichts und nimmt nichts. So wie sie für eine Art festgelegt wurde, ist sie und bleibt sie das wohl konstan teste zoologische Merkmal.“ In diesem Sinne hat M. Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hrsg. von M. S. Frings, 14. Auflage, Bonn 1998, S. 17 ff.) den Instinkt als artdienliche, sinnmäßige, in einem festen, un veränderlichen Rhythmus ablaufende Reaktion bestimmt. Der Instinkt ist für ihn angeboren und erblich. Seine vollkommene Umsetzung ist von der Zahl der Versuche unabhängig. Alle Modifikationen sind lediglich Variationen einer Melodie: „Das ist es, was man als ‚Starrheit‘ des Instinktes bezeichnet, im Un terschied zu den überaus plastischen Verhaltungsweisen, die auf Dressur, Selbst dressur und auf Intelligenz beruhen. In seinem gewaltigen Werke ‚Souvenirs Entomologiques‘ hat J.-H. Fabre eine überwältigende Mannigfaltigkeit solch instinktiven Verhalten mit größter Präzision gegeben.“ (ebd., S. 20)
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der Ablauf erinnert an ein Uhrwerk (quelque système à rouages). Mit dieser Einschätzung wendet sich Fabre sowohl gegen die Annahme eines Lernverhaltens im Sinne des trial-and-error als auch gegen die von durch Zufall und Auswahlmechanismen bestimmten Erklärungsansätze der Transformisten.133 Allerdings weiß Fabre, dass ein starres „Wissen, das nichts von sich weiß“ (rigide science qui s’ignore)134 allein das Überleben der Tiere unter wechselnden Umweltbedingungen nicht gewährleisten würde. Der starre Instinkt muss deshalb ergänzt werden durch die flexible Erfahrung. Weil Fabre diese Fähigkeit bei Insekten nicht ‚Intelligenz‘ nennen möchte – „ein viel zu großes Wort“ – bezeichnet er sie als „Unterscheidungsvermögen“ (discernement).135 Fabres Votum ist deshalb das einer klaren Trennung der Vermögen des Instinktes und der Vermögen zur Unterscheidung auf der Basis der jeweiligen Anpassungsfähigkeit (est-il modifiable?): „Solange man Handlungen des reinen Instinkts und Handlungen des Unterscheidungsvermögens unter einer Rubrik vermengt, wird man immer wieder in endlose Diskussionen verfallen, die zwar die Polemik verschärfen, aber die Sache keinen Schritt voranbringen.“136 Wie die folgenden Beispiele deutlich machen, ist der anpassungslose (weil bereits vollkommen angepasste) Instinkt für Fabre etwa in den komplexen und immer gleich ablaufenden Formen des Beutefanges der Sandwespe (Ammophila hirsuta) erkennbar,137 die Flexibilität und Variation des Un133 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 195 (frz., Bd. 4, S. 149): „Nirgends finde ich einen so klaren, luziden, aussagekräftigen Beweis für das intuitive Wissen des Instinkts [wie bei der Beutefang-Methode der Sandwespen, K. K.]; nirgends wird die Evolutionstheorie dermaßen erschüttert. Darwin, ein wahrer Kenner, irrte hier nicht. Das Problem des Instinkts fürchtete er.“ 134 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 62 (frz., Bd. 4, S. 50). 135 Ebd., S. 62 f. (frz., S. 50). 136 Ebd., S. 63 (frz., S. 50). 137 C. Favret („Jean-Henri Fabre: His Life Experiences and Predisposition against Darwinism“, S. 43 f.) verweist allerdings auf die Kritik am Postulat der Unab änderlichkeit des Instinktes seit den Untersuchungen von G. Peckham und E. Peckham (Instincts and Habits of the Solitary Wasps, Wisconsin Geological and Natural History Survey, Madison (WI) 1898, S. 30 und S. 220). Diese ha ben aus ihren Beobachtungen Belege für die Richtigkeit der Selektionstheorie abgeleitet. Favret nennt auch C. Ferton (La vie des Abeilles at des guêpes, Paris 1923, S. 354), der die Möglichkeit der Variation des Beutefangs bei Ammophi lia betont. Bestätigende Hinweise finden sich in der aktuellen entomologischen Beschreibung des Jagdverhaltens der Grabwespen jedoch nicht (vgl. M. Blösch, Die Grabwespen Deutschlands (Sphecidae s. str., Crabronidae), Lebensweise, Verhalten, Verbreitung, Keltern 2000, S. 65 ff.). Eher wird hier darauf verwie
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terscheidungsvermögens hingegen im Beutespektrum der Schlammarbeiterin (Pelopeia).138 Betrachten wir den Hintergrund für diese Unterscheidung an einem Beispiel, wobei erneut die Beobachtungssituation in die Befundlage einzubinden ist: Fabres Untersuchungen zur Ernährung von Dolchwespenlarven etwa verweisen auf einen komplexen, vielstufigen und ‚sinnvollen‘ Verhaltensablauf, bei dem jede Änderung in den Details zum Verhungern der Larven führen würde. Zweigestreifte Dolchwespen (Scolia bifasciata) ernähren ihre Brut mit Rosenkäferlarven (Cetonia), die von ihnen betäubt werden und im gelähmten Zustand als Nahrung der heranwachsenden Dolchwespenlarve dienen. Um die Lähmung der Beute ohne deren Tötung oder deren allzu große Schädigung zu erreichen, muss bereits das Muttertier der Dolchwespe eine instinkthafte Vollkommenheit an den Tag legen. Dolchwespen sind zudem Untertagearbeiter (laboureurs souterrains), die ihre Beute unter der Erde jagen.139 Unter diesen Bedingungen, für die die Fluginsekten morphologisch durch Aufbau ihrer Kiefer und Beine bestens angepasst sind, in völliger Dunkelheit also, müssen Rosenkäferlarven aufgefunden und gelähmt werden. Die „Operation“ der Dolchwespe ist dabei um Grade präziser und genauer als es die eines menschlichen Anatomen mit seinen Behelfsinstrumenten wäre,140 sie ist deshalb für Fabre Ausdruck vollkommener „Chirurgenkunst der Hautflügler“ (talent chirurgical de l’hyménoptère).141 Dieser Kampf im Dunkeln ist bewundernswert und zugleich – da er im Hellen keinen biologischen Erfolg hätte, weil die Beute mit dem Ei im Humus verbleiben muss – entzieht er sich der direkten Beobachtung durch den Forscher und ist deshalb lediglich nach seinem Ergebnis rekon struierbar.
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sen, dass „bereits Fabre […] die systematische Vorgehensweise der Wespe“ (ebd., S. 65) hervorgehoben habe. Der genauen Analyse von Stechakt und Pa ralyse folgt lediglich ein kleiner Hinweis darauf, dass zu Beginn der Tages- und Jagdaktivität Variationen in der Stichmenge vorkommen können, diese aber die Beute für die Larvennahrung ungeeignet machen. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 64 (frz., Bd. 4, S. 50 f.). J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 14 (frz., Bd. 3, S. 13). Ebd., S. 26 (frz., S. 21): „Ihre [der Dolchwespen, K. K.] Operation ist aber nicht mit meiner zu vergleichen. Sie operiert wie ein behutsamer Physiologe, der anästhesiert; ich operiere wie ein Metzger, der zerfetzt, herausreißt und ent fernt. Der Stachel lässt die Nervenzentren unversehrt.“ J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 43 (frz., Bd. 3, Bd. S. 32).
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Betrachten wir die Verfahren, mit denen Fabre seine Untersuchung vornimmt im Detail, dann können wir auch an diesem Beispiel den oben geschilderten Übergang vom Feld zum Labor in seinen Etappen verfolgen: So gelang es Fabre nicht, das Jagdverhalten der Dolchwespen bei Freilandbeobachtungen 1857 im Wald von Issards zu erfassen;142 erst als er 1880 durch Zufall beim Umsetzen seines Komposthaufens im Freilandlabor des Harmas auf ideale Beobachtungsbedingungen stößt,143 kann er die Abläufe aufklären. Die Bedingungen der Ernährung der Larve selbst erfordern dann eine nochmals gesteigerte ‚Laboratorisierung‘ der Beobachtung: Fabre arbeitet nun mit Gläsern, die gesiebten Humus und eine mit einem Ei besetzte Rosenkäferlarve enthalten.144 Jedes Ei der Dolchwespe wird vom Muttertier auf der Bauchseite der Rosenkäferlarve befestigt. Damit die Bewegungen oder die Kieferzange der Beute Ei und spätere Made nicht beschädigen, muss die Beute vollkommen gelähmt sein. Sie darf allerdings auch nicht sterben oder verwesen, denn dann wäre das Überleben der Dolchwespennachkommen ebenfalls nicht möglich. Von diesen Vorgaben ist auch der Ablauf des Fraßes der Dolchwespenlarven bestimmt, die ihre Beute bei lebendigem Leibe verzehren (und die im Gegensatz zur LanguedocGrabwespe nicht mehrere kleine Beutestücke zur Verfügung haben, sondern eben nur eine große Rosenkäferlarve). Die beim Fraß in die Beute eintauchende Dolchwespenlarve muss sich deshalb von ihrer Beute ernähren, ohne dabei frühzeitig lebenswichtige Teile zu beschädigen. Nach Fabre folgt sie dazu einem sinnvollen Fraßplan, einer „wissenschaftlichen Ernährung“145 (savante alimentation). Jedes Abweichen von diesem Plan würde die Dolchwespe ihr Leben kosten.146 142 Ebd., S. 8 ff. (frz., S. 8 ff.). 143 Ebd., S. 19: „Ich kann es [das Rätsel des Verhaltens der Grabwespen, K. K.] gründlichst untersuchen; ich habe die gewünschten Elemente zu jeder Tages zeit, zu jeder Stunde vor Augen.“ 144 Ebd., S. 21 (frz., S. 17): „Der Behälter ist mit einer Glasscheibe bedeckt. So verhindere ich rasches Verdunsten und habe meine Pfleglinge vor Augen, ohne befürchten zu müssen, dass ich sie störe. Jetzt, wo alles in Ordnung ist, wollen wir die Fakten aufzeichnen.“ 145 Ebd., S. 24 (frz., S. 20). 146 Ebd., S. 36 (frz., S. 27): „Um zu gedeihen, hätte er [der erste Hautflügler, der jemals Rosenkäferlarven auf diese Weise fraß, K. K.] […] wissen müssen, was erlaubt und was verboten war; und er hätte dieses komplizierte Geheimnis nicht nur ungefähr, sondern sehr genau kennen müssen; denn ein einziger un zeitiger Biss würde unfehlbar seinen Untergang bedeuten.“
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Die Behauptung eines solchen Planes wird bereits durch die direkte Beobachtung legitimiert, sie wird jedoch von Fabre darüber hinaus erneut dadurch abgesichert, dass er in seinem Untersuchungsprogramm von der Beobachtung zum Experiment wechselt.147 Einerseits zerstört Fabre selbst mittels feiner Instrumente lebenswichtige Teile der Beute, um die Folgen solcher Eingriffe zu belegen und andererseits unterzieht er auch den Fressvorgang der Made einer Prüfung, indem er die Larve bei ihrer Ernährung stört, sie aus ihrer Position entfernt oder neu an einem anderen Ort ansetzt. Auch das Ansetzen der Eier an anderen Stellen der Körper ihrer Beute vor dem Beginn des Fressens, der Einsatz von nicht gelähmten Rosenkäferlarven oder die Gabe anderer Beutetiere gehört zu seinem Versuchsprogramm. Die erzielten Ergebnisse sprechen dafür, dass alle Abweichungen vom Plan zum Absterben von Beute und Made führen und die „Kunst, sie zu verspeisen“148 stören würden. Auf der Basis dieser Befunde über die unfehlbare Methode der Dolchwespenlarve, die unsere physiologische Kunst übersteigt, lehnt Fabre die Annahme der Darwinisten ab, die diese Kenntnisse der Larven durch Gewohnheit (habitude) erklären wollen.149 Da jeder Fehler auf dem Weg zur Ausbildung der Gewohnheit zum sofortigen Tod der Larven (weil zum Tod der durch sie zu verzehrenden Beute) führen müsste, könne sich eine solche Gewohnheit niemals ausbilden und in der Reihe der Nachkommen etablieren. Entweder existiere der Instinkt als angeborenes Vermögen (und sichere damit das Überleben der Nachkommen) oder aber es handele sich um ein erworbenes Verhalten, dessen Besitzer jedoch keine Nachkommen mehr haben könnten. Wenn das Tier seine Methode (son métier) nicht bereits gründlich beherrscht und erst noch erwerben muss, wird es zugrunde gehen.150 Für Fabre ist es deshalb irrig, von ei147 148 149 150
Ebd., S. 26 (frz., S. 21). Ebd., S. 35 (frz., S. 26). Ebd., S. 36 (frz., S. 27). Ebd., S. 37 (frz., S. 27 f.). Fabre verwendet zur Illustration seiner Überlegung die Metapher des Schneeballs (pelote de neige), der bereits vorhanden sein müsse, wenn man eine große Schneekugel (boule) rollen wolle. Ohne einen solchen Schneeball keine Schneekugel. Diese Metapher zur Illustration einer präformierten organischen Ordnung nimmt der stark von Fabre beeinflusste Henri Bergson in seine metaphysische Bestimmung des Lebens auf und mo difiziert sie im Sinne einer schöpferischen Entwicklung. Für Bergson (Schöp ferische Entwicklung, Jena 1912, S. 9; L’Évolution créatrice, in: H. Bergson, Œuvres, Paris 1991, S. 496) gleicht die auch das Leben bestimmende Dauer (durée) einer sich aus sich selbst formenden Schneekugel: „Unablässig, wäh
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ner zufälligen „Reihe blinden Suchens“151 auszugehen. Der Rekurs auf Zufall (hasard) ist kein überzeugender Erklärungsansatz für die Ausbildung eines derart komplexen Instinktes. Der Instinkt entwickelt sich nach Fabre nicht, er ist ohne Lehrzeit, beim ersten Versuch bereits vollkommen da und verweist auf eine planvolle Ordnung des Kosmos. Diese Argumentation basiert allerdings nicht allein auf Befunden über das Verhaltensrepertoire von Dolchwespen. Betrachten wir ein weiteres Beispiel, so findet sich eine verwandte Überlegung auch bezogen auf die Untersuchung des Beutefanges von Grabwespen (Tachytes). Wir gehen auch auf dieses Beispiel kurz ein, weil es erstens an einem für die Argumentation von Fabre bedeutsamen Befund anknüpft: Da Fabre für seine Behauptung eines angeborenen Instinkts mit den tödlichen Folgen des Verfahrens von Versuch und Irrtum argumentiert, bieten sich die Tachytes besonders an, weil diese Gottesanbeterinnen als Nahrung für ihre Nachkommen jagen. In diesem Fall muss sich die Kunst der Betäubung an einer äußerst wehrhaften Beute bewähren und die tödlichen Folgen jedes Irrtums sind augenscheinlich. Zweitens belegt auch dieses Beispiel, dass ein zentrales Mittel der Argumentation Fabres die Behauptung einer wissenschaftsähnlichen Kunst auf Seiten der Insekten ist. Damit werden nicht nur wissenschaftliche Verfahren des Menschen mit Instinktvermögen von Insekten analogisiert – was für unsere abschließenden Überlegungen zur philosophischen Resonanz auf Fabres Befunde bedeutsam ist –, sondern es werden auch die Insekten zu Handlungssubjekten in Fabres Berichten. Sie sind es, die Verfahren und Methoden einsetzen. Sie sind die ‚Helden‘ in Fabres Geschichten. Die Verwendung der Rede von Methoden und Handwerken des Insektenlebens verweist einerseits auf den umfänglichen – und für die Metatheorie der Erforschung tierlichen Verhal-
rend seines Vorrückens in der Zeit, schwillt mein Seelenzustand um die Dauer an, die er aufrafft; aus sich selbst sozusagen, rollt er einen Schneeball“ (il fait […] boule de neige avec lui-méme). In beiden Fällen wird also über die gleiche Metapher des Schneeballs die Frage nach einem Anfang biologischer Ordnung weder nach Art der creatio ex nihilo noch durch Rekurs auf den Zufall be antwortet, sondern durch eine dem Leben eigene Formungskraft. Bei Bergson jedoch ist der schöpferische Impuls stärker betont, bei Fabre hingegen die prä formierende Instanz. 151 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 54 (frz., Bd. 3, S. 40).
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tens enorm wichtigen – Problemkontext anthropomorpher Rede,152 und er liefert andererseits auch die Brücke zur Frage der poetischen Gestaltung von Fabres wissenschaftlichen Berichten (siehe dazu unten). So demonstriert gerade die schriftliche Reflexion über den Beutefang von Tachytes, wie sehr sich Fabre in seinen Argumentationen des rhetorischen Mittels der poetischen Darstellung bedient. Hinsichtlich der anthropomorphen Rede sei bereits hier betont, dass man hierin nicht trivial eine Tendenz auf Vermenschlichung der Tiere sehen sollte, da gerade die im Kontext der Instinktthematik verwendeten Vergleiche Fabres von ‚Instinktwissen‘ und ‚Intellekt wissen‘ alle dazu dienen, die Unvergleichbarkeit instinktiver Verhaltensweisen mit intelligenten Handlungen herauszustellen und somit gerade Mittel gegen die Anthropomorphisierung des Verhaltens von Insekten und für die Herausstellung ihrer Eigenart sind. Betrachten wir dazu am Beispiel der Tachytes die Aufzeichnungen Fabres, der ein Protokoll der von ihm gesammelten Beutefänge dieser Insekten verfasst. Die verschiedenen Tachytes-Arten jagen nach dieser Untersuchung zwar je unterschiedliche Beute, alle jedoch verbleiben bei ihrer Beutewahl in der systematischen Ordnung der Gradflügler (Heuschreckenartige): „Nun gut! Habe ich die Tachytes zu Recht als Heuschreckenliebhaberin definiert? Welche Konstanz in den gastronomischen Regeln der Rasse! Und mit welchem Gespür sie ihre Jagdbeute variiert, aber nie die Ordnung der Gradflügler verlässt! Was haben Heuschrecke, Grille, Gottesanbeterin, Maulwurfsgrille in ihrem allgemeinen Aussehen gemeinsam? Nichts, absolut nichts. Wer nicht mit den von der Anatomie diktierten komplizierten Verknüpfungen vertraut ist, käme nie darauf, sie in eine Klasse zu stellen. Doch die Tachytes irrt sich nicht. Vom Instinkt geleitet, macht sie der Wissenschaft eines Latreille Konkurrenz und vereint alle in einer Klasse. Diese Taxonomie des Instinkts wird noch erstaunlicher, wenn man die Verschiedenartigkeit der in einer Höhle aufgehäuften Stücke bedenkt.“153 Während hier die Sammlungstätigkeit der Insekten (die Fabre auf Basis der eigenen Sammlung aus dem Vorratslager in den Bruthöhlen der Tachytes beschreibt) die Analogie zur wissenschaftlichen Sammlung und Systematik abruft und für Fabre eine „Taxonomie 152 Vgl. dazu R. Becker, Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Forma tionen des Anthropomorphismus, Frankfurt a. M. 2011. 153 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 200 (frz., Bd. 3, S. 151).
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des Instinkts“ nahelegt, wird die zum Erlegen von Beute notwendige Kunstfertigkeit (die Fabre seinerseits auch unter Einsatz von Experimenten und anatomischen Sektionen untersucht) in Analogie zur wissenschaftlichen Anatomie und Physiologie gesetzt, sie ist dementsprechend eine Chirurgie des Instinkts. Auch in diesem Fall also wird menschliches Wissen (savoir humain) mit dem Wissen des Insekts (savoir de l’insecte) auf mehreren Ebenen in Bezug gesetzt – und dieses sowohl inhaltlich in Fabres Text als auch methodisch durch Fabres eigene Praxis.154 Um den Ablauf der Lähmung dieser gefährlichen Beute zu beobachten, bedient sich Fabre bei seiner Untersuchung der „Methode des Unterschiebens“ (la méthode de substitution).155 Er entfernt eine bereits gelähmte Beute aus den Fängen seiner Jägerin und ersetzt sie durch eine gleich große lebende Mantis. Die Beobachtung des darauf folgenden Kampfes zeigt: Tachytes stößt exakt so zu, wie es der Sitz der Thorakalganglien (Nervenzentren der Brustregion zur Versorgung der Beinpaare) und die Gefährlichkeit der Fangbeine der Mantis verlangen. Zuerst wird das Nervenzentrum der Fangbeine vom Stachel der Tachytes getroffen, dann setzt das Tier zurück und trifft nacheinander die beiden Ganglien der Laufbeine der beiden folgenden Segmente: „Was sagen Sie dazu? Stimmen die Theorie des Gelehrten und die Praxis des Tieres nicht bewundernswert überein? Hat das Tier nicht perfekt ausgeführt, was Anatomie und Physiologie uns vermuten lassen? Der Instinkt, eine kostenlose Zugabe, eine unbewusste Eingebung, konkurriert mit dem Wissen, einer sehr kostspieligen Erwerbung. […] Die Tachytes weiß also, wo die Nervenzentren ihrer Jagdbeute liegen; oder besser gesagt, sie tut, als wüsste sie es. Dieses unbewusste Wissen haben sie und ihre Rasse nicht durch über die Zeitalter immer mehr vervollkommnete Versuche und durch von Generation zu Generation weitergegebene Gewohnheiten erworben. Es ist unmöglich […], eine Kunst auszuprobieren und zu erlernen, bei der man verloren ist, wenn man nicht auf Anhieb Erfolg hat. Man rede mir nicht von Atavismus, von kleinen Erfolgen, die durch Vererbung größer werden, wenn der Neuling, der seine Waffe falsch setzt, in der Doppelsäge [der Fangarme der Gottesanbeterin, K. K.] zermalmt und zur Beute der wilden Mantis wird! Die friedliche Heuschrecke protestiert gegen den Angriff vergeblich durch Ellenbogenstöße; die fleischfressende Mantis, die weit kräftigere 154 Ebd., S. 207 (frz., S. 155). 155 Ebd., S. 208 (frz., S. 156).
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Hautflügler als die Tachytes verschmaust, würde dadurch protestieren, dass sie den Ungeschickten frisst; das Wildbret verzehrt den Jäger, ein trefflicher Fang. Fangschrecken zu lähmen ist ein hochgefährliches Gewerbe und verträgt keinen halben Erfolg; die Tachytes muss sich bei Strafe des Untergangs schon beim ersten Mal auszeichnen. Nein, die Kunst der Chirurgie [der Tachytes, K. K.] ist keine erworbene Kunst. Woher bekommt sie diese, wenn nicht aus dem universalen Wissen, in dem sich alles bewegt und alles lebt?“156 Nicht nur zeigen diese Zitate den Wissenschaftler und Poeten Fabre bei seiner Arbeit, sondern sie zeigen auch, dass die Methoden des Forschers Fabre – etwa seine wissenschaftliche Klassifikation von Grabwespen, seine poetische Definition dieser Tiere als ‚Heuschreckenliebhaber‘ oder seine Experimente, um diese Definition im Rahmen seiner Untersuchungen von Instinktleistungen zu rechtfertigen – in engsten Kontakt treten mit den Methoden der Grabwespen selbst. Ihre bewunderungswürdigen Leistungen bei der Klassifikation von Insekten sind es, die Fabre hervorhebt. Die Tatsache, dass sie instinktiv in der Lage sind, ihre Beute nur aus der Ordnung der Gradflügler zu wählen und sich dabei von enormen Gestaltunterschieden der verschiedenen Arten nicht irritieren lassen. Dieses unbewusste Wissen des Instinktes und dessen Verhältnis zum bewussten Wissen des Intellektes interessieren ihn. Die kunstfertige und stets in bestimmter Reihenfolge ablaufende Betäubung der Beute, die zur Nahrung ihrer Nachkommen dient, belegen für Fabre: Hier ist ein ‚Wissen‘ präsent, dass nicht in Darwins Sinne aus unvollkommenen Vorformen entwickelt werden konnte. Vor allem, wenn es darum geht, gefährliche Räuber wie die Gottesanbeterin zu erlegen, ist die Genauigkeit, mit der die Stiche gesetzt sind, für die Grabwespe überlebensnotwendig. Jeder Fehler würde sofort mit dem Tod bezahlt. Ein neuer Versuch könnte nicht gemacht werden. Auch weniger dramatische, eher ‚handwerkliche‘ Fähigkeiten von Insekten – das Fabre lange Jahre beschäftigende Verhalten des Heiligen Pillendrehers Skarabäus beim Einrollen seiner Mistkugeln etwa – dienen als Beleg für diese besondere Qualität des Instinktes. Auch für den Instinkt des Pillendrehens beim Mistkäfer gilt: „Ohne Lehrzeit: Beim ersten Versuch wird eine Kugelform erzielt, die nach langer Praxis nicht regelmäßiger sein könnte.“157 Auch das Drehen der Mistkugeln durch den Pillendreher ist also angeboren, seine 156 Ebd., S. 209 f. (frz., S. 159). 157 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 74 (frz., Bd. 5, S. 56).
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Beine bilden eine Art Zirkel, der den richtigen Krümmungsgrad der Mistkugel überprüft. Instinkt ist für Fabre eine Methode, ein Werkzeug also. Er ist wie ein Organ und arbeitet mittels Organen. Dennoch liefert die an der Anatomie der Organe orientierte Homologieforschung keinen angemessenen Beitrag zur Instinktforschung. Die Ähnlichkeit im Körperbau, die der Anatom im Museum konstatieren kann, ist nicht identisch mit der Ähnlichkeit der Instinkte, die der Verhaltensforscher im Freiland feststellt. Für Fabre ist die Ausstattung im Körperbau zwar ein gemeinsamer Grund, erlaubt aber Variationen und diese sowie die Suche nach deren „verborgenen Ursachen“ ist es, die den Reiz für den Beobachter ausmachen.158 So ist es auch beim Heiligen Pillendreher. Eine alleinige Berücksichtigung des Körperbaus (organisation) und der Arbeitsbedingungen (circonstances) ergibt keine Erklärung für den Prozess der Bildung der Mistkugel. Auch hier wieder ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Mensch und Insekt: Wo Menschen runde Formen mit einer Drechslerbank erzeugen oder (wie Kinder beim Rollen eines Schneeballs) durch das Rollen über das Material, zeigt der Blick auf das „Instinktvermögen, das die Werkzeuge lenkt“,159 dass der Pillendreher anders vorgeht. Er ist ein Modellierer (artiste modeleur) und kein Drechsler (ouvrier tourneur).160 „Der geschickte Skarabäus muss weder rollen noch drehen; er formt seine Kugel aus Schichten, ohne sie zu bewegen, ja ohne von ihr herabzusteigen, um alles mit Abstand zu betrachten. Ihm genügt der Zirkel seiner krummen Beine, ein lebender Greifzirkel, der den Krümmungsgrad überprüft. Übrigens lasse ich diesen Zirkel nur selten eingreifen, da ich durch viele Beispiele zu der Ansicht gelangt bin, dass der Instinkt keines besonderen Werkzeugs bedarf. […] Der Skarabäus kann eine Kugel herstellen, die Biene ein sechseckiges Prisma. Beide erreichen geometrische Perfektion und
158 Ebd. 159 Ebd., S. 19 (frz., S. 14). 160 Mit dieser Gegenüberstellung unterscheidet Fabre nicht nur zwei Verfahren (Modellieren und Drechseln) oder das Verfahren von Menschen (mit der Drehscheibe eine Kugel formend) und das Verfahren von Insekten (durch Schichtenbau die Kugel erzeugend), sondern eben auch ein künstlerisches Ver fahren (der Insekten) von einem handwerklichen Verfahren (der Menschen). Diese Matrix von Unterscheidungen wird sich an zentraler Stelle auf die Über legungen H. Bergsons in dessen L’Evolution créatrice auswirken.
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benötigen keinen speziellen Mechanismus, der ihnen die erzielte Gestalt aufzwingt.“161 Für Fabre ist der Instinkt also eine Art des Vorauswissens eines Plans der Natur. Dieses unbewusste Vorauswissen (prescience, qui s’ignore) „übertrifft unser Wissen.“162 Zugleich gibt es deutliche Einschränkungen: Da bereits vollkommen entwickelt, benötigt der Instinkt nicht wie die Gewohnheit eine Kenntnis von bisherigen (Fehl-)Versuchen; das Gedächtnis fehlt also. Der Instinkt „schaut auf die Zukunft und weiß nichts von der Vergangenheit.“163 Insofern ist die vollkommen angepasste Umsetzung von zum Teil komplexen Verhaltensabläufen nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die den Beobachter zunächst irritierenden Fehlleistungen: Der Instinkt geht zwar immer ökonomisch vor, ist jedoch in bestimmten Hinsichten blind. Die Mutter des Skarabäus etwa sorgt aufwendig für die Sicherheit ihrer Eier. Nach der Eiablage jedoch ist ihr deren Schicksal vollkommen egal und sie erkennt sie nicht einmal wieder, wenn sie ihr in ungewohnter Umgebung präsentiert werden. Nach Fabre ist für den Instinkt das zu schaffende Werk alles, das geschaffene Werk hingegen nichts. Dieses Vorauswissen des Instinkts kann dann durchaus in Rücksicht auf physikalische Bedingungen erfolgen und insofern wie die Arbeit eines Physikers erscheinen. Der Instinkt fungiert damit im Sinne einer ‚vernünftigen‘ Voraussicht.164 So sind die Eipakete der Gottesanbeterin (Mantis religiosa) so gebaut, dass sie den Effekt der geringen Wärmeleitfähigkeit berücksichtigen, indem sie mittels Luftpolstern die Eier der Tiere überwintern lassen. Das Nest der Mantis zeigt (wie das Experiment des Physikers Sir Benjamin Thompson Rumford 1753–1814) eine Anwendung der schlechten Wärmeleitfähigkeit von Luft. Durch Luftpolster ist es wärmeisoliert: „Wieso weiß die Mantis seit vielen Jahrhunderten über das schwierige Wärmeproblem besser Bescheid als unsere Physik?“165 Und wieder stellt sich die Frage, ob diese gewissenhaften und zweckmäßigen Vorkehrungen, die die verschiedenen Mantisarten beim Bau ihrer verschiedenen Nester (in je verschiedenen Klimaten
161 162 163 164 165
J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 19 (frz., Bd. 5, S. 14). Ebd., S. 86 (frz., S. 66). Ebd., S. 88 (frz., S. 68). Ebd., S. 108 (frz., S. 86). Ebd., S. 267 (frz., S. 216).
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und je verschiedenen Umweltbedingungen) erstellen, ein Produkt des Zufalls sein können. Wieder verneint Fabre diese Möglichkeit.
5. „Der magische Mantel der Sprache“: Vom wissenschaftlichen Protokoll zum poetischen Text Ein zentrales Element der methodologischen Signatur von Fabres Wissenschaft blieb bisher nur angedeutet, geriet in den verwendeten Zitaten bereits in den Blick, soll nun aber in den Fokus rücken. Dieses Element bildet ein wesentliches Bindeglied zwischen den konkreten methodischen und methodologischen Forderungen Fabres – der positivistischen Peripherie seines Forschungsprogramms – und den weltanschaulich-philosophischen Hintergründen seines Ansatzes – dem ‚romantischen‘ Kern des Programms. Wie es der Untertitel von Georges-Victor Legros’ Fabre Biografie Fabre. Poet of Science nahelegt, verbindet Fabres Arbeit zwei Stränge des Netzwerks symbolischer Formen166 miteinander, die zumeist als unvereinbar angesehen werden: Wissenschaft und Kunst. In Begriffen der räumlichen Organisation der Forschung ist damit einerseits die Kombination von Arbeitszimmer und Bibliothek167 angesprochen wie auch andererseits der kleine Arbeitstisch als Experimentalbank und Arbeitsplatz des Schriftstellers. Auch mit dieser Verbindung 166 Vgl. dazu E. Cassirer (An Essay on Man (1944), New Haven, London 1992, S. 25 und S. 137 ff.). Für Cassirer ist das symbolische Netz aus unterschied lichen symbolischen Formen gesponnen, die sich ergänzen. So diene Wissen schaft als Abkürzung, Kunst als Intensivierung der Wirklichkeit. Trotz aller Unterschiede herrscht ein Ergänzungsverhältnis (ebd., S. 168). Fabres Souve nirs sind für Cassirer ein Hinweis auf die Zeitstruktur organischer Existenz als allgemeines Gesetz der Entwicklung, das auch menschliche Existenz prägt: „If we study a book like Jules [!] Fabre’s Souvenirs entomologiques, we find on nearly every page striking examples of this characteristic of animal instincts“ (ebd., S. 54). Angesichts dieses bedeutsamen Hinweises auf die Ergänzungs funktion von Wissenschaft und Kunst (vgl. dazu auch die methodologischen Einsichten in P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M. 1984) bleiben Versuche, Fabre als bloßem Poeten die wissenschaftliche Dignität ab zusprechen (vgl. C. Favret, „Jean-Henri Fabre: His life experience and predis position against Darwinism“, S. 47), in der Polemik des späten 19. Jahrhunderts stecken (als Beispiel dafür vgl. E. Du Bois Reymond, „Naturwissenschaft und bildende Kunst“ (1890), in: E. Du Bois Reymond, Reden, hrsg. von E. Du Bois Reymond, 2. Auflage, Leipzig 1912, Bd. 2, S. 390-425). 167 Vgl. dazu Y. Delange, Fabre, S. 103, S. 251 ff.
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zeigt Fabre – wiewohl sein Stil klassisch bleibt168 – eine gedankliche Nähe zu romantischen Forschungsprogrammen.169 Die Grundlage auch seiner schriftstellerischen Tätigkeit bleibt Fabres Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit, die jedoch zugleich eine Liebe zur Natur und eine Liebe zu den sie bewohnenden Lebewesen ist – eine Biophilie.170 Für Fabre ist die Klarheit im Ausdruck „die höchste Höflichkeit eines Autors“.171 Trotz dieser Auffassung weist er den akademischen Jargon weit von sich.172 Dabei ist er, wie das Beispiel der Benennung der Gattung von Wollbienen Anthidi-
168 K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 185: „Fabre, obwohl der roman tischen Epoche entsprossen, verschmähte in seinem wissenschaftlichen Werk jede Sentimentalität. […] Sein Stil läßt sich vom Inhalt gar nicht trennen, er ist nach klassischem Vorbild geprägt, lateinisch, mediterran, männlich; nie verläßt der Schriftsteller Fabre den sicheren Boden der Natur.“ Vgl. auch C. Favret („Jean-Henri Fabre: His life experience and predisposition against Dar winism“, S. 39), der Fabres Schreibstil eine „remarkable humanistic elegance“ konstatiert. 169 Vgl. K. Köchy, Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung, Würzburg 1997; K. Köchy, „Das naturwissen schaftliche Forschungsprogramm der Romantik“, in: B. Frischmann, E. MillánZaibert (Hrsg.), Das neue Licht der Frühromantik, Paderborn, München 2009, S. 153-169. 170 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 41 ff. (frz., Bd. 6, S. 33 ff.); Vgl. dazu E. O. Wilson, Der Wert der Vielfalt. Die Bedrohung des Artenreichtums und das Überleben des Menschen, München 1997, S. 428 f.; E. O. Wilson, Biophi lia, Cambridge 1984; Diesbezüglich sind die Überlegungen von Y. Delange (Fabre, S. 98 f.) bedeutsam, der nicht nur die grundsätzliche Dimension der Mensch-Insekten-Beziehungen thematisiert, sondern auch auf die ethische Konnotation dieser Relation verweist. Demnach ist die affektive Resonanz von Menschen auf Insekten ambivalent: Es gibt sowohl die vehemente, ablehnen de Antipathie als auch die am Kuriosen festgemachte Bewunderung und es gibt zudem weitgehend eine pure Ignoranz. Die Kleinheit von Insekten, deren Omnipräsenz, vor allem jedoch unsere Probleme, die Ausdruckweisen von Insekten im Horizont unserer Erfahrungen angemessen zu deuten, stehen einer Biophilie (vor allem unter ethischen Vorzeichen) häufig im Wege. Auch die Tatsache, dass sie nicht zu leiden scheinen – oder wir ihre Leiden wegen der Kleinheit der Individuen entweder nicht bemerken, oder aber die ein Leiden äußernden Verhaltensweisen nicht richtig deuten – ist hier zu berücksichtigen; vor allem dann, wenn man ethische Reflexionen im Sinne des Pathozentris mus an der Leidensfähigkeit von Lebewesen ausrichtet. Delange jedoch ist sich aus wissenschaftlicher Perspektive sicher: „De tels organismes […] souffrent comme les animaux dits supérieurs.“ Zur Abscheu und Ignoranz gegenüber Insekten vgl. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 42 (frz., Bd. 6, S. 33). 171 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 88 (frz., Bd. 5, S. 69): „La clarté est la souveraine politesse de qui manie une plume.“ 172 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 243.
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um zeigt, stets an einer möglichst angemessenen terminologischen Bezeichnung, d. h. einer solchen, die die beobachteten Merkmale der Lebewesen am besten berücksichtigt, interessiert. Aus diesem Grund kritisiert er die rein klassifikatorische Herangehensweise der Systematiker nicht nur dahingehend, dass er deren morphologische Studien im Kontext der „Nekropolen“ von Museum, Labor oder Sammlung unter Einsatz der „Sezierraum-Methode“173 (méthode de laboratoire à dissection) als tote und künstliche Sichtweise auf Lebewesen von sich weist. Er übt auch daran Kritik, dass bestimmte zur Klassifikation eingesetzte taxonomische Bezeichnungen auf Merkmale der Lebewesen Bezug nehmen, von denen Verhaltensstudien zeigen, dass sie den Tieren gar nicht zukommen. Der Taxonom analysiert die Leiche und vergibt einen Namen, ohne die lebendige Tätigkeit des Verhaltens zu kennen. In gleichem Maße aufschlussreich für die romantische Rückbindung174 von Fabres Programm als auch für dessen Vorausweisen auf Bergsons Überlegungen175 ist in diesem Zusammenhang, dass Fabre das von ihm kritisierte Klassifikationsverfahren mit der Kristallografie vergleicht, für die die Struktur alles, das Leben mit seinen höchsten Privilegien (Intelligenz und Instinkt) hingegen nichts sei:176 „Daher die vielen Bezeichnungen, deren geringster Fehler es ist, dass sie schlecht klingen; denn manche sind widersinnig.“177 Erst wenn man einsehe, dass die aufgespießten Insekten einst gelebt haben, sei ein Fortschritt der Entomologie zu erwarten und biologischen Überlegungen würde ein gebührender Platz in der Anatomie zugestanden. Die positivistische Forderung nach ethologisch fundierter Taxonomie und klassifikatorischer Angemessenheit ist also bei Fabre eng verbunden mit einem romantischen und lebensphilosophischen Motiv. Diese Verbindung wird auch bei der Zurückweisung der akademischen Fachsprache deutlich. Auch in diesem Punkt steckt ein Verweis auf die spätere Rezeption Fabres durch die zentrale Figur 173 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 123 (frz., Bd. 4, S. 97). Zum Kristallvergleich bei Fabre vgl. auch J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 276 (frz., Bd. 6, S. 202). 174 Zum Bezug der Romantik auf den Kristallvergleich siehe K. Köchy, Ganzheit und Wissenschaft, S. 128 ff. 175 Zum Bezug Bergsons auf den Kristallvergleich siehe K. Köchy, „Im Ozean des Lebens. Bergsons Philosophie des Lebens auf der Suche nach der natürlichen Ordnung“, in: R. Elm, K. Köchy, M. Meyer (Hrsg.), Hermeneutik des Lebens, Freiburg, München 1999, S. 117-154, hier S. 124 ff. 176 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 123 (frz., Bd. 4, S. 97). 177 Ebd.
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der Lebensphilosophie, Henri Bergson (1859–1941). Folgt man der Darstellung von Legros, dann ist es ein maßgebliches Ziel Fabres, eine lebendige Sprache zur Darstellung des Lebens seiner Insekten zu finden.178 Es geht ihm um die Entwicklung einer Darstellungsform, die dem Dargestellten in der Hinsicht entspricht, dass deren eigene ‚Physiognomie‘ dem lebendigen Charakter der Insektenwelt angemessen ist. Eben diesen Gedanken formuliert auch Bergson als Leitlinie seiner Philosophie: Um die Grundstruktur der Welt, die Ordnung des Lebens, angemessen darstellen zu können, so Bergson, muss die Philosophie ihre Begriffe dieser natürlichen Ordnung möglichst exakt anschmiegen und dafür fließende Repräsentationen (de représentations souples, mobiles, presque fluides) einsetzen.179 Für Fabre ist diese Wahl einer flüssigen Sprache auch ein Ausdruck für die Sympathie und Freundschaft mit seinen Insekten.180 Den Vorwurf, sein Schreibstil und seine Sprache seien nicht akademisch oder nicht feierlich genug, um die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, weist er deshalb vehement zurück. Auch in diesem Fall spielen ‚seine‘ Insekten eine aktive Rolle. Fabre ruft sie selbst als Zeugen für seine Wahrhaftigkeit auf: „Kommt alle herbei, ihr Stachelträger, ihr mit den gepanzerten Flügeln, übernehmt meine Verteidigung und sagt zu meinen Gunsten aus! Berichtet, wie vertraut ich mit euch lebe, wie geduldig ich euch beobachte, wie gewissenhaft ich euer Tun aufzeichne! Eure Aussagen stimmen überein: Ja meine Seiten sind nicht mit leeren Formeln und gelehrten Hirngespinsten gespickt; sie berichten, was ich beobachtet habe, nicht mehr und nicht weniger; und wollte jemand euch befragen, wird er dasselbe hören.“181 Zum Ausdruck kommt hier nochmals der wissenschaftliche Anspruch in Fabres schriftlicher Darstellung. Kunst und Wissenschaft prägen also offensichtlich gemeinsam Fabres Verfahren. Diese Kombination ist sein Ideal spätestens seitdem er 1851 in Ajaccio auf Korsika den Toulouser Botaniker Alfred Moquin-Tandon (1804–1863) kennen182 und als Naturwissenschaftler und Literaten schätzen lernte: 178 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 239. 179 H. Bergson, Introduction á la Métaphysique (1903), in: H. Bergson, Œuvres, Paris 1959, S. 1392-1432, hier S. 1401 f. 180 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 243. 181 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 8 (frz., Bd. 2, S. 10). 182 M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 50 ff.; C. Favret, „Jean-Henri Fabre: His life experience and predisposition against Darwinism“, S. 41; P. Tort, Fabre, S. 25 f.
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„Moquin-Tandon eröffnete mir neue Blickwinkel. Dies hier war kein Namensgeber mit unfehlbarem Gedächtnis [le nomenclateur à mémoire infaillible], sondern ein Naturforscher mit großartigen Ideen [le naturaliste aux larges idées], ein Philosoph, der von den Einzelheiten zur Ansicht des Ganzen gelangt [qui monte des petits détails aux grands aperçus], ein Literat, ein Dichter, der es versteht, die nackte Wahrheit in den zauberhaften Mantel der bildhaften Sprache zu kleiden [sur la vérité nue, jeter le magique manteau de la parole imagée].“183 Auch im Fall von Kunst und Wissenschaft haben wir also – wie im Fall von Feld und Labor – kein Gegenüber erratischer Blöcke vor uns. Erneut sind diverse Etappen der Vermittlung erkennbar, die die wissenschaftliche Beobachtung in die künstlerische Produktion überführen. Räumlich festmachen lässt sich auch diese Vermittlung an dem bereits erwähnten kleinen Arbeitstisch in Fabres Arbeitszimmer. Hier werden die Protokolle der wissenschaftlichen Experimente und Beobachtungen verfasst. Hier formuliert zugleich der Schriftsteller seine Souvenirs. Beginnen wir mit den Laborprotokollen, so stellen diese ein akribisches Verzeichnis und eine schriftliche Fixierung der erlebten und erfahrenen Befunde dar, eingetragen in Notizbücher, die in schwarzes Tuch eingebunden sind.184 Dieses wissenschaftliche Protokoll als ein gewissenhaftes Verzeichnis der Details,185 als Register aller Fakten186 – verbunden mit den dazugehörigen Assoziationen und Überlegungen – ist allerdings nur der Nucleus für 183 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 70 (frz., Bd. 6, S. 48 f.). 184 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 241: „[…] notebooks bound in black cloth, in which he noted, day by day, hour by hour, the observations of every moment, the results of his experiments, together with his thoughts and re flections.“ Vgl. auch Y. Delange, Fabre, S. 103 f. 185 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 43 (frz., Bd. 5, S. 34: ces détails, minutieuse ment constatés). Vgl. das Beispiel in Y. Delange, Fabre, S. 104. 186 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 118 (frz., Bd. 5, S. 93): „Sois moins am bitieux; borne-toi au rôle d’enregistreur de faits.“ Aus der Sicht späterer Re zipienten aus den Naturwissenschaften, selbst solcher, die gegenüber Fabres Anliegen Sympathien zeigen, erscheint diese Ausrichtung am Register der Fakten in der Tradition der Naturgeschichte stehend als bloßes Journal (im Sinne der Forschungen A. v. Humboldts) – so macht es etwa die Einschätzung von A. Portmann („Jean-Henri Fabre“, S. 39 f.) deutlich: „Trotz der Fülle von Anregungen, die die Beobachtungen Fabres auch den heutigen Biologen noch bieten können, trotz vieler Experimente und Anstrengungen, in Volieren oder Terrarien günstigere Bedingungen für die Beobachtung aus der Nähe zu schaffen, bleibt seine Technik der Darstellung in der Form eines Journals […]
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die weitere literarische Produktion. Aufschlussreich ist der nun einsetzende vielfache Überarbeitungs- und Destillationsprozess auch in seinem rein körperlichen Ausdruck: Folgen wir erneut Legros’ Bericht, dann existiert auch diesbezüglich eine Verwandtschaft zu Fabres Gängen im Feld. Der Schriftsteller Fabre kann im Arbeitszimmer seine Gedanken und Formulierungen nicht ohne umfängliche körperliche Bewegung entwickeln.187 In unaufhörlichem Kreisen umwandert er seinen großen Labortisch – wie Legros berichtet, nicht ohne eine unverkennbare Spur am Boden des Arbeitszimmers als Ergebnis dreißigjähriger Wanderung zu hinterlassen. ‚Science in Action‘188 in ihrer konkretesten Bedeutung: Der sich bewegende Wissenschaftler auf der Suche nach einer beweglichen Sprache für eine bewegliche Welt. Auch intellektuell wird dieser ‚Kreislauf des Wissens‘ fortgesetzt. In immer neuen Anläufen und Überarbeitungen sucht der wissenschaftliche Schriftsteller, der schriftstellernde Wissenschaftler, nach der vollkommenen Form. Er transkribiert die Protokolle auf lose Blätter, überarbeitet, formuliert neu, poliert seine Formulierungen.189 Betrachten wir das Ergebnis dieser Produktion, dann kommt ein weiterer Aspekt der Sympathie und Teilnahme zum Ausdruck – auch dieses eine romantische Note in Fabres Arbeit. Der Autor ist als Ich-Erzähler in seiner Erzählung immer selbst präsent. Seine Beobachtungen, seine Gedanken, seine Hoffnungen, seine Fehler und Enttäuschungen werden uns lebensnah übermittelt. Er schildert mit diesem Vorgehen und dem Einbinden von Fehlversuchen und neuen Ansätzen auch die dynamische Entwicklung des Entdeckungszusammenhangs (context of discovery) seiner Forschung, wie es die Darstellung der wechselnden Beobachtungsapparaturen und -kontexte im Fall des Grabeverhaltens der Stierkäfer deutlich machte. Nicht nur jedoch wird hier der Forschungsbericht über Lebendiges
der Einzelbeobachtung und zufälligen Begegnung verhaftet, erreicht nicht den Stil der systematisch weitergeführten und abgewandelten Fragestellung […].“ 187 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 240: „He must first move about; activity helped him to pursue his ideas; it was in action that he recovered his ardour and uncovered the sources of inspiration.“ 188 B. Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Harvard 1987. 189 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 242: „These notebooks are not the final manuscript. The entomologist would write a new and more perfect copy on loose sheets of paper, making one draught after another, patiently fashioning his style and polishing his work […].“
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zum Lebensbericht des Forschers, darüber hinaus enthält die Verbindung aus Forschungsprotokoll und Autobiografie immer auch die Biografie der von Fabre untersuchten Insekten. So präsentiert Fabre als Beleg seiner Beobachtungen ein ausführliches Tagebuch der Entwicklung der Kreiselwespenlarven.190 Auch die Insekten sind somit in Fabres Berichten präsent – aber nicht nur als Objekte der Forschung, sondern eben auch als Subjekte der Handlung. Bei aller Kritik an unberechtigten Bezeichnungen, bei aller Beharrlichkeit, Mythen und Anekdoten der Kontrolle der wissenschaftlichen Beobachtung zu unterwerfen und bei allen Vorbehalten dagegen, das instinktive Verhalten der Insekten mit dem intelligenten Handeln von Menschen gleichzusetzen, ist Fabres Sprache deshalb wie erwähnt in einem erstaunlichen Maße von anthropomorpher Rede durchwoben. Dieses bringt eine wesentliche Spannung zum Ausdruck, die das Programm einer Tierpsychologie bis in die heutige Zeit der kognitiven Ethologie prägt.191
6. Die romantische Metaphysik im Herzen von Fabres positivistischer Methodologie und die Wirkung auf die Lebensphilosophie Bergsons Bereits in der Kombination von künstlerischer Gestaltung seiner Texte und wissenschaftlichem Anspruch seiner Untersuchungen zeigt sich deutlich, dass Fabres Forschungsprogramm nicht angemessen bestimmt wäre, wenn man in ihm ausschließlich eine positivistische Agenda sähe. Zwar sprächen für eine solche Zuordnung einige Schwerpunktsetzungen und Abgrenzungen Fabres, die bestimmte Elemente der positivistischen Methodenregeln und Wertkriterien übernehmen,192 so etwa die Fokussierung auf ‚positives‘ Tatsachenwissen unter Ablehnung von spekulativen Deutungen oder die Hinwendung zum Konkreten unter Abweisung des Ab 190 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 254 f. (frz., Bd. 3, S. 188). 191 Vgl. dazu auch die Verweise in K. Köchy, „Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Helmuth Plessners Stufen des Organischen im zeit historischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 25-64, hier S. 28 ff. 192 Vgl. etwa die von L. Kolakowski (Die Philosophie des Positivismus (1966), München 1971, S. 9 ff.) genannten Regeln des Phänomenalismus und des Nominalismus.
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strakten. Andere Momente des Positivismus, wie die Enthaltung von normativen Aussagen oder die Orientierung an einer einheitswissenschaftlichen Idee finden sich hingegen bei Fabre nicht oder nur bedingt. Statt an Einheitswissenschaft ist Fabre eher am humanistischen Ideal des enzyklopädischen Universalgelehrten orientiert.193 Insbesondere wenn man den Spuren zum weltanschaulichen Kern von Fabres Programm folgt, erlebt man eine Überraschung: Berücksichtigt man nämlich die von ihm im Werk verstreut untergebrachten Hinweise und auch die Deutung von nahen Freunden, dann wird im Kern von Fabres Programm eine romantische Agenda erkennbar. Dieses erklärt auch die umfängliche Rezeption Fabres in der Lebensphilosophie Henri Bergsons. Beide Momente – die romantische Kernagenda und die lebensphilosophische Rezeption – seien hier gemeinsam behandelt, wobei die damit deutlich werden Konsequenzen für die Tier-Mensch-Relation eine wesentliche Rolle spielen. Den romantischen Kern verbindet mit der positivistischen Peripherie die gemeinsame Überzeugung von einer geordneten, regelhaften Natur, deren Gesetzmäßigkeiten die Wissenschaft durch methodisches Vorgehen zu erfassen sucht. Wie Legros betont, sucht Fabre das „universal law which rules the transmission“.194 Nach Guggenheim führt jedoch die in seiner Instinktforschung deutlich werdende Vollkommenheit und Regelhaftigkeit natürlicher Prozesse Fabre zur Annahme einer harmonischen Schöpfungsordnung, die pantheistische Züge trägt: „Der Instinkt ist die Intelligenz des Schöpfers. Sie bringt die Ordnung, die Harmonie in die Natur, die prästabilierte, wie für Leibniz, wie für Einstein, war für Fabre unausweichlich, eine Evidenz.“195 Zwischen den einzelnen Bildungen der Natur existiert demnach eine „Harmonie, von der die Gesamtheit der Dinge regiert wird.“196 Diese Idee der Harmonie ist bei Fabre – wie seit Platons Timaios – eng mit dem Ideal der Mathematik verbunden. Die regelmäßige Anordnung des Eigeleges des Pinienprozessionsspinners gibt deshalb beispielsweise Anlass zu einer Reflexion über die Relativität der Schönheit menschlicher Kunst 193 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 133. 194 Ebd., S. 128. 195 K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 170; Vgl. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 29 (frz., Bd. 3, S. 22) spricht von einer „präetablierte[n] Ordnung der Dinge“ (un ordre préétabli). 196 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 95 (frz., Bd. 6, S. 66: une harmonie régissant l’ensemble des choses).
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im Vergleich zur wahrhaften und universalen Schönheit der mathematischen Ordnung.197 Es ist jedoch kennzeichnend für Fabres Vorstellung von der Lebensordnung, dass für ihn die ideale Welt der mathematischen Formeln eben nicht vollgültig die Welt der lebendigen Formen erfassen kann.198 Mit der präetablierten Schöpfungsordnung drehen sich zudem die Vorzeichen zwischen Umwelt und Lebewesen um. Wo die Evolutionslehre von einer „Anpassung an die Umwelt“ ausgeht, votiert Fabre für einen anderen Ansatz: „Nicht die Umwelt [milieu] macht das Tier; das Tier wird für die Umwelt gemacht.“199 Die genaue Einpassung der instinktiven Verhaltensweisen in die Vorgaben der Umwelt ist damit weder Produkt einer zufälligen Evolution noch eines Lernprozesses, sondern sie geht auf eine vorab angelegte Planhaftigkeit zurück. Diese Planhaftigkeit regiert jedoch nicht nur in den Lebewesen-UmweltBeziehungen, sondern sie findet sich auch in der Organisation der Lebewesen selbst. Am Paradigma des Schlupfvorgangs der Feldheuschrecke (Pachytilus cinerascens) macht Fabre einerseits deutlich, dass hier die Beobachtung (auch die mikroskopische) bei der Suche nach Erklärung des Bildungsprozesses ihre Grenzen hat. Andererseits votiert er jedoch auf der Basis seiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen gegen eine präformierte Planmäßigkeit nach Art eines simplen Abgussverfahrens (moule) und für die Existenz eines urbildlichen Plans (plan prototype), der die sich organisierende Materie (matière organisable) in ihre Form bringt.200 Die Suche nach dem „Schöpfer des Plans“201 führt uns dann in metaphysische Dimensionen jenseits der wissenschaftlichen Erfassbarkeit. Auch auf der Suche nach den Sinnesorganen und den Mechanismen des Orientierungsvermögens von Holzwespen beispielsweise kann Fabre sich als Wissenschaftler diese Unwissenheit eingestehen und dabei betonen, dass evolutionistische Erklärungs-
197 Ebd., S. 287 f. (frz., S. 210 f.). 198 Vgl. dazu die Ausführungen von I. Yavetz, „Theory and Reality in the Work of Jean Henri Fabre“, S. 34 f.; „Fabre believed that natural phenomena reflect certain fixed harmonious relationships which cannot be deduced from a single unifying framework“ (ebd., S. 33). 199 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 64 (frz., Bd. 3, S. 46). Vgl. auch J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 92 (frz., Bd. 6, S. 64). 200 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 280 (frz., Bd. 6, S. 204). Wegen dieses „Ur bild[s] der Formen“ (archétype coordonnateur des formes) (ebd., S. 281; frz., S. 205) ist das Leben auch nicht aus künstlichem Protoplasma herzustellen. 201 Ebd., S. 280 (frz., S. 204).
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versuche dieses Vermögens fehlgehen und man sich auf Anaxagoras’ Idee einer ordnenden Weltvernunft zurückziehen müsse.202 Insofern zeigt Fabres Antwort auf die Frage Jean Richepins, ob er an Gott glaube – „Ich glaube nicht an Gott: ich sehe ihn“ – eine deutliche Nähe zur Naturanschauung Goethes. Solche Reflexionen lässt Fabre jedoch nur am Rande seiner wissenschaftlichen Arbeit zu, so etwa, wenn er über die geometrische Arbeitsleistung des Skarabäus ins Nachdenken über das Schöne, die Ordnung und die Harmonie gerät und sich dieses umgehend wieder positivistisch versagt: „Doch genug. Auf die Fragen gäbe es Antworten, die aber nie das letzte Prinzip, das unerschütterliche Fundament [ultime base] erreichen. Wie viel Metaphysik für ein Bröckchen Mist!“203 In dieser Entsagung vor der ultimaten Grenze des Absoluten – der „Granitmauer des Unerkennbaren“204 – wird das positivistische Erbe Fabres unverkennbar. Man kann diesen positivistischen Faktenbezug Fabres und die gleichzeitige Zurückweisung von metaphysischer Spekulation auch als das Resultat einer Auffassung vom Instinkt als der menschlichen (wissenschaftlichen) Vernunft diametral entgegen gesetztem und damit letztlich theoretisch unzugänglichem Vermögen verstehen.205 Diese Deutung würde trotz positivistischer Metaphysikkritik eine Vermittlung zwischen der positivistischen Peripherie von Fabres Programm und ihrem letztlich romantischbergsonianischen Kern (s. u.) ergeben. Die schöpferische Natur zeigt für Fabre in ihrem Formenreichtum eine „unerschöpfliche Fülle“,206 allerdings ist die vermeintliche Verschwendung nicht ohne biologischen Sinn. Angesichts eines 202 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 291 (frz., Bd. 4, S. 217). 203 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 41 (frz., Bd. 5, S. 32). Eine ähnliche Reak tion schließt an Fabres Reflexion über Platons Gedanken eines Plans des ewi gen Geometers (J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 288; frz., Bd. 6, S. 211) als Verursacher der mathematischen Ordnung der Natur an: „Geht man den einzelnen Dingen tiefer auf den Grund, erhebt sich ein Warum, auf das die wis senschaftliche Forschung nicht zu antworten weiß“ (ebd., S. 289; frz., S. 211). Deshalb gilt auch hier: „[…] kehren wir zurück auf den Boden nüchterner Beobachtung.“ 204 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 182 (frz., Bd. 4, S. 139). Vgl. dazu etwa das Metaphysik-Konzept Herbert Spencers; dazu auch K. Köchy, „Die Idee der Evolution in der Philosophie Herbert Spencers. Zu den Grenzen eines uni versalistischen Begriffstransfers“, in: C. Asmuth, H. Poser (Hrsg.), Evolution. Modell, Methode, Paradigma, Würzburg 2007, S. 53-78. 205 Vgl. dazu P. Tort, Fabre, S. 114 ff. 206 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 256 (frz., Bd. 4, S. 187: inépuisable richesse). Zur Geschichte des Prinzips der Fülle und dessen Rezeption in der Romantik
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Baumes voller reifer Kirschen und dem so ausgelösten Festmahl unter den Lebewesen seiner Umgebung räsoniert Fabre über die mögliche Verschwendung und kommt zu dem Ergebnis: „Ist es nicht offenkundig, dass der Kirschbaum eine Fabrik ist, die Elemente in organische Materie umwandelt, ein Laboratorium, in dem aus Totem etwas Lebensfähiges gemacht wird? […] Die meisten Früchte haben eine andere Aufgabe. Sie ernähren unzählige Lebewesen, die nicht wie die Pflanze die transzendente Chemie beherrschen, die aus Ungenießbarem Essbares macht.“207 Die Materie wird also im „Tiegel des Lebens umgeschmolzen“ (refondue au creuset de la vie).208 Einen solchen „Umguss“ erlebt auch der Organismus selbst, wenn in der Metamorphose der Insekten eine völlige Umwandlung der Larve in die Imago stattfindet. Die „Analyse des Todes“ ist hier „der erste Schritt zur Synthese neuen Lebens.“209 Die Idee der Transformation von Materie und Leben wird hier ebenso deutlich, wie die Idee des Informbringens und Umformens von Leben. Für Fabre wird allerdings das Alte nicht einfach im evolutionären Umbau zurechtgestutzt, die ausgebrauchte Form (moule usé) wird vielmehr zerschlagen und nicht nachträglich zu erbärmlichen Nachgüssen (mesquines retouches) verwendet.210 Insofern ist mit der Idee der Fülle bei Fabre auch die Annahme vollkommener präformierter Formen verbunden. Vollkommenheit meint dabei jedoch nicht Einheitlichkeit im Sinne von Einerleiheit, sondern vielmehr Einheit in Vielheit, die gleichwertige Mannigfaltigkeit der verschiedenen Naturformen, so dass im majestätischen Problem der Natur nichts nebensächlich ist.211 Auch kleinste Bildungen des organischen Lebens erlangen damit eine bedeutsame Rolle im Naturganzen, wie es Fabre in Bezug auf die schon für René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683–1757) und Charles Bonnet (1720–1793) paradigmatischen Phänomene der Parthenogenese von Blattläusen äußert.
207 208 209 210 211
vgl. A. O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1985, hier S. 346 ff. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 281 (frz., Bd. 5, S. 226); J.-H. Fabre, Er innerungen, Bd. 3, S. 136 (frz., Bd. 3, S. 103): „Labor des Lebens“ (laboratoire de la vie). J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 52 (frz., Bd. 5, S. 42). J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 3, S. 129 (frz., Bd. 3, S. 99). J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 10, S. 97; Vgl. M. Auer, Ich aber erforsche das Leben, S. 177. G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 127; vgl. J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 281 (frz., Bd. 6, S. 204).
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Man kann in ihnen eine Welt entdecken.212 Nach Legros „a nebulosity as of white of egg, in which fresh centres of life are forming, as the suns are condensed in the nebulae of the heavens“.213 In dieser Gleichsetzung des Bildungsgeschehens eines mikroskopisch kleinen Lebenszentrums mit dem kosmischen Gesamtgeschehen werden Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogien deutlich, wie sie maßgeblich auch das romantische Programm prägen. „In einem Wassertropfen findet sich das Universum; in einem logischen Stachelstich erstrahlt die universale Logik.“214 Eine ähnliche Verbindung zur Romantik ergibt sich aus der Vorstellung von Wissenschaft als eines die Natur entziffernden Verfahrens, das die Natur als Chiffre und als lebenden Text konzipiert.215 Romantisch sind auch weitere Elemente von Fabres Naturbild: So ist vor allem seine Haltung als ‚Naturalist‘ oder Naturliebhaber 212 J.-H. Fabre, Souvenirs, Bd. 8, S. 110: „Magnifique trouvaille! Dans ma parcelle de lichen, pas plus grande que l’ongle, je découvre un monde.“ Vgl. auch Y. Delange, Fabre, S. 157. 213 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 128. 214 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 4, S. 258 (frz., Bd. 4, S. 188): „Dans une goutte d’eau, l’univers se retrouve; dans un seul coup d’aiguillon logiquement donné éclate l’universelle logique.“ Die impliziten Bezüge auf Leibniz ergeben sich auch daraus, dass Fabre von einer „concordance parfaite“ (frz., ebd.; dt. Bd. 4, S. 257) zwischen der Operation der Dolchwespe und der Anatomie der Beute spricht. Zum Konzept der sich abspiegelnden Einheiten vgl. Leibniz’ Modell der perspektivischen Verweisung von Monaden (so etwa: Monadologie, in: G. W. Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, hrsg. von H. H. Holz, Frankfurt a. M. 1996, S. 464 f., §§ 56 f.). Nach Y. Delange (Fabre, S. 254) war Leibniz in der Bibliothek Fabres präsent. Zum Bezug auf Leibniz im Blick auf die lebendige Schöpfungsordnung vgl. P. Tort, Fabre, S. 23; zur Zurückweisung von dessen Gradations- und Kontinuums-Vorstellung vgl. G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 208; Vgl. ähnliche Analogien zum Tropfen, der die ganze Welt abspiegelt im romantischen Kontext etwa bei G. H. Schubert, Die Geschichte der Seele, 2 Bde., Stuttgart, Tübingen 1830, Bd. 1, S. 20; J. W. Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810), Nachdruck hrsg. von S. Dietsch, B. Dietzsch, Leipzig, Weimar 1984, S. 85 f., No. 83 b; C. G. Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846), Nachdruck nach der 2. Auflage von 1860, Darmstadt 1964, S. 360, Anm. 1. 215 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 127: „Tell yourself that everything in nature is a symbol of something like a specimen of an abstruse cryptogram, all the characters of which conceal some meaning.“ Zu den romantischen Überlegungen über die Hieroglyphenschrift oder die Chiffren der Natur vgl. K. Köchy, Ganzheit und Wissenschaft, S. 203, Anm. 848. Vgl. auch E. Rothacker, Das ‚Buch der Natur‘. Materialien und Grundsätzliches zur Me tapherngeschichte, Bonn 1979; H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frank furt a. M. 1986.
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zu nennen, die eng mit einer ganzheitlich-organismischen Haltung verbunden ist. Diese Haltung der Naturnähe und Naturliebe ist schon als zentrales Motiv von Fabres Beobachtungskonzept gewürdigt worden. Legros notiert dazu: „He loves, on the contrary, to call himself a naturalist; that is, a biologist; biology being, by definition, the study of living creatures considered as a whole and from every point of view“.216 Analoge Verbindungen zwischen Feldforschung, Naturliebhaberei und romantischer Grundhaltung belegt Robert Kohlers Studie zur ‚neuen‘ Naturgeschichte für die US-amerikanische Feldbiologie im frühen 20. Jahrhundert.217 Kohler betont ein aus der Bezugnahme auf Amateure und Naturliebhaber stammendes Motiv des „feeling for living creatures and natural places“. Der von Kohler zitierte Biologe Henry Nachtrieb (1857–1942) nennt als zentrales Motiv seiner Feldforschung den Ausgleich intellektueller Forschung durch „a heart full of love and sympathy for the animals“. In vergleichbarer Weise wird von Jim Secord auch die frühe geologische Feldforschung in England als wissenschaftliches Pendant eines „Romantic taste for wild nature“ verstanden.218 Die Verbindungslinie von diesem Ansatz der Feldforschung zur organismisch-ganzheitlichen Haltung wird in Fabres oben bereits zitierter Äußerungen gegen die Laborforschung erkennbar: „Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend […]; ihr behandelt Zelle und Protoplasma mit Chemikalien, ich studiere den Instinkt in seinen erhabensten Formen; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.“219 In diesen programmatischen Zeilen wird Fabres Forschung nicht nur als Lebensforschung gegen die ‚Ontologie des Todes‘ der Laborforschung gestellt, sondern es wird auch ein holistisches Votum für die Synthese und gegen die elementaristische Analyse abgegeben. Das Leben ist zudem eine Ganzheit, die die Lebewesen mit ihren Umwelten verbindet.220 Die enge Verbindung zwischen dem organismischen Programm in der Biologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und romantischen
216 G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 135. 217 R. E. Kohler, Landscapes & Labscapes, S. 32. 218 J. A. Secord, Controversy in Victorian Geology, S. 25. Vgl. auch M. J. S. Rud wick, The Great Devonian Controversy, S. 41. 219 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 2, S. 9 (frz., Bd. 2, S. 10). 220 Vgl. Y. Delanges (Fabre, S. 156 ff.) Deutung von Fabre als Ökologen avant la lettre.
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Ideen hat für die amerikanische und englische Biologie Maurizio Esposito nachgewiesen.221 Das organismische Programm und die romantische Grundhaltung sind es, die bei allen weltanschaulichen Differenzen – die in der Annahme einer präetablierten Schöpfungsordnung oder aber einer kreativ-dynamischen Entwicklungsbewegung zum Tragen kommen – den Hintergrund für die naturphilosophische und anthropologische Rezeption von Fabres Befunden durch den Lebensphilosophen Henri Bergson bilden. Konkret macht sich diese Rezeption dann an einer durch Fabre beförderten Gegenüberstellung von Instinkt und Intellekt fest,222 die nicht nur die Grundlage der Tier-Mensch-Differenz in beiden Ansätzen – bei Fabre und Bergson – bildet, sondern die für Bergson insofern systemkonstituierende Funktionen hat, als der Instinkt hier, wie wir sehen werden, für einen grundlegenden und unmittelbaren Weltzugang der Insekten steht, den Bergson mit dem Konzept der Sympathie verbindet. Die Gegenüberstellung von Instinkt und Intellekt bestimmt dann zudem den methodischen Ausgangspunkt, von dem aus im Modus der Trennung Bergson dasjenige bestimmt, was danach im Modus der Verbindung als philosophische Intuition den Zielpunkt eines neuen Vermögens ausmacht, das die Vorteile von Intellekt und Instinkt zusammenbringen soll und mittels dem dann eine angemessene Metaphysik der lebendigen Wirklichkeit erstellt werden kann. Bergson223 hat sich insbesondere in seiner naturphilosophischen Hauptschrift L’Évolution creatrice (1907) explizit auf Fabre bezogen. Stellen wir, um diese philosophische Ausdeutung von Fabres Befunden in das rechte Licht zu setzen, Bergsons Anliegen in dieser Schrift in den Grundzügen vor: Das Erkenntnisinteresse Bergsons ist es, die natürliche Wirklichkeit als schöpferische Entwicklung eines lebendigen Gesamtvollzugs auszuweisen und das dafür notwendige neue philosophische Erkenntnisinstrument zu entwickeln. Die zu entwickelnde Philosophie des Lebens ist durch eine wechselseitige Ergänzung der Theorie des Wissens (théorie de la connaissance) und der Theorie des Lebens (théorie de la vie) ausgezeich-
221 M. Esposito, Romantic Biology 1890–1945. 222 Vgl. J. A. Gunn, Bergson an his Philosophy, London 1920, S. 93 f. 223 Zur Verbindung von Bergson und Fabre vgl. R. Ruyer, „Bergson et le Sphex ammophile“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 64(2)/1959, S. 163-179; K. Guggenheim, Sandkorn für Sandkorn, S. 197.
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net.224 Um die Rolle von Fabres Insekten und deren Instinkten in diesem philosophischen Rahmen zu würdigen, ist Bergsons Ontologie zu skizzieren: Bergson unterscheidet drei Sphären oder Arten des Seins: Demnach bedeutet ‚Dasein‘ (l’existence)225 in dem epistemisch bevorzugten Bereich des ‚für uns Ersten‘, d. h. der Innenwelt unserer Erfahrungen und Erlebnisse, unablässige Veränderung, fließenden Übergang im Sinne eines stream of consciousness (nach William James, 1842–1910).226 Es herrscht ein Zustand, den Bergson durée réel nennt. Diese stete „Schöpfung des Selbst durch sich selbst“227 ist so geartet, dass sie sich dem Zugang der naturwissenschaftlich-mathematischen Erfassung entzieht. Wendet man den Blick im zweiten Schritt auf die Außenwelt des natürlichen Seins, dann haben hier zufällig herausgegriffene stoffliche Gegenstände zumeist genau entgegengesetzte Eigenschaften. Hier scheint nicht fließende Kontinuität, sondern vielmehr ein Gesetz der Statik und der unendlichen Analysierbarkeit und Zerlegung zu herrschen. Alle Gegenstände scheinen aus Teilen zusammengesetzt, die mit den Mitteln der Wissenschaft zu untersuchen sind. In diesem zweiten Bereich der anorganischen Körper ist jede Konturierung von einzelnem Seienden ein Akt des Beobachters. Menschen sind es, die den Plan ihrer möglichen Handlungen in die „Wirrnis des Wirklichen“ verlagern und diesen Plan dann von dort „wie durch Spiegel“ zurückgeworfen bekommen.228 Anders hingegen im dritten Bereich des Seins. Für Bergson gibt es in der Außenwelt nicht nur Seiendes, dessen Konturen nach den punktierten Schnittlinien menschlicher Handlung aus dem Stoff der Natur herausgeschnitten werden, sondern es gibt auch – wie wir selbst es in unserem pragmatischen Weltzugang belegen – Seiendes, das solche Schnitte vornehmen kann. Damit sind wir (die wir selbst Lebewesen sind) auf die Welt der Lebewesen verwiesen. Auch wenn lebende Körper zunächst wie anorganische Körper lediglich ein Stück Ausdehnung zu sein scheinen, 224 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1912, S. 5 (frz., H. Bergson, L’Évo lution créatrice, in: H. Bergson, Œuvres, hrsg. A. Robinet, Paris 1959, S. 487809, hier S. 492). 225 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 8 (frz., S. 495). 226 W. James, The Principles of Psychology (1890), New York 1950, Bd. 1, S. 224 ff. 227 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 13 (frz., S. 500: création de soi par soi). 228 Ebd., S. 18 (frz., S. 504). Wir sind es demnach, die „aus dem Universum Sys teme herausschneiden“ (H. Bergson, Denken und Schöpferisches Werden, S. 31).
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so ist es doch in diesem Fall die Natur, die den lebenden Körper isoliert und in sich geschlossen hat.229 Lebewesen sind sich selbst konstituierende autonome Einheiten. Ihre heterogenen Teile ergänzen sich gegenseitig, ihre verschiedenartigen Funktionen setzen sich wechselseitig voraus. Dabei sind diese Einheiten nie in der Art fixierter Entitäten existent. Individualisierung ist in diesem Bereich lediglich eine Tendenz, die von anderen Tendenzen (etwa der zur Fortpflanzung) durchkreuzt wird.230 Insofern ist das lebendige Sein durch alle Qualitäten der Dauer ausgezeichnet – stete Veränderung, unvorhersagbare Neuheit, absolute Unvergleichbarkeit jedes neuen Entwicklungsabschnitts mit allen vorhergehenden und allen zukünftigen. Alle einzelnen Produkte dieser Entwicklung – jedes einzelne Lebewesen also – ist kein statisches Seiendes, sondern ein in sich kreisender Prozess: „Wie vom Wind aufgejagte Staubwirbel drehen sich die Lebewesen um sich selbst, in der Schwebe gehalten vom großen Odem des Lebens. So also sind sie verhältnismäßig starr, ja ahmen das Unbewegliche so vortrefflich nach, daß wir sie eher als Dinge denn als Fortschritte behandeln […]“.231 Im Gegensatz zu Fabres statischer Welt der prästabilierten Harmonie ist Bergsons Welt somit eine Welt der schöpferischen Neubildung. Dennoch kommt Fabre an einer wesentlichen Stelle dieses Naturbildes zum Tragen und liefert damit eine Grundlage für Bergsons Frage nach dem angemessenen philosophischen Instrument zur Erfassung der lebendigen Natur. Dieses wird klar, wenn man den genauen Ablauf der Entwicklung berücksichtigt: Für Bergson gleicht die Evolution – und bereits hier greift er auf ein Sprachbild Fabres232 zurück – einer Kette von Explosionen, wobei die Explosivkraft der metaphysischen Mächtigkeit selbst eigen ist, die Bergson ‚Leben‘ nennt. Die Zersplitterung hingegen wird durch die Wider229 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 18 f. (frz., S. 504 f.: le corps vivant a éte isolé et clos par la nature elle-même); vgl. auch ebd., S. 305. 230 Ebd., S. 19 (frz., S. 505). 231 Ebd., S. 133 (frz., S. 603 f.: „Comme des tourbillons de poussière soulevés par le vent qui passe, les vivants tournent sur eux-mêmes, suspendus au grand souffle de la vie. Ils sont donc relativement stables, et contrefont même si bien l’immobilité que nous les traitons comme des choses plutôt que comme des progrès“). 232 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 282 (frz., Bd. 5, S. 226): „Die aufsteigende Rakete reserviert für ihren Gipfelpunkt eine Fontäne vielfarbiger Lichter. Dann wird alles wieder dunkel. Ihr Rauch, ihre Gase und Oxyde können durch vegetabilische Prozesse mit der Zeit andere Sprengstoffe bilden. Eben dies macht die Materie bei ihren Metamorphosen.“
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standskraft der Materie bedingt.233 Es resultiert so eine Entwicklung „in Garbenform“,234 unzählige Lebewesen werden in einer in divergierende Linien auseinanderstrebenden Bewegung evolviert. Im Zuge der Evolution entstehen Richtungen, Gabelungen, Bifurkationen.235 Viele dieser Wege enden in Sackgassen, wenden sich um, geraten ins Stocken. Elemente „verhäkeln“ sich236 oder bilden „Kreuzwege“.237 Die Rekonstruktion der Entwicklungsbewegung selbst wird so zu einem „Auseinanderwirren einer Anzahl divergenter Richtungen“, zum „Abwägen der Bedeutung dessen, was innerhalb jeder dieser Richtungen vor sich gegangen ist“.238 Für diese philosophische Aufgabe ist die biologische Tatsachenbeschreibung Fabres nur bedingt hilfreich, denn es geht Bergson um eine Dimension, die der Positivist Fabre nur andeutet: das Geahnte, das hinter dem Sichtbaren Liegende.239 Dennoch: Betrachtet man diese evolutionäre Entwicklung in Garbenform, dann gelangt man zu maßgeblichen Verzweigungen, die das Interesse des Philosophen auf sich lenken: eine solche Gabelung ist die Gabelung Pflanze/ Tier,240 eine weitere ist die Gabelung Insekt/Mensch.241
233 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 104 (frz., S. 578): „Etwas höchst Einfaches wäre die Entwicklungsbewegung und rasch hätten wir ihre Richtung bestimmt, wenn das Leben – der Vollkugel gleich, die eine Kanone entschleu dert – nur eine einzige Bahn beschriebe. Hier aber haben wir es mit einer Bom be zu tun, die sofort in Stücke geborsten ist; Stücke, die, weil sie selbst eine Art Bomben sind, auch ihrerseits, und in wieder zum Bersten bestimmte Stücke, zersprangen; und so fort durch lange, lange Zeit.“ 234 Ebd., S. 105 (frz., S. 579: en forme de gerbe); vgl. auch H. Bergson, Die bei den Quellen der Moral und der Religion, Freiburg i. Br. 1980, S. 293 (frz., H. Bergson, Les Deux sources de la morale et de la religion, in: H. Bergson, Œuvres, S. 979-1247, hier S. 1225). 235 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 60 (frz., S. 540: lignes divergentes, bifurcations). 236 Ebd., S. 131 (frz., S. 602: s’anastomosent entre eux). 237 Ebd., S. 60 (frz., S. 540: un carrefour d’où rayonnaient de nouvelles voies). Vgl. auch H. Bergson, Denken und Schöpferisches Werden, S. 244 (frz., S. 1449: la réalité […] faite de courants qui s’entre-croisent) mit Blick auf die Philosophie von W. James. 238 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 107 (frz., S. 581). 239 Ebd., S. 138 (frz., S. 608). 240 Ebd., S. 111 ff. (frz., S. 585 ff.). 241 Ebd., S. 137 ff. (frz., S. 607 ff.); vgl. auch K. Guggenheim, Sandkorn für Sand korn, S. 197. Vgl. auch A. Keller, Eine Philosophie des Lebens. Henri Bergson, Jena 1914, S. 14 ff.; P. Jurevics, Henri Bergson. Eine Einführung in seine Phi losophie, Freiburg 1949, S. 172 ff.
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Diese wesentlichen Aufgabelungen im Entwicklungsgeschehen münden in „Kulminationspunkten“. Solche sind etwa für Bergson Mensch und Hautflügler (Hymenoptera)242 als die beiden Endpunkte der beiden maßgeblichen Entwicklungslinien im Tierreich. Wenn Bergson von Kulminationspunkten spricht, dann meint er nicht im Sinne der Evolutionsbiologie nachweisbare Endpunkte einer empirisch zu rekonstruierenden phylogenetischen Verwandtschaftslinie. Zwar ist es für ihn unbestreitbar, dass diese Hauptlinien auch nach dem Kriterium der Überlegenheit, also unter dem Gesichtspunkt des Erfolges und der Ausbreitung über die Erde, betrachtet werden können. Jedoch sind für seine Philosophie solche Punkte vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie paradigmatisch für metaphysisch relevante Vermögen des Lebendigen stehen. Insofern ist die Bestimmung dieser Vermögen als pflanzliche Dumpfheit, Instinkt und Intellekt – als sich im Laufe der schöpferischen Entwicklung separierende, im ursprünglichen Lebensimpuls jedoch vereinte, Lebensaktivitäten – unter philosophischen Vorzeichen relevant. Solche Punkte sind durch kein „ausschließliches und einfaches Zeichen“243 in geometrischer Präzision ausgezeichnet. Um sie erfassen zu können, ist vielmehr eine Art von hermeneutischem Takt erforderlich, der verschiedene Eigenschaften für jeden gesonderten Fall vergleicht und abwägt. Instinkt und Intellekt sind nach dieser Auffassung wie alle Vermögen des Lebens Ausdruck von Tendenzen und nicht von fertigen Dingen,244 so dass feste und unverrückbare Definitionen nicht möglich sind. Da beide Vermögen jedoch als praktische Strategien zur Bewältigung der Herausforderungen lebendiger Existenz aufzufassen sind, bezieht sich Bergson zunächst auf eine Bestimmung unter dem Gesichtspunkt des Handelns: Unter solchermaßen pragmatischen Vorzeichen ist „vollendeter Instinkt […] das Vermögen der Anwendung ja des Aufbaus organischer Werkzeuge, vollendeter Intellekt, das Vermögen der Verfertigung und Benützung anorganischer Werkzeuge“.245 Beide Praxen haben Vor- und Nachteile. Das organische Werkzeug des Instinkts ist unmittelbar vorhanden, es verfertigt sich selbst, bessert sich aus und verbindet „grenzenloseste Kompliziertheit der Details mit wunderbarster Einfachheit 242 243 244 245
H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 139 (frz., S. 609). Ebd., S. 138 (frz., S. 608). Ebd., S. 141 (frz., S. 610 f.). Ebd., S. 145 (frz., S. 614).
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der Funktion“. Seine Funktion erfüllt es mühelos und mit großer Vollkommenheit. Diese unmittelbar vollkommene Funktion ist jedoch um den Preis der unveränderlichen Struktur erkauft. Eine Modifikation dieser Struktur wäre nicht ohne eine Modifikation der Art möglich. Der Instinkt ist so notwendig spezialisiert, er ist ein bestimmtes Werkzeug für ein bestimmtes Objekt. Hingegen stehen die Werkzeuge des Intellekts nie unmittelbar zu Verfügung und sind nur um den Preis einer Anstrengung zu erringen. Handhabung dieser Werkzeuge impliziert Mühe. Auf der anderen Seite jedoch sind diese Werkzeuge flexibel und dynamisch: Sie können beliebige Form annehmen und zu jedem denkbaren Gebrauch eingesetzt werden. Diese praktische Seite kann durch eine theoretische Seite, den Gesichtspunkt des Erkennens, ergänzt werden. Instinkt und Intellekt stehen dann sowohl nach Bergson wie auch nach Fabre für zwei alternative Formen des Wissens, das instinktive und das intellektuelle Wissen.246 Wieder sind mit beiden Formen der Welterkenntnis Vor- und Nachteile verbunden: Das angeborene Wissen des Instinktes ist ein Wissen über Dinge (‚den Stoff‘, matière) und entspricht formal einem kategorischen Urteil. Ein solches Wissen liefert eine volle und zugleich innerliche Erkenntnis, unterliegt aber einer Begrenzung des Umfangs, denn es ist auf einzelne Gegenstände oder gar nur auf deren Teile beschränkt. Das angeborene Wissen des Intellektes hingegen ist ein Wissen über Relationen (‚die Form‘, forme) und entspricht formal einem hypothetischen Urteil. Dieses Wissen ist nicht auf bestimmte Gegenstände beschränkt, sondern vielmehr unendlich und frei ausweitbar. Jedoch unterliegt es umgekehrt einer Begrenzung des Inhalts, da es im obigen Sinne stets nur eine äußere und damit leere Erkenntnis vermitteln kann. Mit dem wesenhaft formalen Charakter des Intellektes ergibt sich allerdings eine Erweiterungsoption, denn diese formale Erkenntnis ist nicht grundsätzlich auf das praktisch Nützliche eingeschränkt,247 so dass es prinzipiell auch für Spekulationen einsetzbar wäre. Es bestünde also eine Entwicklungsoption. Bergson sieht diese in der philosophischen Intuition, die als erweiterte Version der künstlerischen Intuition zu verstehen ist.248 Es gibt demnach Dinge, die allein der Intellekt zu suchen vermöchte, die er jedoch aus sich heraus niemals 246 Ebd., S. 149 ff. (frz., S. 618 ff.). 247 Ebd., S. 155 (frz., S. 622). 248 Vgl. G. V. Legros, Fabre. Poet of Science, S. 136, S. 199.
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zu finden in der Lage ist. Dazu benötigte er eine Ergänzung, die der Instinkt verspricht, der solche Dinge finden könnte, der sie aber seiner Natur nach niemals suchen würde.249 Auf der Basis dieser Unterscheidung wird die handwerkliche und auf das Starre gerichtete Alltagsmetaphysik des Intellektes erkennbar:250 Der Intellekt stellt deutlich nur das Diskontinuierliche und Bewegungslose vor, er ist zwar ein unbegrenztes Vermögen der Zerlegung nach beliebigen Gesetzen – aber er ist zugleich, da alle diese Momente des Diskontinuierlichen die lebendige Wirklichkeit nicht auszeichnen, charakterisiert durch „eine natürliche Verständnislosigkeit für das Leben“.251 Der Instinkt hingegen ist nach dieser Form des Lebens gemodelt. Die instinktive Kenntnis hat demnach „ihre Wurzel in der Einheit des Lebens selber“,252 das in dieser Hinsicht ein sich selbst sympathisches Ganzes ist. Ziel von Bergsons Philosophie ist es, dieses auch in uns schlummernde Vermögen zu erwecken und nicht mehr in seinen Handlungen aufgehen zu lassen, sondern zu Bewusstsein zu bringen. Könnten wir den Instinkt „befragen und vermöchte er zu antworten, er würde uns die tiefsten Geheimnisse des Lebens mitteilen.“253 Diese Sympathie des Lebens mit sich selber zeigt sich für Bergson nun im empirischen Fall von Fabres Versuchen mit dem Lähmungs-Instinkt von Wespen.254 Bergson erweist sich in diesen Passagen (wie stets) als gut informiert über die Fachdebatten (er nennt Buttel Reepen, Perkham, Bethe, Forel und andere), er kennt die Details der zeitgenössischen Theorien zu Verwandtschaftsbeziehungen und Variationen von Instinkten und berichtet anhand von Fabres Arbeiten über die jeweils vollkommenen Lähmungsstrategien verschiedener Wespenarten. Für seine eigene Philosophie ist die zwischen Grabwespen und ihren Opfern bestehende Sympathie (im etymologischen Wortsinn) bedeutsam, die die Grabwespe gewissermaßen „von innen her“ über die Verletzbarkeit ihrer Beute unterrichtet.255 Räuber und Beute sind für Bergson in diesem 249 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 156 (frz., S. 623). 250 Ebd., S. 158 f. (frz., S. 625 f.). 251 Ebd., S. 170 (frz., S. 635). Ähnlich unterstellt auch Fabres Forschung eine Ver ständnislosigkeit des wissenschaftlichen Verstandes für den Instinkt, vgl. P. Tort, Fabre, S. 115. 252 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 172 (frz., S. 637). 253 Ebd., S. 170 (frz., S. 635). 254 Ebd., S. 176 ff. (frz., S. 641 f.). 255 Ebd., S. 178 (frz., S. 642).
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Zusammenhang nicht mehr zwei getrennte Organismen, sondern vielmehr zwei miteinander verbundene Aktivitäten. Diese relationale und prozessuale Perspektive ist nach Bergson der Wissenschaft nicht mehr zugänglich, denn diese darf nicht „die Handlung […] vor das Organ, die Sympathie nicht vor Wahrnehmung und Erkenntnis setzen“.256 Hier hebt deshalb die Philosophie an, deren Rolle dort beginnt, wo die Rolle der Wissenschaft endet. Diese Einschätzung gilt jedoch – so ist über Bergsons Überlegungen hinaus gehend zu folgern – nicht im engeren Sinne für die Wissenschaft Fabres, denn dessen Instinktmodell läuft nicht auf die von Bergson genannten beiden Fehldeutungen des wissenschaftlichen Zugangs hinaus: Weder versucht Fabre eine Rückführung des Instinkts auf den zusammengesetzten Reflex, noch nimmt er eine Aufwertung des Instinkts als intelligent erworbene und nachträglich automatisch gewordene Gewohnheit vor. Vielmehr steht der Instinkt bei ihm für ein ganzheitliches und eigenständiges Vermögen der Insekten. Dabei nähert sich der Wissenschaftler Fabre dem von Bergson als Alternative zum wissenschaftlichen Weg genannten metaphysischen Weg an, der eine Antwort nicht durch Einsatz des Intellektes, sondern über die Sympathie sucht.257 Eine solche Deutung würde auch den Übergang Fabres zum künstlerischen Denkstil erklären, der das genannte Geheimnis als ein sich offenbarendes Geheimnis258 versteht, weil den Künstler mit Bergson gesprochen die Intention auszeichnet, sich durch „eine Art Sympathie ins Innere des Gegenstandes“259 versetzen zu wollen. Insofern ergäbe sich die besondere und nachgerade widersprüchliche Struktur von Fabres Forschungsprogramm – eine Ergänzung sich doch scheinbar ausschließender positivistischer und romantischer Intentionen in Form von Peripherie und Kern eines solchen Programms – gerade aus der Einsicht in die Besonderheit des Forschungsgegenstandes und des Forschungsanliegens. Dieses wäre auch aus dem Grunde bemerkenswert, als mit dieser Konsequenz eine spezielle Alternative in der komplexen Gemengelage von methodischen Ansätzen der frühen Tierpsychologie be-
256 Ebd., S. 178 (frz., S. 643). 257 Ebd., S. 181 (frz., S. 645). 258 Vgl. den Titel des von K. Guggenheim und A. Portmann herausgegebenen Bandes J. H. Fabre, Das offenbare Geheimnis. Aus dem Lebenswerk des Insek tenforschers, Zürich, Stuttgart 1961. 259 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 181 (frz., S. 645).
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nannt wäre, die grundlegende Bedeutung hat, weil die sie bedingende epistemische Situation sich letztlich noch bis in unsere Zeit in der kognitiven Ethologie wiederfinden lässt. Schon Fabre ist sich darüber im Klaren, dass die Wissenschaft in ihrem Versuch, das Gefühlsleben von Insekten zu erschließen, eine besonders schwierige, vielleicht gar mit ihren Mitteln unlösbare Aufgabe übernimmt. Von positivistischer Warte aus betrachtet, stößt man auf unüberschreitbare Grenzen: „Die Wissenschaft will mehr, aber sie findet im Insekt eine Welt, die uns verschlossen ist. […] Die Gefühle des Tieres sind ein unergründliches Geheimnis.“260 Ein positivistisches Minimalprogramm mit seiner Beschränkung auf beobachtbare Fakten steht vor der bereits von Conwy Lloyd Morgan261 benannten epistemischen Herausforderung aller vergleichenden Psychologie: Alles Wissen über Fremdpsychisches bleibt notwendig hypothetisch und ist auf Interpretation angewiesenes Wissen aus zweiter Hand. Die beschriebene Grenze betrifft also konkret den Versuch, „in den geheimen Falten des Lebens anderer zu lesen“,262 während wir doch notwendig auf die eigene Existenz beschränkt sind. Trotz der positivistischen Einsicht (die unsere existentielle Alltagserfahrung bestätigt), dass „niemand in die Haut eines anderen schlüpfen kann“,263 versucht der wissenschaftliche Beobachter Fabre dennoch, auf diese Seite vorzustoßen und belässt es nicht bei dem Verzicht. Er tut dieses auch, indem er zur romantischen Agenda wechselt und (wie Bergson) auf poetische Mittel setzt. Auch wenn nach Fabre die menschliche Sprache, als „der einzige Spiegel unserer Gedanken“,264 kaum dazu geeignet ist, sie irrtumsanfällig und keinesfalls wirklichkeitsgetreu ist, geht er diesen Weg. Trotz der immer wieder deutlich werdenden Beschränkungen lautet das Credo: „Versetzen wir uns in die Lage der Larve [der Mistkäfer, K. K.], werfen wir den Menschen ab, werden wir Mistkäfer“.265
260 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 221 (frz., Bd. 5, S. 175). 261 C. L. Morgan, An Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 47 f. 262 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 6, S. 39 (frz., Bd. 6, S. 32: lire dans les replis secrets de la vie d’autrui). 263 Ebd. 264 J.-H. Fabre, Erinnerungen, Bd. 5, S. 167 (frz., Bd. 5, S. 130). 265 Ebd., S. 167 (frz., S. 130).
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‚Scientist in Action‘
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Das hier thematisch werdende Grundproblem ergibt sich also daraus, dass das Ziel der Forschung des Wissenschaftlers Fabres, sachhaltige und verlässliche Aussagen über einen Phänomenbereich zu gewinnen (das ‚Seelenleben‘ von anderen Lebewesen), nicht mit den methodischen Mitteln der Naturwissenschaft zu erreichen ist, weil diese Mittel auf die Erfassung von Bewegungen und Strukturen des Körperlichen beschränkt sind. Das Problem besteht offensichtlich darin, dass der Beobachter als Wissenschaftler, wie es später Jakob v. Uexküll (1864–1944) formulieren wird, niemals seinen Posten als außenstehender Beobachter verlassen kann.266 Eine Forschungsmethode, die ihm im obigen Sinne ein Einfühlen in die mentale Welt seines Forschungsobjektes erlaubte, liefe diesem methodischen Ethos zuwider. Dennoch arbeitet ein solcher Forscher, weil er eben bei aller wissenschaftlichen Beobachtungs- und Erkenntnisarbeit stets selbst ein Lebewesen ist, auf einer Gewissheitsebene, die diese Grenzen transzendiert und die möglicherweise für methodische Fragen einsetzbar wäre: Wie Helmuth Plessner (1892–1985) und Frederik J. J. Buytendijk (1887–1974) es in ihrer gemeinsamen Arbeit Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) formulierten, ermöglicht es dieser Zugang, eine „anthropomorphe Kryptopsychologie“ zu vermeiden, welche den Eindruck erwecken würde, man wolle über das Erleben anderer Lebewesen Aussagen machen, die „doch eigentlich nur nachprüfbar wären, wenn ich in dem Tier drinstecken könnte“.267 Plessner und Buytendijk schlagen als Lösung für dieses Problem den Rekurs auf die vermittelnde Schicht des Verhaltens vor und bringen den Begriff der Umweltintentionalität ins Spiel. Sie bezeichnen damit eine leiblichen Forschern als intentionalen Wesen zugängliche Erfahrungsebene für die Intentionen anderer (Lebe-) Wesen. Die Umweltintentionalität anderer Lebewesen ist dem Forscher, der selbst in dieser Weise ein intentionales Wesen in einer Umwelt ist, anschaulich gewiss. Betrachtet man, wie in diesem Beitrag versucht, den Forscher Jean Henri Fabre in seiner Umwelt und berücksichtigt dessen vielfältige, romantisch unterfütterte, Versuche, den diese Umwelt bevölkernden Insekten und deren Instinkten
266 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), Frankfurt a. M. 1973, S. 110; Vgl. auch J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam, Zürich 1930, S. 131 ff. 267 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, S. 71129, hier S. 80 f.
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jenseits der positivistischen Beschränkungen auf beobachtbare Fakten in ihrem Instinktleben als Subjekten eines eigenen Lebens angemessen Geltung zu verschaffen, dann wurzelt dieses Unterfangen offenbar in eben dieser Gewissheit einer – im romantischen Ansatz eingefangenen – Sympathie allen Lebens.
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C. Llyod Morgan’s Canon Über den Gründervater der komparativen Psychologie und den Stellenwert epistemischer Bedenken
„Perhaps, the most quoted statement in the history of comparative psychology is Lloyd Morgan’s canon.“ (Donald Dewsbury1) „Morgan’s actual position has become more, rather than less, obscured by recent scholarship, and as a result, the Canon has come to be used rather like a mirror, reflecting and reinforcing the preconceptions brought before it.“ (Sean Allen-Hermanson2)
Einleitung In Donald Dewsburys obigem Zitat wird über den monolithischen Stellenwert des so genannten „Morgan’s Canon“ innerhalb der vergleichenden Psychologie spekuliert. Der Primatologe Frans de Waal behauptet gar, es handele sich hierbei um den meist zitierten Satz in der Geschichte der gesamten Psychologie.3 Der Psychologe und Neurowissenschaftler Bennett G. Galef will in dem Canon hingegen nicht nur ein quantitatives Phänomen, sondern gar einen qualitativen Meilenstein sehen.4 Die Formulierung, auf die in diesen Zitaten verwiesen wird, stammt von dem Psychologen Conwy Llyod Morgan (1852–1936) und findet sich in dessen Werk An Introduction to
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D. Dewsbury, Comparative Psychology in the twentieth Century, Stroudsburg 1984, S. 187. S. Allen-Hermanson, „Morgan’s Canon Revisited“, in: Philosophy of Science, 72(4)/2005, S. 608-631, hier S. 609. F. de Waal, The Ape and the Sushi Master. Cultural Reflections by a Primatologist, New York 2001, S. 67. „[…] possibly the most important single sentence in the history of the study of animal behavior.“ (B. G. Galef, jr., „The Making of a Science“, in: L. D. Houck, L. C. Drickamer (Hrsg.), Foundations of Animal Behavior, Chicago 1996, S. 5-12, hier S. 9.)
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Comparative Psychology aus dem Jahr 1894. Aus dem hier behandelten Zusammenhang wird zumeist folgende Passage als „Canon“ zitiert: „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale.“5 Das zweite oben angeführte Zitat betrifft den Canon nicht selbst, sondern richtet sich auf seine Auslegung und Sean Allen-Hermanson hebt darin hervor, dass nicht nur die Anzahl der Zitationen, sondern auch die Anzahl der verschiedenen Auslegungen des Canons immens sei. In dem vorliegenden Beitrag wollen wir uns diesem Phänomen annähern. In einem ersten Schritt möchten wir anhand einiger ausgewählter Beispiele die Aussage von Allen-Hermanson illustrieren und exemplarisch verschiedene Auslegungen des Canons skizzieren und gegenüberstellen. Im Anschluss wenden wir uns in einem zweiten Schritt dem Canon im Kontext der Arbeit Morgans zu, um zu diskutieren, inwiefern die sehr diversen Interpretationen gerechtfertigt sind, bzw. zurückgewiesen werden können. Schließlich soll es im dritten Schritt darum gehen, ob durch unsere kontextualisierte Lektüre im Gegensatz zu den Annahmen von etwa Allen-Hermanson, Simon Fitzpatrick6 oder Markus Wild,7 auch eine gegenwärtige Relevanz für den Canon behauptet werden kann, die über seine fraglos historische Bedeutung hinaus reicht.
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C. L. Morgan, An Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 53. Die Bezeichnung „Canon“ stammt von Morgan selbst, der die hier zitierte For mulierung zunächst als „grundlegendes Prinzip“ bezeichnet (ebd.), im Verlauf des Werkes dann auf diese sowie ähnliche Formulierungen als „Canon“ verweist (vgl. ebd., S. 379). S. Fitzpatrick, „Doing Away with Morgan’s Canon“, in: Mind & Language, 23(2)/2008, S. 224-246. M. Wild, „Tierphilosophie“, in: Erwägen, Wissen, Ethik, 23(1)/2012, S. 21-33 und S. 108-131, hier S. 25.
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1. Morgan’s Canon und seine Auslegungen – eine charakteristische Auswahl In dem von Robert W. Mitchell, Nicholas S. Thompson und H. Lyn Miles 1997 herausgegebenen Sammelband Anthropomorphism, Anecdotes and Animals,8 diskutieren die Beitragenden aus philosophischer, anthropologischer, psychologischer und ethologischer Perspektive über die Verwendung von Anthropomorphismen und Anekdoten in der Verhaltensforschung. Auffällig ist, dass von den 29 für diesen Band verfassten Beiträgen, acht Bezug auf Morgan nehmen und in sieben Beiträgen der Canon in seiner obigen Form zitiert und ausgelegt wird – dieses in äußerst unterschiedlicher und teils konträrer Weise. Aufgrund der hiermit vorliegenden hohen Dichte an ‚Untersuchungsmaterial‘ für unser Vorhaben, erscheint es uns naheliegend, dieses Buch exemplarisch und repräsentativ heranzuziehen, um einen Einblick in die Vielfalt möglicher Auslegungen zu gewinnen.9 Der erste Beitrag mit Bezug auf Morgan’s Canon – Dogs, Dar winism, and English Sensibilities – stammt von der Wissenschaftsphilosophin Elizabeth Knoll. In diesem findet sich folgende Passage: „In Darwin and Romane’s writings there clearly is no sign of the anti-anthropomorphic methodological rule laid down in 1894 by the comparative psychologist C. Lloyd Morgan, a protégé, colleague, and critic of Romanes: [MC]10 (Morgan, 1904 [sic!], p. 53). Those with the fondness of neatly organized historical eras might say Morgan’s Canon, as it is called, marks the end of the anthropo-
8 R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anec dotes and Animals, New York 1997. 9 Selbstverständlich ist die Feststellung, dass der Canon sehr divers ausgelegt wird, nicht neu. Exemplarisch seien hier etwa die bereits erwähnte Arbeit von Allen-Hermanson, Morgan’s Canon Revisited, aber auch R. K. Thomas, „Lloyd Morgan’s Canon: A History of Misrepresentation“, in: History and Theory in Psychology Eprint Archive, 2001 (https://goo.gl/96QD5K), zuletzt abgerufen am 07.12.2015, oder in jüngster Zeit T. Starzak, Kognition bei Menschen und Tieren. Eine vergleichende philosophische Perspektive, Berlin, Boston, München 2015, S. 11-28, genannt. 10 Im Folgenden werden wir mit dem Kürzel „[MC]“ darauf verweisen, dass an dieser Stelle die von uns oben genannte Formulierung von Morgan’s Canon angefügt wird.
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morphic strategy in psychology and the beginning of twentiethcentury behaviorism.“11 Knoll bezeichnet in diesem deskriptiven Absatz den Canon als „methodische Regel“, welche an einem Wendepunkt innerhalb der Geschichte der Psychologie einzuordnen sei: Der Canon stelle das Ende einer bestimmten psychologischen Strategie dar, und markiere gleichzeitig den Beginn eines neuen Paradigmas innerhalb der Disziplin – den Behaviorismus. Inhaltlich hebt Knoll entsprechend ihrer These den „anti-anthropomorphistischen“ Aspekt des Canons hervor. Der Bezug zu Charles Darwin und George John Romanes12 stellt für sie den historischen Kontext von Morgans Arbeit dar, vor dessen Hintergrund er den Canon verfasst habe. Für uns ist zunächst festzuhalten, dass der Canon in dieser Rekonstruktion in seiner historischen Rolle als Ausgangspunkt des Behaviorismus beschrieben und als methodische Regel des Anti-Anthropomorphismus gekennzeichnet wird. Betrachten wir den zweiten Beitrag, welcher von dem Psychologen Robert W. Byrne stammt – What’s the Use of Anecdotes? Di stinguising Psychological Mechanisms in Primate Tactical Decep tion –, dann finden sich in ihm gleich zwei Passagen, in denen auf Morgan Bezug genommen wird. Nachdem Byrne das beobachtete Verhalten dreier Paviane beschrieben hat, schreibt er: „What are the possible interpretations of this observation? I will begin at the most dismissive possibility, and work gradually towards the most mentally complex; this, of course, follows the approach recommended by Lloyd Morgan (1894).“13 Im Gegensatz zu Knolls deskriptiver Darstellung, greift Byrne den Canon als Regel für das eigene Vorgehen auf. Bei der Frage nach der möglichen Interpretation eines bestimmten Pavianverhaltens 11 E. Knoll, „Dogs, Darwinism, and English sensibilities“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 12-21, hier S. 20. 12 George John Romanes (1848–1894) war ein britischer Zoologe und Evolutions biologe. Seine einflussreichste Monographie, auf die sich auch Morgan bezieht, ist unter dem Titel Animal Intelligence (1881) erschienen. Diese Arbeit wird als erster, wenn auch nicht explizierter, Vorstoß zur Begründung einer komparati ven Psychologie aufgefasst. (Vgl. W. H. Thorpe, The Origins and Rise of Etho logy. The science of the natural behaviour of animals, London 1979, S. 25.) 13 R. W. Byrne, „What’s the Use of Anecdotes? Distinguishing Psychological Me chanisms in Primate Tactical Deception“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 134-150, hier S. 139.
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will er gemäß dem Canon vorgehen und sich von der Erklärung, die die mentalen Fähigkeiten des Pavians am geringsten schätzt, zu jener hin bewegen, welche auf die komplexesten Fähigkeiten zurückgreift. Byrne stimmt mit Knoll insofern überein, dass es sich bei dem Canon um eine methodische Regel handelt. In seiner Darstellung richtet sich der Canon jedoch nicht gegen Anthropomorphismen – zumindest fällt der Begriff in seinen anschließenden Ausführungen nicht explizit –, sondern er soll vielmehr dazu dienen, zwischen Erklärungen zu unterscheiden, die jeweils unterschiedliche mentale Komplexitätsgrade bei Tieren voraussetzen. Wenige Seiten nach dieser Passage bezieht sich Byrne erneut auf den Canon: „However, using the extensive knowledge of reinforcement available from laboratory experiments, we can assess the plausibi lity that an explanation in terms of reinforcement is right. Taking Lloyd Morgan’s canon seriously, we should accept learning by reinforcement as the explanation unless it is highly implausible to do so.“14 Diesmal wird unter Rückgriff auf den Canon eine bestimmte Interpretation bevorzugt: Eine der möglichen Erklärungen des beobachteten Pavianverhaltens – mit Bezug auf verstärkendes Lernen – sei die „richtige“, weil sie vor dem Hintergrund all dessen, was wir über ein bestimmtes Feld wissen, die plausibelste Erklärung sei. Oder anders: Eine Erklärung sei im Sinne des Canons dann zu akzeptieren, wenn sie nicht hochgradig unplausibel ist. Mit diesem Gedanken scheint Byrne seine vorherige Überlegung zu ergänzen. Während es prinzipiell um unterschiedliche Komplexitätsgrade von Mentalität gehe, sei dem Canon folgend jener Komplexitätsgrad als Erklärung „richtig“, welcher vor dem Hintergrund eines bestimmten Wissensstandes oder bestimmter Vornahmen am plausibelsten für das beobachtete Verhalten ist. Nach Byrne stellt der Canon demzufolge eine methodische Regel mit aktueller Relevanz dar, nach welcher genau jene Erklärung tierlichen Verhaltens zu bevorzugen sei, die unter der Annahme bestimmter Komplexitätsgrade von Mentalität am plausibelsten erscheint. Der dritte Beitrag – A Pragmatic Approach to the Inference of Animal Minds – stammt von dem Psychologen Paul S. Silverman. Der Verweis auf Morgan findet sich bei ihm in einem historischen Abriss über „philosophische Kriterien“ zur Bestimmung mentaler Zustände. 14 Ebd., S. 143.
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„[…] C. Lloyd Morgan (1894), cautioned that nonmental, mechanistic explanations of animal behavior should always take precedence over mentalistic ones. This view has become the standard for ‚parsimonious‘ explanation in psychology.“15 Nach Silverman stellt der Canon folglich ein Prinzip der Sparsamkeit dar: sparsam sei eine Erklärung dem Canon zufolge dann, wenn es gelänge, Verhalten mechanistisch und nicht mit Rückbezug auf mentale Zustände zu beschreiben. Dieses Verständnis sei wiederum paradigmatisch für Sparsamkeitserklärungen innerhalb der Psychologie. Wie bei Knoll wird hier die Relevanz des Canons für die Entwicklung der Psychologie hervorgehoben. Im Gegensatz zu der Auslegung von Byrne, der anhand von Plausibilität lediglich entscheidet, wie komplex die jeweils zuzuschreibenden mentalen Zustände sein dürfen, soll nach Silvermans Auslegung jedoch der Canon mentale Zustände möglichst ganz ausschließen. Im vierten Beitrag beschäftigt sich der Psychologe und Evolu tionsbiologe Gordon M. Burghardt mit den ethologischen Grundsätzen des niederländischen Biologen Nikolaas Tinbergen: Amen ding Tinbergen: A Fifth Aim for Ethology. In den Überlegungen zu einer ergänzenden fünften Frage zu den bekannten vier von Tinbergen16, setzt sich Burghardt mit der Möglichkeit der Erforschung von privaten Erfahrungen auseinander, und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Morgan: „Elsewhere I have discussed the early efforts of the first comparative psychologists, particularly Romanes (1883) and Morgan (1894), to gain knowledge of animal mental life […]. Romanes used a method he called ‚ejectivism‘ and Morgan developed the ‚doubly inductive method.‘ The essential feature of both methods is the use of objective knowledge of the animal’s behavior along with subjective analogical inference (using our own introspected experience) and
15 P. S. Silverman, „A Pragmatic Approach to the Inference of Animal Mind“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 170-185, hier S. 172. 16 Nikolaas Tinbergen (1907–1988) unterschied wegweisend für die Ethologie vier Fragen die zum Verständnis und der Erklärung von tierlichem Verhalten gleichermaßen berücksichtigt werden sollten: wie wird Verhalten physiologisch verursacht (causation), wie entwickelt sich das individuelle Verhalten im Le bensverlauf ontogenetisch (ontogeny), wozu dienen die Verhaltensweisen dem Individuum (adaption) und warum haben sich einzelne Verhaltensweise phylo genetisch entwickelt (phylogeny) (vgl. N. Tinbergen, „On aims and methods of ethology“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, 20(4)/1963, S. 410-433).
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neural analogic inference (using the extent of animal’s neural development and physiology to infer possible mental abilities or states as in today’s sleep/dream research). Although these methods failed to convince even sympathetic scientists […] early in this century, if carefully used and combined in a critical anthropomorphism they may yet be helpful. But although Morgan’s doubly inductive method is a useful model, his certain faith in introspective psychology as the firm bedrock for ascertaining truth is […] not to be emulated today.“17 Burghardt bezieht sich hier nicht explizit auf den Canon, sehr wohl jedoch auf Morgans An Introduction und geht damit als einziger Autor des Sammelbandes auf die methodischen Grundüberlegungen Morgans ein. Er hebt hervor, dass Morgan das „mentale Leben“ von Tieren zu erforschen beabsichtigte, und hierfür eine spezielle Methode entwickelte, die, der Formulierung Burghardts entsprechend, an eine Art von Triangulation erinnert: objektives Wissen über das Verhalten von Tieren wird mit subjektiven Analogieschlüssen auf der Basis von introspektiver Erfahrung, sowie von Analogieschlüssen auf der Basis des Wissens über die neurologischen und physiologischen Strukturen jener Tiere abgeglichen. Historisch attestiert Burghardt dieser „doppelt induktiven Methode“ zwar keine große Kraft, hebt jedoch hervor, dass sie in Kombination mit einem kritischen Anthropomorphismus heute sehr wohl hilfreich sein könne. Als problematisch charakterisiert er hingegen die zentrale Rolle der Introspektion bei Morgan, als „Grundstein auf der Suche nach Wahrheit“. Anders als Knoll sieht Burghardt im Canon kein Mittel gegen Anthropomorphismen, sondern fordert im Gegensatz gar eine Kombination des morganschen Ansatzes mit einem kritischen Anthropomorphismus. Der fünfte Beitrag stammt von den häufig kollaborierenden Phi losophen Colin Allen und dem Biologen Marc Bekoff. In ihrem Aufsatz Cognitive Ethology: Slayers, Skeptics, and Proponents diskutieren sie verschiedene kritische Einwände gegen die kognitive Ethologie. In der Erörterung von Einwänden aus der Gruppe der ‚Skeptiker‘ findet sich eine Passage über Morgan:
17 G. M. Burghardt, „Amending Tinbergen: A fifth Aim of Ethology“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 254-276, hier S. 269.
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„‚One must be cautious about inferring complex cognitive processes when simpler explanations will suffice‘ (p. 129).18 […] The statement by Zabel et al. is a paraphrase of Morgan’s (1894) Canon: [MC]. It is possible that Morgan’s Canon, which is concerned with the complexity of processes, should be distinguished from parsimony, which is concerned with a number of processes needed to explain a given behavior (as an anonymous reviewer noted). However, unless we are given an explicit standard for judging the complexity of a cognitive process or its place in the ‚psychological scale‘ (Sober, in print [1998]), appeals to the canon rest on nothing other than intuitions about relative complexity and need not be counted as scientific.“19 Auffällig ist hier zunächst, dass die beiden Autoren sich auf drei verschiedene Sekundärquellen beziehen, um den Canon zu fassen und in seiner Relevanz zu beurteilen: Ausgangspunkt ist ein kurzes Zitat aus einem Artikel der Arbeitsgruppe um die Biologin Cynthia J. Zabel, welche zur Vorsicht bei der Ableitung von komplexen mentalen Prozessen rät, falls auch einfache Erklärungen zur Verfügung stehen. Diese Beziehung zwischen „komplexen Prozessen“ und „einfachen Erklärungen“ wird von Bekoff und Allen als Paraphrase des Canon identifiziert. Die im Canon eingeforderte Einfachheit sei jedoch nicht mit Sparsamkeit zu verwechseln: Einfachheit beziehe sich auf die Komplexität der Prozesse, die nötig sind, um ein Verhalten zu erklären. Sparsamkeit hingegen auf die Anzahl solcher Prozesse. Mit dieser Überzeugung schließen sich die Autoren der Anmerkung eines anonymen Reviewers an. Mit diesen beiden Bezügen haben die beiden Autoren den Canon ausreichend charakterisiert, um ihn als unwissenschaftlich einstufen zu können, solange – so stimmen sie der dritten Quelle, dem Philosophen Elliott Sober zu – nicht standardisierte Beurteilungskriterien zur Bewertung mentaler Prozesse der bloßen Intuition gegenübergestellt würden. Bekoff und Allen bestimmen den Canon somit als eine Art von Hinweis oder Ratschlag, einfache Erklärungen für ein beobachtetes Verhalten zu bevorzugen. Der Canon sei jedoch grundsätzlich 18 Dies ist ein Zitat aus: C. J. Zabel, S. E. Glickman, L. G. Frank, K. B. Woodmansee, G. Keppel, „Coalition formation in a colony of prepubertal hyenas“, in: A. H. Harcourt, F. de Waal, (Hrsg.), Coalitions and alliances in humans and other animals, New York 1992, S. 114-135. 19 M. Bekoff, C. Allen, „Cognitive Ethology: Slayers, Skeptics, and Proponents“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 313-334, hier S. 326.
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solange als unwissenschaftlich zu beurteilen, wie konkrete Beurteilungsstandards nicht bestimmt seien. Der Psychologe Hank Davis stellt in seinem Beitrag „Kognition“ und „Denken“ gegenüber: Animal Cognition Versus Animal Thinking: the Anthropomorphic Error. In einem abschließenden Gedankenexperiment über die Erforschung der Zählfähigkeit bei Nacktschnecken und die möglichen Auswirkungen einer solchen Forschung, greift auch er Morgan’s Canon auf: „Although a reappraisal of human counting would make sense in light of such evidence from garden slugs, such a reappraisal is unlikely to occur. It is more likely that our ‚simple‘ demonstration would be discounted, and the conclusion reached that the garden slug has taught us nothing about the human. Generalizations from ‚lower‘ animals that demystify human performance are often sabotaged by an intuitive notion that turns Morgan’s Canon (1894) on its ear. Put simply, this belief holds that if a simple task can be approached in a complex manner, that must be how the human does it.“20 Davis kritisiert eine intuitive Strategie zur Sicherung menschlicher Alleinstellungsmerkmale gegenüber Verallgemeinerungen aus dem Bereich „niederer“ Tiere. Diese Strategie gehe davon aus, dass einfache Aufgaben von Menschen typischer Weise mittels eines komplexen Verfahrens umgesetzt würden: Wo der Canon behaupte – so die aus der knappen Formulierung Davis‘ abzuleitende Auslegung –, dass komplexe Aufgaben von Tieren auf möglichst einfache Art umgesetzt werden, greift der kritisierte Sabotageakt zur Sicherung der anthropologischen Differenz auf einen verquer umgedeuteten Canon zurück: Nur Menschen können Einfaches auf komplizierte Weise erledigen. Der letzte von uns näher betrachtete Beitrag stammt von dem Psychologen und Mitherausgeber des Bandes, Robert W. Mitchell. Im letzten Beitrag des Buches – Anthropomorphism and Anecdotes: A Guide for the Perplexed –, versucht Mitchell, verschiedene Perspektiven miteinander zu vergleichen und führt dabei den Canon an: „Morgan’s (1894) response to Romanes‘ inaccurate anthropomorphism was to support a more parsimonious attitude toward ani-
20 H. Davis, „Animal Cognition Versus Animal thinking: The Anthropomorphic Error“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomor phism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 335-347, hier S. 346.
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mal mental states, unwittingly making the simplest psychological attributions (independent of accuracy) seem the best […].“21 Aus einer historischen Perspektive erkennt Mitchell in Morgans Beitrag eine Reaktion auf die unangebrachte Verwendung von Anthropomorphismen bei Romanes. Er attestiert Morgan anschließend, dass dieser mittels seines Canons eine sparsamere Einstellung gegenüber mentalen Zuständen bei Tiere einfordere und damit die einfachsten Zuschreibungen – unabhängig von deren Richtigkeit – als die besten erscheinen ließe. Wo Bekoff und Allen noch eine klare Trennung von ‚Einfachheit‘ und ‚Sparsamkeit‘ sehen wollen, scheint für Mitchell Einfachheit eine Folge aus der Forderung nach Sparsamkeit bei der Zuschreibung mentaler Zustände bei Tieren zu sein. Aus dieser exemplarischen Bestandsaufnahme von verschiedenen Lesarten des Canons wird ersichtlich, dass sowohl dessen Inhalt als auch dessen Aussagewert und aktuelle wissenschaftliche Relevanz keineswegs unumstritten sind. In den verschiedenen Beiträgen wird der Canon wahlweise als zwingendes methodisches Reglement oder lediglich als zu beachtendes Gebot für die Untersuchung der mentalen Zustände von Tieren behandelt. Vielfach wird er als veränderte Fassung des Sparsamkeitsprinzips (lex parsimoniae) und des Gebots der Einfachheit interpretiert. Auf dieser Grundlage wird er dann entweder als hilfreiches und notwendiges Instrumentarium begriffen, durch dessen Anwendung anthropomorphe Zuschreibungen verhindert werden könnten, oder aber als Ansatz, welcher die mentalen Zustände von Tieren allein im Rahmen eines reduktionistischen Mechanismus zu begreifen versuche. Hinsichtlich seines Aussagewertes und seiner wissenschaftlichen Relevanz wird er entsprechend entweder als wertvoll und hilfreich oder aber als intuitiv und unwissenschaftlich aufgefasst. Unsere Bestandsaufnahme verweist zudem auf einen auffälligen Befund, der durchaus repräsentativ für die gesamte Debattenlage ist: Nur ein einziger der von uns betrachteten Beiträge geht auf den werkimmanenten Kontext der Überlegungen Morgans ein. Alle anderen Bezugnahmen erfolgen dagegen in unterschiedlichen Graden der Entkontextualisierung des Canons.
21 R. W. Mitchell, „Anthropomorphism and Anecdotes: A Guide for the Perplexed“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 407-427, hier S. 413.
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2. Morgan’s Canon und sein Kontext Morgan gilt als eine der Gründungsfiguren der komparativen Psy chologie.22 Das in verschiedenen seiner Arbeiten deutlich werdende, vornehmliche Anliegen Morgans war es, die vergleichende Psychologie aus dem subjektiven und anekdotenhaften Vorgehen der sogenannten ‚Naturgeschichtsschreibung‘ herauszulösen und sie als objektive und reliable Naturwissenschaft zu etablieren.23 In Anbetracht dieser historischen Ausgangslage ist es erstaunlich, dass die von uns exemplarisch dargestellte Auseinandersetzung um Morgan’s Canon, überwiegend unter Ausklammerung der kontextuellen historischen und werkimmanenten Bezüge erfolgt, innerhalb derer der Canon situiert und formuliert ist. Dass diesen Bezügen in der Auseinandersetzung um den Canon wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird, verleitet nach unserer Eischätzung einerseits dazu, den kurzen Textabschnitt, welchen der Canon innerhalb des Werkes An Introduction darstellt, als vermeintliche Kernaussage des Gesamtwerkes aufzufassen. Andererseits wird so die Gelegenheit vergeben, den Canon im Gesamtzusammenhang mit Morgans metaphysischen Vorannahmen, seinen Vorstellungen zum Verhältnis der evolutionären Entwicklung von Psyche und Physis, seiner Einschätzung der Rolle der Humanpsychologie für die Tierpsychologie und seinen Beobachtungen und Deutungen tierlichen Verhaltens zu verstehen. Durch die isolierte pars pro toto Betrachtung des Canons wird die historisch kritische Auseinandersetzung verhindert, welche unseres Erachtens nach überhaupt erst ermöglicht, der Frage nachzugehen, ob der Canon als originärer und ge22 Vgl. hierzu W. H. Thorpe, The Origins and Rise of Ethology, S. 26, sowie M. Rosalyn Karin-D’Arcy, „The Modern Role of Morgan’s Canon in Comparative Psychology“, in: International Journal of Comparative Psychology, 18(3)/2005, S. 179-201, hier S. 179. 23 Dies gilt allerdings nicht allein für die komparative Psychologie. Wissenschaft lichkeit, d. h. in diesem Fall die Etablierung einer möglichst von Anthropomor phismen befreiten Terminologie, Methodologie und Methodik bei der Erfor schung von Tieren, wurde fast zeitgleich auch von Beer, Bethe und von Uexküll in ihrem Aufsatz Vorschläge zu einer objektiven Nomenklatur in der Physiolo gie des Nervensystems von 1899 gefordert: Die vergleichende Physiologie [!] müsse auf jedwede Analogieschlüsse verzichten, da diese ausschließlich anthro pomorphe Resultate lieferten und somit ein „unwissenschaftliches Hilfsmittel“ seien (T. Beer, A. Bethe, J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer objektivierenden No menklatur in der Physiologie des Nervensystems“, in: Centralblatt für Physio logie, 13(6)/1899, S. 517-521, hier S. 517).
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rechtfertigter methodischer Ansatz in der komparativen Forschung gelten kann. Dagegen lässt sich selbstverständlich einwenden, dass es für die systematische Frage nach der aktuellen wissenschaftlichen Relevanz, d. h. nach der Praktikabilität des Canons für heutige tierpsychologische Fragestellungen, unerheblich sei, diesen vor dem Hintergrund seines historischen Kontextes zu würdigen. Diese Beschränkung auf die Praktikabilität ist allerdings deutlich zu eng, will man dem eingangs erwähnten Umstand angemessen Rechnung tragen, dass der Canon als am häufigsten zitierter Satz innerhalb der komparativen Psychologie ein zwar vages und stets implizites, aber dennoch beharrliches Wissensreservoirs darstellt,24 auf das wie selbstverständlich methodisch zugegriffen werden kann. Und dies obwohl er in seiner konkreten Auslegung alles andere als eindeutig ist, wie sich an der Vielzahl der kontrovers diskutierten Deutungsangebote ablesen lässt. Von einer werkimmanenten, kontextuellen Annäherung an den Canon, erhoffen wir uns daher nicht nur eine möglichst strukturierte Einschätzung der kontroversen Deutungsangebote sowie der sich um den Canon entfaltenden Debatte, sondern auch eine Klärung der (Orientierungs-)Funktion des Canons innerhalb der komparativen Psychologie. An Introduction ist vermutlich Morgans bekannteste Arbeit, in welcher er vornehmlich darum bemüht ist, die methodologischen und epistemischen Grenzen aufzuweisen, mit welchen Tierforschende im Rückschluss vom beobachtbaren Verhalten auf die 24 Exemplarisch dafür ist etwa die von Marc Naguib verfasste Einführung in die Methoden der Verhaltensbiologie in welcher der Canon als vermeintliches Ein fachheits- oder Sparsamkeitsprinzip eingeführt wird. In dem Unterpunkt „In terpretation der Ergebnisse“ heißt es entsprechend: „Für die Interpretation der Ergebnisse ist es unumgänglich, sich mit der entsprechenden Fachliteratur ver traut zu machen, um dann die Ergebnisse vor dem Hintergrund des aktuellen Erkenntnisstandes der untersuchten Thematik zu interpretieren. Dabei wird von dem einfachsten Erklärungsmodell ausgegangen, bevor den Tieren komplizierte Leistungen unterstellt werden. Bei der Interpretation von Tierverhalten ist man oft stärker als in anderen biologischen Teildisziplinen geneigt, anthropomorphe Erklärungsansätze zu verfolgen.“ (M. Naguib, Methoden der Verhaltensbiolo gie, Berlin, Heidelberg 2006, S. 17; Hervorhebung C. H., M. B.) Wie sich im Laufe dieses Aufsatzes zeigen wird, gehen wir davon aus, dass die hier ange sprochene Komplexitätsreduzierung tierlichen Verhaltens als impliziter Verweis auf den Canon, von Morgan nicht als schlichte Absage anthropomorpher Deu tungen verstanden werden muss, sondern als epistemische Einhegung. Morgan geht es demnach weniger um eine allein methodische Vorgabe, sondern, wie sich im Laufe dieses Aufsatzes zeigen wird, um eine gar nicht so selbstverständliche epistemische Tugend.
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(nicht beobachtbare) Psyche des Tieres konfrontiert sind.25 Thematisch gehen dieser Arbeit allerdings eine Reihe kürzerer Aufsätze voran. Am prägnantesten treten die Konfliktlinien, welche Morgans Stellenwert für die Etablierung der Ethologie, der komparativen Psychologie und der Tierpsychologie und für deren jeweilige Methodologien bis in die Gegenwart hinein bestimmen, in seinem Aufsatz On the Study of Animal Intelligence (1886)26 hervor. Um den Canon in seinen kontextuellen Bezügen verstehen zu können, erscheint es uns dienlich, bei diesem Aufsatz anzusetzen. Durch diesen Blick zurück, erhoffen wir uns jene Konfliktlinien herausarbeiten zu können, aus denen der Canon als vermeintlich bloßes Regelwerk entspringt. In Animal Intelligence wendet sich Morgan insbesondere gegen das interpretative, hermeneutische Vorgehen von Romanes und den Stellenwert, den dieser einzelnen Erzählungen oder Anekdoten für die Generalisierung von Aussagen über die tierliche Psyche einräumt. Die naturwissenschaftliche Erforschung des psychischen Vermögens von Tieren lässt sich für Morgan nicht auf Anekdoten über das physische Verhalten und den hieraus abgeleiteten Rückschlüssen aufbauen. Im Vorgehen von Romanes wird für Morgan deutlich, dass es diesem an begrifflicher und methodologischer Schärfe mangelt. Romanes’ Untersuchungen reihen sich demnach in die „enormous and somewhat chaotic mass of anecdotal fact and fiction“27 ein. In dieser stilisiert antagonistischen Positionierung wird deutlich, dass Morgan im Gegensatz zu Romanes eine präzise Darstellung und Reflexion der Vorannahmen, Fakten und Rückschlüsse auf der Grundlage experimenteller Settings und deren Beobachtungen einfordert, um die mentalen Vermögen von Tieren adäquat erforschen zu können.28 Im Unterschied zur anekdotischen Naturgeschichtsschreibung gelte es sich an die objektive, d. h. methodische und wiederholbare Beobachtung von tierlichen Gewohnheiten und Aktivitäten zu halten und diese in den Kategorien von „Reflex“, „Instinkt“ und „Intelligenz“ experimentell zu untersuchen29 Morgans Abgrenzung von Romanes ist unseres Erachtens 25 C. L. Morgan, An Introduction, S. 53. 26 C. L. Morgan, „On the Study of Animal Intelligence“, in: Mind, 11(42)/1886, S. 174-185. 27 C. L. Morgan, Animal intelligence, S. 174. 28 Ebd., S. 174 ff. 29 Ebd., S. 182. Reflex, Instinkt und Intellekt sind Kategorien die innerhalb der Ge schichte der Naturwissenschaft Verschiebungen erfahren haben und die auch Morgan in Abgrenzung zu Romanes neu bestimmt. Entsprechend Morgans An
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bis heute aktuell und folgt den gängigen Unterscheidungskriterien von narrativer und unsystematischer Naturgeschichtsschreibung auf der einen Seite und einer methodisch stringenten und reliabel vorgehenden Naturwissenschaft auf der anderen Seite. Die ablehnende Haltung Morgans gegenüber einer anekdotenhaften Darstellung tierlichen Verhaltens darf allerdings nicht dazu verführen, die Einschätzung Silvermans (s. o.) zu übernehmen: Versteht man nämlich das nach Silverman mit Hilfe des Canons zu befördernde mechanistische Weltbild im Sinne der Konzepte des materialistischen Reduktionismus,30 dann entspräche dies weitgehend einer Absage an die Vorstellung, dass Tiere überhaupt über mentale Vermögen verfügen. Ganz im Gegenteil hierzu spricht sich Morgan jedoch offen dafür aus, (fast)31 allen Lebewesen solche Vermögen zuzuschreiben: „Since biological evolution has given rise to individuals of divergent types of organic structure, there may be – nay, there must be – in these divergent biological individuals divergent types of mind, using the word ‚mind’ in the widest and most comprehensive sense as embracing all modes of psychical
spruch Fakten, Vorannahmen und Schlüsse voneinander zu separieren, wirft er Romanes vor, begrifflich unsauber „reason“ und „intelligence“ synonym zu ge brauchen und damit „consciousness“ unnötigerweise „as an essential element“ einzuführen (vgl. ebd., S. 183 f.). Aus der Vorzugstellung des Experiments ge genüber der theoretischen Vorannahme, kritisiert Morgan darüber hinaus, dass die Bestimmungen von Romanes auf theoretischen Überlegungen gegründet seien, wogegen Morgan einwendet, dass diese aus der Praxis gewonnen und dort auch erhärtet werden müssten (ebd., S. 184). 30 Klassische materialistisch reduktionistische Positionen wurden im 18. Jahrhun dert etwa von J. Lamettrie, C. Helvétius, D. Diderot, P. Holbach und P. Cabanis auf der Grundlage des wiederentdeckten Atomismus der Antike formuliert. Sie vertraten unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der menschlichen Physiolo gie, die Auffassung, dass der Mensch wesentlich als Mechanik zu verstehen sei und die Seele ein grundsätzlich auf physiologische Vorgänge zurückführbarer und durch diese erschließbarer Bestandteil der physiologischen Lebensvorgänge sei. (Vgl. W. Nieke, „Materialismus“, in: J. Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wör terbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel, Stuttgart 1980, S. 842-850.) 31 Morgan beschränkt seine Aussagen auf Wirbeltiere und schließt Insekten von seinen Untersuchungen aus oder bleibt zumindest zurückhaltend in der An nahme mentaler Vermögen bei diesen. „In any case, in an introduction to com parative psychology, I feel bound to lay stress on the necessity for the greatest caution in the psychical interpretation of insect activities; and I feel justified in restricting myself, in this work, to a consideration of the psychical states which we may infer to be associated with the functional activity of the cerebral hemi spheres in the higher vertebrates“ (C. L. Morgan, An Introduction, S. 41).
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activity.“32 Geradezu emphatisch räumt Morgan ein, er leugne „by no means […] the existence of animal mind, consciousness, feeling, emotion. I do nothing of this sort.“33 Letztlich setzt selbst die im Canon formulierte Skalierung von höheren und niederen psychischen Fähigkeiten immer schon mentale Fähigkeiten voraus, über deren Qualität, nicht aber über deren Existenz, zu urteilen sei. Die Voraussetzung von Morgans Untersuchungen liegt demnach nicht in einem reduktionistischen Mechanismus unter Ausklammerung aller Vermutungen über mentale Phänomene, sondern in der Annahme, dass Tiere über ein mentales Vermögen verfügen. Das Plädoyer Morgans für eine Untersuchung des mentalen Vermögens von Tieren mittels experimenteller Beobachtung, sowie seine damit einhergehende Ablehnung der anekdotenhaften Naturgeschichtsschreibung, fußt in erster Linie auf seiner Einschätzung, dass es keinen unmittelbaren Zugang zum Fremdpsychischen geben könne. Jegliche Schlüsse von der unmittelbar erfahrbaren Subjektivität im eigenen Verhalten auf eine mögliche Subjektivität im Verhalten anderer, erschöpfen sich nach dieser Ansicht in bloßen Abbildern der eigenen Subjektivität. „My neighbour’s mind is not, and never can be, an object to me; it is […] an image of my own consciousness which I throw out of myself.“34 Aufgrund des Umstandes, dass der Zugang zu den mentalen Fähigkeiten und Zuständen eines Anderen stets nur vermittelt zu erfassen ist, fordert Morgan, dass dies im methodologischen Vorgehen der Tierpsychologie (die sich auf die Psyche von Tieren bezieht) aber auch der Ethologie (die sich auf das Verhalten von Tieren bezieht) berücksichtigt werden müsse.35 Denn geschieht dies nicht, dann droht in der Erforschung mentaler Fähigkeiten unabhängig davon, ob der Forschungsgegenstand Menschen oder Tiere sind, stets eine naive Kodierung der fremden Psyche im Licht der eigenen. Für Morgan müssen daher an die Stelle der unmittelbaren, subjektiven Schlüsse, mittelbare, objektive Schlüsse treten, welche sich ausschließlich an den Manifestationen der Psyche des Tieres orientierten, das heißt an den im Verhalten sich äußeren Beobachtenden zeigenden Gewohnheiten und Aktivitäten. Objektiv seien diese, da Gewohnheiten und Aktivitäten als Ursache-Wirkungs-Beziehung in Raum und Zeit 32 33 34 35
C. L. Morgan, An Introduction, S. 37. C. L. Morgan, Animal Intelligence, S. 185. Ebd., S. 175. C. L. Morgan, An Introduction, S. 42 f.
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beobachtet und beschrieben werden, und auf der Basis der ebenso auf Raum und Zeit bezogenen Kategorien „Reflex“, „Instinkt“ und „Intellekt“ erfasst werden könnten.36 Vor diesem Hintergrund nimmt Morgan mit seiner Ablehnung des anekdotenhaften Zugangs auf mentale Vermögen von Tieren eine Position ein, die bemüht ist, die Tierpsychologie auf ein objektives Fundament zu stellen, von welcher deshalb aber noch nicht behauptet werden kann, dass sie aus mechanistischen Annahmen heraus die Möglichkeit tierlichen Bewusstseins überhaupt ablehnt. Der Ansatz Morgans bewegt sich vielmehr zwischen einem empathisch begründeten Votum für die Möglichkeit tierlichen Bewusstseins und methodisch gesicherter und empiriebasierter Naturwissenschaft. Die Ablehnung der bloßen Narration und des Hören-Sagens in der Naturgeschichtsschreibung und seine Vorschläge für ein überprüfbares methodisches Verfahren zur Erforschung mentaler Vermögen von Tieren erfolgen in einem Spannungsfeld, vor dessen Hintergrund Morgan erkenntnistheoretisch und damit immer auch in methodologischer Weise vor allem eines reflektiert wissen will: den Anthropomorphismus. Mit Blick auf Animal Intelligence und in Hinsicht auf An Intro duction wird deutlich, dass Burghardt (s. o.) darin zuzustimmen ist, Morgan wende sich mit seinem Canon vor allem gegen anthropomorphe Schlüsse in der Tierpsychologie.37 Allerdings gilt es sich zu vergegenwärtigen, um was für einen Einwand gegen anthropomorphe Deutungen es sich bei Morgan handelt. Unserer Ansicht nach lassen sich anhand von Morgans Ausführungen zwei Formen des 36 C. L. Morgan, Animal Intelligence, S. 182. 37 Als Anthropomorphismus wurde ursprünglich derjenige Komplex von Aussa gen und Vorstellungen bezeichnet, der das Göttliche in Analogie zum Mensch lichen bestimmt. Die Kritik an der Vermenschlichung hat ihren ideengeschicht lichen Ursprung bereist in der vorchristlichen Antike. Das bekannteste Aperçu aus der Antike stammt von dem Vorsokratiker Xenophanes: „Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte“ (Xenophanes, Frag. DK 21 B 15, nach H. Diels, W. Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. verb. Aufl., Zürich u. a. 1951). Die Kritik an der inadäquaten Vermenschlichung des Göttlichen ist immer auch mit der Frage verbunden wie eine adäquate – nicht vermenschlichende – Vorstel lung des Göttlichen epistemisch begründet werden könnte. In diesem Sinne ist auch in der Tierforschung der Vorwurf oder Verdacht des Anthropomorphismus als Kritik an der Vermenschlichung des Tierlichen zugleich mit der epistemolo gischen Frage verbunden wie und ob eine nicht-anthropomorphe Perspektive auf das tierliche geworfen werden könnte.
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Anthropomorphismus unterscheiden: Zum einen, ein naiver anthropomorpher Trugschluss, der ohne naturwissenschaftliche Absicherung auf Basis des Alltagsverständnisses tierliche Vermögen und Leistungen vermenschlicht und gegen den Morgan in der Gestalt der anekdotenhaften Naturgeschichtsschreibung Stellung bezieht. Zum anderen ein epistemischer Anthropomorphismus, der davon ausgeht, dass die Ausgangsbasis für jegliche Schlüsse auf die Psyche von Tieren eine menschliche Erfahrung ist und auch sein muss, und dessen prinzipielle Unhintergehbarkeit er für die Theorie und Praxis der Tierpsychologie zu berücksichtigen versucht. Wie diese reflexive Wende methodisch eingeführt wird, soll im Folgenden beleuchtet werden. Ausgangpunkt für den epistemischen Anthropomorphismus Morgans ist seine Überzeugung, dass sich das Fremdpsychische stets nur vermittelt erforschen lässt. Wenn auch in unterschiedlicher Art gilt dies sowohl für die Erfassung der Psyche eines Tieres, als auch für die eines anderen Menschen. Gleichwohl ist das Fremdpsychische beim Menschen durch einen gemeinsamen Sprachgebrauch leichter zu erfassen. Doch bereits hier erkennt Morgan eine erste Schwierigkeit: So ist unser Zugang doch stets durch unseren eigenen Kulturkreis – der Mediziner und Wissenschaftsphilosoph Ludwik Fleck würde von einem „Denkstil“ sprechen38 – geprägt: „[T]he difficulty is due to the fact, that the only mind with which we can claim any first-hand acquaintance is the civilised mind, that of which we are conscious within ourselves.“39 Bezogen auf andere kulturelle Zusammenhänge bedeutet dieses, dass auch hier jede Deutung des Psychischen durch den jeweils eigenen kulturellen Rahmen kodiert sei. Eine ähnliche, nun nicht mehr kulturelle, sondern vielmehr anthropomorphe Kodierung, erfolge auch bei dem Versuch einer Deutung der Psyche von Tieren. Während sich Verständigungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Kulturen bei Menschen im besten Fall durch Sprache überbrücken ließen, sei es die nicht vorhandene, oder schwächer formuliert, nicht für Menschen verständliche Sprache der Tiere, welche eine besondere methodische Disziplinierung in der Erforschung der Psyche erfor-
38 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Ein führung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt 1980, S. 52-70. 39 C. L. Morgan, An Introduction, S. 42.
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dere.40 Diese methodische Disziplinierung führt Morgan in einer zweistufigen Argumentation einerseits als „hypothesis of scientific monism“41 und andererseits als Methodik eines „doubly inductive process“42 ein. a) Hypothesis of Scientific Monism Morgans Absicht in An Introduction ist es, „to discuss the relation of psychology of man to that of the higher animals.“43 Da ihm dabei der unmittelbare Zugriff auf das Fremdpsychische des Tieres epistemisch versperrt ist, bildet die Frage nach dem „place of consciousness in nature, the relation of psychical evolution to physical and biological evolution“44 den Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Diesem stellt Morgan jedoch zunächst metaphysische Vorannahmen voran, welche eine empirische Forschung, so wie er sie zu etablieren versucht, überhaupt erst erlauben und die er gegen Einwände von möglichen Kritikern bekräftigt: „I do not think that the metaphysics of the subject can be avoided in any such inquiry.“45 Mit der Disziplinierungshypothese eines metaphysisch begründeten „scientific monism“ versucht Morgan die für die moderne Weltanschauung ebenso paradigmatische wie umstrittene Dichotomisierung der Welt in res extensa und res cogitans, monistisch zu versöhnen. Für Morgan handelt es sich bei der dichotomen Annahme zweier substantiell getrennter Bereiche von Physis und Psyche lediglich um das Produkt einer analytischen Trennung, welche in dieser Form weder in der biologisch-einzelwissenschaftlichen, noch in der lebensweltlichen Erfahrung der Natur bzw. des Lebendigen eine Legitimation findet. Daher lehnt er sowohl die Vorstellung ab, „that mind is a separabel existence, sui generis, forming no part of the natural world“,46 als auch diejenige, dass einer der beiden Bereiche dem jeweils anderen determinierend zugrunde liege.47
40 41 42 43 44 45 46 47
Ebd., S. 45 ff. Ebd., S. 36. Ebd., S. 47. Ebd., S. ix. Ebd. Ebd., S. 376. Ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 8.
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Unter Berücksichtigung der Eigenschaften von organischen Lebewesen, den Bedingungen praktischer Lebensvollzüge und in Anbetracht der Evolutionstheorie handele es sich bei Physis und Psyche um zwei verschiedene Aspekte einer einheitlichen „natural existence“.48 Der eingenommene Blickwinkel für diese monistische Einsicht ist die praktische Lebenserfahrung: „The organism in practical experience is the starting-point; […] it is one and indivisible, though it has different aspects, which may be distinguished in analytic thought; and […] these aspects are strictly co-ordinate – neither is before the other.“49 Angesichts der Tatsache, dass Morgan die einheitliche Erfahrung des praktischen oder natürlichen Lebensvollzuges als monistischen Einheitspunkt gegen den formalen Dualismus eines physischen und eines psychischen Seinsbereichs setzt, wird ersichtlich, wie zweifelhaft es ist, ihn als reduktionistischen Mechanisten darzustellen. Aus der monistischen Perspektive Morgans stehen Physis und Psyche vielmehr als symmetrische aber eigenständige Aspekte eines Lebensvollzuges zueinander. An keiner Stelle seiner Überlegungen ist die Rede davon, dass mentale Phänomene sich auf materielle, physiologische Phänomene reduzieren ließen. Allerdings muss Morgans Vorschlag dennoch in einer bestimmten Hinsicht unbefriedigend bleiben, da die Erfahrung des praktischen Lebensvollzuges, auf die sich sein monistisches Programm stützt, allein Aufschluss darüber gibt, dass sich das Mentale und das Physiologische in einem symmetrischen Verhältnis zueinander befinden. Die Schwierigkeit von Morgans Auffassung liegt dann darin, dass die Frage, wie Mentales und Physiologisches in diesem Verhältnis als zwei Aspekte eines einheitlichen Geschehens aufeinander bezogen sind, damit sie als Ausdruck des einen, natürlichen Lebensvollzuges erfahren werden können, nicht weiter beachtet wird.50 Diese Ausblendung ist für Morgans Anliegen allerdings nicht weiter problematisch, da ihm der Erfahrungsmonismus als hinreichend sicherer metaphysischer Ausgangspunkt gilt, von dem aus die empirischen Untersuchungen der komparativen Psychologie
48 Ebd., S. 4 f. 49 Ebd., S. 8. 50 „It is clear that, as a matter of psychological interpretation, the differences be tween these two solutions [Parallelismus und Monismus] […], are not worth quarrelling about, however important they may be as a matter of general phi losophy.“ (Ebd., S. 30.)
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unternommen werden können: „Empirically, that is as far as we are justified in going. Empirically we must just accept this continuous and progressive synthesis as the ultimate conclusion of science.“51 Vor dem Hintergrund dieser metaphysischen Vorüberlegungen lässt sich sowohl für die Interpretation von Morgans Überlegungen in Animal Intelligence als auch in An Introduction, von der Annahme eines Monismus von Physis und Psyche als Ausgangspunkt für alle Detailuntersuchungen ausgehen. Dieses berücksichtigend ist der Ansatz mit welchem Morgan operiert, als metaphysisch begründeter, auf methodische Praktikabilität abzielender und empirisch umzusetzender psychophysischer Parallelismus zu begreifen. Für diesen beansprucht Morgan nicht nur hinsichtlich des einzelnen Lebewesens, sondern auch für die Evolutionsgeschichte Geltung: „On the hypothesis of scientific monism [...] we are logically bound to regard psychological evolution as strictly co-ordinate with biological evolution.“52 Morgans Verweis auf und seine Auseinandersetzung mit metaphysischen Fragen könnten aus der Perspektive gegenwärtiger (sich zumeist als metaphysikfrei verstehender) naturwissenschaftlicher Forschung einerseits Befremden auslösen, sie könnten aber andererseits auch als historisch erklärliche Schwäche ignoriert und deren Eingeständnis als Akt wissenschaftlicher Redlichkeit anerkannt werden. Allerdings sollte man sich vergegenwärtigen, dass das Verhältnis von Physis und Psyche auch in der Gegenwart zu den am meisten umstrittenen Problemfeldern innerhalb der Geistes- und Naturwissenschaften zählt. Keineswegs kann man sich diesbezüglich heute auf ein gesichertes Terrain rein naturwissenschaftlichen Faktenwissens zurückziehen. Immer sind weltbildhafte Vorannahmen, die man mit gutem Recht als metaphysische Überzeugungen bezeichnen könnte, mit im Spiel.53 Da dieses Verhältnis scheinbar nicht abschließend experimentell bestimmt ist (und möglicherweise auch nicht werden kann), sollte der Stellenwert von Morgans metaphysischen Vorannahmen weder unter historischem Blickwinkel noch unter dem Aktualitätsgesichtspunkt unterschätzt werden. Für 51 Ebd., S. 9. 52 Ebd., S. 37. 53 Stichworthaft seien etwa „Denkstil“ und „Denkkollektiv“ (L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 52-70), „Disciplinary Ma trix“ (T. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 2. Aufl. Chicago 1970, S. 181-192) und „Epistemic Virtues“ (L. Daston, P. Galison, Objectivity, New York 2007, S. 39-42) genannt.
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die Frage Morgans nach der Möglichkeit eines methodisch gesicherten Zugangs zum Fremdpsychischen sind diese Vorüberlegungen konstitutiv.54 Dies gilt insbesondere deshalb, weil sowohl für die Argumentation Morgans als auch für vergleichbare gegenwärtige Forschungsrichtungen mit der Monismus-Hypothese und dem sich daran anschließenden psychophysischen Parallelismus, eine allein metaphysisch darzulegende Begründungsstruktur geschaffen ist, an welcher die empirische Forschung der komparativen Psychologie allererst ansetzen kann. Erst die Einnahme dieses Standpunktes erlaubt es, von den beobachtbaren, physischen Verhaltensäußerungen auf das mentale Vermögen von Tieren zu schließen. Denn allein vor diesem Hintergrund werden Menschen und Tiere für die komparativen Zwecke der vergleichenden Psychologie überhaupt erst zugänglich, da sie im Rahmen des Parallelismus sowie der von Morgan unterstützten evolutionären Kontinuitätsthese als Produkte derselben evolutionären Entwicklung verstanden werden können, was nach Morgan erlaubt, auch vergleichbare Beziehungen zwischen Psyche und Physis anzunehmen. An den metaphysischen Vorüberlegungen Morgans lässt sich demnach sein grundsätzliches Problembewusstsein für das Forschungsanliegen einer komparativen Psychologie ablesen. Durch diese Vorüberlegungen werden jedoch seine epistemischen Bedenken gegenüber dem Problem des Fremdpsychischen noch nicht ausgeräumt. Mit Verweis auf den psychophysischen Parallelismus bringt Morgan es allerdings in eine methodisch handhabbare Form. Erst unter dieser Voraussetzung kann Morgan pragmatisch behaupten, die tierliche Psyche sei „not beyond our reach, but is attainable through physiological research.“55 b) Doubly Inductive Process Durch die Annahme des psychophysischen Parallelismus verändert sich die epistemisch problematische Situation des Zugriffs auf das Fremdpsychische der Tiere jedoch nicht. Die Ausdeutung der men54 Vgl. hierzu auch Ernst Cassirer: „The interpretation of the experimental facts [...] always depends on certain fundamental concepts which have to be clarified before the empirical material can bear its fruit.“ sowie „The facts of science always imply a theoretical, which means a symbolic, element.“ (E. Cassirer, An Essay on Man (1944), New Haven, London 1992, S. 28 und S. 59.) 55 C. L. Morgan, An Introduction, S. 38.
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talen Vermögen von Tieren kann weiter nur vermittels des „only mind we can study at first-hand and directly, namely our own“56 erfolgen und bleibt somit notwendig anthropomorph. Wie oben bereits angedeutet ist Morgan allerdings kein naiver Anthropomorphist. Gerade im Unterschied zu der von ihm kritisierten Naturgeschichtsschreibung, ist es jedoch Morgans Ziel, Anthropomorphismen nicht unkritisch zu verwenden und zugleich anzuerkennen, dass eine bestimmte Form von Anthropomorphismen in der Deutung des Fremdpsychischen epistemisch unhintergehbar bleibt. Wiederholt hält er daher fest: „For we cannot get at [their] mind directly; our inferences must always be, for better for worse, in terms of our own mental processes.“57 Der Parallelismus zeigt allerdings an, dass Aussagen über mentale Vermögen von Tieren möglich sind, wenngleich diese immer anthropomorphe Züge tragen werden. Morgan wird es demnach durch die Annahme eines Parallelismus möglich, ein methodisch transparentes und damit gesichertes Verfahren einzuführen, welches erlaubt, von der Physis auf die Psyche zu schließen. Dieses methodische Verfahren stellt Morgan als zweistufiges, induktives Verfahren vor. Für diese doppelte Induktion setzt er sowohl Kenntnisse der Humanpsychologie als auch Kenntnisse über die physiologischen Verhaltensweisen der Tiere voraus: „Our conclusions concerning the mental processes of beings other than our own individual selves are, I repeat, based on a twofold induction. First the psychologist has to reach, through induction, the laws of mind as revealed to him in his own conscious experience. Here the facts to be studied are facts of consciousness, known at first-hand to him alone among mortals. [...] The [second] is more objective. The facts to be observed are external phenomena, physical occurrences in the objective world. [...] Both inductions, subjective and objective, are necessary. Neither can be omitted without renouncing the scientific method. […] The inductions reached by the one method have to be explained in the light of inductions reached by the other method.“58 Um auf das Fremdpsychische zu schließen, ist es demzufolge nötig, in einem ersten Schritt durch Introspektion die Gesetzmäßigkeiten der eigenen (menschlichen) Psyche zu erforschen, um auf 56 Ebd., S. 44. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 47 ff.
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deren Grundlage in einem zweiten Schritt physiologische Verhaltensäußerungen hinsichtlich ihrer psychischen Hintergründe zu erklären. Durch die bloße Feststellung der Unhintergehbarkeit dieses anthropomorphen Blickwinkels will Morgan jedoch nicht jeder noch so abwegigen Interpretation Tür und Tor geöffnet wissen. Gerade in Animal Intelligence verweist er mehrfach auf die mit seinem Ansatz nicht gänzlich aus dem Weg geräumten Probleme. Neben der Triangulation von beobachtbarem Verhalten und introspektiver Einsicht mittels der gerade dargestellten doppelten Induktion, hebt er eine Art intersubjektive Verifikation hervor, bei welcher durch den Austausch der je individuellen Introspektionsergebnisse innerhalb einer Gemeinschaft von Forschenden, „individual peculiarities […] gradually eliminated“59 werden sollen. Ergänzend hebt er an vielen Stellen hervor, dass die Introspektion als Methode kritisch und vor allem sparsam („sparingly“) angewendet werden solle.60 Da Morgan letztlich keine andere Möglichkeit zur Erforschung des Fremdpsychischen jenseits der Kategorien des je eigenen psychischen Vermögens sieht, formuliert er schließlich als Gebot der Vorsicht bei der praktischen Anwendung des methodologischen Verfahrens der doppelten Induktion in der komparativen Psychologie, seinen Canon: „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale.“61
59 C. L. Morgan, Animal intelligence, S. 176. 60 Hier allein fällt der Begriff ‚sparsam‘ explizit bei Morgan, wobei hervorzuheben ist, dass er sich damit auf die Anwendung der Methode und nicht auf die mentalen Fähigkeiten der Tiere bezieht. „I venture to suggest that we should only make use of ejective inferences in so far as they may aid us in the scientific study of the habits and activities of animals. We cannot get on without occasional reference to motives and underlying mental states. But let us use them as sparingly as possible, remembering the inherently untrustworthy nature of our inferences“ (ebd., S. 180); „I should therefore advocate the most sparing use of the psychical element consistent with an adequate study of habits and activities“ (ebd., S. 181); „Let us, therefore, I repeat, stick to the objective study of habits and activities, reflex, instinctive and intelligent, making use of ejective inferences as sparingly as possible“ (ebd., S. 182). 61 C. L. Morgan, An Introduction, S. 53.
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3. Morgan’s Canon und seine Relevanz Auf der Grundlage unserer kontextuellen Lektüre wird ersichtlich, dass Morgans Anliegen darin besteht, die komparative Psychologie auf einer methodisch gesicherten Grundlage von der anekdotenhaften Naturgeschichtsschreibung abzugrenzen. Unserer Ansicht nach gilt es dabei Morgans Frage nach den Bedingungen der Erforschbarkeit des Fremdpsychischen von Tieren innerhalb der komparativen Psychologie zu würdigen. Seine diesbezüglichen Vorüberlegungen müssen als notwendiger Bestandteil eines Forschungsprogramms anerkannt werden, welches durch die Verbindung von humanpsychologischen Erkenntnissen und Methodologien einerseits, sowie ethologischen Beobachtungsmethoden andererseits, einen Vergleich von tierlichen und menschlichen kognitiven Fähigkeiten erlaubt. In der bisherigen Debatte um eine angemessene Deutung und um die aktuelle wissenschaftliche Relevanz des Canons, werden allerdings weder das Forschungsprogramm noch die darin implizierten Fragestellungen, innerhalb deren der Canon situiert ist, thematisiert. Damit bleibt aber auch die Möglichkeit ungenutzt, sich historisch kritisch mit den Anfängen der komparativen Psychologie und angrenzender Forschungsrichtungen auseinander zu setzen. Durch die Verengung der Debatte auf die Auslegung des Canons als isolierten Regelsatz der Sparsamkeit, Einfachheit oder des Anti-Anthropomorphismus, geraten die der empirischen Forschung immer schon implizit vorangehenden grundsätzlichen Fragen Morgans, nach dem Zugang zum Fremdpsychischen, dem epistemischen Standpunkt der Forschenden oder nach der Bestimmung des Verhältnisses von Physis und Psyche zwangsläufig aus dem Blick. Wird der Canon, wie etwa von Silverman, Mitchell, Davis und anderen, unter Ausschluss seiner kontextuellen Bezüge abgehandelt, so ist eine Deutung als Verdikt der Sparsamkeit und/oder Einfachheit62 einerseits durchaus plausibel, wird aber andererseits dem Forschungsprogramm Morgans nicht gerecht. Morgan spricht der unbedingten Forderung nach Einfachheit in der Erforschung
62 Wir verzichten hier auf eine Auseinandersetzung mit den von Bekoff und Allen repräsentativ für andere Autoren gemachten Vorschlägen, die Begriffe ‚Einfach heit‘ und ‚Sparsamkeit‘ anhand unterschiedlicher Ansätze zur Quantifizierung von Gehirnprozessen zu differenzieren. Für eine weiterführende Diskussion die ser Überlegungen vgl. etwa E. Sober, „Morgan’s Canon“, in: C. Allen, D. Cum mins (Hrsg.), The Evolution of Mind, New York 1998, S. 224-242, hier S. 230 f.
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mentaler Vermögen von Tieren sogar explizit die Wirkmächtigkeit ab, denn „[…] the simplicity of an explanation is no necessary criterion of its truth.“63 Darüber hinaus ist für ihn in der Frage nach den mentalen Fähigkeiten von Tieren gar nicht kenntlich, was das Kriterium für die Einfachheit einer Erklärung ist: „Is it not simpler to explain the higher activities of animals as the direct outcome of reason or intellectual thought, than to explain them as the complex results of mere intelligence or practical sense-experience?“64 Ganz allgemein betrachtet hat Morgen mit dem Canon allerdings durchaus eine Richtlinie aufgestellt, welche im Sinne des ihm gemeinhin zugeschriebenen Sparsamkeitsprinzips dazu anhält, allein auf der Grundlage merkmalsadäquater Deutungen Aussagen über das Fremdpsychische des Tieres vorzunehmen. Unter Einbeziehung der kontextuellen Bezüge wird allerdings offenkundig, dass Morgans Forderung nach einer merkmalsadäquaten Deutung es nicht rechtfertigt, die Forderungen des Canons als vermeintlich banales Sparsamkeitsprinzip aufzufassen. Im Gegenteil gilt es diese Auffassung aus historisch-kritischer Perspektive als Bestandteil des unhinterfragten, aber dennoch selbstverständlichen Wissensreservoirs der komparativen Psychologie und Ethologie zu problematisieren. Die Problematik der Deutung des Canons als bloße Variante des Sparsamkeitsprinzip liegt in einer zweifachen Komplexitätsreduzierung: 1.) Unterschlägt die Identifizierung des Canon als Regel der Sparsamkeit die mehrfach hervorgehobenen kritischen Vorüberlegungen Morgans bzgl. der Erfassbarkeit der mentalen Fähigkeiten von Tieren, auf deren Grundlage der Canon erst als Maxime für die praktische Arbeit der Forschenden formuliert wird. Und damit steht der Canon als Sparsamkeitsprinzip 2.), stets in der Gefahr, dass die epistemisch-methodologische Herausforderung, auf die Morgan mit dem Canon reagierte in eine quasi-ontologische Aussage zu den mentalen Vermögen von Tieren – im Sinne des von de Waal benannten „Anthropodenials“65 – überführt wird. Wie wir dagegen im Rekurs auf die metaphysischen Vorüberlegungen Morgans zeigen konnten, richtet sich die Skepsis, aufgrund der Morgan merk-
63 C. L. Morgan, An Introduction, S. 54. 64 Ebd. 65 F. de Waal, „Are we in Anthropodenial?“, in: Discover, 18(7)/1997, S. 50-53, sowie F. de Waal, „Anthropomorphism and Anthropodenial: Consistency in our Thinking about Humans and other Animals“, in: Philosophical Topics, 27(1)/1999, S. 255-280.
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malsadäquate Deutungen bei der Untersuchung des Fremdpsychischen von Tieren fordert, nicht gegen die Annahme, dass Tiere und Menschen über vergleichbare mentale Vermögen verfügen. Sie zielt vielmehr auf die Einsicht, dass für die Methodologie der komparativen Psychologie ein introspektives Vorgehen unerlässlich ist, die Forschenden aber dann vor der Herausforderung stehen, nicht in einen naiven Anthropomorphismus zu verfallen. Unserer Ansicht nach ist die zentrale Einsicht von Morgans Forschungsprogramm, dass die Deutung der mentalen Vermögen von Tieren nicht ohne Introspektion und damit auch nicht ohne gewisse anthropomorphe Anteile vollzogen werden kann. Gerade mit dieser Einsicht bleibt Morgans Überlegung für gegenwärtige Fragen der komparativen Psychologie und der sich hier angrenzenden Disziplinen interessant.66 Unter Rücksicht auf den Kontext des Forschungsprogrammes muss der Canon als die Disziplinierung von naiv anthropomorphen Aussagen über das psychische Vermögen von Tieren verstanden werden. Historisch spielt der Canon daher zur Abwehr von Anthropomorphismen dieser Art eine entscheidende Rolle, wie auch Knoll in ihrer Darstellung des Canons hervorgehoben hat. Dass Mitchell und Knoll in diesem Zusammenhang behaupten, Morgan habe mit dem Canon eine strikt anti-anthropomorphe Richtlinie aufgestellt, erklärt sich wiederum nur dann, wenn man auf den Kontext verzichtet. Während eine strikt anti-anthropomorphe Lesart des Canons zumindest hypothetisch davon ausgehen müsste, dass sich das Problem des Fremdpsychischen durch den Canon gelöst habe, zeigt 66 Dafür, dass anthropomorphe Annahmen einen Zugewinn für die Forschung der Ethologie bedeuten können, insofern diese methodologisch reflektiert erfolgten, argumentiert Wild in seiner vielbeachteten Einführung in die Tierphilosophie. Seiner Ansicht nach ließen sich „anthropomorphistische Zuschreibungen […] als Instrumente auffassen, die es erlauben, Fragen an das Tierverhalten zu stellen und im Anschluss daran Differenzierungen vorzunehmen“ (M. Wild, Tierphilo sophie, Hamburg 2008, S. 72). Für ihn gilt es dabei unbedingt zu berücksichtigen, dass es sich um anthropomorphe Annahmen handelt. Daher sei ihm zufolge als Grundregel für einen reflektierten und methodisch kontrollierten Anthropo morphismus zu beachten, dass „alternative Erklärungen“ (ebd.) eines Verhal tens zumindest denkbar sind und dass die anthropomorphe Annahme allein ein „Instrument“ darstellt, um Hypothesen zu formulieren. „Ein Anthropomor phismus muss also kritisch sein, d. h. genauer, er muss reflektiert und investiga tiv sein. Andernfalls ist er naiv“ (ebd., S. 73). Während Morgan davon ausgeht, dass ein Anthropomorphismus in der Erforschung der mentalen Vermögen von Tieren prinzipiell unvermeidbar ist, bleibt in Wilds ‚Anthropomorphismus als Methode‘ allerdings offen, ob dieser vermeidbar ist.
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sich bei Rücksicht auf die kontextuellen Bezüge des Canons, dass Morgan keinesfalls einen epistemischen Nullpunkt der komparativen Psychologie behauptet. Er geht vielmehr von einem reflektiert epistemischen Anthropomorphismus aus, welcher allein der kontrollierten Einhegung anthropomorpher Vorurteile bei der Postulierung mentaler Vermögen von Tieren dient. Durch die kontextuelle Lektüre von Morgans Arbeit scheint es uns geboten, den Canon als Maxime komparativer Forschung zu lesen: Wer sich mit den psychischen Vermögen von Tieren wissenschaftlich auseinandersetzen möchte, muss auf den eigenen epistemischen Standpunkt reflektieren, da dieser die Grenzen bestimmt, in welchen die Vermögen von Tieren überhaupt in den Blick zu bekommen sind.
4. Die ‚Fairly-Variante‘ des Canon Unserer Ansicht nach lässt sich allein mit Rücksicht auf dieses Verständnis, die nur wenige Seiten nach der bisher betrachteten Canon-Formulierung verfasste und von Morgan leicht veränderte Variante verstehen, mit welcher er das Kapitel „Other Minds than Ours“ abschließt: „In no case is an animal activity to be interpreted as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be fairly interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale.“67 In der Debatte um die Deutung und Relevanz des Canons wird diese Formulierungsvariante unseres Wissens nach vollkommen ignoriert.68 Unter kontextuellen Vorzeichen stellt sich jedoch die 67 C. L. Morgan, An Introduction, S. 59. (Hervorhebung C. H., M. B.) 68 Einige Autoren (R. K. Thomas, Lloyd Morgan’s Canon: A History of Misrepre sentation; J. L. Bermudez, Thinking without Words, New York 2003, S. 6; M. Wild, Die anthropologische Differenz: Der Geist der Tiere in der Frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin 2006, S. 190; T. Starzak, Kognition bei Menschen und Tieren, S. 15) diskutieren eine weitere Formulierungsva riante des Canon aus der Revised Edition von 1903, in welcher das Wort ‚fairly‘ ebenfalls verwendet wird: „In no case is an animal activity to be interpreted in terms of higher psychological processes, if it can be fairly interpreted in terms of processes which stand lower in the scale of psychological evolution and deve lopment.“ (C. L. Morgan, An Introduction to Comparative Psychology. Revised Edition, London 1903, S. 59.) Alle genannten Autoren berücksichtigen in ihrer
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Frage, mit welcher Intention Morgan in diese Formulierung das Wort ‚fairly‘ eingefügt haben könnte – er selbst kommentiert diese Ergänzung nicht. Eine mögliche Lesart lässt die ‚Fairly-Variante‘ in die Nähe der Auslegung von Byrne rücken: Wir erinnern uns, dem Canon entnimmt dieser den methodischen Hinweis, jene Erklärung zu bevorzugen, die vor einem bestimmten Hintergrundwissen, bestimmter Vorannahmen bzw. – wie sich zusammenfassend sagen ließe – einer dies alles umfassenden „Verstehensumgebung“69 plausibler erscheint. Es ginge in diesem Sinn nicht mehr darum, um jeden Preis die geringstmögliche mentale Fähigkeit anzunehmen – oder im Sinne Silvermans gar eine nicht-mentale Fähigkeit –, sondern bei seiner Auswahl muss die Erklärung bevorzugt werden, die den in Frage kommenden Tieren möglichst ‚angemessene‘ Fähigkeiten zuschreibt. Gemessen etwa an all dem, was wir über die Lebenswelt eines bestimmten Tieres wissen (können). In diesem Sinne ließe sich mit Byrne jeweils fragen, ob es tatsächlich angemessen ist, eine geringere mentale Fähigkeit als Erklärung für ein Verhalten anzunehmen, wenn eben das Verhalten unter Rückgriff auf eine höhere mentale Fähigkeit plausibler vor dem Hintergrund einer bestimmten Verstehensumgebung erklärbar wäre. Freilich wäre hiermit weiterhin nicht geklärt, was genau unter „höheren“ und „niedrigeren“ mentalen Fähigkeiten zu verstehen sei, wie es Bekoff und Allen angemerkt haben (s. o.). Im Gegensatz zu dieser Deutungsvariante möchten wir jedoch die Canon-Diskussion mittelst einer anderen Lesart der FairlyVariante um eine Kontroverse erweitern, welche sich aus unserer Lektüre ergibt. Versteht man ‚fairly‘ im oben genannten Sinne als ‚angemessen‘,70 dann macht diese Variante auf den von uns hervorAuseinandersetzung jedoch nicht die im Folgenden für uns relevante Ergänzung des Canon um das Wort ‚fairly‘, sondern beziehen sich ausschließlich auf die Reformulierung „scale of psychological evolution and development“ anstelle der „higher and lower faculties“, die Morgans Nähe zu einer evolutionstheoreti schen Perspektive hervorhebt, und unsere Darstellung des monistischen Paral lelismus stützt. 69 Vgl. M. Böhnert, P. Reszke, „Linguistisch-philosophische Untersuchungen zu Plausibilität. Über kommunikative Grundmuster bei der Entstehung von wis senschaftlichen Tatsachen“, in: J. Engelschalt, A. Maibaum (Hrsg.), Auf der Suche nach den Tatsachen: Proceedings der 1. Tagung des Nachwuchsnetz werks „INSIST“, Berlin 2015, S. 40-67, hier S. 49, (http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0168-ssoar-455901), zuletzt abgerufen am 07.12.2015. 70 Das Oxford English Dictionary unterstreicht diese Annahme, wenn dort ‚fairly‘ im Sinne von „in a fair manner, so as to be fair“ und „in a proper or suitable
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gehobenen Aspekt aufmerksam, dass der Canon als eine solche Maxime komparativer Forschung zu lesen ist, welche an die Grenzen des eigenen epistemischen Standpunkts erinnert. Hinsichtlich dieser Grenzziehungsintention handelte es sich um eine im kantischen Sinne kritische Maxime. Der Canon würde dann die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erforschung von mentalen Vermögen bei Tieren betonen und diesbezüglich spekulative (naive) Anthropomorphismen von empiriefundierten (wissenschaftlichen) Anthropomorphismen separieren. Dabei bleibt diese Bestimmung – wie bei Kant – auf die Bedingungen menschlicher Erkenntnis bezogen. Weil Menschen nach Morgan stets unmittelbares Wissen nur über die eigenen psychischen Vermögen haben können, über entsprechende Vermögen bei Tieren jedoch stets nur mittelbar etwas wissen, lässt sich das mentale Vermögen von Tieren allenfalls ‚angemessen‘ interpretieren, niemals jedoch ‚vollumfänglich‘. Dass die Erforschung der phänomenalen Welt lediglich annäherungsweise und dem jeweiligen Forschungsparadigma entsprechend ‚angemessen‘ erfasst werden kann und dabei, wie Morgan schreibt, auf den jeweiligen „present state of science“71 verwiesen ist, bildet auch das Selbstverständnis moderner Wissenschaft ab. Da Forschungsergebnisse immer im Licht des aktuellen Kenntnisstandes über das zu untersuchenden Phänomen, der jeweils zugrunde liegenden disziplinären Theorien und Denkstile und nicht zuletzt auch der aktuellen technischen Möglichkeiten der Beobachtung verstanden werden müssen,72 scheint es trivial daran zu erinnern, dass zwischen angemessener und vollumfänglicher Gegenstandsbeschreibung ein wesentlicher Unterschied liegt. Gleichfalls liegt es bereits in der paradoxen Debattenlage um den Stellenwert von Morgan’s Canon als zwar umstrittene, aber dennoch selbstverständlich zur Anwendung zu bringende Regel begründet, dass sich Forschung generell darüber Rechenschaft ablegen muss, vor welchem historischen Kontext, unter welcher ideellen Rahmung des
manner“ verwendet wird. (Vgl. Oxford English Dictionary online, Lemma „fairly“, (http://www.oed.com/view/Entry/67727?), zuletzt abgerufen am 07.12.2015.) 71 C. L. Morgan, Animal Intelligence, S. 181. 72 Vgl. hierzu auch die von Karl Popper in seiner Logik der Forschung hervor gehobene Auffassung, „daß Beobachtungen und erst Recht Sätze über Beob achtungen und Versuchsergebnisse immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und daß sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind.“ (K. Popper, Logik der Forschung (1934), 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 72, Fußnote *2.)
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zu erforschenden Phänomens und mit welchem Wissenschaftsideal oder welchen epistemischen Tugenden sie vollzogen wird. In diesem Sinne ist das Problem, auf das die Betonung der Fairly-Variante aufmerksam macht, keineswegs nebensächlich. Vielmehr gilt es im Rückgang auf unsere Lektüre zu betonen, dass es einen grundlegenden Unterschied darstellt, ob man davon ausgeht, dass die Erforschung der mentalen Vermögen von Tieren allein annäherungsweise erfolgen kann oder aber ob man hervorhebt, dass es dem Forschenden unabhängig von den spezifischen methodologischen Verfahren prinzipiell unmöglich ist, die mentalen Vermögen von Tieren vollumfänglich zu repräsentieren. Diese Unterscheidung ist deshalb von Bedeutung, da es unter der Prämisse einer nicht nur (verfahrens-, methoden-, kontext-, etc.) relativen, sondern absolu ten Unmöglichkeit der vollumfänglichen Repräsentation tierlicher Psyche möglich wird, den progressiven Blick der Forschenden weg von der Weiterentwicklung technischer Möglichkeiten und dem Justieren empirisch-methodischer Versuchsaufbauten und hin zum Untersuchungsgegenstand selbst zu lenken. Die Fairly-Variante des Canons erlaubt es unserer Ansicht nach festzuhalten, dass es zwar analytisch (formal) möglich sein kann, zwischen Psyche und Physis zu unterscheiden, und die Psyche mit Blick auf physisches Geschehen angemessen und annäherungsweise zu erforschen, das erforschte Lebewesen allerdings in seinem Lebensvollzug und seiner konkreten Lebenserfahrung dennoch unzertrennlich bei sich bleibt.73
73 In seinem bekannten Aufsatz „What is it like to be a bat?“ kommt Thomas Nagel hinsichtlich der Vollumfänglichkeit der Erfassung des Fremdpsychischen zu einem vergleichbaren Schluss: „If extrapolation from our own case is involved in the idea of what it is like to be a bat, the extrapolation must be incompletable. We cannot form more than a schematic conception of what it is like. For example, we may ascribe general types of experience on the basis of the animal‘s structure and behavior.“ (T. Nagel, „What is it to be like a bat?“, in: The Philosophical Review, 83(4)/1974, S. 435-450, hier S. 439.) Mit Donald Davidson muss hier jedoch grundsätzlich bedacht werden, dass allein deshalb, dass wir nicht – oder niemals – genau wissen können, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, noch nicht folgt, dass es für eine Fledermaus überhaupt eine solche Empfindung gibt. Ganz gleich wie vorsichtig wir eine de-re Beschreibung auch konstruieren, so kritisiert Davidson, „such constructions […] imply that there is some such description.“ (D. Davidson, „Rational Animals“, in: D. Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, S. 95-105, hier S. 98.)
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Resümee Morgan wird seit der Veröffentlichung von An Introduction bis in die aktuelle Gegenwart hinein kontinuierlich und kontrovers diskutiert.74 Seine Überlegungen haben dementsprechend nicht an Aktualität verloren. Dewsburys eingangs von uns erwähnte Feststellung, der Canon sei der vermutlich meist zitierte Satz in der Geschichte der komparativen Verhaltensforschung, ist eine Bestandsaufnahme, die vor diesem Hintergrund trotz ihres Superlativs beinahe wie ein Understatement wirkt. Insbesondere in den letzten Jahren lässt sich sogar eine Häufung der Diskussion um den Canon beobachten, welche sich in zahlreichen Veröffentlichungen aus den anwendungsorientierten Forschungsfeldern der Verhaltens- und Wohlbefindensforschung bis hin zu metareflektorischen Disziplinen wie der Tier- und Biophilosophie finden, wie es auch die von uns herangezogenen Veröffentlichungen von Allen-Hermanson, Fitzpatrick, Sober, Starzak, Thomas, Wild, etc. illustrieren. Während die anwendungsorientierten Forschungsfelder den Canon als quasi selbstverständliche Methodik der Sparsamkeit betrachten, fällt auf, dass er auch in der metatheoretischen Reflexionen, sowohl in den von uns skizzierten Sammelbandbeiträgen, als auch in den prominenten Aufsätzen jüngeren Datums, überwiegend jenseits seiner historischen und werkimmanenten Bezüge besprochen wird. Dadurch gliedert sich auch diese Debatte in die seit der Veröffentlichung verhandelte Diskussion um die Relevanz und den Aussagewert des Canons ein. Hiermit steht sie aber gleichzeitig in der paradoxen Situation, sich zwar mittels des Canons an die historischen Anfänge der komparativen Forschung zu wenden, dabei aber weder dessen wissenschaftshistorischen Stellenwert angemessen zu erfassen, noch auf die Relevanz von Morgans metaphysischen Vorannahmen für die komparative Forschung als Disziplin zu reflektieren. Erst bei Berücksichtigung der damaligen Debatte wird jedoch deutlich, dass Morgan die Anerkennung der Wissenschaftlichkeit einer komparativ verfahrenden Forschung auszufechten versuchte. Der Canon als Verfahrensmaxime innerhalb der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den disziplinären Möglichkeiten und Grenzen einer seinerzeit im Entstehen befindlichen Wissenschaft 74 Vgl. hierzu auch die historische Aufarbeitung in R. K. Thomas, Lloyd Morgan’s Canon: A History of Misrepresentation.
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stellt zwar einen zentralen Punkt des von Morgan angestrebten Paradigmenwechsels dar, doch der Streit über dessen isolierte Relevanz erscheint vor dem Kontext der ihn umgebenden wissenschaftstheoretischen und metaphysischen Reflexionen seinerseits kaum relevant. Stattdessen wird der Canon in der Debatte um seinen Aussagewert und seine Relevanz – unabhängig davon, ob dieser nun als Regelsatz des Anti-Anthropomorphismus, der Sparsamkeit oder der Einfachheit Anerkennung findet oder Zurückweisung erfährt –, zum Prüfstein, an dem stellvertretend die Methodik der komparativen Forschung ausgehandelt wird. Die Heterogenität der Auslegungen kann somit als ein Indiz dafür betrachtet werden, dass die komparative Erforschung der mentalen Vermögen von Tieren nicht nur ein vielschichtiges und lebendiges Forschungsfeld darstellt, sondern, dass ihr Forschungsanliegen darüber hinaus Probleme und Fragen aufwirft, aufgrund welcher die Forschungsgemeinde immer wieder dazu angehalten ist, die eigenen Methodologien, epistemischen Standpunkte, anthropomorphen Annahmen und Untersuchungssettings, kurz: Eine grundsätzliche Standortbestimmung des theoretischen und methodischen Vorgehens zu reflektieren. Aus metatheoretischer Perspektive stellt sich die Heterogenität der Auslegungen allerdings in der Summe immer auch als stets aktualisierte Aushandlung der bereits von Morgan angestrebten Überlegungen dar: Wie Morgan geht es auch den heutigen Autoren um die Möglichkeiten und Grenzen der komparativen Forschung in der Ethologie.75 Dies zeigt sich etwa wenn Fitzpatrick den Canon wegen seiner kaum vorhandenen Anwendbarkeit gänzlich ablehnt76 oder Sober einfordert, der Canon bedürfe lediglich einer aktualisierten Überarbeitung, und dieses Anliegen als Versuch einer elaborierteren Präzisierung dessen, was es heißen könnte, „höhere“ bzw. „niedrigere“ Fähigkeiten zu besitzen, umsetzt.77 Wild hingegen bezeichnet den Wert des Canons insgesamt als „zweifelhaft“78 und würde auch noch gegen Sobers Modifikation einwenden, hieraus folge weiter75 Einen fundierten Überblick über die Debatte um die Grenzen und Möglichkeiten komparativer Psychologie und damit über Anthropomorphismen und die Kritik an diesen bietet R. Mitchell, „Wie wir Tiere betrachten. Der Anthropomorphismus und seine Kritiker“, in: D. Brantz, C. Mauch (Hrsg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 341-363. 76 S. Fitzpatrick, „Doing Away with Morgan’s Canon“. 77 E. Sober, „Morgan’s Canon“. 78 M. Wild, Tierphilosophie, S. 25.
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hin lediglich, „dass mit guten Gründen höhere psychische Vermögen zugeschrieben werden können.“79 Wenn sich die Metadiskussion in diesem Sinne ausschließlich auf die Frage der Anwendbarkeit kapriziert – ob als Modifikation der Morganschen Versionen oder aber als deren gänzliche Zurückweisung – und dann zu dem Schluss gelangt, alles was es bedürfe, sei Empirie80 oder Evidentialismus,81 versäumt sie es unseres Erachtens, über die Bedingungen der Möglichkeit komparativer Forschung überhaupt zu reflektieren. Da es uns als eine Selbstverständlichkeit erscheint, dass komparative Forschung empirisch verläuft und auch verlaufen muss, muss die Metadiskussion in ihrer Reflexion auf die Methodologie dieser Forschung die Vorbedingungen des Empirischen ergründen: Die Erforschung des Empirischen weist nämlich im Ansatz über das Empirische hinaus, und baut, wie im Fall von Morgans psychophysischem Parallelismus, auf spezifischen Ontologien auf, durch welche der Rahmen des Erforschbaren immer schon notwendig prädeterminiert ist.82 Lässt man sich prinzipiell darauf ein, qua Verhaltensäußerungen etwas über die mentalen Fähigkeiten von Tieren aussagen zu wol79 Ebd. 80 E. Sober, „Comparative Psychology meets Evolutionary Biology. Morgan’s Can on and Cladistic Parsimony“, in: L. Daston, G. Mitman (Hrsg.), Thinking with Animals. New Perspectives on Anthropomorphism, New York 2005, S. 85-99, hier S. 97. 81 S. Fitzpatrick, „Doing Away with Morgan’s Canon“, S. 245. 82 Auf eine kulturrelative Vielfalt der Ontologien der Natur weist der Ethnolo ge Philippe Descola hin. Durch den von ihm geführten Nachweis einer Vielfalt divergierender Ontologien wird deutlich, dass sich jede als ausgezeichnet be hauptete Perspektive im Zugang zu Physis und Psyche des Anderen vor dem Hintergrund des je spezifischen, kulturellen Zusammenhangs relativieren lässt. Exemplarisch für eine solche Vielfalt der Ontologien der Natur und des Leben digen sind etwa die vier Verhältnisse zwischen Tieren und Menschen, welche Descola in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France nennt: „[A]ngesichts eines beliebigen Vogels [kann man] annehmen, dieser verfüge über Elemente der Physikalität und Interiorität, die mit meinen eigenen identisch sind, sich aber von denen unterscheiden, die mein Ehepartner oder Schwager mit einem anderen Vogel teilt, wie es die Nungar tun; oder ich kann annehmen, dass sich seine Physikalität und Interiorität zwar von der meinigen unterscheidet, aber nicht gravierend genug, um Analogieverhältnisse auszuschließen, wie es bei den Otomi der Fall ist; oder ich kann davon ausgehen, dass wir ähnliche Interioritä ten und heterogene Physikalitäten haben, wie es die Achuar postulieren; oder aber, dass unsere Interioritäten inkommensurabel, unsere Physikalitäten jedoch ähnlich sind, wie wir selbst es unterstellen.“ (P. Descola, „Wahlverwandtschaf ten. Antrittsvorlesung am Lehrstuhl für die ‚Anthropologie der Natur‘, Collège de France, 29. März 2001“, in: Mittelweg, 22(5)/2013, S. 4-26, hier S. 24.)
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len, so darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die in solchen Vorschlägen geäußerte Skepsis (bzw. Zuversicht) von der Ebene epistemischer Bedenken gegenüber dem Verfahren – und hier scheint sich die Debatte zu bewegen –, nicht einfach auf die Ebene quasi-ontologischer Faktengenerierung bzgl. der tatsächlichen mentalen Fähigkeiten von Tieren übertragen werden kann. In der Vorstellung, man könne sich ausschließlich auf empirische Daten oder Evidenz – was auch immer hiermit im Einzelnen gemeint ist – verlassen, wird im großen Rahmen zu berücksichtigen versäumt, dass hier längst implizit methodologische und metaphysische Vorannahmen getroffen wurden bzw. ein bestimmter Denkstil im Sinne Flecks verinnerlicht wurde, der den Aussagewert der Methodik mit dem Gegenstand selbst verwechselt.83 Eine so verfahrende wissenschaftliche Forschung kritisiert auch Peter Bulthaup, wenn er festhält, dass „tendenziell […] die Untersuchungsmethoden nicht mehr bei der Bearbeitung der zu untersuchenden Probleme entwickelt [werden], sondern umgekehrt die zu behandelnden Probleme von den schon vorhandenen Methoden bestimmt“ würden. Die auf das Ideal der Sparsamkeit reduzierte Diskussion von Morgans Beitrag missinterpretiert den Canon als eine Art Schlüssel, der es scheinbar erlaubt, das Fremdpsychische aufzuschließen, wenn erst einmal dessen richtige Verwendung oder – aus Sicht der Kritiker wie Sober – eine entsprechende Modifikation des Schlüssels gefunden ist. Die kontroverse, andauernde Debatte um dieses ‚Sparsamkeitsprinzip‘ ist daher auch gar nicht im Sinne einer klaren Positionierung aufzulösen. Unserer Lesart zufolge kann der Canon insbesondere in der Fairly-Variante eben nicht – um im obigen Bild zu bleiben – als ein Schlüssel verstanden, sondern er sollte vielmehr als ein notwendiges Rüstzeug interpretiert werden, welches zunächst angelegt sein muss, um überhaupt erst die empirische Arbeit aufnehmen zu können: Erst vor dem Hintergrund der erkannten Grenzen des eigenen epistemischen Standpunktes eröffnen sich nach Morgan Möglichkeiten der Erfassung des Fremdpsychischen, welches den Forschenden jetzt in einer veränderten epistemischen Rahmung erscheint und deren neues Forschungsideal nun die Angemessenheit ist. Gerade in diesem Sinne, und nicht bei der unerschöpflichen Canon-Exegese, erscheint uns eine metatheoretische Reflexion angebracht. 83 Gemeint ist damit nicht, dass nie etwas vom Gegenstand erfasst werden könne, allerdings scheint es geboten, darauf aufmerksam zu machen, dass das, was durch die Methodik erfasst wird, nie identisch mit dem Gegenstand ist.
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Tierforschung unter mechanistischen Vorzeichen Jacques Loeb, Tropismen und das Vordenken des Behaviorismus
„Tierisches Verhalten kennen viele aus den romantischen Erzählun gen von Populärwissenschaftlern, durch die beschreibenden Arbei ten biologischer Beobachter oder durch die Versuche von Vitalisten, die Inadäquatheit der Anwendung physikalischer Gesetze auf die Erklärung des Lebendigen zu beweisen. Da keine dieser Beiträge auf quantitativen Experimenten beruhten, haben sie nur zu Spekula tionen geführt, die im Grundsatz einen anthropomorphen oder rein verbalistischen Charakter aufweisen.“1 Mit diesem Bekenntnis in zwei Sätzen eröffnete der Physiologe Jacques Loeb (1854–1924) sein 1918 erschienenes Buch Forced Move ments, Tropisms, and Animal Conduct, in dem er die Ergebnisse aus 30 Jahren seiner Forschung und seines Forschungsprogramms zusammenfasste. Die quantitative, experimentelle Erklärung der Lebensvorgänge, ihre Rückführung auf physikalische (und che mische) Grundlagen sowie der Kampf gegen die Idee einer meta physischen Lebensenergie durchziehen als roter Faden das mehr als 400 Publikationen umfassende wissenschaftliche Werk dieses Forschers. Auch wenn er sowohl zu Lebzeiten als auch nach sei nem Tod von vielen Zeitgenossen als zu radikal, zu weitgehend in seinen Folgerungen, zu dogmatisch und zu mechanistisch denkend kritisiert und beurteilt wurde, hat er doch auf mehreren Gebieten bleibende Eindrücke in der Wissenschaftswelt hinterlassen und Forschungspfade mitgebahnt und geprägt. Beispielsweise bereitete er mit seinen Studien zur künstlichen Entwicklungserregung von 1
J. Loeb, Forced movements, tropisms, and animal conduct, hrsg. von J. Loeb und T. H. Morgan, vol. 1, Monographs on experimental biology, Philadelphia 1918, S. 7: „Animal conduct is known to many through the romantic tales of popularizers, through the descriptive work of biological observers, or through the attempts of vitalists to show the inadequacy of physical laws for the explanation of life. Since none of these contributions are based upon quantitative experiments, they have led only to speculations, which are generally of an anthropomorphic or of a purely verbalistic character.“ (Übersetzung H. F.)
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Eizellen langfristig den Boden für die Forschungen zur Entwicklung von oralen Kontrazeptiva durch Gregory Pincus. Seine Arbeiten zu den so genannten Tropismen wiederum inspirierten frühe Be havioristen wie John Watson und Burrhus Frederic Skinner, die sich in der Entwicklung ihrer behavioristischen Ansätze explizit an Loebs Denken anschlossen. Insbesondere John Watson stellte sich mit seiner Idee von der Psychologie als Wissenschaft der Vorhersage, Steuerung und Kontrolle von Verhalten in eine Tradition der Psy chologie, die Loeb mit seinen Tropismenstudien deutlich mitgeprägt hatte.2 Als Tropismen hatte Loeb die durch Energieformen, wie zum Beispiel Licht, erzwungene Hinwendung verschiedener Tiere zur Quelle der Energie bezeichnet. Die Hinwendung wiederum er klärte er mit chemischen und mechanischen Prozessen im tieri schen Gehirn und im Körper. Dabei versuchte er, die Universalität tropistischer Wirkungen in allen Lebensformen zu beweisen und eben auch psychologische Fragen des Instinkts, des Bewusstseins oder des Gedächtnisses auf mechanische (physikalisch und che misch erklärbare) Zwangsreaktionen zurückzuführen.3 In letzter Konsequenz betrachtete Loeb Lebewesen dabei als Maschinen, die durch ihre Umwelt zu Handlungen gezwungen würden. Vehement trat er für diesen Standpunkt ein, wenn er sich in seinen Arbeiten mehrfach pointiert gegen Anthropomorphismen, wie zum Beispiel die Vorstellung der Nutzbarkeit menschlicher Emotionen wie Neugier, Angst oder Freude zur Erklärung tierischen Verhaltens wandte,4 die seiner Meinung nach der Biologe „mit ebensoviel recht ignorieren“ könne, „wie die moderne Physik es ignoriert, wenn der Wilde die Dampfmaschine durch ein darin enthaltenes Pferd erklärt.“5 Jacques Loebs Denken und Wirken ist schon mehrfach in umfas senden Analysen bearbeitet worden. Neben Philip J. Paulys umfas sender und herausragender Biographie und Ergographie6 sind hier u. a. Rasmussens und Tilmans Auswertungen eines großen Teils der 2 3
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P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology, New York 1987, S. 164-200. J. Loeb, Die Bedeutung der Tropismen für die Psychologie, Leipzig 1909, S. 281306; J. Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und verglei chende Psychologie, mit besonderer Berücksichtigung der wirbellosen Tiere, Leipzig 1899, S. 127, S. 139-151. Z. B. J. Loeb, Forced movements, tropisms, and animal conduct, S. 17. J. Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie, S. 147. P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology.
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in der Library of Congress überlieferten Korrespondenz Loebs zu nennen.7 Besonders aber zu Loebs Tropismustheorie und ihrer Nahund Fernwirkung sind darüber hinaus auch eine Reihe weiterer Arbeiten erschienen, auf die ich mich im Folgenden stützen werde.8 Alle diese Studien bieten detaillierte Einsichten in Loebs Wirken, sei ne Philosophie und sein Forschungsprogramm. Auch stellen sie sei ne Arbeiten in geeigneter Weise in den Forschungszusammenhang seiner Zeit. Nur wenige von ihnen allerdings wenden sich Loebs entscheidenden Untersuchungsobjekten zu und nehmen diese ge nauer in den Blick. Loeb forschte im Verlauf seines Lebens u. a. an und mit einer gro ßen Anzahl unterschiedlicher Tierarten von Hunden über Fliegen und Fische bis hin zu Fröschen, Nesseltieren und Insekten, an denen er die allgemeine Gültigkeit seiner Ideen zum Lebensvorgang als ma schinenähnlicher Prozess zu beweisen suchte. Sein Erkenntnisideal bestand dabei darin, Organismen und Lebensvorgänge „nach seinem Willen zu formen“.9 Philipp Pauly sprach in diesem Zusammenhang von einem Ingenieursideal, das Loeb innerhalb der Biologie ver folgte.10 Loeb wollte „zu einer Technik der lebenden Wesen ge langen“.11 Er strebte danach, das Verhalten von Organismen, ihre 7 C. Rasmussen, R. Tilman, Jacques Loeb: his science and social activism and their philosophical foundations, hrsg. von American Philosophical Society, vol. 229, Memoirs of the American Philosophical Society, Philadelphia 1998. Zur Korrespondenz siehe auch N. Reingold, „Jaques Loeb, the Scientist: His Papers and His Era“, in: Library of Congress: Quarterly Journal of Current Acquisitions, 19/1962, S. 119-130. 8 R. J. Greenspan, B. J. Baars, „Consciousness eclipsed: Jacques Loeb, Ivan P. Pavlov, and the rise of reductionistic biology after 1900“, in: Conscious and Cognition, 14(1)/2005, S. 219-230; A. E. S. Gussin, „Jacques Loeb: The Man and His Tropism Theory of Animal Conduct“, in: Journal of the History of Medicine and Applied Sciences, 18/1963, S. 321-336; T. D. Hackenberg, „Jacques Loeb, B. F. Skinner, and the Legacy of Prediction and Control“, in: The Behavior Analyst, 18(2)/1995, S. 225-236; P. J. Pauly, „The Loeb-Jennings Debate and the Science of Animal Behavior“, in: Journal of History of Behavioral Sciences, 17(4)/1981, S. 504515; R. H. Wozniak, „Jacques Loeb, Comparative physiology of the brain, and comparative psychology“, in: J. Loeb (Hrsg.), Comparative physiology of the brain and comparative psychology, London 1993, S. vii-xxiii. 9 Brief Loeb an Mach 26.02.1890, Deutsches Museum München, Nachlass Ernst Mach, siehe auch T. D. Hackenberg, „Jacques Loeb, B. F. Skinner, and the Legacy of Prediction and Control“; P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology. 10 P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology. 11 Brief Loeb an Mach 26.02.1890, Deutsches Museum München, Nachlass Ernst Mach.
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Reaktionen und weitere Lebensvorgänge zielgerichtet zu kontrol lieren. Die Untersuchung der Bedingungen, die ein Verhalten bzw. eine Reaktion in einem Organismus hervorriefen, unter absoluter Kontrolle der Bedingungen, war für Loeb gleichbedeutend mit der Erklärung des Verhaltens.12 Sein Ziel war die Begründung einer „Physiologischen Morphologie der Tiere“,13 die nicht nur beobach tend, sondern bildend in die Lebensprozesse der Tierwelt eingrei fen sollte. Dem Vorbild der synthetischen Chemie folgend wollte er neue Kombinationen aus den Elementen der belebten Natur erzeu gen können.14 In dieser Lesart eines biologischen Experiments kam den Un tersuchungsorganismen zunächst eine rein passive Rolle zu. Es ist klar, dass sie auch nicht über Handlungsoptionen im anthropo morphen Sinne verfügten. Dennoch nahmen sie beim Versuch, sie zu analysieren und zu formen, in einem weiteren Verständnis von Agens oder Aktanten15 auch die Rolle eines Akteurs im Loebschen 12 Wie T. Hackenberg es formulierte: „Thus, to control a phenomenon-to specify the conditions responsible for producing it-was to explain that phenomenon, and vice versa“ (T. D. Hackenberg, „Jacques Loeb, B. F. Skinner, and the Legacy of Prediction and Control“, S. 227). 13 J. Loeb, „Investigations in physiological morphology. III. Experiments on cleavage“, in: Journal of Morphology, 7/1892, S. 253-262; J. Loeb, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. I. Über Heteromorphose, Würzburg 1891; J. Loeb, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. II. Organbildung und Wachstum, Würzburg 1892. 14 Siehe z. B. J. Loeb, „On some facts and principles of physiological morpho logy“, in: Biological Lectures delivered at Woods Holl, Boston 1893, S. 3761: „But the aim of Physiological Morphology is not solely analytical. It has another and higher aim, which is synthetical or constructive, that is, to form new combinations from the elements of living nature, just as the physicist and chemist form new combinations from the elements of non-living na ture.“ Zu Loeb und synthetischer Biologie siehe H. Fangerau, „Zur Geschichte der Synthetischen Biologie“, in: K. Köchy, A. Hümpel (Hrsg.), Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie? Themenband der inter disziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht, Forschungsberichte der In terdisziplinären Arbeitsgruppen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dornburg 2012, S. 61-84. 15 Siehe Bruno Latours Ausführungen zur Actor-Network-Theory: B. Latour, „On actor-network theory. A few clarifications“, in: Soziale Welt, 47/1996, S. 369-381; B. Latour, Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Harvard 1988. Siehe auch mit Bezug auf Tiere die treffliche zusammen fassende Übersicht von A. Steinbrecher, „‚They do something‘ – Ein praxeolo gischer Blick auf Hunde in der Vormoderne“, in: U. W. Weiser, H. Murmann, A. Franz, F. Elias (Hrsg.), Praxeologie: Beiträge Zur Interdisziplinären Reichweite Praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin
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Laborsetting an. Die Organismen agierten bei Loebs Versuchen, so die These dieses Beitrags, nicht als willfährige Partner, sondern als widerständige Objekte, die in ihrem Sosein den ihnen eigenen Regeln folgten, die mitunter ebenso prägend auf den Laborraum wirkten, wie Loeb versuchte, sie im Labor zu modellieren, zu beein flussen und zu kontrollieren. Die von ihm beforschten Organismen als Teil eines Laborraums sollen daher im Zentrum dieses Beitrags stehen. Anhand von Loebs Arbeiten soll gezeigt werden, wie Test organismen im Experiment den Ausgang des Experiments mitbe stimmten, wie Loeb beispielsweise gezwungen war, nach dem pas senden Organismus für das in Frage stehende Experiment zu suchen und wie die ausgewählten Organismen selbst (nicht aus Willen, sondern als Agens im Sinne einer treibenden Kraft) Loeb dann zu über ihre Grenzen und die Grenzen des Experiments hin ausgehenden Schlussfolgerungen veranlassten. Der Text beruht im Wesentlichen auf früheren Arbeiten, die bereits u. a. in Buchform erschienen sind,16 für diesen Beitrag aber noch einmal erweitert und re-evaluiert worden sind.
1. Jacques Loebs Forschung Jacques Loeb wurde 1859 in Mayen geboren. Nach seinem Me dizinstudium forschte er zunächst in Berlin und Straßburg bei Friedrich Goltz und Nathan Zuntz zur Physiologie des Groß hirns. Er fügte Hunden systematisch Großhirnverletzungen zu und untersuchte die darauf folgenden Verhaltensänderungen, Seh- und Bewegungsausfälle. Schon hier erwiesen sich seine Un tersuchungsobjekte zum Teil offensichtlich in bekannter Weise als eigenwillig, widerständig und für ihn in störender Weise anfällig, 2014, S. 29-32. Zum aktuellen Stand der Geschichtsschreibung zum Verhältnis von Menschen und Tieren siehe auch die Beiträge des Sammelbandes: G. Krüger, A. Steinbrecher, C. Wischermann (Hrsg.), Tiere und Geschichte. Konturen einer „Animate History“, Stuttgart 2014. Eine prägnante Übersicht zur Geschichte der (Labor-)Forschung an und mit Tieren bietet A. Hüntelmann, „Geschichte des Tierversuchs“, in: R. Borgwards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2015, S. 160-172. 16 Allen voran das Kapitel zur Laborforschung in H. Fangerau, Spinning the Scientific Web. Jacques Loeb (1859–1924) und sein Programm einer internatio nalen biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin 2010, Kap. 3.1, S. 50-67.
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wenn er z. B. betonte: „Dass eine Eröffnung des Seitenventrikels die Verletzung erheblich complizirt und den Wundheilungsverlauf sowie das ganze Befinden des Hundes merkbar beeinträchtigt, habe ich nach wie vor nicht bestätigen können. Nur solche Thiere wur den in der folgenden Abhandlung berücksichtigt, die ohne Störung des Allgemeinbefindens d. h. der Munterkeit und der Fresslust die Operation Monate lang überlebten.“17 Ab 1886 arbeitete er in Würzburg bei Adolf Fick. Hier lernte er die Arbeiten des Botanikers Julius Sachs kennen, der sich mit seiner Forschung zur Pflanzenphysiologie einen Namen gemacht hatte. Insbesondere Sachs’ Studien zum pflanzlichen Tropismus, zur Orientierung bzw. Hinwendung von Pflanzen auf Reize wie Licht und Schwerkraft versuchte Loeb in den folgenden Jahren auf tierisches Verhalten zu übertragen. Loeb ging u. a. davon aus, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Stärke des Reizes und der tierischen Reaktion gebe, dass Tiere sich „mit der Medianebene in der Richtung des Lichtstrahles“18 bewegten und dass die Reaktionen selbst auf einer der Symmetrie des Körpers folgenden, chemisches Ungleichgewicht ausgleichenden mecha nischen Kausalität und „nicht auf specifischen Eigenschaften des Centralnervensystems“19 beruhten. Insbesondere dieser letzte Ge danke wurde von Zeitgenossen wie dem deutschen Physiologen Max Verworn als zu weitgehend kritisiert. Für „die höheren Tiere“, so Verworn, gelte diese Aussage sicher nicht.20 In den folgenden Jahren arbeiteten sich Wissenschaftler wie Herbert Spencer Jennings oder eben Max Verworn an Loebs Idee ab, dass Lebenserscheinungen allein physikalisch-chemisch zu erklä ren seien, Organismen also allein auf Basis chemischer Reaktionen ein Verhalten an den Tag legten. Sie favorisierten evolutionäre Erklärungsmodelle für tierisches Verhalten und führten dieses bei spielsweise auf das Modell von „Versuch und Irrtum“ zurück, nach dem Organismen unangenehme Situationen vermeiden und ange 17 J. Loeb, „Beiträge zur Physiologie des Großhirns“, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie, 39/1886, S. 265-346, hier S. 266. 18 Jacques Loeb, Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen, Würzburg 1890, S. 3. 19 Ebd., S. 113. 20 M. Verworn, „Rezension zu ‚J. Loeb: Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen. Gr. 8°, IV u. 118 S., Würzburg 1890‘“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes organe, 1/1890, S. 125-127, hier S. 127.
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strebte Situationen beibehalten wollten. Wie Philip Pauly es treffend formulierte, sahen Forscher wie Jennings und Verworn nicht wie Loeb in äußeren Faktoren die Ursache und Erklärung für tierisches Verhalten, sondern im Inneren des Organismus.21 Max Verworn ging sogar so weit, den einzelnen Elementen des Protoplasmas von Protisten (einzellige Eukaryoten) eine Psyche zuzuschreiben.22 Unter Bezugnahme auf Protisten als Modellorganismen, die evolutionä ren Theorien zufolge die Urform des Lebendigen darstellten, ver suchten Jennings, Verworn und andere Autoren, höhere psychische Prozesse, Verhalten und Instinkte auf transgenerationale Adapta tionsprozesse und das Zusammenwirken von verschiedenen Zellen im Sinne eines kooperativen Zellstaats zu erklären.23 In einer Kritik an Loebs Tropismentheorie fasste etwa der Zoologe Wolfgang von Buddenbrock24 diesen Ansatz mit den Worten zusammen, dass die Biologie „in erster Linie eine historische Wissenschaft“ sei, die „von gewordenen Dingen“ handele, „deren Erforschung notwen digerweise nach anderen Gesichtspunkten vor sich gehen muss als die Erforschung irgendeiner anorganischen Materie“. Zur Physik und Chemie als Leitdisziplinen des Loebschen Denkens hielt er fest, sie lehrten „uns höchstens das Handwerkzeug kennen, dessen die Natur im Bereich des Lebendigen sich bedient, um irgendeinen Zweck zu erreichen, an die tieferen Probleme reichen sie nirgends heran.“25 Loeb wiederum, der 1891 in die USA ausgewandert war, stritt bis zu seiner letzten großen Publikation zu den Tropismen, dem eingangs zitierten Buch über Forced Movements … immer wieder in diversen Publikationen für seine Theorie und begründete auch höhere psychische Prozesse auf dieser Basis. Bewusstseinsprozesse 21 P. J. Pauly, „The Loeb-Jennings Debate and the Science of Animal Behavior“, S. 511. 22 J. J. Schloegel, H. Schmidgen, „General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. Unicellular Organisms as Objects of Psychophysiological Research, 1877–1918“, in: Isis, 93/2002, S. 614-645. 23 P. J. Pauly, „The Loeb-Jennings Debate and the Science of Animal Behavior“; J. J. Schloegel, H. Schmidgen, „General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism“. 24 Zu Buddenbrock und seiner Kritik siehe D. Bückmann, „Wolfgang von Bud denbrock und die Begründung der vergleichenden Physiologie“, in: Medizin historisches Journal, 20(1/2)/1985, S. 120-134, hier S. 126-128. 25 W. v. Buddenbrock, „Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. Ein Versuch ihrer Widerlegung“, in: Biologisches Zentralblatt, 35/1915, S. 481-506, hier S. 506.
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und vermeintliche Willenshandlungen sah er als Ergebnis „assozia tiver Gedächtnisprozesse“ im Gehirn an. Er erklärte sie damit, „[…] dass Vorgänge, die gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig in demsel ben [Gehirn] vorgehen, Spuren hinterlassen, die zu einer Einheit verschmelzen“.26 Nah standen ihm entsprechend die Versuche Paw lows zum bedingten und unbedingten Reflex, die er als Beleg für die Gültigkeit seiner Gedanken wähnte.27 Er ging so weit, auch das menschliche Moralverständnis oder anderes menschliches Denken als chemischen assoziativen Prozess erklären zu wollen.28 Für ihn stellten evolutionäre Erklärungsmodelle für tierisches Verhalten wie Jennings oder Verworn reine Spekulation dar. In einer ersten größeren zusammenfassenden Monographie zu seinen Arbeiten zur Gehirnphysiologie von 1899 hielt er provokativ und zusammenfas send fest: „Ich glaube aber, dass der ‚historische‘ Weg der Erklärung der Lebenserscheinungen d. h. der Versuch einer phylogenetischen Erklärung derselben erkenntnisstheoretisch ebenso verfehlt ist, wie wenn man etwa darauf bestehen wollte, dass die Dampfmaschine geologisch zu erklären sei. Bei Maschinen interessirt uns die Um wandlung und Dosirung der Energie, die Geschichte unseres Pla neten kann uns darin nicht förderlich sein. Lebende Wesen aber sind Maschinen und müssen als solche analysirt werden, sobald wir ein Verständniss ihrer Reactionen erlangen wollen. In den er kenntnisstheoretischen Irrthum ‚historischer‘ Erklärungsmethoden ist die Biologie nur dadurch gerathen, dass dem genialen Wie dererwecker des Evolutionsgedankens, Darwin, die energetischen Naturwissenschaften (Physik, Chemie und Physiologie) weniger 26 J. Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie, S. 130. 27 R. J. Greenspan, B. J. Baars, „Consciousness eclipsed“, S. 224. In seinem letzten großen Buch zu Tropismen „Forced Movements and Animal Conduct“ von 1918 hatte Loeb die Erwähnung Pawlows allerdings zunächst vergessen, ihn dann aber im entsprechenden Abschnitt über das assoziative Gedächtnis auf Empfehlung Thomas Hunt Morgans hin integriert. Siehe Loeb an T. H. Morgan 26.01.1918, Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers. Der Brief wird auch bei P. J. Pauly, „The Loeb-Jennings Debate and the Science of Animal Behavior“, erwähnt, hier aber in Bezug auf Loebs Streit mit Jennings. Pawlow besuchte Loeb 1923 in Woods Hole, siehe den Briefwechsel Loeb mit Pawlow in der Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers und D. P. Todes, Ivan Pavlov: a Russian life in science, Oxford et al. 2014, S. 456. 28 J. Loeb, „Biology and War“, in: Science, 45/1917, S. 73-76; J. Loeb, Das Leben, Leipzig 1911; J. Loeb, „Freedom of will and war“, in: New Review, 2/1914, S. 631-636; J. Loeb, The Mechanistic Conception of Life, Chicago 1912.
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nahe lagen. Das schmälert natürlich sein Verdienst ebensowenig, wie es unsere Bewunderung für den Mann verringern darf. Auf der anderen Seite aber ist auch kein Grund vorhanden, dass die erkennt nistheoretischen Einseitigkeiten des Meisters nunmehr unter den Biologen erblich werden sollten. Selbst das Problem der Entstehung der Arten wird erst dann zu ernsten Resultaten führen, wenn es vom Standpunkt der energetischen Naturwissenschaften d. h. vom ma schinellen Standpunkt aus in Angriff genommen werden kann.“29 Ausgehend von seinen Tropismusstudien versuchte Loeb die Idee einer rein chemisch-mechanischen Erklärung von Lebenser scheinungen auf verschiedene Lebensvorgänge und Spezies zu über tragen. Hatte er seine ersten Versuche dabei noch an Insekten durchge führt, so weitete er ab 1888 während mehrerer Forschungsaufenthalte in Kiel und Neapel seine Experimente auf Meerestiere (Hydrozoen und Echinodermen) aus. Neben die Untersuchung von tierischer Irritabilität traten spätestens jetzt Studien zum Einfluss von exter nen Reizen auf Wachstums- und Regenerationsvorgänge. So gelang es ihm, u. a. Regenerationsvorgänge zu beschleunigen, zu verlang samen oder sogenannte Heteromorphosen, den Ersatz von Organen durch andere Organe an nicht vorgesehenen Körperstellen, hervor zurufen.30 Nachdem Loeb in die USA emigriert war, wo er zunächst in Bryn Mawr (1891), dann in Chicago (1892) und Berkeley (1902) sowie zuletzt von 1910 bis zu seinem Tod am Rockefeller Institute for Medical Research wirkte, besuchte er regelmäßig die Marine Biological Laboratories in Woods Hole. Viele seiner experimen tellen Arbeiten, mit denen er die gerade im Entstehen begriffene biologische Wissenschaft mitgestaltete,31 nahmen im Umfeld dieses Zentrums und Börsenplatzes für biologisches Arbeiten und Wissen der USA ihren Ausgangspunkt.32 Seine berühmteste ‚Entdeckung‘,
29 J. Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie, S. 129. 30 J. Loeb, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. I. Über Heteromorphose; J. Loeb, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. II. Organbildung und Wachstum. 31 Vgl. J. Maienschein, Transforming Traditions in American Biology, 1880–1915, Baltimore 1991, S. 159 ff. 32 Zur Rolle und Funktion von Woods Hole für die amerikanische Biologie siehe P. J. Pauly, „Summer Resort and Scientific Discipline: Woods Hole and the Structure of American Biology, 1882–1925“, in: R. Rainger, K. R. Benson, J. Maienschein (Hrsg.), The American Development of Biology, New Brunswick, London 1988.
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die weltweite Aufmerksamkeit hervorrief,33 stellte die Beschreibung einer künstlichen Jungfernzeugung (artifiziellen Parthenogenese) bei Seeigeleiern dar. Im Rahmen von Experimenten zum Einfluss anorganischer Substanzen auf Seeigeleier war es ihm gelungen, die se durch die Behandlung mit einer anorganischen Salzlösung zur embryonalen Entwicklung anzuregen. Mit dem Seeigel stand Loeb genau der richtige Organismus für seine Versuche zur Verfügung. Nur dessen parthenogeneti sche Neigung ermöglichte das erfolgreiche Experiment. Für das Gelingen der künstlichen Jungfernzeugung hatte er also bildlich in Anlehnung an Clarkes and Fujimuras Rede von den „Right Tools for the Job“34 das richtige Material im richtigen Moment für die richtige Aufgabe gewählt. Durch Zufall, Versuch und Planung hatte er in einem passenden Laborkontext für die passenden Aufgaben, die richtigen Ansätze, geeignete Chemikalien und Instrumente so wie einen passenden Organismus gefunden, der über die nötige Robustheit, Flexibilität und physiologischen Voraussetzungen ver fügte, Loebs Behandlung nicht nur zu überleben, sondern auch mit einer von diesem als passend bzw. erwünscht erlebten Reaktion zu beantworten.35
2. Loeb und seine Labororganismen In der Konsequenz seiner Idee vom Lebewesen als Maschine sah Loeb seine Labororganismen als reine Experimentierdinge. Er war kein Zoologe und auch kein begeisterter Sammler von Tieren. Er zeigte sich in letzter Konsequenz nur wenig daran interessiert, wo und wie die von ihm im Labor genutzten Organismen in ihrer ur sprünglichen, natürlichen Umwelt lebten.36 Dem Physiologen und 33 J. Turney, „Life in the laboratory: public responses to experimental biology“, in: Public Understanding of Science, 4(2)/1995, S. 153-176. 34 A. E. Clarke, J. H. Fujimura, „What tools? Which jobs? Why right?“, in: A. E. Clarke, J. H. Fujimura (Hrsg.), The right tools for the job, Princeton (N.J.) 1992, S. 3-44. 35 Siehe zu diesem Komplex R. M. Burian, „How the Choice of Experimental Orga nism Matters – Epistemological Reflections on an Aspect of Biological Practice“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 351-367. 36 Der Zoologe Ernest E. Just nahm beispielsweise hier eine ganz andere Haltung an. Er vertrat theoretisch und praktisch die Ansicht, dass genaue zoologische
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Biologen Theodor Wilhelm Engelmann gegenüber gab er in einem Brief zu, dass er sich autodidaktisch in die vergleichende Physiologie habe einarbeiten müssen, nachdem ihm die auf Hund und Frosch beschränkte Physiologie zu langweilig geworden war. Gleichzeitig wollte er sich von der Zoologie mit seinem physiologischen Ansatz absetzen. Beinahe stolz teilte er Engelmann im gleichen Schreiben mit, dass es ihm nach vierjährigem Kampf gelungen sei, endlich in Chicago ein von Zoologen unabhängiges erstes rein physiolo gisches Labor in den USA zu errichten.37 Er kümmerte sich kaum um ein tieferes Verständnis seiner Untersuchungsspezies und auch um eine korrekte Terminologie scherte er sich scheinbar wenig. Beispielsweise stellte er in seiner Arbeit zur Heteromorphose fest, dass die „Zoologen […] eine sehr komplizirte (sic) Terminologie für die einzelnen Organe der Hydroidpolypen ausgebildet“ hätten, „welche für die rein formelle Morphologie sehr zweckmässig sein“ möge, „welche aber auf die Reizbarkeit der einzelnen Organe keine Rücksicht“ nehme. Er aber unterscheide „nach der verschiedenen Reizbarkeit“, die ihm das zentrale Merkmal zu sein schien, zwi schen „Spross und Wurzel“.38 Diese Haltung, seine Nivellierung der Zoologie und seine ge legentlich wohl ungenaue Einordnung und Beschreibung der Tier welt wurde von Loebs Kritikern gerade auch in der oben skizzierten Debatte um die Tropismen oft gegen ihn und seine Theorien ver wendet. Herbert Spencer Jennings etwa, ein ausgebildeter Zoologe, wies Loeb mehrfach zu starke Vereinfachungen in der Beschreibung von Tierarten und zu weit gehende Generalisierungen in den folgenden Schlüssen aus Experimenten nach.39 Beinahe mitleidig schrieb Jennings im Anschluss an ein Treffen mit Loeb im Jahr 1900 an Charles B. Davenport, dass er sich des Eindruckes nicht habe er wehren können, dass Loeb etwas an seiner mangelnden Kenntnis der Tiere, ihrer Struktur etc. leide, wie auch einige Zoologen wie derum an ihrer mangelnden Kenntnis der Chemie und Physik lit Kenntnisse notwendig seien, um überhaupt angemessen Laborexperimente pla nen und durchführen zu können. Siehe K. R. Manning, Black Apollo of science: the life of Ernest Everett Just, New York 1983, S. 78-84, S. 110, S. 255-264. 37 Loeb an Engelmann 03.02.1886, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Sammlung Darmstädter, Lc1871. 38 J. Loeb, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. I. Über Heteromorphose, S. 11 f. 39 P. J. Pauly, „The Loeb-Jennings Debate and the Science of Animal Behavior“, S. 511.
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ten.40 Da ein wesentliches Element in Loebs Tropismentheorie die Idee der durch Reize gestörten Symmetrie in Organismen darstellte, sei der Verweis auf unsymmetrische Infusorien für Loeb prob lematisch gewesen. Ähnlich argumentierte der bereits erwähnte Buddenbrock in seiner Kritik. Auch er kritisierte Vereinfachungen in der Betrachtung der Organismen und kam zu dem Schluss, dass eine rein chemische Betrachtungsweise zu einer „Verflachung der ganzen Biologie“ führe und nur die Folge einer Unkenntnis der Struktur, des Baus und der Physiologie der Tierwelt sein kön ne.41 Loeb seinerseits konterte in Publikationen und persönlichen Korrespondenzen wiederholt mit dem Argument, die Mehrheit der Zoologen seien Mystiker, „they do not realize that all life pheno mena are determined by rigid laws and that these laws can have a mathematical expression. Thus my theory of tropisms is vigo rously antagonized by mystic anthropomorphic hypotheses of the zoologists“.42 Es ist denkbar, dass Loeb in seiner etwas ignoranten Haltung den Lebensbedingungen von Untersuchungsorganismen gegenüber in seinen Anfangsjahren in der Zoologischen Station in Neapel be stärkt wurde. Ein Forscher musste hier keine Tiere sammeln oder ihre Lebensverhältnisse kennen, um sie zu finden. Anders als in der amerikanischen Meeresbiologischen Station Woods Hole, in der je der Wissenschaftler für die Beschaffung seines eigenen Materials verantwortlich war,43 erhielt in Neapel jeder Forscher auf Wunsch und bei Bedarf sein organisches Material über zentral angestellten 40 Brief zitiert in ebd., S. 510. Hugo de Vries äußerte sich in einem Brief an Loeb selbstkritisch in eine ähnliche Richtung, wenn er an Loeb schrieb: „Leider sind die zoologischen Details für uns Botaniker immer noch eine solche Schwierigkeit. Die Natur ist zu gross, es gibt zuviel was man gerne wissen möchte! und was andere wissen“ (Hugo de Vries an Jacques Loeb 14.02.1905, Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers). 41 W. v. Buddenbrock, „Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. Ein Versuch ihrer Widerlegung“, S. 505. Bückmann spricht davon, dass Buddenbrock „fast mitleidig“ zeige, „dass Loeb von dem wirklichen Bau und den Bewegungen der Tiere keine Ahnung“ habe (D. Bückmann, „Wolfgang von Buddenbrock und die Begründung der vergleichenden Physiologie“, S. 128). 42 Loeb an Arrhenius 09.07.1917, in: N. Reingold, I. H. Reingold (Hrsg.), Science in America, a documentary history, 1900–1939, Chicago 1981. 43 J. Maienschein, 100 years exploring life, 1888–1988: the Marine Biological Laboratory at Woods Hole, Boston 1989, S. 189 ff. Die Ausbildung einer quasi industriellen Versorgung von Forschern mit Untersuchungsorganismen in den USA nach 1910 beschreibt Adele Clark, siehe A. E. Clark, „Research materials and reproductive science in the United States, 1910–1940“, in: G. L.
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Kollektoren. Institutionen und Regierungen, die Forschungstische in Neapel anmieteten, wurde ein Tisch mit Instrumenten, Chemikalien, ungefähr 10 Aquarien und das nötige Material an Meerestieren ga rantiert.44 Loeb versuchte, diese für ihn optimalen Bedingungen auf seine eigenen Laboratorien zu übertragen. In der Tat bekannte er 1906 in einem Brief an seinen damaligen Universitätspräsidenten Benjamin I. Wheeler in Berkeley, dass für ihn die Einstellung eines zoologisch bewanderten, trainierten Tierkollektoren momentan wichtiger sei als die Einrichtung eines neuen Labors. Seine Arbeit beruhe auf der Möglichkeit, aus einer Vielzahl von Tierformen aus zuwählen, und sein früherer Tierkollektor habe durch seine zoolo gische Unkenntnis Loebs Arbeit eher behindert als befördert. Nun benötige er jemanden, der sowohl über systematisches zoologisches Wissen verfüge als auch die Fauna der Gegend kenne.45 Ähnlich bat er kurz nach seinem Wechsel ans Rockefeller Institute offen sichtlich auch seinen ehemaligen Assistenten Wolfgang Ostwald in Leipzig um Hilfe bei der Suche nach einem Zoologen, woraufhin ihm dieser in Kenntnis von Loebs Bedürfnissen mitteilte: „Was Ihren Wunsch nach einem besonders entomologisch ausgebildeten Zoologen anbetrifft, so habe ich nach Rücksprache mit Chun einen, wie wir glauben ungewöhnlich für Sie passenden Mann gefunden, der auch prinzipiell gerne bereit wäre, nach Amerika für einige Jahre zu gehen. Er heisst Germer, ist Schüler von Chun und hat ungewöhnliche Liebe und nach Chun’s Urteil grosses Geschick für Sammeln und Züchten“.46 Zwischen 1889 und 1905 experimentierte Loeb mit mehr als 80 verschiedenen Spezies.47 Anders als zum Beispiel Thomas Hunt
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Geison (Hrsg.), Physiology in the American context: 1850–1940, Bethesda 1987, S. 323-350. I. Müller, „Die Geschichte der zoologischen Station in Neapel von der Gründung durch Anton Dohrn (1872) bis zum ersten Weltkrieg und ihre Bedeutung für die Entwicklung der modernen biologischen Wissenschaften“, Univ. Habil.-Schr., HHU-Düsseldorf 1976, S. 156 ff. Loeb an Wheeler 02.01.1906, Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers. Wolfgang Ostwald an Jacques Loeb 06.02.1911, Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers. Gemeint ist Carl Chuns Mitarbeiter Friedrich Germer. Siehe die Auswertung und Tabelle zu den von Loeb genutzten Tieren in H. Fangerau, Spinning the Scientific Web, S. 56.
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Morgan mit seiner Fliege Drosophila48 entwickelte Loeb nie einen Standard- oder Modellorganismus für seine Arbeit. Zwar hatte er mit dem Seeigel einen für seine Parthenogeneseversuche geeigneten Organismus gefunden, und obwohl „Arbacia“ nach der erfolgrei chen Parthenogenese eng mit Loebs Forschung verbunden wurde, so blieb Loeb doch nicht bei dieser Seeigelfamilie haften. Im Gegenteil bemühte er sich um die Replizierung seiner Versuche bei anderen Tierarten. Dabei blieb er in erster Linie bei Tierarten, die schon im Labor genutzt worden waren und die sich dort bewährt hatten. Er folgte den Pfaden, die andere Forscher schon eingeschlagen hatten.49 Diese Strategie erscheint im Rückblick sehr folgerichtig, eröff nete sie doch die Möglichkeit schneller zum Experimentiererfolg zu gelangen als das Beschreiten eines Weges, auf dem zunächst die Labortauglichkeit eines Organismus und die Laborbedingungen, unter denen experimentiert werden könnte, hätten untersucht wer den müssen. Diese Standards der Tierbehandlung waren für die je weiligen Labortiere schon von anderen Forschern erarbeitet worden, wenn Loeb eine Tierart neu in sein Repertoire aufnahm. Gleichzeitig aber griff Loeb nie erst so spät auf ein neues Tiermodell zu, als dass es zu spät gewesen wäre, innovative Forschungsvorhaben mit ihm durchzuführen. Diese Strategie der geschickten Auswahl von für sei ne Laborbedingungen geeigneten Tieren in Kombination mit seinen Experimentierfertigkeiten, seinem Instrumentengebrauch und seiner Geduld mehrere Reihen von quantifizierenden Untersuchungen an zustellen, bildeten die Grundlage seines wissenschaftlichen Erfolgs.
3. Von der Beobachtung zur Manipulation und teilnehmenden Kontrolle Loebs experimentelle Interaktion mit den von ihm genutzten Organismen zeichnet sich durch unterschiedliche Grade der In volviertheit in ihr Verhalten aus. Der Charakter seiner experi mentellen Kommunikation mit den Tieren änderte sich je nach 48 Siehe hierzu G. E. Allen, Thomas Hunt Morgan. The Man and His Science, Princeton (NJ) 1978, R. E. Kohler, Lords of the fly: Drosophila genetics and the experimental life, Chicago 1994. 49 Siehe zum Beispiel des Seeigels S. G. Ernst, „A century of sea urchin develop ment“, in: American Zoologist, 37(3)/1997, S. 250-259.
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Untersuchungsziel, -zugang, -material und Laborbedingung. Auf sei ne ersten Versuche mit Hunden unter der Leitung von Goltz folgten Experimente mit menschlichen Probanden. Er wollte zum Beispiel untersuchen, inwieweit muskuläre Tätigkeit und geistige Tätigkeit sich gegenseitig beeinflussen. Zu diesem Zweck prüfte er mit Hilfe eines Manometers die Muskelaktivität während sein Versuchsobjekt ein Buch zu lesen oder mathematische Aufgaben zu lösen hatte. Schon hier bemühte er sich, Störfaktoren von Seiten der Probanden möglichst auszuschließen, um die Experimentierbedingungen mög lichst genau unter Kontrolle behalten zu können. An seinen Men tor Nathan Zuntz schrieb er hierzu: „Für die Versuche über Mus keltthätigkeit auch und Kopfrechnen habe ich jetzt einen 11 jährigen Knaben zur Verfügung der mir sehr interessante Resultate gibt und der natürlich von dem Zweck der Versuche keine Ahnung hat.“50 Nach Versuchen mit Menschen wandte Loeb sich Insekten zu, bevor er während mehrerer Forschungsaufenthalte in Kiel und Nea pel auch Meerestiere in sein tierisches Laborarsenal aufnahm. Seine Auswahl folgte dabei einem einfachen Schema. Nachdem er bei spielsweise die Reaktionen von Insekten auf Licht unter unkontrol lierten Laborbedingungen in der ‚Natur‘ (in seiner Unterkunft) be obachtet hatte, fing er einige und stellte im Labor die Lichtexposition künstlich und kontrolliert nach. Ein Beispiel für diesen Weg von der Natur ins Labor stellt die Schilderung seiner Überlegungen zur Licht- und Kontaktreizbarkeit der Schmetterlingsart Amphipyra dar: „Während ich nun sonst bei allen Schmetterlingen das gleiche Verhalten gegen Licht gefunden hatte, nämlich positiven Helio tropismus, machte ich bei Amphipyra die Beobachtung, dass sie, freigelassen, nicht ihren Flug zum Fenster nahmen, sondern im Gegentheil an die nächste Wand oder auf den Boden flogen und sich nun hier in hurtigem Laufe wie eine Küchenschabe unter den ers ten besten Gegenstand verkrochen. Das machte ganz den Eindruck, als ob die Thiere eine Lichtquelle fliehen. Gleichwohl liess es sich nachweisen, dass die Thiere sich zur Lichtquelle hinbewegen und dass die Neigung, sich zu verkriechen, auf der erwähnten Form der Kontaktreizbarkeit beruht.“ Nach dieser Beobachtung baute er eine Glasplatte parallel knapp über dem Boden des Kastens an, in dem er das Verhalten der Tiere beobachtete, um am Ende festzustellen, dass sich alle Tiere unter diese Glasplatte verkrochen. Er folgerte, dass es 50 Loeb an Zuntz 09.02.1887, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Samm lung Darmstädter, Lc1871.
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„also der Zwang ihre Körperoberfläche mit anderen festen Körpern in Berührung zu bringen“ sei, und nicht ihre Lichtscheue, der „sie trieb, sich unter feste Körper zu verkriechen.“51 Ähnliche Versuche wiederholte er mit verschiedenen Tierarten, wobei er neben der Erweiterung der Fauna auch ein wachsen des Arsenal an Instrumenten, kleineren Erfindungen von Experi mentalaufbauten einsetzte und eine Reihe von verschiedenen Reiz auslösern (Geo-, Stereo, Chemo-, Thermotropismen etc.) analysierte.52 Spätestens an diesem Punkt verschob sich sein beobachtendes Experimentieren hin zu einem die lebensweltlichen Grenzen über schreitenden Experimentieren, das nicht mehr natürliche Reiz zusammenhänge simulierte, sondern diese um Kräfte erweiterte, denen seine Versuchstiere in der Natur nicht im Regelfall ausge setzt waren. Seine Untersuchungen zum Galvanotropismus etwa stellten, wie er bemerkte, die willentliche Analyse eines reinen Laborprodukts dar. Außer den wenigen Tieren, die in die Hände von zu Tropismen arbeitenden Physiologen gefallen seien, hät ten Tiere nie die Gelegenheit, galvanischen Strom kennenzuler nen. Trotzdem zeigten sie starke galvanotropische Reaktionen. Diesen Umstand wertete Loeb als einen weiteren Beleg dafür, dass nicht Anpassung und Interessen, sondern Physik und Chemie das Verhalten von Tieren bestimmten.53 Diese Art von Manipulation und Observation an Organismen weitete Loeb immer weiter aus, bis er zur Manipulation von Pro zessen an Teilen der Organismen überging. Beispiele hierfür stellen seine Versuche zur Regeneration und der Erzeugung von Hetero morphosen dar, bei denen er nicht mehr nur äußeres Verhalten steu erte, sondern Entwicklungen im Inneren der Organismen bei der Organbildung erzwang. Von hier aus tat er den nächsten Schritt und 51 J. Loeb, Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem He liotropismus der Pflanzen, S. 26 f. 52 Loeb an Mach 30.01.1888: „Ich habe mir Ihren Apparat zur Beobachtung der Bewegung von Thieren auf der Drehscheibe anfertigen lassen. Derselbe wirkt geradezu magisch; er erregt ungetheilte Bewunderung. Ich habe bis jetzt mich davon überzeugt, dass wenn die Centrifugalkraft die Schwerkraft an Intensität übertrifft, die Thiere sich gegen die Centrifugalkraft orientiren wie sonst gegen die Schwerkraft: d. h. die Thiere wenden die Seite ihres Körpers die sonst dem Schwerpunkt der Erde zugekehrt ist gegen die Peripherie und die andere Seite gegen das Centrum der rotirenden Scheibe. Ich beabsichtige den Sommer an Seethieren Untersuchungen anzustellen“ (Deutsches Museum München, Nach lass Ernst Mach). 53 J. Loeb, Die Bedeutung der Tropismen für die Psychologie, S. 31 f.
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griff aktiv in Vorgänge der Entwicklung und des Wachstums auf der Ebene des Eis und der Spermien ein. Mit Blick auf die Beteiligung bzw. Aktivität seiner Labortiere er folgte gerade mit diesem Schritt eine einschneidende Verschiebung. Ab jetzt wirkten die aus der Natur für das Labor gesammelten Organismen nicht mehr als inerte Agenten an den Experimenten selbst mit, sondern sie fungierten als Lieferanten für die eigentli chen Untersuchungsobjekte. Loeb experimentierte mit ihren Eiern vor allem auch deshalb, weil diese anders als Körperteile wie Beine oder Nerven über ein eigenes Entwicklungspotential verfügten. Somit waren sie allerdings auch anders in die Versuche involviert als Körperteile ohne dieses Potential. Durch ihre Fähigkeit, zu eige nen Organismen heranzuwachsen, kam ihnen eine andere Form der Beteiligung am Experimentalprozess zu. Sie standen zwischen Teilen tierischer Körper und ganzen Organismen. Die (chemische) Kontrolle der Hebung, Hemmung und Förderung ihres Potentials wurde Loebs Untersuchungsgegenstand. Auf die Kontrolle von Ver halten und eine experimentelle Interaktion folgte für Loeb so – im übertragenen Sinne – eine direkte Teilnahme des Experimentators an der Entwicklung von Organismen. Ihm kam nun die Rolle zu, nicht mehr nur eine Reaktion im Verhalten zu erzwingen, sondern vielmehr Entwicklungen teilnehmend anzuregen und schritt weise zu begleiten. Für Loeb war diese teilnehmende Kontrolle von Befruchtungsvorgängen gleichbedeutend mit dem Verständnis dieser Prozesse. Er gestaltete jetzt nicht mehr nur Laborräume als Lebensräume, sondern als Räume der Schaffung von Leben. Mit Blick auf die beteiligten Organismen allerdings ist fest zuhalten, dass ihnen auch in diesem Prozess keine allein passive Bedeutung zukam. Sie gestalteten ebenfalls, zwar als Zielobjekte, aber durch ihr Wesen determinierend, den Laborraum mit, so sehr oder gerade weil Loeb sich bemühte, Naturvorgänge aus dem Labor zu eliminieren.
4. Die Gestaltung des Labortiers Loeb musste beispielsweise in seinen Versuchen zur künstlichen Jungfernzeugung sicherstellen, dass Seeigeleier in keinem Fall in Kontakt mit Seeigelspermien traten, um sich nicht dem Vorwurf aus gesetzt zu sehen, zufällige Wasserverunreinigungen und nicht sein https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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planendes Eingreifen hätten die Jungfernzeugung hervorgerufen. Die Möglichkeiten des Lebensraums der Seeigel und ihre Fähigkeit zur Reproduktion bedingten somit, dass Loeb aufwendige Verfahren der Gewinnung von Seeigeleiern erdenken musste. Er erhitzte das Seewasser für die Eier, um alle Spermien zu töten und filterte es zu sätzlich. Die Seeigel, aus denen er die Eier gewinnen wollte, wurden unter einem scharfen Wasserstrahl abgewaschen, die Mundöffnung der Tiere wurde mit einer sterilen Schere herausgeschnitten und der Darm der weiblichen Tiere wurde mit sterilen Zangen entfernt. Das Innere der Seeigelweibchen wurde ausgewaschen und zuletzt die Ovarien in toto unter sterilen Bedingungen entfernt.54 Auf die se Weise hoffte er den Zeitpunkt der Entwicklungsanregung genau bestimmen zu können, indem er mögliche Spermieneinflüsse aus schloss. Zudem benötigte er immer noch weibliche Tiere zur Gewinnung der Eier. Um diese zu erhalten und die geeigneten Tierformen aus findig zu machen, musste er besondere Orte aufsuchen und dann im richtigen Moment zum richtigen Zeitpunkt die Tiere den Expe rimenten zuführen. Auch musste er feststellen, dass die einzuset zenden Techniken zur erfolgreichen Parthenogenese elementar von den Subspezies einer Tierart abhingen, die jeweils eigene La borbedingungen für ein ergebnisreiches Experiment verlangten. Zuletzt verlangte es nach glücklichen Koinzidenzen, wie Loeb selbst im American Journal of Physiology einmal festhielt, als er schilder te, wie er außerhalb der Fortpflanzungssaison noch an eiertragende weibliche Seeigel gekommen war: „My experiments were carried on after the breeding season was practically over, in September, when the majority of sea-urchins contained practically no more eggs. I had already made up my mind that my further experiments would have to be postponed a year, when through the kindness of Professor Bumpus of the Fish Commission I obtained a few dozen sea-urchins that he had collected early in the season and kept in a small pond. It happened that almost every one of these animals was a female and full of eggs.“55
54 J. Loeb, „On artificial parthenogenesis in sea urchins“, in: Science, 11/1900, S. 612-614. 55 J. Loeb, „On the artificial production of normal larvae from the unfertilized eggs of the sea urchin (Arbacia)“, in: American Journal of Physiology, 3/1900, S. 434471.
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Diese störenden Interferenzen standen im Widerspruch zu Loebs Idee der Kontrolle über alle Lebensvorgänge. Auch wenn er im Laborexperiment die Umstände kontrollieren und steuern konnte (wie zum Beispiel die Temperatur), so konnte er nichts gegen die inneren, biologischen Eigenheiten der Untersuchungsobjekte un ternehmen. Als etwa Emil Godlewski56 und Hans Driesch Zweifel an der Replizierbarkeit seiner Versuche zur Hybridisierung von Seeigeln und Seesternen äußerten,57 schrieb Loeb an Godlewski: „Dass die Versuche nicht mit Asteriassamen gelungen sind ist über raschend aber doch begreiflich, ich finde immer dass die Daten für eine Form z. B. Strongyloc. purpuratus mit den einer nahe verwand ten Form z. B. Franciscanus nicht identisch sind. Es ist immer nöthig für jede Form die quantitativen Daten besonders auszuarbeiten. Gerade auf diesem Gebiet kommt alles auf Spuren an.“58 Loeb sah im Wesentlichen in der anatomischen Struktur und den artspezifischen physiologischen Funktionen die Gründe, warum manche Tiere die richtigen Tiere für ein Forschungsvorhaben waren und warum sich andere als nicht geeignet erwiesen. Die Kritik von Jennings, dass Loeb zu seiner Tropismentheorie unter anderem daher gelangt sei, weil er die Zoologie der möglichen Untersuchungstiere nicht richtig kenne, konterte Loeb mit dem Hinweis, dass die von Jennings und anderen genutzten in ihrer Körperstruktur asymme trischen Infusorien sich eben nicht eigneten, Tropismen zu bestim men, da ihre motorischen Organe nicht symmetrisch angeordnet seien, „sondern eigentümlich asymmetrisch angeordnet sind“. Daher gingen „sie bei der nächsten Progressivbewegung nicht in die alte Bewegungsrichtung zurück, sondern sie weichen seitlich davon 56 Siehe auch H. Fangerau, I. Müller, „Scientific exchange: Jacques Loeb (1859– 1924) and Emil Godlewski (1875–1944) as representatives of a transatlantic de velopmental biology“, in: Studies in the History and Philosophy of Biology and the Biomedical Sciences, 38(3)/2007, S. 608-617. 57 Driesch an Loeb 10.02.1904; Godlewski an Loeb 22.07.1905. Beide Briefe in: Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers. Godlewski berichtet u. a., dass er Loebs Versuche nicht replizieren kann. Loeb und Godlewski erklären dies dann mit der Unterschiedlichkeit der Seeigel im Golf von Neapel und Woods Hole. 58 Loeb an Godlewski 08.08.1905. Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers. Ähnlich auch Loeb an Godlewski 23.05.1908, Library of Congress Washington, Manuscript Division, Loeb Papers: „Wir haben hier ein ausserordentlich guenstiges Material fuer diese Versuche, naemlich Seeigel, deren Pluteusskelette viel groessere Verschiedenheiten aufweisen, als das offen bar bei den europaeischen Formen der Fall ist.“
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ab, und es ist daher leicht begreiflich, dass solche Tiere nicht das beste Material bilden um die Gesetze des Heliotropismus zu de monstrieren, namentlich wenn sie noch dazu nur eine geringe photochemische Empfindlichkeit besitzen. Jennings hat nun mit Vorliebe Beobachtungen an solchen Organismen benutzt, um gegen die Theorie der Tropismen zu polemisieren, und er hat durch diese Polemik viel Verwirrung unter den Zoologen angerichtet.“59 Im Zusammenhang mit seinen Versuchen, die experimentel le künstliche Jungfernzeugung auf andere Tierarten als Seeigel zu übertragen, artikulierte er explizit, dass manchmal die tierischen Eigenschaften die Kontrolle durch den Experimentator limitierten, bzw. die exakte Bestimmung des kontrollierenden Einflusses des Experimentators erschwerten. Er deutete diese Aktantenrolle des Organismus während der Durchführung von Laborexperimenten an, wenn er formulierte: „[…] daß die Eier verschiedener Tierformen eine ganz verschiedene Tendenz besitzen, sich parthenogenetisch zur Entwicklung zu bringen. Es gibt Eier, die sehr leicht zur Entwicklung veranlaßt werden, so leicht, dass sie den Experimentator in Ver legenheit setzen, weil er nie weiß, ob das von ihm benutzte Agens die Ursache der Entwicklung ist, oder ob hierfür irgendein gering fügiger unbeachteter Nebenumstand, oder eine Veränderung im Ei selbst verantwortlich ist. Dahin gehören beispielsweise die Eier des Seidenspinners, des Seesterns und gewisser Anneliden. […] Den ge raden Gegensatz zu solchen Eiern bilden die von mir gewöhnlich be nutzten Eier des kalifornischen Seeigels Strongylocentrotus purpu ratus, die überhaupt nie eine Tendenz zeigen, sich parthenogenetisch zu furchen, und die sich nur durch die geschilderte sehr spezielle Methode unter Einhaltung genauer quantitativer Verhältnisse zur parthenogenetischen Entwicklung bringen lassen“.60 Um solche, die Kontrolle des Experimentators unterlaufen den Eigenmächtigkeiten der Organismen zu unterbinden, ergänzte Loeb in seinen Untersuchungsvorhaben einen weiteren techni schen Schritt. Er beließ es nicht mehr dabei, die Laborumgebung für seine Versuche anzupassen, sondern wollte nun selbst Tiere so von ihrem natürlichen Vorkommen abstrahieren, dass sie als reine Laborprodukte seine Experimente nicht durch Kontingenzen stör ten. Als er beispielsweise den Einfluss der Umgebungstemperatur auf die Lebensdauer von Drosophila untersuchen wollte, sah er die 59 J. Loeb, Die Bedeutung der Tropismen für die Psychologie, S. 38 f. 60 J. Loeb, Über das Wesen der formativen Reizung, Berlin 1910, S. 23 f.
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Notwendigkeit, diese Experimente mit Fliegen durchführen zu müs sen, die gänzlich frei von Mikroorganismen sein sollten. In diesen sah er nämlich einen aus der Natur stammenden Störfaktor, weil er Elia Metschnikoffs These folgte, dass die Gifte, die Bakterien im Darm produzierten, zu einer Verkürzung des Lebens führen könn ten.61 Daher sterilisierte Loeb zunächst die Fliegeneier und hielt die Eier, die diese Prozedur überlebt hatten, auf sterilisiertem Fleisch in sterilisierten Flaschen. Nach eigenen Angaben züchtete er so 87 aseptische Generationenfolgen von Drosophila auf aseptischer Hefe.62 Zwar formte Loeb auf diese Weise nicht nur die Laborumgebung seiner Versuchstiere, sondern gestaltete auch diese selbst tech nisch neu, ganz im Sinne seiner Maschinentheorie der Lebewesen. Aus einer anderen Perspektive aber, die sich eher dem Verhalten der Versuchstiere zuwendet, mussten – auch ohne sie anthro pomorph zu individualisieren – die passiven Objekte zumindest durch ihr Überleben am Geschehen mitwirken, um die experimen tellen Manipulationen zu ermöglichen. Loebs Labor der Kontrolle, der Zwangsbewegung und der physikalisch-chemischen Lebens maschinen war folglich angewiesen auf eine (Er-)duldung des Forschers durch den Versuchsorganismus, dessen Überleben im Kontext des Versuchs als kooperative Handlung im schwächsten al ler möglichen Sinne verstanden werden kann.
5. Mechanismus und tierische Akteure Für Loeb wäre allerdings eine solche Betrachtungsweise wohl nur schwer denkbar gewesen. Zwar waren ihm die eigene Natur der Tiere und ihre die Experimente bestimmenden Eigenheiten bewusst, den noch hätte er sich vermutlich gegen die Idee einer irgendwie aktiv zu begreifenden Partizipation seiner Untersuchungsorganismen am Laborprozess verwahrt. Seine Maschinentheorie ließ für aktives Sein der Tiere wenig Raum und seine Rückführung aller Lebensprozesse auf Chemie brachte ihm zu Lebzeiten und nach seinem Tod neben 61 J. Loeb, J. H. Northrop, „What determines the duration of life in metazoa?“, in: Proceedigs of the National Academy of Sciences, 3/1917, S. 382-386, hier S. 384. 62 J. Loeb, „Natural death and the duration of life“, in: Scientific Monthly, 9/1919, S. 578-585.
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Bewunderung und Nachfolgern noch heftige Kritik ein. Spätestens seit der Publikation seiner Aufsatzsammlung Mechanistic Con ception of Life (1912) oder seines Aufsatzes „Mechanistic science and metaphysical romance“ galt er den Zeitgenossen als radika ler Mechanist des 19. Jahrhunderts,63 obwohl er die Lebewesen weitaus differenzierter „als Ganzes“ betrachtete, als es seine Ma schinenbilder nahelegen. Mit seiner Publikation „The Organism as a Whole“ gestand er Lebewesen beispielsweise wiederum ein ko ordiniertes und im Rahmen koordinierter Prozesse absichtsvolles Verhalten zu, beharrte aber auf seiner reduktionistisch-analytischen Betrachtung dieser Lebensvorgänge und dem Ziel ihrer Kontrolle.64 Jeden Gedanken an eine eigene Lebenskraft, die tierisches Verhalten steuerte, jede Form des „Vitalismus“ lehnte er strikt ab. So hatte er etwa für den französischen Philosophen Henri Bergson, der einen „élan vital“ als Element annahm, das organische von anorganischer Materie unterscheide, nur Spott übrig.65 Mehr noch, er kontrastierte seine mechanistische, quantitativ experimentelle Wissenschaft mit einer sich auf Instinkt und Intuition berufenden Metaphysik. Diese sei nicht nur falsch, sondern auch gesellschaftlich gefährlich, da sie an die Emotionen der Masse appellierten und es sei kein Zufall, dass sich die „lauten und reaktionären Elemente unter den jüngeren französischen ‚Patrioten‘“ eher an Bergson denn an den französi schen Physikern orientierten.66 Auch Bewusstsein als eine analysierbare nicht physikalische Seinsform sah er bei Tieren nicht. In seiner Vergleichenden Hirn physiologe schrieb er etwa zur Analyse des Bewusstseins bei Tieren: „Ein befreundeter Psychologe hat mir den Einwand erhoben, dass 63 D. Fleming, „Introduction“, in: D. Fleming (Hrsg.), The Mechanistic Conception of Life by Jacques Loeb, Cambridge (Mass.) 1964, S. vii-xli; D. Fleming, „Jacques Loeb“, in: C. C. Gillispie (Hrsg.), Dictionary of Scientific Biography, New York 1973, S. 445-447; P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology; R. H. Wozniak, „Jacques Loeb, Comparative physiology of the brain, and comparative psychology“. 64 Siehe diese Interpretation bei G. E. Allen, „Mechanism, vitalism and organicism in late nineteenth and twentieth-century biology: the importance of historical context“, in: Studies in the History and Philosophy of Biology and the Bio medical Sciences, 36(2)/2005, S. 261-283, hier S. 274. 65 H. Fangerau, Spinning the Scientific Web, S. 219; C. Rasmussen, R. Tilman, Jacques Loeb: his science and social activism and their philosophical foundations, S. 24-30. 66 J. Loeb, „Mechanistic Science and Metaphysical Romance“, in: The Yale Review, 4/1915, S. 766-785, hier S. 785.
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in meiner Auffassung der Bewusstseinsvorgänge als Function der associativen Gedächtnissthätigkeit die ‚psychologische‘ Deutung der Gedächtnissthätigkeit vermisst werde. Ich habe darauf zu erwi dern, dass ich den Gedächtnissvorgang für einen rein physikali schen Vorgang halte und dass ebensowenig eine psychologische Deutung desselben nöthig ist, wie eine psychologische Deutung des Phonographen nöthig ist“.67 Die in der Idee vom Labortier als Kooperationspartner des Experimentators angelegte Vermutung eines Bewusstseins hätte Loeb folglich vermutlich ebenfalls abgelehnt. In einer Lesart, die im Sinne Bruno Latours auch Dingen die Rolle eines Beteiligten an Prozessen der Wissensentstehung zubilligt oder sie wie Rheinberger als „epistemische Dinge“ in den Blick nimmt,68 widerspricht Loebs Phonographen-Analogie dabei aber keineswegs der Sichtweise, dass auch seine Labortiere an seiner Wissensbildung mitwirkten. Die Beispiele für Loebs Forschungsprogramm und seinen damit verbun denen Umgang mit Tieren zeigen hier unterschiedliche Ebenen der Interaktion eines Forschers mit der Natur seiner zu untersuchenden ‚Laborpartner‘. Loeb beobachtete seine Untersuchungsorganismen, interagierte mit ihnen, versuchte sie zu kontrollieren und modifi zieren, wobei er den ‚natürlichen‘ Entitäten künstliche Laborwesen hinzufügte. Am Ende zog Loeb aus diesem Umgang mit den Tieren allgemeine Schlussfolgerungen über das Wesen der Lebensprozesse. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere änderten sich dabei sein Zugang und sein experimentelles Zusammenspiel mit den von ihm genutzten Untersuchungsorganismen. Auf eine Beobachtung ihres Verhaltens folgte das gezielte Manipulieren dieses Verhaltens mit dem Ziel dieses zu steuern und zu kontrollieren. Er strebte danach, seine Technik der Lebewesen über die natürlichen Lebensphänomene hinausgehend anzuwenden und sogar am Ende Leben im Labor künstlich zu erzeugen. Leben betrachtete er dabei als mechanischen Prozess und seine Versuchstiere als chemische Maschinen. Zwar ge lang ihm keine Urzeugung, aber er war in der Lage, Techniken zu entwickeln, mit deren Hilfe er in der Lage war, der Natur Tiere hin zuzufügen, die es ohne sein Mitwirken in dieser Form nicht gege ben hätte. Wie Philip Pauly es ausdrückte, verschwand unter seinen 67 J. Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie, S. 151. 68 H. J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001.
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Händen die Grenze zwischen der Natur und dem menschlich ge schaffenen Labor. Der Naturzustand von etwas war nur ein möglicher Zustand von vielen, die den Möglichkeiten des technisch denkenden Biologen offenstanden.69 Mit der Umsetzung dieses Denkens präg te Loeb die amerikanische Biologie als Experimentalwissenschaft in entscheidender Weise so wie vor ihm die morphologische Tradition der Zoologie die Evolutionsbiologie bestimmt hatte.70 Bei der Entwicklung dieser Sichtweise und dieses Forschungs programms profitierte Loeb allerdings sehr von seiner Fähigkeit, die passenden Tiere für die passenden Versuche auszuwählen. Selbst wenn er Tiere als Maschinen sah, so war ihm doch klar, dass die Wirkweise der Maschinen nicht in jedem Fall auf die gleiche Art und Weise erschlossen werden konnte. Die Instrumente, Räume und Möglichkeiten ihrer Ergründung mussten entweder den tie rischen Maschinen entsprechend gewählt oder angepasst werden, oder die Auswahl der Tiere hatte den Erkenntnismöglichkeiten zu folgen. Zwar vertrat Loeb die Ansicht, dass seine Maschinentheorie universell gültig sei, gleichzeitig begnügte er sich aber nicht damit, seine Hypothesen nur an einer Tierart zu testen. Der Diversität der Natur folgend bezog sich Loeb in seinen Versuchen auf so vie le Tierarten wie es ihm möglich war. Gleichzeitig versuchte er, die Zahl der zu testenden unabhängigen und abhängigen Variablen so klein wie möglich zu halten und die einfachste Erklärung für ein Phänomen jeweils für die plausibelste zu halten. So hoffte er, durch das Anhäufen positiver Evidenzen an einer Reihe von Lebewesen generelle Aussagen über die physikalischen und chemischen Eigen schaften des Lebendigen treffen zu können,71 wobei er die Grenzen der Möglichkeiten, Naturzustände künstlich zu überlagern oder zu überschreiben, kontinuierlich auslotete. Für eine Bewertung der Rolle der Versuchstiere selbst er scheint es hierbei zentral zu sein, dass Loeb, wie am Beispiel sei ner Auseinandersetzung mit Jennings deutlich wird, nicht seine Theorie in Frage stellte, wenn ein Tier nicht wie vorhergesagt bzw. wie gewünscht reagierte. Loeb suchte in diesen Fällen nach den
69 P. J. Pauly, Controlling Life: Jacques Loeb and the Engineering Ideal in Biology, S. 199. 70 J. Maienschein, Transforming Traditions in American Biology, 1880–1915, S. 161. 71 Siehe hierzu auch die lesenswerte Arbeit von C. A. Logan, „Before there were standards: The role of test animals in the production of empirical generality in physiology“, in: Journal of the History of Biology, 35/2002, S. 329-363.
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Bedingungen im tierischen Organismus, die dazu führten, dass das vorhergesagte Ergebnis ausblieb. Das Versagen lag für ihn in sol chen Situationen im Tier selbst und nicht in der Theorie. So ver suchte er, selbst negative Ergebnisse im Sinne seiner Theorie zu lesen. Die Organismen stellten sich in seinen Augen in solchen Situationen der nicht erfolgten „Kooperation“ als ungeeignet für einen Versuch heraus, das Ergebnis stellte aber nicht seine Theorie in Frage. Die Notwendigkeit der Beteiligung der Organismen am Versuch, ihr Charakter als Epistem zwischen technischem Artefakt und biologisch agierendem Lebewesen ist folglich nicht zu unter schätzen. Sie mussten mit Loeb im Rahmen ihrer Adaptierbarkeit an die Laborverhältnisse kooperieren, um nutzbar zu sein, wenn auch Loeb, der ihnen als Maschinen nicht einmal ein Schmerzgefühl zubilligte72, diese Beteiligung als rein chemisch reaktive deuten zu sollen meinte. Zuletzt prägten sie das Labor, ihren von Loeb erstell ten künstlichen Lebensraum sowie seine Versuchsaufbauten durch die ihnen möglichen Reaktionsweisen in einschneidender Weise mit. Die Temperatur, die Umgebung, der Sauerstoffgehalt, zum Teil die Zeitpunkte der Untersuchung usw., all diese Umgebungsfaktoren mussten auf ihre und seine Bedürfnisse abgestimmt werden. Ihr Verhalten bzw. ihr Funktionieren determinierte folglich den gesam ten Prozess der Erkenntnisgewinnung in seinen vielfältigen Facetten. Sie agierten im Labor des Mechanisten als lebendige epistemische Dinge.73
72 W. W. Norman, „Do the reactions of the lower animals against injury indicate pain sensations? By the late Professor W. W. Norman of the University of Texas. With an additional note by Jacques Loeb“, in: American Journal of Physiology, 3(6)/1900, S. 270-284, hier S. 284. 73 Eine Analyse zur Transformation von Organismen in epistemische Dinge findet sich bei K. Amann, „Menschen, Mäuse, Fliegen. Eine wissenssoziologische Ana lyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte“, in: M. Hag ner, H.-J. Rheinberger, B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Objekte, Differenzen und Konjunkturen, Berlin 1994, S. 259-289.
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Jakob von Uexkülls Theorie der tierlichen Handlung zwischen Neovitalismus und Vergleichender Verhaltensforschung
1. Einführung Hauptziel des vorliegenden Beitrages ist es, eine synthetische Darstellung der Auffassung des tierlichen Verhaltens anzubieten, die der deutsch-baltische Biologe Jakob von Uexküll (1864–1944) im Laufe seines Schaffens erarbeitet hat. Uexküll war kein Ethologe im eigentlichen Sinne; insbesondere in der ersten Phase seiner Arbeit war er vor allem Physiologe, und auch in den folgenden Phasen, in denen er seinen Hauptbegriff der arttypischen transzendentalen Umwelt entwickelte, lässt bei ihm das Interesse für die physiologischen und neurologischen Aspekte des tierlichen Verhaltens nicht nach (wie wir sehen werden, entsteht nach Uexküll die Umwelt durch Hinausverlegung von intraorganischen Stimulationen, die vom Organismus als Merk- und Wirkzeichen benützt werden). Zur selben Zeit ist in seiner Auffassung das Problem des methodischen Zugriffs auf tierliche Handlungen unvermeidbar: Nur über das beobachtbare Verhalten eines Tieres können wir zur Konstitution seiner subjektiven Umwelt gelangen und seine Planmäßigkeit verstehen und nur über das beobachtbare Verhalten wird die Korrespondenz zwischen der intraorganisch konstituierten, arttypischen Umwelt und der objektiven Außenwelt der Wissenschaft erkennbar. Auf diese biologisch-theoretischen Fragen werden wir in den folgenden Seiten ausführlich eingehen. Auf der biographischen Ebene muss man jedoch die bedeutsame, wenn auch nicht vollkommene Konvergenz zwischen Uexkülls Umweltforschung und der neu einsetzenden Vergleichenden Verhaltensforschung der dreißiger Jahre hervorheben. Diese Nähe, die Uexküll zu einer Art Vorläufer der Vergleichenden Verhaltensforschung macht, ist an zwei Punkten besonders offensichtlich: die wissenschaftliche Tätigkeit des Instituts für Umweltforschung, das Uexküll 1926 in Hamburg begründete, und die persönliche Bekanntschaft Uexkülls mit Konrad https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Lorenz, die sich in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre auch zu einem wissenschaftlichen Austausch erweiterte. Was das Institut für Umweltforschung betrifft, so werden die wissenschaftlichen Schwerpunkte seiner Mitglieder von Uexkülls Frau Gudrun von Schwerin-Uexküll wie folgt beschrieben: „Im Institut für Umweltforschung, das dem Hamburger Aquarium angegliedert war, pulsierte bald wissenschaftliches Leben. Frank bearbeitete die Schwimmbewegungen der Tauchvögel […]. Kriszat gelang es, den Maulwurf durch ein Glockenzeichen aus dem Bau zu locken und seine Bewegungen unter der Erde in allen Einzelheiten zu beobachten. Lissmann konnte bei den Kampffischen zeigen, an welchen Merkmalen sie den Feind und das Weibchen erkennen. […] Brock analysierte und registrierte das Verhalten von Mäusen während ihrer Dressur.“1 Nur durch diese synthetische Rekonstruktion, in der biologisch-theoretische Daten mit biographischen Ereignissen verbunden sind, wird klar, dass die physiologisch fundierte Uexküllsche Umweltforschung und die Interessen seiner Kollegen und Schüler am Institut mit einer schon vor-ethologischen Betrachtung des tierlichen Verhaltens durchaus kompatibel waren. Seinerseits kannte der junge Konrad Lorenz die Werke von Uexküll – insbesondere die erste Ausgabe von Umwelt und Innenwelt der Tiere2 – gut, die seine ersten Schriften auf explizite Weise beeinflussten. Das ist besonders deutlich in Lorenz’ Dissertation aus dem Jahr 1934 Der Kumpan in der Umwelt des Vogels, die 1935 mit einer Widmung für Uexküll zu dessen siebzigsten Geburtstag veröffentlicht wurde,3 sowie in „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“ (1943).4 Zwischen beiden Forschern gab es eine umfangreiche Briefkorrespondenz und 1935, als er in Deutschland schon ziemlich bekannt war, wurde Lorenz von Uexküll kontaktiert, 1
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G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll. Seine Welt und seine Umwelt. Eine Biographie, Hamburg 1964, S. 145; vgl. F. Mildenberger, B. Herrmann, „Nachwort“, in: J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (2. Aufl. 1921), Berlin, Heidelberg 2014, S. 300 ff. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909. K. Lorenz, „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslö sendes Moment sozialer Verhaltensweisen“ (1935), in: ders., Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus der Werdegang der Verhaltenslehre, Bd. 1, Mün chen 1965, S. 115-282 (erste Ausgabe in: Journal für Ornithologie, 83(1/2)/1935, S. 137-213 u. S. 289-413). – Vgl. zu Lorenz den Beitrag von Wunsch im vorlie genden Band. K. Lorenz, „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, 5/1943, S. 236-409.
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weil dieser in ihm einen möglichen Nachfolger auf dem Posten des Direktors des Instituts für Umweltforschung sah. Lorenz gab eine positive Antwort auf diesen Vorschlag; letztlich jedoch konnte dieses Vorhaben aus Gründen nicht realisiert werden, die jenseits von Uexkülls und Lorenz’ direktem Einfluss lagen.5 Die fachliche Anerkennung beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit und sie zeigt sich auch in dem breiten Raum, den Uexküll Lorenz’ Forschungen zu Vögeln in seinen Streifzügen durch die Umwelten von Tieren und Menschen (1934) gibt. Im Vorwort zu diesem Werk schreibt Uexküll: „Zu besonderem Dank sind wir Dr. K. Lorenz verpflichtet, der durch Übersendung der Bilder, die seine reichen Erfahrungen an Dohlen und Staren erläutern, unsere Arbeit sehr gefördert hat“.6 Dieses Vorwort wurde im Dezember 1933 geschrieben. Der zweite Weltkrieg und der Tod Uexkülls setzten dieser Beziehung ein Ende. Wie wir im Laufe dieses Beitrags sehen werden, war die Nähe zwischen Lorenz und Uexküll in einer theoretischen Perspektive allerdings problematisch. Wenn es auch zweifellos wahr ist, dass beide an demselben Forschungsfeld interessiert waren und dass in den dreißiger Jahren einige Begriffe für beide zentral waren (wie die des „Kumpans“ oder des „Funktionskreises“), so ist es doch ebenso wahr, dass Lorenz’ Zustimmung zu Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese und seine immer stärkere Ablehnung des Vitalismus und der Teleologie zu einer Distanzierung führen mussten. Dieses kommt bereits zum Ausdruck in einer wichtigen Passage von „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“. Hier nimmt Lorenz eine kritische Haltung gegenüber der Idee einer geschlossenen, artspezifischen Umwelt ein.7 Aus einer philoso5
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Zu diesen Gründen gehörte auch deren unterschiedliche Stellung im national sozialistischen Regime; vgl. B. Föger, K. Taschwer, Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, Wien 2001, S. 68 f.; C. Brentari, The Discovery of the Umwelt. Jakob von Uexküll between Biosemiotics and theoretical Biology, Dordrecht, Heidelberg, New York, London 2015, S. 38. J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, Berlin 1934, S. IX. „Was wir nun in geduldiger Einzelforschung zu leisten haben, ist ein genaues Studium und ein Vergleich der Funktion möglichst vieler und möglichst ver schiedener Weltbildapparaturen, in ganz ähnlicher Methodik, wie es die von Uexküllsche Umweltforschung in Angriff nahm, aber mit genau umgekehrtem Ziele, denn wir wollen ja eben jener einzigen, allen Subjekten gleicherweise zugeordneten außen-subjektiven Wirklichkeit näherkommen, deren Existenz von der Umweltlehre Uexkülls grundsätzlich geleugnet wird“ (K. Lorenz, „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“, S. 353).
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phischen Perspektive heraus betrachtet schien ihm diese Idee des estnischen Biologen die Annahme einer generalisierbaren, interspezifischen Realität und damit das Erfordernis der wissenschaftlichen Objektivität zu gefährden. Das aussagekräftigste Dokument in dieser Hinsicht ist jedoch der unveröffentlichte Aufsatz „Referat über J. v. Uexküll“ aus dem Jahr 1948.8 Es handelt sich um die einzige umfassende Würdigung der biologischen Schlüsselkonzepte Uexkülls durch Lorenz. Diese Würdigung ist jedoch durchdrungen von Lorenz’ Überzeugung, dass es bei Uexküll einen wesentlichen Unterschied zwischen Umweltforschung und Umweltlehre gibt – in dem Sinne, dass der erste Begriff für Uexkülls unbezweifelbar anerkennenswerte Methode der ethologischen Feldforschung steht, während der zweite eine fehlgeleitete vitalistische Theorie der Beziehung zwischen Lebewesen und deren Umwelten bezeichnet.9 Da aber der Schwerpunkt unserer Analyse die Besonderheit der Uexküllschen Theorie der tierlichen Handlung ist, sind wir vorrangig an den theoretischen Gründen interessiert, aus denen Uexküll das Material, das ihm Lorenz für Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen zu Verfügung gestellt hatte, in seinen eigenen theoretischen Rahmen nicht reibungslos einbetten konnte. Bevor man jedoch die Tragweite der Konvergenz zwischen Uexküll und Lorenz auf eine korrekte Weise evaluieren kann, muss die Entstehung der Uexküllschen Theorie der tierlichen Handlung im Rahmen seiner eigenen theoretischen Biologie der zwanziger Jahren in ihren Grundlinien dargestellt werden. 8
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Vortragstext, datiert auf den 19.10.1948, der im Lorenz-Archiv des Konrad Lorenz Institutes für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg (Österreich) einzusehen ist. Es handelt sich um eine nicht publizierte Tran skription eines Seminars von Konrad Lorenz durch Hilde Fürnsinn. Für weitere Details vgl. F. Mildenberger, „Worthy Heir or Treacherous Patricide? Konrad Lorenz and Jakob v. Uexküll“, in: Rivista di biologia/Biology Forum, 98(3)/2005, S. 419-434, hier S. 431; C. Brentari, „Konrad Lorenz’s epistemological criticism towards Jakob von Uexküll“, in: Sign Systems Studies, 37(3/4)/2009, S. 637-662. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, das Incipit des Referats zu nen nen, das die ganze Komplexität des Verhältnisses von Lorenz zu Uexküll auf den Punkt bringt: „Uexküll – Vitalist der Vitalisten, wütender Idealist, Kantia ner – eigentlich Feind der Naturforschung, denn ‚die Umwelt jedes Menschen ist getrennt von der jedes anderen‘, eine Art Monadologie [...], und wenn man seine philosophisch-weltanschaulichen Sachen liest, stellt man als Naturforscher sämtliche Haare auf. – Aber mit jenem Doppelleben, das idealistische Naturfor scher so oft haben, ist er auf der anderen Seite der exakteste physiologische Ex perimentator, den Sie sich vorstellen können. – Eigensinnig bis leicht spinnend, genial bis in die Fingerspitzen“ (K. Lorenz, „Referat über J. v. Uexküll“, 1948, S. 1).
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2. Die planmäßige Wirkung der Impulse: Uexkülls erste Theorie der tierlichen Handlung 2.1 Der theoretische Rahmen: eine planmäßige Umwelttheorie Uexkülls Ansatz ist auf den Begriff der Umwelt zentriert. Die „Umwelt“ ist eine transzendentale Konstruktion, wobei alle wichtigen „Merkmale“ und alle Auslöser des tierlichen Verhaltens (die von Uexküll so genannten „Wirkmale“) vom Subjekt hervorgebracht werden. Der Unterschied zwischen den beiden Kategorien von Umweltelementen ist, dass die ersten vom tierlichen Subjekt wahrgenommen werden, die zweiten hingegen als Stützpunkte der Handlung dienen, ohne dass der Organismus sich deren bewusst ist. Uexkülls Theorie ist, und das mit voller Absicht, eine Erweiterung des Kantischen transzendentalen Idealismus: So wie bei Kant die Welt menschlicher Erfahrung das Resultat der Anwendung von angeborenen, transzendentalen Anschauungsformen (Raum und Zeit) und von logischen Kategorien (die Einheit der Objekte, die kausale Ver bindung zwischen zwei Objekten) ist, so ist bei Uexküll die Umwelt jeder zoologischen Art das Resultat einer spontanen, konstitutiven Tätigkeit des tierlichen Subjektes. Wenn diese Kantischen Wurzeln von Uexkülls Theorie unbestreitbar sind, so sind doch auch die Unterschiede zu Kant eindeutig. Ich beschränke mich hier auf zwei Hauptpunkte: Erstens sind die tierlichen Umwelten untereinander viel unterschiedlicher, als es die Erfahrungswelten der rationalen Wesen bei Kant je sein könnten. Bei den niederen Tieren beispielsweise kann die Tragweite der raum-zeitlichen Dimensionen auch sehr beschränkt sein, während die Einheit der Objekte und der Kausalnexus einfach fehlen können. Damit sei nicht gesagt, dass alle tierlichen Umwelten elementar und beschränkt sind. Im Gegenteil, bei vielen Umwelten höherer Tiere finden wir dieselben transzendentalen Züge (Objektfunktionen usw.), die auch die menschliche Welt konstituieren. Zweitens hat die transzendentale Konstitution der Umwelten bei Uexküll einen semiotischen Charakter. Die Elemente, die vom Organismus-Subjekt hervorgebracht werden, werden von Uexküll als Zeichen verstanden und in die zwei Hauptgruppen der Merkund der Wirkzeichen eingeteilt; das heißt, dass die ersten die wahrgenommenen Leitelemente des tierlichen Merkens und die zweiten die nicht-wahrgenommenen Stützelemente des tierlichen „Wirkens“ (Handelns) sind (siehe Uexkülls berühmtes Beispiel des Lehttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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benskreises der Zecke10). Die Zeichen, die als Umweltelemente in den verschiedenen Lebensbereichen der Tiere vorkommen und ihr Verhalten leiten, sind als intraorganische Verarbeitung von Erregungswellen zu verstehen – wobei man daran erinnern muss, dass an sich „alle Erregungswellen sich qualitativ gleich sind und daher nicht gestatten, eine Unterscheidung der Reize vorzunehmen“.11 Hier knüpft Uexküll an das ‚Gesetz der spezifischen Energie der Sinnesorgane‘ von Johannes Müller an, der schreibt: „Es ist gleichviel, wodurch man das Auge reize, mag es gestoßen, gezerrt, gedrückt, galvanisiert werden, […] auf alle diese verschiedenen Ursachen, als gegen gleichgültige und nur schlechthin reizende, empfindet der Lichtnerv seine Affektion als Lichtempfindung, sich selber in der Ruhe dunkel anschauend. Die Art des Reizes ist also in Beziehung auf die Lichtempfindung ein durchaus Gleichgültiges, sie kann nur die Lichtempfindung verändern. […] So ist es durchgängig mit allen organischen Reaktionen.“12 Die Unterscheidung wird vom „Bauplan“ gemacht, der nach Uexküll Ontogenese und Organisation der Organismen beherrscht. Es ist der Bauplan, der die undifferenzierten Erregungswellen in optische, akustische oder taktile Reize unterscheidet und ihnen eine Umwelt-konstituierende Funktion verleiht; und selbstverständlich verläuft der Vorgang entsprechend der physiologischen und anatomischen Beschaffenheit des Tieres, denn, wenn ein Tier keine Sehorgane hat, kann die Erregung nicht in optische Zeichen umgewandelt werden. Um die Natur solcher Zeichen noch genauer darzustellen, muss man hervorheben, dass sie in Bezug auf die Außenwelt wohl eine denotative, aber keineswegs eine mimetische Funktion haben: „Die Erregungen sind der einzige objektive Vorgang, aus dessen Gehen und Kommen sich das Innenleben der Tiere aufbaut. Im Gegensatz zur bunten und mannigfaltigen Umgebung kennt die Innenwelt keinen Wechsel in der Qualität. Daher kann man die dynamischen Erregungen nur als Zeichen dafür betrachten, daß etwas außer10 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann, Hamburg 1956, S. 23 u. S. 136. 11 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie. Zweite gänzlich neu bearbeitete Auflage, Berlin 1928, S. 211. Eine Version der Handlungstheorie ist schon in der ersten Ausgabe enthalten; vgl. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, Berlin 1920, S. 197223. 12 J. Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung, Koblenz 1826, S. 5.
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halb vorgeht, ohne daß sie selbst die mindeste Ähnlichkeit mit den Vorgängen der Umgebung besitzen“.13 Die Erregung „kann nur als Zeichen dafür dienen, daß sich in der Umwelt ein Reiz befindet, der den Rezeptor getroffen hat“.14 Der Umwandlung der Reize in Erregungswellen und Zeichen zufolge reproduziert die Umwelt die „objektiven Eigenschaften“ der Außenwelt nicht; sie bleibt – wie das Kantische Noumenon – an sich unerkennbar.15 Die letzte Etappe der semiotisch-transzendentalen Konstitution der arttypischen Umwelt ist der Vorgang der „Hinausverlegung“. Nachdem sie in optische, akustische, taktile etc. Reize separiert worden sind, werden die innerlich produzierten Zeichen und Schemata hinausverlegt. Im Ernährungskreis der Zecke löst zum Beispiel „der Reiz der Buttersäure […] im Merkorgan spezifische Merkzeichen aus, die als Geruchsmerkmal hinausverlegt werden“.16 Mit anderen Worten wird die Umwelt, die aus Merk- und Wirkzeichen als deren Bausteinen konstituiert ist, als äußere Umgebung erlebt; auf diese Weise wird die Verbindung zu den an sich unerkennbaren Quellen der Reize und den physiologischen Erregungswellen wieder hergestellt und der Organismus ist in der Lage, sich in einer Umwelt zu bewegen und zu handeln, die mit der noumenalen Außenwelt über13 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 59. 14 Ebd., S. 192; in diesem Zitat steht „Umwelt“ für „Umgebung“; Uexküll unter scheidet in der ersten Ausgabe von Umwelt und Innenwelt der Tiere zwischen den Begriffen „Umgebung“, „Außenwelt“ und „Umwelt“ noch nicht mit der Genauigkeit der späteren Werke. 15 Die Erklärung des Moments, an dem die Einflüsse aus der Außenwelt in die „mentale Sphäre“ von Tieren bzw. Menschen übertreten, ist in allen transzen dentalen Systemen sehr schwierig. Bei Kant finden wir die Idee einer „Rhap sodie von Wahrnehmungen“, denen nur die Tätigkeit der Vernunft eine „syn thetische Einheit“ verleiht (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1913, S. 152); bei Husserl finden wir das Problem des ersten Erscheinens von nicht-intentionalen Erlebnissen, den „hyletischen Daten“, die von der Intentio nalität des Bewusstseins zu noemata konstituiert werden (vgl. E. Husserl, Phä nomenologische Psychologie, Den Haag 1968, S. 166 u. S. 173); bei Uexküll die oben beschriebene Umsetzung der Reize aus der Außenwelt in eine problema tische, nicht-mimetische „nervöse Zeichensprache“ (J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 192), die sofort als Mittel für die Konstitution der Umwelt verwendet wird. Das gemeinsame Anliegen von allen diesen Autoren ist es, dem Subjekt ein Maximum an welt-konstitutiver Tätigkeit zuzuschreiben, ohne aber auf die Verbindung mit der Außenwelt zu verzichten (was zum Vor wurf eines zu starken Idealismus führen würde – ein Vorwurf übrigens, dem alle transzendentalen Ansätze doch immer ausgesetzt bleiben). 16 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, Berlin 1934, S. 7.
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einstimmt; wenn es nicht so wäre, dann wäre sein Handeln nicht nur ineffektiv, sondern würde auch das Leben der Art gefährden. Auch durch diese zusammenfassende Beschreibung wird offensichtlich, dass die These einer transzendentalen Umweltgestaltung durch das tierliche Subjekt nur in einem extrem teleologischen Theorierahmen möglich ist. Auf der Ebene der einzelnen Organismen wird die allgemeine Planmäßigkeit der Natur von derjenigen Instanz vertreten, die Uexküll „Bauplan“ nennt („Über der Innenwelt und der Umwelt steht der Bauplan, alles beherrschend“17). Der Bauplan bestimmt nicht nur die anatomische und physiologische Beschaffenheit des Organismus, sondern auch dessen Verhalten – oder, wie Uexküll vorzugsweise sagt, seine Handlungen. Das Handeln ist der Punkt, an dem der konkrete Organismus sich mit der transzendentalen Umwelt seiner Art auseinandersetzt und dessen Lebensmöglichkeiten (die Funktionskreise der Beute, des Reproduktionspartners, etc.) ausnützt, um seine Existenz weiterzuführen und neue Generationen zu erzeugen. Diese Überlegung darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob das tierliche Subjekt in der Umweltformation bewussten Absichten oder Zwecken folgen würde, sondern eher in dem Sinn, dass in der Natur eine übergeordnete Planmäßigkeit waltet, deren Wirkung blind, aber zweckgerichtet ist.18 Was die Umwelttheorie betrifft, so ist die natürliche Planmäßigkeit (die Uexküll manchmal mit einer etwas metaphysischen Bezeichnung auch „Naturfaktor“19 nennt) an zwei Stellen unentbehrlich: a) bei der schon erwähnten Verbindung der selbsthervorgebrachten Zeichen des Organismus mit den Dingen der Außenwelt, aus denen zuerst die Reize und dann die Erregungswellen resultieren; b) bei dem Einklang, der unter den verschiedenen „hinausverlegten Welten“ besteht; das gilt sowohl für die individuellen Umwelten der verschiedenen Artgenossen (beim hoch ritualisierten Balztanz von vielen Vogelarten beispielsweise, muss die subjektive Handlungssphäre beider Partner in einer sehr detaillierten Weise übereinstim17 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 7. 18 Für die Unterscheidung zwischen der bewussten Zielsetzung des Menschen und der blinden Planmäßigkeit der Tiere siehe J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 47-49. 19 Vgl. zum Beispiel J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 13: „Weder Bauplan noch Bildungsregel haben das mindeste mit dem wirklichen Naturfaktor zu tun, welcher die physikalisch-chemischen Prozesse zwingt, be sondere Bahnen einzuschlagen. Regel und Plan sind nur die Form, in der wir die Wirkungen jenes Naturfaktors erkennen.“
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men), als auch für solche Fälle, bei denen die arttypischen Umwelten von zwei oder mehr biologischen Arten interagieren (um vor einem Raubtier fliehen zu können, muss die Umwelt der Beute wenigstens in einigen Grundlinien mit der Umwelt des Raubtieres übereinstimmen). 2.2 Uexkülls neovitalistische Handlungstheorie Wie oben erwähnt findet die Umweltlehre in Uexkülls Theore tischer Biologie (1920, zweite Ausgabe 1928) eine bedeutsame Fortsetzung in Form einer weniger bekannten Handlungstheorie. Diese Theorie weist einen eindeutig spekulativen Charakter auf, stützt sich auf wenige Fallstudien und ist an vielen Stellen mit dem schweren Mangel belastet, dass sie nicht empirisch überprüfbar ist. Wenn wir diese Theorie hier dennoch in Betracht ziehen, dann weil sie uns den theoretischen Hintergrund von Uexkülls Forschungsprogramm, und insbesondere seine eindeutig antimechanistische Haltung, besser verstehen lässt, sowie aufgrund der Tatsache, dass der estnische Biologe die zeitgenössische Debatte über das tierliche Verhalten sehr gut kannte. Uexkülls Handlungstheorie wird in dem genannten Werk im achten Kapitel entfaltet, das den bedeutsamen Titel „Die Planmäßigkeit“ trägt.20 Mit explizitem Hinweis auf Reinke und Driesch behauptet Uexküll hier, dass die Hauptmerkmale des Lebendigen, und insbesondere die Fähigkeit, ganzheitliche Gestalten aufzubauen, einen empirisch feststellbaren Beweis für die allgemeine Planmäßigkeit der Natur liefert und Eigenschaften belegt, die weit über die mechanische Kausalität hinausgehen. Mit Uexkülls Worten: „Kant hat die Kausalität der konstitutiven Tätigkeit des Verstandes zugerechnet, dagegen die Planmäßigkeit dem regulativen Gebrauch der Vernunft zugewiesen. Das erweckt den Eindruck, als könne ein Plan niemals der integrierende Teil eines Gegenstandes sein, sondern sei bloß eine, wenn auch mit Notwendigkeit hinzugedachte menschliche Regel. Driesch hat diese Frage eingehend behandelt und nachgewiesen, daß die Planmäßigkeit ebenfalls zu den konstitutiven Eigenschaften zu rechnen sei.“21 20 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie. Zweite gänzlich neu bearbeitete Auflage (1928), S. 198. 21 Ebd., S. 199.
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Drieschs „Beweis“ der Anwesenheit eines immateriellen und planmäßigen Faktors (den Driesch in Anlehnung an Aristoteles „Entelechie“ nannte) bestand in einem Experiment, das er 1895 ausführte. Er zerschnitt die Gastrula eines Seeigels (Sphaerechinus granularis) in zwei Hälften und beobachtete im Laufe der folgenden Tage: „[…] so schließen sich zunächst beide Theile, die Wunden verheilen und die Kugelform stellt sich wieder her“.22 Heute wird die Tatsache, dass eine gespaltene Seeigelgastrula nicht nur überlebt, sondern aus beiden Hälften ein neues (wenn auch kleineres) Individuum entstehen lässt, auf die leitende Wirkung des DNA-Codes zurückgeführt, der in den Zellen von beiden Hälften vorhanden ist. Driesch hingegen (der vor der Entdeckung der DNA tätig war) sah in diesem Vorgang den Beweis der Existenz einer nicht-materiellen Kraft, die vom Skalpell des Experimentators nicht zerstört werden konnte und auf die geteilte Materie seine formbildende Wirkung weiter ausübte: Die „proportional-richtige Gliederung [der neuen Larven] weist […] auf eine Geschehensart principiell-nicht-maschineller specifisch-vitaler Art“.23 Historisch betrachtet verstehen wir unter Neovitalismus eben diejenige biologisch-theoretische Strömung, die sich nicht nur darauf beschränkt, die Anwesenheit von immateriellen vitalen Kräften und Faktoren im Organischen anzunehmen, sondern die zudem darauf abzielt, ihre Auswirkungen experimentell zu beweisen.24 Als neben Driesch besonders nah 22 H. Driesch, Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Ein Beweis vitalisti schen Geschehens, Leipzig 1899, S. 9 f.; Das Experiment mit der Seeigelgastrula wurde erstmals in „Zur Analysis der Potenzen embryonalen Organzellen“, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, II/1895/96, S. 169-203, er wähnt. 23 H. Driesch, Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, S. 10. 24 Für die Unterscheidung zwischen „Paläovitalismus“ und Neovitalismus und für die Verbindung zwischen dem letzten und anderen Ansätzen (Neolamarckismus, Psycholamarckismus) am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. G. Mann, „Neovitalis mus“, in: Medizinhistorisches Journal, 18(4)/1983, S. 378-383. Mann sieht die Anfänge des Neovitalismus in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, mit Georg Eduard Rindfleisch; außer Rindfleisch gehören zu dieser Strömung Gu stav Wolff, Anton Kerner von Marilaun, Eugen Albrecht, Paul Cossmann, Johan nes Reinke, Hans Driesch und Uexküll. Vgl. auch R. Mocek, Die werdende Form. Eine Geschichte der kausalen Morphologie, Marburg a. L. 1998. Die Haltung von Uexküll zum Neovitalismus, und insbesondere zu Driesch, ist aber immer kritisch gewesen, denn Uexküll sah genau, dass die Stärke seines Werkes nicht nur in der Hervorhebung der Planmäßigkeit des Lebendigen, sondern vor allem in der Idee der transzendentalen Konstitution der Umwelt bestand: „Bevor man sich dem Neovitalismus zuwendet, halte ich es jedoch für ratsam, abzuwarten,
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zu seinem eigenen Ansatz sieht Uexküll auch Karl Ernst von Baer. Der beobachtbare Plan der Organismen, so schreibt Uexküll, ist „die Form, in der wir die Wirkungen jenes Naturfaktors erkennen. Er selbst ist uns völlig unbekannt. Driesch nennt ihn in Anlehnung an Aristoteles die ‚Entelechie‘, Karl Ernst von Baer nannte ihn die ‚Zielstrebigkeit‘“.25 Kommen wir aber auf die Details von Uexkülls Handlungstheorie zurück. Auf der Basis des Begriffs des Funktionskreises erarbeitet Uexküll eine Theorie der tierlichen Handlung, die darauf abzielt zu zeigen, dass auch in den scheinbar mechanischsten Handlungen der Tiere ein Faktor am Werk ist, der ihnen insgesamt eine Planmäßigkeit verleiht. Wie bei dem Driesch-Experiment sind die formbildenden Kräfte, welche die Tierhandlungen gestalten, zwar nicht direkt beobachtbar; die Annahme „vom Walten eines Plans“26 jedoch erscheint Uexküll die einzig mögliche Erklärungsweise angesichts der Komplexität und des Systemcharakters des tierlichen Verhaltens: „Von der Art, wie die Pläne als immaterielle Faktoren auf die Materie wirken, wissen wir nichts, wir können nur ganz allgemein sagen, daß sie Impulse erteilen, die in der Materie weiter wirken. In diesem Sinne können wir den aktiven Plan als ein planmäßiges Impulssystem definieren.“27 Hier bemerkt man ein erstes Aufscheinen eines intermediären Elements zwischen dem immateriellen Faktor auf der einen Seite und den materiellen Elementen auf der anderen: die Impulse, die als eine Art von „organisierenden Vermittlungseinheiten“ eingeführt werden und dem Ziel dienen, physiologische und ethologische Prozesse reibungslos ablaufen zu lassen. Von diesem theoretischen Rahmen ausgehend unterscheidet Uexküll sechs Hauptformen der tierlichen Handlung – und zwar nach der Art, auf welche die Impulse zu einer einheitlichen Verhaltensgestalt werden. Bevor wir uns jedoch damit ausführlich befas-
was die reine Erkenntnislehre in der Durchdringung der biologischen Grund fragen zu leisten imstande ist“ (J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 32). Für eine ausführliche Darlegung der Verbindungen zwischen Uex küll und den verschiedenen Neovitalisten vgl. das „Nachwort“ und die weiteren, sorgfältigen kritischen Apparate von F. Mildenberger, B. Herrmann (Hrsg.), J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelten der Tiere, Berlin, Heidelberg 2014. 25 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), S. 13; dasselbe Zitat findet sich auch in J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage (1921), S. 10. 26 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 201. 27 Ebd., S. 205.
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sen können, muss mehr über die gemeinsame Quelle der Autonomie und Planmäßigkeit gesagt werden, die in einem je verschiedenen, aber immer höheren Grad alle Handlungsformen kennzeichnet. Diese gemeinsame Quelle wird in Uexkülls Zellenphysiologie thematisch, nach der die Zelle eine selbstorganisierende „lebende Einheit“ darstellt, die er als „Autonom“ bezeichnet.28 Diese Bezeichnung ist mit der explizit vitalistischen Position verbunden, die Uexküll in der Debatte um die Funktion des Protoplasmas (d. h. der gel- und eiweißartigen Masse, die den Zellkern umgibt) einnahm – einer Spezialdebatte innerhalb des umfassenderen MechanismusVitalismus-Streits.29 Nach der ersten Erarbeitung der Zelltheorie durch Schleiden und Schwann (1838–39),30 hatten sich die Biologen in zwei Parteien gespalten: Die eine schrieb den mechanischen Elementen (den Zellorganellen) die führende Rolle im Leben der Zelle zu, dem Protoplasma hingegen nur eine Nebenfunktion (meistens die Ernährung der mechanischen Teile). Die zweite Partei, zu der Uexküll und andere Vitalisten gehörten, sah das Protoplasma als Repräsentant von übermateriellen Kräften an (je nach Autor als vis vitalis, nisus formativus usw. bezeichnet), die imstande seien, die mechanischen Zellkomponenten materiell zu gestalten und physiologisch zu organisieren.31 Was Uexküll betrifft, so behauptet er 1921, dass das Protoplasma der Träger von drei grundsätzlichen „übermaschinellen Eigenschaften“ sei: Formbildung, Regeneration und Regulation. Mit anderen Worten, zu den Leistungen des Protoplasmas zählt er den Aufbau von (einzelligen und mehrzelligen) Organismen, die Reparatur und (in einigen Organismen) den Ersatz von geschädigten Körperteilen sowie die Organisation der Reaktionen auf die Außenwelt (Regulation). Darüber hinaus formuliert er eine allgemeine Regel, welcher die Tätigkeit des Protoplasmas folgt: „Struktur hemmt 28 Ebd., S. 201. 29 Vgl. auch E. Radl, Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit (1909), Hildesheim, New York 1970, Bd. 2, S. 512-539; R. Schubert-Soldern, Philosophie des Lebendigen auf biologischer Grundlage, Graz, Salzburg, Wien 1951, S. 15 ff.; G. Rudolf, „Das Mechanismusproblem in der Physiologie des 19. Jahrhunderts“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 3/1983, S. 7-28. 30 M. J. Schleiden, T. Schwann, M. Schultze, Klassische Schriften zur Zellenlehre, eingeleitet und hrsg. von I. Jahn, Leipzig 22003. 31 Vgl. A. Dröscher, „Edmund B. Wilson’s The Cell and Cell Theory between 1896 and 1925“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 24(3/4)/2002, S. 357389; G. L. Geison, „The Protoplasmic Theory of Life and the Vitalist Mechanist Debate“, in: Isis, 60(3)/1969, S. 272-292.
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Strukturbildung“.32 Diese Regel soll die Tatsache erklären, dass sich bei mehrzelligen Tieren der Bauplan in festen Strukturen umsetzt, die im Erwachsenenstadium keine wesentliche Änderung mehr zulassen (und deswegen auch geeignet sind, mechanistisch analysiert zu werden). Bei einigen einzelligen Tieren hingegen, wie Amöbe und Paramaecium, wird die spontane, übermaschinelle Formbildungstätigkeit des Protoplasmas von keinen festen Strukturen gehemmt: „Naturgemäß tritt bei Tieren, deren Haupttätigkeit darin besteht, Augenblicksorgane zu schaffen und wieder zu vernichten, wobei sich dauernd der Bauplan ändert, die übermaschinelle Regulation sehr stark in den Vordergrund“.33 Die Bildung von Augenblicksorganen bei der Amöbe ermöglicht es uns, Uexkülls neovitalistische, physiologische Auffassung des Protoplasmas mit seiner Handlungstheorie in Verbindung zu setzen. In der Tat, was physiologisch betrachtet wie eine Form von übermaschineller Regulation erscheint, ist in der Perspektive der heutigen Ethologie ein Verhaltensmodus oder, in der Terminologie von Uexküll, eine durch innerlich erzeugte Impulse gesteuerte tierliche Handlung. Wobei die Pointe ist: Wenn diese doppelte Perspektive für die Amöbe fruchtbar ist, dann kann dasselbe auch für das Verhalten von mehrzelligen Tieren gelten. Es ist nur die Präsenz von festen Strukturen (Organen, Geweben, aber auch von angeborenen Verhaltensweisen), die den materialistisch gesinnten Forscher daran hindert, die regulative Tätigkeit des Protoplasmas auch in den Handlungen der Tiere am Werk zu sehen. 2.3 Die sechs Formen der tierlichen Handlung Nachdem wir festgestellt haben, dass für Uexküll das Protoplasma die (mehr oder weniger sichtbare) Quelle der Autonomie aller tierlichen Verhaltensmodi ist, können wir auf die sechs Formen der tierlichen Handlung eingehen, die Uexküll im achten Kapitel seiner Theoretischen Biologie unterscheidet: Reflexhandlung, Formhandlung, Instinkthandlung, plastische Handlung, Erfahrungshandlung, kontrollierte Handlung. Wegen der Abwesenheit einer phylogenetischen oder evolutiven Einbindung muss Uexküll die Kriterien der Klassifikation aus den Elementen seiner Philosophie des Lebendi32 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1921), S. 11. 33 Ebd., S. 21.
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gen ableiten, und insbesondere aus der Annahme eines immateriellen Plans, der sich in unterschiedlichen Impulsen ausdrückt. Zu diesem Zweck gibt Uexküll eine vorläufige Definition von tierlicher „Handlung“: Die Handlung ist der sichtbare Anteil von demjenigen „Funktionskreis“, der vom Moment der Rezeption des Stimulus bis zur Aktivierung des Effektor-Organs abläuft. Genauer betrachtet umfasst dieser Kreis folgende Elemente: Rezeptor – Merk organ – Wirkorgan – Effektor. Für diese Elemente schlägt Uexküll die Abkürzungen R – MO – WO – E vor. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss betont werden, dass „Rezeptor“ und „Effektor“ bei Uexküll für periphere Körperteile (wie Sinnesorgane und Muskeln) stehen, während die Begriffe „Merkorgan“ und „Wirkorgan“ innere Komponenten des Nervensystems bezeichnen, die die Aufgabe haben, sensorische Daten zu verarbeiten und motorische Impulse zu erzeugen. Gehen wir, dieses generelle Schema berücksichtigend, einen Schritt weiter. Nach Uexküll hängt die Klassifizierung der unterschiedlichen Handlungsformen von einem besonderen Charakteristikum des Funktionskreises ab, in dem die Handlung stattfindet: „[…] je nachdem die Funktionskreise bereits vorgebildetes Gewebe vorfinden, oder es erst neu schaffen müssen, indem sie die Zellautonome durch Impulse zur Neubildung anregen, unterscheiden wir die verschiedenen Arten der bekannten Handlungen“.34 Die Pointe hier ist, dass die vom Naturfaktor herkommenden, planmäßigen Impulse nach Uexküll immer am Werk sind; manchmal jedoch drückt sich ihre Wirkung durch Neubildung von Organen und Geweben aus (wie bei der Amöbe), ein anderes Mal hingegen in der Verwendung von bleibenden Strukturen. Um die zwei Wirkungsarten der Impulse auf die vier Elemente des Funktionskreises (R, MO, WO, E) zu unterscheiden, verwendet Uexküll ein besonderes graphisches Hilfsmittel: Wenn die Wirkung ohne Neubildung ausgeübt wird, finden wir die Schreibweise „R/I, MO/I, WO/I, E/I“; erfolgt sie hingegen durch Neubildung, dann finden wir „RI, MOI, WOI, EI“ (um ein unmittelbares Einwirken der Impulse auf die Handlungselemente zu signalisieren). Die zwei Wirkungsarten sind nicht als scharfe Alternativen zu verstehen: Wie wir sehen werden, kann die Neubildung auch nur ein Element des Funktionskreises betreffen.
34 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 205.
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2.3.1 Die Reflexhandlung Die Formel der Reflexhandlung ist „R/I – MO/I – WO/I – E/I“, was bedeutet, dass in keiner Phase des Funktionskreises, von dem die Reflexhandlung der beobachtbare Teil ist, ein Element neugebildet wird. Das erklärt den von den Reflexen erweckten Eindruck, es handele sich dabei um mechanische Prozesse. Nach Uexküll jedoch muss man, auch wenn die mechanistische Perspektive nützlich ist, um den „energetischen“ Ablauf aller Handlungen zu verstehen – „die Erregungsübertragung sowie ihre Umschaltung [sind] rein mechanische Probleme“; „der Erregungsablauf in einem Tier während jeder Handlung [setzt] einen lückenlosen Steuermechanismus [voraus]“35 –, um ein komplettes Bild der Reflexhandlung zu erlangen, „die Autonome und die in ihnen waltenden Impulse [berücksichtigen], denen die Betriebsleitung [der Handlung] obliegt“.36 Diese Einsicht ist besonders wichtig, weil die mechanistische Biologie immer wieder versucht, „alle übrigen Handlungen als Reflexhandlungen aufzufassen“37, z. B. bei der Tropismenlehre von Jaques Loeb38 oder der Instinkttheorie Zieglers (siehe unten 2.3.3 „Die Instinkthandlung“). Die Verteidigungsstrategie von Uexküll gegenüber solchen Ansätzen wird hier deutlich: Wenn die Reflexe selbst komplexe Funktionskreise sind und der planmäßigen Wirkung der Impulse unterliegen, dann ist auch eine eventuelle Zurückführung aller Handlungen auf reflexartige Verhaltensweisen keine ernsthafte Gefahr für seinen Erklärungsansatz. 2.3.2 Die Formhandlung Die Formel der Formhandlung ist „R/I – MO/I – WO/I – EI“, was bedeutet, dass „die Effektoren vor unseren Augen jedesmal neu gebildet werden, bevor die eigentliche Handlung beginnt“.39 Mit anderen Worten, es handelt sich hier um Handlungen, bei denen die Auslösung der Handlung reflektorisch verläuft, die Ausführung hingegen sehr plastisch ist, weil sie „durch Änderung der äußeren oder inneren Form des Tieres“40 erfolgt. Dieses ist der Fall bei der 35 36 37 38 39 40
Ebd., S. 206. Ebd. Ebd. Zu Loeb vgl. den Beitrag von Fangerau in diesem Band. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 206. Ebd., S. 207.
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Pseudopodienbildung der Amöben („die Aussendung eines Pseudopodiums ist auf das Aktivwerden eines Planes zurückzuführen. Die Aktivierung eines Planes kann nur erfolgen durch das Einsetzen eines Impulses“41) oder bei der Bildung des Verdauungsapparats bei den Infusorien; in diesen Fällen ist die augenscheinliche Gefügebildung integrierender Bestandteil der Handlung. Der Eindruck der Spontaneität, den dieser Handlungstyp verleiht, wird von der Tatsache verstärkt, dass die Gefügebildung – z. B. „die zeitlich aufeinanderfolgenden Bildungen von Mund, Speiseröhre, Magen usw. der Infusorien“ – rhythmisch ist: „Die Betriebsleitung offenbart sich dabei als ein selbständiger Vorgang, der seinen eigenen Rhythmus besitzt“.42 Der Rhythmus wird von den Erregungswellen, die von den Rezeptoren ausgehen, zwar beeinflusst, nicht aber erzeugt. Wie es bei Uexküll üblich ist, ist die Erwähnung eines Rhythmus oder anderer „melodieartiger“ Eigenschaften als Hinweis dafür zu betrachten, dass ein lebendiger Prozess einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgt: „Die Impulse, die die Gefügebildung veranlassen, müssen durch eine eigene Regel zu einem einheitlichen Imperativ verbunden sein.“43 2.3.3 Die Instinkthandlung Die Formel der Instinkthandlung ist „R/I – MO/I – WOI – E/I“, was bedeutet, dass bei ihr der Höhepunkt der impulsgebundenen Plastizität bei den Wirkorganen des Tieres liegt, und zwar bei demjenigen Teil des Nervensystems, der für die Ausführung des motorischen Abschnitts eines Funktionskreises zuständig ist. Die extreme Plastizität, welche die Effektorenbildung bei den Amöben gekennzeichnet, kann hier nicht festgestellt werden, aber es gilt: „Plastisch kann die Ausführung einer Handlung auch bleiben, wenn die Effektoren eine feste Gestalt besitzen und nur die Regel ihrer Anwendung von außen her mittels der Erregung beeinflusst wird“.44 Weit von der Annahme entfernt, die Instinkthandlung hänge von einer einheitlichen Struktur des Wirkorgans streng ab, betrachtet Uexküll sie
41 Ebd., S. 212. 42 Ebd., S. 206. 43 Ebd., S. 207; für den Rückgriff auf musikalischen Metaphern bei Uexküll siehe C. Brentari, The Discovery of the Umwelt. Jakob von Uexküll between Biosemiotics and theoretical Biology, S. 213 f. 44 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 207.
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als ein flexibles Gefüge. Nicht nur entsteht die Instinkthandlung aus einem „außerordentliche[n] Reichtum an planmäßig ineinander greifenden Einzelbewegungen“,45 sie ist auch perzeptorisch gesehen viel flexibler, als man glaubt. Zwar sind die Merkmale, welche die Instinkthandlung in Gang setzen, fix und unabänderlich („die Merkmalaufnahme [bleibt] streng reflektorisch und ganz unplastisch“46); die Ausführung aber „kommt nur dadurch zustande, daß dem Tier eine größere Zahl von Merkmalen zur Verfügung steht, die es ihm ermöglicht, in einem breiten Rahmen den Veränderungen der sich ihm bietenden äußeren Umstände dadurch Rechnung zu tragen, daß es den Rhythmus seiner Handlungsfolge entsprechend der Verschiedenheit der Merkmale ändert“.47 Auch bei dem Menschen, fährt Uexküll fort, werden diejenigen Handlungen „instinktiv“ genannt, die aus einer Reihe planmäßiger Bewegungen bestehen, einer eigenen Planmäßigkeit folgen und doch „in ihrem Rhythmus den äußeren Umständen angepaßt“ sind, „ohne selbst zwangsläufig zu sein“.48 Mit einer ausführlichen Analyse der Implikationen von Uexkülls Handlungstheorie werden wir uns später befassen, und zwar nachdem wir die Darstellung aller Handlungsformen zu Ende geführt haben. Es ist aber schon hier angebracht, anzumerken, dass Uexkülls Auffassung der Instinkthandlung den populärsten Instinkt theorien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, und insbesondere der Reflexketten-Theorie des Instinkts, direkt entgegengesetzt ist. Diese Theorie verstand die Instinkte als komplexe Abfolgen mechanischer Reflexe; sie wurde durch physiologische Untersuchungen über das Verhalten der Evertebraten sowie durch Reflexstudien an Wirbeltieren gestützt (die unter anderem von Jacques Loeb, Charles Scott Sherrington, Iwan Pawlow, Vladimir Bechterew und, in Deutschland, Heinrich Ernst Ziegler durchgeführt wurden).49 Auch die beiden von Uexküll erwähnten, aber nicht ausführlich analysierten Beispiele von instinktiven Verhaltensweisen – die In45 46 47 48 49
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. I. Brigandt, „The Instinct Concept in the Early Konrad Lorenz“, in: Journal of the History of Biology, 38(3)/2005, S. 571-608, hier S. 575; K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffes“ (1937), in: ders., Über tierisches und mensch liches Verhalten, Bd. 1, S. 285 u. S. 328 ff. (erste Ausgabe in: Folia Biotheoretica, 2/1937, S. 17-50).
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stinkthandlungen der Trichterwickler (Deporaus Betulae) und der Schlupfwespe (Fam. der Ichneumonidae) – zeugen von der Tatsache, dass Uexküll die zeitgenössische Debatte über die Instinkte gut kannte,50 und dass er eine explizit neovitalistische Stellung einnahm, indem er die Plastizität nicht nur der Instinkte, sondern selbst der Reflexe hervorhob. 2.3.4 Die plastische Handlung Die plastische Handlung, deren Formel „R/I – MOI – WO/I – E/I“ ist, ist der beobachtbare Teil eines Funktionskreises, der eine hohe Plastizität der Merkorgane aufweist, „während der Ablauf der Vorgänge im Wirkorgan reflektorisch ist“.51 Als Beispiel nennt Uexküll Pawlows Experiment über die Klassische Konditionierung von Hunden, bei der die „Speichelsekretion an neue Merkmale optischer oder akustischer Art“ gebunden wurde. Zwar müssen diese Merkmale in der spezies-spezifischen subjektiven Umwelt der Hunde schon vorhanden sein, aber dann werden sie „an bisher von ihnen nicht beeinflußte effektorische Vorgänge“ gebunden.52 Wie es immer bei Uexküll der Fall ist, ist die Wirkung der neuen Merkmale nicht direkt, sondern sie wird durch die Erzeugung neuer intraorganischer Impulse vermittelt. Deswegen kann Uexküll behaupten, dass bei der plastischen Handlung die „Plastik […] in der Einführung bisher unbenutzter Impulse in diese Gesetzmäßigkeit“ gründet.53 Die Beziehung zwischen Merkmalen und Impulsen in der plastischen Handlung kann nicht angemessen verstanden werden, wenn man nicht berücksichtigt, dass für Uexküll die Merkmale keine objektiven Elemente der Außenwelt sind, sondern vom Subjekt hervorgebrachte transzendentale Umweltelemente (welche, entsprechend den Kantischen Überlegungen zur Organisation der Sinnlichkeit, aus an sich nicht erkennbaren Reizen der Außenwelt vom Subjekt erarbeitet werden). Wenn Uexkülls These von der Abhängigkeit der Handlung von den Impulsen auch problematisch bleibt, 50 Insbesondere der Trichterwickler wurde als eine Art Paradebeispiel von instink tiven Verhaltensweisen betrachtet; vgl. E. Wasmann, Der Trichterwickler: eine naturwissenschaftliche Studie über den Thierinstinkt, Münster 1884. Schlupf wespen hingegen waren die Modellorganismen der Forschung von Jean-Henri Fabre, zu Fabre vgl. Köchy in diesem Band. 51 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 208. 52 Ebd. 53 Ebd.
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ihre Absicht ist jedoch klar. Pawlows Experiment zielte darauf ab, durch Konditionierung auf künstliche Reize neue reflexartige Verhaltensweisen ins Repertoire der Tiere einzubringen; Uexkülls Interpretation desselben Experiments versucht hingegen, wie bei der Instinkthandlung, die Plastizität und Autonomie auch bei den konditionierten „Reflexen“ zu zeigen – wobei die Grundidee ist: Wenn beinahe alle Handlungen der Tiere wenigstens in einem Moment ihres Ablaufs plastisch sind, dann ist es eben deswegen möglich, sie weiter zu gestalten. Dieses explizit antimechanistische und antireduktionistische Denkschema werden wir auch bei der zweiten Theorie wiederfinden, die Uexküll zur Erklärung des tierlichen Verhaltens vorschlägt. 2.3.5 Die Erfahrungshandlung Die Formel der Erfahrungshandlung ist „R/I – MOI – WOI – E/I“; das heißt, dass ihre Plastizitätshöhepunkte – die Stellen, an denen „ein Eingreifen von Impulsen anzunehmen“ ist54 – sowohl bei den Merk- als auch bei den Wirkteilen des Nervensystems zu finden sind. Es muss dabei daran erinnert werden, dass diese Teile intraorganisch sind, während die peripheren Organe (Rezeptoren und Effektoren) fest und unverändert bleiben. Die Erfahrungshandlung, schreibt Uexküll, „kennzeichnet sich dadurch, daß nicht allein eine neue Zusammensetzung von Merkmalen im Merkorgan entsteht, sondern auch eine neue Regel im Handlungsorgan die Muskelbewegungen […] beherrscht“.55 Als Beispiel für eine Erfahrungshandlung nennt Uexküll den Fall eines Jungen, der seinen Dompfaff (Pyrrhula pyrrhula) durch Vorpfeifen dazu bringt, eine neue Melodie zu lernen. Das Beispiel zeigt, dass hier „die Betriebsleitung selbst“56 plastisch ist, was im Falle der Instinkthandlung nicht passiert. Im Vergleich zur Erfahrungshandlung „scheint die Instinkthandlung vom ersten Einsetzen an bereits vollkommen fertig zu sein, während die Erfahrungshandlung erst allmählich gelernt werden muß“.57 Das heißt aber nicht, dass die Instinkthandlung durchgehend statisch und vorprogrammiert ist; wie wir gesehen haben, ist auch instinktives Verhalten für Uexküll plastisch, insbesondere 54 55 56 57
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was den Rhythmus der Bewegungsabfolge und die Verbindung zu den Merkmalen betrifft. Die Erfahrungshandlung aber lässt nicht nur eine beschränkte Änderung der Handlungsgestalt zu, sondern das Auftreten von vollkommen neuen Gestalten (was das direkte Eingreifen der teleologischen Impulse voraussetzt): „In der Instinkt handlung ändert sich bloß die Mechanik, in der Erfahrungshandlung ändern sich die Mechanisatoren.“58 2.3.6 Die kontrollierte Handlung Wie Uexküll scheibt, sind einige Erfahrungshandlungen so einfach, dass sie, „wenn sie oft wiederholt werden, zu Reflexen werden“59; andere hingegen brauchen die Selbstwahrnehmung des Organismus und eine aktive Kontrolle der Muskelbewegungen. Diese komplexere Form der Erfahrungshandlung ist die kontrollierte Handlung, bei der „die Tätigkeit der eigenen Effektoren durch die eigenen Rezeptoren“ ständig kontrolliert wird (wie eben im Fall des Erwerbs einer neuen Melodie durch einen Singvogel). Konsequenterweise ist ihre Formel „R/I – MOI ↔ WOI – E/I“. Auch von den kontrollierten Handlungen gibt es mehrere Untertypen, je nach der Art, wie die Kontrolle verläuft. In einigen Fällen werden die Daten von außerhalb des Körpers gesammelt (wie im Fall des Dompfaffs, der die eigenen Töne in dem Raum um seinen Kopf wahrnimmt); in anderen hingegen ist der Vorgang völlig innerorganisch: „Viel häufiger findet die Kontrolle innerhalb des Körpers statt. Hier sind zwei Fälle [weiter] zu unterscheiden: entweder wird die Bewegung der Effektorenmuskeln durch besondere sensible Nerven rezipiert. […] Oder es wird die den effektorischen Nerven übertragene Erregung durch besondere zentrale Rezeptoren zum Teil aufgefangen und dem Merkorgan zugeführt“.60 Wie Uexküll ausführt, sind Erfahrungshandlungen besonders üblich beim Menschen, der über alle Arten von Propriorezeption verfügt: „[…] so hat der Mensch die Fähigkeit, seine eigenen Bewegungen erstens durch das Auge oder das Tastorgan, zweitens durch Muskelempfindungen und drittens durch Richtungszeichen zu kontrollieren.“61
58 59 60 61
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2.4 Schlussbemerkungen zu Uexkülls erster Handlungstheorie Die Handlungstheorie, die Uexküll 1928 vorschlug, weist von heute aus betrachtet viele theoretische Schwächen auf. Ihr vitalistischer und fast metaphysischer Hintergrund, nach dem die Hauptrolle einem teleologisch orientierten Naturfaktor zukommt, dessen Wirkung sich in innerorganisch hervorgebrachten Impulsen ausdrückt, wird explizit als nicht empirisch überprüfbar präsentiert: „[…] die übermechanischen Eingriffe werden niemals zur sinnlichen Deutlichkeit gelangen“.62 Auch die Beispiele, welche die verschiedenen Handlungsformen darlegen sollten, sind nach den Kriterien der heutigen Verhaltensforschung unzulänglich; insbesondere für die höheren Handlungsformen werden zu wenige Beispiele angeführt. Noch dazu scheint sich Uexküll über einige methodische Probleme nicht im Klaren zu sein. Das wird z. B. deutlich, wenn er die kontrollierte Handlung durch Beispiele erläutert, die nur aus dem Repertoire von domestizierten Tieren in Interaktion mit Menschen (dem Dompfaff) oder vom Menschen selbst stammen. Selbst die Ausdehnbarkeit einiger Kategorien des tierlichen Verhaltens auf die Sphäre des menschlichen Handelns scheint dem Autor keine besonders problematische Angelegenheit zu sein. Besser ausgeführt ist hingegen die Analyse der niederen Formen der Handlung, die sich aber in einer Art Grenzzone zwischen Zellphysiologie und Verhaltensforschung bewegt. Um allerdings der Bedeutung der Uexküllschen Handlungstheorie wirklich gerecht zu werden, darf man sein Anliegen nicht aus dem Auge verlieren. Was Uexküll beabsichtigte, war, seine antimechanistische Position nicht nur für die Gebiete der Physiologie und Embryologie zu behaupten (was schon Driesch getan hatte), sondern sie auf die Theorie des Verhaltens auszudehnen. Deswegen setzte er der Reflextheorie und der Reflexketten-Instinkttheorie die Plastizität der Impulse entgegen. Nach den Auffassungen der Gegner schienen sich die Leistungen des Organismus darauf zu beschränken, auf äußere Bedingungen zu reagieren. In diesem Zusammenhang wurde die Reflextheorie häufig mit einer deterministisch deklinierten Theorie der natürlichen Auslese verglichen, wie sie von Spencer vorgelegt wurde.63 Uexküll hatte hingegen vor, die sponta62 Ebd., S. 213. 63 „In the very definition of Life, when reduced to its most abstract shape, this ultimate implication becomes visible. All vital actions, considered not separately
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ne Rolle des Subjekts hervorzuheben. So schrieb er zum Beispiel: „[…] die Impulsmelodie [ist] ein völlig autonomer Vorgang […], der nur dem Subjekt angehört und durch äußere Umstände wohl angeregt, aber nicht gebildet werden kann“.64 Die Spontaneität des Subjekts wird auch daran deutlich, dass in keinen der oben erwähnten Formeln der Nexus RI zu finden ist. Die Formel „RI“ würde bedeuten, dass der höchste Plastizitätspunkt in der diesbezüglichen Handlungsform den Rezeptoren zugeschrieben wäre. Die Tatsache, dass diese Bedingung niemals erfüllt ist, kann durch zwei alternative Annahmen erklärt werden: Entweder will Uexküll die Rolle der Rezeptoren als „Vermittler“ der Wirkungen der Außenwelt einfach minimieren, oder aber er ist überzeugt davon, dass die Rezeptoren grundsätzlich immer plastisch sind (weil sie die undifferenzierten Erregungswellen aus der Außenwelt stets in bedeutungsreiche Umweltelemente umwandeln und sie dann wieder hinausverlegen). Insbesondere bei der zweiten Annahme hätte es keinen Sinn, nach einer spezifischen Handlungsform zu suchen, die sich durch eine besondere Plastizität der Rezeptoren auszeichnen würde.
3. Von der Physiologie zum beobachtbaren Verhalten der höheren Tiere Im Jahre 1934, sechs Jahre nach Erscheinen der zweiten Ausgabe von Theoretische Biologie, veröffentlicht Uexküll das Buch Streif züge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, eine populärwissenschaftliche Abhandlung mit Illustrationen von G. Kriszat. Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen ist ein kurzes und leicht lesbares Buch, das darauf abzielt, Uexkülls Überlegungen einem größeren Publikum als dem seiner bisherigen Monographien und Aufsätze zugänglich zu machen. Es ist für ein Publikum von gebildeten, aber nicht fachkundigen Lesern geschrieben, die an Problemen des tierlichen Verhaltens, aber deutlich weniger an Fragestellungen der theoretischen Biologie interessiert sind. Dabei handelte es sich grundsätzlich um denselben Leserkreis, but in their ensemble, have for their final purpose the balancing of certain outer processes by certain inner processes“ (H. Spencer, A System of Synthetic Phi losophy – First Principles, London 1867, S. 82). 64 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 209.
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der einige Jahre später auch die Studien des jungen Lorenz sowie die tierethologischen Schriften der europäischen Wissenschaftskultur verfolgte.65 Konsequenterweise finden in diesem Kontext die vitalistischen Elementen der vorigen Werke, wie die Rolle des Protoplasmas oder die Frage der Impulse, wenig Raum und geringe direkte Aufmerksamkeit (auch wenn, wie wir sehen werden, der theoretische Kontext des Buches immer noch vitalistisch geprägt ist und die Annahme einer allgemeinen Planmäßigkeit der Natur ein integrierender Bestandteil der Uexküllschen Interpretationen des Lebendigen bleibt). Den Kern des Werks bilden eine Reihe interessanter Fälle von Umweltstudien aus dem Leben von Tieren und zahlreiche Exkurse in den Bereich des Volkstümlichen sowie der Populärpsychologie. Wenn auch neu durchdacht, ein großer Teil des Materials stammt aus vorherigen Arbeiten, insbesondere aus Umwelt und Innenwelt der Tiere; daneben finden sich Hinweise auf von Frischs Versuche mit Bienen und Lorenz’ Versuche mit sozialen Corviden, denen Uexküll großen Raum widmet, zusammen mit einigen Klarstellungen von geringerer Wichtigkeit (etwa zur Gestaltwahrnehmung von Regenwürmern). Das Hauptziel des Buches besteht in der Vermittlung einer einfachen Botschaft: Die Umwelt von Tieren jeder Art ist eine spezifische und eigenständige Wahrnehmungs- und kognitive Konstruktion, die ausgehend von der Beobachtung des äußeren Verhaltens einzelner Subjekte empirisch zugänglich ist. Die Grundidee von Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, die Uexküll in einer einfachen und zugänglichen Sprache vermitteln möchte, ist, dass Tiere nicht darauf beschränkt sind, eine bereits geformte äußere Welt hinzunehmen, sondern dass sie an aktiven Prozessen der Sinnbildung beteiligt sind. Jede Art von Lebewesen, so ist zu erinnern, übt auf spezifische Weise eine Leistung der synthetischen Vereinheitlichung und der Hinausverlegung von Reizen aus, die an sich selbst (d. h. auf der innerorganischen Ebene) nichts anderes sind als Erregungswellen ohne jede Ähnlichkeit mit den Eigenschaften der äußeren Wirklichkeit. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind überaus unterschiedlich. Sie rei65 In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, während einer Reihe von populärwissen schaftlichen Vorträgen bei dem österreichischen Kulturverein „Urania“, wurde auch Lorenz das wachsende Interesse des Publikums gegenüber dem Tierleben bewusst; vgl. B. Föger, K. Taschwer, Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, S. 57 f.
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chen von äußerst armen Umwelten, wie derjenigen der Meduse, die aus einer einzigen Merkmal-Wirkmal-Sequenz besteht (wobei das Merkmal nicht einmal hinausverlegt wird),66 zu immer reichhaltigeren Umwelten, wie denen von Hunden, die ihrer Beschaffenheit nach so flexibel sind, dass sie Merkmale besitzen, die für andere Arten nützlich sind (insbesondere für den Menschen).67 Anders als in Umwelt und Innenwelt der Tiere bleibt die Analyse der Streifzüge jedoch nicht auf den Bereich niederer Tiere beschränkt. Und das impliziert, dass zu den grundlegenden Koordinaten der Umwelt durch eine fortschreitende Ausarbeitung von sinnlichen, räumlichen und zeitlichen Daten weitere Koordinaten hinzukommen. Zu den wichtigsten „höheren Umweltmerkmalen“ gehört das, was Uexküll als die „Färbung“ oder den „Ton“ von Reizen definiert: Die Reize erhalten, woher sie auch immer stammen und nachdem sie in einen bestimmten Funktionskreis eingeführt worden sind, eine besondere qualitative Färbung, die ihren Gehalt überlagert. Die Beute wird nicht als etwas Neutrales wahrgenommen, sondern als „gefärbtes“ Objekt mit einem bestimmten „Freßton“. Darüber hinaus entspricht der Färbung der Umwelt eine spezifische „Stimmung“ des Organismus. In der Umwelt der Beute, um ein weiteres Beispiel zu nennen, nimmt der Feind eine besondere Färbung, den „Fluchtton“ an, wobei dieser einem inneren Zustand entspricht, der mit einem diffusen Gefühl von Angst oder Bedrohung einhergeht. Wie bereits Portmann in seinem Vorwort zur Ausgabe der Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen von 1956 hervorhob, besteht einer der Grundzüge von Uexkülls Ansatz in der Erforschung der genauen Entsprechung zwischen den Eigenschaften des Objekts und der inneren Erfahrung (des Organismus): „Wie umsichtig betreibt Uexküll diese Einführung des Subjektes in die Biologie! Er stellt fest, daß die Dinge der Umgebung einen Erlebniston haben, daß ihnen ihrer Rolle gemäß eine Qualität zukommt, die wir zwar in ihrem subjektiven Gehalt nicht kennen, deren Wirken wir aber aus dem Tun des Tiers erschließen können […]. ‚Tönung‘, das ist eine erste Feststellung auf dem Wege zur verborgenen Innerlichkeit.“68 66 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, S. 35. 67 Ebd., S. 61 f. 68 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann, Hamburg 1956, S. 10.
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Die Idee der Tönung von bestimmten Umweltdingen, die mit einer höheren transzendentalen Erarbeitung der wahrgenommenen Umwelt zusammenfällt, stellt den Leitfaden der Uexküllschen Interpretation von vielen erklärungsbedürftigen Fällen des tierlichen Verhaltens dar. Viele von ihnen sind inzwischen zu klassischen Fallstudien der Ethologie geworden (was nicht überraschen sollte, wenn man bedenkt, dass Uexküll viele seiner empirischen Befunde den Beobachtungen von Lorenz und von Frisch verdankt). Ich beschränke mich auf zwei Fälle, an denen die Interpretationslinie von Uexküll besonders deutlich wird: der Fall des Stars (Sturnus vulgaris), der eine imaginäre Fliege jagt und verschluckt, und das Phänomen der Prägung auf falsche Beziehungsobjekte (Mutter, sexuelle Partner) bei den sozialen Vögeln. Was den ersten Fall betrifft, so beschreibt Uexküll das Verhalten des Stars auf folgende Weise: Ein befreundeter Forscher (Lorenz) „hatte einen jungen Star im Zimmer aufgezogen. Der Vogel hatte keine Gelegenheit, je eine Fliege zu sehen, geschweige denn zu fangen. Da beobachtete er, daß der Star plötzlich auf einen unsichtbaren Gegenstand losfuhr, ihn in der Luft erschnappte, mit ihm auf seinen Sitzplatz zurückkehrte und nun mit dem Schnabel darauf loshackte, wie das alle Stare mit gefangenen Fliegen zu tun pflegen, und dann das unsichtbare Ding hinunterschluckte. Es bestand kein Zweifel darüber, daß der Star die Erscheinung einer imaginären Fliege in seiner Umwelt gehabt hatte. Offenbar war seine ganze Umwelt derart mit dem ‚Freßton‘ geladen, daß auch ohne das Auftreten eines sinnlichen Reizes das sprungbereite Wirkbild des Fliegenfangs das Auftreten des Merkbildes erzwang, was zur Auslösung der ganzen Handlungsfolge führte“.69 Für Lorenz ist das Verhalten des Stars ein Beispiel von denjenigen „Leerlaufreaktionen“, die sich in Gang setzen, wenn die instinktspezifische Energie für lange Zeit nicht entladen werden konnte. Was die Frage des subjektiven Erlebnisses betrifft, das die Energieentladung begleitet haben könnte, ist Lorenz hingegen viel vorsichtiger: „Besonders das Verfolgen eines in Wirklichkeit nicht vorhandenen beweglichen Zieles mit den Augen erinnerte zwingend an das Verhalten mancher auf optischem Gebiete halluzinierenden Geisteskranken und drängte mir die Frage auf, welche subjektiven Erscheinungen für den Vogel wohl mit der Leerlaufreaktion verbunden seien“.70 Diese Frage bleibt aber bei Lo69 Ebd., S. 85 f. 70 K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffes“, S. 302.
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renz, der sich in diesen Jahren immer mehr auf die Beschreibung des beobachtbaren Verhaltens beschränken will, unbeantwortet.71 Was die Analyse des Phänomens der Prägung betrifft, so geht Uexküll auch hier von Befunden aus, die ihm durch Lorenz bekannt gemacht wurden, und auch in diesem Fall gründet er seine Interpretation auf die Idee der höheren Verarbeitung der wahrgenommen Umwelt. In Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen wird die Prägung zusammen mit dem Begriff des Kumpans analysiert, dessen Verwendung allein schon als ein Zeichen der Interessengemeinschaft zwischen Lorenz und Uexküll gedeutet werden kann. Als „Kumpan“ bezeichnete Lorenz einen bestimmten Artgenossen, mit dem ein Vogel eine gemeinsame Tätigkeit eines bestimmten Funktionskreises ausführt. Im Leben eines sozialen Vogels kann es demnach Mutterkumpane, Flugkumpane, Liebeskumpane usw. geben. In der Schrift „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“ (1935) untersuchte Lorenz fünf Funktionskreise sozialer Art, die sich bei Vögeln beobachten lassen. Sie betreffen den Elternkumpan, den Geschwisterkumpan, die Gruppenmitglieder (den sozialen Kumpan), den Geschlechtskumpan und den Nachwuchs (den Kindkumpan). Wie Lorenz hervorhebt, entspricht jede Beziehungssituation auf der einen Seite einer besonderen Konstellation von Reizen, die von den Gruppenmitgliedern ausgelöst werden, und auf der anderen Seite der Ingangsetzung der (von Lorenz so genannten) „auslösenden Schemata“ und angeborenen Verhaltensweisen bei den jeweils von der Reizkonstellation betroffenen Tieren (wozu auch der Vorgang der Prägung gehört, der hier eine seiner ersten ausführlichen Darstellungen findet). Beispielsweise werden die für Eltern spezifischen Verhaltensweisen durch eine besondere Farbe innerhalb des Schnabels des Nachwuchses oder durch dessen spezifische Bewegungen ausgelöst (die Lorenz „Bettelbewegungen“ nennt). Ähnliches beobachtet man bei vielen Verhaltensweisen, die mit Balz und Reproduktion verknüpft sind, so wie bei der Bestimmung der Rangbeziehungen von sozial lebenden Tieren. Was Lorenz in dieser Studie grundsätzlich interessiert, ist eigentlich das Problem der individuellen Wiedererkennung von Individuen, das aber mittels Uexkülls theoretischer Werkzeuge behandelt wird: „Uexküll hat für einen nur in einem einzigen Funktionskreise als
71 Vgl. K. Lorenz, „Haben Tiere ein subjektives Erleben?“, in: Jahrbuch der Tech nischen Hochschule München, 1963, S. 57-68.
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identisch behandelten Artgenossen den Ausdruck Kumpan geprägt, dessen ich mich auch in der vorliegenden Arbeit bedient habe“.72 Kommen wir nun auf das Phänomen der Prägung zurück. Bei der Auswahl von einem Kumpan kann es zu merkwürdigen Verwechslungen kommen, von denen der berühmteste Fall vielleicht der der Dohle (Corvus monedula) Tschock ist, den Uexküll durch eine persönliche Mitteilung von Lorenz kannte: „Die Dohle Tschock besaß in ihrer Jugend als Mutterkumpan Lorenz selbst. Ihm folgte sie überallhin, ihn rief sie, um geatzt zu werden, an. Als sie gelernt hatte, sich selbst Futter zu holen, wählte sie als Liebeskumpan das Stubenmädchen, vor dem sie die charakteristischen Liebestänze aufführte.“73 Ein weiterer Fall von Prägung auf falsche Liebesobjekte, ebenfalls von Lorenz stammend, ist der eines jungen Rohrdommelpärchens (Botaurus stellaris), „dessen Männchen sich in den Direktor des Zoos ‚verliebt‘ hatte. Um die Paarung nicht zu hindern, machte er sich längere Zeit unsichtbar. […] Es kam zu einer glücklichen Ehe, und als das Weibchen auf seinen Eiern brütend saß, wagte es der Direktor, sich wieder sehen zu lassen. Aber was geschah? Kaum erblickte das Männchen seinen ehemaligen Liebeskumpan, so jagte es das Weibchen vom Nest weg.“74 Die Erklärungslinien, die Lorenz und Uexküll für das Phänomen der Prägung anbieten, stimmen darin überein, dass für beide die instinktiven Verhaltensmodi (z. B. der Paarung) durch den Erwerb von Informationen (oder besser „Schemata“) aus der Außenwelt ergänzt werden müssen. Übrigens hatte Uexküll diese Tatsache schon in seiner ersten Theorie der Handlung festgestellt, wo er behauptete, die Instinkthandlung sei eine Art von flexibler Gestalt, die anhand von äußeren (oder besser hinausverlegten) Merkmalen umgesetzt wird. Auch in Lorenz’ Schriften aus den dreißiger Jahren war die Idee der „Verschränkung“ von Instinkt und höheren Handlungsformen eine unersetzbare Arbeitshypothese. Diese Idee kann auch seine Wahl von Vögeln als bevorzugten Forschungsobjekten erklären: Bei den niederen Tieren (Fischen, Amphibien, Reptilien), so betont er, „besitzen die starren Triebhandlungen noch so wenig Beziehungen zu den veränderlichen Tätigkeiten, daß sie von diesen 72 K. Lorenz, „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösen des Moment sozialer Verhaltensweisen“ (1935), S. 269. 73 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, S. 76. 74 Ebd., S. 76 f.
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zwar leicht zu unterscheiden und leicht zu analysieren sind, uns aber dem Verständnis der ungeheur komplizierten Trieb-Dressurund Trieb-Intellektverschränkungen der höchsten Tiere und des Menschen nur wenig näher bringen. Gerade dazu steht nun der Vogel sozusagen auf einem idealen Entwicklungsstadium“.75 Wenn also Uexküll, Lorenz zitierend, über die Prägung sagt, dass „das Unheimliche“ es ja eben ist, „daß die erworbenen Mutterzeichen dann nach wenigen Tagen, sogar Stunden […] so eingraviert sind, daß man schwören würde, sie seien angeboren“,76 so bezieht er sich auf einen Fall von Verschränkung von instinktiven Verhaltensmodi und erworbenen Informationen. Und die Existenz solcher Verschränkungen ist auch für Uexküll unproblematisch. Wenn wir aber Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen kritisch betrachten, dann finden wir doch Probleme in Uexkülls Interpretationslinie von Lorenz’ Material. Erstens sehen wir, wenn wir auf Uexkülls erste Handlungstheorie zurückblicken, dass das neue Befundmaterial ihn dazu zwingen würde, einen Fall von extremer Plastizität des Merksystems anzunehmen, den er jedoch ausschließt. Und diese Plastizität in der Erwerbung eines neuen Merkschemas kommt nicht aus der innerorganischen Sphäre, wie es bei allen Plastizitätshöhepunkten der anderen Handlungsformen der Fall ist, sondern ist von den Einflüssen der Außenwelt und auf eine kontingente Weise bedingt. Das führt uns zum zweiten, noch kritischeren Punkt der Uexküllschen Bezugnahme auf Lorenz’ Material: Weder die Erscheinung der imaginären Fliege noch die Prägung auf falsche sexuelle Objekte passt in die teleologische Auffassung der organischen Prozesse, die Uexküll in seinen physiologischen und biologisch-theoretischen Werken vertritt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in der Uexküllschen Theorie solche Phänomene sogar unmöglich sind. Wenn „sowohl Merkmale wie Wirkmale Äußerungen des Subjekts sind und die Eigenschaften der Objekte, die der Funktionskreis einschließt, nur als ihre Träger angesprochen werden können“,77 wenn also das Subjekt das Spiel leitet, wie kann es 75 K. Lorenz, „Betrachtungen über das Erkennen der arteigenen Triebhandlungen der Vögel“, in: Journal für Ornithologie, 80(1)/1932, S. 50-98, hier S. 68; vgl. auch Konrad Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffes“, S. 341: „Schließlich muß ich noch der Verschränkungen instinktmäßiger und zweckgerichteter Ver haltensweisen gedenken. [Sie ist] […] von der größten Tragweite“. 76 Zitiert (ohne genauere Angabe) in J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 76. 77 Ebd., S. 91.
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dann zu solchen potenziell arttödlichen „Verwechselungen“78 kommen? In der teleologischen und harmonischen Naturauffassung von Uexküll bleiben die Fehlleistungen der Tiere grundsätzlich unerklärt, was den Eindruck der Unzufriedenheit oder wenigstens Unvollkommenheit verständlich macht, der diesbezüglich bei Lektüre der Streifzüge entsteht. In diesem Zusammenhang muss gesagt werden, dass die Schwierigkeit, nicht-funktionale Erscheinungen des Lebendigen zu erklären, ein bleibendes Problem von Uexkülls Theorie darstellt. Eine der wenigen Stellen, wo dieses Problem thematisiert wird, ist der Artikel „Plan und Induktion“. Hier analysiert Uexküll die Regenerationsprozesse bei Planarien, die manchmal misslingen und „ein Monstrum mit zwei Köpfen“ entstehen lassen.79 Das Phänomen wird von Uexküll so gedeutet, dass in jedem Organismus eine Pluralität von Teilplänen existiert, die vom Gesamtplan nicht koordiniert werden können: „Sämtliche absurden Missbildungen, die Pseudomorphosen und Heteromorphosen, lassen sich auf folgende einfache Formel bringen: Die aktiven Teilpläne arbeiten […] infolge ihrer Blindheit gegeneinander und gegen den Gesamtplan, der nicht immer in der Lage ist, die entstandenen Störungen auszugleichen.“80 Diese Beschreibung, in der die Basiskoordinaten der Uexküllschen Auffassung vom Lebendigen – die Blindheit sowohl der Teilpläne als auch des gesamten Bauplans und die Notwendigkeit einer „vorbestimmten Harmonie“, die solche Blindheit ausgleicht – überhaupt nicht bezweifelt werden, ist allerdings keine Erklärung: Wir können nicht wissen, warum in bestimmten Fällen die Koordination unter den Teilplänen eines Organismus – und der Umwelten einzelner Mitglieder einer Art – einfach versagt. Für Lorenz existiert diesbezüglich kein Problem, weil er diese Phänomene in den allgemeinen Rahmen der Theorie der Evolution durch natürliche Auslese einbettet. In diesem nicht-teleologischen, offenen Denkschema sind rudimentäre und nicht-funktionale Erscheinungen keine biologische Unmöglichkeit, sondern nichtgeplante „Vorschläge“ der sich ständig verändernden organischen Materie, die sich nur durch die Auseinandersetzung mit den äußeren Umständen als positiv, negativ oder neutral erweisen werden. 78 Ebd., S. 76. 79 J. v. Uexküll, „Plan und Induktion“, in: Wilhelm Roux’ Archiv für Entwicklungs mechanik der Organismen, 116/1929, S. 36-43, hier S. 40. 80 Ebd.
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4. Schlussbetrachtungen Wie die vorgeschlagenen Analysen gezeigt haben dürften, weist der Werdegang von Uexkülls Theorie der tierlichen Handlung sowohl Kontinuitäten als auch tiefgreifende Veränderungen auf. Ein erster Aspekt der Kontinuität ist das bleibende Anliegen, dem biologischen Tiersubjekt ein Maximum an Spontaneität zuzuschreiben. Dieses erkennt man an vielen Elementen von Uexkülls Gedanken: Auf der terminologischen Ebene am Vorziehen der Bezeichnung „Handlung“ vor den neutraleren Bezeichnungen wie „Verhaltensweisen“ oder „Verhaltensmodi“. Auf der ethologischen Ebene an der Betonung der Plastizität von Handlungen nicht nur mit Bezug auf die Instinkthandlungen von höheren Tieren, sondern auch mit Bezug auf die Reflexe von einzelligen Organismen. Auf der biophilosophischen Ebene in der Behauptung der Freiheit des Organismus gegenüber der Außenwelt, die sich in der semiotischen, aber nicht mimetischen Umformung in eine arttypische transzendentale Umwelt ausdrückt. Schließlich auf der philosophisch-anthropologischen Ebene in der Tendenz, bezüglich der höheren Handlungsformen keine scharfe Trennungslinie zwischen der tierlichen und menschlichen Sphäre zu ziehen. Was die Veränderungen betrifft, die in Uexkülls zweiter Theorie des tierlichen Verhaltens gegenüber dem Vorläufermodell auftreten, so erkennt man die Absicht, den unvermittelten Rückgriff auf teleologische Faktoren (wie die Impulse) durch eine stärker empirische Umweltanalyse zu ersetzen. Die Vorstellung vom komplexen Verhalten (wie z. B. die Beziehung zum Kumpan bei den sozialen Vögeln) als einer „höheren Verarbeitung“ der subjektiven Merk- und Wirkwelt und die Wichtigkeit, die in diesem Zusammenhang dem empirischen Material aus Lorenz’ Forschung gegeben wird, sind bedeutsame Hinweise, die für Uexkülls Willen sprechen könnten, einen neuen Weg zu gehen. Auf diesem neuen Weg jedoch trifft Uexküll auf ein ernsthaftes Hindernis bezüglich seiner Überzeugung, das tierliche Verhalten sei immer planmäßig und harmonisch koordiniert sowohl mit der Außenwelt, als auch mit den Umwelten der Artgenossen und der anderen Tierarten. Mit anderen Worten, die von Uexküll früh getroffene Entscheidung, den darwinistisch-spencerianischen Begriff der „Anpassung“ durch die Idee einer planmäßigen „Einpassung“ in eine Umwelt zu ersetzen („An seine Umwelt ist das einzelne Tier nicht mehr oder weniger gut angepasst“, schreibt Uexküll, „sondern alle Tiere sind in ihre Umwelten gleich vollkommen https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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eingepasst“81), macht es ihm sehr schwer, die genaue Bedeutung der Fehlleistungen und Verwechslungen zu ermessen, die z. B. im Phänomen der Prägung zutage treten. Und dieses ist keine Nebensächlichkeit. Wenn Uexküll nicht in der Lage ist, die nicht-planmäßigen Aspekte der höheren Verhaltensmodi zu erklären, dann bedeutet das, dass seine vitalistischen und teleologischen Basiskoordinaten einer tiefen Revision hätten unterzogen werden müssen. An die Notwendigkeit einer solchen Revision ist heute auch die Möglichkeit gebunden, die Uexküllsche Umweltlehre zu aktualisieren. Leitfaden einer solchen Unternehmung sollte die Idee der natürlichen Evolution der transzendentalen82 bzw. der biosemiotischen83 kognitiven Apparate der Organismen sein. Viele der oben erwähnten Schwierigkeiten von Uexkülls Theorie würden damit deutlich gemindert, wenn nicht gar schlichtweg gelöst. Die trans zendentale Konstitution der Umwelt kann semiotisch und sogar nicht-mimetisch bleiben, ohne dass ihr Einklang mit der Außenwelt als das Resultat einer übersinnlichen planmäßigen Kraft verstanden werden muss. In diesem Zusammenhang würde es genügen, dass zu schwere Diskrepanzen der Umwelt mit der Außenwelt durch die normale Dynamik des Aussterbens „gefiltert“ werden. Gleichzeitig könnten die Versuche der Organismen, neue Umwelt-fundierte „Handlungen“ oder Verhaltensmodi schrittweise auf die Probe zu stellen, in ein korrekteres Licht gebracht werden; sie würden also weder als unerklärte Infraktionen der arttypischen Einpassungsweise noch als positive, bereits planmäßige Mutationen,84 sondern vielmehr als Teilmodifikationen erscheinen, die in der Interaktion mit der Außenwelt und mit der Umwelt der anderen Arten ihre (positive, negative oder neutrale) Valenz erweisen werden. Eine Neubelebung der Uexküllschen Theorie, die auf der Hypothese der natürlichen Entwicklung von semiotisch-transzendenta81 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1921), S. 22. 82 Vgl. K. Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Bio logie“, in: Blätter für deutsche Philosophie, 15/1941, S. 94-125. 83 Vgl. M. Tønnessen, „Introduction: The Relevance of Uexküll’s Umwelt Theory Today“, in: C. Brentari, The Discovery of the Umwelt. Jakob von Uexküll between Biosemiotics and theoretical Biology, Dordrecht, Heidelberg, New York, London 2015, S. 1-20; M. Barbieri, Code Biology. A New Science of Life, Cham, Dordrecht, Heidelberg, New York, London 2015. 84 In Theoretische Biologie sieht Uexküll die Änderung der Arten und die Ent stehung neuer Arten als mögliche Phänomene, unter der Bedingung aber, dass solche Prozesse der allgemeinen Planmäßigkeit der Natur unterliegen; vgl. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie (1928), S. 195 f.
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len Umwelten beruht, kann die positiven Aspekte der umweltzentrierten Verhaltenstheorie beibehalten, ohne jedoch mit den gravierenden Problemen aller vitalistischen Naturauffassungen belastet zu sein. Wenn heute, wie Adolf Portmann in seinem „Vorwort“ zur Ausgabe der Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen von 1956 schreibt, die Parolen ‚Mechanismus‘ oder ‚Vitalismus‘ vor der weitgehenden Anerkennung einer relativen Autonomie und Eigenständigkeit des Lebendigen verstummt sind, „so hat an diesem folgenschweren Ergebnis gerade das Schaffen Jakob von Uexkülls kräftig mitgewirkt“.85 Und diese relative Autonomie in der Konstitution der subjektiven, arttypischen Sphäre der Umwelt kann heute unter einen Begriff gebracht werden, der auch eine Forschungslinie und einen lebensorientierenden Wert darstellt: den der Biodiversität. In der Tat ist die Mannigfaltigkeit der tierlichen Erlebniswelten, die wir durch die Erforschung des beobachtbaren Verhaltens wenigstens erahnen können, Teil des ökologischen Reichtums der Natur. Selbst die Idee des Tierschutzes kann in diesem Sinne teilweise umformuliert werden: Was geschützt werden soll, ist nicht nur die materielle Existenz einer Art, sondern auch diejenige unverwechselbare Perspektive auf die Welt, die jede artspezifische Umwelt darstellt. Denn um seine Umwelt völlig zu bilden, braucht ein tierliches Subjekt alle Erlebnismöglichkeiten seiner Art, und zwar alle Stützpunkte für seine Tätigkeit der semiotischen Sinngebung; das führt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass das Leben von Tieren in Gefangenschaft als ein Überleben in einer verarmten Umwelt betrachtet werden muss, wenn nicht sogar als ein abzulehnender Zustand von Erlebnisdeprivation.
85 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann, Hamburg 1956, S. 7.
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Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie Wolfgang Köhlers Experimente zum Verhalten von Schimpansen
Wolfgang Köhler wurde am 21. Januar 1887 in Reval (Estland), dem heutigen Tallinn, geboren.1 Im Jahr 1893 übersiedelte seine Familie nach Deutschland. Köhler studierte u. a. Philosophie, Psychologie und Physik in Tübingen, Bonn und Berlin, wo er 1909 bei Carl Stumpf promoviert wurde. Anschließend arbeitete er an der Universität Frankfurt, wo er Kurt Koffka und Max Wertheimer kennenlernte, mit denen er späterhin zu den Hauptvertretern der Gestaltpsychologie zählen sollte.2 In Frankfurt habilitierte sich Köhler 1911 als Privatdozent der „Psychologie, systematischen Philosophie und Philosophie der Geschichte“.3 Sein Doktorvater Carl Stumpf empfiehlt Köhler im Jahr 1913 der Preußischen Akademie der Wissenschaften als Leiter der Anthropoidenstation auf Teneriffa, wo dieser kriegsbedingt bis 1920 bleiben musste. 1922 wird Köhler als Nachfolger Carl Stumpfs und Direktor des Psychologischen Instituts in Berlin berufen.4 1935 verlässt er Deutschland, nachdem er sich in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft in mehrdeutiger Weise zu den politischen Entwicklungen in Deutschland geäußert hat. „Öffentlich protestierte der Psychologe Wolfgang Köhler (1887–1967) in einem Ende April 1933 erschienenen Artikel in der ‚Deutschen All1 2 3
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Vgl. R. Bergius, „Wolfgang Köhler“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12., Berlin 1980, S. 302-304. Vgl. auch S. Jaeger, „Wolfgang Köhler“, in: H. E. Lück, R. Miller (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie, Weinheim 1999, S. 85-89. Vgl. für den geistesgeschichtlichen Hintergrund M. G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge 1998. Vgl. S. Jaeger, „Einleitung des Herausgebers“, in: ders. (Hrsg.), Briefe von Wolf gang Köhler an Hans Geitel 1907–1920. Mit zwei Arbeiten „Über elektroma gnetische Erregung des Trommelfelles“ und „Intelligenzprüfungen am Orang“ im Anhang, Passau 1988, S. 7-12, hier S. 10. Vgl. H.-E. Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 2: Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen 1918–1945, Berlin 2012, S. 143.
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gemeinen Zeitung‘, in dem er sich zwar zur nationalsozialistischen Regierungsübernahme bekannte und das ‚Vorhandensein eines Judenproblems in Deutschland‘ konstatierte, zugleich jedoch der Behauptung widersprach, dass ‚jeder Jude, als Jude, eine niedere, minderwertige Form von Menschentum darstellt.‘“5 Köhlers berufliche Laufbahn war auch in den Jahren des amerikanischen Exils eine Erfolgsgeschichte.6 So arbeitete er am Swarthmore College (Pennsylvania) und wurde für die Jahre 1958/1959 zum Präsidenten der American Psychological Association gewählt. Am 11.06.1967 starb Köhler in Lebanon (New Hampshire). Sowohl für die Geschichte als auch für die Systematik der Tierforschung stellen Köhlers Experimente zum Verhalten von Schimpansen einen Meilenstein dar. Wenn man den spezifischen wissenschaftlichen Beitrag Köhlers in diesem Feld auf einen Nenner bringen möchte, dann bietet sich die Formel Erforschung intelligenten Verhaltens im Horizont der Gestalttheorie an. Um diese Formel mit Inhalt zu füllen, sind im Folgenden mehrere Schritte nötig. Zuerst sollen die Anfänge der Gestalttheorie skizziert werden (1.), um dann die Entwicklung dieser philosophischen und psychologischen Grenzdisziplin und Köhlers Beitrag zu ihr herauszuarbeiten (2.). Vor diesem Hintergrund sind anschließend Köhlers Forschungsarbeiten zur Tierpsychologie als Beitrag zur Gestalttheorie und vice versa zu analysieren (3.). Dadurch lässt sich dann auch Köhlers weitergehende Behauptung der Gestalttheorie als Theorie der Gesamtwirklichkeit verdeutlichen (4.). Insgesamt wird auf diese Weise die These unseres Beitrags expliziert, dass Köhlers Studien zur Gestalttheorie und zum Verhalten der Anthropoiden in einem systematischen Zusammenhang stehen. Den Abschluss des Beitrags bilden einige Anmerkungen zu Rezeptionswegen von Köhlers Arbeiten zur Verhaltensforschung und Gestalttheorie (5.).
1. Die Anfänge der Gestalttheorie Die Gestalttheorie formiert sich als eine junge Brückendisziplin zwischen Philosophie und Psychologie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu ihren Hauptvertretern gehört, neben Kurt Koffka und Max 5 6
Ebd., S. 308; auch: S. 367-369. Vgl. W. Metzger, „Gestalttheorie im Exil“, in: H. Balmer (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 1. Die europäische Tradition, Zürich 1976, S. 659-683.
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Wertheimer, auch Wolfgang Köhler. Das Hauptziel der Gestalttheorie ist es, einen Nachweis für die Entstehung von Ordnungsmustern in Wahrnehmungsprozessen zu finden, der jenseits der alten Dichotomie von Naturalismus und Idealismus steht. Schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts regte sich im Schatten einer Konstellation, die einerseits eine analytische, auf allgemeinen Messdaten psychischer Vorgänge, und andererseits eine synthetische, auf die individuelle Unmittelbarkeit psychischen Erlebens setzende, Psychologie kennt und zwischen diesen Positionen in Debatten (Psychologismus-Streit) verstrickt ist, das Bedürfnis nach einem vermittelnden Standpunkt psychologischer Theoriebildung.7 Gesucht werden nicht-konstruktive, aber auch nicht auf eine materiale Basis reduzierbare, Strukturen im psychischen Prozess. Es ist hier nicht der Ort, um im Detail nachzuzeichnen, inwieweit diese Problemstellung zu interdisziplinärer Forschung anregen und sich allmählich, nach den Anfängen in einer philosophisch-psychologischen Grenzlage, zu einer Grundproblematik der Sinnesphysiologie, Wahrnehmungspsychologie, der Phänomenologie, Verhaltensbiologie und philosophischen Anthropologie entwickeln wird.8 Allerdings mag dieser Gedanke als Arbeitshypothese für künftige Forschungsarbeiten nützlich sein.9 Die Vorgeschichte der Gestaltpsychologie gehört in den Zusammenhang eines wiederholten Nachdenkens über die Verhältnisbestimmung des physischen zum psychischen Lebensbereich. Mit Ernst Machs Studie Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) wird ein ers-
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Vgl. G. Hartung, „Bewusstsein“, in: A. Hand, C. Bermes, U. Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (= Archiv für Begriffsge schichte, Sonderheft 11), Hamburg 2015, S. 39-61. Vgl. für einen eher kulturgeschichtlichen Überblick die Studie von A. Harring ton, Die Suche nach Ganzheit – Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2002. Vgl. für die Wirkungen in der Wissenschaftstheorie des frühen 20. Jahrhunderts die vorzügliche Arbeit von S. Kluck, Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Sta tionen einer bedeutsamen Beziehung, Freiburg, München 2008. Für die Bezie hung zur philosophischen Anthropologie G. Hartung, „Gestalt und Grenze. Hel muth Plessner und die Gestaltpsychologie“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners „Stufen des Organischen“ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 161-189.
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tes Ausrufezeichen gesetzt.10 Mach untersucht, „welcher Art die Raumempfindungen sind, welche physiologisch das Wiedererkennen einer Gestalt bedingen.“11 Er kommt zu der Hypothese, dass Raumempfindungen mit dem motorischen Apparat der Augen zusammenhängen. Seiner Ansicht nach spricht viel dafür, dass „physiologische Eigenschaften eines Raumgebildes […] die erste Anregung zu geometrischen Untersuchungen gegeben“ haben.12 Die Forschung folgt im späten 19. Jahrhundert dem Hinweis Machs, dass vor allem räumliche Erscheinungen „keine rein optischen [sind], sondern […] von einer unverkennbaren Bewegungsempfindung des ganzen Leibes begleitet“ werden.13 Beispielsweise handelt Carl Stumpf in seinen Abhandlungen Über den psycholo gischen Ursprung der Raumvorstellungen (1873) neben den „psy chologischen“ auch die „physiologischen“ Aspekte der Raumvorstellungen ab. Auch wenn Stumpf der „Nervenphysiologie“ abspricht, eine vollständige Erklärung psychischen Geschehens liefern zu können, so konzediert er doch den physischen Bedingungen einen Einfluss auf Qualität und Intensität der Empfindungen. In seiner Analyse der Farbwahrnehmungen unterscheidet er von der „objectiven Oertlichkeit des Nervenprozesses“ die „empfundene“ und die „vorgestellte Oertlichkeit“; die Annahme eines Zusammenhangs zwischen den genannten Dimensionen impliziert seiner Auffassung nach, „dass der vorgestellten Oertlichkeit irgend etwas am physischen Reiz und Nervenprocess entspreche.“14 Entgegen der Lehrmeinung seines Lehrers Hermann Lotze verweist Stumpf darauf, „dass der Ortsunterschied der einzelnen Nervenfasern ein wirklicher Unterschied ist“, d. h. er geht in einem bottom up-Modell von einer durchlaufenden Abhängigkeit von Wahrnehmungsgegenstand im Raum, Ortsgebundenheit der Nervenfaser im Organismus und Qualität der Empfindung und Vorstellungsgehalt aus.15 Gerade die physische Bedingtheit der Vorstellungen hatte Lotze in seiner Schrift Medicinische Psychologie oder Physiologie 10 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 9. Aufl., Jena 1922. Darin befindet sich die Abhandlung „Die Raumempfindungen des Auges“ (S. 84-100). 11 Ebd., S. 87. 12 Ebd., S. 99. 13 Ebd., S. 120. 14 C. Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung (1873), ND Amsterdam 1965, S. 146. 15 Ebd., S. 149.
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der Seele (1852) vehement zurückgewiesen, um die Seele frei von äußeren Einwirkungen, von zufälligen physischen Umständen zu halten.16 Stumpf hingegen sieht in den objektiven Ortsbestimmungen der Nervenfasern sogar eine wirkungsfähige Größe für die Qualitätsbestimmungen der Empfindungen und die Vorstellungsgehalte. In der Nachfolge von Mach und Stumpf nimmt das Forschungsinteresse an einem Zusammenhang zwischen Raumempfindung, ihrer Lokalisierung und motorischen Prozessen zu. Auf diese Weise wird in der Forschung der Gegensatz von analytischer und synthetischer Psychologie unterlaufen. Am Wirklichkeitsgehalt des jeweiligen Phänomens, beispielsweise der Raumvorstellung oder der Farbwahrnehmung, wird diese Opposition hinfällig. Mit Christian von Ehrenfels, der seine Abhandlung Ueber Ge staltqualitäten im Jahr 1890 in der Vierteljahrsschrift für wissen schaftliche Philosophie publiziert hat, wird die Debatte über die Qualität von Empfindungen und Wahrnehmungen, die sich nicht aus der elementaren Struktur von Empfindungsreizen berechnen lässt, eröffnet.17 Von Ehrenfels stellt die Frage, ob eine „Raumgestalt“ eine bloße Zusammenfassung von Elementen oder diesen gegenüber etwas Neues ist, und gibt darauf die Antwort, dass Gestalten durchaus etwas anderes sind als die Summe von Elementen. „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungscomplexen im Bewusstsein gebunden sind, die ihrerseits aus von einander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren Elementen) bestehen.“18 Von Ehrenfels unterscheidet Raumgestalten des Gesichts und des Tastsinnes und erkennt ihnen, durch verschiedene Beispiele illustriert, eine erhebliche Bedeutung im psychischen Leben zu. Gestalten haben eine besondere Qualität, die sich quantitativer Bestimmung entzieht. Von Ehrenfels spricht vom Geist als einem menschlichen Vermögen, psychische Elemente zu verbinden und durch ihre Kombination „Neues“ zu schaffen. „Aber nicht nur in der Reproduction, auch in ihrer freien Erzeugung durch die schöpferische Thätigkeit
16 Vgl. H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Buch 2, Ka pitel 4: Von den räumlichen Anschauungen, Leipzig 1852, S. 325-452. 17 C. Ehrenfels, „Ueber Gestaltqualitäten“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaft liche Philosophie, 14(3)/1890, S. 249-292. 18 Ebd., S. 262.
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der Phantasie unterscheiden sich die Gestaltqualitäten wesentlich von den Elementarvorstellungen.“19 An diesen wenigen Zitaten wird schon deutlich, dass von Ehrenfels zwar ein Grundproblem der Psychologie aufdeckt, aber selbst keine angemessene Lösung findet. Es bleibt nämlich unklar, ob das qualitative Moment in Empfindung und Gestaltwahrnehmung auf eine innere „schöpferische Tätigkeit“ oder auf eine Struktur am Wahrnehmungsgegenstand, die in der Reproduktion hervortritt, zurückzuführen ist. An Ehrenfels Überlegungen knüpfen eine Reihe von namhaften Psychologen und Philosophen an. Oswald Külpe beispielsweise wendet sich in seinem Grundriss der Psychologie (1893) gegen das metaphysische Vorurteil einer Trennung von Seelischem und Körperhaftem, wie es im Cartesianismus festgeschrieben ist.20 Seiner Ansicht nach haben bestimmte Bewusstseinsvorgänge auch räumliche Eigenschaften; das betrifft beispielsweise Gesichtsempfindungen und Tastempfindungen. „Der Name Gestalt oder Form fasst alles das zusammen, was als räumliche Eigenschaft von einem Eindruck ausgesagt werden kann.“ Unter „Gestalt“ versteht Külpe eine „Summe von Ausdehnungen“.21 Theodor Lipps vertritt in seinen Psychologischen Studien (1905) die Ansicht, dass wir im optischen Wahrnehmungsgebilde die einzelnen Bilder oder Empfindungsinhalte räumlich so nebeneinander ordnen, wie die „objektiven“ Punkte in der wirklichen Welt räumlich nebeneinander geordnet sind.22 Das geschieht in einem Prozess der Herausbildung „konstanter Zusammenordnungen der Eindrücke“, der mit einer Konstanz der Reizempfindung, beispielsweise auf der Netzhaut unseres Auges, zusammenhängt. Nach Lipps’ Auffassung besitzen wir Menschen von Geburt an ein System der Zuordnungen und Sonderungen von Reizempfindungen und Wahrnehmungen, das sich in der Folge der Generationen gebildet hat.23 Mit Karl Bühlers 19 Ebd., S. 283. 20 O. Külpe, Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, Leipzig 1893, S. 346. 21 Ebd., S. 348 f. 22 T. Lipps, Psychologische Studien, 2. Aufl., Leipzig 1905. 23 Ebd., S. 63. Und S. 64: „Es ist uns ein geläufiger Gedanke, daß in der Folge der Generationen alle Sinne mit ihren Organen aus einem Allgemeinsinn, alle einzelnen Empfindungsarten aus einer einheitlichen Empfindungsart sich her ausdifferenziert haben. Natürlich gab es für diese ursprüngliche Empfindungs art keine Räumlichkeit. Und nun kann man sagen: Als sich unsere jetzige, der Räumlichkeit bedürftige Lichtempfindung aus der Urempfindung heraus ent wickelte, gab es sofort ein Nebeneinander von einzelnen Lichteindrücken, und
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Studie Die Gestaltwahrnehmungen. Experimentelle Untersuchun gen zur psychologischen und ästhetischen Analyse der Raum und Zeitanschauung (1913) haben wir den ersten Versuch einer Systematisierung des Forschungsfeldes.24 Bühler nimmt die Diskussion über Gestaltqualitäten im Rückgriff auf Mach und Ehrenfels auf und kritisiert, dass diese nur einen indirekten Nachweis von der Existenz von Gestaltqualitäten liefern. Dadurch bleibt unklar, wie ein Aggregat von Empfindungen mit einem weiteren Bewusstseinsinhalt, genannt „Gestaltqualität“ zusammenkommt.25 Bühler wendet sich gegen eine physiologische Verkürzung der Perspektive und plädiert – noch einmal – für den Aufbau der Wahrnehmung von elementaren Strukturen zu einem Gestalteindruck.26 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen verwundert es nicht, dass bereits Adhémar Gelb ein skeptisches Zwischenresümee zieht. In seiner Abhandlung Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘ (1911) führt er einen Rundumschlag.27 Gelb bezieht sich auf sprachphilosophische und psychologische Studien von Anton Marty, Josef Klemens Kreibig und Alexius Meinong, um die Schwachstellen einer deskriptiven Psychologie, die sich auf Ehrenfels’ Lehre von den Gestaltqualitäten bezieht, herauszuarbeiten.28 Das Ergebnis ist negativ: „Man sieht daraus wenigstens mit Sicherheit, dass nach Meinong die Gestaltqualitäten, die fundierten Inhalte, keine Summen von
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es bildete sich demgemäß auch sogleich auf dem Wege des erfahrungsmäßigen Zusammenwachsens und Sichsonderns der Eindrücke der verschiedenen Punk te des Organs, eine der Wirklichkeit angepaßte Lokalisation heraus; und indem in der Folge der Generationen die Herausdifferenzierung der Lichtempfindung sich fortsetzte, das Organ sich verfeinerte und das gleichzeitige Entstehen zahl reicherer Eindrücke ermöglichte, erweiterte sich zugleich das System der Zu sammenordnungen und Sonderungen, und vollendete sich mehr und mehr jene Anpassung.“ K. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen. Experimentelle Untersuchungen zur psychologischen und ästhetischen Analyse der Raum und Zeitanschauung, Bd. 1, Stuttgart 1913. Ebd., S. 10. Ebd., S. 53. A. Gelb, „Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abteilung. Zeitschrift für Psychologie, 21(58)/1911, S. 1-58. Vgl. A. Marty, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Gramma tik und Sprachphilosophie, Halle a. S. 1908; J. K. Kreibig, Die intellektuellen Funktionen. Untersuchungen über Grenzfragen der Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie, Wien, Leipzig 1909; und A. Meinong, Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 2(2)/1891, S. 245-265.
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Relationen sein können.“29 Auch Husserl und Stumpf bestätigen nach Gelbs Ansicht die Hypothese, dass Einheitsmomente in der Wahrnehmung bloß durch „Verschmelzung“ der Glieder und ihrer gegenseitigen Relationen entstehen. So gesehen sind Gestalten nichts anderes als Gruppen von Empfindungen, zwischen denen besondere Verhältnisse bestehen, nicht aber gesonderte Erscheinungen außerhalb dieser Relationen.30
2. Die Gestalttheorie, insbesondere die Positionen Wertheimers und Köhlers Wir kennen nun die Konturen einer Debatte über Gestaltqualitäten, an die sich im frühen 20. Jahrhundert die Gestalttheorie anschließt. Die Protagonisten dieser Debatte sind Kurt Koffka und Max Wertheimer, mit denen Köhler seit den Frankfurter Jahren vor dem ersten Weltkrieg kollegial verbunden ist. Köhler hat sich aktiv an dieser Forschungsrichtung beteiligt und eine Beziehung zu seinen Arbeiten als Verhaltensforscher hergestellt. Was die programmatische Leistung für die neue Forschungsrichtung angeht, so ragt zweifelsohne Max Wertheimer hervor, der zum einen mit seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I. das Manifest der Gestaltpsychologie vorlegt31 und zum anderen mit dem Vortrag Über Gestalttheorie, einem am 17. Dezember 1924 vor der KantGesellschaft Berlin gehaltenen Vortrag, maßgeblich zu ihrer Anerkennung beigetragen hat.32 Es ist daher notwendig, einen Blick auf die Thesen Wertheimers zu richten, bevor Köhlers eigene Arbeiten vorgestellt werden. Wertheimer wendet sich gegen die analytische und synthetische Richtung in der Psychologie des 19. Jahrhunderts, die er salopp mit den Stich29 A. Gelb, „Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘“, S. 25. 30 Ebd., S. 57. Vgl. zur Kritik an Gelbs Position A. Höfler, „Gestalt und Beziehung – Gestalt und Anschauung“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. I. Abteilung. Zeitschrift für Psychologie, 22(60)/1912, S. 161-228. 31 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. I. Prinzipielle Be merkungen“, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften, 1(1)/1922, S. 47-58. 32 M. Wertheimer, „Über Gestalttheorie. Vortrag gehalten in der Kant-Gesellschaft Berlin, am 17. Dezember 1924“, in: Sonderdrucke des Symposion, Heft 1, Erlan gen 1925.
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worten „Mosaik- oder Bündelthese“33 sowie „Assoziationsthese“ abtut.34 „Prinzipiell identisch ist in den beiden Thesen – und darauf soll es hier ankommen – das Und-Summenhafte: der Aufbau aus Stücken, die, das eine und das andere und ein drittes … zunächst, primär, alles Weitere fundierend gegeben sind; in Und-Verbindung; im Auch-Dasein; gegeneinander inhaltlich prinzipiell beliebig und ohne Ingerenz, es sei denn eine solche, die stückhaft von ‚unten her‘ – wieder von Stücken her – gemeint ist; entstehen darüber höhere Gebilde, Verbindungen, Komplexe, so bauen sich diese sekundär, von unten her, auf der Und-Summe der Stücke auf (wobei etwa wieder sachlich beliebig hinzutretende Funktionen, Akte, Verhaltungsweisen der Aufmerksamkeit usw. eine Rolle spielen).“35 Gegen die Vormacht dieser Auffassung stellt Wertheimer das Argument (und liefert hierfür eine ganze Reihe experimenteller Befunde), dass das „Und-Summenhafte und Stückhafte“ nur selten als Empfindungsmoment vorliegt, sondern wir es zumeist mit Stücken als Teilen in „Ganzvorgängen“ zu tun haben. „Das Gegebene ist an sich, in verschiedenem Grade ‚gestaltet‘: gegeben sind mehr oder weniger durchstrukturierte, mehr oder weniger bestimmte Ganze und Ganzprozesse, mit vielfach sehr konkreten Ganzeigenschaften, mit inneren Gesetzlichkeiten, charakteristischen Ganztendenzen, mit Ganzbedingtheiten für ihre Teile.“36 Die empirische Untersuchung zeigt nicht einen Aufbau unserer Wahrnehmungswelt aus Stücken. Was zusammengefasst erscheint, das erweist sich von konkreten „Gestaltgesetzen“ her bedingt. Die natürliche Denkweise des lebendig empfindenden Menschen erweist, so Wertheimer, die Richtigkeit dieser Thesen. Die Generalthese der Gestalttheorie Wertheimers lautet denn auch, dass die Wahrnehmungswelt nicht aus Elementen zusammengesetzt ist und die reale Welt des Menschen keinen Aufbau von unten nach oben zulässt. „Man kann sagen: In einem gewissen Sinn kann nicht echt Sinnvolles erreicht werden durch Ausgehen ‚von unten nach oben‘.“37 In seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II. liefert Wertheimer die empirischen Befunde seiner psychologi-
33 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. I. Prinzipielle Be merkungen“, S. 48 f. 34 Ebd., S. 49 f. 35 Ebd., S. 50. 36 Ebd., S. 52. 37 Ebd., S. 57.
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schen Forschungen, um die Generalthese zu verdeutlichen.38 An den Wahrnehmungsobjekten Haus, Baum, Himmel, Gesichter und Melodien zeigt er, dass Ganzeigenschaften wie „Geschlossenheit“, „Symmetrie“, „inneres Gleichgewicht“ eine entscheidende Rolle im Wahrnehmungsprozess spielen. An einem Beispiel wird diese Überlegung prägnant dargestellt.39 Wertheimer geht der Frage nach, auf welchen Grundlagen dieses synthetische Wissen beruht, wenn uns die empirische Forschung nahelegt, dass für unsere Fassung der Wirklichkeit im natürlichen Leben in der Regel nicht die „stückhaft summierten Einzelerfahrungen“ eine begründende Funktion einnehmen können. Sein Verdacht zielt dahin, dass es wahrscheinlich biologische Gesetzlichkeiten sind, die unsere Wahrnehmung regulieren. Ist es, so fragt er weitergehend, nicht „biologisch sehr allgemein so, daß Einrich tungen, Verhaltungsweisen gesetzlich allgemeiner Art da sind, [die] in ihrer Gesetzlichkeit biologisch regulären Bedingungen sehr ad äquat“ sind? Seine Antwort lautet: „Die Natur scheint ganz und gar nicht in beliebig summierten Einzelanpassungen zu fungieren, sondern im Entstehen in sich gesetzlicher biologisch typisch adäquater Gebilde und Funktionsweisen.“40 Wertheimer vertieft diese abstrakten Vorannahmen vor allem in einer Analyse des optischen Nervensystems. Seiner Ansicht nach 38 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II“, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften, 4(1)/1923, S. 301-350. 39 Ebd., S. 336: „Ich komme, im Mondschein, an ein stilles dunkles Wasser: was ist da dort gegenüber für ein wunderliches helles Gebilde? Es ist eine kleine helle geschwungene Brücke, die sich im Wasser spiegelt; aber wie sieht das aus? Brü cke und Spiegelung zusammen zeigen ein wunderliches Ganzes, ganz anders, als es irgend in wirklicher Erfahrung gewohnt wäre. Wer könnte so ein sonderbares Gebilde da vermuten? Es ist gänzlich unwahrscheinlich, wie es aussieht. Und: trotzdem ich weiß, daß es eine Brücke ist und ihre Spiegelung, und das Gebilde, so wie ich’s sehe, so unwahrscheinlich wie nur möglich ist, hilft das gar nicht einfach: ‚Zusammen‘ und ‚Geteiltheit‘ verlaufen nicht nach ‚Brücke‘ plus ‚Spie gelbild‘, sondern ganz anders, im Sinn der besprochenen Gesetzmäßigkeiten, im Sinn des symmetrisch sich Schließenden (und es ist ja auch ganz und gar nicht so, daß etwa die Erfahrung in der Wirklichkeit Symmetrie so bevorzugt darböte –).“ 40 Ebd., S. 336. Und er fügt (ebd., S. 336 f.) hinzu: „Das Nervensystem hat sich unter den Bedingungen der biologischen Umwelt ausgebildet; die Gestaltten denzen, die sich dabei ausgebildet haben, sind nicht wunderbarerweise den regu lären Bedingungen der Umgebung entsprechend; und dabei ist die Entwicklung sicherlich wohl nicht im Sinne des Entstehens von Spezialapparaturen mechani scher Art zu denken.“
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sind zwei Hypothesen naturwissenschaftlich berechtigt, denn einerseits können wir das optische Nervensystem als mechanistisch funktionierend auffassen, andererseits können wir die stationären Zustände des Nervensystems als Spontanverteilungen aufgrund eines inneren Geschehens verstehen. Die Gestalttheorie entscheidet sich für die zweite Möglichkeit, weil erstens nur in diesem Fall der räumlichen Gliederung, den Formen und Formeigenschaften in Gesichtsfeldern eine physische Realität in den somatischen Hergängen entspricht und weil zweitens nur in diesem Fall verständlich wird, dass sich Gliederung und Formung in Gesichtsfeldern und Gestalten nach den sachlichen Eigenschaften der bedingenden Faktoren, vor allem der Reize, Reizunterschiede und Reizkonfigurationen richtet, weil drittens nur unter dieser Voraussetzung Teile und Teileigenschaften von Gesichtsfeldern und Gestalten von den jeweiligen Totalbedingungen (Ganzen) abhängen können und müssen und weil viertens nur dann alle Arten der „Transposition“ im Gesichtsfeld aus den gleichartigen Invarianzen in der stationären somatischen Spontanverteilung unmittelbar folgen.41 Zusammengefasst optiert Wertheimer für die Annahme einer spontanen Selbstgliederung der optischen Prozesse. Er bemerkt zudem, dass das Gestaltproblem in der Wahrnehmung eine empiristische Reduktion nicht zulässt. Positiv ausgedrückt plädiert er für ein Ausgehen „von oben nach unten“, von den „Ganzbedingungen her nach unten zu den Unterganzen und Teilen“. Wenn die empirische Forschung diesen Weg geht, der ihr in der Analyse des Wahrnehmungsprozesses nahegelegt wird, dann „kommen die einzelnen Teile (‚Elemente‘) in Wirklichkeit nicht primär als Stücke in Und-Summe in Betracht, sondern von vornherein als Teile eines Ganzen.“42 In diesem Zusammenhang tritt das biologische Problem in der Wahrnehmungstheorie hervor und die Grenzen einer mechanistischen Theoriebildung werden offensichtlich. Wertheimer zufolge kann es zwar sein, dass manchem die Fähigkeit zur spontanen Selbstgliederung von Wahrnehmungsprozessen wunderbar erscheinen mag, aber die Verwunderung nimmt ab, wenn wir erkennen, dass jedes in sich zusammenhängende System der unorganischen Welt eine ähnliche Eigenschaft aufweist. Diese Überlegung, die eher in eine Hypothese gefasst ist, unterstreicht Wertheimer 41 M. Wertheimer, Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie (1925), Darmstadt 1967, S. 530. 42 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II“, S. 350.
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mit einem Verweis auf Wolfgang Köhlers Studie Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1920), auf die weiter unten einzugehen ist. Die Darlegung des Umfeldes von Köhlers Forschungsarbeiten ist damit abgeschlossen. Sie war notwendig, weil wir, wie eingangs gesagt, vor dem Problem stehen, dass uns Köhlers Werk in zwei Bereiche auseinanderzufallen droht, zwischen denen kaum Berührungspunkte zu bestehen scheinen. Was haben der Gestalttheoretiker und der Verhaltensforscher miteinander zu tun? Gibt es eine Wechselwirkung zwischen diesen Forschungsbereichen, zumindest im Werk Köhlers, oder haben die Forschungsarbeiten gar eine gemeinsame Zielsetzung? Unseres Erachtens ist es möglich, den Gestalttheoretiker und den Verhaltensforscher in eine Perspektive einzurücken. Dafür werden wir auf den folgenden Seiten Indizien sammeln und Argumente schärfen. Obwohl Köhler im Titel eines Werkes von 1929 von Gestalt Psychology spricht, ist hervorzuheben, dass der Übergang von der „Gestalttheorie“ zur „Gestaltpsychologie“ offensichtlich der Übersetzung in die englische Sprache geschuldet ist. Wertheimer, Koffka und Köhler nennen ihre Forschungsrichtung durchgehend „Gestalttheorie“ und erheben damit einen Anspruch, der weit über das Gebiet der Psychologie hinausgeht. So trägt auch Köhlers Übersichtsreferat von 1925 den Titel Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie. Es gibt einen hilfreichen Einblick in die Entwicklung dieser Denkrichtung wie auch in die Entwicklung von Köhlers eigenem Denken.43 Köhler erwähnt als Ergebnis seiner beobachtenden Forschungen – hier bezieht er sich wahrscheinlich ganz allgemein auf seine Untersuchungsreihen in der Anthropoidenstation auf Teneriffa –, dass an einem Organismus die Einwirkungen von außen als lokale Vorgänge jederzeit „geordnet und eingeordnet nach den Bedürfnissen und der Lage des ganzen Organismus“ verlaufen.44 Es ist also immer der Organismus selbst, der sein Verhalten zur Umwelt bestimmt. Wenn nun Vitalisten und Mechanisten in Streit darüber geraten, wie eine passende Zusammenordnung von Vorgängen im Organismus zu denken ist, dann gewinnt nach Köhlers Ansicht nicht der Mechanist. Beispielsweise übersteige Hans Drieschs Argu43 W. Köhler, „Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie. Übersichts referat“, in: Jahresbericht für die gesamte Physiologie und experimentelle Phar makologie, 3/1925, S. 512-539. 44 Ebd., S. 512.
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ment, dass im Organismus die Eigenschaften und Funktionen eines Teils von seiner Lage in einem Ganzen abhängen, mit guten Gründen die mechanistische Erklärung des Verhaltens eines Organismus in seiner Umwelt. Jedoch irrt Driesch, wie Köhler betont, wenn er nicht einsieht, dass diese Gesetzlichkeit auch für anorganische Gebilde gilt, und daher nicht eine exklusive Eigenschaft organischen Lebens bezeichnet.45 Die Gestalttheorie steht nach Köhlers Ansicht abseits des Streits von Vitalisten und Mechanisten, denn sie beschäftigt sich mit der allgemeinen, naturphilosophischen Frage, ob und mit welchem Recht in der gesamten Natur Gestaltgesetzlichkeiten aufzuweisen sind. Dafür aber verlangt sie zuerst einmal wieder „ein unbefangenes Sehen“.46 Die Pointe der Gestalttheorie liegt, das wird bei Köhler deutlich, in der Behauptung eines objektiven Korrelats der Wahrnehmungseigenschaften in den realen physischen Vorgängen.47 Das ist, biologisch oder ontologisch gedeutet, eine starke Korrelationsthese, die sich von einem Standpunkt neukantianischer Erkenntnistheorie erheblicher Kritik aussetzt.48 Köhler lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass auch die Gestalttheorie in die Front eines strikten Antireduktionismus gehört: „Das Gestaltproblem in der Wahrnehmung läßt eine empiristische Reduktion nicht zu.“49 Die weiteren Arbeiten zum Themenfeld – die Gestalt Psychology von 1929 und die Herbert Langfeld Lectures von 1969 – beinhalten 45 Zur Debatte zwischen Köhler und Driesch vgl. K. Köchy, „Organismen als Ma schinen? Zur Debatte zwischen Plessner, Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismen. Die Erklärung des Lebendigen, Freiburg, Mün chen, im Druck. 46 W. Köhler, „Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie. Übersichts referat“, S. 516. Und ebd., S. 517: „Wer […] gesehen hat, daß diese Art Gliederung des Gesichtsfeldes [beim „Sehen“ eines Tintenfasses] anstatt von äußerlichen anatomischen Bedingungen von den sachlichen Eigenschaften der jeweiligen retinalen Reizverteilung, insbesondere von der räumlichen Verteilung der glei chen und verschiedenen Farbreize abhängt, der wird doch wohl schon hier auf den Gedanken geführt, diese Gliederung könnte eine spontane Selbstgliederung der optischen Prozesse durch ihre eignen physikalisch-chemischen Eigenschaf ten und Kräfte in jedem Fall sein, – womit denn freilich die mechanistische Ord nungshypothese aufgegeben wäre.“ 47 Ebd., S. 519: Entscheidend ist, „daß alle Vorstellungen über Entsprechung von phänomenalen Gegebenheiten und Hirnzuständen dahin drängen, als objektives Korrelat von Wahrnehmungseigenschaften reale physische Vorgänge und deren Realeigenschaften anzusehen.“ 48 Vgl. M. G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967, S. 146-147. 49 W. Köhler, „Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie“, S. 520.
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lediglich eine systematische Ausarbeitung der früheren Arbeiten. Im Rahmen dieser Abhandlung vernachlässigen wir die systematische Analyse der Gestaltpsychologie Köhlers im Zwischenfeld der genannten Schriften aus den 1920er und 1960er Jahren und konzentrieren uns auf die Frage, ob überhaupt und, falls dies der Fall ist, in welcher Weise wir von einer wechselseitigen Beeinflussung theoretischer Überlegungen zum Konzept „Gestalt“ und der Forschungen zum Verhalten höherer Tiere sprechen können. Die für diesen Zusammenhang zentralen Texte sind die Studien zu Menschenaffen aus den Forschungsjahren auf Teneriffa und die Abhandlung Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand aus dem Jahr 1920, an der er im gleichen Zeitraum gearbeitet hat. Es ist erstaunlich zu sehen, wie eng für Köhler selbst die beiden Forschungsrichtungen seines wissenschaftlichen Lebens, die Gestaltpsychologie und die Tierpsychologie, miteinander verschränkt sind. Auf den ersten Blick ist das tatsächlich kaum zu erkennen, da Köhler sich um die Explikation der Zusammenhänge wenig kümmert.
3. Köhlers Studien zur Tierpsychologie im Horizont der Gestalttheorie Köhler hat seine Versuche zum Verhalten von Schimpansen in der Anthropoidenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa durchgeführt.50 Er leitete die Station von 1914 bis 1920 und hat in dieser Zeit eine Reihe von Erkenntnissen gewonnen, die für die Primatenforschung bahnbrechend waren und auch für unser Selbstverständnis als Menschen eine prägende Wirkung hatten. Bis zu Köhler, so kann man es knapp sagen, hielt man
50 Die Gründung der Station steht im Kontext der Einrichtung einer ganzen Rei he von festen biologisch-zoologischen Laboratorien außerhalb der Universität durch viele europäische Staaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese For schungsinstitutionen sollten vor allem eine konzentrierte Forschungstätigkeit jenseits des universitären Lehrbetriebs ermöglichen. Siehe I. Jahn (Hrsg.), Ge schichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, 3., neu bearb. u. erw. Aufl., Hamburg 2004, S. 437-440. Siehe außerdem H. Hei necke, S. Jaeger, „Entstehung von Anthropoiden-Stationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Biologisches Zentralblatt. An International Journal of Cell Biology, Genetics, Evolution, and Theoretical Biology, 112(2)/1993, S. 215-223. Zur Station Teneriffa siehe ebd., S. 217-220.
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Werkzeuggebrauch und insbesondere Werkzeugherstellung für ein menschliches Monopol. Nachdem Köhler seine Intelligenzprüfun gen an Menschenaffen veröffentlicht hatte,51 konnte davon keine Rede mehr sein. Zu Beginn seiner Studie geht Köhler von zwei Fragen aus: 1. Vermögen Schimpansen in irgendeinem Grade verständig und einsichtig, das heißt: intelligent, zu handeln? 2. Worin besteht die „Natur von Intelligenzleistungen“ bzw. „ihre ursprüngliche Form“?52 Köhler stellt die erste Frage ausdrücklich in den Mittelpunkt. Dagegen erhebt sich ein naheliegender Einwand: Muss man nicht erst wissen, worin genau das Wesen der Intelligenz besteht (Frage 2), um untersuchen zu können, ob Schimpansen sich intelligent verhalten (Frage 1)? Köhler meint, das sei nicht der Fall. Erfahrungswissenschaften wären schlecht beraten, von irgendeinem dogmatisch gesetzten Intelligenzbegriff auszugehen. Sie können sich daher zunächst nur an einem „recht ungefähr aus der Erfahrung bekannten Typus“ von Verhalten orientieren, „der uns als ‚einsichtig‘ im Gegensatz zu sonstigem Verhalten“ gilt.53 Um diesen Vorbegriff intelligenten Verhaltens zu identifizieren, stellt Köhler folgende Überlegung an: Der Eindruck, dass ein Verhalten intelligent ist, entsteht nicht schon, wenn ein Lebewesen ein Ziel auf einem Weg erreicht, der seiner Organisation nach als selbstverständlich erscheint, sondern erst dann, wenn die Umstände solche Wege versperren, aber „indirekte Verfahren möglich lassen“, die dann auch wirklich durch das Verhalten beschritten werden.54 Einfache Beispiele sind das Einschlagen eines räumlichen Umwegs, wenn der direkte Weg verstellt ist, oder die Benutzung eines Hilfsmittels, um an ein Ziel zu gelangen, das ohne Hilfsmittel nicht erreichbar wäre. Mit Hilfe dieses Vorbegriffs kann man dann versuchen, die erste Frage zu klären, ob Schimpansen intelligentes Verhalten zeigen. Köhler zufolge ergeben sich in diesem Zuge auch mögliche Auf51 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1921). Mit einem Anhang zur Psychologie des Schimpansen, Berlin, Heidelberg, New York 1973. Der Text erschien erstmals 1917 unter dem Titel „Intelligenzprüfungen an Anthropo iden I“. 52 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 1. 53 Ebd., S. 2. Klare Definitionen, so hat Köhler diesen Punkt alternativ formuliert, „gehören nicht an den Anfang von Erfahrungswissenschaften“, sondern – im Erfolgsfall – an das Ende der Untersuchung (ebd.). 54 Ebd., S. 3.
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schlüsse für die Beantwortung der zweiten Frage, der Frage nach der Natur der Intelligenzleistungen. Denn der Beobachter, so Köhler, würde in „etwaigen Intelligenzleistungen“ von Schimpansen Vorgänge plastisch hervortreten sehen, die ihm selbst „zu geläufig geworden sind“, als dass er „noch unmittelbar ihre ursprüngliche Form erkennen“ könnte.55 Er würde also etwas über die Natur oder Struktur der Intelligenz lernen. Nimmt man noch einmal die beiden Ausgangsfragen Köhlers in den Blick, so stellt sich deren Abhängigkeitsverhältnis nun umgekehrt dar, als der genannte Einwand unterstellt. Anders gesagt: Durch Intelligenzforschungen an Tieren lernen wir etwas über die Natur von Intelligenzleistungen. Konkret müssen sich die Experimente an dem genannten Vorbegriff intelligenten Verhaltens orientieren. Köhler ist als Versuchsleiter daher bestrebt, Situationen zu schaffen, in denen es ein für die Schimpansen motivierendes Ziel gibt, der direkte Weg dorthin nicht gangbar ist, aber mindestens ein für sie überschaubarer indirekter Weg offensteht. Alle Versuchsszenarien, die Köhler entwirft, haben dieses Design. Im Wesentlichen lassen sie sich in vier Arten unterteilen: Versuche, die a) b) c) d)
einen räumlichen Umweg erfordern die Einschaltung eines Gegenstandes (Werkzeuges) erfordern die Beseitigung eines Gegenstandes erfordern eine Iteration oder Kombination der zuvor genannten Verfahren erfordern.
In diesen Experimenten – wir nennen nur einige Beispiele – sollten die Schimpansen sich um ein Gitter herumbewegen, durch das ein Ziel (eine Futterration) sichtbar war (a), Stöcke aus ihrer Umgebung verwenden, um Dinge außerhalb ihrer Reichweite heranzuziehen, hoch angebrachte Ziele durch Einschalten einer Kiste als Tritt erreichen (b), einen Gegenstand aus dem Weg räumen, um Zugang zu einem Ziel zu gewinnen (c), mehrere Kisten übereinanderstapeln, um ein Ziel zu erreichen, oder eine mit schweren Steinen gefüllte Kiste ausräumen, um sie unter ein Ziel schieben zu können (d). In Versuchen dieser Art schneiden die Schimpansen gut ab. Selbst da, wo Schwierigkeiten in der Bewältigung der Aufgaben auftreten, erweisen sich die Aufgaben für sie als lösbar. Für Köhler ist damit
55 Ebd., S. 1.
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bewiesen, dass sich bei Schimpansen einsichtiges Verhalten nachweisen lässt.56 Allerdings gibt es eine von Köhler nur beiläufig angesprochene Art von Aufgaben, bei denen es zu einem grundsätzlichen Scheitern kommt, und zwar Versuche, die e) ein gemeinsames Handeln erfordern. Köhlers Beispiel wird in dem Kapitelanhang „Gemeinsames Bauen“ erörtert. Nachdem die Schimpansen einzeln mit dem Auftürmen von zwei Kisten vertraut waren, wurde ihnen auch gemeinsam die Gelegenheit gegeben, hoch angebrachte Futterrationen zu erreichen. Köhler berichtet darüber Folgendes: „Ist das Ziel angebracht, so blickt alles in der Umgebung suchend umher, und gleich danach trabt das eine Tier auf eine Stange, das andere auf eine Kiste zu, oder was sonst geeignet aussieht; von allen Seiten ziehen sie mit Material heran […]. Mehrere Tiere wollen zugleich hinauf, jedes bemüht sich in diesem Sinne und verhält sich so, als ob es allein jetzt zu bauen hätte oder die vorhandenen Anfänge sein Bau wären, den es selbst fertigstellen möchte. Hat ferner ein Tier zu bauen angefangen, und andere bauen dicht daneben auch, wie das nicht selten vorkommt, so wird im Bedarfsfalle eine Kiste der Nachbarn fortgenommen, unter Umständen auch ein Kampf um ihren Besitz ausgefochten. Daß Schlägereien die Arbeit vielfach unterbrechen, ist ja ohnedies verständlich, da, je höher der Bau, um so mehr jeder oben stehen will. Der Erfolg ist meistens, daß das Streitobjekt eben durch den Streit vernichtet wird, nämlich bei der Beißerei umfällt […].“57 Köhler beschreibt hier eine Art Sozialverhalten. Dieses Verhalten scheint aber nur aus unkoordiniertem Verhalten der Gruppenmitglieder zu bestehen, die jeder für sich das Ziel erreichen wollen. Man kann das als ein Gruppenverhalten im Ich-Modus bezeichnen, von dem ein anspruchsvolleres Gruppenverhalten im Wir-Modus abzugrenzen wäre.58 Köhler macht einen Vorschlag, wie das „gemeinsame Bauen“ in diesem engeren Sinn konzipiert werden könnte: als „ein 56 Vgl. auch die eindrucksvolle Studie W. Köhler, „(Aus der Anthropoidenstation auf Teneriffa) Zur Psychologie des Schimpansen“, in: Psychologische Forschung, 1(1)/1922, S. 2-46. Sie befindet sich im Anhang der hier verwendeten Ausgabe von W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 195-233. 57 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 120. Siehe auch das wei tere Beispiel ebd., S. 122. 58 R. Tuomela, The Philosophy of Sociality. The Shared Point of View, Oxford, New York 2007.
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regelrechtes Zusammenarbeiten“, bei dem „die Rolle des einzelnen streng im Sinne von Arbeitsteilung festgelegt wäre“.59 Schimpansen sind seines Erachtens zu einem solchen Verhalten nicht in der Lage. In der gegenwärtigen Debatte um kognitionsbezogene Unterschiede zwischen Menschen und nicht-menschlichen Primaten ist die Thematik der Zusammenarbeit mit verteilten Rollen von zen traler Bedeutung, beispielsweise in einem zwischen Michael Tomasello und Christophe Boesch ausgetragenen Streit.60 Worin besteht nun der Zusammenhang von Köhlers Verhaltensforschung an Menschenaffen und der Gestalttheorie? Die Frage lässt sich am besten angehen, wenn man sie in den größeren Problemzusammenhang einbettet, der sich aus der Aufgabe ergibt, das methodisch-methodologische Gesamtprofil von Köhlers Tierforschungsagenda zu bestimmen. Allgemein wird ein solches Profil durch grundsätzliche Kenngrößen eines Forschungsprogramms konstituiert, wie die im Mittelpunkt stehenden Tiere, die untersuchten Leistungen, die Forschungsmethoden, den Forschungsort, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, innerwissenschaftliche Abgrenzungen und philosophische Implikationen. Wir werden uns hier allein auf Köhler konzentrieren, weisen aber darauf hin, dass die Identifikation solcher Profile insofern von grundsätzlichem theoretischen Interesse ist, als sie sich dazu eignen, verschiedene Forschungsprogramme aufeinander beziehbar zu machen und daher Anknüpfungspunkte für eine vergleichende Philosophie der Tierforschung bieten könnten.61 Wichtige Aspekte des Köhler’schen Methodenprofils sind bereits deutlich geworden: Köhler wählt Menschenaffen, insbesondere Schimpansen, als Referenztiere, um eine bestimmte Leistung, „Intelligenz“, durch Verhaltensuntersuchungen zu erforschen, die experimentell und mit in Gefangenschaft lebenden Tieren in einer außeruniversitären Forschungsstation durchgeführt werden.62 Das Ziel dabei ist nicht nur, etwas über Menschenaffen zu erfahren, son59 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 120. 60 Siehe dazu M. Wunsch, „Was macht menschliches Denken einzigartig? Zum Forschungsprogramm Michael Tomasellos“, in: Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch, 3/2015, S. 259-288. 61 Vgl. dazu auch die diesem Gedanken folgenden Untersuchungen von Böhnert/ Hilbert, Köchy und Wunsch in diesem Band. 62 Köhler hat seine Untersuchungen auch an einem Orang-Utan Weibchen durch führen können, das im Juni 1916 nach Teneriffa gebracht wurde, zusammen mit einem bald darauf gestorbenen Männchen. Siehe dazu den erst postum ver
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dern auch Aufschluss über die Natur von Intelligenzleistungen zu gewinnen. In diesem Sinne ist der Fokus nicht auf Menschenaffen begrenzt. Daher überrascht es nicht, dass Köhler auch an Verhaltensvergleichen zwischen Schimpansen und Kindern interessiert ist. Offenbar hat er selbst auch schon Umwegversuche mit einem 15 Monate alten Kind und Werkzeugversuche mit einem zweijährigen Kind durchgeführt.63 Er weist in seiner Studie zudem mehrfach darauf hin, dass Verhaltensvergleiche zwischen Kindern und Schimpansen (und auch zwischen nichtmenschlichen Primaten untereinander) aufschlussreich wären, um Einsicht in die Struktur und die Entwicklung kognitiver Leistungen zu erlangen.64 Am Ende betont er schließlich die Notwendigkeit systematischer Untersuchungen in diesem Feld.65 Ein weiterer wichtiger Aspekt des methodisch-methodologischen Profils von Köhlers Forschungsagenda hängt mit dem Einsatz von Filmaufnahmen zusammen. Köhler ist einer der ersten Naturwissenschaftler, die sich des heute selbstverständlichen Verfahrens bedienen, Verhaltensversuche filmisch zu dokumentieren. Die neue technische Möglichkeit war wie geschaffen für die von ihm verfolgte Experimentalmethode. Sein Vorgehen ist nicht auf Messungen hin orientiert; positiv lässt es sich als „qualitatives Experimentieren“ bezeichnen.66 Während mit dem quantitativen Experiment kausale Abhängigkeiten festgestellt werden sollen, sind qualitative Experimente explorativer Art und dienen letztlich der Aufdeckung einer Struktur,67 in Köhlers Fall der Struktur der Intelligenz, auf die sich seine oben genannte zweite Ausgangsfrage richtete. Qualitative Verhaltensexperimente sind zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie in den Versuchen eine offene Situation für die Probanden schaf-
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öffentlichten Text: W. Köhler, „Intelligenzprüfungen am Orang“, in: S. Jaeger (Hrsg.), Briefe von Wolfgang Köhler an Hans Geitel 1907–1920, S. 132-191. W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 10, S. 176. Ebd., S. 47, S. 107. Ebd., S. 193 f. W. Köhler, „Die Methoden der psychologischen Forschung an Affen“, in: E. Aberhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI: Me thoden der experimentellen Psychologie, Teil D: Methoden der vergleichenden Tierpsychologie, Berlin, Wien 1932, S. 69-120. Siehe dort vor allem das zweite Kapitel „Der qualitative Versuch“, S. 82 ff. Vgl. B. Vollmers, Kreatives Experimentieren. Die Methodik von Jean Piaget, den Gestaltpsychologen und der Würzburger Schule, Wiesbaden 1992, S. 41.
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fen.68 Die Teilnehmer haben nicht nur die Option, beispielsweise einen bestimmten Hebel zu betätigen oder es zu unterlassen, sondern ihnen stehen verschiedene Wege offen, ein Ziel zu erreichen. Bei diesen Wegen kann es sich auch um solche handeln, an die der Versuchsleiter zunächst selbst nicht gedacht hatte – aber das ist der Preis der Methode.69 Köhlers qualitative Verhaltensexperimente berücksichtigen auch individuelle Verschiedenheiten der Probanden. Die Versuchstiere sind nicht durchnummeriert, sondern haben Namen und werden als Individuen mit bestimmten Eigenheiten wahrgenommen. Diese Eigenheiten werden von Köhler zwar stark anthropomorphisiert, die Sensibilität für individuelle Unterschiede führt ihn allerdings zu der gut nachvollziehbaren allgemeinen methodischen „Maxime […], daß niemals Beobachtungen an nur einem Schimpansen als maßgebend für die Tierform überhaupt angesehen werden dürfen“.70 Darin deutet sich ein weiterer Grundzug des Methodenprofils von Köhlers Forschungsagenda an: die Bestimmung des Wissenschaftsideals seiner Verhaltensforschung in Auseinandersetzung mit dem der Physik. Auf der einen Seite stellt das physikalische 68 Ebd., S. 132 f., S. 144. Siehe ebd., S. 144 f., auch das Zitat von D. Katz, Mensch und Tier. Studien zur vergleichenden Psychologie, Zürich 1948, S. 86: In „Köhlers Versuchen mit Schimpansen wurden die wichtigsten Einblicke in das Verhalten der Versuchstiere bei Situationen gewonnen, die ihnen weitgehende Freiheit der Reaktion ließen. Je mehr die Bedingungen, unter denen das Tier zu reagieren hat, eingeengt werden, um so spezieller wird seine Antwort, schließlich kommt es dahin, daß das Tier sozusagen als Ganzes überhaupt nicht mehr antwortet, sondern nur noch ein Teil von ihm.“ 69 Köhler ist nicht durchgehend bereit, diesen Preis zu zahlen. Ein Beispiel: Bei Ver suchsaufbauten, in denen ein Seil mit einer Futterration von einem Drahtdach herabhing und durch die Verwendung verschiedener Trittwerkzeuge erreichbar gewesen wäre, kletterten die Schimpansen an einer Stelle zum Dach und an diesem entlang bis zum herabhängenden Seil. Als Leser der Darstellung mag man die kreative Lösung bewundern; doch Köhler fügt an: „Es bedurfte strenger Verbote, bis dieser und andere Umwege aus dem Programm verschwanden“ (W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 9). In der Einleitung seiner Studie hatte es geheißen, einsichtiges Verhalten solle geprüft werden, indem die Schimpansen vor die Aufgabe stellt, einen „der Situation entsprechenden ‚Umweg‘ ein[zu]schlagen“ (ebd., S. 3). Genau das jedoch haben die Schimpansen in dem genannten Beispiel getan. Damit wird deutlich, dass es Köhler hier um mehr geht: nicht bloß um irgendeinen der Situation entsprechenden, sondern um von ihm der Art nach vordefinierte Umwege. Er gibt den Schimpansen vor, was als situationsentsprechend gilt. Sie müssen gewissermaßen mit herausfin den bzw. lernen, was der Versuchsleiter von ihnen will. 70 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 5.
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Wissenschaftsideal für Köhler eine Kontrastfolie dar. Es erscheint für die Verhaltensforschung unpassend, weil die mitunter anarchische Individualität der Referenztiere der für die Wissenschaften von der unbelebten Natur zentralen Voraussetzung der Gleichförmigkeit anorganischer Abläufe spottet. Außerdem ist es insofern für die Verhaltensforschung ungeeignet, als diese auf „Gesamteindrücke“ von Bewegungen angewiesen bleibt.71 Wo bestimmte Bewegungskomplexe, die das Verhalten der Schimpansen ausmachen, analysiert werden, erhalten wir „Einzelbeispiele der Gliedermechanik und der reinen Physiologie von Muskeln und Drüsen“, doch je „weiter wir im Streben nach dieser Art von Objektivität die Analyse treiben, um so weniger sind wir geneigt, die Beschreibung noch eine solche des ‚Verhaltens‘ von Affen zu nennen, und um so mehr löst sie selbst sich in Feststellungen rein naturwissenschaftlicher Richtung auf.“ Köhlers Konsequenz daraus ist nicht, das Verhalten als etwas Subjektives zu konzipieren, sondern die Annahme, dass „es an den untersuchten Wesen Wirklichkeiten [gibt], welche für uns nur in jenen Gesamteindrücken wahrnehmbar werden“.72 Ob Wirklichkeiten solcher Art außerhalb des Phänomenbereichs der Physik liegen müssen, ist zunächst eine offene Frage. Im Moment kommt es nur darauf an, dass die Objektivität, nach der unter Leitung des physikalischen Wissenschaftsideals gesucht wird, nicht von derselben Art ist, wie die in der Verhaltensforschung anvisierte Objektivität. Auf der anderen Seite dient das physikalische Wissenschaftsideal in Köhlers „objektiver Psychologie“ nicht nur zur Abgrenzung, sondern auch als positiver Bezugspunkt. Die Physik ist Köhler zufolge eine „hochentwickelte[] Erfahrungswissenschaft“ und hat sich im Laufe ihrer Geschichte als ein „System nicht mehr verlierbaren Wissens“ etabliert, mit dem sich das Neue „zusammenschließen muß“; die Psychologie dagegen als noch junge Wissenschaft sei „von einem so glücklichen Zustande weit entfernt“.73 Sie müsse sich daher, so Köhlers Konsequenz, vorläufig in Theorieabstinenz üben und ihre Ergebnisse gegen Fehldeutungen, die sich aus vorschnellem Theoretisieren ergeben, sichern.74 Vor diesem Hintergrund ist es nicht allein in der Sache begründet, dass Köhlers Verhaltensforschung qualitativ ansetzt, sondern auch dem unaus71 72 73 74
Vgl. W. Köhler, „Die Methoden der psychologischen Forschung an Affen“, S. 75. Ebd., S. 76. W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 133. Ebd., S. 134; vgl. S. 2, S. 117.
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gereiften Stadium der Psychologie geschuldet. Denn selbst für die Physik war es in ihrer Frühphase unausweichlich, zunächst qualitative Forschung zu betreiben. „Qualitatives Beobachten, Experimentieren und Analysieren haben die Primärerkenntnisse vermittelt, welche dann dem Physiker sagen, wo er überhaupt einen wichtigen Faktor messen könne.“75 Angesichts des Entwicklungsgangs der Physik wagt Köhler eine Prognose zum Fortgang der Tierpsychologie: „Wahrscheinlich stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung, die die verschiedensten qualitativen Fragen der Affen- wie der Tierpsychologie überhaupt auf diesen mehr quantitativen Untersuchungstypus zurückführen wird“.76 Zuerst gilt es innerhalb der Psychologie aber, die qualitativ erreichten Erkenntnisse vor theoretischen Fehldeutungen zu bewahren. Was das konkret bedeutet, wird deutlicher, sobald wir den nächsten Grundzug des methodisch-methodologischen Profils von Köhlers Tierforschungsagenda hinzunehmen, und zwar die innerwissenschaftliche Abgrenzung von der sogenannten „Zufallstheorie“.77 Die Theorie besagt: Das erfolgreiche Umwegverhalten wird aus Bruchstücken erworben, die durch natürliche Verhaltensansätze auf zufällige Weise entstehen; „solche ‚natürliche[n]‘ Impulse geschehen viele, eine gewisse Auswahl unter ihnen, die im Spiel des Zufalls auch einmal vorkommt, stellt aneinandergereiht den wirklichen Verlauf dar“; dabei hat der praktische Erfolg bzw. der entsprechende Gefühlszustand eine verstärkende Funktion und sorgt für das Entstehen der Wiederholbarkeit dieser Leistungen.78 Köhler spricht sich gegen die Zufallstheorie aus. Er weist sie erstens aus phänomenologischen Gründen zurück und argumentiert gegen sie
75 W. Köhler, Psychologische Probleme (1933), S. 26, zitiert nach B. Vollmers, Krea tives Experimentieren, S. 138. 76 W. Köhler, „Die Methoden der psychologischen Forschung an Affen“, S. 105. 77 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 146. 78 Ebd., S. 134. Köhler erwähnt nicht, wen er für Vertreter der Zufallstheorie hält. Eine Vermutung wäre, dass er sie auf Edward Lee Thorndike (1874–1949) bezieht, dessen Konzeption einen wichtigen Teil der Vorgeschichte des Behaviorismus ausmacht und dem Köhler eine „Assoziationspsychologie“ zuschreibt (ebd., S. 2, S. 16 f.); dafür spräche die Anspielung auf Thorndikes „puzzle-box“-Expe rimente im Zuge der Auseinandersetzung mit der Zufallstheorie (ebd., S. 151); dagegen spräche Köhlers Hinweis, dass er mit seinen kritischen „Ausführun gen zum Zufallsprinzip […] nicht zugleich zur allgemeinen Assoziationstheorie Stellung genommen“ habe (ebd., S. 158).
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auch zweitens im Rekurs auf einige seiner Experimente.79 Für unsere Zwecke entscheidend ist aber ein dritter Grund. Die Zufallstheorie ist einem Verständnis der Naturwissenschaften verpflichtet, das für die Verhaltensforschung unangemessen ist. Zwar wird sie, so Köhler, „vielfach anderen Erklärungsversuchen vorgezogen, weil man sie für besonders exakt, für ausgezeichnet mit den Anforderungen wissenschaftlicher Denkweise übereinstimmend hält“, aber das sei eine Fehleinschätzung.80 Denn tatsächlich gerate sie mit „naturwissenschaftlichen Gedanken […] in Konflikt“, und zwar solchen, die sich aus Ludwig Boltzmanns Formulierung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ergeben. „Danach gilt es in der Physik (und theoretischen Chemie) als unmöglich, daß innerhalb ihres Gebietes aus zufälligen (voneinander unabhängigen), ungeordneten und gleich möglichen Bewegungselementen von großer Zahl im Verlauf der Permutationen eine gerichtete, einheitliche To talbewegung zustande komme.“ Diese Überlegung ist Köhler zufolge wegen ihres prinzipiellen Charakters auf dem Zufallsgebiet insgesamt gültig, das heißt sowohl etwa für die Brown’sche Molekularbewegung als auch – wenn die Zufallstheorie Recht haben sollte – für die Bewegungsimpulse eines Schimpansen.81 Bei Schimpansen allerdings kommt offenbar eine „Totalbewegung“ der genannten Art zustande. Denn dass die Bewegung eines Schimpansen den genannten Totalcharakter aufweist (der sich näherhin durch ihr abruptes Einsetzen, ihren gestreckten, in sich geschlossenen Verlauf und ihr Angepasstsein an den Situationsaufbau bzw. die Feldstruktur zeigt), ist eine notwendige Bedingung dessen, was wir in einigen Fällen tatsächlich feststellen: Dass sein Verhalten in der Beobachtung als einsichtig bzw. intelligent gilt.82 Die innerwissenschaftliche Abgrenzung von der Zufallstheorie hat wichtige philosophische Implikationen, die einen weiteren Aspekt des methodisch-methodologischen Profils von Köhlers Agenda bilden. Der Ausdruck „Zufallstheorie“ bezieht sich nicht nur auf eine bestimmte Erklärung intelligenten Verhaltens, sondern steht 79 Zu diesen beiden Punkten siehe ausführlich W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 136 f. und S. 145 f. 80 Ebd., S. 151. 81 Ebd., S. 151 f. 82 Ebd., S. 136 f. – Dass bestimmte Verhaltensweisen eines Schimpansen in der Beobachtung als einsichtig bzw. intelligent gelten, ist auch für den Zufallstheo retiker unstrittig. Die Zufallstheorie strebt eine Erklärung dieses Verhaltens an. Diese Erklärung ist Köhler zufolge aber aus den genannten Gründen falsch.
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auch für einen Theorietyp, in dem Phänomene durch Zufallsereignisse erklärt werden. Bei diesen Phänomenen kann es sich um intelligentes Verhalten handeln, aber auch um instinktives Verhalten, Molekularbewegungen oder evolutionäre Prozesse. Die Ablehnung der Zufallstheorie führt damit in die Nähe eines philosophischen Feldes, in dem sich die verschiedenen Spielarten des Vitalismus tummeln. Die Argumente, die im Umkreis des Vitalismus gegen die Zufallstheorie vorgebracht werden, scheinen denjenigen Köhlers verwandt zu sein, nehmen aber etwa „das Unbewusste“ als Werkmeister an, um instinktives Verhalten wie den Nestbau bei Vögeln zu erklären (Eduard von Hartmann), oder den „Élan vital“, um evolutionäre Prozesse wie die Herausbildung eines Auges zu erklären (Henri Bergson83). Köhler distanziert sich von jeder Form des Vitalismus und weist die Dichotomie „Zufall oder Agentien jenseits der Erfahrung“ zurück.84 Formuliert man die sich daraus ergebende philosophische Aufgabe, so gilt es eine nicht-vitalistische Alternative zur Zufallstheorie zu entwickeln. In einem Wort ausgedrückt, heißt Köhlers Lösung dieser Aufgabe: „Gestalttheorie“. Welche Form nimmt diese nicht-vitalistische Alternative zur Zufallstheorie im Kontext von Köhlers Versuchen mit Schimpansen an? Unseres Erachtens müssen drei Aspekte in seiner gestalttheoretischen Deutung intelligenten Verhaltens unterschieden werden. i) Intelligentes Verhalten setzt seitens der Probanden das Erfas sen von Gestalten voraus. „In allen Intelligenzprüfungen, welche eine optisch gegebene Situation verwenden, hat der Prüfling, wenn man genauer zusieht, neben anderen Aufgaben die eines bestimmten Erfassens bestimmter Formen oder (v. Ehrenfels, Wertheimer) Gestalten zu leisten“.85 Schimpansen sind Köhler zufolge grundsätzlich zur Gestalterfassung in der Lage, doch „[i]mmer da, wo eine Formaufgabe etwas größere Anforderungen stellte, also da, wo man (untheoretisch) gewöhnlich erst von Formen und Gestalten (im engeren Sinn) spricht, begann der Schimpanse zu versagen und ohne Rücksicht auf das Feinere der Situationsstruktur so zu verfahren, als wären ihm alle Formen nur en bloc, gewissermaßen ohne straffe innere Zeichnung gegeben“.86 Köhler spricht hier mit Bedacht nicht 83 Auf Bergson und seine Anknüpfung an das die Zufallstheorie ablehnende For schungsprogramm Jean-Henri Fabres geht im vorliegenden Band Köchy ein. 84 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 152 f. 85 Ebd., S. 163. 86 Ebd.
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von absolutem Versagen, sondern von Anfängen des Versagens, das heißt nicht von fehlenden, sondern von begrenzten Fähigkeiten. Entsprechend ist an einer anderen Stelle dann von einer „relative[n] ‚Gestaltschwäche‘“ der Schimpansen die Rede.87 Zumindest einige der Tiere bewältigen Köhler zufolge nach einer gewissen Zeit auch anspruchsvollere Formaufgaben; und wo sie an Grenzen stoßen, mag das auch erstens, wie Köhler selbst einräumt, eher an schwacher emotionaler Selbstkontrolle als an kognitiven Mängeln liegen, und zweitens, wie wir hinzufügen möchten, an der geringen ökologischen Validität von Experimenten, in denen Schimpansen etwa eine quer hinter einem Gitter liegende Leiter durch das Gitter zu sich holen müssen.88 ii) Intelligentes Verhalten hat für den (menschlichen) Beobach ter eine bestimmte Wahrnehmungsgestalt.89 In unserer Beobachtung von Umwegversuchen unterscheidet sich „ein Verlauf, der aus zufälligen Bruchstücken äußerlich zu einem Erfolg summiert ist“, scharf „von ‚echten Lösungen‘“.90 Köhler zufolge ist die Beobachtung die alleinige Instanz, die diesen Unterschied identifizieren kann. Ihre Leistung bedarf einer gewissen Übung, ist dann aber zuverlässig. Niemand, der eine gewisse Erfahrung mit solchen Versuchen hat, so Köhler, „wird diesen Unterschied übersehen können: die echte Leistung verläuft räumlich wie zeitlich vollkommen in sich geschlossen, als ein einziger Vorgang“, nachdem sie „durch eine Art Ruck“ begonnen hat.91 Ein weiteres Merkmal involviert eine anspruchsvollere Verstehensleistung, gehört aber ebenfalls zur Wahrnehmungsgestalt des intelligenten Verhaltens: Ein „Verhalten von Tieren erscheint uns“ nur dann „als zwingend einsichtig“, wenn es „in geschlossenem glatten Verlauf von vornherein dem Situationsaufbau, der gesamten Feldgestaltung gerecht wird“.92 iii) Intelligentes Verhalten ist in sich selbst gestalthaft. Intelligentes Verhalten wird von Köhler anhand von Umwegversuchen geprüft. Ein Verhalten, in dem auf dem Weg zum Ziel ein Umweg 87 Ebd., S. 193. 88 Ebd., S. 187-190; für den Hinweis auf die fehlende Selbstkontrolle siehe ebd., S. 190, und das Leiterbeispiel, ebd., S. 189. 89 Siehe Köhlers Hinweis, dass auch „zwischen Affe und Affe“ eine „Wahrneh mung von Gesamtcharakteren anzutreffen ist: W. Köhler, „Die Methoden der psychologischen Forschung an Affen“, S. 78. 90 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 136. 91 Ebd., S. 12 f. 92 Ebd., S. 137.
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eingeschlagen wird, besteht grundsätzlich aus zwei oder mehr Teilhandlungen, von denen mindestens eine nicht direkt auf das Endziel gerichtet ist: das Holen einer Kiste, das Herausnehmen von Steinen, das sich selbst vom Ziel Entfernen, das Entfernen des Ziels von einem selbst etc. Der gestalttheoretisch entscheidende Punkt ist nun: Die für die Lösung der Umwegaufgaben erforderlichen Teilhandlungen sind „für sich betrachtet sinnlos“, manchmal „schädlich“, aber „in Verbindung“ mit einer anderen Teilhandlung „und nur in dieser Bindung sinnvoll […]: Das Ganze stellt sogar die einzige in Betracht kommende Lösungsmöglichkeit dar“. Köhler zieht daraus die Konsequenz: In der „einsichtig betrachteten Situation“ muss eine Handlungsfolge „als in sich geschlossener Handlungsentwurf […] für das Tier (oder einen Menschen)“ herausspringen. „Einen anderen Weg nämlich sehe ich nicht, wenn bereits der Anfang des Verfahrens, isoliert genommen, gar nichts von einer Lösung enthält, ja einer solchen entgegengesetzt scheint, also als isoliertes Stück nicht einsichtig auftreten kann. Auch realiter ist danach ein Ganzes verlangt, welches sozusagen seine „Teile“ erst legitimiert, falls ein Verlauf wie der beschriebene einsichtig soll zustandekommen können“.93 Gestalten treten damit auf drei Ebenen der Erforschung des Verhaltens von Schimpansen auf: in der Wahrnehmung der Versuchstiere, in der Wahrnehmnung des Forschers und in dem erforschten Verhalten selbst. Köhlers philosophische Option für die Gestalttheorie als nicht-vitalistische Alternative zur Zufallstheorie reicht jedoch über eine Tierpsychologie des intelligenten Verhaltens hinaus. Bereits in der Studie zu den Intelligenzprüfungen an Menschenaffen heißt es, dass „große Gebiete schon der Physik mit dem Zufall gar nichts zu tun haben. So gewiß nicht alle Physik Lehre von der ungeordneten Wärmebewegung ist, so sicher braucht man von einer Betrachtung wie der oben gegen die Zufallstheorie angestellten durchaus nicht zu der Annahme erfahrungsfremder Agentien überzugehen“.94 Köhlers Idee ist, dass sich schon im Bereich der anorganischen Natur – wo der Vitalismus besonders kontraintuitiv ist – Gestalten antreffen lassen. Wenn sie tragfähig ist, wäre das ein weiteres Argument gegen eine Konzeption des intelligenten Verhaltens entlang des von der Zufallstheorie veranschlagten 93 Ebd., S. 165; Hervorhebungen G. H., M. W. 94 Ebd., S. 153. Vgl. zum geistesgeschichtlichen Hintergrund G. Hartung, „Darwin und die Philosophen. Eine Studie zur Darwin-Rezeption im 19. Jahrhundert“, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 24(2)/2003, S. 171-191.
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physikalischen Wissenschaftsmodells. Denn es ist nicht einzusehen, dass dieses Modell in der Verhaltenslehre an der Stelle empfehlenswert sein soll, wo es um das komplexeste, das heißt das intelligente, Verhalten geht, wenn es schon in der Physik nur eine begrenzte Reichweite hat.
4. Gestalttheorie als Theorie der Gesamtwirklichkeit Der theoretische Ansatz Köhlers, der auch seine empirischen Studien leitet, findet sich in seiner Schrift Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1920), die im Jahr 1919 auf Teneriffa fertiggeschrieben wurde.95 Die in der Abhandlung entwickelte These verdankt sich, wie Köhler eingangs hervorhebt, einer Wechselwirkung mit den Untersuchungen des Verhaltens von Wirbeltieren (Köhler nimmt neben den berühmten Beobachtungen an Menschenaffen auch solche am Haushuhn und am Hund vor). In einer „Einleitung für Philosophen und Biologen“96 formuliert er die dringliche Aufgabe, nach Gestalten in den festen Formen der anorganischen Natur zu suchen, um auf diese Weise die Gestalttheorie, die sich überwiegend mit psychischen Strukturen beschäftigt, in naturwissenschaftlicher Hinsicht abzusichern. Nur wenn nachweisbar ist, dass „Ganzheiten“ auch in der physischen Natur vorhanden sind, können wir, so Köhler pointiert, dem Widerstreben der Naturforscher gegen die Annahme von „Ganzem“ in der Natur, das mehr oder anders ist als die Summe seiner Teile, wirksam entgegentreten. Außerdem wäre damit auch für den Streit zwischen Materialismus und Vitalismus ein Gewinn erzielt. „Kaum hat je eine Zeit lebhafter als die unsere um die Frage gestritten, ob die wesentlichen Charaktere der Lebensvorgänge im Organismus sich gänzlich auf die Gesetze anorganischen Geschehens zurückführen lassen, oder ob besondere Kräfte, nur gerade dem Leben eigentümlich, überall in das chemische und physikalische Getriebe eingreifen und diesem als bloßem Rohmaterial des Organischen ihre höheren Formen
95 W. Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Braunschweig 1920. Diese Studie ist dem Lehrer Carl Stumpf gewidmet. 96 Ebd., S. IX-XVI.
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aufprägen.“97 Wie bereits angedeutet, teilt Köhler mit dem Vitalismus die Ablehnung einer Reduktion von Lebensprozessen auf bloße Mechanik und ein Spiel des Zufalls. Ebenso leuchtet ihm ein, dass Vitalisten „eine Art ‚Geschlossenheit‘ des Organismus und seines Verhaltens“ betonen und im organismischen „Geschehen […] die geordnete Antwort jener Einheit auf ihre aktuellen Lebensbedingungen im ganzen“ sehen.98 Gleichwohl ist die vitalistische Position selbst nur insofern für Köhler attraktiv, als sie das Problem der „Gestalt“ in den Blick bringt – ihre Lösung lehnt er ab. Vitalisten versuchen Köhler zufolge von der gestalttheoretischen Einsicht zu profitieren, dass höhere psychische Gebilde als Gestalten organisiert sind, indem sie „zur Erklärung der merkwürdigen Lebenserscheinungen biologische Kräfte von der Art und der Wirkungsweise gerade der höheren psychischen Faktoren postulieren“.99 Doch aus einem derartigen Transfer vom Bereich des Psychischen in den des Organischen ließe sich keinerlei vitalistischer Mehrwert mehr schlagen, wenn sich – wie Köhler tatsächlich meint – Gestalten schon im Bereich des bloß Anorganischen finden sollten. Denn die dort anzutreffenden Dinge gelten üblicherweise gerade nicht als belebt. Köhlers Ansatz bleibt der eines Naturforschers, der eine Annäherung von Biologie und Psychologie nicht vitalistisch konstruiert, sondern im Feld der Frage nach den physischen Grundlagen des Bewusstseins vorantreibt. „An dieser Stelle wird die Forderung unabweislich, organisches Geschehen, das höherem psychischem Geschehen unmittelbar entsprechen soll, an dessen wesentlichen funktionellen Eigenschaften teilnehmen zu lassen und deshalb organische Prozesse als Gestalten zu denken.“100 Wir haben es in Köhlers Schriften mit einer starken Korrelationstheorie von physischen und psychischen Prozessen zu tun. Die These lautet: Was wir als Gestalt wahrnehmen, das hat einen „Realitätsgrund“, wie auch schon Wertheimer und Koffka betont haben. Damit wird die Frage des Gestaltproblems auf physikalische Gestalten ausgerichtet. Angestrebt wird auch eine Zusammenfassung der physikalischen, physiologischen und psychologischen Perspektiven. Die Beweisführung ist allerdings zirkulär. Einerseits nehmen wir an, dass es physische Gestalten gibt und analysieren dementsprechend physiologische 97 98 99 100
Ebd., S. XIII. Ebd. Ebd. Ebd., S. XIV.
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und psychologische Vorgänge von Gestaltcharakter als Komplexionen in einer physikalischen Welt; andererseits gehen wir von der phänomenalen Wahrnehmung von Gestalten aus, die, insofern sie von physischen Gestaltkorrelaten begleitet werden, Hinweise darauf geben, wo überhaupt in der Natur nach Gestalten zu suchen ist. Eine ontologische Behauptung („es gibt physische Gestalten“) und eine phänomenologische Beschreibung („unserem Erleben von Gestalten korrelieren Gestaltaspekte in der physikalischen Welt“) sollen sich auf diese Weise wechselseitig abstützen. Die Frage, ob es physische Gestalten gibt, wird nicht grundsätzlich entschieden, aber eine Hypothese gebildet, die handlungsleitend ist; sie erlaubt uns, „den Blickpunkt zu gewinnen, der sie [physische Gestalten] als solche erkennen läßt, sie [physische Gestalten] in der Physik sehen zu lernen.“101 Die „Einleitung für Physiker“ will die Erinnerung daran aufrufen, dass ein solcher „Blickpunkt“ mit der realistischen Einstellung in der Naturforschung übereinstimmt. Hermann v. Helmholtz beispielsweise greift in seinem Handbuch der physiologischen Optik (1867) auf physikalische Voraussetzungen für physiologische Beschreibungen zurück. Mach und seine Nachfolger haben, wie oben bereits erläutert wurde, die Verschränkung des Psychischen und Physischen für die Raumwahrnehmung gefordert. Auch Wertheimer und Koffka vertreten, wie Köhler unterstreicht, eine physiologische Hypothese über das Geschehen im Nervensystem. Köhler selbst spitzt diesen Gedanken nur zu: Wenn wir mit dieser Hypothese arbeiten, dann erfordern Grunderfahrungen über ruhende Gestalten der optischen Raumwahrnehmung zu ihrer Erklärung nichts weiter, als dass man dem optischen Sektor des Nervensystems die Eigenschaften eines physikalischen Systems zuerkennt. Aus dieser Annahme folgt die Behauptung einer „Gemäßheit“ des Nervensystems für die äußeren Reizbedingungen und, um es zu einer großen These zu verdichten, die Behauptung vom „Realitätsgrund“ der Wahrnehmung. Köhler begründet diese These allerdings nicht direkt, sondern verweist auf ihre Praktikabilität in der Naturforschung. Die Schrift beschäftigt sich denn auch weitgehend mit der Beschreibung physikalischer Gestalten – bestimmter Gleichgewichtsfiguren, der Symmetrie in physikalischen Gebilden, etwa von Seife in Wasser – und 101 Ebd., S. XV.
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deren Regelmäßigkeit wie auch Überprüfbarkeit im Experiment. Wo Mach vom „natürlichen Verhalten“ physikalischer Strukturen spricht und beispielsweise das Verhalten bei der Energiezunahme und -abnahme meint, erkennt Köhler eine allgemeine „Tendenz zum Zustandekommen einfacher Gestaltung“ oder „zur Prägnanz der Gestalt“, die eine Gemäßheit der strukturellen Bedingungen der physikalischen Welt und der physiologisch-psychischen Bedingungen des Wahrnehmungsapparates impliziert. Genau das wird von Wertheimer für den Bereich phänomenaler wie auch physiologischer Geschehensstrukturen behauptet. Köhler erweitert den Radius der Hypothese vom Gestalthaften der Wirklichkeit auf die Beschreibung des Verhaltens anorganisch-physikalischer Geschehensstrukturen, um auf diese Weise die Gestaltlehre zu einer Theorie der Gesamtwirklichkeit zu machen.102 In Erweiterung der Position Wertheimers entwirft Köhler drei Thesen: Erstens zeigt sich die gleiche Ausbildungstendenz phänomenaler Strukturen unter allen Umständen, d. h. nicht nur auf optischem, taktilem und räumlichem Gebiet, und ist an den Primat der Wahrnehmung gekoppelt. Zweitens finden sich diese phänomenalen Strukturen nicht nur im Bereich einfachsten Geschehens, sondern treffen auch auf Fälle komplexerer Bedingungen zu, die durchaus ein „einfaches“ und „regelmäßiges“ Erscheinen phänomenaler Gestalten zulassen. Und drittens gibt es die Möglichkeit einer Selbstumbildung in der Struktur des Geschehens oder Verhaltens durch Einwirkung auf motorische Organe und deren Rückwirkung.103 Wir haben in den ersten Abschnitten dieser Abhandlung gesehen, dass Köhlers Thesen in der Debatte über Gestaltqualitäten um 1900 vorbereitet wurde. Wir können aber auch erkennen, dass Köhlers Behauptung, dass es Gestalthaftes auch im anorganischen Bereich der Natur gibt, über die übliche Beschränkung der Gestalttheorie auf den organischen Bereich hinausgeht.104 Überall gibt es Gestalthaftes zu entdecken, das etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. An dieser Stelle können wir noch einmal auf die Frage zurückkommen, was die Überlegungen zur Gestalttheorie mit den Verhaltensforschungen zu tun haben. Die oben erwähnte These, dass 102 Ebd., S. 259. 103 Ebd., S. 262-263. 104 Vgl. G. Hartung, „Gestalt und Grenze – Helmuth Plessner und die Gestaltpsy chologie“.
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es nach Köhlers Ansicht unmöglich ist, den Sinn einer Verhaltensweise im Zufallsspiel entstehen zu lassen, wird wieder aufgenommen mit der Bemerkung, dass die Beobachtung von Schimpansen gezeigt hat, dass diese vollständige Lösungsmethoden plötzlich und in sich geschlossen hervorbringen. Das geschieht unabhängig davon, ob der jeweilige Lösungsansatz in einer Situation durchführbar ist oder nicht. Diese Beobachtung spricht gegen die Theorie der Erfolgsselektion im Verhalten durch Aufbau selektierter Teile und ganz allgemein dagegen, dass sich Ganzheit in der Wahrnehmung und im Verhalten im Sinne eines „Und-Summenhaften und Stückhaften“ (Wertheimer) aufbaut. Höhere Tiere, die vor „Formaufgaben“ gestellt sind, zeigen grundsätzlich Verhaltensweisen von in sich geschlossenem Charakter. „Die auffallendste Erscheinung bleibt auch in diesen Versuchen das plötzliche Auftreten von Lösungen durchaus klaren, in sich geschlossenen Charakters, wenn eine einzige Zufallsbewegung das Ziel einmal in Richtung des Kurvenanfangs ein Stück transportiert; es ist dann, als wenn, wenigstens vorübergehend und für den betreffenden Versuch, ein Bann gebrochen wäre.“105 Köhler selbst bekennt eine methodische Nähe seiner Verhaltensforschungen zu Fragestellungen, wie sie Stumpf für die Wahrnehmungspsychologie formuliert hat. Er fügt aber sogleich hinzu, dass seine Arbeiten zu diesem Themenkomplex nur „schwache Anfänge“ liefern können, da das Verhalten der Tiere erst in langfristigen Beobachtungsreihen entschlüsselt werden muss. Dementsprechend können für die Anthropoidenforschung nur Hypothesen gebildet werden, die mit den allgemeinen Annahmen der Gestalttheorie abzugleichen sind. So bleibt auch die Annahme, dass die Enge des im kognitiven Leben zugänglichen Zeithorizonts mitsamt der korrelierenden relativen ‚Gestaltschwäche‘ zu den Gründen dafür gehören, dass Schimpansen trotz verblüffender Intelligenz nicht in eine dem Menschen vergleichbare kulturelle Entwicklung eintreten und dafür auch nicht das Rüstzeug mitbringen,106 vorerst eine bloße Hypothese. Die Absicherung dieser Hypothese erwartet Köhler allerdings nicht nur von weiterer empirischer Forschung, sondern auch von einer Präzisierung der Theorie der Raumgestalten, die auf Mach und Stumpf zurückgeht und durch Wertheimer und seine Gruppe neue Impulse erhalten hat. „Es ist […] schwer, eine taugliche 105 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 175. 106 Einen weiteren Grund sieht Köhler „in dem Fehlen der Sprache“, ebd., S. 193.
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Erklärung seiner [des Schimpansen] Leistungen zu geben, solange nicht eine ausgeführte Theorie der Raumgestalten zugrunde gelegt werden kann.“107 Hier haben wir nun die Anzeige einer Verschränkung der beiden Forschungsinteressen, die Köhler zumindest bis in die 1920er Jahre hinein bedient hat. Damit treten auch die philosophischen Implikationen hervor, denen Köhlers Arbeiten verpflichtet sind. Methodisch bleibt er der deskriptiv-empirischen Psychologie seines Lehrers Stumpf verpflichtet. Er sucht eine Alternative zu den monistischen und dualistischen Theorien seiner Zeit. In strategischer Hinsicht ist er auf der Suche nach einer Einheitstheorie der Wirklichkeit, die der anderen, seinerzeit dominierenden Einheitstheorie von der Entwicklung des Lebens (Darwinismus) überlegen ist. Eine synthetische Perspektive auf die Formen des Lebens soll durch die Behauptung abgesichert werden, dass die Natur grundsätzlich, also bereits auf ihrer anorganischen Stufe, gestalthaft erscheint. Für die Verhaltensforschung an Tieren und die Anthropologie entsteht die Aufgabe, auf der Basis grundsätzlicher „Gemäßheit“ von physischen und physiologischen Strukturen, die Unterschiede in der Gestaltwahrnehmung und die jeweilige Geschlossenheit einer Verhaltensweise bei außermenschlichen und menschlichen Lebensformen zu erforschen.
5. Zu tatsächlichen und möglichen Wegen der Rezeption von Köhlers Arbeiten zur Verhaltensforschung und Gestalttheorie Köhlers Verhaltensversuche mit Schimpansen übten in der Philosophie etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts einen großen Einfluss aus, insbesondere auf diejenigen Denker, die an unserem Selbstverständnis als Menschen interessiert waren. Dabei ist an die Philosophische Anthropologie, aber auch an die Kulturphilosophie zu denken.108 Obwohl der Fokus dieser Rezeption auf dem Tier107 Ebd., S. 193. 108 Siehe H. W. Ingensiep, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Ge genwart, Stuttgart 2013. Ingensiep stellt nach einer ausführlichen Auseinan dersetzung mit Köhlers Forschung zu Menschenaffen (ebd., S. 181-193) eine ganze Reihe interessanter Belege zu deren philosophischer Rezeption bei Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ludwig Klages und Erich Rotha cker zusammen (ebd., S. 194-211). Vgl. auch den Beitrag von Ingensiep in Band 2 dieser Reihe.
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Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie
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Mensch-Unterschied lag, sind die Differenzen in der Aufnahme von Köhlers Resultaten erstaunlich, und zwar schon auf Seiten der beiden Begründer der modernen philosophischen Anthropologie, Max Scheler und Helmuth Plessner. Scheler nennt Verhalten „intelligent“, wenn es in Bezug auf Aufgaben, die sich in „neuen, weder art- noch individualtypischen Situationen“ stellen, (1) „sinngemäß“ im Sinne von zielbezogen ist, (2) „plötzlich“ auftritt und (3) „unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche“ ist.109 Er sieht durch Köhlers Versuche den Nachweis erbracht, dass Schimpansen ein Verhalten zeigen, das über psychische Fähigkeiten niederer Stufen (Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis) hinausgeht und „intelligent“ in dem genannten Sinn ist.110 Damit wird Scheler zufolge die gängige anthropologische Auffassung von der Intelligenz als einem menschlichen Monopol hinfällig. Es entsteht eine neue theoretische Situation: Entweder sind alle Unterschiede zwischen Schimpansen und Menschen lediglich gradueller Art, oder es gibt doch eine überquantitative Differenz, traditionell gesagt: einen Wesensunterschied, zwischen ihnen. Im zweiten Fall wäre das genuin Menschliche gewissermaßen ‚oberhalb‘ der Intelligenz zu verorten; und genau für diese Alternative tritt Scheler ein. Seines Erachtens ist die menschliche Lebensform und nur sie mit dem, was er „Geist“ nennt, durch eine Kategorie geprägt, die über die Kategorie der Intelligenz hinausgeht. Allerdings hat Scheler die Überzeugungskraft seiner Position dadurch geschwächt, dass er eine strikte Gegenüberstellung von „Geist“ und „Leben“ vornahm und den Geist wörtlich als „ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip“ bezeichnete.111 Denn nun konnte der Eindruck entstehen, dass er mit dieser Entgegensetzung in einen cartesianischen Dualismus zurückfalle.112 109 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: M. Scheler, Späte Schriften (= Gesammelte Werke, hrsg. von M. Scheler und später von M. Frings, Bd. 9), 2. Aufl., Bonn 1995, S. 7-71, hier S. 27. 110 Ebd., S. 29. 111 Ebd., S. 31. 112 In dieser Richtung ist Scheler dann auch tatsächlich von Ernst Cassirer kriti siert worden. E. Cassirer, „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegen wart“ (1930), in: ders., Aufsätze und kleine Schriften. 1927–1931 (= Gesam melte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von B. Recki, Bd. 17), Text u. Anm. bearb. v. T. Berben, Hamburg 2004, S. 185-205. Dass und wie dieser Kritik von Scheler her begegnet werden kann, zeigt M. Wunsch, „Zur Standardkritik an Max Schelers Anthropologie und ihren Grenzen. Ein Plädoyer für Nico
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Auch Plessner votiert für das Bestehen eines robusten Unterschieds zwischen Schimpansen und Menschen. Der Argumentationsweg, den er in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch einschlägt,113 unterscheidet sich allerdings von dem Schelers. Das wird insbesondere in seiner Aufnahme der Versuche Köhlers deutlich. Während Scheler nach einem Tier-Mensch-Unterschied ‚oberhalb‘ des von Köhler Untersuchten fahndet, konzentriert sich Plessner darauf, in dem von Köhler Untersuchten selbst nach Punkten zu suchen, an denen die Schimpansen Schwierigkeiten haben oder völlig scheitern. Er meint auf diesem Wege zeigen zu können, dass die Intelligenz der Schimpansen nicht von außen, also durch eine neue Kategorie (den Geist) begrenzt ist, sondern von innen her, aufgrund eines strukturellen Mangels. Plessner betont, „daß die Tiere ein Wegräumen von Hindernissen offenbar nicht kennen und vor Aufgaben, die nur durch Beseitigung eines Hindernisses, und sei es des einfachsten, selbst auf die einfachste Art lösbar sind, völlig ratlos bleiben.“114 Während sie gut klar kämen, wenn es nur gilt, ein vorhandenes Ding in eine bestimmte Situation einzufügen, so Plessners Zusammenfassung von Köhlers Versuchen, „versagen [sie] bestimmt, wenn das Ziel nur auf negativem Weg durch Beseitigung von irgend etwas Gegebenem erreichbar ist.“ Direkt anschließend formuliert er dann seine Deutung der Versuche: „Dem intelligentesten Lebewesen in der Tierreihe, dem menschenähnlichsten, fehlt der Sinn für’s Negative. Dies ist das sichere Ergebnis der Untersuchungen Köhlers […]“.115 Unter dem „Sinn für’s Negative“ wird dabei die für jedes Bewusstsein von etwas als Gegenstand benötigte Fähigkeit verstanden, in die momentane Wahrnehmung auf geregelte Weise gegenwärtig nicht-aktuale Komponenten einzubringen. – Auch Plessners Rückgriff auf Köhlers Untersuchungen kann nicht als unproblematisch gelten. Denn unseres Erachtens lässt sich dem Text Köhlers zum einen nicht entnehmen, dass das Wegräumen von Hindernissen eine prinzipielle Schwierigkeit für Schimpansen darstellt, und zum anderen bleibt unklar, wo genau Plessner bei Köhler belegt sieht, dass Schimpansen der „Sinn für’s Negative“ fehlt. lai Hartmanns Kategorienlehre“. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11.–15.09.2011, München 2011, (http://epub.ub.uni-muenchen.de/12502/), zuletzt abgerufen am 24.08.2015. 113 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin, New York 1975. 114 Ebd., S. 269. 115 Ebd., S. 270.
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Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie
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Eine dritte Weise, Köhlers Verhaltensversuche mit Schimpansen für die eigene philosophische Konzeption fruchtbar zu machen, findet sich in der anthropologischen Kultur- und Symbolphilosophie Ernst Cassirers. Köhlers Untersuchungen sind ein wichtiger Bezugspunkt für Cassirers Überlegungen zum Symbolkonzept vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von tierlichem und menschlichem Verhalten. Die „Gestaltschwäche“ der Anthropoiden bietet eine Kontrastfolie für die spezifische menschliche Fähigkeit zur Wahrnehmung und Gestaltung von Formen. In diesem Sinne hat Cassirer die Untersuchungen Köhlers gelesen und in seine Theorie vom Menschen als „animal symbolicum“, einem zur Formwahrnehmung und -gebung befähigtem Lebewesen eingebaut.116 Jenseits der Philosophie, in der psychologischen und biologischen Erforschung des Tierverhaltens war Köhlers Forschungsprogramm trotz seiner innovativen Kraft zunächst kein großer Erfolg beschieden. Die von ihm gezogene Forschungslinie konnte schon institutionell keine Fortsetzung finden, da die Anthropoidenstation auf Teneriffa bald nach dem Ersten Weltkrieg wegen Geldmangels geschlossen wurde. Die Umstände für die Fortführung des Köhler’schen Programms waren auch insofern ungünstig, als sich der Behaviorismus und die Ethologie ab den 1930er Jahren zu den führenden Paradigmen der Tierforschung entwickelten. Der Behaviorismus lehnte qualitative Experimente ab, hielt die Verwendung von kognitivem Vokabular für unwissenschaftlich und konzentrierte sich auf Verhalten, sofern es im physikalischen Sinn beobachtbar ist, sowie auf die diesem Verhalten zugrunde liegenden Lernprozesse.117 Die Ethologie dagegen betonte die biologische Dimension des Verhaltens, seine Phylogenese und Angepasstheit. Im Mittelpunkt der ethologischen Diskussion stand daher das instinktive bzw. „angeborene“ Verhalten.118 Im Verhältnis zu den um die Jahrhundertmitte vorherrschenden Programmen der Verhaltensforschung war Köhlers gestalttheoretischer Ansatz der Intelligenzforschung ein Fremdkörper geworden.
116 Vgl. E. Cassirer, An Essay on Man – An introduction to a philosophy of human culture, New Haven 1972, chapter 3: From animal reactions to human responses, S. 27-41. Vgl. G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003, S. 328-343. 117 Vgl. dazu den Beitrag von Fangerau im vorliegenden Band. 118 Vgl. dazu den Beitrag von Wunsch im vorliegenden Band.
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Nach dem cognitive turn, also der kognitiven Wende der Psy chologie,119 und insbesondere nach dem Aufkommen der kognitiven Ethologie,120 hingegen hat Köhlers Forschungsprogramm wieder an Aktualität gewonnen. Am ehesten wird sein Erbe heute von derjenigen, Menschenaffen und menschliche Kinder einbeziehenden und vergleichenden, Kognitions- und Verhaltensforschung angetreten, die in der von Michael Tomasello geleiteten Abteilung am MaxPlanck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig betrieben wird. Zu dieser Abteilung gehört auch das treffend benannte „Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum“.121 Die Gestalttheorie ist jedoch in den aktuellen Debatten zu Grundfragen der Wahrnehmung und Kognition nicht präsent. Entsprechend ist dort auch der von uns herausgestellte Bezug zur Verhaltensforschung im Werk Köhlers nicht mehr bekannt. So einflussreich Köhlers Arbeiten in den 1920er Jahren in Deutschland und nach seiner Emigration, 1935, für Jahrzehnte in den USA auch waren, ist eine intensive Auseinandersetzung, abgesehen von wissenschafts- und institutionengeschichtlichen Rückblicken, bisher ausgeblieben. Gleichwohl sind die Probleme nicht erledigt und die Fragen, die Köhler aufgeworfen hat, nicht beantwortet. Beispielsweise bleibt die Frage, ob seine Behauptung einer allgemeinen „Tendenz zum Zustandekommen einfacher Gestaltung“ oder „zur Prägnanz der Gestalt“ in der anorganischen und organischen Natur als Forschungshypothese noch Relevanz hat. Ebenso markieren die Untersuchungen zur Wahrnehmungsgestalt menschlichen Verhaltens eine offene Forschungsaufgabe. Ihre Bearbeitung könnte sich heute auf empirische Untersuchungen stützen, die Köhler noch nicht zur Verfügung standen, würde aber weiterhin wahrnehmungstheoretischer, phänomenologischer und hermeneutischer Reflexion bedürfen.
119 George A. Miller, einer der damaligen Protagonisten, datiert die kognitive Wende auf das Jahr 1956. Siehe G. A. Miller, „The Cognitive Revolution. A Historical Perspective“, in: Trends in Cognitive Science, 7(3)/2003, S. 141-144, hier S. 142. Häufig wird auch 1959 genannt, das Jahr, in dem Noam Choms kys Rezensionsaufsatz zu Burrhus Frederic Skinners Buch Verbal Behavior erschien (N. Chomsky, „Verbal Behavior by B. F. Skinner“, in: Language, 35(1)/1959, S. 26-58). 120 D. R. Griffin, The Question of Animal Awareness. Evolutionary Continuity of Mental Experience, New York 1976 und (revised and enlarged edition) 1981; D. R. Griffin, „Prospects for a Cognitive Ethology“, in: Behavioral and Brain Sciences, 1(4)/1978, S. 527-538. 121 Siehe dazu M. Wunsch, „Was macht menschliches Denken einzigartig?“
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Instinktverhalten bei Tieren Die Debatte zwischen Konrad Lorenz und Daniel Lehrman
Die Geschichte der Verhaltensforschung ist wesentlich eine „Geschichte von Kontroversen“ und muss aus dem „Widerstreit zwischen Begriffen, Theorien und Modellen“ rekonstruiert werden. Diese Überlegung, die in Franz Wuketits’ Buch Die Entdeckung des Verhaltens den methodischen Ausgangspunkt bildet,1 gilt in besonderem Maße für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ende 1953 erscheint Daniel Lehrmans „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“. Der Aufsatz markiert den Beginn einer intensiv geführten Debatte zwischen der „europäischen Ethologie“, deren wichtigster Vertreter Konrad Lorenz war, und einer bestimmten Spielart der „amerikanischen Psychologie“. Als Endpunkt (wenngleich nicht Beilegung) der Auseinandersetzung kann ein weiterer Text Lehrmans gelten, der 1970, zwei Jahre vor dessen Tod, publiziert wird. Die Debatte betrifft grundlegende Fragen der Verhaltensforschung. Ihr primärer Gegenstand ist das tierliche Verhalten, insbesondere von Vögeln, aber auch von Ratten, und in erster Linie das spezies-typische Verhalten. Lorenz spricht in diesem Zusammenhang von „Instinkthandlungen“ oder „Instinktbewegungen“, hat aber auch den Begriff „Erbkoordination“ verwendet, der den für seinen Ansatz zentralen Gedanken hervorhebt, dass das Verhalten oder die Verhaltenskomponente, die mit diesen Termini bezeichnet wird, angeboren ist. Es ist dieser Begriff des Angeborenen und die verhaltensbezogene Entgegensetzung von Angeborenem und Erworbenem, die für Lehrman den Stein des Anstoßes darstellt. Seine von diesem Punkt ausgehende Kritik richtet sich sukzessive gegen alle wesentlichen Theorieelemente von Lorenz’ Forschungsansatz. Die Wucht, die die Debatte entfaltete, hing mit einer ganzen Reihe von Faktoren zusammen. Die auch emotional starke Reakti1
F. Wuketits, Die Entdeckung des Verhaltens. Eine Geschichte der Verhaltensfor schung, Darmstadt 1995, S. 1, S. 6, S. 88.
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on, die Lehrmans erster Aufsatz auf Seiten der Ethologen auslöste,2 ist vor allem dem grundsätzlichen und kompromisslosen Charakter der Kritik geschuldet. Doch auch der Zeitpunkt der Publikation dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben. Die von Lorenz begründete Konzeption einer Vergleichenden Verhaltensforschung lag in ihren wesentlichen theoretischen Bestandteilen erst seit kurzem vollständig vor; zudem war der Forschungsansatz gerade dabei, sich trotz der Hypothek der Lorenz’schen NS-Verstrickung sowie schwieriger Nachkriegsbedingungen zu konsolidieren und eine viel versprechende internationale Wirkung zu entfalten. Lorenz, der das Projekt einer ethologischen Schulbildung vorantrieb, wusste, was durch die Kritik auf dem Spiel stand. Er nahm die Herausforderung an und verteidigte sein Forschungsprogramm mit vollem Engagement. Was dadurch in Gang kam, war nicht nur für die Entwicklung der Verhaltensforschung von großer Bedeutung, sondern kann auch als eine der interessantesten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts gelten. Im Folgenden werde ich weniger die biographische und historische als vielmehr die argumentative und systematische Dimension der Debatte in den Mittelpunkt stellen. Das schließt die Einbeziehung der jeweiligen Forschungsrahmen mit ein. Der Streit dreht sich nicht um Daten oder um verschiedene Interpretationen von Daten. Er lässt sich, anders als Lorenz zunächst glaubt, auch nicht durch den Hinweis auf Tatsachen aufklären, die der Gegenpartei unbekannt wären. Vielmehr handelt es sich um einen Streit, der seine spezifische Struktur und Dynamik erst vor dem Hintergrund der betreffenden Forschungsprogramme entfaltet. Zu berücksichtigen ist also der ganze systematische Kontext, der durch Fragen der Kategorienbildung, der Identifikation des Streitgegenstandes, der Methoden und Methodologien, der innerwissenschaftlichen Abgrenzung, der Forschungs- und Wissenschaftskonzepte sowie möglicher Vermittlungsperspektiven gebildet wird. In einem ersten Schritt erläutere ich die inhaltlichen und methodischen Grundlagen von Lorenz’ Forschungsansatz. Dabei orientie-
2
Siehe R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the Founding of Ethology, Chicago 2005, S. 388: „On the ethologist’s side, Lorenz was furious. Otto Koehler took the paper [i. e. Lehrman’s paper, M. W.] and threw it against the wall. Tinbergen proved much more receptive, though he admitted to Koehler that his own first reading of the paper had given him ‚an adrenalin attack‘.“
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re ich mich hauptsächlich an einem umfangreichen Nachlasstext, den Lorenz in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verfasste und der erst 1992 veröffentlicht wurde: dem sogenannten „Russischen Manuskript“. Der zweite Schritt stellt Lehrmans berühmte, 1953 publizierte Kritik an Lorenz’ Forschungsansatz dar, die sich am Leitfaden des Problems des Angeborenseins des Verhaltens orientiert. Er beginnt aber mit einer Reflexion des Standorts dieser Kritik innerhalb der nordamerikanischen Forschungslandschaft. Schon 1954 kommt es zu zwei Begegnungen zwischen Lorenz und Lehrman auf internationalen Konferenzen in Paris und Ithaca, New York. Im dritten Schritt erörtere ich Lorenz’ Verteidigung und Gegenangriff auf der Paris-Konferenz, gehe aber auch darauf ein, dass sich dort hinsichtlich der Ontogenese des Verhaltens eine mögliche Einigung der Streitparteien abzeichnet. Der vierte Schritt knüpft daran an, indem er Tinbergens Vortrag auf der Konferenz in Ithaca als den Versuch eines Brückenschlags von der „europäischen Ethologie“ zur „amerikanischen Psychologie“ liest. Lorenz allerdings unterstützte den Vermittlungsvorschlag nicht – zumal Tinbergen mit einer kritischen Haltung zum Begriff des Angeborenen seines Erachtens den ethologischen Kernbereich zur Disposition gestellt hatte. Lorenz selbst hat die Debatte in den 1960er Jahren noch einmal neu aufgerollt und dabei nicht nur die von ihm sogenannten „behavioristischen Argumente“ gegen den Begriff des Angeborenen kritisiert, sondern auch die „Einstellung [allzu] moderner Ethologen“. Im fünften Schritt wende ich mich Lehrmans letztem Debattenbeitrag zu, der die Auseinandersetzung auf eine Metaebene hebt und darauf reflektiert, was ihrer Lösung oder zumindest Beruhigung im Wege steht. Dass es zwischen Lorenz und Lehrman selbst offenbar zu keiner Einigung kommen konnte, hat Tinbergen nicht von seinem Vermittlungsbemühen abgebracht. Der sechste und letzte Schritt wird den integrativen Forschungsrahmen vorstellen, den Tinbergen in seinem bekanntesten Aufsatz „On Aims and Methods of Ethology“ entwickelt und der es erlauben soll, die von den verschiedenen Streitparteien verfolgten Forschungsinteressen bezüglich des Verhaltens in einer kohärenten „Biology of behavior“ zu bündeln. Außerdem wird er auf die Frage gegenwärtiger Anknüpfungen an die Positionen von Lorenz und Lehrman eingehen und die Perspektive einer vergleichenden Philosophie der Tierforschung skizzieren.
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1. Zur methodologischen Signatur von Lorenz’ Forschungsansatz Ich orientiere mich im Folgenden an Lorenz’ „Russischem Ma nuskript“,3 nicht nur, weil es als Nachlasstext weniger bekannt ist als die zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten, sondern auch, weil es die ausführlichste Darstellung seiner Position relativ kurz vor dem Auftreten der Kritik ist, die an seinem Forschungsansatz seit den 1950er in Großbritannien und den USA formuliert wurde.4 Lorenz hatte das im Druck über 400 Seiten starke Manuskript in sowjetischer Kriegsgefangenschaft schreiben können, aus der er 1948 zurückkehrte.5 Es bietet eine gute Ausgangsbasis für die Rekonstruktion dessen, was ich die ‚methodologische Signatur‘ des Lorenz’schen Programms nennen möchte. Die methodologische Signatur eines Tierforschungsansatzes umfasst eine Reihe von Kenngrößen, die ihn identifizieren und mit anderen Ansätzen vergleichbar machen. In diese Reihe gehören die bevorzugten Referenztiere, deren primär untersuchte Leistungen, kategoriale Vorentscheidungen (etwa bezüglich der Konzeption des Tierlichen oder der Mensch-Tier-Beziehung), die verwendeten Forschungsmethoden und -praktiken, die gewählten Forschungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen und die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen. Lorenz stellt den seltenen Fall eines Tierforschers dar, der einen eigenen Forschungsansatz begründet und sich darüber hinaus zugleich als Wissenschaftsphilosoph und -historiker dieses Ansatzes begreift.6 Sein „Russisches Manuskript“ ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil es einige (wissenschafts-)philosophische Hintergründe der Ethologie beleuchtet, Reflexionen zu ethologischen Methodenfragen enthält und eine 3 4 5 6
K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen. Eine Einführung in die ver gleichende Verhaltensforschung; das „Russische Manuskript“ (1944–1948), hrsg. von Agnes von Cranach, München 1992. Zur Entwicklung von Lorenz’ Position in diesem Zeitraum siehe auch I. Brigandt, „The Instinct Concept of the Early Konrad Lorenz“, in: Journal of the History of Biology, 38/2005, S. 571-608. Zu den Umständen siehe das „Vorwort der Herausgeberin“, Lorenz’ Tochter Agnes v. Cranach, in: K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 7-14. Die philosophischen Interessen von Lorenz haben sich auch jenseits der Tier forschung niedergeschlagen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist sein Buch Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973, das als ein Meilenstein in der Entwicklung der Evo lutionären Erkenntnistheorie gelten muss.
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klare Beschreibung der Genese des ethologischen Forschungsansatzes gibt. Für den von Lorenz entwickelten Ansatz der Tierforschung grundlegend ist ein bestimmtes Verständnis von Lebewesen. Diese unterscheiden sich Lorenz zufolge von vielen anderen Naturdingen dadurch, dass sie Ganzheiten sind. Eine Ganzheit ist dabei „ein in sich geschlossenes System von Strukturen und Funktionen […], von denen jede mit jeder in ursächlicher Wechselwirkung steht und deren Wechselwirkung auf die Erhaltung ihrer wechselseitigen Beziehungen und damit auf die Erhaltung des Systems als gestalteter Ganzheit hinausläuft“.7 Dass Lebewesen in diesem Sinne „regulative[] Systeme universeller ambozeptorischer Kausalverbindung“ sind,8 ist ein konstitutives Merkmal von ihnen, aber kein Alleinstellungsmerkmal. Denn es gibt, worauf Lorenz mit Bezug auf Wolfgang Köhler hinweist, auch anorganische Ganzheiten, wie Maschinen oder Sonnensysteme.9 Zwischen organischen und anorganischen Ganzheiten bestehen jedoch sowohl quantitative Unterschiede, etwa bezüglich der Zahl der Teile, ihrer Wechselwirkungen und der Zahl der Teilarten, als auch qualitative Unterschiede, die sich aus der inneren Schachtelung des Organischen und dessen art erhaltender Zweckmäßigkeit ergeben.10 Anders als „Gestalt“ ist „Ganzheit“ für Lorenz weder im anorganischen noch im organischen Fall ein subjektives Phänomen, sondern ein subjektunabhängiges Merkmal. Aus diesem Grund ist die Methode der Erforschung ganzheitlicher Dinge nicht beliebig. Vielmehr zwingt das „objektive Wesen der Ganzheit“ der Forschung eine besondere „Methode des analytischen Vorgehens“ auf, und zwar eine ganzheitsgerechte Methode, die Lorenz „Analyse auf breiter Front“ nennt.11 Wie funktioniert die Analyse auf breiter Front? Ihr Startpunkt ist die gleichzeitige Betrachtung aller Teile des betreffenden Ganzen.12 In Bezug auf Lebewesen bedeutet das, dass wir jeden Organismus „zunächst als Ganzes kennenlernen“ müssen. Die „Ganzheits-Schau“ betrifft aber nicht nur den Organismus selbst, sondern, wie Lorenz anknüpfend an Jakob von Uexküll erklärt, auch
7 8 9 10 11 12
K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 149. Ebd. Vgl. zu Köhler den Beitrag von Hartung/Wunsch im vorliegenden Band. K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 150, S. 215, S. 226. Ebd., S. 212 f., S. 214. Ebd., S. 217.
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die „übergeordnete[] Ganzheit von Organismus und Lebensraum, die eine sehr wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der Finalität aller seiner Organe und Organleistungen bildet“.13 Im Fall der Tierforschung erfordert die Analyse auf breiter Front zunächst eine umfangreiche Phase der Beobachtung der Tiere. Insbesondere ihr Verhalten muss dabei im Fokus stehen, weil es der wichtigste Indikator für die Ganzheit von Organismus und Lebenssphäre, oder wie Lorenz sagt, „das Lebendigste von allem Lebendigen“ ist.14 Diese Fragen werden auch in einem Kapitel über die „Induktionsbasis der vergleichenden Verhaltensforschung“ aufgegriffen. Der Anfang der Forschung, so Lorenz dort, müsse mit „der schlichten, voraussetzungslosen Beobachtung gesunder und normal lebender Tiere“ gemacht werden.15 Dabei gelte es, das Verhalten insgesamt zu berücksichtigen, das ein aus „verschiedenartigen Teilen aufgebautes organisches Systemganzes“ ist. Lorenz bezeichnet das ganzheitliche System aller Verhaltensweisen einer Tierart mit dem von Herbert Spencer Jennings geprägten „Begriff des Aktionssystems“ dieser Art.16 Das Projekt der gründlichen Beobachtung und Beschreibung solcher Aktionssysteme ist von Lorenz als eine „Morphologie des Verhaltens“ bezeichnet worden.17 Nachdem man den Organismus und das Organismus-Umgebungs-Verhältnis als Ganzes kennengelernt hat, besteht der nächste Schritt darin, dass man versucht, „relativ ganzheitsunabhängige Bestandteile“ zu identifizieren. Das sind Teile in einer organischen Ganzheit, die deren Form und Funktion kausal bestimmen, selbst aber von diesem Ganzen in Form und Funktion kausal unabhängig sind.18 Solche Bestandteile rechtfertigen daher einen lokalen Atomismus, der eine „Einbruchspforte für die Analyse“ öffnet und es ermöglicht, „einen Stollen in den Block der Ganzheit vorzutreiben“.19 Die klassischen Beispiele relativ ganzheitsunabhängiger Bausteine sind „der Reflex und der bedingte Reflex“. Mit ihnen arbeiten die beiden zu Lorenz’ Zeit einflussreichsten mechanistischen Strömun13 14 15 16 17
Ebd., S. 219. – Zu Uexküll vgl. den Beitrag von Brentari im vorliegenden Band. K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 15. Ebd., S. 298. Ebd., S. 299. K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, in: Symposia of the Society for Experimental Biology, 4/1950, S. 221-268, hier S. 234. 18 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 221. 19 Ebd., S. 260.
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gen der Verhaltensforschung, und zwar der Behaviorismus und die Reflexologenschule Pawlows.20 Lorenz selbst nimmt für sich in Anspruch, einen neuen relativ ganzheitsunabhängigen Baustein identifiziert zu haben: die „automatisch-rhythmische und zentral koordinierte Reizerzeugung“, einfacher gesagt: die Instinktbewegung.21 Damit wird ein Neuanfang der Verhaltensforschung möglich, indem das alte Paradigma der Passivität tierlichen Verhaltens durch ein Aktivitäts-Paradigma ersetzt wird. Lorenz beabsichtigt, im „Russischen Manuskript“ die „Entstehungsgeschichte der vergleichenden Verhaltensforschung“ zu erzählen, und zwar als „Entdeckungsgeschichte der Instinktbewegung und ihrer physiologischen Eigenart“.22 Er rahmt diese Erzählung in eine Auseinandersetzung mit dem Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus ein. Dabei verortet er seine eigene Position einerseits durch eine grundsätzliche Ablehnung des Vitalismus und andererseits durch eine fallbezogene Kritik des Mechanismus, die sich vor allem auf den Behaviorismus und Pawlows Reflexologenschule bezieht. Das erlaubt es ihm, den von ihm selbst entwickelten Ansatz als eine mechanistische Alternativposition aufzubauen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass der Mechanismus mit seiner Hauptthese der „Erklärbarkeit aller Lebensvorgänge“, sofern er „als Arbeitshypothese betrachtet“ wird, „die einzig legitime Einstellung“ ist.23 Zunächst stellt sich damit die Frage, was Lorenz bei seinen mechanistischen Mitstreitern nicht überzeugt.24 Seine Kritik ist in erster Linie methodologischer Art: Der Behaviorismus und die Reflexologenschule Pawlows werden weder den Anforderungen gerecht, die an eine induktive Wissenschaft zu stellen sind, noch den Anforderungen, die sich aus dem Forschungsgegenstand ergeben, also daraus, dass es um Lebewesen und näherhin Tiere geht. Die zentrale Denk- und Arbeitsmethode der wissenschaftlichen Naturforschung ist Lorenz zufolge die Induktion.25 Im Rückgriff auf
20 Ebd., S. 222 f. Neben dem Behaviorismus und der Pawlowschen Reflexologen schule nennt Lorenz die Wundtsche Assoziationspsychologie, der er aber eine eher untergeordnete Rolle zumisst (ebd., S. 279-282). 21 Ebd., S. 224 f., vgl. S. 261 f., S. 328 f. 22 Ebd., S. 261. 23 Ebd., S. 277. 24 Zu Lorenz’ Kritik am Vitalismus, die ich hier überspringe, siehe ebd., S. 265-276. 25 Ebd., S. 79.
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Wilhelm Windelband unterscheidet Lorenz drei Entwicklungsstadien induktiver Wissenschaften:26 1. das ideographische Stadium: die Sammlung und Beschreibung dessen, was es alles gibt 2. das systematische Stadium: das übersichtliche Ordnen nach Gesichtspunkten der Ähnlichkeit 3. das nomothetische Stadium: die Aufstellung von Gesetzen. Die drei Stadien lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Doch auch wenn sie ineinander übergehen, könne keines übersprungen werden. Daraus ergibt sich für Lorenz ein erster Kritikpunkt an den beiden gängigen mechanistischen Ansätzen der Verhaltensforschung. Sowohl die Behavioristen als auch die Reflexologen sind „ohne Vorangehen eines hypothesenfreien, ideographisch-systematischen Studiums tierischen Verhaltens sofort zur Nomothetik übergegangen“.27 Das führte zu einer Überschätzung oder gar Verabsolutierung, der von ihnen gefundenen und in bestimmten Grenzen vollauf berechtigten Erklärungsprinzipien. Der Behaviorismus erhebt das Lernen durch Versuch und Irrtum und die Schule Pawlows den Reflex und den bedingten Reflex „zum alleinigen Erklärungsprinzip“ für alles Verhalten.28 Die mangelnde ideographisch-systematische Selbstversicherung über den gesamten zu erklärenden Phänomenbereich verschließt ihnen den Blick für Aspekte des Verhaltens, die sich auf diese Weise nicht erklären lassen. Die mit dem Sprung in die Nomothetik einhergehende zu frühe Festlegung auf eine einzige Erklärungshypothese führt, wie Lorenz beispielhaft mit Blick auf den Behaviorismus festhält, dazu, dass nur noch die von dieser Hypothese diktierten Experimente ausgeführt werden, „hypothesefreie Allgemeinbeobachtungen tierischen Verhaltens in natürlicher Umgebung“ jedoch unterbleiben. Umgekehrt aber hat die zu schmale Induktionsbasis den Effekt, dass die Unzulänglichkeit der eigenen Arbeitshypothese nicht mehr bemerkt werden kann.29 Das befördert eine Tendenz zum Dogmatismus. Dem Begründer des Behaviorismus, John B. Watson, attestiert Lorenz eine „dogmatische Hartnäckigkeit, mit der den Tatsachen 26 Ebd., S. 72-76. Vgl. auch K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 234. 27 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 263, S. 279. 28 Ebd., S. 263. 29 Ebd., S. 283 f.
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Gewalt angetan“ wird, etwa wenn die Existenz aller „angeborenermaßen zweckmäßigen, arteigenen Bewegungsweisen […] einfach geleugnet wird“.30 Watson, so Lorenz, vertrete die Auffassung, dass ein junger Vogel „mit seinen Flügeln, Beinen usw. alle möglichen Bewegungsweisen durch[probiere]“ und „so allmählich durch Selbstdressur dahinter[komme], dass die Flügel zum Fliegen und die Beine zum Laufen gut seien. Eine nur wenige Minuten dauernde Beobachtung eines frisch dem Brutapparat entnommenen Enten- oder Hühnerkükens genügt, um die völlige Unhaltbarkeit dieser Hypothese endgültig zu erweisen; dennoch hält die Schule als solche unwandelbar an ihr fest“.31 Den besten Schutz vor Dogmatismus gewinnt der Mechanismus Lorenz zufolge im Bemühen um eine möglichst breite Induktionsbasis. Der Behaviorismus und die Schule Pawlows werden Lorenz zufolge auch ihrem Forschungsgegenstand nicht gerecht. Die Untersuchung von Lebewesen erfordert, wie gesehen, eine ganzheitsgerechte Analyse. Dafür bedarf es aber einer extensiven und intensiven Beobachtung der Tiere und ihres Verhaltens. Das Erfordernis eines ideographisch-systematischen Stadiums der Verhaltensforschung ist also nicht nur von deren Status als induktive Wissenschaft, sondern auch von ihrem Gegenstand her begründet. Es ist letztlich das Strukturmerkmal von Lebewesen, ein regulatives System wechselseitiger Kausalverbindung zu sein, aufgrund dessen der „Erklärungsmonismus“ der bisherigen mechanistischen Programme zum Scheitern verurteilt ist und durch eine „Analyse auf breiter Front“ zu ersetzen ist. Auch Pawlow, so Lorenz, „hat unzweifelhaft den Erklärungswert des von ihm entdeckten Prinzips erheblich überschätzt, indem er den Versuch machte, aus Reflexen die Ganzheit tierischen und menschlichen Verhaltens zu erklären“.32 Dieses Verfahren blieb aber blind für alle Phänomene genuiner Aktivität von Lebewesen und kam bei der Erklärung der „Spontaneität alles ‚triebhaften‘ oder ‚instinktiven‘ Verhaltens“ an eine prinzipielle Grenze. Die im Mittelpunkt von Lorenz’ Konzeption stehenden Instinktbewegungen bauen sich pace Pawlow „gerade nicht aus 30 Ebd., S. 284. 31 Ebd., S. 284. Lorenz sieht offenbar eine wichtige Quelle von Watsons „Dogmatis mus“ in der mangelnden Tierkennerschaft. Vgl. dazu auch seine Bemerkung: „If J. B. Watson had only once reared a young bird in isolation, he would never have asserted that all behavior patterns were conditioned“ (K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 233). 32 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 289.
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reflektorischen Vorgängen auf, sondern aus einer völlig andersartigen Elementarleistung des Zentralnervensystems, aus Vorgängen automatisch-rhythmischer Reizerzeugung, die den Leistungen der Reizerzeugung des Herzens prinzipiell gleich sind“.33 Im Gegenzug zum Behaviorismus und der Schule Pawlows besteht der für Lorenz’ Konzept der Verhaltensforschung primäre Punkt darin, durch ganzheitsbezogene Beobachtung eine breite Induktionsbasis aufzubauen. Es ist aufschlussreich, dass Lorenz sein Forschungsprogramm ausdrücklich mit einer affektiven Di mension versieht: Der Reichtum an beobachtungsbasiertem Wissen über die Tiere, der für die Erforschung tierlichen Verhaltens unverzichtbar ist, lässt sich nur auf der Basis der Liebhaberei für sein Forschungsobjekt gewinnen. Der schiere Zeitaufwand der Beobachtung ist sonst schlicht nicht zu bewältigen. Lorenz meint an diesem Punkt einen weiteren Kontrast zu den mechanistischen Standardpositionen auszumachen: „Es ist außerordentlich lehrreich, in den Schriften von Verhaltensforschern verschiedener Richtungen nach der Freude am Objekt zu forschen. Bei den typischen Mechanisten fehlt sie stets so gut wie vollkommen […]“.34 Lorenz präsentiert seine eigene Richtung der Verhaltensforschung damit nicht nur als eine Schule der Tierkenner, sondern auch der Tierliebhaber. Um Tiere kennenzulernen, braucht man den richtigen Abstand zu ihnen. Aus der Sicht von Lorenz hat man im Labor zu wenig und im Freiland zu viel räumliche und epistemische Distanz zu den Tieren. Die Konsequenz, die er daraus für sein Programm der Verhaltensforschung zieht, besteht darin, Tierhaltung als Forschungs methode zu etablieren.35 Diese Methode definiert sich durch das Bestreben, „möglichst das gesamte Aktionssystem einer Tierart unter bekannten, kontrollierbaren Bedingungen vor unseren Augen sich abspielen zu lassen“.36 Lorenz sieht ihre wesentliche Stärke darin, dass sie die Konstanz kontrollierbarer Umweltbedingungen mit der Möglichkeit kombiniert, „Organismus und Umwelt gleichzeitig und in ihren Wechselbeziehungen zueinander“ zu erfassen. In der Tierhaltung als Forschungsmethode ist der Wissenschaftler daran interessiert, dass das Tier das komplette System seiner Verhaltensweisen vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion aller für 33 34 35 36
Ebd., S. 290. Ebd., S. 304. Ebd., S. 306. Ebd., S. 308 f.
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seine Erhaltung und seinen Fortbestand mindestens erforderlichen Bedingungen vollführt.37 Richard Burkhardt hat dieses Forschungskonzept von Lorenz folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „If one asks where Lorenz was most ‚at home‘ as a researcher, the answer, literally, was at his own home, that is, at the research station he built at his father’s home in Altenberg, Austria“.38 Vor dem Hintergrund der genannten Grundzüge seines Ansatzes beschreibt Lorenz die Genese der Vergleichenden Verhaltensforschung und näherhin der „Erkenntnis der physiologischen Eigenart der Instinktbewegung“39 in vier aufeinander folgenden Schritten, die er jeweils an bestimmte Namen koppelt. (1) Charles Otis Whitman und Oskar Heinroth haben zwei zentrale Verdienste für die Entstehung der Vergleichenden Verhaltensforschung: zum einen „die systematisch beschreibende Herausgliederung der Instinktbewegungen“ und zum anderen die „Entdeckung der stammesgeschichtlichen Homologisierbarkeit von Verhaltensweisen“.40 Whitman und Heinroth haben nicht nur eine große Zahl von Beobachtungen zusammengetragen, sondern durch ihre systematische Beschreibung und Ordnung von ‚Instinkten‘ bzw. ‚arteigenen Triebhandlungen‘ einen bestimmten Typ angeborener Verhaltensweisen identifiziert.41 Dieser Verhaltenstyp eröffnete einen Zugang zum phylogenetisch Vergleichbaren im Verhalten, der den oben diskutierten mechanistischen Standardpositionen fremd blieb.42 Aus Lorenz’ Sicht war es „the discovery of phyletic homology of behavior“, durch die die Verhaltensforschung von ihrer ideographischen in ihre systematische Phase eingetreten ist.43 Wer wie Whitman für Tauben und Heinroth für Entenvögel (Anatiden) die einzelnen Aktionssysteme jeder Art kennt, „could not fail to notice that certain innate behaviour patterns were just as characteristic of 37 38 39 40
Ebd., S. 309. R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 11. K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 330. Ebd., S. 331. Zu Whitman und Heinroth im Horizont der Frage nach den Ur sprüngen der Vergleichenden Verhaltensforschung siehe auch J. R. Durant, „In nate Character in Animals and Man. A Perspective on the Origins of Ethology“, in: C. Webster (Hrsg.), Biology, Medicine and Society 1840–1940, Cambridge 1981, S. 157-192, hier S. 167-177. 41 K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 246. 42 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 263. 43 K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 238.
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a species, a genus or a family, as any morphological character“. Vor diesem Hintergrund hat Lorenz Whitman den Satz zugeschrieben, der die Geburt der Vergleichenden Verhaltensforschung markiere: „Instincts and organs are to be studied from the common viewpoint of phyletic descent“.44 (2) Wallace Craig hat sich gegen die von der vitalistischen Instinkttheorie (William McDougall) vertretene These gewendet, dass der vom Organismus als Verhaltenssubjekt angestrebte Zweck zugleich der biologische – oder wie Lorenz auch sagt: arterhaltende – Sinn des Verhaltens ist. Auf diese Weise wird bestritten, dass etwa ein Rabe durch eine Folge verschiedener Verhaltensweisen (Verjagen von Konkurrenten, Picken mit dem Schnabel sowie Fressen, Mitnehmen und Verstecken von Beute) einen gleichbleibenden Zweck, die Befriedigung seines „Nahrungs-Instinktes“ anstrebt. Welches ist aber dann der vom Verhaltenssubjekt angestrebte Zweck? Craig gibt darauf eine neue Antwort: Das subjektive Ziel des Verhaltens besteht jeweils darin, eine Instinktbewegung, die eine gewisse Zeit nicht ablaufen konnte, abzureagieren. Das Modell ist dynamisch zu konzipieren: Organismen, deren arteigene Bewegungsweisen längere Zeit nicht ablaufen konnten, beginnen eine motorische Unruhe zu zeigen, die anhält und sich steigert, bis Reize angetroffen werden, die die betreffende Bewegungsweise auslösen und bis zum Aufhören der Reaktionsbereitschaft ablaufen lassen. Diese motorische Unruhe, die zunächst ungerichtet ist, wird „nach Ausbildung mitwirkender bedingter Reflexe“ zu einem zweckgerichteten Streben, die betreffende Reizsituation zu erreichen.45 Der vom Verhaltenssubjekt angestrebte Zweck ist demnach der Ablauf von Instinktbewegungen. Das darauf gerichtete Verhalten wird von Craig als „Appetenzverhalten“ bezeichnet.46 (3) Konrad Lorenz selbst sieht seinen wichtigsten Beitrag in der Erforschung der unbedingt-reflektorischen Vorgänge, die die In44 Ebd., S. 238. Vgl. im „Russischen Manuskript“, K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 311, S. 319 f. 45 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 357. 46 Lorenz hat in „Über die Bildung des Instinktbegriffs“, einem seiner berühmtes ten Aufsätze, angemerkt, dass der „größte Teil vorliegender Arbeit […] seine Entstehung ausschließlich einem brieflichen Meinungsaustausch“ mit Craig verdankt (K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffs“, in: Die Natur wissenschaften, 19/1937, S. 289-300, S. 307-318, S. 324-331, hier S. 289 Anm.). Das hat ihn nicht davon abgehalten, Craigs Auffassung zu kritisieren, dass das Appetenzverhalten ein Teil der Instinkthandlung ist (ebd., S. 295).
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stinktbewegungen auslösen. Er nennt diese Auslösungsmechanismen „angeborene auslösende Schemata“.47 Bei einem solchen Schema handelt es sich um das rezeptorische Korrelat zu bestimmten Schlüsselreizen, „das etwa nach Art eines Kombinationsschlosses nur auf ganz bestimmte Zusammenstellungen von Reizeinwirkungen anspricht und damit die Instinkthandlung in Gang bringt“.48 Ob die Instinktbewegung ausgelöst wird und gegebenenfalls mit welcher Intensität, hängt Lorenz zufolge von zwei verschiedenen Größen ab: dem Ausmaß der inneren Reaktionsbereitschaft des Organismus und der Stärke des äußeren Reizes.49 Beide sind unabhängig voneinander variabel und quantitativ erfassbar. Lorenz spricht daher von der „doppelte[n] Quantifizierung von Reizstärke und Reaktionsbereitschaft“.50 Die Intensität einer ausgelösten Instinktbewegung kann bei einem schwachen äußeren Reiz und großer innerer Reaktionsbereitschaft des Organismus genauso groß sein wie bei einem starken Reiz und geringer Reaktionsbereitschaft. Lorenz meint, dass die Reaktionsbereitschaft steigt bzw. der Schwellenwert auslösender Reize sinkt, je länger die Instinktbewegung nicht ausgeführt wurde. Der Grenzfall ist erreicht, wenn die Bereitschaft so groß ist, dass gar kein äußerer Reiz mehr erforderlich ist, um die Instinktbewegung auszuführen. Lorenz spricht in diesem Fall von einer „Leerlaufreaktion“. Zur Exemplifikation dient ihm ein Star (Sturnus vulgaris), den er besaß: Dieser flog in einem Innenraum zur Zimmerdecke auf, schnappte nach etwas, kehrte auf seinen Platz zurück, schlug seinen Schnabel in der Weise gegen eine Unterlage, wie es viele Vögel mit gefangenen Insekten machen, vollführte dann Schluckbewegungen und machte schließlich einen „befriedigten“ Eindruck – obwohl es an der Zimmerdecke nichts zu fangen gab.51 Vor diesem Hintergrund ist Lorenz’ Überlegung nun, dass die „Erscheinung einer mit der Dauer des Nicht-Abreagierens einer Be-
47 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 364. 48 K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffs“, S. 296; vgl. K. Lorenz, „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen. Jakob von Uexküll zum 70. Geburtstag gewidmet“, in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, München 1965, S. 115282, hier S. 117 (zuerst in: Journal für Ornithologie, 83/1935, S. 137-213, S. 289413). 49 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 376. 50 Ebd., S. 365. 51 Ebd., S. 378 f.
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wegungsweise proportional zunehmenden Schwellenerniedrigung der auslösenden Reize […] den Gedanken einer Kumulation irgendeiner Form reaktions-spezifischer Erregungsenergie nahe[legt], die, vom Organismus kontinuierlich produziert, durch den Ablauf der für die Reaktion spezifischen Bewegungsweisen aber verbraucht wird“.52 Lorenz illustriert seine Konzeption der Instinktbewegung mit Hilfe eines hydromechanischen Modells, in dem die genannte Erregungsenergie als Flüssigkeit dargestellt wird, die kontinuierlich aus einem Hahn in ein Gefäß läuft und sich dort staut. Das Gefäß hat einen Ablauf, vor dem sich ein Federventil befindet, das das angeborene auslösende Schema repräsentiert. Der Öffnungsgrad des Ventils hängt zum einen vom Wasserdruck im Gefäß ab, der für die innere Reaktionsbereitschaft steht, und zum anderen von einem die Feder stauchenden Gewicht, das die Stärke des äußeren Reizes darstellt. Die durch den Ablauf austretende Flüssigkeit repräsentiert die Instinktbewegung und die Stärke des Austritts ihre Intensität.53 Lorenz markiert die epistemische Funktion und Leistung seines Modells folgendermaßen: Es dient der ‚gleichnismäßigen Erfassung‘ des Gesamtvorgangs der Instinktbewegung54 und ist „in spite of its extreme crudeness and simplicity“ in der Lage, „to symbolize a surprising wealth of facts really encountered in the reactions of animals“.55 (4) Mit Erich von Holst erklärt Lorenz den für sein Modell zentralen Gedanken der Kumulation reaktions-spezifischer Erregungsenergie. Von Holst habe entdeckt, dass es im Zentralnervensystem (ZNS) eine automatisch-rhythmische Reizerzeugung gibt.56 Er iso lierte Teile des ZNS bestimmter Tiere, wie das Bauchmark des Regenwurms oder das Rückenmark verschiedener Fische, und beobachtete, dass diese „ohne jede Einwirkung äußerer Reize dauernd wohlkoordinierte Impulsfolgen“ zu bestimmten Bewegungsfolgen
52 Ebd., S. 380. 53 Vgl. ebd., S. 380-382. Die obige Beschreibung des Modells orientiert sich stärker an K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 255 f.; siehe auch die dortige graphische Abbildung des Modells. Lorenz hat übrigens schon früher ein entsprechendes „physikalisches Gleichnis“ mit einem Gasbehälter verwendet (K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffs“, S. 327). 54 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 380. 55 K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 255. Terminologischer Hinweis: In dem genannten Aufsatz verwendet Lorenz den Terminus „action-specific energy“ (ebd., S. 246, S. 248, S. 251 u. ö.). 56 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 383.
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aussenden, durch die sich die Kriechbewegung des Regenwurms oder die Schwimmbewegung der Fische erklären lässt.57 Bedeutsam ist, dass die Reizerzeugung kontinuierlich verläuft. „Der Einfluß, den die übergeordneten Instanzen des ZNS auf die Automatismen ausüben, beschränkt sich offensichtlich darauf, ihre Auswirkung auf die Muskulatur unter Hemmung zu halten und nur in den Fällen, in denen die betreffende Bewegungsweise biologisch sinnvoll ist, zu enthemmen, der motorischen Auswirkung der endogenen Rhythmen freie Bahn zu geben“.58 Lorenz weist auf die „ganz fundamentale Umwälzung aller Vorstellungen“ hin, die in der Physiologie und materialistischen Psychologie von den Leistungen des ZNS erforderlich ist, „wenn eine völlig neue, bisher unerkannte Elementarleistung des Nervensystems als durchaus gleichwertiges und gleichwichtiges Element an die Seite des Reflexvorganges tritt“.59 Ihm bietet diese Umwälzung die Chance, eine physiologisch fundierte, mechanistische Konzeption der Aktivität tierlichen Verhaltens zu entwickeln. Konkreter gesagt, wertet Lorenz die Untersuchungen von Holsts als Bestätigung seines hydromechanischen Modells und sieht in ihnen „physiologische Erklärungen“ für die verschiedenen Merkmale der Instinktbewegungen.60
2. Das New Yorker Department of Animal Behavior und Lehrmans „Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“ Um 1950 hatte Lorenz seineKonzeption des Instinktbegriffs vorläufig abgeschlossen und sein Wissenschaftskonzept einer Vergleichenden Verhaltensforschung ausgearbeitet. Eine seiner Hauptbestrebungen lag in dieser Zeit bereits in der Bildung einer ethologischen Denkschule. Anlässlich der Einladung zu einer Konferenz der Society for Experimental Biology über Tierverhalten in Cambridge, an der von nicht-britischer europäischer Seite auch Niko Tinbergen, Gerard Baerends, Otto Koehler und Erich von Holst teilnehmen sollten, schrieb er 1948 an William Thorpe: „Comparative Ethology, Vergleichende Verhaltensforschung, or however you chose to call it, 57 58 59 60
Ebd., S. 383-386. Ebd., S. 391 f. Ebd., S. 400. Ebd., S. 392-394.
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is quite doubtlessly developing into a school at least as original and important as Behaviorism and Pavlov’s Reflexology and quite certainly a much nearer approach to an exact natural science than both. It is certainly high time to come together and give it a name!“61 Auch in den USA gewinnt das Programm der Vergleichenden Verhaltensforschung um 1950 eine zunehmende Wirkung.62 Bereits in Cambridge waren die amerikanischen Forscher Paul Weiss und Karl Lashley anwesend. Sie zeigten sich sehr an der Ethologie interessiert und drängten Lorenz zu einer Vortragsreise in die USA.63 Der englische Tagungsband der Konferenz erschien 1950 und wurde selbstverständlich auch in den USA wahrgenommen.64 Doch vorher bereits ist die Ethologie dort stärker sichtbar geworden, vor allem durch die Aktivitäten Tinbergens. Dieser rief 1948 eine internationale Zeitschrift für die Erforschung tierlichen Verhaltens ins Leben – Behavior –, für die er unter anderem Frank Beach als amerikanischen Mitherausgeber gewinnen konnte. Bereits 1946/47 unternahm Tinbergen eine dreimonatige Forschungsreise in die USA.65 Die währenddessen gehaltenen Vorträge bildeten die Grundlage für das erste, 1951 erschienene Lehrbuch der Ethologie, The Study of Instinct.66 Zur Wirkung der Ethologie im anglophonen Sprachraum gehören nicht zuletzt die von ihr hervorgerufenen kritischen Auseinandersetzungen.67 Der einflussreichste Aufsatz in diesem Zusammen61 Brief von Lorenz an Thorpe, 10.07.1948; zitiert nach R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 301 f. 62 Vgl. dazu D. A. Dewsbury, „A Brief History of the Study of Animal Behavior in North America“, in: P. P. G. Bateson, P. H. Klopfer (Hrsg.), Perspectives in Ethology. Vol. 8: Whither Ethology?, London, New York 1989, S. 85-122, hier S. 111-116. 63 Siehe dazu R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 310, S. 321. Lorenz reiste dann 1954/55 in die USA; siehe dazu K. Taschwer, B. Föger, Konrad Lorenz. Bio graphie, München 2009, S. 183-186. 64 Auch Daniel Lehrman (D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, in: The Quarterly Review of Biology, 28(4)/1953, S. 337363, hier S. 337) erwähnt den Band in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Lorenz. 65 Näheres bei R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 284 f., S. 291 f. 66 N. Tinbergen, The Study of Instinct, Oxford 1951. Tinbergen selbst wechselte 1949 von seiner Stelle in Leiden auf eine Professur in Oxford. 67 Ein wichtiges Forum dieser Auseinandersetzung war das British Journal of Animal Behaviour, wo die frühen kritischen Aufsätze D. O. Hebb, „Heredity and Environment in Mammalian Behaviour“, in: British Journal of Animal Be haviour, 1/1953, S. 43-47; J. S. Kennedy, „Is Modern Ethology Objective“, in:
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hang ist Daniel Lehrmans „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“ (1953). An ihm lässt sich gut beobachten, dass „Konrad Lorenz, with his students and collaborators (notably N. Tinbergen)“, als Repräsentant einer Denkschule galt. In der Eingangspassage seines Aufsatzes stellt Lehrman zwei Paradigmen der Erforschung des tierlichen Verhaltens gegenüber, die er geographisch in Europa und den USA situiert. Der europäische Ansatz, für den Lorenz und Tinbergen stehen, untersuche Verhaltensmuster aus dem natürlichen Lebenszyklus von Tieren, während der nordamerikanische Ansatz, das Tierverhalten in Laborsituationen erforsche. Außerdem unterscheide sich der jeweilige Wissenschaftshintergrund. Die meisten europäischen Verhaltensforscher seien Zoologen, Physiologen (physiologists), Zoogärtner oder Naturforscher (naturalists), während es sich bei der Mehrzahl ihrer nordamerikanischen Kollegen um Psychologen handele.68 Diese Gegenüberstellung ist insofern aufschlussreich, als sie verdeutlicht, dass sich hier verschiedene Wissenschaftskonzepte gegenüberstehen. Um den Standort zu begreifen, von dem aus Lehrman seine „Critique“ formuliert, ist allerdings eine Binnendifferenzierung der nordamerikanischen Forschungslandschaft erforderlich. Lehrman, der aus New York stammt, hat am dortigen American Museum of Natural History bereits als College-Student ehrenamtlich gearbeitet, und zwar an dem von Gladwyn Kingsley Noble gegründeten Department of Experimental Biology.69 Er ist dem Museum treu geblieben; unter dem Autornamen seiner Auseinandersetzung mit Lorenz wird das naturhistorische Museum noch vor der Rutgers University als seine Heimatinstitution genannt. Nach Nobles Tod 1940 wurde dessen Department von Frank Beach übernommen und unter dem Namen Department of Animal Behavior reorganisiert. 1943 wurde Lehrmans späterer Doktorvater TheodoBritish Journal of Animal Behaviour, 2/1954, S. 12-19; und J. B. S. Haldane, „The Sources of Some Ethological Notions“, in: British Journal of Animal Behaviour, 4/1956, S. 162-164 erschienen. Zur britischen Rezeption und Kritik von Lorenz’ Konzeption, vor allem bei Haldane, siehe P. E. Griffiths, „Instinct in the ’50s. The British Reception of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, in: Biology and Philosophy, 19/2004, S. 609-631. 68 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 337. Zu Lehrmans Unterscheidung dieser beiden Forschungsansätze vgl. auch seine Rezension von W. H. Thorpe, Learning and Instinct in Animals, Cambridge (Mass.) 1956: D. S. Lehrman, „Nurture, Nature, and Ethology“, in: Contemporary Psychology, 2(4)/1957, S. 103-104, hier S. 103. 69 Siehe R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 366, S. 362.
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re C. Schneirla zum associate curator und 1947 nach Beachs Weggang zum full curator des neuen Departments. Beach und Schneirla waren eher untypische Vertreter der damaligen amerikanischen vergleichenden Psychologie. In der Zeit von Anfang 1938 bis Ende 1941, so berichtet Richard Burkhardt, „some two-thirds of the papers published in the Journal of Comparative Psychology and more than half the papers delivered at national meetings were based on laboratory studies of the white rat. […] Both Beach and Schneirla lamented how the discipline of comparative psychology had narrowed from an earlier, broader base to become little more than a science of ‚rat learning‘“.70 Es überrascht daher nicht, dass das Programm des von Beach und Schneirla geleiteten Department of Animal Behavior der europäischen Ethologie nicht ferner stand als der nordamerikanischen Standard-Psychologie. Einem Strategiepapier des Department zufolge wurden dort ein Hauptziel und drei Nebenziele verfolgt. Das Hauptziel bestand in der Erforschung der Beziehungen zwischen den grundlegenden wissenschaftlichen Theorien und Prinzipien, die das Verhalten tierlichen Lebens erklären. Die Nebenziele waren erstens, sich in der Forschung auf Verhaltensmuster mit fundamentaler biologischer Bedeutung zu konzentrieren und dabei den Organismus „as a living reaction whole“ zu berücksichtigen, zweitens, dieselben Typen des Verhaltens bei verschiedenen Tieren und auf verschiedenen Ebenen der Abstammungsfolge (phyletic series) zu erforschen, und drittens, alle verfügbaren Untersuchungstechniken und -ansätze zu nutzen, die zur Erreichung des Hauptziels erforderlich sind.71 Eine Beschränkung auf Laboruntersuchungen oder auf ein einziges Referenztier sind mit diesem Programm nicht kompatibel. Darüber hinaus musste das Auftreten eines neuen Players in der Verhaltensforschung, und als solche wurde die europäische Ethologie wahrgenommen, ein systematisches Interesse wecken. Schon von dem erklärten Hauptziel des Department of Animal Be
70 R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 362 f. Hier bestand offenbar eine Ge meinsamkeit mit Lorenz: „I must confess that I strongly resent it […], when an American journal masquerades under the title of ‘comparative’ psychology, although, to the best of my knowledge, no really comparative paper ever has been published in it“ (K. Lorenz, „The Comparative Method in Studying Innate Behavior Patterns“, S. 240). 71 Vgl. R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 363 f.; von dort stammt auch die oben zitierte Passage aus dem genannten Strategiepapier.
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havior her war eine Auseinandersetzung mit dem neuen grundlegenden verhaltenswissenschaftlichen Ansatz erforderlich. Schneirla konnte Daniel Lehrman dazu anregen, diese Auseinandersetzung zu führen. Dieser schien aus verschiedenen Gründen ein geeigneter Kandidat dafür zu sein. Ein wichtiger Teil seiner akademischen Sozialisation vollzog sich im American Museum of Natural History. Er hatte daher, was für Schneirla wichtig gewesen sein dürfte, den für das Department of Animal Behavior kennzeichnenden Denkstil angenommen.72 Das wirft übrigens ein interessantes Licht auf die bereits erwähnte Eingangspassage von Lehrmans Lorenz-Aufsatz. Die dortige Gegenüberstellung zweier Wissenschaftskonzepte – der europäischen Ethologie und der nordamerikanischen labororientierten Verhaltenspsychologie – erfolgte nicht im Dienste der zweiten, sondern im Horizont einer dritten Partei. Für die Auseinandersetzung mit Lorenz hatte Schneirla auch deshalb an Lehrman gedacht, weil dieser gut Deutsch konnte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Lehrman als Deutschübersetzer und in der Entschlüsselung gearbeitet.73 Wichtiger noch aber war, dass er über ein gutes Vorwissen in der Sache verfügte. Er hatte sich bereits vor seiner Militärzeit direkt mit der Arbeit von Lorenz beschäftigt. Das resultierte 1941 in der Publikation eines kurzen, weitgehend positiven Kommentars zu dessen Aufsatz „Vergleichende Verhaltensforschung“ (1939).74 Nach dem Krieg nahm Lehrman, wie Jay S. Rosenblatt berichtet, seine Beschäftigung mit Lorenz wieder auf: „When I (JSR) first met him in 1946, Lehrman was just beginning to translate Lorenz’s papers into English.“ Vermutlich gab es in den USA um 1950 kaum jemanden, der mit Lorenz’ Arbeit besser vertraut war als Lehrman. An dem Lorenz-Aufsatz arbeitete er über einen Zeitraum von drei Jahren. Vor der Publikation hat er das Manuskript einigen führenden Fachkollegen vorgelegt – bspw. K. Lash-
72 Zum Konzept des Denkstils vgl. L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denk kollektiv (1935), Frankfurt a. M. 1980, hier S. 111 ff. 73 R. Silver, J. S. Rosenblatt, „The Development of a Developmentalist: Daniel S. Lehrman“, in: Developmental Psychobiology, 20(6)/1987, S. 563-570, hier S. 564. 74 D. S. Lehrman, „Comparative Behavior Studies“, in: Bird-Banding, 12/1941, S. 86-87; K. Lorenz, „Vergleichende Verhaltensforschung“, in: Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, 12/1939, S. 69-102. Siehe dazu R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 367 f.
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ley, D. O. Hebb und H. L. Teuber75 –, von denen er viele hilfreiche Anregungen erhielt.76 Als Lehrman seine Auseinandersetzung mit Lorenz im Dezember 1953 publiziert, ist er 34 Jahre alt. Die Veröffentlichung markiert den Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere.77 Das Ziel des Aufsatzes sieht er in einer Überprüfung von „Lorenz’s manner of dealing with basic problems in the comparative study of behavior“ und insgesamt in „a reconsideration of Lorenz’s system and school“.78 Lehrman formuliert darin eine grundsätzliche und weit gespannte Kritik der wichtigsten Elemente von Lorenz’ Forschungsansatz. Im Folgenden werde ich das Problem des Angeborenseins von Verhalten als Leitfaden der Rekonstruktion dieser Kritik wählen. Dieses Problem steht auch bei Lehrman im Vordergrund. Seine These in diesem Zusammenhang ist, dass die in der Ethologie getroffene Unterscheidung zwischen angeborenem und erworbenem Verhalten aufgegeben werden sollte. Auf der Basis einer Sichtung ethologischer Texte behauptet er, dass Lorenz und Tinbergen vier Hauptkriterien des Angeborenseins annehmen. Sie würden ein Verhalten für angeboren halten, wenn es (1) stereotyp und seiner Form nach konstant ist, (2) artspezifisch ist, (3) auch bei isoliert aufgezogenen Tieren auftritt oder (4) sich auch bei solchen Tieren voll ausgeformt entwickelt, die an seiner Einübung gehindert wurden.79 Lehrman geht nun so vor, dass er Beispiele von Verhaltensweisen anführt, die die Kriterien erfüllen, bei denen es aber keineswegs zwingend ist, sie als angeboren zu verstehen.
75 Siehe R. Silver, J. S. Rosenblatt, „The Development of a Developmentalist: Daniel S. Lehrman“, S. 564. Dort findet sich auch das im Vorigen wiedergegebene Zitat. Zu Lehrmans Kooperation mit Fachkollegen während der Fertigstellung des Ma nuskripts, die als Hinweis für eine bestimmte Wissenschaftskultur gelten kann, siehe auch Lehrmans „Acknowledgments“ in dem publizierten Aufsatz (D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 359). 76 Eine der Anregungen betraf den Umgang mit Lorenz’ Verhältnis zum National sozialismus; siehe dazu J. S. Rosenblatt, „Daniel Sanford Lehrman. June 1, 1919 – August 27, 1972“, in: Biographical Memoirs of the National Academy of Sciences, 66/1995, S. 226-245, hier S. 234 f. – Zu Lorenz’ Verstrickung in den Nationalsozialismus siehe ausführlich K. Taschwer, B. Föger, Konrad Lorenz, S. 78-104. 77 Die Promotion Lehrmans erfolgte im folgenden Jahr, 1954, an der New York University. 78 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 338. 79 Ebd., S. 341.
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Das erste Beispiel ist das Picken bei Hühnern. Lehrman zufolge erfüllt es alle vier Kriterien, seine Interpretation als „angeboren“ müsse aber als höchst problematisch gelten, weil sich sein Ursprung und seine zugrunde liegenden Mechanismen durch Untersuchungen der embryonalen Entwicklung von Hühnern erhellen lassen. Lehrman verweist in diesem Kontext auf die Arbeiten von Zing Yang Kuo (1932): Bereits am dritten Tag der Embryonalphase von Hühnern werde der auf dem Brustkorb ruhende Kopf im Rhythmus des Herzschlags passiv auf- und abbewegt; ungefähr einen Tag später beginne sich der Kopf auch aktiv in Antwort auf taktile Reizung zu beugen; zur gleichen Zeit beginne sich beim Nicken des Kopfes auch der Schnabel zu öffnen und zu schließen, vermutlich durch eine aufgrund der Kopfbewegung verursachte nervliche Erregung; etc.80 Der Punkt, auf den Lehrman aufmerksam macht, ist also, dass ein Verhalten, das den genannten Kriterien zufolge als „angeboren“ gelten muss, das Resultat eines in verschiedenen Phasen und auf verschiedenen Niveaus ablaufenden Entwicklungsprozesses ist. Lehrmans zweites Beispiel ist das Mutterverhalten (maternal behavior) bei Ratten, und zwar der Nestbau sowie das Apportierverhalten (bei dem die Jungen mit der Schnauze gepackt und zurück zum Nest getragen werden).81 Auch diese Verhaltensweisen erfüllen Lehrman zufolge alle vier Kriterien, sollten also nach Lorenz’ Auffassung als „angeboren“ gelten. Lehrman verweist jedoch zum einen auf Experimente von Bernard F. Riess,82 der Ratten isoliert in einer Umgebung aufwachsen ließ, in der sie keine Gelegenheit hatten, Gegenstände zu tragen. Ihre Nahrung war pulverisiert und der Käfigboden bestand aus einem Geflecht, durch das der Kot hindurchfiel. Nachdem diese Ratten in gewöhnliche Käfige mit üblichem Nistmaterial kamen, vermehrten sie sich zwar, bauten aber keine normalen Nester und apportierten ihre Jungen auch nicht in der normalen Weise. Zum anderen verweist Lehrman auf Experimente von Herbert G. Birch. Trächtige Ratten lecken besonders 80 Siehe die genauere Beschreibung bei D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 341. 81 Siehe zu diesem Beispiel ebd., S. 342 f. 82 Riess hatte übrigens 1952 – in der McCarthy-Ära – seine Stelle als associate professor für Psychologie und Philosophie am New Yorker Hunter College ver loren, weil er sich weigerte dem „Senate Subcommittee on Internal Security“ Auskünfte über seine politischen Überzeugungen zu erteilen. Siehe: (http:// www.nytimes.com/1995/07/10/obituaries/dr-bernard-f-riess-87-who-lostteaching-post-in-mccarthy-era.html), zuletzt abgerufen am 15.07.2015.
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häufig ihre Genitalien. Nach Lehrmans Vermutung geht das auf ein gesteigertes Bedürfnis nach Kalisalzen und die erhöhte Reizbarkeit der Genitalorgane selber zurück. Birch legte einigen trächtigen Ratten Kragen aus Gummischeiben an, um sie dauerhaft daran zu hindern, ihre Genitalien zu lecken. Diese Ratten fraßen später einen hohen Prozentsatz ihrer Jungen und zeigten bei den anderen kein normales Apportierverhalten. Demnach scheint das Lecken der Genitalien eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Apportierverhaltens zu spielen. – Insgesamt zeigt sich damit aus Lehrmans Sicht auch für das Beispiel des Mutterverhaltens bei Ratten, dass Verhaltensweisen, die aufgrund der genannten Kriterien als „angeboren“ zu qualifizieren wären, in weit größerem Maße von Entwicklungsund Umgebungsumständen abhängen, als diese Qualifizierung vermuten lässt. Die von Lehrman eingeschlagene Argumentationsstrategie gegen die ethologische Konzeption des Angeborenen ist allerdings komplexer als bisher dargelegt. Es lassen sich mindestens drei verschiedene Ebenen unterscheiden, die ich schrittweise erläutern möchte. Auf der ersten Ebene geht es darum, die genannten Kriterien des Angeborenseins zu hinterfragen. Das geschieht über die erörterten Beispiele hinaus noch einmal gesondert für die Kriterien (3) und (4), die den Zusammenhang zwischen Isolierungsexperimenten und dem sogenanntem „angeborenen“ Verhalten betreffen.83 Es sind zwei Einwände, die Lehrman gegen die ethologische Verwendung solcher Experimente erhebt. Der erste besagt, dass es nicht ausreicht, ein Tier isoliert von seinen Artgenossen aufzuziehen, wenn man überprüfen möchte, ob ein bestimmtes soziales Verhaltensmuster angeboren ist. Denn eine solche isolierte Aufzucht impliziert nicht notwendig die Isolierung von der Wirkung aller Prozesse und Ereignisse, die zur Entwicklung dieses Verhaltensmusters beitragen. Womöglich lässt sich diesem Einwand mit entsprechender methodischer Sorgfalt im Experimentaldesign begegnen. Der zweite Einwand aber ist grundlegender. Selbst bei größtmöglicher Sorgfalt liefert das Isolierungsexperiment Lehrman zufolge bestenfalls eine „negative indication that certain specified environmental factors probably are not directly involved in the genesis of a
83 Zur gesonderten Auseinandersetzung mit Kriterium (2) siehe zudem D. S. Lehr man, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 346.
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particular behavior“.84 Da sich das aber nie für alle Umweltfaktoren ausschließen lassen wird, könne das Isolierungsexperiment grundsätzlich keinen positiven Aufschluss über das Angeborensein eines bestimmten Verhaltens bieten. Die zweite Ebene von Lehrmans Argumentationsstrategie hängt damit zusammen, dass die Interpretation gewisser Verhaltensmuster als „angeboren“ keine „genuine aid to a scientific understanding of their origin and of the mechanisms underlying them“ liefere.85 Auf diese Weise formuliert, ist der Punkt jedoch nahezu trivial. Denn Untersuchungen, ob ein Verhalten angeboren ist, zielen auf ein besseres Verständnis eben nicht der Entwicklung, sondern der Angepasstheit des Verhaltens ab. Lehrmans eigentliches Argument auf dieser Ebene ist allerdings weitergehend. Es besagt, dass überall dort, wo Verhaltensweisen als angeboren oder als Produkte einer Reifung interpretiert werden, Forschungshindernisse für die Untersuchung des Ursprungs des Verhaltens aufgebaut werden: „The statement that ‚pecking‘ is innate, or that it ‚matures‘, leads us away from any attempt to analyze its specific origins“.86 Besonders fragwürdig sei hier die ethologische Rede von Reifung, weil sie sich scheinbar auf einen Entwicklungsprozess bezieht, die Frage nach solchen Prozessen aber de facto gerade ausblendet: „To say of a behavior that it develops by maturation is tantamount to saying that the obvious forms of learning do not influence it, and that we therefore do not consider it necessary to investigate its ontogeny further“.87 Zusammengefasst geht es auf dieser Ebene also darum, in der Verhaltensforschung die Rechte des entwicklungsbezogenen Ansatzes zu stärken. Von diesem Vorhaben her lässt sich auch die wissenschaftliche Grundausrichtung am American Museum of Na tural History näher bestimmen. Sie besteht in den Worten Schneirlas darin, „to give ontogeny its due“.88 Die dritte Ebene von Lehrmans Argumentationsstrategie lässt sich mit Blick auf seine These identifizieren, dass die in der Ethologie getroffene Unterscheidung zwischen angeborenem und erworbenem Verhalten aufgegeben werden sollte. Lehrman will zeigen,
84 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 343. 85 Ebd., S. 341. 86 Ebd., S. 344. 87 Ebd., S. 344 f. 88 Zitiert nach R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 366.
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dass nicht nur (a) „Angeborensein – Erworbensein“, sondern auch (b) „Reifung – Lernen“ und (c) „Anlage (heredity) – Umwelt (environment)“ verfehlte Dichotomien darstellen. Sein Hauptargument ist, dass sie der für Organismen und ihr Verhalten kennzeichnenden Entwicklungsdynamik weder empirisch noch kategorial gerecht werden können. „The problem of development is the problem of the development of new structures and activity patterns from the resolution of the interaction of existing structures and patterns, within the organism and its outer environment. At any stage of development, the new features emerge from the interactions within the current stage and the environment“.89 Von dieser Beschreibung der Entwicklungsdynamik her lässt sich im Einzelnen verdeutlichen, inwiefern Lehrman die drei Dichotomien für verfehlt hält: (a) Wer der Rede von angeborenem Verhalten einen Erklärungswert beimisst, so der bereits im Kontext des vorigen Absatzes erwähnte Punkt, „obscures the necessity of investigating developmental processes“ bestimmter Verhaltensweisen.90 (b) Die ethologische Überlegung, dass Verhalten reift, ist ohne heuristischen Wert. Wenn sich die Pickfähigkeit von Hühnern nach dem Schlüpfen vervollkommnet, obwohl sie isoliert aufgezogen und an der Übung bestimmter Aktivitäten gehindert werden, dann liegt das nicht an einem Reifen des Verhaltens, sondern an Tatsachen wie der, dass sich die Kraft der Beinmuskeln oder die Balance und Standfestigkeit der Hühner steigert. Die Vervollkommnung des Pickverhaltens ergebe sich sicher auch aus Wachstumsprozessen, „but what is growing is not pecking ability“.91 (c) Die Interaktion, aus der sich der Organismus und sein Verhalten entwickelt, „is not one, as is often said, between heredity and environment. It is between organism and environment! And the organism is different at each different stage of its development“.92 Lehrmans Kritik an Lorenz betrifft auch die physiologischen Hintergründe von dessen Konzeption der Instinktbewegungen. Zum einen richtet sie sich gegen das hydromechanische Modell der Instinktbewegung. Lehrman meint, dass hydraulische Analogien in Lorenz’ Arbeiten seit 1937 derart regelmäßig auftreten, „as to 89 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 345. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 344. 92 Ebd., S. 345.
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justify the impression that they are not really analogies – they are actual representations of Lorenz’ conception of the origin and channelling of ‚instinctive energy‘“. Allerdings, so Lehrman weiter, gebe es keinerlei physiologischen Beleg für eine solche Hydraulik im Gehirn. Zudem scheint die Einheitlichkeit des Modells zu präsupponieren, dass es einen Typ von Mechanismus gibt, der allen Instinkthandlungen zugrunde liegt und auf allen Evolutionsstufen identisch ist. Auch diese Annahme sei aber keineswegs notwendig.93 – Zum anderen bewegt sich Lehrmans Kritik an Lorenz’ Konzeption der physiologischen Hintergründe von Instinktbewegungen nicht nur auf der Modellebene, sondern auch direkt auf der physiologischen Ebene. Gegen die von Lorenz in Anspruch genommenen Resultate Erich von Holsts einer automatisch-rhythmischen Reizerzeugung im ZNS bei Regenwürmern oder Fischen führt er Experimente mit Fischen und Amphibien von James Gray und Hans Lissmann an, die ebenfalls die Effekte der Durchtrennung afferenter Nerven auf die Fortbewegung untersuchten, und erklärt: „Both regard their evidence as being against the probability of the automatic-rhythmic production of coordination in the central nervous system“.94 Die von Lorenz herangezogene physiologische Erklärung der Instinktbewegungen muss demnach als umstritten gelten.95 Und auch wenn sie weniger umstritten wäre, bliebe Lehrman zufolge noch offen,
93 Ebd., S. 350. 94 Ebd., S. 349. 95 Gray, Lissmann und von Holst hätten im Juli 1949 bei der zu Beginn dieses Ab schnitts erwähnten Konferenz der Society for Experimental Biology zu „Phy siological Mechanisms in Animal Behavior“ in Cambridge zusammentreffen sollen, bei dem auch Lorenz, Tinbergen und Otto Koehler anwesend waren. Von Holst musste seine Teilnahme allerdings krankheitsbedingt absagen, sandte in letzter Minute aber eine scharfe Kritik an der Position von Gray und Lissmann ein, die auf der Konferenz verlesen wurde – von Lissmann. Siehe dazu R. J. Bur khardt, Patterns of Behavior, S. 310 f.: „Lissmann translated the critique word for word, apparently to everyone’s discomfort but his own. As both Koehler and Lorenz reported to Holst after the event, the scene was an akward one. Holst had not chosen a style suitable for the occasion, and the tone of his commentary, es pecially as delivered by Lissmann, appeared arrogant, disparaging, and offensive. Lissmann exacerbated the effect, Koehler told Holst, by smirking in the most embarrassing places. The paper was greeted with silence in the formal session, but it generated private discussions throughout the rest of the meeting. Koehler and Lorenz laid much of the blame on Lissmann. Tinbergen, for his part, had to explain to Koehler and Lorenz just how much the Germanic tone of Holst’s paper grated on non-German ears so soon after the war“.
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ob sie sich von Würmern, Fischen und Amphibien auf Vögel und Säugetiere übertragen ließe.96
3. Erstes Zusammentreffen von Lorenz und Lehrman: Antwort auf Kritik, Aufklärung von Missverständnissen und eine mögliche Einigung Manchmal wird behauptet, dass Lorenz erst acht Jahre nach Lehrmans „Critique“ öffentlich auf die Einwände geantwortet hat, und zwar mit dem Aufsatz „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“ (1961),97 der dann zu der kleinen englischsprachigen Monographie Evolution and Modification of Beha vior (1965) erweitert wurde. Doch so wichtig diese Texte für die Debatte auch sind: Als sie erschienen, waren viele Argumente bereits ausgetauscht. Schon 1954 fanden zwei Konferenzen statt, auf denen jeweils sowohl Lorenz als auch Lehrman Vorträge gehalten haben. Die erste Begegnung erfolgte im Juni des Jahres, also bereits ein halbes Jahr nach der Publikation von Lehrmans Aufsatz, auf einem internationalen Symposium zum Thema „Instinkt“, das von der Fondation Singer-Polignac in Paris organisiert wurde. Die zweite Begegnung fand Ende September desselben Jahres in Ithaca, New York, im Rahmen der von der Macy Foundation gesponserten internationalen Konferenz über „Group Processes“ statt. Beide Veranstaltungen sind durch umfangreiche Sammelbände dokumentiert,98 die im Mittelpunkt der folgenden Rekonstruktion der Auseinandersetzung stehen werden. Da Lehrmans Kritik die Fundamente von Lorenz’ Ansatz betrifft, stand für diesen in Paris einiges auf dem Spiel. Sein Vortrag „The Objectivistic Theory of Instinct“ stellt eine interessante Mischung aus Entgegenkommen, Verteidigung, Zurückweisung und Gegenangriff dar. Letzteres – der Gegenangriff – ist dabei die primäre Strategie. Lorenz beginnt mit einem grundlegenden Punkt: In 96 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 349. 97 K. Taschwer, B. Föger, Konrad Lorenz, S. 183. 98 M. Autuori (Hrsg.), L’Instinct dans le comportement des animaux et de l’homme. Colloque organisé par la Fondation Singer-Polignac, Paris 1956; B. Schaffner (Hrsg.), Group Processes. Transactions of the First Conference September 26, 27, 28, 29, and 30, 1954, Ithaca, New York, New York 1955.
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induktiven Wissenschaften sollte man von einer Kritik verlangen dürfen, dass erstens eine alternative Erklärung der betreffenden Tatsachen vorgeschlagen wird, sich zweitens die neue Hypothese als denkökonomischer erweisen lässt und/oder drittens neue Fakten, die der alten Hypothese widersprechen, angeführt werden. Lorenz meint, dass die bisherigen Kritiken seiner Position, einschließlich der Kritik von Lehrman,99 keine dieser Anforderungen erfüllen. Die Deutung dieses Befundes liefert er gleich mit: Alle bisherigen Kritiken seien „guilty of […] supression of the most important facts underlying our theories“. Dieser Vorwurf wiegt schwer. Lorenz möchte ihn zwar durch die Bemerkung etwas abschwächen, dass er seinen Kritikern weder eine bewusste noch eine unbewusste Unterdrückung der Tatsachen unterstellt; jedoch bleibt fraglich, ob überhaupt noch sinnvoll gesagt werden kann, Tatsachen werden „unterdrückt“, wenn dies nicht einmal unbewusst geschehen soll. Wie dem auch sei: Den Kritikern fehlt es demnach an Wissen um wichtige Tatsachen. Lorenz zufolge mag das auch daran liegen, „that we have not stated them clearly enough in our writings“.100 Die Marschroute für den Vortrag ist damit gesetzt: Wenn die Auseinandersetzung auf ein Verständnis- oder Kenntnisproblem zurückgeht (statt sich um Sachfragen zu drehen), gilt es Aufklärungsarbeit zu leisten. Dafür ist Lorenz zufolge vor allem an die „Entdeckungen“ von Whitman und Heinroth zu erinnern, dass „behaviour patterns could be used as taxonomic characters“ und dass es „one element of behaviour which is certainly innate“ gibt – die sogenannte „Instinktbewegung“. Lorenz zieht eine Parallele zwischen Genetik und Ethologie: „Like genetics and many other branches of inductive science, ethology started from a real discovery and definitively not from a theory“. Whitman und Heinroth hätten so viel Beobachtungsmaterial über Instinktbewegungen angesammelt, dass deren „common physiological properties“ nicht zu übersehen seien:101 (i) „limited modifiability“, (ii) „independence of individual learning“ und (iii) „spontaneity“. Damit sind zugleich die Titel der drei Abschnitte genannt, in die Lorenz seinen Vortrag einteilt. 99 Neben D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, hat Lorenz hier die Kritiken von D. O. Hebb, „Heredity and Envi ronment in Mammalian Behaviour“, und J. S. Kennedy, „Is Modern Ethology Objective“, vor Augen. 100 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, in: M. Autuori (Hrsg.), L’In stinct dans le comportement des animaux et de l’homme, S. 51-76, hier S. 51. 101 Ebd., S. 52 f.
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Im Folgenden werde ich auf ausgewählte Punkte dieser Abschnitte eingehen. (i) Wenn Lorenz von einer begrenzten Veränderbarkeit von Instinktbewegungen spricht, kommt er Lehrman und Schneirla in einem wichtigen Punkt entgegen: „There is absolutely nothing in any organism’s body or behaviour that is not dependent on environment and, to a certain extent, subject to modification through environment“.102 Für Lorenz bedeutet dies aber keine Preisgabe der These des Angeborenseins von Instinktbewegungen, sondern eine erneute Gelegenheit, die Parallele zur Genetik hervorzuheben. Er meint, kein Genetiker würde aufhören, die rote Farbe von Mendels Erbsenblüte ein ererbtes Merkmal zu nennen, nur weil es möglich ist, „by creating an exceedingly unhealthy environment, cause the plant to produce only buds which shrivel and drop off before opening into bloom and showing the red colour“. Genau dies würde aber analogerweise ein vergleichender Psychologe fordern, der die Umgebung eines Tiers während der individuellen Entwicklung in einer Weise verändert, die so radikal ist, „as to impair its physical health in an appreciable degree“.103 (ii) Ein Argument, das Lehrman gegen Lorenz angeführt hatte, betraf das Mutterverhalten bei Ratten:104 Anscheinend erfüllt dieses Verhalten die von Lehrman rekonstruierten Kriterien für Angeborensein, ist aber vom Lernen abhängig. Lorenz bestreitet nicht, dass in das Mutterverhalten bei Ratten Lernen eingeht, weist aber darauf hin, dass, anders als Lehrman unterstelle, kein Ethologe glaube, „that this extremely complicated set of widely different behaviour elements was wholly innate, but we do contend that the motor patterns which we call instinctive movements are.“105 Als Beispiel für 102 Ebd., S. 53. Übrigens möchte auch Schneirla, wie er auf der Konferenz in Paris betont, umgekehrt nicht die Bedeutung der „hereditary factors“ unterschätzen oder gar leugnen, die dem „species-typical behavior“ zugrundliegen. Siehe T. C. Schneirla, „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in In stinctive Behavior“, in: M. Autuori (Hrsg.), L’Instinct dans le comportement des animaux et de l’homme, S. 387-452, hier S. 442. 103 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 53. 104 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 342 f. 105 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 57. Zum Nestbauverhal ten bei Ratten hat Lorenz im Rekurs auf Resultate von Eibl-Eibesfeldt später erklärt, dass es aus einer Reihe von phylogenetisch angepassten Teilvorgän gen besteht, die allerdings nur aufgrund bestimmter Lernvorgänge zu einer „funktionellen Einheit“ verbunden werden. Siehe K. Lorenz, „Phylogeneti
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eine genuine Instinktbewegung führt Lorenz die spezifische Bewegung an, mit der sich Sperlingsvögel am Kopf kratzen. Dieses Bewegungsmuster werde zunächst zwar nur in bestimmten Teilen und erst ab einer bestimmten individuellen Entwicklungsstufe vollständig gezeigt. Doch das liege nicht an fehlendem Lernen, sondern an mangelnder Reifung. Seine Kritiker, so Lorenz, betrachten diese Auffassung als „finalistisch“ oder „präformistisch“, sind allerdings nicht in der Lage, eine bessere Erklärung anzubieten. Insbesondere die von Lehrman ins Spiel gebrachte Alternative bleibe unterkomplex. Dieser beruft sich auf die erwähnten Untersuchungen von Kuo (1932), die Lorenz zufolge zeigen sollen, dass die Instinktbewegung des Pickens von Hühnern erlernt ist, und zwar unter anderem dadurch, dass der Herzschlag des Embryos im Ei zum passiven Auf- und Abbewegen des Kopfes führt. Lorenz hält diese Erklärung für völlig unbefriedigend. Denn mit dieser Theorie lasse sich nicht erklären, warum junge Sperlingsvögel nicht picken, sondern sperren, oder inwiefern der Herzschlag noch nicht geschlüpften Vögeln Verhalten anderer Art, etwa das Putzen, beibringen können soll.106 Diese Linie der Auseinandersetzung setzt sich auf der Pariser Konferenz in dem Vortrag von Lehrmans Doktorvater Schneirla fort. In ausdrücklicher Abgrenzung zu „nativistischen“ und „präformistischen“ Theorien à la Lorenz bestreitet Schneirla, dass die Begriffe des Angeborenen und Erworbenen geeignete Mittel darstellen, um instinktives Verhalten zu untersuchen, wobei er sich ausdrücklich auf Kuos Untersuchungen beruft.107 Schneirla zufolsche Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, 18(2)/1961, S. 139-187, hier S. 160. Im Grunde ist das eine Wiederaufnahme seines älteren Gedankens der „Instinkt-Dressurverschrän kung“. Siehe dazu K. Lorenz, „Über die Bildung des Instinktbegriffs“ (1937), S. 294, und schon K. Lorenz, „Betrachtungen über das Erkennen der arteigenen Triebhandlungen der Vögel“, in: Journal für Ornithologie, 80(1)/1932, S. 5098, wo noch von „Trieb-Dressurverschränkung“ die Rede ist (ebd., S. 61). Diese Wiederaufnahme geht allerdings mit einer Selbstkritik einher. Lorenz schreibt, in seinen früheren Überlegungen habe er sich diese Verschränkung „viel zu mosaikhaft und viel zu wenig als Wechselwirkung vorgestellt, ein ausgespro chen atomistischer Denkfehler“ (K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“, S. 168). 106 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 56 f. Vgl. auch K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“, S. 148. 107 T. C. Schneirla, „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in In stinctive Behavior“, S. 387 f.
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ge dreht sich das „Instinktproblem“ um spezies-spezifisches oder -typisches Verhalten und betrifft die Frage nach der Entwicklung dieses Verhaltens.108 Sein Punkt, so Schneirla in einem auf Lorenz bezogenen Diskussionsbeitrag während der Konferenz, sei nicht, dass jedes speziestypische Verhalten von extrinsischen Faktoren abhängt, sondern dass „intrinsic factors alone will not account for the development of such behavior or any behavior in any species“. Speziesspezifisches Verhalten sei das Resultat einer Entwicklung und lasse sich nicht ohne Berücksichtigung der Beziehungen zwischen extrinsischen und intrinsischen Faktoren auf verschiedenen Stufen verstehen. „The problem is not only oversimplified but is misrepresented when we try to understand the behavioral outcome in terms of encapsulated endogenous determiners of patterns, independent of such interrelationships. No proof of ‚Erbkoordination‘ in this sense has yet appeared“. Mit anderen Worten, Schneirla ist skeptisch, ob es Instinktbewegungen in Lorenz’ Sinn überhaupt gibt. „The origin of the kind of nuclear movement Prof. Lorenz emphasizes remains to be demonstrated in better studies of ontogeny than we have had on any phyletic level“.109 Dieser letzte Punkt ist von besonderer Bedeutung, weil Schneirla damit die Art von Untersuchung benennt, die auf der Verhaltensebene allein über die Existenz von Instinktbewegungen entscheiden könnte. Nur ontogenetische Untersuchungen im Stile Kuos könnten hier Aufschluss geben. Lorenz aber, so der Subtext, nimmt solche Untersuchungen nicht ernst. Dabei könnten sie auch dabei helfen, seine am Ende des vorigen Absatzes erwähnten Fragen nach dem ontogenetischen Ursprung der Sperrbewegung oder des Putzens zu beantworten.110 (iii) Die dritte physiologische Eigenschaft der Instinktbewegung, auf die Lorenz in seinem Pariser Vortrag eingeht, ist Spontaneität. Instinktbewegungen sind seines Erachtens insofern spontan, als sie auf eine endogene, automatisch-rhythmische Reizerzeugung im ZNS zurückgehen. Diese ist in eine Gesamtheit von physiologischen Rahmenbedingungen und Vorgängen eingebettet, die Lorenz mit seinem hydromechanischen Modell erfassen möchte. Nachdem er in Paris an die „facts“ erinnert hat, die durch dieses „world-famous model of the flushing reservoir“ illustriert werden, hebt er gegen Lehrmans Kritik noch einmal hervor, dass es sich um ein Mo108 Ebd., S. 389 f., S. 392. 109 Ebd., S. 440 f. 110 Vgl. ebd., S. 441.
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dell handelt: „Please believe me that none of our youngest students has ever believed for a moment that this object of ridicule is more than a parable or should be regarded as an attempt at explanation of facts“.111 Eine Erklärung der Tatsachen müsste in Begriffen dessen erfolgen, was die Modell-Flüssigkeit in physiologischer Hinsicht repräsentiert. Lorenz hatte den in seinem Aufsatz von 1950 verwendeten Terminus „action-specific energy“ inzwischen durch die neutralere Bezeichnung „action specific potential“ ersetzt112 und möchte die Frage nach dem physiologischen Substrat dieses Potentials offen halten. „This ‚something‘ may be anything, it may be humoral, perhaps a neuro-hormone […], or it may be a neural process“. Wenn wir allerdings fragen, ob es bekannte neurophysiologische Prozesse gebe, so Lorenz weiter, „which might be akin to our crucial phenomena of spontaneous generation and rhythmical discharge of ‚something‘“, dann stoßen wir natürlicherweise auf Prozesse der endogenen, rhythmischen Reizerzeugung wie von Holst und andere sie bei verschiedenen Tieren identifiziert haben.113 Lehrman hatte von Holsts physiologische Ergebnisse zwar vor dem Hintergrund anderer physiologischer Untersuchungen kritisiert bzw. relativiert, doch Lorenz gibt sich davon unbeeindruckt und wiederholt von Holsts Befunde. Dieser Zweig der Debatte läuft damit in eine Sackgasse, zumal beide Protagonisten nicht in der Position sind, einen Streit über die richtige Physiologie zu entscheiden.114 In einem anderen Punkt – der Frage der Ontogenese des Verhaltens – scheint sich in Paris jedoch eine mögliche Einigung abgezeichnet zu haben. Das wird allerdings erst mit Blick auf die Diskussion deutlich, die sich an Lorenz’ Vortrag angeschlossen hat und im Konferenzband dokumentiert ist. In einer längeren Wortmeldung bringt Schneirla seinen Haupteinwand gegen Lorenz dahingehend auf den Punkt, dass in dessen System dem Bedarf an „analytical investigation of ontogenetic processes“ nur unzureichend Rechnung getragen werde.115 Lorenz bestreitet das zunächst und weist 111 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 59. 112 Zum Hintergrund siehe R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 320, insbes. Anm. 131 (S. 552). 113 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 60. 114 Wichtige Belege zu dieser Debatte versammelt G. Roth, „Kritik der verhal tensphysiologischen Grundlagen der Lorenzschen Instinkttheorie“, in: ders. (Hrsg.), Kritik der Verhaltensforschung. Konrad Lorenz und seine Schule, München 1974, S. 156-189, hier S. 163 ff. 115 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 69.
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stellvertretend für die Ethologie auf ihren Gründer Oskar Heinroth hin, dessen vierbändiges Werk Die Vögel Mitteleuropas ontogenetischen Fragen große Aufmerksamkeit widme.116 Er übersieht dabei aber, worauf Schneirla den Akzent gelegt hatte. Dieser hatte ohne Weiteres eingeräumt, dass im Umkreis von Lorenz „much work on early behavior“ geleistet wurde. Diese Arbeit war aber, so seine Einschränkung, „essentially descriptive in its approach, rather than analytical“.117 Es ist dann Lehrman, der diesen Gedanken in seinem Diskussionsbeitrag noch einmal aufgreift: „Heinroth’s valuable studies […] are ontogenetic in a sense“; anders gesagt, sie sind es nicht in einem anderen Sinn. „The kind of ontogenetic study which Dr. Schneirla wishes to suggest, I think, is not a descriptive study of the order of development of activities, but rather some understanding of the physiological background of the order of development“. Lehrman präzisiert auf diese Weise, worin Schneirlas Forderung nach einer analytischen Untersuchung ontogenetischer Prozesse besteht. Es geht um „the analysis of the physiological conditions which are changing during the emergence of the behavior elements, and which constitute the development from one stage to the next, which accounts for the behavioral changes“.118 Solche Analysen finden sich tatsächlich weder bei Heinroth noch bei Lorenz. Vor diesem Hintergrund nimmt Lehrman in seinem Diskussionsbeitrag dann die Gelegenheit wahr, noch einmal auf die Bedeutung von Kuos Untersuchungen zurückzukommen. Kuo könne zwar nicht alle Verhaltensmuster von frisch geschlüpften Vögeln erklären, stelle aber die bisher einzige Erklärung dafür zur Verfügung, woher bestimmte Verhaltensmuster kommen. Auch Schneirla macht in einer Antwort auf Lorenz’ Kommentar zu seinem eigenen Vortrag einen ähnlichen Punkt: „Dr. Lorenz asks why the chick pecks and the nestling young of perching birds gape. I think that when we understand the complexities of ontogeny well enough in the different species the answer may be more apparent“.119 Sowohl Lehrman als auch Schneirla geben damit ein Votum für weitere Un116 Ebd., S. 71. 117 Ebd., S. 69. 118 Ebd., S. 72. Vgl. dazu auch Lehrmans Diskussionsbeitrag zum Vortrag von T. C. Schneirla, „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in Instinctive Behavior“, S. 445. 119 T. C. Schneirla, „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in In stinctive Behavior“, S. 441.
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tersuchungen im Stile Kuos ab.120 Relativ scharf stellt Lehrman in diesem Zusammenhang die „physiological, epigenetic formulations of problems“, wie er und Schneirla sie favorisieren, dem „schematic neurologizing“ gegenüber, das Lorenz im Rückgriff auf von Holst betreibe. Vielleicht war es der versöhnliche Ton, mit dem Lehrman seinen Diskussionsbeitrag schließt, indem er einräumt, seine „Critique“ habe Lorenz’ Verdienste nicht angemessen berücksichtigt – Lorenz jedenfalls reagiert hier entgegenkommend: „I entirely agree that we must study the individual development of behavior much more thoroughly and with a very similar technique as the one used in experimental embryology. Our excuse for not having done more in this direction as yet is that we had to begin in a purely descriptive way before proceeding to physiological analysis“.121 Auffällig ist, dass Lorenz in seiner direkten Antwort anders als noch in seinem Vortrag in diesem wichtigen Punkt deutlich um Ausgleich bemüht ist. Mehr noch: Es scheint sich hier die Aussicht auf die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven der Verhaltensforschung zu eröffnen, die sich wechselseitig ergänzen können. Das ist auch der Eindruck, der sich bei dem nächsten Redner der Diskussion eingestellt hat. Pierre P. Grassé, der einer der Veranstalter der Pariser Konferenz war, bemerkt zu den Positionen der „deux écoles“ um Schneirla und Lehrman auf der einen und Lorenz und Tinbergen auf der anderen Seite: „Une étude exhaustive et non tendancieuse montrerait, nous en sommes convaincu, que les deux thèses sont plus complémentaires l’une de l’autre qu’opposées“.122 – Die Aussicht einer möglichen Einigung darf allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass Lorenz in seinem Entgegenkommen an einer bestimmten Ordnung der Fragestellung festhält: Als erstes kommt die Beschreibung – zur Sicherung des zu erklärenden Phänomens –, dann die physiologische Erklärung. Die Windelband’sche Ordnung der induktiven Wissenschaft soll intakt bleiben. Doch dem scheinen sich Schneirla und Lehrman nicht grundsätzlich zu verschließen. 120 Zur Fortsetzung dieser Forschungstradition seit den 1960er Jahren siehe G. Gottlieb, „A Developmental Psychobiological Systems View. Early Formulation and Current Status“, in: S. Oyama, P. E. Griffiths, R. D. Gray (Hrsg.), Cycles of Contingency. Developmental Systems and Evolution, Cambridge (Mass.) 2001, S. 41-54. 121 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 73 f. Außerdem gesteht Lorenz (ebd.) zu, dass für die Übertragung von Verhaltensmustern neben dem ZNS auch das periphere Nervensystem berücksichtigt werden sollte. 122 Ebd., S. 74 f.
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4. Tinbergens versuchter Brückenschlag beim zweiten Zusammentreffen und Lorenz’ Ausweitung der Kampfzone Als es bei der internationalen Konferenz über „Group Processes“ im September 1954 in Ithaca, New York, zur zweiten Begegnung zwischen Lorenz und Lehrman kommt, ist auch Niko Tinbergen präsent. Er hält dort einen Vortrag, der direkt auf eine Verständigung der verschiedenen Schulen der Verhaltensforschung abzielt. Das zeigt bereits der Titel an: „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“. Tinbergen versieht die beiden Ansätze gleich zu Beginn seines Vortrags mit geographischen Zuordnungen, er spricht von der „American psychology“ und der „European ethology“.123 Sein eigenes Anliegen ist aber nicht die Vermittlung von einem „neutralen“ Standpunkt aus, wie es vermutlich Grassé in Paris vorschwebte, sondern das eines engagierten Ethologen. In einer Selbstpräsentation, um die alle Teilnehmer der Konferenz gebeten wurden, beschreibt Tinbergen sich als einen experimentellen Zoologen, dem es um die vergleichende und evolutionäre Untersuchung des Verhaltens geht. Seine Hauptmotivation für die Teilnahme an der Konferenz, so Tinbergen weiter, gehe auf Lehrman und dessen kritischen Aufsatz von 1953 zurück, der erklärtermaßen nicht nur auf Lorenz, sondern auch auf dessen „collaborators (notably N. Tinbergen)“124 zielte. Tinbergen betont dann, dass er einige ethologische Einsichten gegen die dort vorgebrachte Kritik verteidigen möchte, aber auch genauer verstehen möchte, wo „wir“ Fehler gemacht haben oder zu weit gegangen sind.125 Auch wenn Tinbergen meint, Lehrmans Kritik ginge in ihrer „almost wholesale rejection“ der europäischen Ethologie zu weit, begrüßt er sie als Ausdruck eines wachsenden Interesses. Zudem betont er ihren „wholesome effect on us“ und „our keen desire to learn and to understand the criticism expressed and to digest it“.126 123 Selbstverständlich gesteht Tinbergen dabei sofort die innere Verschiedenheit der jeweiligen „Schulen“ zu. N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, in: B. Schaffner (Hrsg.), Group Processes, S. 75-167, hier S. 75. 124 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 337. 125 N. Tinbergen, „Niko Tinbergen. [Selbstpräsentation in den Autobiographical Sketches of Participants]“, in: B. Schaffner (Hrsg.), Group Processes, S. 311-312. 126 N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 75 f.
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Dass es sich dabei um mehr als eine höfliche Geste handelt, zeigt sich vor allem darin, dass Tinbergen in Reaktion auf die Kritik eingesteht, den Begriff des Angeborenen zu sorglos gebraucht zu haben. Im Zuge der Präsentation seiner Forschungen zum Futterbetteln bei Silbermöwenjungen mit Elternattrappen verdeutlicht er, dass die Tiere bereits vor ihrer Konditionierung auf die Eltern eine selektive Reaktionsbereitschaft (selective responsiveness) zeigen,127 distanziert sich nun aber davon, solche Reaktionen „angeboren“ zu nennen. Mehr noch: Er gesteht zu, dass „we must drop this use of the word ‚innate‘“, und zwar deshalb, weil „[1] the word can be applied only to differences, not to characters, and also because [2] tests such as ours exclude only part of all possible environmental influences“.128 Mit dem zweiten der beiden genannten Gründe akzeptiert Tinbergen eine Kritik, die Lehrman in seinem „Critique“Aufsatz direkt an ihn gerichtet hatte: Tinbergen, so Lehrman dort, begehe immer wieder den Fehler, ein Angeborensein bereits aus dem Grund zu unterstellen, dass „a particular hypothesis about learning seems to be disproved“.129 Der erste der beiden Gründe hängt damit zusammen, dass sich nicht alle solchen Hypothesen widerlegen lassen. Aus Tinbergens Sicht fällt damit eine prüfbare Verwendung von „angeboren“ als Verhaltensprädikat weg. Soll der Terminus beibehalten werde, so bleibt Tinbergen zufolge nur die Option, ihn mit Blick auf Unterschiede von Organismen gebrauchen.130 Die Idee dabei ist: Wenn zwei Individuen derselben Art unter identischen Bedingungen aufgezogen werden, dann können die Unterschiede, die sie zeigen, auf „angeborene“ Unterschiede zurückgeführt werden. Tinbergen weist allerdings auch darauf hin, dass Forschungen wie die von ihm durchgeführte zum Futterbetteln bei Silbermöwen nicht dadurch wertlos werden, dass der Begriff des Angeborenen aufgegeben wird. Solche Forschungen sind auch für die Frage nach der Ontogenese des Verhaltens relevant, weil sie zeigen können, dass die betreffende Verhaltensweise zu einem bestimmten Untersuchungszeitpunkt (noch) nicht auf Konditionierung basiert.131 127 Ebd., S. 88 ff. 128 Ebd., S. 102; vgl. S. 107, S. 111. 129 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 343. 130 Vgl. dazu Tinbergens Kommentar zu (und in) F. A. Beach, „Ontogeny and Living Systems“, in: B. Schaffner (Hrsg.), Group Processes, S. 9-74, hier S. 16. 131 N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 102, S. 106.
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Das bedeutet nicht, dass einige in die Verhaltensweise involvierte Größen nicht durch die Umwelt beeinflusst worden sind, gemeint ist vielmehr die Antwort als ein Ganzes (the response as a whole). Tinbergen argumentiert auf einem bestimmten Integrationsniveau (level of integration), und zwar der des ‚ganzen Tiers‘: Das funktionierende „system as a whole has not been conditioned“.132 Tinbergen ist in Ithaca nicht nur an dem auf konkrete empirische und begriffliche Fragen bezogenen Austausch mit den amerikanischen Kollegen interessiert, sondern er agiert auch als Brückenbauer, mit Blick auf zukünftige gemeinsame Forschungsperspektiven: „[W]e ought to start anew from the many facts both of us had“, „we could work out conclusions based on the facts we have, as well as better formulations of the problems we want to study, all in such a way that we can agree on a common research program“.133 Das Ziel – die Etablierung eines gemeinsamen Forschungsprogramms – ist damit von einem der Protagonisten deutlich genannt. Allerdings scheint Tinbergen Mitte der 1950er Jahre noch nicht den theoretischen Dreh gefunden zu haben, mit dem er dieses Ziel konzeptionell einholen kann. Einerseits bleiben die von ihm angeführten Gemeinsamkeiten zwischen der „amerikanischen Psychologie“ und der „europäischen Ethologie“ dünn: Beide gingen vom Beobachtbaren aus, hätten den Subjektivismus hinter sich gelassen (der in der europäischen Psychologie noch anzutreffen ist) und wenden dasselbe wissenschaftliche Methodenarsenal an.134 Andererseits droht die von Tinbergen vorgeschlagene Begriffsbestimmung von „Ethologie“ in eine unfruchtbare Opposition mit der Psychologie zu führen. Er möchte „Ethologie“ als die biologische Untersuchung des Verhaltens definieren („the biological study of behavior“).135 Damit bleibt der „amerikanischen Psychologie“ auf den ersten Blick nur die Rolle der psychologischen Untersuchung
132 Ebd., S. 107 f. 133 N. Tinbergen, „Niko Tinbergen. [Selbstpräsentation]“, S. 312. 134 N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 76. Die zuletzt genannte Gemeinsamkeit wird von Tinbergen so ausgedrückt: „Both apply essentially the same methods as applied by other biological sciences“ (ebd.). Durch den Bezug auf die Biologie wird fraglich, ob Tinbergen hier überhaupt einen gemeinsamen Zug von europäischer Ethologie und amerikanischer Psychologie zum Ausdruck bringt. Lässt man aber den Biologie-Bezug fallen, wie in meiner obigen Rekonstruktion vorgeschlagen, wird zwar eine Gemeinsamkeit artikuliert, aber eine relativ triviale. 135 Ebd., S. 77.
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des Verhaltens. Doch dann bestünde zwischen den auf das Verhalten bezogenen Forschungsprogrammen ein Unterschied, der dem zwischen Psychologie und Biologie insgesamt entspricht. Das war aber bereits die Ausgangslage. Die Vermittlungsbemühung hatte damit zunächst keinen theoretischen Fortschritt erbracht. Doch Tinbergen sieht zumindest einen pragmatischen Anknüpfungspunkt. Durch eine Forschungsreise in die USA 1946/47 war er bereits dafür sensibilisiert, dass die „amerikanische Psychologie“ durchaus heterogen war und in Teilen – etwa in der Linie von Beach und Schneirla – ähnliche Interessen verfolgte wie die „europäische Ethologie“.136 An diesen Befund knüpft er mit dem genannten Vortrag auf der Konferenz in Ithaca an. Im Zuge seiner Diskussion des Verhältnisses zwischen „europäischer Ethologie“ und „amerikanischer Psychologie“ erklärt er: „[…] there is, among ethologists, just as much diversity as among psychologists. We understand perfectly well that Dr. Schneirla cannot be held responsible for every opinion expressed in any psychological journal.“ Der Angesprochene antwortet direkt darauf: „Yes, for example, I am not an S-R psychologist.“137 Tinbergen konnte damit sehr zufrieden sein, da sich ihm nun die Gelegenheit bot, diese Abgrenzung zur Stimulus-Response-Psychology positiv zu wenden: „I would rather list you as an American ethologist“,138 um damit eine ganz neue vermittelnde Kategorie zu eröffnen. – Einen ähnlichen Pas de deux scheint Tinbergen auch mit Lehrman ‚getanzt‘ zu haben. Dieser berichtet in seiner Selbstpräsentation auf der Ithaca-Konferenz: „I have always thought I was a psychologist. I am not to sure now. Last summer, when I visited Dr. Tinbergen, he introduced me to the professor of zoology at Oxford and said, in a very apologetic way, ‚Dr. Lehrman is a professor of psychology but he is really more of a zoologist.‘ I took this as a compliment.“139 Diese Anekdoten sind nicht nur Beispiele für geschmeidige Kommunikation, sondern von strategischer Bedeutung und systematischer Relevanz. In ihrer theoretischen Konsequenz liegt, dass 136 Siehe R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 291 f., zu den Einzelheiten von Tinbergens Forschungsreise. 137 N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 86. 138 Ebd. 139 D. S. Lehrman, „Daniel S. Lehrman. [Selbstpräsentation in den Autobiographical Sketches of Participants]“, in: B. Schaffner (Hrsg.), Group Processes, S. 310311, hier S. 310.
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die „biological study of behavior“ auf eine Weise zu konzipieren wäre, die nicht den Kontrast zur Psychologie betont. Die Ethologie sollte nur einem bestimmten Typ von Psychologie gegenübergestellt werden, und zwar demjenigen Behaviorismus, gegen den sich auch Schneirla und seine Mitarbeiter abgrenzten. Dieser Behaviorismus entsprach in etwa dem, den auch Lorenz Zeit seines Lebens kritisierte. Mit anderen Worten: Es galt die „biological study of behavior“ so zu konzipieren, dass sie eine integrative Funktion erfüllen und in ihren Kernbereich die Interessen aufgeschlossener Psychologen aufnehmen konnte. Auf der Konferenz in Ithaca gelang es Tinbergen meines Erachtens noch nicht, dieses Problem theoretisch zu lösen.140 Die Konzeption einer integrativen biologischen Verhaltensforschung blieb also zunächst ein Desiderat. Wenn dies schon nicht zufriedenstellend war, so kam für Tinbergen ein weiterer Punkt erschwerend hinzu. Er musste vermuten, dass Lorenz dieses Desiderat nicht teilte. – Und in der Tat wird Tinbergens Bemühen, mit „biological study of behavior“ einen weiten Ethologiebegriff zu etablieren, an den auch Schneirla und Lehrman – die „American ethologist[s]“ (Tinbergen) – anknüpfen können, von Lorenz nicht unterstützt. Dessen Reaktion auf Tinbergens genannte Bestimmung von „Ethologie“ lautet: „Don’t give it a definition. I would just say historically, it is that branch of research started by Oskar Heinroth“.141 Die Frage, wer ein Ethologe ist, wird, so verstanden, zu der Frage, wer in einer bestimmten Tradition steht, oder subjektiv formuliert, wer sich zu einer bestimmten Erbschaft bekennt. Dieser Ethologiebegriff eignet sich jedoch von vornherein nicht als ‚Treffpunkt‘ mit Schneirla und Lehrman. Lorenz hat das bewusst in Kauf genommen. Anders als Tinbergen war er letztlich nicht um Ausgleich und Vermittlung mit den amerikanischen Kollegen bemüht. Im Gegenteil: Mit seinem 1961 erschienenen Aufsatz „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“ hat er die Uneinigkeit noch einmal unterstrichen und dann mit der ausführlicheren englischen Fassung Evolution and Modification of Behavior (1965) zementiert. Das Hauptthema dieser Texte ist das Problem des Angeborenen. 140 Warum ich hier die Wendung „noch nicht“ gebrauche, wird der Schlussabschnitt verdeutlichen. 141 N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 77.
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Nach Tinbergens auf der Ithaca-Konferenz erklärten Preisgabe des Begriffs war für Lorenz eine neue Situation eingetreten. In Bezug auf die theoretische Einstellung zu diesem Begriff glaubte er nun, zwei Gegner zu haben, wo er zuvor nur einen kannte. Seinen eigenen Ansatz sieht Lorenz in der Tradition der Heinroth-WhitmanEthologie. Davon grenzt er nun nicht nur die ‚amerikanische, behavioristisch orientierte Psychologie‘ ab, sondern auch eine ‚englischsprachige Ethologie‘, für die Tinbergen steht.142 Der Kontrast, in dem seine Diskursstrategie zu derjenigen steht, die Tinbergen auf der Ithaca-Konferenz verfolgt hatte, tritt scharf hervor: Während Tinbergen dort den Begriff „American ethologist“ ins Spiel brachte, um einen Brückenschlag der europäischen Ethologie zu Forschern wie Schneirla und Lehrman vorzunehmen, initiiert Lorenz eine innerethologische Querelle des Anciens et des Modernes, indem er eine Binnengrenze errichtet zwischen der Richtung „der ‚naiven‘ älteren Ethologen“, zu der er sich als Heinroth-Schüler selbst zählt, und der Richtung „moderner englischsprechender Ethologen“, zu der er Tinbergen rechnet. Unterschiedlicher können begriffspolitische Ausrichtungen kaum sein. Inhaltlich unternimmt Lorenz in dem Aufsatz von 1961 einen weiteren Anlauf zur Verteidigung des Begriffs des Angeborenen, indem er dessen Differenz zum Begriff des Erlernten neu akzentuiert. Er meint, dass Organismen sich an Gegebenheiten der Umwelt in einer Weise ‚an-formen‘, dass man von einer „Abbildung dieser Gegebenheiten“ und von „Informationen über sie“ sprechen kann. Solche Informationen, so Lorenz weiter, können nur auf zwei Wegen in das organische System hineingelangt sein: 1. durch „Wechselwirkung zwischen der Art und ihrer Umwelt“ 2. durch „Auseinandersetzung des Individuums“ mit der Außenwelt.143 Im ersten Fall wird die Information durch eine Art „phylogenetische[] ‚Induktion‘“144 gewonnen, „in den Genen gespeichert, […] von Generation zu Generation weitergegeben und in jeder Ontogenese aufs neue dechiffriert“. Im zweiten Fall wird sie durch das Individuum in seinem Wechselverhältnis zur Umwelt gewonnen, 142 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhal tens“, S. 140. 143 Ebd., S. 142. 144 Ebd., S. 150.
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und zwar mittels Reizen, die über die gegenwärtige Situation orientieren, oder durch neuronale Strukturveränderungen wie beim Lernen.145 Von der Unterscheidung der beiden genannten Fälle her ist der Titel von Lorenz’ Aufsatz zu verstehen: „[1] Phylogenetische Anpassung und [2] adaptive Modifikation des Verhaltens“. Lorenz möchte an den beiden Titelbegriffen festhalten. Kein Biologe, so sein Argument, wäre aus dem Grund mit ihrer Preisgabe einverstanden, dass meistens phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation zusammen den Effekt der Angepasstheit von Strukturen oder Funktionen bewirken.146 Außerdem weist Lorenz Einwände gegen die Unterscheidung zwischen Angeborenem und Erlerntem zurück, die mit der logischanalytischen Fragwürdigkeit oder der heuristischen Wertlosigkeit dieser Unterscheidung argumentieren. Er spricht in diesem Zusammenhang von zwei „behavioristischen“ Argumenten.147 Das erste stammt von dem kanadischen Psychologen Donald Olding Hebb, das zweite von Lehrman. Hebb meinte, die „Dichotomie“ von Angeborenem und Erlerntem sei eine „petitio principii“ oder „nur ein Kunstprodukt“, weil jedes der beiden Glieder nur durch Ausschluss des jeweils anderen definiert werden könne.148 Lorenz weist diesen Einwand zurück, indem er die beiden Glieder den zuvor unterschiedenen Informationskanälen zuordnet: Angeboren ist ein Verhalten, „das seine spezifische Angepaßtheit phylogenetischen Vorgängen verdankt“, während „Lernen“ eine „adaptive Modifikation des Verhaltens“ aufgrund von Individuum-Umwelt-Auseinandersetzung ist.149 – Bei dem zweiten von Lorenz sogenannten „behavioristischen“ Argument handelt es sich um ein Argument aus Lehrmans „Critique“-Aufsatz. In Lorenz’ Worten besagt es, dass der Begriff des Angeborenen „heuristisch wertlos sei, weil es praktisch nie möglich sein werde, die Beteiligung des Lernens an frühen epigenetischen Prozessen auszuschließen“.150 Lorenz bestreitet genau das. 145 146 147 148
Ebd., S. 142 f., S. 177 f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 142, S. 148. D. O. Hebb, „Heredity and Environment in Mammalian Behaviour“; K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens“, S. 140, S. 177. 149 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhal tens“, S. 148. 150 Ebd., S. 140. Anders gesagt, es sei nie festzustellen, „wieviel ein Organismus schon im Ei oder in utero gelernt habe“ (ebd., S. 177).
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Es sei oft genug möglich, bestimmte Angepasstheiten des Verhaltens mit Sicherheit auf phylogenetisch erworbene Information zurückführen. Zwei Beispiele sollen das konkretisieren: (a) ein Springspinnenmännchen, das sich bei seiner ersten Näherung an ein Weibchen mit seinem Balztanz nur bei Strafe des Gefressenwerdens einen Fehler erlauben darf,151 und (b) ein Mauersegler, der in seiner engen Nisthöhle weder jemals seine Flügel ausbreiten noch scharf sehen konnte und trotzdem beim ersten Ausfliegen sofort allen Anforderungen gerecht wird (Luftwiderstand, Turbulenz, Fallwinde etc.).152 Lorenz meint, dass die Menge an Informationen, die ein solches Tier individuell erworben haben kann, verschwindend gering ist gegenüber der aus seinem Genom stammenden Informationsmenge. Die Aussage, dass die betreffenden Verhaltensweisen der genannten Beispiele „‚rein angeboren‘ seien, ist also, was die Quantität ihrer ziemlich genau schätzbaren Ungenauigkeit betrifft, weit exakter, als etwa die Behauptung, eine Dampflokomotive oder der Eiffelturm sei ‚ganz‘ aus Metall gebaut! Mit anderen Worten, sie erreicht eine Exaktheit, die wissenschaftlichen Aussagen auf biologischem Gebiet nur äußerst selten beschieden ist“.153 Lorenz hielt in der Frage des Angeborenen, wie gesagt, nicht nur eine Abgrenzung von derjenigen Einstellung für erforderlich, die er als „behavioristisch“ klassifiziert hatte, sondern auch von der Einstellung „Tinbergens und vieler anderer moderner englischsprechender Ethologen“.154 Die Gruppe dieser ‚modernen Ethologen‘ erkenne zwar an, dass es zwei verschiedene „Mechanismen gibt, die eine Anpassung des Verhaltens an die Erfordernisse der Arterhaltung bewirken“, und zwar die Vorgänge der phylogenetischen Verhaltensanpassung und der individualgeschichtlichen adaptiven Verhaltensmodifikation; sie hält aber die begriffliche Trennung dementsprechender Verhaltenselemente und insbesondere die Rede von angeborenen Verhaltenselementen für unangebracht. Das dafür entscheidende Argument basiert in Lorenz’ Rekonstruktion auf „methodologischen Erwägungen“: Die betreffenden Forscher wollen nur solche Begriffsbildungen zulassen, „die auf unmittel-
151 Beispiele dieser Art finden sich häufig auch in der Arbeit von Jean-Henri Fabre. Vgl. dazu den Beitrag von Köchy im vorliegenden Band. 152 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhal tens“, S. 149. 153 Ebd., S. 150. 154 Ebd., S. 140.
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bare Prüfbarkeit durch das Experiment zugeschnitten sind“ und in diesem Sinne „operationell“ heißen können.155 Experimentelle Prüfbarkeit sei im Falle der sogenannten angeborenen Verhaltenselemente, so das Argument weiter, aber nicht gegeben, da sich Erbfaktoren „nicht unmittelbar experimentell verändern“ lassen. Bei Umgebungsfaktoren sei das anders. Man könne eine Gruppe von Versuchstieren so aufziehen, dass sie der Wirksamkeit eines bestimmten Umweltfaktors entzogen sind, und eine Gruppe von Kontrolltieren so, dass dieser Faktor wirksam ist. Das könnte zu dem Ergebnis führen, dass dieser Faktor für die Entwicklung eines bestimmten Verhaltenselements unwesentlich ist. Um aber dieses Verhaltenselement als angeboren zu erweisen, müsste man für jeden möglichen Umweltfaktor zeigen, dass er für dessen Entwicklung unwesentlich ist. Das sei jedoch nicht möglich. Die Schlussfolgerung der ‚modernen Ethologen‘, die sich damit offenbar dem Argument von Lehrman anschließt, lautet daher, dass der „Begriff des Angeborenen, auf Verhaltensbestandteile angewendet“, ohne jeden analytischen Wert ist.156 Die dargelegte Argumentation gegen die Möglichkeit einer begrifflichen Trennung angeborener und erworbener Verhaltensbestandteile, lässt sich Lorenz zufolge nicht aufrechterhalten. Der Knackpunkt ist seines Erachtens nicht die logische Gültigkeit des Arguments, sondern eine der methodologischen Erwägungen, die zu dessen Prämissen gehört. Lorenz hält es für einen „Denkfehler“ zu meinen, „daß eine wenn nicht unendliche, so doch praktisch unerreichbare Zahl kontrollierter Versuche mit Erfahrungsentzug nötig ist, um das Angeborensein eines Verhaltenselementes behaupten zu können“. Was dabei übersehen wird, so sein Punkt, sei die „Tatsache, daß jede Angepaßtheit des Verhaltens an eine bestimmte Gegebenheit der Umwelt nur aus der Auseinandersetzung mit eben dieser und keiner anderen Umweltgegebenheit entstanden sein kann“.157 Wovon wir ausgehen müssen, sind Lorenz zufolge die Tatsachen der Angepasstheit („facts of adaptedness“158), davon also, dass beispielsweise ein Stichling auf den Schlüsselreiz „unten rot“ mit dem Bewegungsmuster des Rivalenkampfes antwortet und dass 155 156 157 158
Ebd., S. 141. Ebd. Ebd., S. 150. K. Lorenz, Evolution and Modification of Behavior, Chicago, London 1965, S. 32.
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der Rivale tatsächlich unten rot ist. Dass es mit den Vorgängen der Phylogenese und der adaptiven Modifikation von Verhaltensweisen genau zwei voneinander unabhängige Mechanismen gibt, die eine Anpassung des Verhaltens bewirken, gesteht Lorenz zufolge auch die moderne Ethologie zu. Lorenz selbst drückt diesen Punkt, wie gesehen, in einem Vokabular der „Information“ aus: Durch die beiden genannten Mechanismen gelangt Information über die Gegebenheiten der Umwelt in das organische System.159 Die Frage ist dann, „ob das zu untersuchende Verhaltenselement in Gänze auf Grund genomgebundener Information funktionsfähig sei, oder ob es zusätzlicher Lernvorgänge bedürfe, um dies zu werden, und worin diese bestünden“.160 Lorenz schlägt in Evolution and Modifica tion of Behavior folgendes Verfahren zu ihrer Beantwortung vor: „All we have to do is to rear an animal, as perfectly as we can, under circumstances that withhold the particular information which we want to investigate. We need not bother about the innumerable factors which may cause ‚differences‘ in behavior as long as we are quite sure that they cannot possibly relay to the organism that particular information which we want to investigate“.161 In Bezug auf das genannte Beispiel bedeutet das: Wenn der Stichling auf die Reizkonfiguration „unten rot“ mit den im Rivalenkampf verwendeten Verhaltenselementen antwortet und wenn diese spezielle Angepasstheit in der Ontogenese eines Stichlings sich auch unter der Bedingung, dass dieser nie einen Rivalen gesehen hat, „in unveränderter Weise entwickelt, so genügt im Prinzip dieser einzige Befund zum Nachweis, daß die ‚Planskizze‘ der gesamten Struktur besagter Elemente im Genom vorhanden sei“.162 Lorenz bestreitet nicht, dass es eine ganze Reihe von Faktoren geben mag, von denen die ontogenetische Realisierung einer solchen Planskizze abhängig ist: etwa Wasser mit ausreichend Sauerstoff, ein bestimmtes Futter, vorherige Lichteinwirkungen auf die Retina und viele mehr. Sein Punkt ist aber: „Whatever wonders phenogeny may perform […] it cannot extract from these factors information which simply is not contained in them, namely, the information that a rival is red
159 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Ver haltens“, S. 142. 160 Ebd., S. 151. 161 K. Lorenz, Evolution and Modification of Behavior, S. 33. 162 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Ver haltens“, S. 151.
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underneath“.163 Von dieser Formulierung in Evolution and Modifi cation of Behavior her liegt es nahe, diese Information als „angeboren“ zu bezeichnen und den Begriff des Angeborenen insgesamt primär auf Informationen zu beziehen.164 In einem sekundären Sinn wären dann diejenigen Verhaltensbestandteile als „angeboren“ zu bezeichnen, die ihre „spezifische Angepasstheit phylogenetischen Vorgängen“165 und damit angeborenen Informationen verdanken. Auf diese Weise lässt sich aus Lorenz’ Sicht die begriffliche Trennung zwischen angeborenen und erworbenen Verhaltensbestandteilen gegen die Einwände moderner Ethologen verteidigen. Entscheidet sich die Frage nach dem Angeborenen mit Blick auf die Weise, in der Informationen, die einer bestimmten Angepasstheit des Verhaltens zugrunde liegen, in den Organismus gelangt sind, so werden Verfahren benötigt, die Frage nach der Herkunft dieser Informationen zu beantworten. Lorenz zufolge ist das wichtigste dieser Verfahren das Isolierungsexperiment, anders gesagt: das „Experiment der Aufzucht unter Erfahrungsentzug“.166 Lorenz stellt fünf methodologische Regeln auf, die bei der Durchführung solcher Experimente beachtet werden sollten. Erstens sind solche Versuche nur dann sinnvoll, wenn man von dem zu untersuchenden Verhaltensmerkmal weiß, dass es „eine arterhaltende Leistung vollbringt“. Zweitens darf von solchen Experimenten nur darüber eine unmittelbare Auskunft erwartet werden, was nicht gelernt werden muss. Drittens muss der Experimentator das gesamte Aktionssystem der untersuchten Tierart genau kennen und ein erfahrener Tierhalter sein, also mit gefangenschaftsbedingten Ausfällen und ihren Symptomen vertraut sein. Viertens muss immer „untersucht werden, ob die Versuchsanordnung, die zwecks Ausschließung bestimmter Erfahrungsmöglichkeiten getroffen werden mußte, nicht auch bestimmte Reize fernhält, die auf Grund phylogenetischer Anpassung zur Auslösung der geprüften Verhaltensweisen nötig sind“. Fünftens schließlich darf eine Übereinstimmung von Resultaten zu erbgebundenen Verhaltensweisen, die in verschiedenen Isolierungsexperimenten mit gleicher Versuchsanordnung gewon-
163 K. Lorenz, Evolution and Modification of Behavior, S. 37. 164 Vgl. dazu ebd., S. 33, S. 40. 165 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Ver haltens“, S. 147 f. 166 Ebd., S. 180.
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nen wurden, nur da erwartet werden, wo Tierarten mit „annähernd gleicher Erbanlage“ im Spiel sind.167 Für den Streit mit Lehrman ist die zweite Regel, dass Isolierungsversuche „uns unmittelbar nur sagen [können], was nicht gelernt zu werden braucht“, von besonderer Wichtigkeit. Daher möchte ich auf sie näher eingehen. Lorenz meint, Lehrman habe die Regel in seinem „Critique“-Aufsatz zwar „klar und richtig formuliert, aber nicht befolgt, indem er sich den Schlussfolgerungen von Birch und Riess anschloss, die gröblichst gegen sie verstießen“.168 Zur Erinnerung: In Experimenten der Aufzucht von Ratten unter Erfahrungsentzug hatte Riess die Ausbildung eines normalen Mutterverhaltens (Nestbauverhalten und Apportierverhalten) dadurch behindert, dass er den Käfig und die Nahrung in einer Weise präparierte, die es den Ratten verunmöglichte, mit festen Gegenständen zu interagieren, und Birch dadurch, dass er Ratten Kragen aus Gummischeiben anlegte und damit dauerhaft daran hinderte, ihre Genitalien zu lecken.169 Lorenz’ Überlegung ist nun: Insoweit Lehrman aufgrund dieser Experimente annimmt, dass Ratten erst gewisse Dinge lernen müssen, um ihr angeblich angeborenes Mutterverhalten zeigen zu können, verstößt er gegen die zweite Regel. Er glaubt entgegen dieser Regel, dass uns Isolierungsexperimente unmittelbar darüber aufklären können, ob eine bestimmte Angepasstheit wie das Nestbau- bzw. Apportierverhalten des individuellen Lernens bedarf, indem er von bestimmten Ausfällen her einen Rückschluss darauf zieht, dass sie durch einen Mangel an durch Lernen erworbenen Informationen verursacht wurden. Lorenz ist zu Recht der Auffassung, dass ein derartiger Rückschluss nicht haltbar ist. Denn solche Ausfälle können ganz andere Ursachen haben. „Wenn man ein Tier in Gefangenschaft von frühester Jugend an aufzieht, ist es ungeheuer schwer zu vermeiden, daß gewisse körperliche Schäden entstehen“, die „unabsehbare Ausfälle und Störungen der phylogenetisch angepaßten Aktions- und Reaktionsnormen zur Folge“ haben; unter „den Bedingungen des Isolierungsversuchs, die auch häufig mit den Anforderungen ideal guter Tierhaltung in Konflikt geraten“, vergrößert sich dieses Problem
167 Siehe zu diesen Regeln ebd., S. 170-177, S. 180 f. 168 Ebd., S. 171. 169 Siehe oben S. 298.
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noch einmal deutlich.170 Die aufgrund von Isolierungsexperimenten beobachteten Unvollständigkeiten im Verhalten können stets auf „pathologischen Defekten beruhen, am wahrscheinlichsten dann, wenn die Entzugsmaßnahmen massive körperliche Schädigungen setzen, wie etwa Aufzucht von Affen im Dunkeln, oder Anbringen eines Gummikragens an Ratten, der das Tier am Beriechen und Belecken des eigenen Hinterteils verhindert usw. Die unter solchen Umständen auftretenden Störungen ohne weiteres auf den Ausfall des Lernens zurückzuführen, ist naiv“.171
5. Lehrmans Schritt auf die Metaebene der Debatte Zwei Jahre vor seinem Tod hat Lehrman seiner Debatte mit Lorenz einen letzten Aufsatz hinzugefügt: „Semantic and Conceptual Issues in the Nature-Nurture Problem“ (1970). Die große Stärke dieses Beitrags liegt darin, dass er die Auseinandersetzung auf eine Metaebene hebt. Eingeleitet wird dieser Schritt durch eine Bemerkung, die sich als direkter Kommentar zu Lorenz’ Behauptung lesen lässt, die Debatte sei deshalb entstanden, weil die Ethologen offenbar die Tatsachen, die für sie fundamental sind, nicht klar genug artikuliert hätten.172 Lehrman schreibt: „Wenn sich gegensätzliche Gruppen intelligenter, hochgebildeter, fähiger Wissenschaftler jahrelang fortwährend über eine Angelegenheit, die sie für wichtig halten, uneins sind und sich sogar erbittert streiten, dann muß früher oder später offenkundig werden, daß es sich dabei nicht um einen auf Tatsachen bezogenen Widerspruch handelt: dieser Widerspruch läßt sich auch nicht einfach dadurch auflösen, daß man die Aufmerksamkeit der Mitglieder der einen Gruppe (oder sogar der anderen!) auf die Existenz neuer Daten lenkt, die ihnen endgültige Klarheit
170 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Ver haltens“, S. 171. 171 Ebd., S. 172. Siehe dazu die Replik bei D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-Dressur-Problem“ (1970), in: G. Roth (Hrsg.), Kritik der Verhaltensforschung, S. 72-117, hier S. 104 f. (Original: „Semantic and Conceptual Issues in the Nature-Nurture Problem“, in: L. R. Aronson, E. Tobach, D. S. Lehrman (Hrsg.), Development and Evolution of Behavior. Essays in Memory of Theodore C. Schneirla, San Francisco 1970, S. 17-50). 172 K. Lorenz, „The Objectivistic Theory of Instinct“, S. 51.
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verschaffen werden.“173 Was inhaltlich wie eine skeptische Diagnose klingt, die die Debatte abschließt, eröffnet zugleich eine neue Perspektive diskursanalytischer oder wissenschaftsphilosophischer Art, die den Streitgegenstand scheinbar hinter sich lässt, tatsächlich aber der Debatte selbst eine neue Richtung weisen kann. Lehrman vertritt gegen Lorenz die Auffassung, dass es andere Aspekte als Tatsachenfragen sind, die für die Auseinandersetzung wichtig sind und einer Lösung oder zumindest einer Beruhigung im Wege stehen, und zwar (1) agonale Elemente, die das Klima der Debatte prägen, (2) semantische Schwierigkeiten hinsichtlich einiger Grundbegriffe, (3) Differenzen in der Art und Weise der Kategorisierung von Tatsachen und (4) unterschiedliche Auffassungen darüber, „was ein interessantes und was ein uninteressantes Pro blem“ sei.174 (1) Agonale Elemente. Von einer „agonalen Dimension“ der Debatte lässt sich dann sprechen, wenn sich hinter bestimmten Zuschreibungen Kampfansagen verbergen, eine Würdigung der Beiträge des Gegenübers unterbleibt oder eigene Meinungsänderungen intransparent bleiben. Lehrman weist etwa auf Lorenz’ Schachzug hin, zur Einordnung der eigenen Schule von ‚uns Biologen‘ zu sprechen, dagegen aber Hebb, Schneirla und Lehrman selbst als ‚behavioristische Psychologen‘ und ihre Überlegungen als ‚behavioristische Argumente‘ zu etikettieren.175 Im Hintergrund dieser Zuschreibungen stehen Lehrman zufolge „die wiederholten Behauptungen von Lorenz und anderen Autoren“, dass bestimmte Kritiken an ihrer Position der Tatsache geschuldet sind, dass „ihre Verfasser Psychologen und daher unfähig seien, biologische Probleme zu verstehen.“176 Zusammen mit der Unterstellung, dass das in Frage stehende Sachproblem eigentlich biologischer Natur sei, lasse die Etikettierung eines Kritikers als Psychologen seine Stellungnahme als Einmischung in ein fremdes Arbeitsgebiet erscheinen und blockiere die volle Würdigung seines Diskussionsbeitrags. Abgesehen von Lehrmans berechtigter Stil-Kritik an dieser Art der Debattenführung verzerrt Lorenz’ Etikettierung auch die Sachlage. Insbesondere Schneirla, 173 D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-DressurProblem“, S. 74 (Übersetzung leicht modifiziert, M. W.). 174 Ebd., S. 74 f. 175 K. Lorenz, „Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Ver haltens“, S. 140, S. 142 f., S. 148 f. 176 D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-DressurProblem“, S. 78.
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aber auch Lehrman standen vor dem Hintergrund ihrer Arbeit am Department of Animal Behavior des American Museum of Natural History für ein Wissenschaftskonzept, das der damaligen nordamerikanischen Standard-Psychologie zuwiderlief.177 Schneirlas Arbeit war, wie Lehrman betont, „nicht im entferntesten mit der Tradition amerikanischer ‚Ratten-Psychologie‘ verwandt, auf die sich Lorenz mit dem Begriff ‚Behaviorismus‘ bezieht. Was mich betrifft“, so Lehrman weiter, „so war der Grund für den Entschluß, zusammen mit Schneirla zu forschen, identisch mit dem Grund für den Entschluß, tierisches Verhalten zu studieren: ich wollte das Verhalten von Vögeln verstehen, wie ich es in meiner Jugend in der Natur beobachtet hatte.“178 Lehrman zeigt sich damit als ein Forscher, gegen den der häufig von Lorenz ausgespielte Trumpf, seine Gegner seien keine Tierkenner und schon gar keine Tierliebhaber, nicht sticht.179 – Für die agonale Dimension einer Debatte ist in der Regel mehr als eine der Parteien verantwortlich. Für Lehrman ist die Reflexion auf seinen Streit mit Lorenz daher auch Anlass zur Selbstkritik. Er räumt ein, dass ihm seine Lorenz-Kritik von 1953 mittlerweile „wie ein Angriff auf einen theoretischen Standpunkt [erscheint], bei dem der Verfasser des Angriffs gar nicht daran interessiert war, auf die positiven Beiträge hinzuweisen, die dieser Standpunkt geliefert hatte“, und der „Elemente von Feindseligkeit“ enthalte.180 (2) Semantische Schwierigkeiten. Semantische Schwierigkeiten entspringen aus der Vermengung unterschiedlicher Verwendungsweisen ein und derselben Worte. Lehrman identifiziert eine solche Schwierigkeit in Lorenz Rede vom Angeborenen. Erstens wird der 177 Entsprechendes gilt auch für Hebb, in Bezug auf den Raymond Klein schreibt: „In the middle of the twentieth century his principled opposition to radical behaviorism, […] helped clear the way for a revolution in North American psychology“ (R. M. Klein, „Hebb, Donald Olding“, in: L. Nadel (Hrsg.), En cyclopedia of Cognitive Science, Chichester 2006). 178 D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-DressurProblem“, S. 78 f. 179 Bereits wissenschaftsbiographisch war es übrigens dieser Punkt, der kurz nach der Veröffentlichung von Lehrmans ursprünglicher Lorenz-Kritik zu einer ersten Annäherung zwischen Lehrman und einigen Vertretern der Ethologie führte. Im Juni 1954 nahmen Jan van Iersel und Gerard Baerends, die bei Tinbergen studiert hatten, an dem Internationalen Psychologie Kongress in Montreal teil, wo sie auch Lehrman kennenlernten. „What broke the ice was their discovery that he had the same passion for bird-watching that they did“ (R. J. Burkhardt, Patterns of Behavior, S. 388-390). 180 D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-DressurProblem“, S. 79.
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Ausdruck „angeboren“ auf Eigenschaften bezogen, die Genetiker als „ererbt“ oder „vererbbar“ bezeichnen. Unterschiede zwischen Individuen in diesen Eigenschaften rühren eher von Unterschieden ihrer genetischen Konstitution als von Unterschieden der Umwelten, in denen sie leben, her. Dass Zuchtwahl (etwa durch Kreuzungsversuche) „auffallende Veränderungen in den Eigenschaften der Gruppe der Organismen zur Folge haben kann, bedeutet sicherlich, daß die Eigenschaft vererbbar ist“, impliziert Lehrman zufolge „aber keineswegs, daß dieselbe Eigenschaft nicht durch die Umwelt beeinflusst werden kann“. Im Gegenteil, die Eigenschaft mag sich je nach Art der Umwelt phänotypisch unterschiedlich ausprägen. Die Tatsache, dass eine Eigenschaft in genetischer Hinsicht vererbbar ist und damit für Individuen der folgenden Generation als angeboren gelten kann, weil sie in einer bestimmten Umwelt „auffallend durch Zuchtwahl […] beeinflußt sein kann“, hat also „nicht direkt etwas mit der Frage zu tun, ob Umweltveränderungen während der Entwicklung des Organismus eine Wirkung auf die Art der Entwicklung des adulten Phänotyps haben könnten oder nicht“. Zweitens wird der Ausdruck „angeboren“ aber auf genau solche Eigenschaften bezogen, deren Entwicklung nicht durch Umwelteinwirkungen beeinflusst werden kann, das heißt mit „Entwicklungsstarrheit“ verknüpft. Es geht Lehrman in diesem Diskussionskontext nicht um die Frage, ob „Angeborensein“ im Sinne der Unveränderbarkeit durch Umwelteinflüsse „ein für die Anwendung auf Verhaltenseigenschaften brauchbarer und sinnvoller Begriff ist“, sondern nur um die Feststellung, dass sich diese Verwendung des Terminus von derjenigen unterscheidet, die mit der Veränderbarkeit durch Zuchtwahl einhergeht.181 Sein Punkt ist dann, dass diese semantische Differenz in dem Moment zu einer semantischen Schwierigkeit wird, in dem es zur Vermischung der beiden Verwendungsweisen kommt. Das aber sei bei Lorenz der Fall, beispielsweise wenn er in seiner Begründung dafür, „dass der Begriff ‚angeboren‘ zulässig ist, zugleich die Tatsache als Beweis anführt, daß der Abkömmling eines Hybriden an den Verhaltenseigenschaften beider Elternarten teilhat, wie auch die Tatsache, daß Lernen die Entwicklung dieser betreffenden Verhaltenseigenschaften nicht beeinflußt“182; oder wenn er von Verhaltensmustern so spreche, „als seien sie schon in der Planskizze im Genom enthalten, im Gegensatz zu einer Abhängigkeit 181 Ebd., S. 79-81. 182 Ebd., S. 81; vgl. S. 84.
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von Erfahrung“, gleichzeitig aber vermerke, dass „die Muster, die als ‚Planskizze‘ im Genom enthalten sind, sich durch individuelle Erfahrung entwickeln können oder auch nicht“.183 (3) Differenzen in der Kategorisierung. Der verhaltenswissenschaftliche Streit um das Angeborene kann so erscheinen, als ob sich ein Kritiker der Kategorie des Angeborenen im Sinne einer vollständigen Disjunktion darauf festlegen muss, dass alles Verhalten erworben ist. Lehrman hält diesen Eindruck für irreführend und meint, er werde durch eine unausgewiesene kategoriale Vorentscheidung erzeugt. Sie besagt, dass „jedes Verhaltenselement eindeutig als ‚angeboren‘ oder ‚erlernt‘ klassifizierbar sein“ muss und lässt daher etwaige „Zweifel an der Brauchbarkeit des Begriffs ‚angeboren‘ […] unweigerlich wie ein Beharren auf der Behauptung erscheinen, alles Verhalten müsse zur anderen Kategorie gehören!“184 Lehrman möchte jedoch nicht einen Pol der mit der genannten kategorialen Vorentscheidung gesetzten Dichotomie gegen den anderen ausspielen. Vielmehr geht es ihm darum, die Dichotomie selbst zu durchbrechen.185 Die dazu erforderliche alternative Kategorisierung erfolgt unter der Überschrift „Entwicklung“. Das haben schon zwei Titel zu Unterabschnitten in Lehrmans ursprünglicher Lorenz-Kritik zum Ausdruck gebracht: „Maturationvs.-learning, or development?“ und „Heredity-vs.-environment, or development?“.186 Schneirla verdeutlichte den Punkt auf der bereits erwähnten Konferenz in Paris, bei der es auch zu der ersten persönlichen Begegnung von Lorenz und Lehrman gekommen war. In seinem bereits erwähnten Vortrag „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in Instinctive Behavior“ formuliert er einen Ansatz, 183 Ebd., S. 98. Die semantische Schwierigkeit mit dem Ausdruck „angeboren“ wird zudem zu einer pragmatischen Schwierigkeit, wie man es nennen kann, wenn Positionsverschiebungen in sie eingehen, die nicht als solche kenntlich gemacht werden. Lehrman beobachtet, dass Lorenz’ später Begriff des An geborenen nicht mehr so stark wie der frühere die Entwicklungsstarrheit als wesentliches Kriterium impliziert. Daher habe es „etwas Unpassendes an sich, wenn Lorenz darauf besteht, alle Kritik an seinem Standpunkt beruhe auf der Unwissenheit der Kritiker, während er gerade einige seiner Vorstellungen ver ändert, um der Kritik entgegenzukommen“ (ebd., S. 115). 184 Ebd., S. 95. 185 Ebd., S. 77: Wir stellten „den Wert der Dichotomie selbst in Frage, ohne bei ihr die eine oder andere Seite besonders zu betonen“. 186 D. S. Lehrman, „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“, S. 343, S. 345.
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der auf eine Rekategorisierung derjenigen Tatsachen hinausläuft, die Lorenz in Begriffen des Instinkts und des Angeborenseins fasst: „Undeniably, the influence of genetic constitution is expressed somehow in the functions and behavior of every animal. [...] The ‚instinct problem‘ therefore centers around the occurence of behavior that may be termed species-stereotyped or species-specific, speciescharacteristic or species-typical. [...] The simplest answer might seem to be that species-typical behavior is inherited, as nativistic theories suggest; yet the unreliability of the criteria for innateness reminds us that the genes do not directly translate themselves into behavior by any means. Between the fertilized ovum and properties of the mature organism lie the complex process of development.“187 Das Problem des ‚Instinkts‘ besteht darin, auf den verschiedenen phyletischen Ebenen die multifaktoriellen Entwicklungsprozesse untersuchen zu müssen, die zu artspezifischem Verhalten führen. Die Organisation solcher Verhaltensmuster wird Schneirla zufolge jedoch nicht durch die genetische Beschaffenheit des Organismus determiniert, sie entwickelt sich vielmehr stufenweise „through the interrelationships of intrinsic and extrinsic factors influencing growth and differentiation.“ Die kategoriale Konsequenz wird von Schneirla klar benannt: „In a strict theoretical sense the terms ‚innate‘ and ‚acquired‘ cannot therefore be applied validly to behavior or the organization of behavior. Accordingly, it is suggested that the term ‚instinct‘ be retired from scientific usage, except to designate a developmental process resulting in species-typical behavior.“188 An die Stelle des Lorenz’schen Begriffspaars „angeboren – erlernt“ tritt bei Schneirla „Reifung – Erfahrung“. Von einer stärker dynamischen Warte betrifft die Kategorie der Reifung die Tatsachen, im Blick auf die Lorenz von angeborenen Verhaltensweisen spricht. Sie umfasst zusammen mit dem Wachstum des Organismus „the excitatory and stimulative effects that arise through growth processes and influence further stages of development.“ Damit ist aber nur ein Grundmoment in Entwicklungsprozessen identifiziert; das andere ist „Erfahrung“. Mit dieser Kategorie bezeichnet Schneirla „the effects of extrinsic stimulation upon development and behavior“, womit eine großer Phänomenbereich angesprochen 187 T. C. Schneirla, „Interrelationships of the ‚Innate‘ and the ‚Acquired‘ in In stinctive Behavior“, S. 389 f., vgl. S. 392. 188 Ebd., S. 430. Siehe auch die Diskussion des Vortrags mit Lorenz’ Widerspruch dagegen und Schneirlas Antwort (ebd., S. 439-442).
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ist, der „from the influence of biochemical changes and growthinduced activities to an afferent input variously aroused, with possible trace effects not usually classed as ‚learning‘ (e. g., cases of sensory adaption)“ reicht. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Begriffspaaren „angeboren – erlernt“ und „Reifung – Erfahrung“ besteht darin, dass die beiden letzteren Kategorien sich Schneirla zufolge nicht trennscharf voneinander unterscheiden. „Stimuli at first effective externally may, at a later stage, function through their organic traces, as admitted by and in interaction with new orders of function which have entered meanwhile“. Außerdem reiche „Erfahrung“ weiter als Lernen: „It is only at later stages that learning, a higher order of process resulting from ‚experience‘, contributes to behavioral development.“189 (4) ‚Interessante‘ und ‚uninteressante‘ Probleme. Verschiedene Kategorisierungen führen zu und sind Ausdruck von unterschiedlichen Einschätzungen darüber, welche Fragen jeweils als relevant oder irrelevant gelten. Lorenz, so Lehrman, ist „ganz einfach nicht an der Art von Frage interessiert […], auf die sich Schneirlas Konzeption bezieht.“190 Nun mögen verschiedene Verhaltensforscher dem Problem der Entwicklung ein ganz unterschiedliches Gewicht geben und unterschiedliche Arten des Verhaltens oder Entwicklungsstadien in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Allerdings gelte es festzuhalten, so Lehrman weiter, dass diese Differenzen „nichts mit Tatsachen zu tun haben, wohl aber mit dem, was jede der Parteien für ein interessantes Problem oder eine heuristisch bedeutsame Frage hält.“191 Den verschiedenen grundbegrifflichen Orientierungen und den mit ihnen einhergehenden Ordnungen von interessanten und uninteressanten Problemen entsprechen unterschiedliche Forschungsprogramme. Lehrman erläutert das am Beispiel der Normalität, auf das Lorenz unter anderem in seiner Diskussion der Isolierungsexperimente eingegangen war. Seines Erachtens gehen mit dem Interesse an der Entwicklungsanalyse des Verhaltens (Schneirla, Lehrman) und dem Interesse an Anpassung und stammesgeschichtlicher Veränderung des Verhaltens (Lorenz) sehr verschiedene „Einstellung[en] zu einigen Problemen der Kausalität und Abnormität“ einher. Wem 189 Alle Zitate des Absatzes finden sich ebd., S. 401 und 405. 190 D. S. Lehrman, „Semantische und begriffliche Fragen beim Natur-DressurProblem“, S. 91. 191 Ebd., S. 92.
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es wie Lorenz um die „Einzelheiten der Struktur und des Verhaltens [gehe], durch die der Organismus auf komplizierte Weise an die Einzelheiten seiner Umwelt angepaßt wird“, für den sei „die Entwicklung des normalen Genoms in der normalen Umwelt hin zu dem normalen Resultat bloß der Hintergrund für die Erzeugung dessen, wofür er sich in Wirklichkeit interessiert“. Er werde daher dazu neigen, den Entwicklungsprozess „von seinem Vorwissen über das Resultat“ her zu betrachten und eine durch Umweltmodifikation verursachte Änderung des Prozesses „wie eine ‚Abweichung‘ vom ‚normalen‘ Entwicklungsprozess“ zu beurteilen. Wem es dagegen wie Schneirla und Lehrman selbst um ein analytisches Verständnis der Entwicklungsprozesse gehe, „muß eine ganz andere Einstellung gegenüber dem ‚Normalen‘“ einnehmen. Für einen solchen Forscher seien „die normale und die anomale Umwelt ganz einfach zwei Arten, auf die der sich entwickelnde Organismus beeinflußt wird; und gerade durch Betrachtung dessen, wie die Entwicklung durch irgendeine besondere Umweltveränderung gewandelt wird, gelangt er zu einem Verständnis für die Mechanismen der Entwicklung.“192 Zum einen – bei Lorenz – komme Entwicklung daher insofern in Betracht, als sich etwas „in jedem Stadium in Richtung auf die funktionale Form hin entwickelt, da ja eben die funktionale Form adaptiv ist und da ja die natürliche Auslese Genome auswählte, die in einer natürlichen Umwelt die funktionale Form hervorbringen“. In dieser Perspektive verstellen die provozierten Abweichungen von ‚normalen‘ Entwicklungsprozessen die Möglichkeit, die adaptiven Struktur- und Verhaltensmerkmale des Organismus zu studieren. Zum anderen dagegen – bei Schneirla und Lehrman selbst – komme Entwicklung insofern in Betracht, als sich etwas „in jedem Stadium aus dem unmittelbar vorhergehenden Stadium heraus entwickelt“, da es um ein Verständnis der Prozesse geht, die Entwicklungsveränderungen hervorrufen.193 In dieser Perspektive führt erst die experimentelle Modifikation der ‚normalen‘ Bedingungen zu einem Wissen um die kausalen Faktoren, die die Entwicklung bestimmen. Zum Abschluss seines Aufsatzes von 1970 nimmt Lehrman noch einmal dessen Grundmotiv auf. Die Debatte zwischen Lorenz und ihm selbst um den Begriff des Angeborenen ist kein Streit um Tatsachen. Lehrman hat im Einzelnen herausgearbeitet, dass sich die Streitpunkte vielmehr aus semantischen Schwierigkeiten, 192 Dieses und die vorigen Zitate finden sich in ebd., S. 112. 193 Ebd., S. 113.
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Differenzen in der Kategorisierung und unterschiedlichen Einschätzungen darüber ergeben, welche Probleme interessant und welche uninteressant sind. Als ein Resultat der Erörterung des letzten Punktes hält er nun fest: Die „Biologen, die sich primär für die Verhaltensfunktionen und für die Natur der Verhaltensanpassungen interessieren, die durch natürliche Auslese erreicht werden“ – gemeint ist vor allem Lorenz –, und die „Erforscher der Entwicklung“ – etwa Schneirla und Lehrman selbst – sprechen „tatsächlich über verschiedene Probleme“.194 Wenn es ein Missverständnis war, dass die Debatte ein Tatsachenstreit ist, und es den Protagonisten im Kern um verschiedene Probleme ging, war ihre Kontroverse dann vergebens? Nein. Einerseits hat sie zur Schärfung der Grundbegriffe, zu einer Klärung der Problemlage und zur Selbstreflexion der jeweiligen Forschungsprogramme geführt. Andererseits lassen die Protagonisten der Debatte keinen Zweifel daran, dass sie, mögen sie auch verschiedene Probleme behandeln, einen gemeinsamen Gegenstand haben: das Verhalten. Von dieser Warte aus betrachtet ist die Ergebnislosigkeit der Debatte darin begründet, dass es den Protagonisten nicht gelungen ist, ihre Forschungsansätze mit Blick auf diesen gemeinsamen Gegenstand zu bündeln und deren wechselseitige Fruchtbarkeit auszuloten. In einer Art vorsichtig optimistischem Ausklang der Debatte nennt Lehrman immerhin eine notwendige Bedingung dafür: „Eine Einigung über die Definition der Begriffe, mit denen wir arbeiten, sollte doch möglich sein, so daß verwirrende Bedeutungen vermieden und wechselseitige Mißverständnisse auf ein Minimum reduziert werden könnten.“195 Doch Lehrman sieht auch, dass der bisherige Verlauf der Debatte wenig Anlass zu Optimismus gibt, und kommt am Ende seines Aufsatzes noch einmal auf das Motiv der agonalen Dimension der Debatte als Verständigungshindernis zurück.196
6. Vermittlungen und Fortsetzungen In einer Debatte, die verfahren in dem Sinn ist, dass die diskursiven Spielzüge der Protagonisten, aus welchen Gründen immer, nicht mehr verfangen, bedarf es eines Dritten. Für die Geschichte 194 Ebd., S. 114. 195 Ebd. 196 Siehe im Einzelnen ebd., S. 114 f.
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der Kontroverse zwischen Lorenz und Lehrman ist wichtig, dass es einen solchen Dritten tatsächlich gab: Nikolaas Tinbergen. Wie oben erörtert, suchte Tinbergen bereits zu einem frühen Zeitpunkt nach Vermittlungslinien und hat schon auf der Internationalen Konferenz über „Group Processes“ in Ithaca (1954) den Anstoß zur Entwicklung einer Forschungsagenda gegeben, mit der sich sowohl amerikanische Psychologen als auch europäische Ethologen identifizieren können. Doch es gelang ihm zunächst nicht, diesen Anstoß mit einer befriedigenden konzeptionellen Basis zu versehen. Tinbergen hat diese Aufgabe dann in seinem wohl berühmtesten Aufsatz „On Aims and Methods of Ethology“ (1963) wieder aufgenommen und ins Zentrum gestellt. Der Text war Konrad Lorenz zum 60. Geburtstag gewidmet. Tinbergen wiederholt dort seine Definition der Ethologie als „the biological study of behavior“.197 Allerdings hat er nun einen Weg gefunden, der Gefahr zu entgehen, dass dieses Unternehmen in einen Kontrast zu jeder Art psychologischer Untersuchung des Verhaltens gerät: Der Sinn, in dem die Untersuchung des Verhaltens „biologisch“ ist, wird integrativ gefasst. Tinbergen schreibt: „The biological method is characterised by the general scientific method, and in addition by the kind of questions we ask, which are the same throughout Biology and some of which are peculiar to it. Huxley likes to speak of ‚the three major problems of Biology‘: that of cau sation, that of survival value, and that of evolution – to which I should like to add a fourth, that of ontogeny. […] Ethology has to give equal attention to each of them and to their integration“.198 Als Probleme der Biologie betreffen die genannten Aspekte beliebige Merkmale von Organismen. In Bezug auf ein solches Merkmal lässt sich fragen: „How does it work?“ (Causation), „What it is good 197 N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, in: Zeitschrift für Tierpsy chologie, 20/1963, S. 410-433, hier S. 411. Tinbergen insistiert damit übrigens auf einer Definition, die Lorenz auf der Konferenz in Ithaca (1954) zugunsten der Bestimmung „the branch of research started by Oskar Heinroth“ kritisiert hatte. Siehe N. Tinbergen, „Psychology and Ethology as Supplementary Parts of a Science of Behavior“, S. 77. Auf Lorenz’ Bestimmung lässt sich offenbar kein umgreifendes Forschungsprogramm gründen. Um das in dem Festschrift- Aufsatz nicht direkt sagen zu müssen, hat Tinbergen dort eine weitere Be griffsbestimmung hinzugefügt, die dem feierlichen Anlass gerecht wird, für die Begründung eines solchen Programms aber ebenso wenig geeignet ist: Lorenz sei „the father of modern Ethology“ (N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 410, S. 430). 198 N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 411.
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for?“ (Survival value), „How did it evolve over the history of the species?“ (Evolution) und „How did it develop during the lifetime of the individual?“ (Ontogeny).199 Um seinen Begriff von Ethologie zu spezifizieren, bezieht Tinbergen diese Fragen auf das Verhalten von Organismen. Dabei ist die Hinzunahme des vierten Problems – Ontogenese – der entscheidende Schachzug in Hinblick auf sein Ziel der Etablierung eines gemeinsamen Forschungsprogramms. Denn nun lässt sich die von Schneirla und Lehrman vertretene Richtung, die Entwicklung (development) des Verhaltens zu erforschen, in die Ethologie einbeziehen. Das ist auch von der Sache her gerechtfertigt, da diese ontogenetische Forschungsrichtung (zumindest aus Tinbergens Sicht) gezeigt hatte, dass sich die in der „europäischen Ethologie“ vertretene Konzeption des Angeborenen nicht aufrechterhalten lässt.200 Tinbergen wertet damit den Umstand, dass an dieser Stelle eine grundlegende Kritik greifen konnte, als Indiz dafür, dass man sich innerhalb desselben Forschungsparadigmas bewegt.201 Der von ihm gegenüber Schneirla verwendete Ausdruck „American ethologist“ erhält damit über seine geographische Bedeutung hinaus auch eine systematische und methodologische Bedeutung. Er verweist auf die ontogenetische Untersuchung des Verhaltens und daher auf einen integrativen Bestandteil der Ethologie.
199 Die ersten beiden Fragen finden sich wörtlich bei N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 417; die anderen beiden Fragen entnehme ich der Rekonstruktion von P. Bateson, K. Laland, „Tinbergen’s Four Questions: An Appreciation and an Update“, in: Trends in Ecology & Evolution, 28/2013, S. 712-718, hier S. 712. Dieser Aufsatz enthält übrigens eine Auseinandersetzung mit Tinbergens Fragen in Hinblick auf den aktuellen Forschungsstand in der Biologie. 200 Siehe dazu N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 424 f. 201 Lorenz, dem Tinbergens 1963 erschienener Aufsatz gewidmet war, dürfte das anders gesehen haben. An seiner hier im 4. Abschnitt dargestellten Kritik an Lehrman und Tinbergen hatte sich von seinem Aufsatz „Phylogenetische An passung und adaptive Modifikation des Verhaltens“ (1961) zu der ausführ licheren englischen Fassung Evolution and Modification of Behavior (1965) keine grundsätzliche Änderung ergeben. Seine Position ließe sich meines Er achtens im Kontrast zu der oben verwendeten Formulierung folgendermaßen fassen: Der Umstand, dass Kritik an einem Grundbegriff – dem des Angebore nen – geäußert wird, ist als Indiz dafür zu werten, dass diese Kritik von außen, von einem anderen Forschungsparadigma her kommen muss. Gemäß dieser Logik hatte Lorenz auch Tinbergen selbst eine Außenposition zugewiesen, als er 1961 und 1965 die kritische Rede von den modernen, englisch publizieren den Ethologen einführte.
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Allerdings insistiert Tinbergen nicht auf dem umgreifenden Sinn des Terminus „Ethologie“. Er beabsichtige nicht, „to claim the name Ethology for this whole science“; seine These sei vielmehr, „that we are witnessing the fusing of many sciences, all concerned with one or another aspect of behaviour, into one coherent science, of which the only correct name is ‚Biology of behaviour‘“.202 Die darin angesprochene Fusion sollte allerdings nicht einfach als ablaufender faktischer Prozess, sondern als Erfolgsbedingung für Tinbergens Vermittlungsprojekt verstanden werden. Die angestrebte Vermittlung kann nur gelingen, wenn sich zwischen den vier Themenfeldern – Verursachung, Funktion, Entwicklung und Evolution des Verhaltens – Beziehungen aufbauen und stärken lassen, die die Kohärenz der anvisierten „Verhaltensbiologie“ vergrößern.203 Tinbergen möchte unter dem Titel „Biology of behaviour“ einen Rahmen etablieren, in dem sich die Konfliktparteien verorten können und der ihnen ein Forum zur Kooperation bietet. Statt an dieser Stelle auf die genaue Beschaffenheit dieses Rahmens einzugehen, möchte ich im Folgenden einige ihm vorgelagerte bzw. für ihn grundlegende Punkte hervorheben. Tinbergen selbst ist der Auffassung, dass es eine Frageebene gibt, die den vier Themenfeldern der Verhaltensforschung vorgeordnet ist und ihnen als gemeinsamer Bezugspunkt dienen kann. Dafür spricht jedenfalls, dass er nach der Nennung dieser Felder und vor den vier Abschnitten, die sie behandeln, einen eigenen Abschnitt einschaltet. Dieser „Observation and Description“ betitelte Abschnitt macht auf eine grundlegende Frageebene aufmerksam. Sie lässt sich meines Erachtens in drei Bereiche gliedern: 1. Beobachtung und Beschreibung. Als biologische und damit empirische Wissenschaft geht die Verhaltensforschung davon aus, dass Verhalten ein beobachtbares Phänomen ist. Zudem muss sie induktiv verfahren, zunächst also die Verhaltensrepertoire möglichst vieler Tierarten erfahrungsgesättigt beschreiben. Damit klärt sie, was jeweils in den verschiedenen Feldern der Verhaltensbiologie untersucht werden soll. Tinbergen ist sich aller202 N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 430. 203 Zu Aktualität und Fortschritt dieses Projekts siehe M. S. Dawkins, „Tribute to Tinbergen: Questions and How to Answer Them“, in: Ethology, 120/2014, S. 120-122; P. Bateson, K. Laland, „Tinbergen’s Four Questions: An Appreciation and an Update“; J. Bolhuis, S. Verhulst (Hrsg.), Tinbergen’s Legacy. Function and Mechanism in Behavioral Biology, Cambridge (UK), New York 2009.
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dings darüber bewusst, dass die Beobachtung nicht insofern als Nullpunkt der Theorie gelten kann, als sie einen von theoretischen Aspekten unabhängigen Blick auf das Phänomen erlauben würde: „Description is never, can never be, random; it is in fact highly selective, and selection is made with reference to the problems, hypotheses and methods the investigator has in mind“.204 2. Abgrenzung von anderen Forschungsrichtungen. Zur grundlegenden Frageebene gehört auch eine erste Abgrenzung der anvisierten Verhaltensbiologie gegenüber anderen Forschungsrichtungen. Als Ausgangspunkt dafür kann Lorenz’ Bemerkung im „Russischen Manuskript“ dienen, das Verhalten sei „das Lebendigste von allem Lebendigen“.205 Tinbergen greift das gewissermaßen auf, wenn er den Impuls der am „living animal“ interessierten frühen Ethologen gegen eine „Comparative Anatomy“ beschreibt: „[They] went out to see for themselves what animals did with all the organs portrayd in anatomy handbooks and on blackboards, and seen, discoloured, pickled and ‚mummified‘ in standard dissections“.206 Was sie dabei für die Wissenschaft entdeckten, war „an entire unexplored world“, gegenüber der sich auch das Gebiet arm ausnahm, das die zeitgenössische Psychologie mit ihrer Tendenz untersuchte, „to concentrate on a few phenomena observed in a handful of species which are kept in impoverished environments“ – zumal wenn sich in dieser Tendenz auch in methodischer Hinsicht ein Überspringen der „preliminary descriptive stage“ manifestierte. 3. Klärung des Verhaltensbegriffs. Ein für die grundlegende Frageebene der anvisierten Verhaltensbiologie maßgeblicher Bereich betrifft das Verhalten selbst. Es ist nicht nur zu klären, wie derjenige Zugang beschaffen ist, auf den Untersuchungen zu den vier Themenfeldern angewiesen bleiben (Beobachtung und Beschreibung), und wie sich die anvisierte Verhaltensbiologie kontrastiv auszeichnet (Abgrenzung von anderen Forschungsrichtungen), sondern auch, wie dasjenige grundbegrifflich zu bestimmen ist, um dessen Zugänglichkeit und verhaltensbiologische Erforschung es geht. Was also ist Verhalten? Tinbergen widmet dieser Frage in seinem Aufsatz keine eigene Diskussion. Einige seiner Bemerkungen weisen aber darauf hin, dass er den 204 N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 412. 205 K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen, S. 15. 206 N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 412.
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Verhaltensbegriff nach zwei Seiten hin abgrenzt. Verhalten ist einerseits, anders als der Mechanismus meint, mehr als bloße Bewegung in Raum und Zeit.207 Der Überschuss des Verhaltens gegenüber bloßer Bewegung darf aber andererseits nicht, wie der Subjektivismus meint, in die subjektive Erfahrung verlegt werden, die „per definition can be observed by no one except the subject“.208 Der an Lorenz und letztlich an Heinroth und Whitman anknüpfende Lösungsvorschlag Tinbergens für dieses Problem besteht in der Konzeption von „behaviour patterns (and by implication the mechanisms underlying them) as organs, as attributes with special functions to which they were intricately adapted“.209 In der (näher auszugestaltenden) Organ-Sicht des Verhaltens ist das Lebewesen durch sein Verhalten in eine Innen und Außen umgreifende Beziehung zur Umgebung gesetzt, die einerseits sinnhaft ist, ohne andererseits irgendeiner Art der kausalen Analyse im Wege zu stehen. Die Debatte zwischen Lorenz und Lehrman ist mittlerweile ein Klassiker großer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Systematische Bezugnahmen auf sie und ihre Protagonisten sind in jüngerer Zeit allerdings selten geworden. Wo sie dennoch stattfinden, scheint meist Lehrman als der fruchtbarere Denker zu gelten.210 Ein einschlägiges aktuelles Beispiel dafür ist die Theorie der Entwicklungssysteme (Developmental Systems Theory). Diese Forschungsrichtung versucht, Biologie ohne Dichotomien wie „angeboren – erworben“, „Gen – Umwelt“ und „Biologie – Kultur“ zu betreiben, und lässt sich (wenn hier auch nur relativ grob und abstrakt) durch einige ihrer Hauptthemen kennzeichnen: Jede biologische Eigenschaft wird durch die Interaktion vieler Entwicklungsressourcen hervorgebracht; keine einzige Art 207 Vgl. N. Tinbergen, „On Aims and Methods of Ethology“, S. 413: „[W]hat we call behaviour is, even in its relatively simple forms, something vastly more complex than the types of movements which were then the usual objects of physiological study“. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Etwas älter, aber sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist T. Johnston, „The Persistence of Dichotomies in the Study of Behavioral Development“, in: Developmental Review, 7/1987, S. 149-182; vgl. auch T. Johnston, „Toward a Systems View of Development. An Appraisal of Lehrman’s Critique of Lorenz“, in: S. Oyama, P. Griffiths, R. Gray (Hrsg.), Cycles of Contingency. Developmental Systems and Evolution, Cambridge (Mass.) 2001, S. 15-23.
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von Faktor kontrolliert den Entwicklungsprozess; Entwicklung ist in hohem Maße kontextsensitiv und damit unvorhersehbar; Vererbung ist ein nicht nur genetischer, sondern multidimensionaler und multifaktorieller Prozess; nicht nur Entwicklung, sondern auch Evolution ist im Sinne eines konstruktivistischen Interaktionismus zu verstehen.211 – Lehrman gilt zusammen mit Kuo und Schneirla als einer der Ahnherren der Theorie der Entwicklungssysteme. Daher ist auch sein Aufsatz „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“ in dem bislang wichtigsten und viele aktuelle Beiträge umfassenden Sammelband dieser Forschungsrichtung – knapp 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung – erneut abgedruckt worden.212 Neuere systematische Untersuchungen der historischen Debatte zwischen Lorenz und Lehrman halten jedoch auch bestimmte Aspekte der Position von Lorenz für anschlussfähig. So hat Peter Marler dafür argumentiert, dass eine von Lorenz inspirierte Konzeption des Angeborenen sich im Kontext der Diskussion phänotypischer Plastizität (Mary Jane West-Eberhard) als haltbar und fruchtbar erweist.213 Außerdem hat Rodrigo de Sá-Nogueira Saraiva eine Neubewertung der Lorenz’schen Ethologie vorgeschlagen: Er begreift diese historisch als Ausweitung und Aktualisierung der Uexküll’schen Umweltlehre und möchte sie vor diesem Hintergrund systematisch als eine Forschungsrichtung erneuern, die nicht nach physiologischen Erklärungen des Verhaltens sucht, sondern dessen Angepasstheit und die Interaktion von Organismen mit ihrer Umwelt mit Hilfe von funktionalen Begriffen analysiert.214 Und selbst das für die klassische Ethologie zentrale Konzept des Angeborenen scheint einer Neubewertung zugänglich zu sein.
211 S. Oyama, P. Griffiths, R. Gray, „Introduction: What Is Developmental Systems Theory?“, in: dies. (Hrsg.), Cycles of Contingency. Developmental Systems and Evolution, Cambridge (Mass.) 2001, S. 1-11. Vgl. auch K. Stotz, „Organismen als Entwicklungssysteme“, in: U. Krohs, G. Toepfer (Hrsg.), Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2005, S. 125-143. 212 In: S. Oyama, P. Griffiths, R. Gray (Hrsg.), Cycles of Contingency, S. 25-39. 213 P. Marler, „Innateness and the Instinct to Learn“, in: Anais da Academia Bra sileira de Ciências, 76(2)/2004, S. 189-200. 214 R. de Sá-Nogueira Saraiva, „Classic Ethology Reappraised“, in: Behavior & Philosophy, 34/2006, S. 89-107. – Zu Uexküll vgl. den Beitrag von Brentari im vorliegenden Band.
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Im Kontext aktueller nativistischer Strömungen der Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaft215 spielt Lorenz direkt zwar keine positive Rolle mehr. Gleichwohl findet sich dort eine Zurückweisung der Kritik am Begriff des Angeborenseins, wie sie mit Blick auf Lorenz entwickelt wurde. Eine solche Kritik formuliert Paul Griffiths, der ähnlich wie schon Lehrman argumentiert, dass der Begriff „angeboren“ in grundsätzlicher Weise konfus ist, weil er eine Reihe von Eigenschaften durcheinanderwirft, die voneinander logisch unabhängig und auch empirisch trennbar sind. Griffiths nennt: (i) evolutionär erklärbar, (ii) in seiner Entwicklung gegenüber der Veränderung ‚äußerer‘ Faktoren unempfindlich, (iii) von Geburt an (oder früher) anwesend, (iv) universal im Sinne von überkulturell oder nur eine Form annehmend, (v) nicht erlernt sein.216 Lorenz stellt Griffiths zufolge einen wichtigen Anwendungsfall dieser Kritik dar, da er ein Autor sei, der zwischen dem Vorliegen einer dieser Eigenschaften (z. B. evolutionäre Erklärbarkeit) und dem Vorliegen einer anderen (z. B. Unempfindlichkeit gegenüber Umgebungsveränderungen in der individuellen Entwicklung) inferentielle Zusammenhänge bzw. zwischen diesen Eigenschaften selbst begriffliche Zusammenhänge voraussetzt.217 Im vorliegenden Kontext ist es daher interessant, dass Griffiths’ allgemeine Kritik am Begriff des Angeborenseins aus nativistischer Perspektive zurückgewiesen wurde, und zwar von Richard Samuels. Samuels nennt die genannten fünf Eigenschaften „I-properties: I for innate and for independent“.218 Zwar bestreitet er nicht, dass die I-properties in wirklichen Fällen getrennt auftreten können, und gesteht daher auch zu, dass vom Vorliegen einer dieser Eigenschaften nicht ohne Weiteres auf das Vorliegen einer anderen geschlossen werden kann. Er insistiert allerdings darauf, dass der Begriff „angeboren“ selbst keineswegs konfus ist, und schlägt zwei Varianten
215 Siehe die dreibändige Aufsatzsammlung P. Carruthers, S. Laurence, S. Stich (Hrsg.), The Innate Mind, 3 Bde., Bd. 1: Structure and Contents, Bd. 2: Culture and Cognition, Bd. 3: Foundations and the Future, Oxford, New York 2005, 2006, 2007. 216 Vgl. P. E. Griffiths, What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories, Chicago, London 1997, S. 55-64, insbesondere S. 59. 217 Ebd., S. 60. Griffiths beruft sich an der gemannten Stelle ausdrücklich auf die schon von Lehrman formulierte Kritik an Lorenz. 218 R. Samuels, „Is Innateness a Confused Concept?“, in: P. Carruthers, S. Laurence, S. Stich (Hrsg.), The Innate Mind, Bd. 3: Foundations and the Future, Oxford, New York 2007, S. 19.
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vor, ihn zu verteidigen. Die erste Variante bezieht I-properties auf Behauptungen über das Angeborensein von Merkmalen: Dass ein Merkmal eine oder mehrere I-properties besitzt, ist keine notwendige Bedingung dafür, kann aber als Beleg dafür gewertet werden, dass das Merkmal angeboren ist. Die zweite Variante greift auf ein von Griffiths selbst akzeptiertes Verständnis von natürlichen Arten zurück und konzipiert Angeborensein als eine natürliche Art im Sinne von homöostatischen Eigenschaftsclustern (homeostatic property clusters). Auf diese Weise verstandene natürliche Arten sind Samuels zufolge mit einer Reihe von Symptomen (Eigenschaften) verbunden, die zwar keine notwendigen Bedingungen für Artzugehörigkeit sind, aber bei Instanzen dieser Art tendenziell zusammen auftreten, wobei es gewisse kausale Mechanismen gibt, die dieses gemeinsame Auftreten erklären. Dieser Variante zufolge verhalten sich die I-properties so zum Angeborensein wie die Symptome in der genannten Konzeption natürlicher Arten zu den zugrunde liegenden kausalen Mechanismen.219 Samuels arbeitet diese Verteidigung des Begriffs „angeboren“ für die Zwecke der gegenwärtigen Kognitionswissenschaft aus. An Lorenz ist er nicht interessiert. Indem er aber die auf diesen gemünzte Kritik von Griffiths zurückweist, eröffnet er zugleich die Möglichkeit einer systematischen Wiederanknüpfung an Lorenz’ Konzeption des Angeborenen. Die Geschichte der Verhaltensforschung, das war der mit Franz Wuketits markierte Ausgangspunkt des vorliegenden Aufsatzes, ist wesentlich eine Geschichte von Kontroversen. Die Auseinandersetzung zwischen Daniel Lehrman und Konrad Lorenz ist wegen ihrer Dynamik, Intensität und Grundsätzlichkeit ein Paradebeispiel für eine solche Kontroverse. Die Protagonisten waren über einen Zeitraum von fast 20 Jahren fortwährend wechselseitig herausgefordert, die eigenen Konzepte, Methoden, Argumente, Theorien und Modelle zu überprüfen und zu schärfen. Dass sie selbst nicht zu einer Einigung gefunden haben, tut der Fruchtbarkeit ihrer Auseinandersetzung keinen Abbruch. Zum einen gelten bestimmte Aspekte ihrer Positionen nach wie vor als anschlussfähig und zum anderen führte ihre Auseinandersetzung doch insofern zu einem wichtigen Resultat, dass Tinbergen der Kontroverse in „On Aims and Methods of Ethology“ einen analytischen Rahmen gegeben hat, der der Verhaltensforschung bis heute Orientierung bietet und in keinem ihrer Lehrbücher fehlen darf. 219 Ebd., S. 23 f.
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Die Auseinandersetzung zwischen Lehrman und Lorenz ist auch in wissenschaftsphilosophischer Hinsicht aufschlussreich. Ihre im vorliegenden Aufsatz durchgeführte Rekonstruktion unter Einbeziehung der jeweiligen Forschungsrahmen und insbesondere dessen, was ich im ersten Abschnitt als die ‚methodologische Signatur‘ der Forschungsansätze bezeichnet habe, öffnet den Blick für das Projekt einer vergleichenden Philosophie der Tierforschung. In dieser allgemeinen Perspektive wird die Vergleichbarkeit von verschiedenen Forschungsansätzen durch die Identifizierung ihrer methodologischen Signaturen und der systematischen Beziehungen zwischen deren Kenngrößen (Referenztiere, Leistungen, kategoriale Vorentscheidungen, Forschungsmethoden und -praktiken, Wissenschaftsideal, philosophische Implikationen etc.) hergestellt. Da die Referenztiere mit zu diesen Kenngrößen gezählt werden und die anderen Kenngrößen beeinflussen können, lässt sich mit dem Konzept der methodologischen Signatur auch die Tierrelativität von Forschungsansätzen thematisieren. Ebenso wie die Untersuchung der Geschichte der Verhaltensforschung wird auch die vergleichende Philosophie der Tierforschung ihr Hauptaugenmerk auf Kontroversen legen müssen. Allerdings wird sie sich nicht allein an realgeschichtlichen Auseinandersetzungen orientieren können, sondern auch tatsächlich ausgebliebene, aber systematisch interessante Konfrontationen zwischen Forschungsansätzen auf wissenschaftsphilosophisch reflektierte Weise durchspielen. Dabei wird sie die Differenzen zwischen den Forschungsansätzen sowohl anhand der einzelnen Kenngrößen der jeweiligen methodologischen Signatur als auch anhand der jeweiligen Beziehungen zwischen diesen Kenngrößen in einer Signatur ausmachen. Das erlaubt es ihr, die an den jeweiligen Signaturen ablesbaren Differenzen der Forschungsansätze mit Differenzen des Wissens um die Tiere, das diese Ansätze liefern, und mit Differenzen der Tiere selbst zu korrelieren. Das Ziel dabei ist, sichtbar zu machen und zu erklären, in welcher Weise wissenschaftliche Tiervorstellungen und Resultate von Forschungsansätzen und in welcher Weise Forschungsansätze von bestimmten Tieren abhängig sind.
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Von der reduktionistischen zur kognitiven Verhaltensbiologie Wie Verhaltensbiologen über Kognition bei Tieren streiten – Forschungen über die Navigation bei Insekten
Eine Ameise läuft zielstrebig von ihrem Nest zu einer Futterstelle. Wird die Sonne abgeschattet und über einen Spiegel von der anderen Seite gezeigt, dreht sie sofort um 180° um und läuft denselben Weg zurück. Der Forscher schließt, die Ameise orientiert sich nach der Sonne. Dann wiederholt er dasselbe Experiment unter verschiedenen Bedingungen und findet das gleiche Ergebnis. Er schließt, die Ameise navigiert nur mit Hilfe der Sonne. Eine Biene findet in einem weiß gestrichenen Raum eine Futterstelle zwischen zwei schwarzen Zylindern. Werden die Zylinder in ihrer Position verändert, sucht die Biene stets an der Stelle nach Futter, die am besten zu der Erinnerung an die Position der Zylinder passen, die sie beim Anflug an die Futterstelle vorher gelernt hatte. Der Forscher schließt, dass Bienen zur Lokalisation eines Ziels ein Gedächtnisbild der Umgebung lernen und dann die beste Passung zwischen aktuell gesehener Position der schwarzen Zylinder und dem Gedächtnis einstellen. Dann wiederholt er das Experiment unter verschiedenen Bedingungen und bestätigt das Ergebnis. Er schließt, Bienen lokalisieren ein Ziel ausschließlich auf der Grundlage eines visuellen Passungsprozesses zwischen erinnertem Umgebungsbild und der gerade wahrgenommen Umgebung. Eine Wüstenameise läuft sehr schnell in suchenden Kurven über den heißen Sand. Plötzlich findet sie eine Beute. Sie nimmt sie in ihre Mandibel und läuft sehr schnell auf einer geraden Strecke zu ihrem Erdnest zurück. Der Forscher schließt, die Ameise verwendet den Mechanismus der Wegintegration, um zu ihrem Nest zurück zu finden. Im nächsten Experiment fängt der Forscher die Ameise in dem Moment ein, indem sie die Beute findet. Er transportiert sie in eine andere Gegend, wo er sie frei lässt. Er beobachtet, dass sie denselben geraden Lauf einschlägt, dabei denselben Winkel zur Sonne einhält und über die gleiche Entfernung läuft. Der Forscher schließt, die Ameise verwendet nur die Wegintegration für ihre Navigation. Bienen werden an eine Futterstelle über einige hundert Meter von ihrem Stock dressiert. Wenn https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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eine Biene sich vollgesaugt hat und sich anschickt, zum Stock zurück zu fliegen, wird sie eingefangen und über einige Hundert Meter entfernt an einer unerwarteten Stelle aufgelassen. Der Forscher beobachtet, dass sie genau in der Richtung abfliegt, die sie eingeschlagen hätte, wäre sie nicht transportiert worden. Der Forscher schließt, dass sich die Biene so wie die Wüstenameise verhält: sie verwendet einen Wegintegrationsmechanismus, der sie unter diesen Bedingungen nicht zum Stock zurückführt. Die Experimente werden unter verschiedenen Dressur- und Testbedingungen wiederholt. Stets fliegt die Biene nicht in die Richtung zum Stock, sondern in die Richtung, die korrekt wäre, wenn sie nicht transportiert worden wäre. Der Forscher schließt, dass Bienen sich ausschließlich nach einem egozentrischen Wegintegrationsmechanismus orientieren, denn sie nehmen keinen Bezug auf die durch den Transport zu dem unerwarteten Ort veränderten Umweltbedingungen und verhalten sich so, als ob sie das Bezugssystem (Winkel zu einem Kompass) mit sich führen (egozentrisch). Diese Beispiele wurden aus einem Bereich der Verhaltensforschung gewählt, über den ich hier berichten werde. Die Versuchstiere dieser Forschung sind soziale Insekten, die zu einem Nest zurückkehren. Sie können nur in der sozialen Gemeinschaft überleben, und sie haben alle ihre Erkundungen der Umwelt von dem Nest aus durchgeführt. Sie eignen sich hervorragend für Studien ihres Heimkehrvermögens, weil sie gut dressiert werden können und in großer Zahl in definierten Motivationszuständen zur Verfügung stehen. Im Fall der Bienen kommt hinzu, dass sie sich innerhalb des Nestes vermittels eines sozialen Kommunikationssystems, den Schwänzeltanz, über die Flugstrecken zu einem Ziel in symbolischer Weise verständigen, sodass der Forscher als außenstehender Beobachter eine Möglichkeit hat, etwas über den Austausch des Wissens über die Umgebung zu erfahren. Außerdem haben diese kleinen Tiere besonders kleine Gehirne. Man sollte also annehmen, dass sie so komplexe Navigationsaufgaben, wie ich sie in den obigen Beispielen angedeutet habe, mit einfachen sensorischen und neuronalen Mechanismen lösen. Die Literatur über Navigationsleistungen von sozialen Insekten ist recht umfangreich.1 Die Logik des Experimentierens folgt da1
T. S. Collett, M. Collett, „Memory Use In Insect Visual Navigation“, in: Na ture Reviews Neuroscience, 3(7)/2002, S. 542-552; R. Menzel, U. Greggers, „The memory structure of navigation in honeybees“, in: Journal of Compara
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bei in etwa dem oben beschriebenen Schema. Ausgehend von einer Beobachtung wird eine engere Arbeitshypothese formuliert. Dann werden Serien von Experimenten durchgeführt, die sich sehr nahe an den experimentellen Bedingungen der ersten Beobachtung halten. Aus diesen wird dann ein genereller Schluss gezogen. Ich werde zeigen, warum diese experimentelle Strategie sehr leicht in die Irre führt. Ich werde auch zeigen, welche nicht ausgesprochenen epistemischen Ansätze hinter dieser Strategie stecken. Ein wichtiger Gesichtspunkt wird dabei das so genannte Parsimonie-Argument sein, also die Auflage an den Experimentator, stets die einfachsten Erklärungen für ein Phänomen zu wählen und kompliziertere oder aufwendigere Erklärungen nicht in Betracht zu ziehen. Diese Auflage hat sich in der Verhaltensbiologie und insbesondere in der Navigationsforschung als eine Barriere für den Übergang von traditionellen Erklärungsansätzen und kognitiven erwiesen, und stellt daher auch eine Barriere für die Verknüpfung von Verhaltensbiologie und Neurowissenschaft dar. In diesem Zusammenhang werde ich die Frage stellen, welche Ziele die Verhaltensforschung neben dem einer möglichst angemessenen Beschreibung von Verhaltensweisen bei Tieren hat. Meine These wird sein, dass ein wesentliches Ziel sein muss, die verhaltensanalytisch zugänglichen Fähigkeiten so einzuschränken, dass nach Antwort in der Neurowissenschaft gesucht werden kann. Innerhalb der Lebenswissenschaften ist die Verhaltensbiologie die Disziplin, in der die Datenerfassung in besonders hohem Maße von der Einstellung und den Erwartungen des Experimentators abhängt. Meine Darstellung wird sich eng an einen experimentellen Datensatz halten, an dem sich die internen Diskussionen in dieser Disziplin besonders anschaulich darstellen lassen. Allerdings wird es dazu notwendig sein, etwas genauer in das experimentelle Design und die Durchführung der Versuche hineinzuschauen, weil sich ein weiterer Gesichtspunkt als wichtig erweisen wird, nämlich die eingesetzte Methodik. Seit dem Schock, den die Verhaltensbiologie mit dem Fall des so genannten ‚klugen Hans‘ erfahren hat,2 ist die objektive und vollständige Datenerfassung eine zentrale und
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tive Physiology A. Neuroethology, Sensory, Neural and Behavioral Physiology, 201(6)/2015; R. Wehner, R. Menzel, „Do insects have cognitive maps?“, in: An nual Review Neuroscience, 13/1990, S. 403-414. L. Samhita, H. J. Gross, „The ‚Clever Hans Phenomenon‘ revisited“, in: Com municative and Integrative Biology, 6(6)/2013, S. e27122.1-3.
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schwierige Aufgabe der Verhaltensbiologie. Methoden sind daher begrenzende Faktoren der Verhaltensforschung. Ich werde die These vertreten, dass empirische Entscheidungen zwischen alternativen Hypothesen nur im Zusammenwirken mit der Neurowissenschaft möglich sind.
1. Das experimentelle Paradigma Honigbienen erkunden die Umgebung ihres Stockes, bevor sie ihre Sammelflüge beginnen. Dabei lernen sie die nähere und die weitere Umgebung schrittweise kennen, kalibrieren ihren Sonnenkompass und ihr Entfernungsmesssystem. Die dabei gebildeten Gedächtnisse verwenden sie bei ihren weiteren Sammelflügen, um effektiv (also möglichst energieeffizient und mit geringstem Risiko) ihre Sammelflüge durchzuführen und über wichtige Orte im Gelände zu kommunizieren. Die Frage, die wir hier stellen, ist: Welche Struktur hat dieses Landschaftsgedächtnis? Ich werde mich hier auf zwei Experimente konzentrieren, anhand derer sich die Fragestellung diskutieren lässt. Zwei Vorbemerkungen sind nötig (1) zur eingesetzten Methodik und (2) zur Kommunikation innerhalb des Bienenvolkes mit dem Schwänzeltanz. (1) Solange man Bienen nur mit dem Auge über etwa 30 m im Flug verfolgen konnte, hatte man den Eindruck, dass sie mit einem egozentrischen Wegintegrationsmechanismus navigieren (siehe unser letztes Beispiel oben in der Einleitung). Dies ist aber nicht der Fall, denn sie kehren sicher und in kurzer Zeit zum Stock zurück. Dabei kann man ausschließen, dass sie das Ziel sehen, und dass sie das Panorama des Horizonts für die Navigation verwenden, weil die Untersuchungen in einer Gegend vorgenommen wurden, in der der Horizont keine Struktur aufweist, die vom Insektenauge aufgelöst werden kann. Für die Erforschung der Navigation setzen wir ein spezielles Radargerät ein, um die Versuchsbiene im Flug kontinuierlich zu verfolgen. Das erlaubt uns, zu erkennen, welche Flugstrecken sie zurücklegt und wie sie nach Hause findet. Dabei verfolgt man ihre direkten Flüge, die sie zurück zum Stock bringen. (2) Karl von Frisch entdeckte, dass Bienen einen Schwänzeltanz durchführen, mit dem sie den umstehenden Bienen mitteilen, über welche gerade Flugstrecke sie das angegebene Ziel (eine Futterstelle, eine neue Niststelle) erreichen können, wenn ein solcher direkhttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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ter Flug auch möglich ist. Der Schwänzeltanz codiert die gerade Flugstrecke in einem Vektor. Die Richtung des Fluges relativ zum augenblicklichen Sonnenstand wird in dem Winkel der Schwänzelphase relativ zur Schwerkraft auf der vertikalen Wabe im dunklen Stock angegeben. Die Entfernung vom Stock zu der angegebenen Stelle wird in der Anzahl der Schwänzelbewegungen (und anderen damit zusammenhängenden Parametern wie die Schwänzelzeit oder die Zeit für einen Umlauf) codiert. Es ist bemerkenswert, dass kein anderes Tier über eine solche symbolische Kommunikation eines Ortes verfügt. In unserem Zusammenhang wird von Bedeutung sein zu fragen, was kommuniziert wird: die Flugstrecke (wie ich das bisher zurückhaltend ausgedrückt habe) oder aber der Ort? Im ersteren Fall erhält die nachfolgende Biene ausschließlich eine Information über die gerade Flugstrecke vom Stock zum mitgeteilten Ziel, und die nachfolgende Biene hätte diese Anweisung ohne Bezug auf ihr eigenes Landschaftsgedächtnis auszuführen. Es würde also eine Fluganweisung vermittelt. Im zweiten Fall würde die Biene einen Ort angeben, den die nachfolgende Biene aus ihrem Landschaftsgedächtnis während des Kommunikationsprozesses aufruft. Ein Ort ist nicht nur durch seine räumliche Lage bestimmt, sondern auch durch eine Reihe von Eigenschaften, die sowohl das tanzende Tier wie auch das nachfolgende gespeichert haben müssen. Dazu gehört etwa der räumliche Bezug zu Landmarken, der Weg zu dem Ort (die Biene muss vielleicht, wie Karl von Frisch gezeigt hat, um eine Bergnase herumfliegen), die Tatsache, dass die nachfolgende Biene bereits Erfahrung mit dem Ort hat oder gerade keine Erfahrung, dass sie Erfahrung mit dem im Tanz übermittelten Geruch oder/und Geschmack hat (oder gerade nicht hat), und manche andere Informationen, die davon abhängen, ob das nachfolgende Tier bestimmte eigene Erfahrungen in den Kommunikationsprozess einbringt. Hat das nachfolgende Tier Erfahrung über die angezeigte Stelle gesammelt (z. B. darüber wie reichhaltig die Futterstelle ist, welchen Duft sie hat, wie die Blüte zu manipulieren ist, ob Nektar oder Pollen zu sammeln ist, etc.), dann könnte sie ihre Entscheidung, ob sie der Tanzinformation folgt, von dieser Erfahrung abhängig machen. In einem solchen Falle hätte das nachfolgende Tier bestimmte Erwartungen nicht nur über den Ort, sondern auch über dessen Eigenschaften und darüber, welche Landschaftsmerkmale es auf dem Weg dorthin und in seiner Umgebung erwarten kann. Aus diesen kontrastierenden Formulierungen wird deutlich, dass gänzlich verschiedene Annahmen über die beteiligten https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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kognitiven Prozesse während des Kommunikationsgeschehens, der Entscheidungsfindung und der anschließenden Navigation möglich sind. Die sich hier stellenden Alternativen sind paradigmatische Fälle der Verhaltensbiologie, weil aus den deskriptiven Zugängen auf zugrunde liegende Mechanismen geschlossen werden soll. Meine Argumente werden sich auf zwei Arten von Versuchen zur Navigation und Kommunikation bei Bienen beziehen. Im ersten Experiment werden erfahrene Sammelbienen auf eine Futterstelle FD (Abb. 1) einige hundert Meter vom Stock entfernt dressiert (gestrichelte Linie in Abb. 1). Dann wird eine dieser Bienen in dem Moment abgefangen, in dem sie sich anschickt, zum Stock zurück zu fliegen. Diese Biene wird zu einem entfernten Auflassort (AO) transportiert, dort mit einem Radar Transponder ausgestattet aufgelassen und ihr Flug wird mit dem Radar verfolgt. Wie Abb. 1 zeigt, fliegt die Biene erst entlang einem Vektor, den sie eingeschlagen hätte, wäre sie nicht transportiert worden (Vektorflug), dann führt sie Suchflüge durch (Suchflug), um daran anschließend geradewegs zum Stock zurück zu fliegen (Rückflug). Dieser Rückflug erfolgt über Entfernungen, die ausschließen, dass sie das Ziel beim Einschlagen des Rückflugs sehen konnte. Weiterhin erfolgen die Rückflüge ringsherum um den Stock und nicht nur von einer bestimmten Richtung. Das zweite Experiment nimmt folgenden Verlauf. Erfahrene Sammelbienen werden auf den Ort FD dressiert (Abb. 2A). Nach zwei bis drei Tagen erhalten sie dort keine Fütterung mehr. Da die Experimente im Herbst durchgeführt werden und keine weiteren natürlichen Futterstellen in dem Gelände vorhanden sind, bleiben
Abb. 1
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die dressierten Bienen nach einigen erfolglosen Besuchen an dieser Stelle im Stock. Dort folgen sie einer Tänzerin, die den Ort FT anzeigt. Wenn diese Tiere den Stock verlassen, werden sie mit dem Radar in ihrem Flug beobachtet. Manche Tiere fliegen zuerst zu FD, andere zu FT. Dies hängt davon ab, wie viele Schwänzelläufe sie verfolgt haben. Folgen sie vielen, dann fliegen sie zuerst zu FT, folgen sie wenigen, dann fliegen sie zuerst zu FD. Abbildung 2B zeigt eine exemplarische Flugspur. Für die Entfernungen von 300 m zwischen dem Stock und FD bzw. FT fliegen die Bienen sowohl für die 30° wie für die 60° Winkel zwischen den Strecken ‚Stock – FD‘ und ‚Stock – FT‘ von FD zu FT oder von FT zu FD, je nachdem, wo sie zuerst ankommen. Für die Entfernungen von 650 m zwischen Stock und FD oder FT fliegen sie diese direkte Strecke nur bei einem Winkel von 30° zwischen den Strecken ‚Stock – FD‘ und ‚Stock – FT‘. Wenn also die Strecke zwischen den Orten FT und FD gleich weit ist wie die Strecke zurück zum Stock, dann fliegen sie diese Strecke nur bei kürzeren Entfernungen und nicht bei längeren Entfernungen. Zu beachten ist, dass diese Strecke zwischen FD und FT (oder umgekehrt FT und FD) weder von den Tieren vorher schon mal geflogen wurde, noch im Tanz mitgeteilt wurde. Es handelt sich also um eine Flugstrecke, die neu für die Tiere ist und die kürzeste Verbindung zwischen zwei Orten darstellt, die sie weder aus eigener Erfahrung kennen noch aus der Tanzkommunikation. In der englischen Literatur hat sich für diese neue Route der Begriff novel shortcut eingebürgert, und diesen werde ich im Folgenden verwenden.
Abb. 2A
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2. Was soll erklärt werden? Im ersten Experiment soll geklärt werden, wie die Biene ihren Weg zum Stock zurück findet. Bestimmte einfache Erklärungen können aufgrund der Bedingungen, unter denen das Experiment durchgeführt wurde, ausgeschlossen werden. Eine Orientierung zu einem aus der Ferne sichtbaren Ziel kann ausgeschlossen werden, weil die Biene den Stock erst sehen kann, wenn sie sich näher als 30 m davon befindet. Auch der Duft, der von dem Stock ausgeht, kann als orientierendes Merkmal ausgeschlossen werden, weil die Rückkehrleistung der Biene nicht von der Windrichtung abhängt. Das Horizontprofil als Orientierungsmarke kann ebenfalls ausgeschlossen werden, weil dieses nicht zur Verfügung stand, allerdings werde ich einen Einwand später diskutieren, der sich auf diese Orientierungsmarke bezieht. Der direkte Rückflug kann als ein novel shortcut bezeichnet werden, denn aufgrund der Landschaftsstruktur (Nahrungsangebot) ist es außerordentlich unwahrscheinlich, dass die Biene einen solchen Flug bereits früher durchgeführt hat. Außerdem zeigte sich in vielen Experimenten mit unterschiedlichen Auflassorten, dass Bienen aus allen Richtungen einen direkten Heimflug durchführen können. Im zweiten Experiment (Abb. 2A, B) besteht die auffälligste Leistung der Biene darin, dass sie einen novel shortcut Flug zwischen zwei Orten durchführt, die durch unterschiedliche Arten der Kenntnis charakterisiert sind, die sie über die betreffenden Orte hat: einmal die eigene Erfahrung mit dem Ort FD, zum anderen die Tanzinformation über den Ort FT. In beiden Experimenten kann die Biene auch nicht die Wegintegration verwenden, um den novel shortcut Flug durchzuführen.
3. Die elementaren Erklärungen (1) Gezielte Rückkehr zum Stock: Elementare Erklärungen vermeiden die Annahme, dass die Tiere über eine Raumrepräsentation verfügen, die sie über ihren augenblicklichen Ort und den angestrebten Ort in einer Weise informiert, dass direkte Flüge zwischen diesen Orten möglich sind. Da Wegintegration (die Tiere wurden ja zum Auflassort im Dunklen transportiert), Zielorientierung (das Ziel ist nicht sichtbar und auch nicht riechbar) und Passung des Panoramas https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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(es gab kein Horizontpanorama) ausgeschlossen wurden, verbleibt nur eine Möglichkeit. Angenommen die Tiere haben während ihrer Erkundungsflüge Landmarken in der Umgebung so gelernt, dass sie von diesen direkt zum Stock zurückkehren können. Der zugrunde liegende Lernvorgang könnte in etwa so erfolgen: Auf den Erkundungsflügen berechnet ein neuronaler Mechanismus der Wegintegration kontinuierlich den möglichen direkten Rückflugvektor. Ein solcher Mechanismus beruht auf einer ständigen Verrechnung der rotatorischen Komponenten (Flugrichtung relativ zum Sonnenkompass) und der translatorischen Komponenten (Wegstrecken, die in der betreffenden Richtung zurückgelegt werden). Dieser „Autopilot“ im Bienengehirn stellt in jedem Moment den direkten Rückflugvektor zur Verfügung, der nun mit einer auffälligen Landmarke, über die das Tier gerade fliegt, assoziiert wird. Solche auffälligen Landmarken müssen also unterschieden und in einer Weise gelernt werden, dass bei Wiedererkennen der direkte Rückflugvektor aufgerufen wird. Diese Erklärung benötigt keine Annahme einer räumlichen Verknüpfung zwischen den auffälligen Landmarken, sondern lediglich die Annahme einer Assoziation zwischen jeder dieser Landmarken getrennt mit dem Ort des Stockes. Es handelt sich also um die These eines egozentrischen Navigationssystems, weil das Tier sich nur auf eigene Bezugsgrößen (Heimkehrvektor) bezieht. Bewiesen wurde das Vorhandensein eines solchen Lernverhaltens nicht, aber es liegt nahe, es anzunehmen, denn die Tiere erlernen Bodenstrukturen bei ihren ersten Ausflügen aus dem Stock, wobei sie sicher den Wegintegrationsmechanismus nutzen, um zum Stock zurück zu fliegen. Wenn eine solche elementare Erklärung abgelehnt werden soll, muss nachgewiesen werden, dass ein egozentrisches Navigationssystem einen bestimmten Datensatz nicht erklären kann. (2) Novel shortcut Flüge zwischen gelerntem Ort und über Tanzkommunikation erfahrenen Ort: Für die elementare Erklärung ist es unbedeutend, wie die Flugvektoren zum gelernten Ort und zum über Tanz vermittelten Ort repräsentiert sind, beide Vektoren brauchen nur in einem gemeinsamen egozentrischen System gespeichert werden. In einem solchen Fall lässt sich der novel shortcut Flug als einfache Vektoraddition (Triangulation) verstehen. Auch bei diesem Fall wären die betreffenden Orte (Stock, FD und FT) nicht in einer gemeinsamen räumlichen Repräsentation gespeichert, sie sind ausschließlich durch die egozentrischen Vektoren verknüpft. Natürlich müssen weitere Annahmen zum Wechsel der Motivation https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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gemacht werden, denn die Tiere sind ja anfänglich für einen Ausflug gestimmt, und dann letztlich für einen Heimflug.
4. Die kognitive Erklärung In der Navigationsforschung werden kognitive Erklärungen unter der Rubrik „kognitive Karte“ geführt. Das Konzept der kognitiven Karte hat zwei wesentliche historische Wurzeln. Tolman,3 der den Begriff einführte, wies in vielfältigen Laborexperimenten vor allem an Ratten nach, dass die Tiere eine Repräsentation ihrer Umwelt (Irrgärten) entwickeln, die es ihnen erlaubt, Wege so zu planen, dass sie den kürzesten Weg entsprechend der gerade herrschenden Situation wählen können. Erfahren die Tiere z. B. eine Blockierung eines von mehreren Wegen durch den Irrgarten, dann wählen sie den nächst möglichen, kürzesten Weg ohne ausprobierende Suchbewegungen. Ein Kriterium für dieses angepasste Verhalten fand Tolman in den novel shortcuts, also dem Einschlagen von neuen Wegen, über die auf kürzester Strecke das Ziel erreicht werden kann. Auch wenn Tolman nicht immer die Experimente so anlegte, dass sich elementare Erklärungen ausschließen ließen, wiesen seine Experimente aber doch auf die gravierenden Mängel der elementaren Erklärungen in der vorherrschenden behavioristischen Denkweise hin, die darin bestanden, dass Assoziationsketten zwischen lokalen Marken und Körperwendungen als einzige Erklärung angenommen wurden. Der Ethologe Kramer4 führte Experimente mit Tauben durch, aus denen er schloss, dass Tauben auf ihren exploratorischen Flügen topographische Kenntnisse über die Landschaft erlangen, die sie in Kompass Systeme einbetten. Sowohl Tolmans Ratten im Labor als auch Kramers Tauben im Freiland verfügen über die Fähigkeit, ein Ziel ohne sensorischen Zugriff zu diesem Ziel anzusteuern. Die Leistungen von Kramers Tauben waren schwerer für die Behavioristen zu erklären, aber eine Kombination der oben beschriebenen elementaren Erklärungen konnte auch hier angeboten werden. Sowohl Tolman als auch Kramer lehnten die elementaren Erklärungen ab, weil sie keine Indizien für assoziative Verknüpfun3 4
E. C. Tolman, „Cognitive maps in rats and men“, in: Psychological Review, 55(4)/1948, S. 189-208. G. Kramer, „Experiments on bird orientation“, in: Ibis, 94(2)/1952, S. 265-285.
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gen zwischen dem augenblicklichen Standort des Tieres und dem Zielort liefern konnten. Beide Forscher entwickelten daher die Vorstellung einer topographischen Repräsentation vieler Landmarken, also einer Gedächtnisstruktur, die sich als Karte auffassen lässt, eine kognitive Karte. Tolman entwickelte seine Konzepte in einer Zeit, in der die Verhaltensbiologie vom Behaviorismus geprägt war und stieß deshalb auf schroffe Abwehr, obwohl er ganz im Sinne des Behaviorismus seine Experimente mit Labortieren durchführte und diese Versuche so aufbaute, dass die Aussage erst durch sorgfältig ausgewählte Kontrollexperimente abgesichert war. Im Behaviorismus waren nur Aussagen über die Beziehungen zwischen Eingangs- und Ausgangsbezügen, also zwischen Stimulus-Bedingungen und einfachsten Verhaltensweisen der Tiere erlaubt. Erklärungen, die auf die Funktionsweise des Gehirns, insbesondere seine Spontaneität und seine eigenständige Tätigkeit (denken im weitesten Sinne, planen, Absichten oder Ziele verfolgen, vorausschauende Wertungen durchführen) zielten, wurden vehement zurückgewiesen. Selbst solche Begriffe wie ‚Gedächtnis‘, ‚Erwartung‘, ‚Überraschung‘ durften nicht herangezogen werden. Kramers Arbeiten waren eingebettet in die Tradition der Ethologie, aber auch hier wurde die Vorstellung einer metrischen Organisation des Navigationsgedächtnisses, das auf individueller Erfahrung beruhte, nicht begrüßt. Zu sehr war die Ethologie auf angeborene Verhaltensdispositionen fokussiert, als dass ein solcher geradezu radikaler Ansatz zur Erklärung eines sehr komplexen Verhaltensrepertoires akzeptierbar erschien. Noch heute leidet die Ethologie unter der geringen Berücksichtigung des Lernvermögens und der Autonomie der Gedächtnisbildung.
5. Einwände gegen die kognitive Erklärung Die kognitive Erklärung hat die Eigenschaft, vielfältige Einzelleistungen auf einer integrierenden Ebene zusammen zu führen, während elementare Erklärungen unabhängige Teilfunktionen annehmen. Die elementare Erklärung kommt dem experimentellen Vorgehen entgegen, weil das einzelne Experiment stets nur einen kleinen Satz von Parametern oder gar nur einen einzelnen Parameter untersucht. Wie in den Beispielen in der Einführung deutlich wird, beruht der experimentelle Zugang auf der Isolierung solcher https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Teilfunktionen, die dann als ausschließliche oder bedeutsamste interpretiert wird. Natürlich orientiert sich die Ameise nicht nur nach der Sonne oder anhand der Wegintegration. In anderen Situationen wird sie sich nach Duftspuren, nach der Windrichtung oder Landmarken orientieren, sowie nach manchem mehr, was wir möglicherweise jetzt noch nicht kennen. Ihr Verhalten wird auch von der individuellen Erfahrung und von der Motivation abhängen. Natürlich lokalisiert eine Biene einen Ort nicht nur nach der relativen Lage zu den gleichzeitig wahrgenommenen Sehobjekten, sondern auch nach dem Flugvektor zu dem Ort, seiner Lage zu langgestreckten Landschaftsmerkmalen, zu den Duftspuren, die vom Wind zu dem Tier getragen werden, und vielem mehr. Die Navigation ist wie viele andere Verhaltensweisen in einem vielfältigen Parameterfeld eingebettet, und es ist für den Experimentator geradezu zwingend, dass er bestimmte Parameter ausschließt und einzelne isoliert untersucht. Daraus erwächst aber das Problem, dass dann allzu schnell diese einzelnen Leistungen isoliert betrachtet und als hinreichend für jede Sorte von Navigation interpretiert werden. Ein Einwand gegen die kognitive Erklärung der Ergebnisse der beiden oben dargestellten Experimente beruht auf dem Argument, dass die novel shortcuts einfach das Ergebnis einer Vektoraddition sind.5 In unseren Darstellungen der beiden Experimente,6 haben wir diese elementare Interpretation ausführlich diskutiert, aber argumentiert, dass sie als eher unwahrscheinlich angesehen werden kann. Allerdings konnten wir keinen entscheidenden Datensatz vorweisen, der dies belegen würde. Dies haben wir jedoch in einem neuen Experiment nachgeholt, das auf folgendem Design beruht.7 Das Vektoradditionsargument basiert auf der Annahme, dass die 5 6
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H. Cruse, R. Wehner, „No need for a cognitive map: decentralized memory for insect navigation“, in: PLoS Computational Biology, 7(3)/2011, S. e1002009. R. Menzel, U. Greggers, A. Smith, S. Berger, R. Brandt, S. Brunke, G. Bundrock, S. Hulse, T. Plumpe, F. Schaupp, E. Schuttler, S. Stach, J. Stindt, N. Stollhoff, S. Watzl, „Honey bees navigate according to a map-like spatial memory“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences U. S. A., 102(8)/2005, S. 30403045; R. Menzel, A. Kirbach, W.-D. Haass, B. Fischer, J. Fuchs, M. Koblofsky, K. Lehmann, L. Reiter, H. Meyer, H. Nguyen, S. Jones, P. Norton, U. Greggers, „A common frame of reference for learned and communicated vectors in honeybee navigation“, in: Current Biology, 21(8)/2011, S. 645-650. J. F. Cheeseman, C. D. Millar, U. Greggers, K. Lehmann, M. D. Pawley, C. R. Gallistel, G. R. Warman, R. Menzel, „Way-finding in displaced clock-shifted bees proves bees use a cognitive map“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences U. S. A., 111(24)/2014, S. 8949-8954.
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Bienen ihren novel shortcut (direkter Rückflug zum Stock oder der Futterstelle im ersten Experiment, direkter Flug zwischen FT und FD im zweiten Experiment) mit Hilfe des Sonnenkompasses durchführen, denn alle zur Vektoraddition herangezogenen Vektoren sind auf den Sonnenkompass bezogen. Ein Test dieser Annahme müsste also darin bestehen, die Sonne gegenüber der Erde mit ihren Landmarken zu drehen und zu prüfen, ob die Tiere dann noch ihre novel shortcuts korrekt durchführen. Das Drehen der Position der Sonne gegenüber der Erde haben wir dadurch erreicht, dass wir die Tiere sechs Stunden lang narkotisierten. Während der Narkose bleibt die innere Uhr nahezu vollständig stehen und stellt sich erst nach Tagen wieder auf ihren korrekten Wert ein.8 Wir fanden, dass die Tiere wie erwartet ihren anfänglichen Vektorflug (siehe Abb. 1) so durchführen, dass sie die Sonne um 90° gegenüber der Erde verdreht wahrnehmen. Anschließend fliegen sie aber genauso direkt zu ihrem Stock zurück wie die Kontrollbienen. Das bedeutet, dass sie für den Rückflug nicht den Sonnenkompass einsetzen, weder für die Vektoraddition noch für das Auslesen von Heimflugvektoren, die mit bestimmten Landmarken assoziiert sein könnten. Letzteres wird in dem Modell von Cruse und Wehner9 angenommen. Vielmehr müssen sie nach dem Erkennen der unerwarteten (nämlich falschen) Landmarken auf dem Vektorflug die räumliche Anordnung der Landmarken dazu verwenden, ihre korrekte Lokalisation zu erkennen und nun einen novel shortcut Flug einschlagen, der den Sonnenkompass (und damit alle von ihm abgeleiteten Eigenschaften) ignoriert und sich ausschließlich nach der Anordnung der Landmarken orientiert. Diese Leistung ist allerdings ohne eine kognitive Karte im Sinne von Tolman und Kramer nicht verständlich. Unsere Kollegen haben aber auch gegen diese Interpretation zwei Argumente vorgetragen: (1) Die Tiere könnten innerhalb des kurzen Vektorflugs ihre verstellte innere Uhr und damit ihren Sonnenkompass korrigieren, und (2) die Tiere könnten sehr wohl das
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J. F. Cheeseman, E. C. Winnebeck, C. D. Millar, L. S. Kirkland, J. Sleigh, M. Good win, M. D. Pawley, G. Bloch, K. Lehmann, R. Menzel, G. R. Warman, „General anesthesia alters time perception by phase shifting the circadian clock“, in: Pro ceedings of the National Academy of Sciences U. S. A., 109(18)/2012, S. 70617066. H. Cruse, R. Wehner, „No need for a cognitive map: decentralized memory for insect navigation“.
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Horizontprofil zur Navigation heranziehen.10 Diese Argumente konnten recht einfach auf der Grundlage bereits publizierter Daten zurückgewiesen werden.11 Diese auf der Ebene eines renommierten Journals ausgetragene Kontroverse zeigt, wie stark Einwände gegenüber einer kognitiven Interpretation nach wie vor sind, und mit welchem Nachdruck das Konzept der kognitiven Karte als Erklärung für Navigationsleistungen abgelehnt wird.
6. Der Weg ins Gehirn Verhaltensanalysen haben das Ziel, die zugrunde liegenden proximaten (auf die Gehirnfunktionen zielenden) und die ultimaten (aufgrund der evolutiven Verwandtschaftsverhältnisse abgeleiteten) Mechanismen aufzuklären.12 Im ersteren Fall bereiten sie neuronale Analysen vor, im zweiten dienen sie evolutiven Argumenten, mit denen phylogenetische Beziehungen zwischen Tierarten aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Verhältnisse aufgeklärt werden sollen. Ich beschränke mich hier auf die proximaten Ziele. Die zentrale Frage ist in diesem Fall: Wonach suchen wir im Gehirn, um die Navigationsleistungen auf ihre neuronalen Mechanismen zurück zu führen? Die Vorstellungen, wie das Gehirn solche Leistungen zustande bringt, unterscheiden sich offensichtlich gravierend zwischen den elementaren und den kognitiven Erklärungen. Im ersteren Fall werden sensomotorische Routinen angenommen, die jeweils für sich getrennt arbeiten. Sie verknüpfen bestimmte sensorische Integrationsleistungen mit speziellen motorischen Programmen. Es wird nun angenommen, dass jede dieser Routinen mit einem spezifischen Gedächtnisspeicher ausgestattet ist. Die Tiere setzen diese Routinen 10 A. Cheung, M. Collett, T. S. Collett, A. Dewar, F. Dyer, P. Graham, M. Mangan, A. Narendra, A. Philippides, W. Sturzl, B. Webb, A. Wystrach, J. Zeil, „Still no convincing evidence for cognitive map use by honeybees“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences U. S. A., 111(42)/2014, S. E4396-E4397. 11 J. F. Cheeseman, C. D. Millar, U. Greggers, K. Lehmann, M. D. Pawley, C. R. Gallistel, G. R. Warman, R. Menzel, „Reply to Cheung et al.: The cognitive map hypothesis remains the best interpretation of the data in honeybee navigation“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences U. S. A., 111(42)/2014, S. E4398. 12 E. Mayr, „Was ist eigentlich die Philosophie der Biologie?“, in: Berlin-Branden burgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Ernst Mayr – Philosophie der Biologie, Berlin 1998, S. 287-301.
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situationsspezifisch, seriell und unabhängig voneinander ein. So lernt und später findet z. B. eine Biene den Eingang zu ihrem Nest, indem sie ein Bild der unmittelbaren Umgebung speichert, dieses Gedächtnis bei Heimkehrstimmung mit der aktuellen Bildinformation vergleicht und über einen Fehler-Reduktionsmechanismus den Eingang findet. Ist sie weiter entfernt von ihrem Nest, verwendet sie den Wegintegrationsmechanismus, oder sie orientiert sich nach dem gelernten Horizontprofil. Elementare Erklärungen bestehen aus Listen von getrennten Teilmechanismen. Hierfür hat sich in der Fachliteratur der Begriff tool box eingebürgert,13 der suggeriert, dass dem Tier in einer bestimmten Verhaltenssituation nur ein neuronaler Mechanismus zur Durchführung des Verhaltens zur Verfügung steht, und aufeinander folgende Verhaltensweisen die jeweiligen tools aktivieren. Daher besteht die Aufgabe für den Neurobiologen, der nach elementaren Leistungen sucht, darin, die entsprechenden Teilmechanismen aufzuspüren. Erstaunlicherweise wurden bisher keine Hinweise für solche sensomotorischen Routinen im Insektengehirn gefunden. Selbst so eine „isolierte“ Teilfunktion wie die Orientierung nach dem Muster des linear polarisierten Lichtes, die als ein Paradebeispiel für eine Lösung des Problems bereits auf der Ebene der Struktur des Komplexauges betrachtet wurde,14 konnte nicht auf einen einfachen neuronalen Mechanismus zurückgeführt werden. Neuronale Analysen zu einem vergleichbaren aber einfacheren Orientierungsmechanismus bei Heuschrecken weisen eher darauf hin, dass die neuronalen Mechanismen nicht mit einer speziellen Augenstruktur, einem angepassten Wahrnehmungsfilter (matched filter These) arbeiten.15 Zwar gibt es viele Belege dafür, wie die neuronalen Mechanismen für die sensorischen Teilfunktionen neuronal implementiert sein könnten, aber direkte Verbindungen zu jeweils getrennten motorischen Programen wurden bisher nur für sehr einfache, reflexartige Verhaltensweisen wie z. B. Taxien 13 R. Wehner, „‚Matched filters‘ – neural models of the external world“, in: Journal of Comparative Physiology A, 161(4)/1987, S. 511-531; R. Wehner, „Arthro pods“, in: F. Papi (Hrsg.), Animal homing, London 1992, S. 45-144; R. Wehner, M. Boyer, F. Loertscher, S. Sommer, U. Menzi, „Ant navigation: one-way routes rather than maps“, in: Current Biology, 16(1)/2006, S. 75-79. 14 R. Wehner, S. Rossel, „The bee’s celestial compass – A case study in behavioural neurobiology“, in: B. Hölldobler, M. Lindauer (Hrsg.), Experimental behavioral ecology, Stuttgart, New York 1985, S. 11-53. 15 U. Homberg, „In search of the sky compass in the insect brain“, in: Naturwis senschaften, 91(5)/2004, S. 199-208.
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(Phototaxis) und homöostatische Reflexe (Flugsteuerung, Landeund Startbewegungen, Laufbewegung, Optomotorik) gefunden. Diese Aussage gilt sowohl für kleine wie für große Gehirne. Die kognitive Erklärung postuliert, dass die vielfältigen sensorischen Mechanismen, die zur Navigation beitragen, eine gemeinsame neuronale Raumrepräsentation speisen, und dass es diese Instanz ist, die das Navigationsverhalten steuert. In dem Augenblick, in dem ein entsprechendes neuronales Substrat gefunden wird, ist die Debatte entschieden. Die Aufgabe für den kognitiven Verhaltens- und Neurobiologen besteht deshalb darin, diese Raumrepräsentation zu finden und ihren Mechanismus aufzuklären. Im Säuger-, Vogel- und Fledermausgehirn wurde die Raumrepräsentation im Hippocampus nachgewiesen.16 Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Neurowissenschaftler, die an Wirbeltieren arbeiten, auf das Konzept der kognitiven Karte beziehen, auch wenn noch lange nicht die Brücke zum Verhalten geschlagen werden kann. Trotzdem lehnen auch Wirbeltier-Verhaltensbiologen häufig noch das Konzept der kognitiven Karte ab, aber diese Debatte wird nicht mit solcher Schärfe geführt wie bei den Invertebraten-Verhaltensbiologen. Eine vergleichbare neuronale Raumrepräsentation wurde nämlich weder bei Insekten noch bei irgendeinem anderen Invertebraten bisher gefunden. Da diese Tiere zudem überwiegend mit kleinen Gehirnen ausgestattet sind, lässt sich recht leicht argumentieren, man werde nie eine solche Instanz finden. Die Entscheidung wird aber auch für die Invertebraten über die Neurowissenschaft fallen. Es ist nicht zu erwarten, dass Verhaltensexperimente allein eine eindeutige Entscheidung für oder gegen eine der beiden Erklärungen erlauben werden. Darin unterscheidet sich die Navigationsproblematik nicht von anderen Forschungsthemen der Verhaltensbiologie, etwa der Frage, ob Tiere Erwartungen haben, Entscheidungen treffen, planen, Absichten verfolgen, sich als Individuum in der sozialen Gemeinschaft erkennen, andere Mitglieder der Sozialgemeinschaft nach ihrer Zuverlässigkeit beurteilen oder über ihr eigenes Tun und sich selbst nachdenken.17 Darwin war sicher, dass Tiere über 16 J. O’Keefe, J. Nadel, The hippocampus as a cognitive map, New York 1978; E. I. Moser, E. Kropff, M. B. Moser, „Place cells, grid cells, and the brain’s spatial representation system“, in: Annual Review of Neuroscience, 31/2008, S. 69-89; M. Geva-Sagiv, L. Las, Y. Yovel, N. Ulanovsky, „Spatial cognition in bats and rats: from sensory acquisition to multiscale maps and navigation“, in: Nature Reviews Neuroscience, 16(2)/2015, S. 94-108. 17 C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind, Cambridge (Mass) 1997.
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mentale Fähigkeiten verfügen, die sich nicht prinzipiell von denen der Menschen unterscheiden. In seinem Buch The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (1871) zeigt er, „that there is no fundamental difference between man and the higher mammals.“ Und selbst für Wirbellose gilt nach ihm: „[…] the lower animals, like man, manifestly feel pleasure and pain, happiness, and misery.“18 Die Kontinuität der mentalen Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier lässt sich umso überzeugender nachweisen, je direkter der Vergleich zwischen den neuronalen Strukturen und Mechanismen für die jeweiligen Fähigkeiten gezogen werden können. Es ist ja auch nicht verwunderlich, dass die Bezeichnung ‚kognitive Neurowissenschaft‘ zuerst auf solche Studien angewandt wurde, in denen mit bildgebenden Methoden Aktivitätsmuster im menschlichen Gehirn mit Wahrnehmungs- und Denkleistungen verknüpft wurden. Mit diesem Zugang gelang es, die Dritte-Person Perspektive (also die Trennung zwischen untersuchtem Subjekt, experimentierendem Forscher und interpretierendem Betrachter) zu einem guten Teil in eine Erste-Person Perspektive zu überführen, in der sich das Subjekt selbst untersucht und interpretiert. Da homologe Gehirnstrukturen dann auch bei Säugetieren für vergleichbare Leistungen vermessen werden konnten, ließ sich auf korrespondierende mentale Vorgänge in diesen Gehirnen schließen. Für Insekten ist dies kein gangbarer Weg, weil die Gehirne von Wirbeltieren und Insekten sehr verschieden aufgebaut sind. Allerdings können Vergleiche auf einer Metaebene gezogen werden. Auch wenn sich keine Teilstrukturen der Gehirne homologisieren lassen, sind doch globale Strategien der neuronalen Verschaltung einem Vergleich zugänglich. Solche Vergleiche können auf zwei Wegen erfolgen: (1) Auf der Basis der Minimalausstattung mit Funktionen, über die ein Gehirn verfügen muss, um komplexe Verhaltensleistungen wie etwa die Navigation zu ermöglichen, und (2) durch einen Vergleich der globalen neuroanatomischen Struktur, also der Verknüpfung zwischen größeren Funktionseinheiten der Gehirne. Für den ersteren Ansatz eines Vergleichs hat der Philosoph Peter Carruthers einen interessanten Vorschlag unterbreitet (Abb. 3).19 Die zentrale Instanz der Systeme zur Planung von Handlungen wird nach diesem Vorschlag von drei Teilsystemen gesteuert, den Wahrneh18 C. Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (1871), New York 1936, S. 387-924, hier S. 446 ff. 19 P. Carruthers, The Architecture of the Mind, Oxford 2006, S. 462.
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mungssystemen, den Überzeugungssystemen und den emotionalen Zielsystemen. Der entscheidende Aspekt dieses Konzepts besteht darin, dass die zentrale Instanz eine planende und nicht eine von der Wahrnehmung zum Verhalten lediglich durchschaltende In stanz ist. Es ist diese Instanz, die das gemeinsame Gedächtnis für alle möglichen Verhaltensweisen enthält und in der die Auswahl auf Grund einer Verhandlung mit den möglichen Zielen (emotionale Zielsysteme) durch neuronales Durchspielen der Folgen (Planung) der erwarteten Folgen der möglichen Verhaltensweisen erfolgt. Die Aufgabe des Neurowissenschaftlers besteht also darin, in den zur Frage stehenden Gehirnen die strukturellen und funktionellen Implementierungen dieser Instanzen zu finden. Dieses habe ich an anderer Stelle für das Gehirn der Honigbiene versucht20 und bin zu der Überzeugung gelangt, dass solche Zuordnungen möglich sind.
Abb. 3
Für den zweiten Ansatz eines Vergleichs werden die strukturell identifizierbaren Areale im Gehirn und deren globale Konnektivität herangezogen. Die Abbildung 4 zeigt einen solchen Vergleich. Im Einzelnen lassen sich sicher Einwände dagegen erheben, die im Wesentlichen auf den fehlenden Kenntnissen der funktionellen Zuordnungen im Insektengehirn beruhen. Die wichtigsten Aussagen sind aber wohl unstrittig. In beiden Gehirnen, denen der Säugetiere inklusive des Menschen und dem Insektengehirn insbesondere dem 20 R. Menzel, „Insect minds for human minds“, in: A. S. Benjamin, J. S. de Belle, T. A. Polk (Hrsg.), Human Learning, London 2008, S. 271-285.
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der Honigbiene, liegen zwei globale parallele Bahnen vor, die zwischen den sensorischen Eingängen und den prämotorischen Ausgängen verbinden. Bei den Säugetieren sind dies einmal die recht direkten Bahnen von den sensorischen Arealen über den Thalamus, das Cerebellum (Cere) oder den Nucleus accubens (Nu. Acc) zu absteigenden prämotorischen Bahnen. Beim Menschen werden die in diesen Bahnen vermittelten Verarbeitungen nicht bewusst erlebt. Im Insektengehirn verlaufen diese direkten Bahnen von den sensorischen Eingängen über sensorische Neuropile, den Zentralkomplex (CC) oder das laterale Protocerebrum (lPC) zu den absteigenden
Abb. 4
prämotorischen Bahnen. Zu diesen direkten Bahnen liegen parallel verlaufende Bahnen vor, die bei den Säugetieren den präfrontalen Cortex (PFC) und den Hippocampus (Hipp), und bei den Insekten den Pilzkörper (MB für mushroom body) und das Ringneuropil einschließen. Beim Menschen können die dabei ablaufenden neuronalen Prozesse bewusst werden. Wichtig für den Vergleich ist darüber hinaus, dass diese parallelen Bahnen über rückkoppelnde Verknüpfungen mit solchen prämotorischen Instanzen verknüpft sind, die auch bei den direkten Bahnen einbezogen sind. Bei den Säugetieren sind dies das Cerebellum und der Nucleus accumbens, bei den Insekten der Zentralkomplex und das laterale Protocerebrum. Dieses https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Verschaltungsprinzip legt die Vermutung nahe, dass die direkten Bahnen für schnelle, überwiegend stereotype, besonders auch angeborene und der Homöostase des Organismus dienende Funktionen zuständig sind. Die über den präfrontalen Cortex und Hippocampus bzw. über den Pilzkörper und das Ringneuropil verlaufenden Funktionen dagegen betreffen komplexe, multisensorische und auf Lernerfahrung beruhende und von der vorausschauenden Überprüfung abhängige Steuerungen. Als Bestätigung für diese Vorstellungen kann die gut belegte Tatsache herangezogen werden, dass – unsere Thematik betreffend – das für die Navigation notwendige Gedächtnis im Hippokampus lokalisiert ist, und dass dieses Gedächtnis innig mit der zeitlichen Verarbeitung von räumlichen Erfahrungen und der qualitativen Beurteilung von Orts- und Zeitfunktionen zusammenhängt. Diese Leistungen werden in rückkoppelnder Weise gemeinsam mit dem präfrontalen Cortex erbracht, und stellen eine integrierte Gesamtleistung für die raum-zeitliche Organisation des Verhaltens dar. Auf der Basis dieser Überlegungen würde man die neuronalen Korrelate für eine kognitive Karte bei Insekten im Pilzkörper und dessen Ringneuropil suchen, wobei der innige Zusammenhang mit dem Zentralkomplex zu beachten wäre. Ein völlig anderer Struktur-Funktionszusammenhang würde sich für die elementaren Erklärungen für die Navigation der Honigbiene ergeben. In diesem Falle würde man die Einzelleistungen in den direkten Bahnen suchen. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Hypothesen wird also nur das neurowissenschaftliche Experiment ermöglichen.
7. Das Parsimonie-Argument In dem Essay „The provocative razor of William of Occam“ schreibt der theoretische Physiker Jean-Claude Pecker:21 „I really do not know who named this principle ‚Occam’s Razor‘ or indeed whether Occam had a beard, but it is true that some hair is superfluous and can be shaved off. The principle is indeed nothing but a principle of simplicity or of intellectual economy. One way of expressing is: 21 J.-C. Pecker, „The provocative razor of William of Occam“, in: European Review, 12(2)/2004, S. 185-190, hier S. 185. Zum Parsimonie-Argument vgl. den Beitrag von Böhnert/Hilbert im vorliegenden Band.
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it is unnecessary to accomplish by many ways what a lesser number of ways is sufficient to accomplish. If, without a given hypothesis, we can save all that one wishes to save, then this hypothesis must be rejected […]. The principle (of Occam’s razor) can both be used to eliminate unnecessary irrelevancies, but also to constrain the development of imaginative theories.“ In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die elementaren Erklärungen einfacher sind und ob sie ein höheres Maß an intellektueller Ökonomie repräsentieren. Darüber hinaus müssen wir uns aber auch fragen, ob in einem solchen Fall weiter reichende und vielleicht fruchtbare Theorien ausgeschlossen werden sollen. Im Zentrum meiner Überlegungen wird wieder das Paradigma des novel shortcuts bei den Navigationsleistungen der Biene stehen, in denen eine Reihe offensichtlicher elementarer Erklärungen ausgeschlossen werden können, wie die Wegintegration, das Ansteuern eines wahrnehmbaren Ziels, der Vergleich der aktuell wahrgenommenen Umwelt mit einem Gedächtnis, das am Ziel gelernt wurde, und die Addition von erinnerten Flugvektoren. Man könnte nämlich annehmen, dass es weitere elementare Leistungen gibt, die dann im Konzert mit den ausgeschlossenen elementaren Leistungen die Navigation steuern, denn in keinem unserer Experimente konnten alle nachgewiesenen und theoretisch möglichen elementaren Leistungen gleichzeitig ausgeschlossen werden. Das Argument der Einfachheit beruht darauf, dass wir für uns in Anspruch nehmen, zu wissen, was ‚einfach‘ für ein Gehirn ist. Sind Prozesse, die sich mit recht einfachen Algorithmen erfassen lassen, auch einfach für ein Gehirn? Ist es z. B. einfacher für das Gehirn, eine Vektoraddition durchzuführen, als ein Gedächtnis für die metrischen Bezüge von Landmarken so zu speichern, dass an dieser Repräsentation mentale Operationen durchgeführt werden können? Ist es einfacher, eine Serie von Bildgedächtnissen zu speichern, die stereotyp und sequentiell aufgerufen werden, um über einen Mechanismus der Reduktion von Abweichungen zwischen gerade wahrgenommenem Bild und gespeichertem Bild ein Ziel zu erreichen, oder ist es für ein Gehirn einfacher, ein Gedächtnis in Form einer kognitiven Karte zu bilden? Wenn wir solche Fragen stellen, wird deutlich, dass ein entscheidender Unterschied zwischen den elementaren Erklärungen und der kognitiven darin besteht, dass alle elementaren Erklärungen einen aktuellen algorithmischen Prozess annehmen, während die kognitive Erklärung mentale (wir können auch sagen: neuronale) Operatihttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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onen an einer Repräsentation annimmt. Daher stellt sich die prinzipielle Frage, ist die prozessuale Beschreibung der Gehirnfunktionen die einfachere und die für das Gehirn (nicht für unsere Vorstellung von der Arbeitsweise des Gehirns) ökonomischere? So lange wir die neuronalen Prozesse im Insektengehirn, die der Navigation zugrunde liegen, nicht kennen, können wir diese Frage nicht entscheiden. Vergleiche mit der Funktionsweise großer Gehirne legen allerdings nahe, dass wir hier vorsichtig sein müssen (siehe oben). Auch das Argument, dass so kleine Gehirne, wie das der Biene, zu solchen mentalen Operationen, wie sie das Konzept der kognitiven Karte annimmt, nicht fähig sind, kann nicht überzeugen. Vielleicht ist gerade der Aufbau einer komplexen räumlichen Gedächtnisstruktur mit ihren Möglichkeiten für intentionale Operationen die einfachere und ökonomischere, wie z. B. Griffin22 oder Allen und Bekoff23 argumentieren?24 Das Prinzip von Occam’s razor, wonach sparsame oder einfache Erklärungen zu bevorzugen sind, kann destruktiv sein, wenn damit verhindert wird, dass angemessenere und produktivere Erklärungen formuliert werden. Die angemesseneren beziehen sich auf die neuronalen Mechanismen und verlangen geeignete Untersuchungen. Solche Untersuchungen würden nicht begonnen, wenn das Parsimonie-Argument allzu streng angewandt würde, oder sie würden völlig anders ausgerichtet sein, nämlich als Auftrag, nach unabhängigen, sequentiellen Prozessen zu suchen, während die Suche nach den neuronalen Korrelaten der kognitiven Karte die Aufdeckung einer hoch integrierten, multisensorischen Gedächtnisstruktur zum Ziel hat. Als O’Keefe seine Registrierungen der so genannten place cells25 im Hippocampus der Ratte interpretierte, kümmerte er sich nicht um die Argumente der Behavioristen gegen Tolman, sondern erkannte, dass das Konzept der kognitiven Karte seine Daten am
22 D. R. Griffin, Animal Thinking, Harvard 1984, S. 1-237. 23 C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind. 24 R. Menzel, „Navigation and communication in honeybees“, in: R. Menzel, J. Fischer (Hrsg.), Animal Thinking. Contemporary Issues in Comparative Cog nition, Cambridge (Mass.), London 2011, S. 9-22. 25 Unter ‚place cells‘ versteht man die Eigenschaft von Pyramiden-Neuronen im Hippocampus nur dann mit Aktionspotentialen zu reagieren, wenn sich das Tier an einer bestimmten Stelle im Raum befindet. Die Entdeckung der ‚place cells‘ wurde 2012 mit dem Nobel-Preis gewürdigt und stellt eine der wichtigsten Entdeckungen in der Neurowissenschaft dar.
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besten erklärt.26 Produktivere Erklärungen zielen auf eine erweiterte Perspektive. In unserem Beispiel bedeutet das, nicht nur die Frage zu stellen, welche Kenntnisse Tiere über die geometrischen Beziehungen zwischen Landmarken haben, sondern auch, ob sie Erwartungen über die Landmarken und ihre Eigenschaften auf dem Weg dorthin haben. Sind short cuts, wie wir sie gefunden haben, ein Indiz dafür, dass Bienen ihren Flug zu einem Ziel planen? Bezieht diese Planung auch die Kommunikation über einen Ort mit dem Schwänzeltanz ein?
8. Intentionalität Der Philosoph Franz Brentano stellte in seinem Buch Psychologie vom empirischen Standpunkt aus die Frage, worin ein psychischer Vorgang beim Menschen (Wünsche, Ängste, vorgestellte Ziele, Bewusstsein) besteht.27 Edmund Husserl unterschied in seiner Phänomenologie zwei Zustände des beim Menschen nicht bewusst werdenden Psychischen, den Vorgang des Denkens (noesis) und den Inhalt des Denkens (noema).28 Auf beide Philosophen beziehen sich kognitive Verhaltensbiologen.29 Zwar hatten weder Brentano noch Husserl Tiere im Blick, da aber beide nicht notwendigerweise allein solches Bewusstsein, wie wir Menschen es erleben, untersuchten oder sogar tierisches Bewusstsein ausdrücklich ausschlossen, liegt es nahe, ihre Argumente darauf zu prüfen, ob sie für das Psychische (wir sagen heute lieber ‚das Mentale‘) bei Tieren herangezogen werden können. Dieses Mentale soll im Weiteren in der Tradition von Brentano und Husserl mit Intentionalität bezeichnet werden, 26 J. O’Keefe, J. Nadel, The hippocampus as a cognitive map. 27 F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt aus, Leipzig 1874. 28 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: E. Husserl, Gesammelte Schriften, hrsg. von E. Ströker, Bd. 5, Hamburg 1992, S. 200 ff. (§§ 87 ff.). 29 Z. B. C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind, S. 209; M. Bekoff, C. Allen, G. M. Burghardt, The Cognitive Animal: Empirical and Theoretical Perspectives on Animal Cognition, Cambridge (Mass.) 2002, S. i-482; D. R. Griffin, Animal Thinking, S. 237; D. R. Griffin, „The cognitive dimensions of animal com munication“, in: B. Hölldobler, M. Lindauer (Hrsg.), Experimental behavioral ecology and sociobiology, Stuttgart, New York 1985, S. 471-482; D. R. Griffin, G. B. Speck, „New evidence of animal consciousness“, in: Animal Cognition, 7(1)/2004, S. 5-18.
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ein mentaler oder psychischer Vorgang, der auf ein Ziel gerichtet ist und dieses Ziel mit seinen Wegen vorwegnimmt. In vereinfachter Form lassen sich vier minimale Bedingungen für Intentionalität bei Tieren festhalten, wobei auf die Denkweise der kognitiven Neurowissenschaft rekurriert wird (andere Argumentationslinien gehen von Darwins These der Kontinuität des Mentalen aus und beziehen sich auf die phylogenetischen Beziehungen zwischen verschiedenen Tierarten): (1) Identifikation des Gehirns als Sitz des Mentalen mit seinem Körper, (2) das Vorhersehen zukünftiger Zustände (Erwartung), (3) das Beurteilen dieser Zustände hinsichtlich der dann vorherrschenden Zustände oder Bedürfnisse des eigenen Körpers (Bewertung), (4) die Auswahl einer Verhaltensweise aus zwei oder mehreren Optionen (Entscheidung). Die Akteure sind die mentalen Zustände, also intrinsische neuronale Vorgänge, die durch ihre Inhalte ausgezeichnet sind. Diese simulieren zukünftige Zustände, bewerten sie und entscheiden zwischen ihnen. Erst dann und nur dann tritt ein zielgerichtetes Verhalten auf. In der Terminologie Husserls könnte man sagen, die mentale Simulation stellt die noesis dar und das Ziel das noema. Die Frage, ob Insekten über Intentionalität in diesem Sinn verfügen, lässt sich auf zwei Wegen angehen, einem verhaltensanalytischen und einem auf die neuronalen Mechanismen zielenden. Der verhaltensanalytische ist naturgemäß wenig scharf, der neuronale existiert zurzeit bei Insekten nicht bzw. nur in sehr eingeschränktem Maße. Nehmen wir die ersten beiden Kriterien, die Identifikation des Gehirns mit seinem Körper und die Erwartung. Alle Tiere mit Nervensystem unterscheiden zwischen selbst erzeugten Reizen und solchen der Umwelt, die vom Tier unabhängig sind. Der neuronale Mechanismus beruht auf der Verarbeitung der neuronalen Kommandos an die motorischen Zentren (Efferenzkopie) mit den Eingängen von den Sinnesorganen. Diese einfachste Form der Selbsterfahrung enthält bereits das Kriterium der Erwartung, denn die Verschaltung ist gerade so, dass nur eine bestimmte Wahrnehmung durch die betreffende Efferenzkopie verrechnet wird. Das operante Selbst nimmt eine Zwischenstufe ein, denn im ausprobierenden Lernen besteht der Lernvorgang gerade darin, ein bestimmtes eigenes motorisches Muster mit einem erwarteten Zustand der äußeren Welt zu verknüpfen. Operantes Lernen sagt daher zukünftige Zustände voraus, allerdings in einer recht eingeschränkten Form, nämlich der, dass die äußeren Sinnesreize wahrgenommen werden. Das soziale Selbst in seiner einfachen Ausprägung wie bei den Hohttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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nigbienen ordnet den eigenen Körper mit Bezug auf andere als zur gleichen oder verschiedenen Gruppe gehörenden Körper ein. Das Erkennen der Gruppenzugehörigkeit mag ein einfacher sensomotorischer Akt sein wie z. B. beim Unterscheiden von Volkszugehörigen und fremden Tieren am Stockeingang aufgrund der Körperdüfte, oder ein komplexer wie beim Erzeugen eines Stoppsignals durch eine Späherbiene in einem Schwarm, die eine andere Späherbiene am weiteren Werben für eine potentielle Neststelle hemmt, weil ihre eigene Neststelle besser ist, als die der anderen Späherbiene. In allen Fällen sind die soziale Zuordnung des Selbst und die Erwartung in der sozialen Interaktion entscheidend. Ein Beispiel: Wenn eine Wächterbiene am Stockeingang eine nicht zum eigenen Volk gehörende Biene an ihrem Geruch erkennt, wird sie diese vertreiben. Das kann dazu führen, dass sie ihren Stachel verliert und daran stirbt. Zur Vorbereitung des damit verbundenen (unangenehmen) Zustands des eigenen Körpers aktiviert sie ein Endorphin-artiges neuronales System, von dem angenommen werden kann, dass es die (Schmerz-)Wahrnehmung hemmt, die mit dem Verlust des Stachels und damit mit dem Sterben verbunden ist.30 Die Kriterien (3) (Bewertung) und (4) (Entscheidung) setzen Vergleichsmaßstäbe voraus und zumindest zwei Verhaltensoptionen. Erkennbar werden diese mentalen Zustände an den verschiedenen Verhaltensweisen, mit denen das Ziel erreicht wird. Auf unser Paradigma des novel shortcut bezogen bedeutet dies, dass in adaptiver Weise zwischen den Zielen entschieden wird, z. B. kehrt eine Biene, die an einer Futterstelle abgefangen wurde, direkt zum Stock zurück oder zuerst zur Futterstelle, oder es fliegen Tiere, die zwischen einem gelernten Ort und einem im Tanz angezeigten Ort entscheiden, entweder erst den gelernten Ort oder erst den im Tanz angezeigten Ort an. Zwei experimentelle Probleme stellen sich hier: Die Stochastik der Verhaltensweisen und die begrenzte Kenntnis darüber, welche Faktoren außer den experimentell konstant gehaltenen oder manipulierten darüber hinaus eine Rolle spielen. Für komplexe Verhaltensleistungen sind die Einflüsse dieser beiden Faktoren eher weniger gravierend, weil die komplexe Verhaltensweise kaum einer Stochastik unterliegt und die wirksam werdenden Faktoren recht genau bekannt sind. Anders mag das bei einfache30 J. Nunez, H. Maldonado, A. Miralto, N. Balderrama, „The stinging response of the honeybee: effects of morphine, naloxone and some opioid peptides“, in: Pharmacology Biochemistry and Behavior, 19(6)/1983, S. 921-924.
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ren Verhaltensweisen sein. So ist es fraglich, ob es Sinn macht, von Intentionalität bei operantem Lernen zu sprechen, weil bei diesen recht einfachen Verhaltensweisen die Variabilität des Verhaltens sich schwer oder gar nicht von zufälligen Ereignissen unterscheiden lässt. Offensichtlich gehört ein gewisses Maß an Komplexität oder Offenheit im Verhalten dazu, die sich in individuell unterschiedlichen Erfahrungen, mehreren Zielen, verschiedenen Wegen zum Ziel, der Abhängigkeit von aktuellen inneren und äußeren Zuständen und manchen mehr zeigen kann. Darüber hinaus kommt es sehr auf die Anordnung im Experiment an. Die dabei wirksam werdenden Optionen (Auswahl der Wege und der Ziele) sind kaum zugänglich, wenn wir das Tier nicht aus der Routine seines fortlaufenden Verhaltens heraus nehmen und in eine unerwartete Entscheidungssituation bringen. Erst wenn das Tier sich in einer unerwarteten Situation befindet, kann es im Verhalten ausdrücken, dass es zwischen Optionen (Repräsentationen von Zielen und ihren Wegen) ohne Zugang zu den Merkmalen dieser Ziele (also nur über ein Gedächtnis dieser Merkmale und ihrer Bedeutungen für den aktuellen Zustand des Tieres, nicht aber über einen einfachen sensomotorischen Akt) auswählt. Dies wird besonders deutlich in dem Experiment, in dem die Biene zwischen zwei Orten entscheidet, einem gelernten Ort und einem im Tanz mitgeteilten: (1) Auch wenn sie zuerst den mitgeteilten Ort anfliegt, hatte sie die Option, den ihr bekannten Ort zu wählen (denn sie wählt ihn ja später). (2) Sie fliegt zwischen den Orten entlang einer neuen Strecke (novel shortcut), sie wendet also keine für diese Situation geeignete gelernte Routine an. (3) Sie bewertet die gesamte Situation hinsichtlich des damit verbundenen Aufwands und des Risikos, denn für weite Strecken (650 m) führt sie den novel shortcut nur durch, wenn der Winkel zwischen den beiden Flugbahnen (zum bekannten Ort und dem im Tanz mitgeteilten Ort) unter 60° liegt, während sie das auch für einen Winkel von 60° vollführt, wenn die Entfernungen kürzer sind (300 m). Wie massiv kognitive Erklärungen von einer großen Zahl von Verhaltensbiologen bekämpft werden, erkennt man an den Angriffen und Schmähungen, die Griffin31 für seine Interpretationen erhielt. Von folk psychology, Phantasie, anekdotischen Beobachtungen, Anthropomorphismus (wohl das schlimmste Schimpfwort in 31 D. R. Griffin, Animal Thinking, S. 237; D. R. Griffin, „The cognitive dimensions of animal communication“.
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der Verhaltensbiologie), schlechter Wissenschaft (bad science), verwirrtem Denken (just plain muddled thinking) war und ist nach wie vor die Rede.32 Wahrscheinlich ist Griffin zu weit gegangen, als er allen Tieren, selbst solchen kleinen Tieren wie Insekten, Bewusstsein zugeschrieben hat. Wäre er weniger angegriffen worden, hätte er von Intentionalität gesprochen? Möglicherweise, denn dieser Begriff lässt sich leichter operationalisieren als die Vorstellung eines Bewusstseins bei Tieren und er ist weniger anthropomorph. Die eigentliche Problematik der Verhaltensbiologie besteht aber vor allem darin, dass das behavioristische Denken nach wie vor nicht überwunden ist. Der Grund dafür liegt einmal darin, dass der Behaviorismus mit strengen Regeln des Designs von (Labor-)Experimenten aufwartet und einen Kanon an zurzeit anerkannten statistischen Verfahren anbietet. Zum anderen fördert er durch Ignorieren komplexer Ansätze einfache Erklärungen. Auf ethologische Experimente übertragen, habe ich das in dem einleitenden Absatz illustriert. Das Verhalten zu quantifizieren, indem ein Parameter variiert wird und die anderen konstant gehalten werden, vereinfacht die Vorgehensweise des Experimentators und die Interpretation der Ergebnisse. Allerdings führt das dann häufig dazu, dass jeder einzelne und unabhängig von anderen studierte Parameter als der entscheidende oder ausschließliche verstanden werden kann, und im Laufe der Zeit notgedrungen eine Liste von elementaren Erklärungen (eine tool box) angeboten wird, ohne dass an die Verknüpfung zwischen den so erklärten isolierten Leistungen gedacht wird. Die Verhaltensbiologie wird sich aus diesem Dilemma allein nicht befreien können. Sie benötigt dazu die kognitive Neurowissenschaft. Aber auch diese ist auf sich allein gestellt nur begrenzt leistungsfähig. Sie braucht deshalb als notwendige Ergänzung eine kognitive Verhaltensbiologie, weit mehr als sie auf die behavioristische Experimentier- und Denkweise angewiesen ist. Ein Rückbesinnen auf theoretische Ansätze, wie solche von Franz Brentano oder Edmund Husserl wäre wohl ebenfalls sinnvoll.
32 Zitiert nach C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind, S. 4.
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9. Zusammenfassung Ich habe die aktuelle Diskussion zwischen behavioristisch geprägter und kognitiver Verhaltensbiologie aus meiner Perspektive am Beispiel der Thematik „kognitive Karte“ diskutiert. Dabei habe ich mich auf einen kleinen Datensatz von Experimenten mit der Honigbiene bezogen und das Paradigma des novel shortcuts in den Mittelpunkt gestellt. Die Attraktion der behavioristischen elementaren Erklärungen in der Verhaltensbiologie ist nach wie vor groß, insbesondere in Studien mit Insekten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einem kleinen Gehirn werden apriori elementare neuronale Prozesse unterstellt, obwohl es dafür nur Belege aus dem Bereich der stereotypen sensomotorischen Koppelungen gibt. Die nachgewiesene Konvergenz vieler sensorischer Eingänge in einer gemeinsamen Verarbeitungsinstanz und die ebenfalls nachgewiesene Integration in einer gemeinsamen Gedächtnisstruktur werden ebenso ignoriert, wie die Fähigkeit zu komplexen Lernformen. Elementare Erklärungen für Navigationsleistungen folgen einem Argumentationsschema, in dem jeweils getrennt die steuernde Rolle einzelner sensomotorischer Routinen nachgewiesen wird und dann dafür argumentiert wird, dass nur diese getrennten und mit spezifischen meist sequentiell angeordneten Funktionen versehenen Einheiten beteiligt sind. Dies wird in dem Begriff ‚tool box‘ zusammengefasst. Alle diese einzelnen Routinen gehören zur Gruppe der egozentrischen Navigationsleistungen, also zu solchen, bei denen das Tier die Prozesse der Wegfindung ausschließlich auf sich selbst bezieht und mit den Umweltreizen assoziativ verknüpft. Eine generelle, allozentrische Referenz in Form einer kognitiven Karte wird abgelehnt, weil sie als weniger einfach und weniger ökonomisch betrachtet wird. Zur Stütze dieser Argumentationslinie werden entweder Befunde angezweifelt oder als einfacher deklarierte egozentrische Verrechnungsprozesse (z. B. Vektoraddition) interpretiert. Das Methodeninventar der Verhaltensbiologie ist offensichtlich nicht differenziert genug, um zwischen elementaren und kognitiven Erklärungen zu unterscheiden. Hier muss die Neurowissenschaft zu Hilfe kommen. Wie dies auch bei Insekten gelingen kann, diskutiere ich mit Blick auf die Befunde am Hippocampus der Wirbeltiere, einer Struktur, die im Zusammenwirken mit dem präfrontalen Kortex ein neuronales Korrelat der kognitiven Karte darstellt. Der entscheidende Mangel der elementaren Argumentation liegt in der Begrenzung auf das isolierte Navigationsverhalten, also auf https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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die Frage, wie das Tier zu einem Ort (Nest, Futterstelle) zurück findet. Die Frage, ob die Tiere dabei Erwartungen haben, zwischen Optionen wählen und Entscheidungen treffen, wird nicht gestellt. Ich argumentiere, dass die Navigationsthematik in einen größeren Zusammenhang gestellt werden muss, und diskutiere dieses unter der Fragestellung, ob Bienen über Intentionalität verfügen. Solange keine neuronalen Korrelate über die vier zentralen Funktionen der Intentionalität (die Selbst-Identifikation, das Erwarten, Bewerten und Entscheiden) zur Verfügung stehen, kann nach unterstützenden Befunden aus der Verhaltensanalyse gesucht werden. Dabei werden sich vor allem komplexe Verhaltensweisen als besonders aussagekräftig erweisen, insbesondere wenn es gelingt, die Tiere in eine unerwartete Entscheidungssituation zu bringen. Wenn dann neuartige Lösungswege (z. B. novel shortcuts im Navigationskontext) und die Wahl zwischen verschiedenen Zielen nachgewiesen werden können, lässt sich auf Intentionalität auch bei Insekten schließen. Aber auch hier wird der empirische Nachweis nur mit neurowissenschaftlichen Methoden gelingen.
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Autorinnen und Autoren
Martin Böhnert studierte Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Kassel und der Columbia University, New York. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel und Mitglied im LOEWESchwerpunkt ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Philosophie des Geistes und die Frage nach der Kognition bei Tieren. Aktuell arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Wie wissen wir, ob Tiere denken? – Methoden, Modelle und Mentalität in der kognitiven Verhaltensforschung“. Publikation: „(K)ein Gefühl für Sprache. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erforschung von Sprache bei Primaten“, in: M. Langlotz et al. (Hrsg.), SprachGefühl. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen nur scheinbar altbekannten Begriff (2014, S. 85-104). Carlo Brentari studierte Philosophie an der Universität Ca’ Foscari in Venedig und Philosophische Anthropologie an der Universität Graz, wo er mit einer Dissertation über Susanne Langer promoviert wurde. Aktuell ist er Privatdozent für Hermeneutik an der Universität Trento. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die theoretische Biologie des 19. und 20. Jahrhunderts, die Biosemiotik und die zeitgenössische Ontologie des Lebendigen. Ausgewählte Publikationen: The Discovery of the Umwelt. Jakob von Uexküll between Biosemiotics and theoretical Biology (2015); „Milieux humains et transhumains. Le transhumanisme comme processus de pseudospéciation culturelle“, in: Éthique, politique, religions (1/6, 2015, S. 89-104); „‚The Role of the Missing Reason‘: the Search for a Stratum-Specific Form of Determination in Nicolai Hartmann’s Theory of Life“, in: K. Peterson, R. Poli (Hrsg.), New Research on the Philosophy of Nicolai Hartmann (2016, S. 65-80); „Behaving like an Animal? Some Implications of the Philosophical Debate on the Animality in Man“, in: M. Tønnessen et al. (Hrsg.), Thinking about Animals in the Age of the Anthropocene (2016, im Druck).
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Autorinnen und Autoren
Eve-Marie Engels ist Professorin für Ethik in den Biowissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Ethik, der Theorie und Geschichte der Biowissenschaften, der Philosophischen Anthropologie und der Metaethik. Ausgewählte Publikationen: Charles Darwin (2007); „Was und wo ist ein ‚naturalistischer Fehlschluss‘? Zur Definition und Identifikation eines Schreckgespenstes der Ethik“, in: C. Brand et al. (Hrsg.), Wie funktioniert Bioethik? (2008, S. 125-141); (Hrsg. mit T. S. Glick), The Reception of Charles Darwin in Europe, 2 Bde. (2008); (Hrsg.), Charles Darwin und seine Wirkung (2009); „Darwin/Darwinismus“, in: A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen (2015, S. 69-73); „The Roots of Human Morals and Culture in Prehuman Sympathy. Charles Darwin’s Natural and Cultural Theory of Morals“, in: G. Etzelmüller, C. Tewes (Hrsg.), Embodiment in Evolution and Culture (2016 im Druck). Heiner Fangerau ist Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte der (Bio-)Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte der medizinischen Diagnostik und die Geschichte der Psychiatrie. Zu seinen Publikationen gehören: (Hrsg. mit T. Halling), Netzwerke: Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaften (2009); Spinning the Scientific Web: Jacques Loeb (1859– 1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung (2010); „Medizinische Diagnostik und das Problem der Darstellung. Methoden der Evidenzerzeugung“, in: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift (1/2015, S. 38-68). Gerald Hartung ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie/Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der philosophischen und interdisziplinären Anthropologie sowie der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Wichtigste Publikationen: Maß des Menschen (2003); Philosophische Anthropologie (2008); Sprach-Kritik (2012). Christopher Hilbert studierte Philosophie, Soziologie und Kunstwissenschaften an der Universität Kassel. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Methodik und Methodologie https://doi.org/10.5771/9783495811313 .
Autorinnen und Autoren
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der Erforschung des Wohlbefindens von Nutztieren“ im LOEWESchwerpunkt ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘ an der Universität Kassel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts und die Wissenschaftsphilosophie. Publikationen zum Thema: „‚Anthropomorphismus!‘ als Totschlagargument – Anthropomorphismuskritik und Methodologie der Tierforschung“, in: Forschungsschwerpunkt „Tier-Mensch-Gesellschaft“ (Hrsg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung (2016, im Druck). Kristian Köchy ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Biophilosophie, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Er ist Mitglied des LOEWE-Schwerpunkts ‚TierMensch-Gesellschaft‘. Ausgewählte Publikationen: Perspektiven des Organischen (2003); Biophilosophie (2008); (Hrsg. mit F. Michelini), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext (2015). Randolf Menzel ist emeritierter Professor der Zoologie und Neurobiologie an der Freien Universität Berlin. Er arbeitete über das Verhalten und die Neurobiologie der Honigbiene, wobei die Physiologie des Sehens und Riechens sowie die Mechanismen des Lernens, der Gedächtnisbildung und der Navigation im Vordergrund standen. Ausgewählte Publikationen: (mit M. Giurfa), „Dimensions of cognition in an insect, the honeybee“, in: Behavioral and Cognitive Neuroscience Reviews (5/2006, S. 24-40); „Von Geistern zum Geist – Aus der Geschichte der Neurobiologie“, in: E. Höxtermann, H. H. Hilger (Hrsg.), Lebenswissen. Eine Einführung in die Geschichte der Biologie (2007, S. 336-363); (Hrsg.), Learning and Memory – A Comprehensive Reference. Vol. 1: Learning Theory and Behavior (2008); (Hrsg. mit J. Fischer), Animal Thinking: Contemporary Issues in Comparative Cognition (2011); „The Honeybee as a model for understanding the basis of cognition“, in: Nature Reviews Neuroscience (13/2012, S. 758-768). Matthias Wunsch ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Wuppertal, Leiter des DFG-Projekts „Personale Lebensform und objektiver Geist“ an der Universität Kassel und dort ebenfalls Mitglied des LOEWE-Schwerpunkts ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geishttps://doi.org/10.5771/9783495811313 .
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Autorinnen und Autoren
tes und der Person, in der philosophischen Anthropologie sowie in der Kantforschung. Ausgewählte Publikationen: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant (2007); (Hrsg. mit I. Römer), Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven (2013); Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie (2014); (Hrsg. mit J. Bohr), Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen – Michael Landmann (2015).
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