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German Pages 320 Year 2016
Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.) Den Fährten folgen
Human-Animal Studies
Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.)
Den Fährten folgen Methoden interdisziplinärer Tierforschung
Gedruckt mit Unterstützung der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.
LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« an der Universität Kassel.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort Winfried Speitkamp | 9
Spuren suchen, Zeichen lesen, Fährten folgen André Krebber und Mieke Roscher | 11
K ulturspuren von I nsek ten Strafgericht und Leibgericht Die Heuschrecke im Alten Testament Yvonne Sophie Thöne | 33
Raumgefüge Menagerie Annäherungen an Réaumurs Insekten und an die Pelikane Ludwigs XIV. Silke Förschler | 55
Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tierforschung anhand von Jean-Henri Fabre und Henri Bergson Kristian Köchy und Matthias Wunsch | 73
S purenschichten : M enschen unter T ieren , T iere unter M enschen Beziehungsweise Zoo Methodische und theoretische Überlegungen zur Neueren und Neuesten Zoogeschichtsschreibung Wiebke Reinert | 93
Methoden in der Tierzucht am Beispiel der Exterieurbeurteilung und der Zuchtwertschätzung für Milchrinder Erste Annährungen zur Untersuchung der Mensch-Tier-Beziehung Laura Santos und Sven König | 111
Rubondo und eine Reise dorthin Der Feldaufenthalt in der Geschichtswissenschaft – und unter afrikanischen Wildtieren Felix Schürmann | 133
Methodische Ansätze zur Qualitätssicherung in der angewandten Ethologie mit Beispielen aus einer Untersuchung zur Mensch-TierBeziehung bei Milchkühen Ute Knierim und Asja Ebinghaus | 155
D en K atzen ART igen auf der S pur »Von dem pantier« Tier-Mensch-Relationen zwischen ästhetischer Gestaltung und naturkundlicher Er fahrung in Konrads von Megenberg Buch der Natur Anna-Theresa Kölczer und Susanne Schul | 175
Leoparden in Bild und Wort Über die Eigenständigkeit und Abhängigkeit visueller Erkenntnis Christian Presche und Daniel Wolf | 211
D em D iskurs folgen : D ie T ötung einer G iraffe in öffentlicher V erhandlung Konflikte über Zootiere Die Giraffe Marius zwischen moralischer Empörung und Ar tenschutz Birgit Benzing | 253
Vorhang auf! Ein Blick auf Marius’ Sektion, verstanden als Aufführung Stephanie Milling | 269
»Anthropomorphismus!« als Totschlagargument Anthropomorphismuskritik und Methodologie der Tier forschung Christopher Hilbert | 277
Andere Tiere, andere Menschen, andere Welt? Human-Animal Studies als Chance für neue Perspektiven, erweiter te Methoden und fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit – Ein Kommentar Michaela Fenske | 293
Bildnachweis | 311 Zu den Autor_innen | 313
Vorwort Winfried Speitkamp
Anfang des Jahres 2014 hat an der Universität Kassel der Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« seine Arbeit aufgenommen. Der Schwerpunkt geht auf eine mehrjährige Vorbereitung zurück, er wird getragen von dem LOEWE-Programm des Landes Hessen. LOEWE steht für die »Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz«. In dem Kasseler LOEWE-Schwerpunkt zu Tier-Mensch-Beziehungen arbeiten rund 35 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Disziplinen Agrarwissenschaften, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie in 16 Teilprojekten zusammen. In diesem Rahmen konnte zudem erstmals in Deutschland eine Juniorprofessur zur Geschichte der Tier-Mensch-Beziehungen/Human-Animal Studies eingerichtet werden. Der Kasseler Forschungsschwerpunkt befasst sich unter dem Leitbegriff der »Relationalität« mit Tier-Mensch-Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Es geht nicht bloß darum, die Präsenz von Tieren in der Gesellschaft angemessen zu berücksichtigen und das Zusammenleben von Menschen und Tieren zu erfassen. Vielmehr werden über die Untersuchung von Tier-Mensch-Relationen zugleich Formen der »Erschaffung« von Tieren in den Blick genommen, ob durch Tierzucht, Tierhaltung, Tierforschung oder Tierdarstellung. Dabei werden verschiedene Akteure – menschliche wie tierliche – in ihrem Zusammenwirken betrachtet. In vier Arbeitsbereichen erforscht der Verbund erstens Formen der Unterscheidung, Klassifizierung und Hierarchisierung von Tieren, zweitens Ebenen der Annäherung, Vermittlung und Interaktion zwischen Menschen und Tieren, drittens Aspekte der Erfassung, Abbildung und Repräsentation von Tieren und Mensch-Tier-Beziehungen sowie viertens Antriebskräfte, Möglichkeiten und Bedingungen des Umgangs mit Tieren und der Auseinandersetzung mit Tier-Mensch-Beziehungen. Der vorliegende Band geht zurück auf einen Workshop in Kassel, der der Diskussion methodischer Fragen der Erforschung von Tier-Mensch-Beziehungen gewidmet war. An dieser Stelle ist allen zu danken, die am Workshop und
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an dem Sammelband mitgewirkt haben. Das betrifft an erster Stelle die auswärtigen Gäste, die mit uns in eine fruchtbare Diskussion getreten sind, nämlich PD Dr. Urte Helduser, Dr. Peter Moser, Prof. Dr. Thomas Potthast und Heiko Werning sowie nicht zuletzt PD Dr. Michaela Fenske, die auch einen gewinnbringenden Kommentar zu diesem Band beigesteuert hat. Gedankt sei auch den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der Organisation der Tagung und der Vorbereitung des Bandes halfen, darunter besonders für die Mitwirkung an diesem Buch Nora Fährmann. Der Dank gilt auch den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des LOEWESchwerpunktes, die die Herausgabe und redaktionelle Betreuung des Bandes übernommen haben. Besonderer Dank gebührt dabei Sonja Dinter, der Koordinatorin des LOEWE-Schwerpunktes, die sowohl zur Organisation des Workshops wie zur Entstehung des Publikation wesentlich beigetragen hat. Zu danken ist schließlich dem Land Hessen, das über das LOEWE-Programm unsere Forschungsinitiative möglich gemacht und dadurch Raum für experimentelles Denken und die Suche nach neuen Wegen eröffnet hat. Über die Mittel des LOEWE-Programms konnte auch der Druck des Bandes sichergestellt werden. Kassel, im Dezember 2015 Winfried Speitkamp ist Sprecher des LOEWE-Schwerpunktes »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« Die Herausgeber_innen: Birgit Benzing, Sonja Dinter, Silke Förschler, Christopher Hilbert, Anna-Theresa Kölczer, André Krebber, Stephanie Milling, Christian Presche, Wiebke Reinert, Mieke Roscher, Laura Santos, Susanne Schul, Felix Schürmann, Yvonne Sophie Thöne, Daniel Wolf, Matthias Wunsch
Spuren suchen, Zeichen lesen, Fährten folgen André Krebber und Mieke Roscher
E inleitung Vor einigen Jahren haben wir geschrieben, dass Tiere zu einem neuen Modethema der Wissenschaften avanciert seien und sich weithin sichtbar ein Forschungsfeld um die Frage nach dem Tier in der Gesellschaft formiere.1 Aus heutiger Sicht standen wir damit allerdings bereits am Ende einer ersten Phase der Human-Animal Studies (HAS), unter denen sich die vor allem von den Geistes- und Sozialwissenschaften getragene Re-Evaluation des Erkenntnisobjekts Tier und der Tier-Mensch-Beziehungen sammeln. Der Forschungszweig befindet sich mittlerweile in einem Moment der Bestandsaufnahme und Selbstevaluation. Hierfür stehen zahlreiche Sammelbände und Handbücher, die als Einführungen in die HAS konzipiert sind und eine Übersicht über das Forschungsfeld geben.2 Während das Interesse an Tieren ungebrochen hoch ist, hat sich die HAS-geleitete Tierforschung zu einem soliden Programm entwickelt, das seinen festen Platz in der wissenschaftlichen Landschaft abgesteckt und eingenommen hat. Dabei ist dennoch bisher weder eine Vereinheitlichung festzustellen noch ein gänzliches Auseinanderfallen der Forschungsperspektiven. Stattdessen ist eine Konsolidierung des Forschungsbereichs zu konstatieren, der sich mit disziplinären Schwerpunkten trans- und interdisziplinär um einen gemeinsamen Gegenstand und spezifische tierbezogene Fragestellungen gruppiert. Das Feld bleibt vielseitig und mitunter disparat. Diese Diversität lässt allerdings bis auf Weiteres offen, ob es sich bei den HAS, ähnlich etwa der Umwelt- oder Kulturwissenschaften, um eine eigene Disziplin handelt oder doch eher um eine Art supradisziplinären Forschungsorganismus.
1 | A . Krebber/M. Roscher: Tiere und Geschichtsschreibung, S. 3-7. 2 | Vgl. G. Marvin/S. McHugh: Handbook of Human-Animal Studies; de Mello: Animals in Society; Spannring et al.: Disziplinierte Tiere.
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Ihre zentralen Impulse zieht die HAS-geleitete Tierforschung einerseits aus einer evident werdenden Unsicherheit, die die rein naturwissenschaftliche Erforschung von Tieren nicht mehr als hinreichend zur Erklärung tierlichen Lebens und Verhaltens erlebt. Andererseits ist sie getragen von der Einsicht der gewichtigen Rolle, die Tiere schon immer für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften eingenommen haben. Damit verknüpft ist die Erkenntnis, dass die Erforschung von Tieren und ihrer gesellschaftlichen Wirkung nicht auf eine Disziplin zu reduzieren ist, sondern nur im Zusammenwirken verschiedener Disziplinen erfolgen kann. Ebenso wie Menschen mit ihren Kulturen lassen auch Tiere und Tier-Mensch-Beziehungen sich weder auf biologische noch auf soziale Faktoren beschränken, sondern nur im wechselseitig gespannten Miteinander angemessen begreifen.3 Die HAS schärfen so den Blick für Tiere in verschiedenen Wissenschaften, in denen sie bisher kaum oder gar keine Rolle gespielt haben, und stellen gleichzeitig den genuin mit Tieren beschäftigten biologischen Wissenschaften Zugriffe anderer Disziplinen an die Seite. Neben wissenschaftsinstitutionellen und paradigmatischen Hürden verbinden sich mit dem Forschungsprogramm der HAS nicht zu unterschätzende methodische Herausforderungen. Dies gilt für den Austausch zwischen Disziplinen mit ihren jeweiligen methodischen Repertoires, aber auch für die verschiedenen Methodenverständnisse innerhalb einer Disziplin sowie auch den Begriff von Methode. Die integrative Betrachtung von Tieren und menschlichen Gesellschaften wirft unweigerlich die Frage auf, ob und inwieweit die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften, die separate Erforschung von Kultur und Natur, überhaupt noch angemessen ist. Sowohl der Methodenbegriff als auch geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Forschungsmethoden sind dabei zu hinterfragen. Mit welchen Herausforderungen dies einhergeht, zeigen die Beiträge in diesem Band, die keinesfalls für sich beanspruchen, diese Aufgabe schon gelöst zu haben. Vielmehr stellen sie sich der Herausforderung und versuchen gerade in der Zusammenschau und im Dialog verschiedener disziplinärer Zugriffe den Blick für interdisziplinäre Zugänge zu schärfen und damit Möglichkeiten und Grenzen der Integration unterschiedlicher Perspektiven aufzeigen zu können. Als Hinführung reflektieren wir im Folgenden ausgewählte theoretische wie methodische Bemühungen, Forschungsansätze in den HAS zu entwickeln.
3 | D iese Dialektik durchzieht das Feld der HAS auf mehreren Ebenen. So ist immer zu beachten, dass natürlich der Mensch auch ein Tier ist, dass hier also Verhältnisse zwischen den Spezies sowohl implizit als auch explizit Menschen mit einschließen.
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Theore tische H er anführungen : Tiere denken Fokus der Theoriebildung in den HAS ist die Herausforderung der binären, dualistischen Trennung von Mensch und Tier, an die Anthropozentrismus, menschlicher Exzeptionalismus und menschliche Superiorität gekoppelt werden, sowie die Beschäftigung mit kognitiven Fähigkeiten von Tieren. Ausgehend von der Nachdrücklichkeit, mit der sich die enge Verflochtenheit von Natur und Kultur der spätkapitalistischen und sozial-ökologisch krisenhaften Gesellschaft gegenwärtig zeigt, geht es vor allem um Versuche, dieser Verflochtenheit zu folgen und sowohl Verhältnisse von Menschen und Tieren als auch Tiere selbst jenseits einer dualistischen Trennung von Mensch und Tier, Kultur und Natur, Sozialem und Biologischem zu untersuchen, zu denken und zu konzeptualisieren. Dabei geht Theoriebildung in den HAS immer auch mit einer Beschäftigung mit Erkenntnisprozessen und -methoden einher.4 Anfänglich geprägt von Debatten in den Postcolonial, Cultural und Gender Studies und im Kontext neuerer Wissenschafts- und Erkenntniskritik, haben sich seit den 1980er Jahren verschiedene Ansätze entwickelt, die auf derlei Verflechtungen zu fokussieren und sie zu fassen suchen. Als maßgebend für die theoretische Entwicklung innerhalb der HAS sind die Arbeiten von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Félix Guattari, Donna Haraway, Bruno Latour und Giorgio Agamben anzusehen. Darüber hinaus waren und sind Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und Martin Heidegger einflussreiche Stichwortgeber, wenngleich bisweilen eher indirekt. In der jüngeren Zeit ist außerdem eine verstärkte Rezeption der kritischen Theorie Theodor Adornos, Max Horkheimers, Herbert Marcuses und Walter Benjamins zu verzeichnen sowie eine neuerliche Hinwendung zum Werk von Karl Marx. Die Arbeiten dieser verschiedenen Theoretiker_innen bilden dabei allerdings keine festen Referenzpunkte, sondern können als Impulse verstanden werden, die einen Denkraum eröffnet haben und weiter eröffnen. Ausgehend von den genannten Theorien können konzeptuelle Fragen zum Tier und zu Tier-Mensch-Beziehungen gestellt und oft in enger Auseinandersetzung mit Ergebnissen empirischer Ethologie und Kognitionsforschung neu bearbeitet und ausgehandelt werden. Um ausgewiesene HAS-Theoretiker wie Kari Weil, Lori Gruen, Tom Tyler, Steve Baker, Cary Wolfe, Jonathan Burt, Markus Wild, Adrian Franklin und Matthew Calarco, die diese Impulse kritisch aufgegriffen haben, gruppiert sich mittlerweile eine explizite HAS-Theoriedebatte. Ausgehend von verschiedenen personellen Bezugspunkten haben sich in den HAS theoretische Schwerpunkte herausgebildet, die vielleicht am ehesten als Theoriecluster verstanden werden können, die aber noch weit davon entfernt sind, zu festen theoretischen Ansätzen oder gar Schulen zu werden. 4 | N . Taylor: Introduction, S. 1f.
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Vielleicht taugt die Erforschung von Tieren aufgrund der Komplexität, Diversität und Flüchtigkeit ihres Gegenstandes und der Grundsätzlichkeit, mit der klassische theoretische Diskurse infrage gestellt werden, gar nicht zu einer klar abgegrenzten Tradierung. Vielmehr könnte dann mit Haraway wohl auch auf theoretischer und epistemologischer Ebene von »messy entanglements« gesprochen werden. Wissensproduktion zeigt sich als gemeinsam mit dem tierlichen »significant other« (Haraway) erfolgender, kontinuierlicher Akt, in dem man nur bedingt Kontrolle über das Andere ausübt und damit auch über den Prozess und seine Ergebnisse.5 Als Konsequenz ist Theoriebildung offen zu halten, anstatt auf eine (anthropozentrische) Festschreibung in geschlossenen Theorien abzuzielen.6 Auf solch eine Notwendigkeit haben auch Derrida mit seiner Dekonstruktion, Agamben mit seinem Stillstellen einer »anthropozentrischen Maschine« und Adorno in seiner negativen Dialektik hingewiesen, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise. Jedenfalls ist bis auf Weiteres nicht mit einem festen theoretischen Gebäude der HAS zu rechnen. Allenfalls sind verschiedene Tendenzen zu verzeichnen, wie gegenwärtig versucht wird, sich Tieren und TierMensch-Beziehungen theoretisierend zu nähern. Als Konsequenz gruppieren die theoretischen Diskurse sich so gleichzeitig um thematische wie personelle Referenzpunkte, die sich gegenseitig durchdringen, überlagern und bisweilen auch aufheben. Die thematischen Referenzpunkte ordnen sich dabei zentral um die ReKonzeptionierung tierlichen Lebens, das Was der Tierforschung. Hier wurden in den letzten Jahren Fragen nach der Agency, die als Handlungsfähigkeit und -macht von Tieren gefasst wird, nach der Subjektivität oder Individualität sowie nach dem Objektstatus von Tieren gestellt. Weitere zentrale Diskursthemen haben sich um Fragen nach dem den Tieren eigenen Leben und der Heterogenität tierlicher Existenz sowie nach den Möglichkeiten herauskristallisiert, Tiere jenseits anthropozentrischer Zuschreibungen überhaupt fassen zu können.7 Quer hierzu verläuft eine Auseinandersetzung um erkenntnistheoretische und -praktische Probleme. Wir rücken entsprechend der thematischen Ausrichtung des vorliegenden Bandes Fragen nach dem Wie der Tierforschung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese epistemologischen Diskurse zeichnen sich stärker durch gemeinsame Bezüge auf theoretische Werke aus, als dies in der Konzeptdebatte der Fall ist, da sie an erkenntnistheoretische Vordebatten anschließen. Einige Ansätze haben sich dabei in den letzten Jahren als besonders produktiv für die HAS erwiesen. 5 | K . Weil: Thinking Animals, S. xxiv; vgl. zur Co-Produktion von Wissen auch K. Köchy/M. Wunsch in diesem Band. 6 | Hierauf weisen auch R. Borgards et al.: Einführung, S. 21f., hin. 7 | Vgl. etwa R.E. Wiedenmann: Humansoziologische Tiervergessenheit, S. 267ff.
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Ein Ansatz geht von Derridas Überlegungen in Das Tier, das ich also bin aus und verweist auf die Pluralität, Heterogenität und Inkommensurabilität der unterschiedlichen Tiergruppen, die unter dem Oberbegriff Tier zusammengefasst werden. Durch die Konfrontation mit der Vielfältigkeit tierlichen Lebens und tierlicher Existenz wird die Dekonstruktion der Kategorie Tier und des ihr innewohnenden Dualismus betrieben. Einer ähnlichen Strategie folgt auch Giorgio Agamben in seinem Buch Das Offene. Mit dem Konzept der »anthropologischen Maschine« nimmt er die Produktionsmechanismen der Trennung von Mensch und Tier in den Blick und rekonstruiert die Produktion des Humanen als einen Akt der Gewalt gegen Menschen wie Tiere. Stattdessen plädiert er für ein Stillstellen der Produktion dieser Kategorien. In den HAS ist gleichwohl festzustellen, dass diese Herangehensweise oft im Ersetzen des Singulars Tier durch den Plural Tiere stecken bleibt. Kari Weil hat in ihrem Buch Thinking Animals hingegen daran erinnert, dass sich gerade für Derrida an der berühmten Begegnung mit seiner Katze Fragen nach den Bedingungen und Eigenschaften von Denken sowie der Konstitution von (menschlicher) Subjektivität prinzipiell entfachen.8 Mit diesem Fokus auf die Subjektbildung erschließt Weil eine Perspektive für die theoretische Entwicklung der HAS, die in ähnlicher Weise auch dem zeitgleich erschienenen Sammelband Animals and the Human Imagination von Aaron Gross und Anne Vallely zugrunde liegt. Fragen nach der Rolle des Tiers für die menschliche Subjekt- und Bewusstseinsbildung zeichnen sich in diesem Kontext als ein neuer theoretischer Kristallisationspunkt der HAS ab.9 Die von Bruno Latour inspirierte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ist der forschungspraktisch bisher vermutlich einflussreichste Ansatz in den HAS. In der ANT wird eine »Rehabilitierung der Objekte«10 angestrebt, indem ihnen eine eigene Agency zugestanden wird, aufgrund derer nichtmenschliche Wesen soziale Prozesse mitkonstituieren. Hieran anschließend fokussiert die ANT in ihrer Analyse sozialer Welten auf Kollektive menschlicher und nichtmenschlicher Akteure und widmet sich der Erforschung dieser Netzwerke. Allerdings zeigt sich im Falle der ANT vielleicht auch am deutlichsten die Eigenständigkeit HAS-spezifischer Theoriebildung. So sehr mit der ANT Einflüsse von Objekten auf die Realitätsproduktion ernst genommen werden können, so sehr zeigt die Anwendung in den HAS die Blindheit von Latours Forschungsprogramm gegenüber Herrschafts- und Zurichtungsverhältnissen und den spezifischen Handlungskompetenzen von Akteuren.11 Latours Ansatz wird also genutzt, um Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und Tieren sicht8 | Vgl. K. Weil: Thinking Animals, S. xvi. 9 | A. Gross: Introduction. 10 | R.E. Wiedenmann: Humansoziologische Tiervergessenheit, S. 278. 11 | Ebd., S. 278-280.
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bar zu machen und ihre Produkte – Latours Hybride – zu analysieren. Gleichzeitig wird die ANT weiterentwickelt, um das diesem Beziehungsgeflecht inhärente und historisch gewachsene Herrschaftsverhältnis zu berücksichtigen und tierlichen Akteuren so gerecht zu werden.12 Mit Begrifflichkeiten der »naturecultures«, des »cyborgs« und der »messy entanglements« weist das Werk Donna Haraways deutliche Ähnlichkeiten mit dem Verständnis der ANT von Realität als einem gemeinsamen Produkt von menschlichen und nichtmenschlichen Produzenten auf. Trotz dieser Gemeinsamkeit zeigen sich jedoch in Haraways Konzept der »situated knowledges« auch deutliche Unterschiede. Sie lassen sich auf die unterschiedlichen Anordnungen zurückführen, die den Ausgangspunkt der jeweiligen Theorie bilden. Während die ANT ihren Ursprung in der Laborforschung hat, erwuchs Haraways Forschungsperspektive aus der Beschäftigung mit der Freilandforschung. Entsprechend problematisiert Haraway die lokalen Grenzen der Wissensproduktion und regt eine Hinwendung zur Analyse von Produktionsprozessen lokaler Wissenskontexte an.13 Was Haraway hiermit meint, lässt sich vielleicht am besten an ihren späteren Arbeiten zeigen, in denen sie den Hundesport Agility exemplarisch als einen Ort und eine Praxis der gemeinsamen Wissensproduktion von Mensch und Tier reflektiert. Um die Parcours zu meistern, sind Mensch und Hund darauf angewiesen, gemeinsam ein Wissenssystem zu erarbeiten.14 Obwohl die konzeptuelle Ebene von Haraways Arbeiten dabei sehr fruchtbar für die HAS war und weiterhin ist, stellt sich auf praktischer Ebene für die HAS jedoch die Frage, ob nicht ähnliche Probleme wie in der ANT vorherrschen und die in gesellschaftliche Praxen eingelassenen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse vorschnell aus dem Blick verschwinden.15 Neben diesen, mittlerweile als Klassiker der HAS geltenden Zugängen deuten sich weitere theoretische Perspektiven an, deren Tragfähigkeit allerdings noch nicht klar ist. Es muss sich erst zeigen, ob sie zu einer breiteren Rezeption führen oder Randerscheinungen bleiben werden. Michel Foucaults Œuvre ist dabei schon seit Langem eine wichtige Quelle16, die indirekt durch die Werke anderer in die HAS wirkt und mit dem Konzept der »Biomacht« klare Anknüpfungspunkte bietet. Gegenwärtig zeichnet sich eine Tendenz zu einer stärkeren Berücksichtigung von Foucaults Begrifflichkeiten ab, die sich wieder vorrangig mit Foucaults Schriften auseinandersetzt. Zum Beispiel wird versucht, Foucaults Begriff der Heterotopien für die Theoriebildung
12 | Vgl. M. Roscher: Wirkungsmacht. 13 | D. Haraway: Situiertes Wissen. 14 | D. Haraway: When Species Meet, zum Agility Sport besonders S. 205-246. 15 | Z. Weisberg: Broken Promises; Haraway/Potts: Kiwi Chicken Advocate. 16 | Vgl. den Beitrag von S. Förschler in diesem Band.
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der HAS fruchtbar zu machen.17 Ein noch vergleichsweise wenig bearbeitetes theoretisches Feld sind die kritischen Theorien Theodor Adornos und Walter Benjamins, die seit einiger Zeit aber mehr Aufmerksamkeit erfahren und zukünftig vermutlich weiter an Sichtbarkeit in den HAS gewinnen werden.18 In diesen Theorien werden sowohl das Verhältnis von Mensch und Tier als auch das Leben von Tieren als dialektisch vermittelt reflektiert. Die Aufgabe besteht darin, diese Dialektik sichtbar zu machen und nachzuzeichnen. Außerdem formiert sich ein von dem Philosophen Graham Harman angeregter Diskurs einer sogenannten objekt-orientierten Ontologie. Als Reaktion auf die ANT und in Auseinandersetzung mit Bruno Latours Arbeiten wird darin eine Reduzierung von Objekten auf ihre Effekte in Netzwerken problematisiert. Ohne dabei erneut einem Anthropozentrismus das Wort reden zu wollen, findet eine neuerliche Hinwendung zum Objekt an-sich statt.19 Neben diesen stark wissenschafts- und erkenntnistheoretisch geprägten Ansätzen stehen sozialtheoretische Ansätze wie der Theodor Schatzkis, der die Praxis als Zugang für soziale Beziehungen fruchtbar macht,20 und so den »practice turn« mit dem »animal turn« verbindet. Es sind hier die Tier-Mensch-Verhältnisse, die in den Mittelpunkt theoretischer Reflexion rücken.
M e thodische A nsät ze : Tiere (B e -)S chreiben Die inter- und transdisziplinär aufgestellten HAS artikulieren ihren Forschungsgegenstand nicht nur über eine sie einende theoretische Grundlage, sondern auch über Zugriffe, die methodisch in den einzelnen Disziplinen unterschiedlich geformt, jedoch durch eine klare Kategorienbildung interdisziplinär anschlussfähig gehalten werden. In diesem Rahmen identifizieren sie Fragen, die für die HAS generell von Interesse sind, über den Gegenstand ihres Zugriffes: Tiere sowie Tier-Mensch-Verhältnisse. Diese Topoi umfassen in erster Linie die Bereiche Raum, Zeit, Körper, Ästhetik sowie klassische Kategorien sozialwissenschaftlicher Annäherungen an das Tier wie das Soziale und die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Dabei geht von diesen kategorial gefassten Topoi und bestimmten disziplinären Zugriffen eine besondere Strahlkraft aus, die sich in der Aneignung durch andere Bereiche der HAS zeigt. Methodik, definiert als eine Verbindung von klassischer Datenermittlung – sei es durch Archivrecherche, qualitative Interviews, Laborstudien, Text- und Bildanalyse, beobachtende Teilnahme und Feldstudien, quantitative 17 | M. Roscher: Animals as Signifiers. 18 | Z.B. J. Sanbonmatsu: Critical Theory; A. Krebber: Animal Subject. 19 | G. Harman: Prince of Networks; J. Bennett: Vibrant Matter. 20 | Vgl. A. Steinbrecher: Praxeologischer Blick, S. 34.
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Erhebungen – und deren spezifischer tiersensibler Zurichtung und Lesung, vermag die geforderten interdisziplinären Brücken zu schlagen. Dies gelingt dann, wenn stets auch die kulturelle Konstruktion und epistemische Funktion des Tieres im Blick behalten wird.21 Beispielsweise wird ausgehend von den Kunst- und Literaturwissenschaften die spezifische Ästhetik des Tieres als Bestandteil einer tierzentrierten Analyse, als ein durch relationale Aspekte bestimmtes Kategorienschema verstanden, in dem Tier-Mensch-Beziehungen ästhetisiert werden. Eine solche Lesung von Tier-Mensch-Beziehungen zielt auf die Betrachtung der Gestalt der Tiere als einem kulturellen Wert ab, der auch in ihrer Erscheinung liegt. Das tierliche, materielle Andere wird als ständige Referenzfläche genutzt, wobei insbesondere auch der ästhetische Aspekt, also die Zugangsmöglichkeiten zu dieser Referenzfläche berücksichtigt werden.22 Zugang zum Tier und Eigenleben der Tiere stehen hier in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Dafür wird in den HAS u.a. das von Thomas Seboek in den 1960er Jahren entwickelte Modell der Zoosemiotik referenziert und gleichsam umgedeutet. Verstanden als Studium der Bedeutungsbeimessung, Kommunikation und Repräsentation zwischen den Spezies23, wird dieser ästhetische Aspekt hier breiter aufgefächert. Die Vermittlung von Botschaften über die Materialität von Tieren werden eben nicht als willkürlich begriffen; ihre visuelle Anordnung ist im Gegenteil von zentraler Signifikanz.24 Dabei ist die ästhetische Wertung wesentlich und wesenhaft für die kulturelle Relevanz von Tieren bzw. ganz spezifischer Tiere an ganz spezifischen Orten.25 Der Wert von Tieren hängt von der kulturellen Relevanz ab, die aus tiersensitiver Sicht auch von der jeweiligen zoosemiotischen Ästhetik hervorgerufen wird. Ästhetik fungiert somit mitunter als Produzent »kollektiver Vorstellungen von Tieren«.26 Repräsentation und kulturelle Funktion sind – auch im Sinne einer »ecocritical aesthetic«27 – als solche zusammenzudenken. Insbesondere relevant sind sie für Fragen nach den materiell-semiotischen Knoten und Bedeutungsveränderungen in harawayscher Diktion,28 welche sich explizit in tierliche Körper einschreiben. Wie Jessica Ullrich und Friedrich Weltzien schreiben: »Produktionsästhetisch ist relevant, inwieweit Rationalität, Kontrolle, Planbarkeit
21 | N. Taylor: Humans, Animals, and Society, S. 4. 22 | P. Pahin/A. Macfadyen: Human-Animal Relational Aesthetic, S. 1-13. 23 | T. Maran: Dimensions of Zoosemiotics, S. 1-10. 24 | D. Martinelli: Tierästhetik, S. 74-86. 25 | F. Weltzien: Der ästhetische Wurm, S. 30. 26 | Vgl. den Beitrag von C. Presche und D. Wolf in diesem Band. 27 | R. Malamud: Poetic Animals, S. 44. 28 | D. Haraway: When species meet, S. 4.
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zur Erzeugung ästhetischer Erfahrung notwendig sind«.29 Diese Dialektik zwischen einer teilweise imaginierten Natur und der gelebten Erfahrung der Beziehung zwischen Menschen und anderen Tieren ist dabei zentral für alle methodischen Zugriffe der HAS. Narratologisch wird hier mit den Polaritäten zwischen »diegetischen« und »semiotischen« Tieren gearbeitet.30 Hieran mag eine tiersensitive Ikonologie Anschluss finden.31 Garry Marvin und Susan McHugh haben kürzlich suggeriert, dass der Bindestrich in Human-Animal Studies auf die immanente Verbindung zwischen Menschen und Tieren und auf das »together in one« verweist. Aus diesem Grund seien die Relationalitäten immer mitzudenken, in der Annahme, dass menschliches Leben untrennbar mit dem der Tiere verbunden ist.32 Relationalität ist immer spatial bestimmt, gehen die HAS doch davon aus, dass Räume stets auch im Hinblick auf spezifische Tier-Mensch-Beziehungen gedacht werden, die bisweilen kulturelle Zuordnungen von wild und domestiziert naturalisieren.33 Als »more-than-human-places« sind Räume hier deshalb mehrfach und relational zu untersuchen. Als Orte und als spezifische Plätze weisen sie je nach Betrachtungsweise Tieren und Menschen bestimmte Funktionen zu, die changieren können. Zwischen »Wildnis« und Stadt, Privatheit und Öffentlichkeit, Heim und Hof verändern sich die Beziehungen. Animal Geography als von den HAS beeinflusster Zweig der Kulturgeografie34 verweist aus diesem Grund auf die komplexen Verknüpfungen von Mensch-Tier-Beziehungen und auf die Verflechtungen von »space, place, location, environment and landscape«.35 Es geht ihr um Kreuzungen und Verkreuzungen, die geografisch fassbar sind.36 Räume sind als Analysekategorien und methodische Zugänge zu begreifen, weil sie von Tieren und Menschen geteilt werden. Über ihre Situierung im Raum lassen sich Tiere ebenso als historische Akteure beleuchten.37 Hier interessiert die volatile, kulturspezifische Beziehung zwischen »animal spaces« und »beastly places«.38 Diese »topologischen Relationen« sind für die HAS von
29 | J. Ullrich/F. Weltzien: Disziplinierte Wachstumsprognosen, S. 114. 30 | R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 97. 31 | Vgl. den Beitrag von T. Kölczer und S. Schul in diesem Band. 32 | G. Marvin/S. McHugh: In it Together, S. 2. 33 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von F. Schürmann in diesem Band. 34 | T. Hodgetts/J. Lorimer: Methodologies, S. 285-295; C. Johnston: Animal Geography, S. 633-649; S. Whatmore: Materialist Returns, S. 600-609. 35 | C. Philo/C. Wilbert: Animal Spaces, S. 4. 36 | J. Urbanik: Placing Animals, S. 38. 37 | Vgl. A. Steinbrecher: Tiere und Raum, S. 219-240. 38 | C. Philo/C. Wilbert: Animal Spaces.
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zentraler Bedeutung.39 Roland Borgards hat für die Literary Animal Studies Theriotopologien bzw. Theoriotopien als kulturelle Orte entworfen, in denen Tiere eine soziale, politische und juridische Lesbarkeit erfahren.40 Im Anschluss an Haraway werden hier also »world-making entanglements« der spatialen »contact zones« überprüft.41 Dass diese Orte sich durch unterschiedliche Perspektiven durchaus »hybride« darstellen können, zeigen die disziplinären Sichtungen.42 Hieran lässt sich ablesen, dass es spezifische Tiere zu spezifischen Zeiten waren, die sich sowohl in die Produktion menschlicher Kultur wie in ihre Wissensordnungen eingeschrieben haben und dass es dafür spatiale Strukturen gab, die sich in der Platzierung, in der Replatzierung und in der Displatzierung von Tieren ausdrücken. Diese Strukturen sind jeweils temporal bestimmt. Deswegen kommt der Untersuchung der historischen Kontexte innerhalb der HAS eine wichtige Aufgabe zu. Dass die historische Betrachtung von Tieren und Tier-Mensch-Verhältnissen per se kein Novum ist und die Frage über die möglichen zur Verfügung stehenden Quellen inzwischen durchaus konstruktiv beantwortbar ist,43 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage nach den Eigenzeiten der Tiere ein noch weiter zu ergründendes Terrain darstellt. Dennoch möchten wir im Kontext dieses Aufrisses darauf hinweisen, dass Zeitlichkeit bis dato vor allem als anthropologische Konstante normativ festgelegt wird. Dies stellt ein methodisches wie auch epistemologisches Problem dar. Zeitlichkeit und Methode sind aber auch noch auf einer anderen Ebene miteinander verwoben, da dem methodischen Vorgehen selbst eine eigene Historizität, eine eigene Zeit innewohnt. Insbesondere die Ethologie als beobachtende Wissenschaft mit einem durchaus changierenden Tierbild legt hiervon ein Zeugnis ab. Die angeführten methodischen Zugriffe der HAS sehen sich nicht nur mit disziplinären und interdisziplinären Herausforderungen konfrontiert. Auch hinsichtlich der Betrachtungswahl der zu untersuchenden Spezies im Kontakt gilt es noch einiges zu klären. Dem Aufruf, dass die Betrachtung multikulturell und multispeziesbasiert sein soll,44 ist vor allem die Ethnologie nachgekommen, die mit der Multispecies-Ethnography Weichen gestellt hat,45 mit einem erweiterten Kulturbegriff die Vielen in den Blick zu nehmen. Indem sie 39 | Vgl. den Beitrag von S. Förschler in diesem Band. 40 | R. Borgards: Wolf, Mensch, Hund, S. 131. 41 | D. Haraway: When Species Meet, S. 4. 42 | Vgl. den Beitrag von B. Benzing in diesem Band. 43 | M. Roscher: Tiergeschichte, S. 80. 44 | G. Marvin/S. McHugh: In it Together, S. 9. 45 | S. Helmreich/S.E. Kirksey: Multi-species Ethnography, S. 545-576; L. Ogden et al.: Animals, Plants, S. 5-24; U. Münster: Working for the Forest, S. 1-23. Vgl. auch den Beitrag von M. Fenske in diesem Band.
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beispielweise Körper als aus vielen Körpern bestehende Multispezies-Organe begreift.46 Anna Tsing hat die menschliche Natur deshalb per se als »interspecies relationship« definiert.47 Ethnografische Perspektiven zwingen uns dazu, die materialistischen Rückbindungen und Implikationen der körperlichen Interaktionen zwischen den Spezies, einschließlich des Menschen, zu berücksichtigen.48 Embodiment als ein von den HAS explizit aufgegriffenes Konzept knüpft an disziplinäre Debatten an und verbindet diese: Körpergeschichtliche Perspektiven, soziologische und kulturwissenschaftliche Praxistheorien, textuelle Verkörperungen der Literary Animal Studies und philosophische WeltUmwelt-Theorien nehmen allesamt auch die Performativität der Handlungen in den Blick und verweisen gleichermaßen auf die »tierliche Lebendigkeit«.49 Das »soziale Kollektiv«,50 das von Mensch und Tier auch durch diese Körperlichkeit gebildet wird, ist Grundlage gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die überlagert sind von sozialen Aktivitäten. Sowohl mit sozialhistorischen als auch soziologischen wie mit ethnologischen Methoden können sie untersucht werden.51 Die »Mensch-Tier-Sozialität«52 begreift das Soziale als Voraussetzung für die Inklusion der Tiere in der Forschungspraxis sowohl auf Mikro-, Makro- wie Mesoebene. Interanimale Netzwerke sind somit Voraussetzung für die Produktion von Bedeutung: Das Soziale und das Semiotische sind auf das Engste verwoben. Daran knüpfen tierphilosophische Fragestellungen an, die u.a. auf Kommunikation jenseits von Sprache rekurrieren.53 Das Soziale wird hiermit zur zentralen methodischen Kategorie, in der die jeweiligen Umwelten mitgedacht werden müssen. Auch die neue Forschungsperspektive der von den HAS beeinflussten Social Zooarchaeology verweist auf das durch soziale Praxen hervorgerufene »species co-shaping«, das auch Fragen der Tiernutzung als soziale Interaktion aufzugreifen vermag: »sociality conveys interspecies engagement, an engagement that is mediated, of course, by the totality of the material world and its agency«.54 Gleichsam, und methodisch durchaus anspruchsvoll, impliziert der Multispecies-Zugang die immanente Verknüpfung naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschungspraxen, um der Konstitution der sozialen 46 | Vgl. den Beitrag von Y.S. Thöne in diesem Band. 47 | A. Tsing: Unruly Edges, S. 144. 48 | A. Smart: Multispecies Ethnography, S. 3-7. 49 | Vgl. den Beitrag von S. Förschler in diesem Band. 50 | R. Wiedenmann: Humansoziologische Tiervergessenheit, S. 268. 51 | Vgl. S. Pearson/M. Weismantel: Gibt es das Tier?, S. 387. 52 | R. Wiedenmann: Humansoziologische Tiervergessenheit, S. 275. 53 | D.B. Dillard-Wright: Embodied Meaning, S. 69. 54 | Y. Hamilakis/N.J. Overton: Multi-species Archaeology, S. 159-173. Vgl. auch E. Gittins: Becoming the Animal, S. 120-133.
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Umgebung auf den Grund zu gehen.55 Beziehungen in den HAS sind also gleich mehrfach bedeutsam und methodisch wirksam. Sie beschreiben sowohl die Tier-Mensch-Beziehungen, die Interspezies-Beziehungen, wie eben auch die Beziehungen, die durch den jeweiligen methodischen Zugriff disziplinär und interdisziplinär zutage treten. Dabei ist nicht nur das Beschreiben, sondern auch das Schreiben selber als ein Akt der Herstellung von Sinn und Bedeutung in der Tierforschung methodisch zu reflektieren und zu berücksichtigen.56
M e thoden D er Tier -M ensch -F orschung : ein A usblick Der vorliegende Band geht zurück auf einen Workshop des LOEWE-Schwerpunktes »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel, der sich mit eben solchen disziplinären wie interdisziplinären Fragen des methodischen Zugriffes auf Tiere sowie Tier-Mensch-Beziehungen auseinandergesetzt hat. Insbesondere die Topoi der Relationen und Relationalitäten und ihre Auswirkungen auf die Methodik werden dabei in den Beiträgen zentral angesprochen. Indem etwa die Reliabilität der Forschungsergebnisse mit der Subjektivität der Forschenden korreliert wird, werden Beziehungen und Interaktionen mit Tieren als methodische Grundlage angenommen57 bzw. auf die Relevanz von Umwelten bei der Zucht hingewiesen. Dabei spielen die körperlich-ästhetischen Prozesse, die methodisch erfasst werden können, eine zentrale Rolle. Gleichsam steckt in dieser methodischen Verortung oft eine Vorwegnahme. Durch die erkenntnistheoretische Annahme, dass »letztlich allein die Physis – körperliche Strukturen und Bewegungen in Raum und Zeit – objektiv beobachtbar ist« und die damit einhergehende »Fokussierung auf die äußere Erscheinung und auf physiologische Vorgänge«58, soll Subjektivität vermieden werden. Über Körper und körperliche Eigenschaften von Tieren, ihr »Exterieur«59, verhandelt sich hier wiederum die Methode, und das gleich auf zweifache Art und Weise. Methode ist hier sowohl der physische Zugriff auf das Tier als auch die wissenschaftliche Reflexion über dieses Tun. Der Ort, an dem diese Erforschung stattfindet, ist ein weiterer zentraler Punkt. Denn nicht nur die zu erforschende Tier-Mensch-Interaktion, sondern die Forschung selbst hat eine immanent räumliche Dimension, die methodisch Betrachtung findet. Dies wird an unterschiedlichen Stellen in diesem 55 | L. Hamilton/N. Taylor: Investigating the Other, S. 251-271. 56 | R. Borgards et al.: Einführung, S. 18ff. 57 | Vgl. U. Knierim/A. Ebinghaus in diesem Band. 58 | Vgl. C. Hilbert in diesem Band. 59 | Vgl. L. Santos/S. König in diesem Band.
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Band deutlich gemacht. Ob nun der Zoo, das Freilandlabor oder der Stall, ob die Insel oder die Menagerie: Die »Bedeutung der räumlichen Situiertheit« 60 ist für den methodologischen Zugriff wie auch die Interaktion zentral. Die Präsenz von Tieren im Raum ist eben wesentlich für die Interpretation der Beziehung. Tiere deuten ihn um, zerstören ihn mitunter61, hinterlassen Spuren und legen Fährten. Das Betreten dieser Räume, selbst der vergangenen, wird gleichsam als wichtige Erfahrung für die Forschenden antizipiert, die mit der späteren »Vergegenwärtigung« eben auch die spezifischen »Raum-Zeit-Konstellationen« inkludieren.62 Dass diese Beziehungen sowohl multilateral als auch multispeziesbasiert sind, ist eine Erkenntnis, die die in dem Sammelband vertretenen Beiträge teilen, insbesondere wenn zu Recht darauf hingewiesen wird, dass auch das Töten von Tieren eine Beziehung darstellt.63 Diese Beziehung bedarf deshalb auch multiperspektivischer und multidisziplinärer Annäherungen. Dies spricht für einen breitern Methodenbegriff als jenen, der bisweilen disziplinär und interdisziplinär im Hinblick auf die Tierforschung und die HAS verwendet wird. Als »aktive Glieder der methodischen oder methodologischen Relationen«64 sind Tiere selbst aktiver Teil des Forschungsprozesses und das von Anfang an. Schon bei der Fragestellung werden sie wirkmächtig, da sich die Methode einerseits an ihnen ausrichtet, ihren Fährten gefolgt wird, andererseits ihr methodisches Repertoire – im Sinne ihrer Agency bzw. ihrer Handlungen, also ihrer eigenen Fährtenaufnahme und -verfolgung – stets mit in den Blick genommen wird und werden muss. Wie diese Fährten noch sichtbarer als Teil dieses Forschungsorganismus gemacht werden können, wird Aufgabe der HAS bleiben. Wir verstehen die folgenden Artikel als Beiträge zu dem eingangs reflektierten Prozess kritischer Re-Evaluation und Konsolidierung der HAS in methodologischer Hinsicht. Sie stehen aber auch für eine Erweiterung dieses Prozesses, indem sie den Blick auf das Verhältnis der HAS zu disziplinären Diskursen eröffnen, wenngleich nicht explizit bearbeiten. Wohin dieser Weg führt, welche Fährten sich also als besonders fruchtbar erweisen, wird sich erst noch zeigen.
60 | Vgl. K. Köchy/M. Wunsch in diesem Band. 61 | Vgl. Y.S. Thöne in diesem Band. 62 | Vgl. F. Schürmann in diesem Band. 63 | Vgl. B. Benzing in diesem Band. 64 | Vgl. K. Köchy/M. Wunsch in diesem Band.
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Kulturspuren von Insekten
Die Tiere, die im Mittelpunkt der Beiträge der vorliegenden Sektion stehen, sind Insekten. Die Beiträge verfolgen Kulturspuren von Insekten in der jüdisch-christlichen Schrift des Tenach bzw. des Alten Testaments, in frühneuzeitlichen Visualisierungspraktiken und in der Tierforschung um 1900. Im Einzelnen geht es dabei um Tiere, die im Kontext von Literatur im Kulturraum des Alten Orients repräsentiert werden, um Tiere, deren Abbildung Rückschlüsse auf den realen Kontext von Menagerien im 18. Jahrhundert zulassen, und um Tiere, die Jean-Henri Fabre im Rahmen seiner entomologischen Forschung beobachtet und untersucht hat. Die Beschaffenheit von Insektenkörpern, ihr Auftreten in Schwärmen, ihre spezifischen Organisationsformen sowie ihr Äußeres erfordern eigene Formen der Annäherung und Abstandnahme, die von der Beobachtung, Beschreibung und Darstellung über das Experiment und die Zucht bis hin zum Ernährungs- und Abwehrverhalten reichen. Methodenfragen, die in Verbindung mit Insekten zu beantworten sind, beziehen sich auf das Spektrum ihrer Handlungen. Wie die Insekten bewertet und definiert werden, hängt dabei auch davon ab, ob sie als Schwarm oder als Einzelwesen, in ihrem natürlichen Lebensraum oder in konstruierten Raummodellen beobachtet werden. Den Beiträgen der Sektion liegt das gemeinsame Interesse zugrunde, bestimmte Modi zu identifizieren, in denen verschiedene Relationen zwischen Menschen und Insekten durch die Insekten selbst mitbestimmt werden. Konkret gesagt, induzieren die Insekten bestimmte Forschungserfordernisse, geben Betrachter_innen bestimmte Positionierungen und Perspektivierungen vor, produzieren Bedrohungsszenarien und geben Anlass zur Modifikation von Speisegeboten. Die verschiedenen kulturellen Praktiken, auf deren Thematisierung der Tiere die Beiträge reflektieren, präsentieren die Tiere auf eine Weise, die Rückschlüsse auf die jeweiligen Tier- und Selbstverständnisse sowie Konzeptionen der Tier-Mensch-Beziehung zulassen. Dabei geht es um menschliche und tierliche Praktiken der Klassifizierung und um räumliche und systematische Ordnungen der Tier- und Menschenwelt. Ebenfalls ins Auge gefasst werden die Bedeutung und Reflexion methodischer Zugänge für den Blick auf die Tier-
Mensch-Relationalität. Zugrunde liegende Quellen sind in den vorliegenden Beiträgen Texte und Bilder. Dabei handelt es sich um altorientalische, frühneuzeitliche und poetisch-wissenschaftliche Texte. Bilder von Insekten werden in so unterschiedlichen Bildmedien wie einem Namenssiegel, einem Elfenbeinblättchen und einem Relief untersucht. Von Interesse sind außerdem Gebrauchsgrafiken des 18. Jahrhunderts. Bildgebungen von Insekten und Narrationen über das Insekt haben dabei vermittelnden und wissensgenerierenden Anspruch. In den Abbildungen werden bestimmte Betracher_innen-Relationen gegenüber den Insekten eingeübt, die wiederum Rückschlüsse auf historisch generierte Tier-Topografien zulassen. Die Vielfalt der Formen der Eingebundenheit der Insekten in den einzelnen Texten hängt ebenfalls mit insektlichen Charakteristiken zusammen. Schwärme von Heuschrecken werden als ungebetene Plage negativ konnotiert, während die selbstgewählte Beobachter_innen-Position im Freiland, im Arbeitszimmer oder in einer heimischen Menagerie als Bedingung für eine gelungene Annäherung des Forschenden und der Insekten verstanden wird. Einbettungen des Tieres erfolgen in Narrationen und räumlichen Konstellationen. In den Wechselverhältnissen zwischen den Narrations- und Bildgebungsverfahren, in die Insekten gesetzt werden, und ihren spezifischen Spuren sind die Methoden des Tiers häufig auffindbar. Mit Blick auf Methodenfragen sind in den Beiträgen der vorliegenden Sektion verschiedene Dimensionen zu unterscheiden. Von den Methoden, die Insekten selbst in ihrem Verhalten zeigen, sind die Methoden zu trennen, die in Kunst, Literatur und Wissenschaft zur Anwendung kommen, um Insekten darzustellen, zu symbolisieren und zu erforschen. Eine wichtige Rolle spielen auch methodologische Fragen, nämlich welche Strukturen, Beziehungen und Elemente den methodischen Horizont bilden, in dem die Tiere thematisiert werden. In den drei Artikeln ist die Textexegese als disziplinäre Methode interdisziplinär vergleichbar. Und auch die Ikonographie als Methode der Bildinterpretation ist in der Art und Weise, wie sie historische Sinnzusammenhänge deutlich macht, interdisziplinär anwendbar. Allgemein ist das Bemühen der Human-Animal Studies darum, Besonderheiten des Tierlichen zu erfassen der Kern interdisziplinärer Zusammenarbeit. Hier steht im Fokus, wie Schwärmen, Verhaltensweisen, Bewegungen und Materialitäten der Insekten methodisch nahegekommen werden kann. Der Beitrag von Yvonne Sophie Thöne widmet sich der Darstellung der Heuschrecke im Alten Testament. Im Horizont einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese kristallisieren sich zwei Linien heraus: Zum einen wird das Insekt als Bedrohung gezeichnet – nicht nur in der populären Plagenerzählung im Buch Exodus, sondern auch in der militärisch gefärbten Metaphorik der poetischen und prophetischen Bücher (»Strafgericht«). Zum anderen gilt die Heuschrecke als geschätztes Nahrungsmittel (»Leibgericht«), was ihre
besondere Kategorisierung im Kontext der Speisebestimmungen der Tora erklärt. Im Aufsatz von Silke Förschler wird die Menagerie aus raumtheoretischer Sicht und mit bildwissenschaftlicher Methode als ein frühneuzeitliches Gefüge einer Mensch-Tier-Relation analysiert. Dieses interdisziplinäre Vorgehen macht anhand von Réaumurs Ausführungen zu seinen Insektenbeobachtungen und seiner Bezugnahme auf die Menagerie in Versailles sowohl architektonisch gegebene Betrachter_innen-Positionen deutlich als auch die Raumaneignung von Tieren. Kristian Köchy und Matthias Wunsch eröffnen die Perspektive einer Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung. Sie wählen als Fallbeispiel die Forschung des Insektenforschers Jean-Henri Fabre und ihre philosophische Reflexion bei Henri Bergson. Die methodologische Aufmerksamkeit liegt dabei auf Methoden von Grabwespen, Methoden der empirischen Insektenforschung, auf der methodologischen Signatur von Forschungsansätzen und der wechselseitigen methodischen Relevanz von Philosophie und Tierforschung. Silke Förschler, Yvonne Sophie Thöne, Matthias Wunsch
Strafgericht und Leibgericht Die Heuschrecke im Alten Testament Yvonne Sophie Thöne
»Aufgabe der Exegese ist es, das Fremde so genau anzuschauen, dass es ein wenig vertrauter wird. Aufgabe der Exegese ist es, das Vertraute so genau anzuschauen, dass es ein wenig fremder wird.« 1
E inleitung : E in S chwarm von M e thoden Beinahe so zahlreich wie die tierlichen Individuen eines Heuschreckenschwarms erscheinen die mannigfaltigen Methoden der Bibelwissenschaft, auf welche auch die exegetischen Human-Animal Studies zurückgreifen. Grundsätzlich ist dabei eine Differenz von Methodik und Hermeneutik festzuhalten. Hermeneutik meint übergeordnete »Verstehensansätze, d.h. grundlegende Perspektiven/leitende Interessen im Umgang mit der Schrift«.2 Zur Kategorisierung dieser hermeneutischen Perspektiven ist danach zu fragen, wo der Textsinn gesucht wird: Ansätze, die den Text aus seinem historischen Zusammenhang erklären, verorten seinen Sinn in der Welt hinter dem Text (wie etwa die historisch-kritische Forschung, welche die Exegese lange Zeit dominiert hat).3 Hermeneutiken, die den Text als einen eigenen Sinnkosmos begreifen, suchen den Sinn im Text selbst (z.B. Kanonische Bibelauslegung).4 Leser_innenorientierte Ansätze schließlich, die den »Akt des Lesens als Sinn-
1 | J. Ebach: SchriftStücke, S. 52. 2 | G. Steins: Die »Bindung Isaaks«, S. 142. 3 | Vgl. ebd., S. 142-145. 4 | Vgl. ebd., S. 148-150.
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produktion«5 begreifen, interpretieren den Text angesichts der Welt der Leser_ innen (z.B. Befreiungstheologische Bibelauslegung).6 Methoden hingegen sind die konkreten Arbeitstechniken der praktischen Textauslegung.7 Dabei können hermeneutische Zugangsweisen diese hervorbringen. So hat beispielsweise die historisch-kritische Bibelauslegung spezifische Methoden wie Textkritik, Literarkritik, Form- und Gattungskritik und Traditionskritik entwickelt8, die auch unter dem Dach anderer Zugangsweisen Anwendung finden. Andererseits bedient sich die Exegese auch der Methoden anderer Disziplinen, beispielsweise spezifisch literaturwissenschaftlicher Arbeitsweisen wie der Narratologie, die entsprechend in die Bibelwissenschaft integriert werden.9 Generell gilt auch für die Methoden der Exegese selbstverständlich, dass diese »vernunftverantwortet, in sich widerspruchsfrei, intersubjektiv vermittelbar und nachprüf bar«10 zu sein haben. Eine weitere Unterscheidung lässt sich hinsichtlich sogenannter diachroner und synchroner Methoden treffen. Während diachrone Methoden(schritte) die historische Genese eines Textes untersuchen, beschäftigen sich synchrone Verfahren mit einer Textfassung – in der Regel dem kanonisierten Endtext –, ohne dessen geschichtliche Entwicklung zu thematisieren und analysieren stattdessen die spezifischen Phänomene der vorliegenden Textfassung.11 Aus diesen beiden Fragerichtungen ergeben sich häufig unterschiedliche Interpretationen; so werden beispielsweise Brüche, Spannungen oder Dopplungen im Text aus diachroner Perspektive als Hinweise auf verschiedene Um- und Überarbeitungen gewertet, während diese aus synchroner Perspektive als bewusste, ästhetisch bzw. theologisch motivierte Stilmittel und erzähltechnische Bedeutungsträger gelesen werden.12 5 | Ebd., S. 146. 6 | Vgl. ebd., S. 145-148. 7 | Ebd., S. 141f. 8 | H. Utzschneider/S.A. Nitsche: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibela us legung, S. 19; G. Fischer: Wege, S. 54-65. 9 | Bereits 1979 im hebräischen Original erschienen und 1989 unter dem Titel Narrative Art in the Bible ins Englische übersetzt, erschien die deutsche Ausgabe von Shimon Bar-Efrats Klassiker Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen erst 2006. Die verhältnismäßig zeitnahe Übersetzung ins Englische spiegelt die frühe Offenheit für narratologische Ansätze im anglo-amerikanischen Raum wider bzw. die zögerliche Aufnahme im deutschsprachigen Raum. 10 | C. Frevel: Recht, S. 155. 11 | Vgl. T. Meurer: Einführung, S. 12f.; H. Utzschneider/S.A. Nitsche: Arbeitsbuch, S. 20. 12 | Vgl. C. Hoegen-Rohls: Synchronie/Diachronie, S. 578; Ilse Müllner: Zeit, Raum, Figuren, Blick, S. 19.
Strafgericht und Leibgericht
Dem entspricht, dass Methodenfragen durchaus spaltend wirken können. Eine »Frontstellung«13 zwischen der in Forschung und Lehre dominierenden, diachron orientierten historisch-kritischen Auslegung und »neueren«, synchronen Methoden (wie etwa literaturwissenschaftliche Herangehensweisen)14 besteht bereits seit den 1970er Jahren. Dahinter steht meist ein unterschiedliches Verständnis der Schrift: Diese kann als historisches Dokument, als kulturelles Produkt, als Offenbarung oder irgendetwas dazwischen wahrgenommen werden. Wichtig ist die Einsicht, dass der biblische Text ein vielstimmiger ist. Daraus ergibt sich auch seine Vieldeutigkeit.15 Diese Polyphonie und -semie erfordern mehr als nur eine Herangehensweise: »Die Erforschung der historischen Dimension biblischer Texte ist wichtig und unaufgebbar. Sie darf jedoch nicht zur einzigen Aufgabe der Exegese werden. Andernfalls droht die Gefahr, dass die Bibel zu einem Buch der Vergangenheit wird und nur noch von historischem Interesse ist. Das aber widerspräche ihrem Selbstverständnis.«16
Insofern sind historische durch weitere Zugänge – literaturwissenschaftliche, rezeptionsorientierte oder auch theologisch-geistliche – zu ergänzen. So wenig wie die eine Methode der Human-Animal Studies existiert, gibt es also auch die bibelwissenschaftliche Methode. Die höchst unterschiedlichen Analyseverfahren können und sollen dabei miteinander verknüpft und umso fruchtbarer gemacht werden – in diesem Fall unter dem hermeneutischen Horizont der theologischen Human-Animal Studies. Das methodische Handwerkszeug für die folgenden Analysen liefern insbesondere die Kanonische Bibelauslegung und die Narratologie, ferner die Sozialgeschichtliche Bibelauslegung und die Ikonographische Exegese.
Kanonische Auslegung/Intertextualität 17 Im Zuge des sogenannten Canonical approach, der sich seit den ausgehenden 1980er Jahren zu einer breiten Strömung in der Exegese entwickelt hat, ist der biblische Kanon zunehmend als literarisches Phänomen in den Fokus ge-
13 | C. Frevel: Recht, S. 138. 14 | Wobei diese Methoden mitunter gar nicht so neu sind, sondern sich auf eine breite jüdische oder kirchliche Tradition berufen können, wie etwa die kanonische Auslegung. 15 | Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger: »Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt«, S. 184. 16 | Ebd. S. 191. 17 | Vgl. im Folgenden: Y.S. Thöne: Liebe, S. 41-45.
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rückt.18 Das Charakteristikum des biblischen Kanons, seine komplexe und kontrastive Vielstimmigkeit, die ausdrücklich gewollt ist19, verlangt nach einer synchronen, endtextorientierten Herangehensweise, welche Brüche und Spannungen nicht als Hinweis auf unterschiedliche Quellen und Traditionen diachron auflöst, sondern diese als literarisches Phänomen eines innerbiblischen Dialogs wahrnimmt.20 Als unmittelbarer Kontext ist der Kanon der primäre Verstehenshorizont für jede Lektüre biblischer Texte und präsentiert sich damit als privilegierter Intertext.21 Er ist einerseits Grenze – indem er Vieldeutigkeit begrenzt – und andererseits Spielraum, indem er einen Verständnisrahmen ermöglicht und neue Kontextualisierungsmöglichkeiten bietet. Innerhalb des Kanons finden so Dialoge zwischen unterschiedlichen Texten statt, wodurch ständig neue Bedeutungspotentiale erschlossen werden können.22 Ja, die Einzeltexte des Kanons verlangen geradezu »nach einer ständigen kanonisch-intertextuellen Lektüre, […] um das Dialogpotential des Textes zu aktivieren und die verschiedenen Stimmen zu hören«.23 Bedingt durch die dem Kanon eigene intertextuelle Kohärenz »ist es hermeneutisch begründbar, jede biblische Schrift mit jeder anderen biblischen Schrift zusammenzulesen und sich gegenseitig interpretieren zu lassen«.24 Im Zentrum steht dabei stets ein Zugewinn an Sinn, erlangt durch die TextText-Relationen, welche im Lesakt erschlossen und analysiert werden. Die Beziehungen zwischen den biblischen Texten werden aufgezeigt, analysiert und reichern sich dadurch gegenseitig an und tragen zur reziproken Bedeutungserweiterung bei.25 18 | Bis dahin wurde der Kanon meist marginalisiert, abgewertet oder ganz ausgeblendet. Seit B.S. Childs’ 1979 erschienenem Werk Introduction to the Old Testament as Scripture ist das Thema »Kanon« mehr und mehr in das exegetische Interessensfeld gerückt. 19 | »Daß und wie die Töne, Motive und Melodien, ja sogar die einzelnen Sätze dieser polyphonen Sinfonie (= Zusammenklang!) miteinander streiten und sich gegenseitig ins Wort fallen, sich ergänzen und bestätigen, sich widersprechen, sich wiederholen und sich variieren – das ist kein Makel und keine Unvollkommenheit dieses Opus, sondern seine intendierte Klanggestalt, die man hören und von der man sich geradezu berauschen lassen muß, wenn man sie als Kunstwerk, aber auch als Gotteszeugnis erleben will«, E. Zenger, Heilige Schrift, S. 19. 20 | Vgl. G. Steins: Bibelkanon, 187; ähnlich C. Rakel: Judit, S. 20. 21 | Vgl. G. Steins: Kanonisch lesen, S. 57. 22 | Vgl. I. Müllner: Dialogische Autorität, S. 382. 23 | G. Steins: Die Bindung Isaaks, S. 36. 24 | S. Alkier: Die Bibel, S. 12. 25 | Vgl. G. Steins: »Kanonisch lesen«, S. 59; C. Rakel: Judit, S. 23.
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Narratologie 26 Die Narratologie kann als die »Wissenschaft vom Erzählen«27 aufgefasst werden und ist eine Teildisziplin der Literaturwissenschaft. Sie hat die »systematische Analyse der Elemente des Erzählens und ihrer strukturellen Zusammenhänge«28 zum Ziel. Wegweisend und in weiten Teilen begriffsprägend ist insbesondere die strukturalistische Narratologie Gérard Genettes.29 Basal ist die Unterscheidung zweier Ebenen einer jeden Erzählung, welche die Art der Darstellung und den Inhalt der Geschichte betreffen: Die Ebene des discours bzw. Diskurses ist die Art und Weise, wie die Erzählstimme die Ereignisse mitteilt (das »Wie« der Erzählung). Die Ebene der histoire bzw. Geschichte betrifft den Inhalt des Erzählten, die »fiktionale Welt, die von Figuren und Dingen bevölkert ist und in der sich bestimmte Geschehnisse ereignen«30 (das »Was« der Erzählung).31 Als ebenso grundlegend kann die Feststellung der Differenz von realem, historischem Autor und fiktiver, textinterner Erzählstimme gelten.32 Abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse sind es auf der Diskursebene neben der Erzählstimme vor allem Modus (Distanz und Fokalisierung) und Zeit (Ordnung, Dauer, Frequenz), die analysiert werden.33 Auf der Ebene des Erzählten sind es insbesondere die Elemente Handlung, Figuren und Raum, die einer näheren Betrachtung unterzogen werden.
Sozialgeschichtliche Bibelauslegung Die Sozialgeschichtliche Bibelauslegung verfolgt das Ziel, die antiken gesellschaftsgeschichtlichen Verhältnisse zu rekonstruieren, unter denen ein Bibeltext entstanden ist. Im Fokus stehen dabei jene Interessen, die sich in den Texten niederschlagen34; d.h. die Produktionssituation eines Textes soll so erhellt werden, dass er als Antwort auf die »Provokation der Situation«35 kenntlich wird. Dahinter steht die Grundeinsicht, dass biblische Texte stets im Kontext bestimmter sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Gegebenheiten entstanden sind. Es geht also um die Funktion eines Textes in seiner konkre26 | Vgl. im Folgenden: Y.S. Thöne: Liebe, S. 48-50. 27 | A. Nünning: Erzähltheorien, S. 158. 28 | Ebd. 29 | Siehe Gérard Genettes einflussreiches Werk Die Erzählung. 30 | S. Lahn/J.C. Meister: Einführung, S. 14. 31 | Vgl. ebd.; G. Genette: Erzählung, S. 15f. 32 | Vgl. ebd., S. 13f., 61f.; A. Nünning: Erzähltheorien, S. 159. 33 | Vgl. M. Martínez/M. Scheffel: Einführung, S. 29-92. 34 | Vgl. R. Kessler: Sozialgeschichte, S. 12. 35 | H.K. Berg: Altes Testament unterrichten, S. 358.
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ten geschichtlichen Situation. Dabei stehen die realen »Lebensverhältnisse der Menschen zu der Zeit, als die biblischen Traditionen entstanden«36, im Mittelpunkt. Neben den biblischen Texten selbst dienen der Sozialgeschichte die geographischen Rahmenbedingungen der biblischen Umwelt und vor allem die materiellen Hinterlassenschaften des biblischen Kulturraums, welche die Archäologie zutage fördert, als Quellen, wie etwa Architektur, Alltagsgegenstände, epigraphisches und ikonographisches Material.37
Ikonographie/Ikonographische E xegese Die Biblische Ikonographie bzw. Ikonographische Exegese analysiert die »vielfältigen Beziehungen zwischen den biblischen Texten und der zeitgenössischen Bildkunst«.38 So kann die altorientalische Bildwelt, die als »teilautonomes Symbolsystem neben dem sprachlich-textlichen« steht, helfen, den »Hintergrund biblischer Texte zu rekonstruieren«.39 Ihr Proprium liegt darin, dass sie Konstellationen anschaulicher darstellt als Texte und damit Aufschluss über komplexe Vorstellungswelten gibt.40 So dient die Ikonographie zum einen »als Quelle für das Verständnis der religiösen Symbolik der Bibel und ihrer Umwelt«41, zum anderen verhilft sie aber auch im Rahmen eines sozialgeschichtlichen Erkenntnisinteresses zu Einsichten über das damalige Alltagsleben.
S tr afgericht: H euschrecken als B edrohung Die Plagenerzählung Das populärste Heuschrecken-Szenario des Alten Testaments ist innerhalb des Plagenzyklus des Buches Exodus zu finden (Ex 7-11) und soll hier als Ausgangspunkt dienen. Das massenhafte Auftreten der Heuschrecken ist die achte von insgesamt zehn Plagen (Ex 10,1-20). Überboten wird diese Katastrophe nur noch von einer dreitägigen Finsternis und dem Tod der Erstgeburt. JHWH, der Gott Israels, schickt diese Zeichen den Ägypter_innen, damit diese sein 36 | F. Crüsemann et al.: Editorial, S. IX. 37 | Vgl. R. Kessler, Sozialgeschichte, S. 27-33. 38 | J. Eggler et al.: Ikonographie (www.wibilex.de). D.h. nicht die Illustrationen biblischer Texte (»christliche Ikonographie«) werden betrachtet, sondern die zeitgenössische Bildkunst des Alten Orients. 39 | Ebd. 40 | Vgl. S. Schroer/O. Keel: Die Ikonographie Palästinas/Israels, S. 20. 41 | J. Eggler et al.: Ikonographie (www.wibilex.de).
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versklavtes Volk ziehen lassen. Die Plagen bzw. Zeichen ( Pl.) stellen Naturphänomene dar, die Ausdruck dafür sind, dass auch »die Schöpfung mit betroffen [ist], wenn Menschen sich schwer vergehen«.42 Sie sind jedoch nicht bloße Naturkatastrophen, sondern gehen allesamt auf göttliches Handeln zurück.43 Zu Beginn des Abschnitts steht die Aufforderung Gottes an Mose, diese Freiheitsgeschichte über Generationen weiter zu überliefern (Ex 10,2), denn »(i)m Erzählen bildet sich kollektives Gedächtnis und Identität«.44 Entsprechend soll im Folgenden aus narratologischer Perspektive der Blick für die Eigenart der Erzählung geschärft werden. Im Hinblick auf die Erzählsituation von Ex 10,1-20 ist festzuhalten, dass eine verborgene, heterodiegetische Erzählstimme das Geschehen retrospektiv mitteilt. Sie ist verborgen, da die Erzählung sich scheinbar von selbst erzählt und keine selbstreferentiellen Bemerkungen der Erzählstimme vorhanden sind (wie etwa Esr 7,11); sie ist heterodiegetisch, weil sie nicht Teil der erzählten Welt ist und somit in der Geschichte nicht selbst als Figur auftritt (wie beispielweise der Erzähler im Buch Nehemia). Da in Ex 10,1-20 keine narrative Staffelung durch Rahmen- und Binnenerzählung vorliegt, ist die Erzählstimme außerdem extradiegetisch (primär). Der Anteil direkter Rede ist in diesem Abschnitt sehr hoch, d.h. es wird großteils im mimetischen Modus (showing) erzählt. In den Versen 13-15 jedoch werden das Handeln der Heuschrecken und dessen Auswirkungen ausführlich und ohne wörtliche Rede geschildert. Das Figureninventar von Ex 10,1-20 besteht aus JHWH, Mose, Aaron, Pharao, den Dienern Pharaos sowie dem Kollektiv der Heuschrecken. Unter ökohermeneutisch-narratologischer Perspektive muss noch um die Winde erweitert werden, da auch diesen Handlungen zugeschrieben werden (Ex 10,13.19; s.u.). Eröffnet wird die Episode von einer wörtlichen Rede der Figur JHWH an Mose. Im gesamten Text erscheint JHWH als handlungs-, weisungs- und wirkungsmächtige Figur, die das Kommen der Heuschrecken veranlasst und auch den menschlichen Figuren Befehle erteilt. Seine Anweisungen (»geh [ ]בואzu Pharao«, 10,1; »strecke aus [ ]נטהdeine Hand«, 10,12) werden konsequent von Mose (und Aaron) erfüllt und auch seine proleptischen Aussagen über die Heuschrecken (»sie werden heraufkommen [ ]עלהüber das Land Ägypten und essen [ ]אכלalle Pflanzen des Landes, 10,12) treten ein. Die Figur des Mose (sowie blass im Hintergrund dessen Bruder Aaron) dient als ausführendes menschliches Werkzeug Gottes. Im Palast Pharaos 42 | G. Fischer/D. Markl: Das Buch Exodus, S. 104. Dieses Bewusstsein im Kontext des ausgeprägten menschlichen Eingriffs in die Schöpfung hat sich heute – angesichts von Klimawandel, Artensterben usw. – noch verschärft. 43 | Vgl. Ebd. 44 | Ebd., S. 119.
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setzt er sich mit diesem und seinen Dienern verbal auseinander. Nachdem deutlich wird, dass der Pharao nur die Israeliten ohne ihre Frauen und Kinder ziehen lassen will, befolgt er Gottes Befehl, seine Hand über das Land Ägypten auszustrecken. Als verstärkendes Instrument dient ihm dazu sein Stab – so wie er zuvor damit in den Nil geschlagen hat, der sich daraufhin in Blut verwandelt hat (Ex 7,19f.), und so wie er später an einen Felsen schlägt, sodass Wasser heraussprudelt (Ex 17,6). Das Handeln Moses hat wiederum eine Aktion Gottes zur Folge, nämlich das Treiben ( )נהגeines Ostwinds in das Land. So erscheint das Kommen der Heuschrecken als das Resultat einer gemeinsamen Aktion von Mose und Gott45 – sowie des Ostwinds ( ), der – als nichtanthropomorphe Figur dennoch mit Agency ausgestattet – die Heuschrecken herbeiträgt (נׂשא, Ex 10,13). In 10,19 ist es ebenfalls der Wind, genauer der entgegengesetzte Westwind bzw. Meerwind ( )46, welcher den Schwarm davonträgt ( )נׂשאund in das Meer wirft ()תקע. Die Heuschrecken werden mit dem hebräischen Begriff bezeichnet, einem maskulinen Kollektivsingular. Dem entspricht, dass die den Heuschrecken zugeordneten Verben im maskulinen Singular konstruiert sind. In dem Substantiv klingt die Wurzel ( רבהviel sein) an – ein etymologischer Hinweis darauf, dass es gerade die Vielheit ist, die den Heuschreckenschwarm ausmacht. So treten denn auch in narratologischer Hinsicht in Ex 10,1-20 die Heuschrecken nicht als einzelne Individuen auf, sondern ausschließlich als Kollektiv. Die Wüstenheuschrecke, Schistocerca gregaria, die mit dem Begriff wahrscheinlich gemeint ist, konsumiert pro Tag in etwa ihr eigenes Körpergewicht an grünen Pflanzenteilen. Das Durchschnittsgewicht einer zwei Wochen alten Wüstenheuschrecke beträgt etwa 1,7 bis 2,0 Gramm. Was zunächst nicht viel klingt, nimmt umso größere Ausmaße an, verdeutlicht man sich, dass ein Heuschreckenschwarm aus ca. 40 bis 47 Milliarden Individuen besteht und so das Gesamtgewicht sämtlicher Insekten eines Schwarms etwa 80.000 Tonnen betragen kann.47 Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung in Ex 10,1-20 plausibel, dass die Heuschrecken »alle« ( ) Pflanzen im Lande, die vom Hagel verschont wurden, essen (10,5.12.15). Die Handlung des Essens ist die dominante in diesem Abschnitt und damit auch herausragendes Charakteristikum der Heuschrecken. Insgesamt vier Mal ist davon die Rede, dass 45 | Vgl. Ebd. S. 121. 46 | Der Ausdruck רּוח ־יָ ם ַ kann sowohl mit Westwind als auch mit Meerwind übersetzt werden: »Aus israelitischer Perspektive sind West- und Meerwind identisch, da für Israel das Mittelmeer das Meer ist« (H. Utzschneider/W. Oswald: Exodus 1-15, S. 228) – und dieses im Westen liegt. 47 | Vgl. H. Levinson/A. Levinson: Zur Biologie der zehn biblischen Plagen, S. 96; P. Riede: Art. Heuschrecken (www.wibilex.de).
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sie als Kollektiv essen (אכל, 10,5[2x].12.15), je zweimal, dass sie hinaufgehen, hinaufziehen (10,12.14, )עלהund das gesamte Land bedecken ( כסהPi., 10,5.15). Außerdem kommen (10,4, )בואsie, füllen (10,6, )מלאdie Häuser und lassen sich nieder (10,14, – )נוחbis letzten Endes einerseits keine Pflanzen mehr übrig bleiben, andererseits, nachdem der Wind sie ins Meer getrieben hat48, auch von ihnen keine übrig bleibt (10,19, )ׁשאר. Sehr häufig steht in Verbindung mit den Handlungen der Heuschrecken (Gesamtheit, ganz, alle/s): Sie ziehen hinauf über das ganze Land, lassen sich im gesamten Gebiet Ägyptens nieder, bedecken das ganze Land, füllen alle Häuser und vor allem essen sie alles. Das elffache Vorkommen von bezeugt die Totalität der Plage, was wiederum die Vielheit der Heuschrecken betont. Auch die Formulierung, sie würden »das Auge des (ganzen) Landes« ( ) bedecken (10,5.15), sodass dieses sich verfinstert (10,15, )חׁשך, zeigt eindrücklich und bildhaft, wie auch der Raum vom destruktiven Handeln der Heuschrecken betroffen ist. Diese Verdunkelung stellt gleichzeitig auch eine proleptische Anspielung auf die Finsternis der kommenden Plage (Ex 10,21-29) dar.49 Auf die unfassbar große Menge der Heuschrecken deutet ebenfalls der Verweis auf die vergangenen und zukünftigen Generationen – und damit ein zeitlicher Aspekt – hin: Nicht nur soll Mose seinen Kindern und Kindeskindern verkünden, welche Zeichen Gott gewirkt hat (10,2), sondern seine Väter und Vätersväter hätten solch außergewöhnliche Ereignissen noch nicht gesehen (10,6), ja die Heuschreckenplage ist so schwer ( ) wie »vor ihm« und »nach ihm« nie wieder (10,14). Entsprechend bleiben Ex 10,15 zufolge keine essbaren Pflanzen im gesamten Land Ägypten übrig – »Hunger und Tod stehen damit vor der Tür«.50 Insgesamt werden die Heuschrecken in Ex 10,1-20 als wirkungsvoll handelndes Kollektiv dargestellt, dessen Hauptmerkmale massenhaftes Auftreten und vernichtende Gefräßigkeit sind. Als Instrument Gottes gründet ihr Handeln im Wirken JHWHs, der sie als erzieherisches Strafmittel gegenüber dem Pharao und ganz Ägypten einsetzt.
48 | Die Schilderung des Ertrinkens der Heuschrecken im Schilfmeer bildet das Schicksal des Pharaos und seines Heers im Voraus ab (Ex 14), vgl. C. Dohmen: Das Buch Exodus, S. 113. 49 | Vgl. G. Fischer/D. Markl: Exodus, S. 121. 50 | Ebd. S. 119.
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Militärische Bildsprache Eine kanonisch-intertextuelle Recherche zeigt, dass außerhalb der Plagenerzählung Heuschrecken insbesondere im Bereich der alttestamentlichen Bildsprache auftreten. Ihre zwei Haupteigenschaften – Vielzahl und Gefräßigkeit – werden hier noch verstärkt durch unaufhaltsame Schnelligkeit, Lärm und Gefährlichkeit51, womit sie kriegerischen Heeren gleichen und als eine Art »Kavallerie der Lüfte«52 dargestellt werden. So heißt es in dem Zahlenspruch Spr 30,24-28, wo die Weisheit kleiner, scheinbar unbedeutender Tiere herausgestellt wird, dass die Heuschrecken keinen König hätten, aber dennoch geordnet ausziehen ( )יצאwie eine Armee (Spr 30,27). In Joel 2,25 wird deutlich, dass dieses Heuschrecken-Heer ähnlich wie in Ex 10 als Strafe Gottes dient, die in diesem Fall jedoch nicht gegen eine fremde Macht gerichtet ist, sondern gegen das eigene Volk: »Und ich werde euch die Jahre erstatten, die die Heuschrecke ( ), der Lecker ( )53 und der Vertilger ( ) und der Abschneider ( ּ) gefressen haben, mein großes Heer, das ich gegen euch gesandt habe.« Die Heuschreckenschwärme treten also als Folge von Schuld und Verfehlung in Erscheinung.54 Dieses starke, militärische Bild funktioniert zu beiden Seiten; d.h. es finden sich nicht nur Vergleiche eines Heuschreckenschwarms mit einem Reiterheer, sondern es werden auch umgekehrt Feinde, die ein Land überfallen, als Heuschrecken dargestellt.55 Beispielsweise werden im Richterbuch feindliche Fremdvölker wie die Midianiter und Amalekiter mit Heuschreckenschwärmen verglichen: »Denn sie zogen herauf ( )עלהmit ihren Herden und mit ihren Zelten und kamen ( )בואso massenhaft wie Heuschrecken; zahllos waren sie und ihre Kamele. Und sie kamen ( )בואins Land, um es zu verheeren ( ׁשחתPi.)« (Ri 6,5; vgl. Ri 7,12). Auch die Propheten verwenden das Bild einer Armee, die einer Heuschreckenplage gleicht, um deren Mächtigkeit zu unterstreichen: »Bestellt Kriegsoberste gegen es [Babylon], lasst Pferde heraufziehen ( עלהHif.) wie furchtbare Heuschrecken!« (Jer 51,27; vgl. Jes 33,4).
51 | Vgl. S. Schroer: Die Tiere in der Bibel, S. 135. 52 | Ebd. 53 | Zur Bedeutung und Übersetzung der Bezeichnungen s.u. 54 | Vgl. G. Fischer/D. Markl: Exodus, S. 119. 55 | Vgl. S. Schroer: Tiere, S. 135; siehe auch K. Koenen/U. Mell: Wildtiere, S. 656; B.D. Lerner: Timid Grasshoppers, S. 546.
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Abb. 1: Fragmentarisches Elfenbeinplättchen, Nimrud, 858-824 v. Chr.
Die Vorstellung eines Heuschreckenschwarms als große und gefährliche militärische Macht, dabei insbesondere der Vergleich von Pferd und Heuschrecke findet sich auch in der altorientalischen Ikonographie. Auf einem Elfenbeinplättchen aus Nimrud (Assyrisches Reich), 858-824 v. Chr., werden ein Pferd – das Kriegstier par excellence – und eine Heuschrecke bildlich parallelisiert. Im Vergleich mit den tatsächlichen Größenverhältnissen erscheint die Heuschrecke überdimensioniert; beide Figuren blicken nach rechts und gehen im Gleichschritt, wodurch die Parallelisierung noch deutlicher wird. In der prophetischen Bildsprache kann gleichzeitig auch naturkundliches Wissen über den biologischen Wandlungsprozess der Heuschrecke Ausdruck finden: »Was der gasam ( ) übrig gelassen hatte, fraß die (adulte) Heuschrecke ( ); und was die Heuschrecke übrig gelassen, fraß der jäläq ( ); und was der jäläq übrig gelassen, fraß der chasil ( )« (Joel 1,4; vgl. 2,25). Im Hintergrund dieser Schilderung steht das Wissen, dass bei allen Heuschreckenarten aus dem Ei eine Prolarve schlüpft, die sich sofort zum eigentlichen ersten Larvenstadium häutet, bis das Wesen – über mehrere weitere Larvenstadien – die adulte Form erreicht hat. Während die adulte Wüstenheuschrecke bezeichnet (s.o.), meinen die Begriffe und wahrscheinlich drei unterschiedliche Entwicklungsstadien. Der »Lecker« , von der Wurzel לקק, lecken (vgl. Ri 7,5; 1 Kön 21,19), bezeichnet das erste Entwicklungsstadium der Heuschreckenlarve, der »Vertilger« , von der Wurzel חסל, vertilgen (vgl. Dtn
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28,38), das folgende Stadium und der »Abschneider« , von גזם, abschneiden, schließlich das letzte Larvenstadium.56 So führt das Fressverhalten der Heuschrecke in all ihren Entwicklungsstadien zur vollkommenen Vernichtung. Die Androhungen über den Tag JHWHs finden im zweiten Kapitel des Buches Joel ihre Fortsetzung in der Schilderung eines schrecklichen Reiterheeres (Joel 2,1-11). Im Horizont der militärischen Heuschrecken-Metaphorik können diese Verse als Fortsetzung der in 1,4 eröffneten Rede über die furchtbare Heuschreckenplage verstanden werden, ohne dass die Bildempfänger explizit genannt würden.57
Verknüpfte Bildwelten Die vernichtende Gefräßigkeit der Heuschrecke findet auch in weiteren alttestamentlichen Texten abseits von Kriegsmetaphorik Erwähnung. So klagt etwa der Sozialkritiker Amos die Oberschicht Samarias an, die sich von JHWH abgewandt hat, und stellt neben anderen klassischen Plagen wie Durst, Pest und Krieg auch eine Heuschreckenplage als erzieherisches Mittel Gottes dar (Amos 4,9). Der Geschichtspsalm 105, der die Ursprungsgeschichte Israels, beginnend bei der Landverheißung an Abraham, rekapituliert und theologisch reflektiert, bietet eine Kurzfassung der Plagenerzählung von Exodus.58 Auch hier erscheint Gott deutlich als Initiator der Heuschreckenplage: »Er [JHWH] sprach, und es kamen Heuschrecken ( ) und Larven/Lecker ( ) ohne Zahl; sie aßen alles Kraut in ihrem Land, sie aßen die Frucht ihres Erdbodens« (Ps 105,34f.). Eine interessante Verknüpfung dreier Texte der Tora bietet das in Num 13,33 entworfene Bild der Israelit_innen als Heuschrecken. Innerhalb der sogenannten Kundschaftererzählung bekennen die zurückgekehrten Spione, sie könnten das sehr gute Land, in dem Milch und Honig fließen und in dem so große Früchte wachsen, dass nur zwei Männer sie gemeinsam tragen können, nicht einnehmen, da dessen Einwohner_innen derart groß seien, dass die Israelit_ innen in deren Augen so klein wie Heuschrecken erscheinen. Auf den ersten Blick scheint es hier nicht um die bedrohliche Vielzahl der Israelit_innen zu gehen, sondern die Unterlegenheit und Hilflosigkeit des einzelnen tierlichen Individuums dient als Vergleichspunkt. Einige Kapitel später jedoch heißt es vom Moabiterkönig Balak, dass dieser das Volk Israel fürchte, da dieses so zahlreich sei, dass es von Ägypten her das »Auge des Landes« bedeckte (Num 22,5) – mit dieser speziellen Formulierung wird wortwörtlich das Heuschrecken-
56 | Vgl. J. Milgrom: Leviticus 1-16, S. 665f. 57 | Vgl. E. Assis: The Structure, S. 401-416, bes. S. 414. 58 | Vgl. E. Zenger: Die Psalmen, S. 1157.
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Szenario aus Ex 10,5.15 eingespielt (s.o.). Insofern kann Num 22,5 als ironisches Echo der Kundschafter-Ansprache gelten: »The spies imagined their enemies regarding them as helpless grasshoppers. […] Their enemies did indeed view them as grasshoppers, not tiny individual grasshoppers, but rather an enormous unstoppable horde of grasshoppers, a locust swarm which would destroy all in its path«. 59
Rückblickend verändert dies die Bedeutung der Kundschafter-Metapher – besteht das Volk Israel doch wie ein Heuschreckenschwarm aus einer großen Menge von Individuen, die erst gemeinsam ihre Stärke entfalten können; »while the individual insect may fairly represent weakness and timidity, grasshoppers massed together become perhaps the most terrible natural destructive force known in biblical times, i.e. the locust swarm«.60
Abb. 2: Judäisches Namenssiegel (um 700 v. Chr.) mit der Inschrift: Asarjo, (Sohn) des Gebah). Der mächtige Heuschreckenschwarm stellt also nicht ausschließlich eine Bedrohung für Israel dar, sondern Israel kann im Bild der Heuschrecke selbst als eine solche wahrgenommen werden. Entsprechend kann ein Heuschreckenschwarm Ehrfurcht hervorrufen – weswegen der entsprechende Begriff auch als Männername Verwendung fand.61
59 | B.D. Lerner: Grasshoppers, S. 548. 60 | Ebd. S. 546. 61 | Vgl. S. Schroer: Tiere, S. 137.
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L eibgericht: H euschrecken als N ahrungsmit tel Das in den verschiedenen narrativen, prophetischen und poetischen Texten gezeichnete Bild der Heuschrecke als in großer Zahl auftretende gefräßige Bedrohung ist das dominierende im Alten Testament. Ein ganz anderer Befund ergibt sich jedoch in den Speisevorschriften des Buchs Levitikus. In Lev 11 werden die Tiere im Rückgriff auf die Schöpfungserzählung von Gen 1 entsprechend der dreigliedrigen Kosmologie Erde – Wasser – Himmel in essbare und nicht essbare Tierarten unterteilt. Eng im Zusammenhang damit steht die Kategorisierung der Arten als »rein« ( ) und »unrein« ( ). Nach Landsäugetieren, Wassertieren und Vögeln wendet sich der Text einer Unterkategorie der Vögel zu (Lev 11,20-23), dem Gewimmel der Vögel ( ), d.h. flugfähigen Insekten, die als Gewimmel gelten, da sie über mehr als zwei Beine verfügen und damit keine eindeutigen, nämlich zweibeinigen Vögel darstellen. Generell sind Tiere, die dieser Kategorie angehören, nicht zum Verzehr freigegeben; sie gelten nicht als rein.
Das alttestamentliche Konzept der Reinheit Die alttestamentlichen Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit haben nur wenig mit Hygiene und Moral zu tun, wie die gegenwärtigen abendländischen Konnotationen der Begriffe nahelegen. Vielmehr geht es »darum, Eindeutigkeiten nicht zu zerstören, Sphären nicht zu vermischen, Ordnungen nicht durcheinanderzubringen«.62 Reinheitsvorstellungen stehen im Hintergrund wenn geboten wird, nicht zweierlei Arten von Haustieren miteinander zu paaren, das Feld nicht mit zweierlei Arten von Samen zu besäen oder keine Kleidung zu tragen, die aus zweierlei Garn gewebt wurde (Lev 19,19). Reinheit ist also vor allem eine Ordnungskategorie.63 Wegweisend in diesem Zusammenhang sind die Arbeiten der britischen Kulturanthropologin Mary Douglas. Sie hat herausgearbeitet, dass die in den alttestamentlichen Texten geforderte bzw. angestrebte Reinheit eng in Verbindung mit der Heiligkeit Gottes steht, denn häufig werden die Anweisungen von dem Gebot begleitet, JHWH entsprechend heilig zu sein (vgl. Lev 11,44f.). Das Heilige ist etwas Ganzes, Vollkommenes, Vollständiges. Dieser Heiligkeit wird durch physische Ordnung – und damit Reinheit – ein sichtbarer Ausdruck verliehen64.
62 | T. Staubli: Die Bücher Levitikus, S. 90. 63 | Vgl. T. Seidl: Art. Reinheit, S. 1011. 64 | Vgl. M. Douglas: Purity and Danger, S. 63-65.
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Der auf Heiligkeit abzielenden Reinheitskonzeption von Lev 11 entsprechend, stehen auch hier Vollkommenheit, Ganzheit und Ordnung im Hintergrund der Regularien. Die Tierarten gelten als rein, d.h. vollkommen, wenn sie ihrer Gruppe vollständig entsprechen bzgl. ihrer Erscheinungsweise, ihrem Verhalten und ihrer Fortbewegung: Die vierfüßigen Landtiere müssen gespaltene Klauen haben und wiederkäuen (Lev 11,3), die Wassertiere müssen Flossen und Schuppen haben (Lev 11,9). Für die Vögel fehlt solch eine Formel. Entspricht die Tierart in keinem oder nur in einem Punkt dieser Kategorie, gilt sie als unvollkommen, als unrein; beispielsweise ist das Kamel zwar ein Wiederkäuer, hat aber keine gespaltenen Klauen, während das Schwein zwar gespaltene Klauen hat, aber kein Wiederkäuer ist (Lev 11,4.7). Auch vier- oder mehrfüßige Tiere, die fliegen, d.h. geflügelte Insektenarten (Lev 11,20), widersprechen diesem System und stehen für die Überschreitung von Grenzen, sind es doch für gewöhnlich zweibeinige Vögel, die fliegen. Die im Kapitel Lev 11 verhandelte Reinheit der Tiere korrespondiert mit deren prinzipiellen Essbarkeit; werden Tierarten als nicht essbar eingestuft, werden jedoch zwei unterschiedliche Begriffe, differenziert nach den kosmologischen Kategorien der Tiere, bemüht. Während verbotene Landtiere als unrein ( ) bezeichnet werden, werden Wasser- und Flugtiere als markiert. Als Neuübersetzung des Begriffs, der sonst häufig mit »Abscheu«, »Gräuel« oder »Verunreinigung« übersetzt wurde, schlägt Douglas »vermeiden«, »ablehnen« vor.65 Demzufolge geht es in Lev 11 nicht um das Verabscheuen oder gar die inhärente Verabscheuungswürdigkeit bestimmter Tierarten, sondern lediglich darum, diese zu vermeiden. »God would simply be telling his people to avoid certain things, keep out of their way, not harm, still less eat, them«.66 Solch eine Übersetzung vermeidet den der traditionellen Übersetzung inhärenten logischen Bruch, dass einzelne Wesen aus Gottes guter Schöpfung verabscheuungswürdig seien. Die zu vermeidenden Tiere stehen stattdessen unter Gottes besonderem Schutz: »God loves them as the rest of his animal creation. What is abominable is to do anything to hurt them«.67 Insofern ist in der Markierung als , aber auch als , ein Vorteil für die Tierarten zu sehen, da diese nicht gegessen werden dürfen und entsprechend kaum ein Interesse daran besteht, sie zu töten.68 Die Speisegebote können so als ein Beitrag zum Artenschutz gelesen werden – wobei das theoretische Konzept »Artenschutz« in der Antike freilich als solches noch nicht existierte.
65 | Vgl. M. Douglas: Leviticus as Literature, S. 157-167; Dies.: The Compassionate God, S. 61. 66 | M. Douglas, Literature, S. 167. 67 | M. Douglas, Compassionate God, S. 61. 68 | Vgl. M. Douglas, Literature, S. 157.
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Eine Ausnahme: Heuschrecken auf dem Speisezettel Im Bereich des zu vermeidenden Luftgewimmels macht der Text jedoch eine Ausnahme: »Nur diese dürft ihr essen von allem Gewimmel der Vögel: Die auf vier (Füßen) gehen mit Schenkeln oberhalb ihrer Füße, um damit auf der Erde zu hüpfen; diese von ihnen dürft ihr essen: die Heuschrecke nach ihrer Art, die Solamheuschrecke nach ihrer Art, die Chargolheuschrecke nach ihrer Art und die Chagaw-Heuschrecke nach ihrer Art« (Lev 11,21f.). Erstaunlicherweise werden die vier genannten Heuschreckenarten69 unter allen sonst verbotenen Insekten zum Verzehr freigegeben. Das Kriterium hierfür erscheint ausgesprochen konstruiert: Nur jenes Fluggewimmel, welches oberhalb seiner Füße Schenkel hat, um damit auf der Erde zu hüpfen ()נתר, ist essbar. Logisch betrachtet gibt es textintern »keinen klar erkennbaren Grund dafür, dass diese Heuschrecken zu essen erlaubt sind«.70 Ein Blick in die Sozialgeschichte, gestützt von ikonographischem Material, macht deutlich, warum mittels dieses umständlichen Kriteriums gerade die Heuschrecken als erlaubt konstruiert werden – im gesamten Alten Orient gelten diese als Delikatesse. Sie können in der Sonne gedörrt, auf Kohlen geröstet, in Fett frittiert, in Salzwasser gekocht oder mit Butter gebacken gegessen werden.71 So zeigt das Relief aus dem Palast des assyrischen Königs Sanherib (um 700 v. Chr.), wie dessen Diener ihrem König Granatäpfel und gedörrte Heuschreckenspieße bringen. Wenn die Israelit_innen also nicht auf ihre geliebte Delikatesse verzichten wollen, müssen sie vor dem Hintergrund, dass den priesterlichen Systematikern Insekten grundsätzlich als unrein gelten, »für die Heuschrecken, die wegen ihrer sechs Beine nicht den Vögeln zugerechnet werden konnten, eine eigene Kategorie erfinden«.72
69 | Solam-, Chargol- und Chagavheuschrecke sind drei nicht näher zu bestimmende Unterarten der Heuschrecke. 70 | T. Hieke: Levitikus 1-15, S. 424. 71 | Vgl. P. Riede: Heuschrecken (www.wibilex.de). In neutestamentlicher Zeit steht der Konsum von Heuschrecken (und wildem Honig) bei Johannes dem Täufer indes als Zeichen für dessen asketischen Lebensstil (Mk 1,6; Mt 3,4). 72 | S. Schroer: Tiere, S. 134.
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Abb. 3: Relief aus dem Palast Sanheribs in Ninive, um 700 v. Chr.: Diener Sanheribs bringen gedörrte Heuschrecken und Granatäpfel.
E rgebnis Heuschrecken werden im Alten Testament in Texten verschiedenster Gattungen in erster Linie als massenhaft auftretende, gefräßige Wesen gezeichnet, welche in enormem Ausmaß Pflanzen vernichten – und damit auch die Nahrungsgrundlage der Menschen. Für die betroffenen Personen stellen Heuschrecken also eine existenzielle Bedrohung dar (Ex 10; Amos 4,9). Selbst wenn menschliche Figuren sich selbst als klein wie Heuschrecken empfinden
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(Num 13,33), kann sich darin letztlich doch Stärke und Überlegenheit offenbaren, tritt das Volk Israel doch ebenso zahlreich auf wie die einzelnen Tiere in einem Heuschreckenschwarm (Num 22,5). Im Hinblick auf Gott dienen sie ihm als Strafgericht bzw. als erzieherisches Werkzeug. Dieses Bedrohungsszenario ist das dominante Narrativ im Alten Testament, welches auch in der (poetischen und prophetischen) Bildsprache und – damit in Zusammenhang stehend – in naturkundlichen Überlegungen Niederschlag findet, wo Heuschrecken mit (feindlichen) Heeren und Kriegspferden verglichen werden (Spr 30,27; Jer 51,27; Joel 1,4; 2,25). Der Aspekt der Bedrohung spielt keine Rolle im Hinblick auf die Speisevorschriften des Buches Levitikus. Die Künstlichkeit und Konstruiertheit des Gebotes zur Reinheit (und damit Essbarkeit) der Heuschrecke wird nur durch einen Blick aus dem Text heraus in die Sozialgeschichte und Ikonographie erklärbar: Es wird offenbar, dass Heuschrecken das Toffifee der Antike waren, eine geschätzte Delikatesse. Vor dem Hintergrund von Mary Douglas’ Überlegungen, dass die unreinen Tierarten einen besonderen Schutz erfahren, da diese weder gegessen noch getötet werden, kehrt sich die Handlung des Essens ()אכל, sonst dominant den Heuschrecken zugeschrieben, in Lev 11 ins Gegenteil um; sind es doch nun die Insekten, die gegessen werden, statt selbst zu essen. Insofern kann die Freigabe des Heuschreckenkonsums auch als aktive Dezimierung eines potentiellen Schädlings begriffen werden. Ausgehend von dem bekanntesten Heuschrecken-Szenario der Bibel, dem Plagenzyklus, der unter narratologischen Gesichtspunkten betrachtet worden ist, haben sich zahlreiche kanonisch-intertextuelle Verknüpfungen ergeben, die insgesamt, unter punktueller Heranziehung der Sozialgeschichte und der Ikonographie, das vielschichtige Bild einer Figur zeichnen, die alleine unbedeutend und klein, aber durchaus essbar, ja: köstlich ist. Sobald die Heuschrecken jedoch als Kollektiv auftreten, sind ihre Handlungen derart bedrohlich, dass häufig nur Kriegsmetaphorik angemessen erscheint, um der Ehrfurcht und dem Entsetzen vor ihnen Ausdruck zu verleihen. So erweist sich am Beispiel der Heuschrecke die Bibelwissenschaft als interdisziplinäre Disziplin par excellence, bedient sie sich doch nicht nur ihrer eigenen spezifischen Methoden, sondern greift auch auf Methoden benachbarter Disziplinen zurück wie etwa der Geschichtswissenschaft, der Archäologie oder der Kunst- und Literaturwissenschaft.
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Raumgefüge Menagerie Annäherungen an Réaumurs Insekten und an die Pelikane Ludwigs XIV. Silke Förschler
Unterschiedliche Tiere erfordern unterschiedliche Methoden. Für die Bestimmung kultureller Bedeutungszusammenhänge einzelner Tiere in Bildern ist es notwendig, Fragestellungen und Herangehensweisen verschiedener Disziplinen heranzuziehen. Je nachdem, wie und unter welchen Bedingungen ein Tier, eine Art oder eine Gattung in Erscheinung tritt, lassen sich unterschiedliche Bildlichkeitspraktiken ausmachen und Interpretationsansätze unterscheiden. Tierlicher Wirkmächtigkeit auf Bildern und in differenten medialen Settings habhaft zu werden verlangt Verfahrensweisen, die disziplinäre Grenzziehungen und disziplinimmanente Methoden überschreiten.1 Eine Grundannahme hierbei ist, dass sich sinnfällige Verflechtungen von Tieren und kulturellen Kontexten im interdisziplinären Licht besehen in markanteren Formationen zeigen. Dementsprechend gilt es, Interdependenzen von genuin kunst- und bildwissenschaftlichem Vorgehen und Ansätze anderer theoretischer Figurationen für die Interpretation der Einheit von Tier und Bild dienstbar zu machen. Für die Situierung von Bildern frühneuzeitlicher Tiere im Repräsentationsraster der Naturgeschichte sind Fragen nach ihrer medialen Verfasstheit ebenso von Interesse wie topologische Relationen und textuelle Bezüge. Kunst1 | Jüngst haben Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck in ihrem Artikel »Bêtes Studies«, S. 250-270, vorgeschlagen, Jacques Derridas Konzeption des Begriffes Bêtise als Schlüssel, der auch Raum für eine kritische Haltung bietet, für Analysen der Cultural-Literary-Animal Studies zu begreifen. Mit dem Potenzial des Begriffes Bêtise, der zwischen einer Narrheit der Tiere und einer Narrheit der Menschen changiert, können, so die Autoren, essentialistische und anthropozentristische Positionen beschrieben werden. Grundsätzlich bietet die Begriffskonzeption auch die Möglichkeit einer Selbstreflexion des wissenschaftlichen Herangehens an das Tier.
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und bildwissenschaftliche Methoden gehen Hand in Hand mit Ansätzen der Wissensgeschichte. Um dem Weg frühneuzeitlicher Bedeutungszusammenhänge und Bildfindungen mit dem Ziel eines naturhistorischen Erkenntnisprozesses folgen zu können, bieten raumtheoretische Ansätze einen einenden Schirm. In der Einschätzung von Arthur O. Lovejoy handelt es sich bei der Naturgeschichte um eine »Ordnung, die die Welt in einer Art perfektem Schubfächersystem darstellt, in dem jedes Fach gefüllt sein musste«, gleichwohl gibt es für die »Insassen eines solchen Faches die Möglichkeit, in ein besseres zu gelangen«.2 Erst einmal ist davon auszugehen, dass mit der Visualisierung von Tieren in der Frühen Neuzeit eine Sehschule etabliert werden sollte, die Bezüge zum Ordnungssystem der Naturgeschichte hat. Als Teil der Naturnachahmung im Bildmotiv wird das entsprechende Schubfach miterkennbar. Formuliertes Ziel ist es, im einzelnen Tier und in der Vielfalt aller Wesen die Vollkommenheit der Welt zu erkennen.3 Nimmt man diesen Anspruch ernst, rückt die Frage nach räumlichen Bezugsrahmen dieser von Gott erschaffenen Fülle in den Blick. Als Architektur gewordene Vorstellung einer tierlichen Ordnung wird im Folgenden die Menagerie als frühneuzeitliches Gefüge räumlicher Relationen vorgestellt.4 Denkt man die Frage mit, was menschlicher und tierlicher Raum im Einzelfall bedeuten kann, rückt ein bildnerischer Eigensinn von Tieren in naturhistorischen Bildern in den Fokus der Aufmerksamkeit. Denn die gewählten formalen Anordnungen gehen mit den dargestellten Tieren eine Partnerschaft ein. Dabei ist auch von Interesse, wie einem Verständnis davon, was Tierlichkeit auszeichnet, Vorschub geleistet wird.
2 | A.O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen, S. 296. 3 | T. v. Aquin: Summa contra gentiles, S. 271f. 4 | Vgl. zur historischen und methodischen Situierung des Menagerie-Gemäldes »Großes Kasseler Tierbild« von Johann Melchior Roos, aus den Jahren 1722-29 den Aufsatz von Christian Presche und Daniel Wolf in diesem Band. Auf dem Gemälde ist freilich der Eindruck, einen Überblick über eine Vielzahl von Tieren zu besitzen, der charakteristisch für eine Menagerie ist, in die Motivanordnung und in den Bildaufbau verlagert. Die für die Menagerie typischen architektonischen Begrenzungen und kulturellen Einhegungen werden auf dem Gemälde nicht dargestellt.
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Abb. 1: Philippe Simonneau, Ménagerie des insectes, ca. 1734, Kupferstich
R é aumurs I nsek tenmenagerie Im ersten Band von Réne Antoine Ferchault de Réaumurs siebenbändigem Hauptwerk Mémoires pour servir à l’histoire des insectes ist auf der ersten Textseite eine Vignette abgedruckt, die seine Insekten-Menagerie zeigt (Abb. 1). Das Zierstück als Auftakt, dessen Format in den Satz der folgenden Mémoires des Insekten- und Materialforschers Réaumur integriert ist, hat nicht nur eine schmückende Funktion. Mit der vorangestellten Vignette wird auf einen Blick deutlich, wie der Zugriff auf die Insekten erfolgt, nämlich mithilfe eines räumlichen Gefüges, das einen Überblick über Ähnlichkeiten und Differenzen glaubhaft inszeniert. Im Netzwerk der Naturforscher_innen in der Generation vor Georges-Louis Leclerc de Buffon, dem Verfasser der Histoire naturelle générale et particulière, die ab 1749 in 36 Bänden erscheint, nimmt Réaumur aufgrund seiner Publikationstätigkeit eine wichtige Rolle ein. 1708 wird der 24-jährige Réaumur Mitglied der Académie des sciences und publiziert in den folgenden Jahren seine Beobachtungen von Insekten und Schalentieren sowie Erkenntnisse über die Papier- und Porzellanherstellung in den Mémoires de l’Académie. Réaumurs Hauptwerk, die Mémoires des insectes, erscheint zwischen 1734 und 1742. Es beinhaltet seine Beobachtungen von unterschiedlichen Insekten, Beschreibungen ihres Wachstums und ihres Äußeren. Seinen methodischen Ansatz beschreibt Réaumur im ersten Band seiner Mémoires: Die eigene Beobachtung ist demnach der Garant für Fortschritt in der Naturgeschichte; nur sie kann bestehende Probleme lösen. Allein mithilfe der eigenen Beobachtung kann bisher Verborgenes wahrgenommen werden, nur so werden Relationen unter den Dingen erkannt oder auch Differenzen
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zwischen Dingen wahrgenommen, die bisher als ähnlich erachtet wurden.5 Réaumurs hauseigene Insektenmenagerie bietet für dieses Erkenntnisinteresse die besten Voraussetzungen. In einer Art Gesamtschau lassen sich Beziehungen erkennen und Morphologien vergleichen. Gleichwohl beinhalten die Beschreibungen so viele Informationen wie nur möglich. Wie Mary Terrall ausführt, werden hier anatomische und physiologische Auskünfte über die Tiere gegeben sowie Erläuterungen ihres Verhaltens und ihr Nutzen für den Menschen. Die Tätigkeit des Beobachtens umfasst Praktiken der Mikroskopie, der Dissektion, des Fütterns, der Einhegung und der Zucht. Teil der Berichte Réaumurs sind nicht nur Beobachtungen, die Leser_innen werden auch mit Details zu Prozessabläufen, Tricks und Techniken unterhalten, die tierliche Beobachtung überhaupt erst möglich machten. Aus diesem Grunde spricht Terrall von einer Textgattung, die sowohl menschliche Erkundungen erzählt als auch von tierlichem Leben berichtet. Auf diese Art und Weise ist es den aufmerksamen Leser_innen möglich, sowohl etwas über den Habitus des Naturforschers zu erfahren, als auch sich über die Gewohnheiten und Attribute eines spezifischen Insekts, eines Wurms oder einer Spinne aufklären zu lassen.6 Wie Jacques Roger herausgearbeitet hat, ist die Naturgeschichte vor Buffons Histoire im Wesentlichen deskriptiv und weniger interpretativ ausgerichtet oder daran interessiert zu kategorisieren.7 Das Hauptaugenmerk gilt hier den Strukturen und den Mechanismen tierlicher Körper, außerhalb des Interessensgebiets der Zeit liegen physiologische Abläufe. Réaumur ist für Roger der Prototyp des naturhistorischen Beobachters, der in Detailbeschreibungen verhaftet bleibt, ohne sich für wissenschaftliche Gesetze und universelle Erklärungen zu interessieren.8 Im Gegensatz dazu geht es in Buffons Histoire um die Erklärung eines großen Ganzen, von mikroskopisch auszumachenden Prozessen bis zur Entstehung der Zeit und des menschlichen Embryos.9 Es fällt erst einmal nicht leicht, auf der den ersten Band der Memoires eröffnenden Vignette einer Insektenmenagerie ein homogenes Raumgefüge auszumachen (Abb. 1). So scheint rechts im Bild ein Innenraum dargestellt zu sein und links eine Außenansicht. Allerdings wird auf den ersten Blick deutlich, dass Insekten recht unterschiedlich präsentiert werden und es um eine Vielfalt ihrer Erscheinungsweisen geht. Im Vordergrund steht ein Tisch, seine Draufsicht ermöglicht es, sowohl auf dem Tisch liegende Schmetterlinge zu erken5 | F. de Réaumur/R. Antoine: Mémoires, S. 49-50. 6 | M. Terrall: Catching Nature, S. 7. 7 | Jacques Roger unterscheidet Naturhistoriker vor Buffon in »observateurs«, insbesondere Beobachter von Insekten, und »classificateurs«, die er hauptsächlich in Botanikern erkennt. Vgl. J. Roger: Les sciences de la vie, S. 107. 8 | Ebd., S. 392. 9 | Ebd., S. 107.
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nen als auch in einem Gestell aufgehängte Raupen sowie Insektenpuppen. Ein weiterer Tisch rechts im Hintergrund ist die Basis für Glasgefäße. Ihr Inhalt dient als Gegenstand für Aufzeichnungsreihen über die äußerlichen Veränderungen der Insekten, ebenso die Behältnisse auf den darüber angebrachten Regalbrettern. Auf dem Boden krabbeln eine Schabe und ein Käfer, ein Wurm kriecht über den Untergrund, in der Luft flattern Motten und Schmetterlinge. Im Außenraum sind außerdem Ameisennester, Bienenstöcke sowie ein künstlich angelegter Weiher mit Libellen zu sehen. Zwar sind die Insekten als Einzelwesen nicht erkennbar, jedoch macht die von Philippe Simonneau gezeichnete und gestochene Ansicht zwei Sachverhalte deutlich. Mit den unterschiedlichen Behältnissen, ausgestellten Anordnungen auf Tischen und auf Regalbrettern werden Insekten handhabbar gemacht, ihre Lokalisierung in der Luft, am Wasser und auf dem Land macht insektliche Lebensweisen auf umfassende Art sichtbar. Und auch wenn die Mehrzahl der Insekten in menschlich erdachten Umhegungen dargestellt ist, wie dem turmähnlichen Bienenstock, dem angelegten Teich für die Libellen und dem Präsentationstisch für Schmetterlinge und Larven, kann doch in dem von einer Spinne gesponnenen Netz auch eine tierliche Raumaneignung ausgemacht werden. Das Netz spannt sich zwischen der rechten, mit einem Fenster versehenen Wand und einem im Hintergrund angeordneten Zweig. Es verbindet auf diese Art einen Bau von Menschenhand mit in der Natur Gewachsenem. Diese spinnennetzspezifische Raumergreifung kann mit Donna Haraway als ›figure‹ verstanden werden. Wie Haraway vorschlägt, handelt es sich bei einer ›figure‹ nicht um Repräsentationen oder um didaktische Illustrationen, sondern um materiellsemiotische Knotenpunkte oder Schlingen, in denen unterschiedliche Körper und Bedeutungen einander formen.10 Auf der Vignette verbindet das Werk einer Spinne zwei eigentlich getrennte Räume, einen Innenraum und einen Außenraum. Eine gegenseitige Bedeutungsdurchdringung der räumlichen Sphären entsteht mithilfe der Fäden und des Netzes. Hierin ist auch die Raumauffassung einer Spinne sichtbar. Wirkmächtig sind ihre gesponnenen Fäden, indem sie zwei Bildebenen verbinden und so die verschiedenen Raumteile für die Betrachtenden verschränken.
10 | D.J. Haraway: When species meet, S. 4; D.J. Haraway: Neuerfindung, S. 85. Für diesen Hinweis danke ich Matthias Preuss ganz herzlich ebenso für Inspirationen durch die von ihm entwickelte Spinning Theory.
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M enagerie als R aummodell Das leitende räumliche Modell einer Zusammenführung verschiedener Tiere ist laut Réaumur die Menagerie. Auch wenn die genaue architektonische Anlage des Geheges für einheimische und exotische Tiere nicht festgelegt war, wird sie aufgrund ihrer immensen Kosten dem adeligen Bedürfnis nach Kuriosität und einem Begehren, den eigenen Luxus zur Schau zu stellen, zugerechnet. Mitgedacht ist in den Aussagen Réaumurs die Differenz zwischen seiner eigenen Insektenmenagerie und einer Menagerie mit exotischen Tieren. Eine gewöhnliche Menagerie mit großen Tieren könne, so der Autor, lediglich von Königen und Prinzen finanziert werden. Eine Insektenmenagerie hingegen sei preiswert in der Anschaffung und günstig im Unterhalt. Darüber hinaus biete sie einzigartige Spektakel und vielfache Abwechslung.11 Diese Merkmale zeigte Réaumur auch gerne vor. So präsentierte er seinen Besuchern seine Insektenmenagerie, wie in seinem Bericht über einen nicht weiter eingeführten Monsieur Baron deutlich wird, der ihn in Paris besuchte. Baron kannte die Insektenmenagerie bereits im Vorfeld und diente Réaumur außerdem als Lieferant von Insekten aus seinem Heimatort Luçon in der Vendée. Er sandte Réaumur besonders rare und unbekannte Exemplare zu Forschungszwecken zu.12 Réaumur beherbergte seine Insekten-Menagerie wie seine Sammlung von Präparaten und Naturalien im eigenen Haus und knüpfte damit an die etymologische Verbundenheit der Menagerie mit dem Haushalt und der Haushaltsführung (ménage, ménager) an.13
11 | »Les menageries ordinaires, celles des grands animaux, engagent à des dépenses que des Rois & des Princes font seuls en état de fairedes menageries d’insectes, dont l’entretien ne feroit pas cher assurement, offriroient des spectacles plus singuliers & plus variés.«, F. de Réaumur: Mémoires, S. 47. 12 | »Baron, qui avant de s’établir Medecin à Luçon, avoit demeuré chés moi à Paris, & qui y avoit même eu foin de mes menageries d’insesctes, m’en a envoyé beaucoup de ceux de son canton, ce qui lui a été d’autant plus facile, que personne n’a le coup d’œil meilleur que lui pour les découvrir.« Ebd., S. 51. 13 | Mary Terrall zeigt im dritten Kapitel ihres Buches Catching Nature in the Act, S. 44-78 auf, dass sowohl Réaumurs Mitarbeiter_innen als auch seine Insekten und Sammlungsgegenstände Teil seines Haushalts in der herrschaftlichen Residenz Hôtel d’Uzès waren. Als seine stetig wachsende Sammlung zu groß wird, zieht Réaumur 1740 aus der Stadt nach Faubourg Saint-Antoine in die rue de la Roquette.
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Z wei K onzep tionen königlicher M enagerien : V incennes und V ersailles – M enagerie als S er ail Im Unterschied zu den Forschungszwecken Réaumurs bestand der ursprüngliche Gebrauchszusammenhang der Tiere in der königlichen Menagerie in Vincennes vor allem darin, den königlichen Speiseplan zu erweitern.14 Mit dem Umbau der Menagerie im Jahr 1658 veränderte sich das ursprüngliche Konzept. Nach dem Plan des königlichen Architekten Louis Le Vau sollte der Neubau auch Tiere beherbergen, die in fernen Ländern gekauft wurden – so beauftragte beispielsweise der erfolgreiche Finanzminister Jean-Baptiste Colbert reisende Agenten mit dem Ankauf von exotischen Tieren15 – oder als Geschenke im Rahmen eines diplomatischen Austauschs an den Hof kamen. Wie zuvor die Nutzung der Tiere für den Speiseplan des Königs wurde mit ihrer Haltung ein eindeutiges Ziel verfolgt: Sie wurden in spektakulären Wettkämpfen aufeinander gehetzt.16 Mit der Konzeption der Anlage aus drei großen Höfen, zwei großen Gebäuden mit Innenhöfen sowie zwölf verstreuten Freiluftgehegen eiferte Le Vau dem Vorbild der Medicis nach, die ihre Bauten für gefangene Tiere ›Serraglio‹ nannten.17 Le Vau folgte damit einem Wunsch des Finanzministers Colbert, 14 | So finden sich in einem Brief Colberts vom 7. Juli 1654 an den ersten Minister Aussagen zum Bestand und zur Nutzung der Tiere in Vincennes: »La menagerie [de Vincennes] est établie; nous avons trois veaux qui sont nourris par six vaches, avec force œufs frais. Le premier serait excellent à présent. Je fais apporter toute industrie pour les conserver jusqu’à ce que le Roy vienne à Compiègne, afin que l’on en puisse envoyer trois en trois semaines consécutives. J’ay écrit à M. de Broglio pour avoir encore des vaches de Flandre et M. de Bourges m’en fait venir d’Auvergne. Nous avons six douzaines de poulets d’Inde, autant de poules et poulets qui sont fort bien nourris et qui seront excellents, cent moutons ou brebis pour avoir des angeaux de bonnt heure. Le petite truie d’Inde a fait six cochons dont trois sont morts, et les autres trois auront peine à en échapper parce qu’elle n’a point de lait. J’establis à présent deux volières de gros pigeons. J’auray soin que le faisandier vienne s’y establir au mois d’aoust«. Zitiert nach G. Loisel: Histoire des Ménagerie, S. 96. 15 | K. Krause: Die maison de plaisance, S. 61. 16 | Vgl. G. Loisel: Histoire des Ménagerie II, S. 98-99, der zwei Kämpfe im Jahr 1663 vor dem Sohn des dänischen Königs und vor der jungen Königin Marie-Thérèse beschreibt sowie Kämpfe im Jahr 1682 in Anwesenheit des persischen Botschafters. Vor dem Botschafter wurden ein Elefant und ein Königstiger aufeinander losgelassen, vor den Augen des Kronprinzen wurden Hunde auf einen Bären, Hunde auf einen Stier sowie ein Tiger aus Marokko gegen eine Kuh gehetzt. 17 | Zur Genese des »Serails« in Vincennes nach seinem florentinischen Vorbild vgl. A. Cojannot: Un sérail, S. 151-166.
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den dieser in einem Brief an Kardinal Mazarin am 21. Mai 1658 formuliert, nämlich einen »sérail pour nos bestes«18 zu erschaffen. Dieser Bezug zwischen der räumlichen Anordnung des Serails und der Menagerie macht verschiedene Zusammenhänge deutlich. Ordnet man die Übernahme der von den Medicis eingeführten Tradition des Tierserails für Vincennes in einen breiteren historischen Rahmen, korrespondiert sie mit der Faszination der französischen höfischen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts für das Osmanische Reich, obwohl das Antagonismusnarrativ der »Türkengefahr« in dieser Zeit noch aktuell war. Reise- und Hof berichte beispielsweise von Nicolas de Nicolay, Michel Baudier und Paul Rycaut stillten die Wissbegier nach Details über die Strukturen und Organisationsweisen des Serails von Konstantinopel in dem Maße, wie sie die Fantasie über den abgeschlossenen Raum anregten.19 Vor allem mithilfe der Ausführungen zur Raumabfolge im Serail wurden die Positionen und Aufgaben der Sklavinnen im Serail der französischen Leser_innenschaft vor Augen geführt. Zentraler Bestandteil der Berichte sind die kuriosen, leidenschaftlichen Verhaltensweisen der Sklavinnen, die teilweise durchaus als unzähmbar verstanden wurden, und ihre Rangordnung in Abhängigkeit der Helligkeit ihrer Hautfarbe. Ebenfalls im Fokus stehen die Wege und Ökonomien, wie die hellhäutigen und die dunkelhäutigen Sklavinnen in den Serail kamen. Einige wurden dem Sultan geschenkt, die meisten Sklavinnen wurden von Sklavenhändlern über weite Handelswege auf großen Sklavenmärkten verkauft und dort von Mittelsmännern für den Hof eingekauft. Im Vergleich zwischen Serail und Menagerie fällt zuerst und ganz allgemein die Organisation eines Mikrokosmos mithilfe einer räumlichen Ordnung auf. Beide architektonischen Modelle funktionieren nach räumlichen Hierarchisierungen und Trennungen. Im Fall der Tiere wurde nach Arten unterteilt. Herkunftswege, Transport und Handel der ›wilden‹ Tiere sind ebenfalls Themen, die zeitgenössisch von Interesse waren.20 Tiere aus fernen Ländern kamen als Geschenke unter Herrschern, als Zeichen von Diplomatie, durch Missionare und durch Händler in europäische Menagerien. Wie bei den Sklavinnen im Serail gibt der architektonische Raum auch den Tieren in der Menagerie eine Struktur vor, die bestimmte Verhaltensweisen befördert. Die aufeinander gehetzten Raubtiere der Menagiere entsprechen dabei ähnlichen zentraleuropäischen Vorstellungen von Wildheit, wie sie dem Verhalten der weiblichen Gefangenen im Serail zugeschrieben wurde. Wie bei den für Schaukämpfe gehaltenen Tieren in Vincennes wurde die Gewalthaltigkeit der
18 | Lettres, instructions et mémoires de Colbert, ed. P. Clément, S. 294. 19 | N. de Nicolay: Les quatre premiers; M. Baudier: Histoire general; Rycaut: Histoire de l’Etat. 20 | Vgl. G. Ridley: Claras Grand Tour.
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Organisationsform des Lebens der Sklavinnen am Osmanischen Hof in der Rezeption nicht explizit gemacht. Als wesentliche Differenz zwischen der räumlichen Situierung des Serails innerhalb der Anlage des Hofes in Konstantinopel und der Menagerie in Vincennes ist jedoch der Stellenwert zu nennen, den jeweils die Sichtbarkeit der Sklavinnen und der Tiere einnimmt. Das Merkmal des Serails ist gerade die Verborgenheit seiner Insass_innen. Die Machtausübung des Osmanischen Herrschers bestand in der von ihm als Mittel eingesetzten Möglichkeit, die Sklavinnen seinem Blick exklusiv zur Verfügung zu stellen und Herr über ihre Sichtbarkeit zu sein. In Vincennes wurden die Tiere zuerst in unterschiedlichen Gehegen für den Speiseplan des Königs gehalten, ab den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts sollten »wilde Tiere« für spektakuläre Schaukämpfe bereitstehen. Hier wird die Sichtbarkeit ihrer Verhaltensweisen in Gefangenschaft zum Schauspiel.
Abb. 2: Pierre Aveline, Ménagerie de Versailles au temps de Louis XIV. Vue et perspective prise du côté de Saint-Cyr, um 1700, Kupferstich, 18x10 cm
M enagerie als neue Ö konomie der S ichtbarkeit Die neue Anlage der Menagerie in Versailles veränderte die mit Machtpraktiken verbundene »Ökonomie der Sichtbarkeit«.21 Ludwig XIV. beauftragte Louis Le Vau, wie schon in Vincennes, auch in Versailles ein vom Vater geerbtes ländliches Refugium als Menagerie zu entwerfen. Wie Peter Sahlins in sei21 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 241.
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nem Aufsatz The Royal Menageries of Louis XIV and the Civilizing Process Revisited darlegt, nutzte Ludwig XIV. die Zeichen der Tierwelt in der Menagerie, um eine Symbolik absoluter Regeln zu etablieren. Die Menagerie ist demnach weniger als Vorläufer eines Zoos zu verstehen als vielmehr eine lebende Metapher königlicher Autorität, die eine neue Qualität an aristokratischer Zivilisierung aufweisen sollte.22 Im Unterschied zu Vincennes ging es in der Menagerie in Versailles vor allem darum, offenkundig elegante Vögel auszustellen. Zwischen 1662 und 1670 wurde eine zentrale Anlage gebaut, in der sieben Höfe radial um den Hof eines zweistöckigen salon octagonal mit einem Kuppeldach gruppiert sind (Abb. 2). Eine lang gestreckte Galerie führt von dem achteckigen Pavillon zu einem zweistöckigen Corps de Logis mit zwei rahmenden Pavillons. Auch wenn die Anlage zerstört ist und keine Baupläne der Tierhöfe mehr vorhanden sind, wird doch auf unterschiedlichen Stichen deutlich, wie die Tiere räumlich eingeteilt und zu beobachten waren.23 Die Besucher konnten die Höfe der Menagerie sowohl aus den breiten Fenstern zu allen Seiten des Salons betrachten als auch vom umlaufenden Balkon überblicken sowie von dem oktogonalen Hof durch die Türen in den oktogonalen Pavillon (Cour des Dès).24 Die Höfe trugen Namen, die sich mehr oder weniger konkret auf die Tiere beziehen, die zwischen den hohen Mauern lebten (Quartier des Cigognes, Cour des Demoisselles de Numidie, Cour des Pélicans, Rond-d’eau, Cour des Autruches, Cour des Oiseaux, Basse-cour).25 Ein Charakteristikum der Menagerie ist das Phantasma, unterschiedliche Tiere in einer überblickenden Gesamtschau erfassen zu können. Mit der Menagerie in Versailles war ein Modell in der Welt, das gleichzeitig Tiere einhegt und mit seinen radial um einen Turm gruppierten Segmenten eine idealische Betrachter_innenposition erschafft, um Tiere vergleichend beobachten zu können. 22 | P. Sahlins: The Royal Menageries, S. 239. 23 | Vgl. »Die Menagerie in Versailles«, in: B. Paust: Studien zur barocken Menagerie, S. 54-80. 24 | Im unteren Bildrand eines Stiches, der die Menagerie in Versailles zeigt und von Nicolas Langlois mit dem Titel »Château de Versailles et Château du Trianon« um 1640 gestochen wurde, findet sich folgende Beschreibung: »Le Salon de la Menagerie que l’on voit icy par derriere est entouré d’une cour aussi de figure octogone fermée de grilles de fer, qui la separe de sept autres cours remplies doiseaux rares et d’autres animaux de divers pais eloignés. La’prem. cour à main gauche en entrant contient les escuries, les estables, et les bergeries, dans la 3e a main droitte est une voliere magnifique remplie de Pigeons de diverses especes curieuses.« Inv. GRAV. 465, Réunion des Musées Nationaux/bpk, Berlin. 25 | Vgl. zu den Tierhöfen und deren Insass_innen G. Loisel: Histoire des Ménagerie II, S. 107-112.
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In seiner Analyse der Entstehung einer Disziplinargesellschaft in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses zieht Michel Foucault eine Verbindung zwischen der architektonischen Anordnung der Menagerie in Versailles und dem von Jeremy Bentham geplanten Panopticon. Denn beide etablieren Techniken des Sehens, die Machteffekte auf Menschen und Tiere haben. Zwar war 1791, als Bentham seinen Plan zeichnete, die Menagerie in Versailles schon zerstört, dennoch erkennt Foucault hier »dieselbe Bemühung um individualisierende Beobachtung, um Charakterisierung und Klassifizierung, um analytische Aufteilung des Raumes«.26 Teil der geordneten räumlichen Anordnung ist eine Asymmetrie, die Blickpositionen ermöglicht und so Observationen mit dem Ziel organisiert, Wissen zu produzieren. Diese Kulturtechnik, die Foucault als wesentlich für die Etablierung einer disziplinierenden Macht in den Mikrostrukturen der modernen Gesellschaft erachtet, wird seiner Meinung nach in der Menagerie bereits eingeübt. So sieht er im »Panopticon eine königliche Menagerie, in der das Tier durch den Menschen ersetzt ist, die Gruppierung der Arten durch die Verteilung der Individuen und der König durch die Maschinerie einer sich verheimlichenden Macht«.27
M enagerie als gesammelte N aturordnung Jedoch auch für die naturhistorische Wissensproduktion, für das Beobachten von Tieren, für ihre Zeichnung und für die Verwertung und Erforschung ihrer toten Körper war das räumliche Setting der Menagerie fundamental.28 Ellen Spickernagel hat zudem eine weitere räumlich situierte Bedeutungsebene der Menagerie aufgezeigt. In ihrer Analyse der Tiere in der Menagerie am absolutistischen Hof legt die Autorin dar, wie sie als Objekte ständiger Veränderung, Neuschöpfung und Umdeutung unterworfen waren. Und wie dabei systematisch arteigene Verhaltensweisen und Bedürfnisse tierlicher Lebensführung ausgeblendet wurden. Ausgehend von ihrer in Le Vaus architektonischer Anlage ausgemachten Verbindung von Menagerie und Jagdschloss entwickelt Spickernagel die These einer räumlichen Einheit der beiden architektonischen 26 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 261. 27 | Ebd., S. 261. 28 | Seit der Gründung der Académie des sciences 1666 in Paris standen die Körper der Menagerietiere im Fokus des naturhistorischen Interesses. 1671 veröffentlichte Claude Perrault unter dem Titel »Mémoires pour servier à une histoire naturelle« die Ergebnisse der anatomischen Untersuchungen. Stiche von Sebastien Le Clerc überführen die Untersuchungen in die Ikonographie eines Bildtableaus. Vgl. A. Guerrini: The ›Virtual Menagerie‹, S. 19-24; A. Picon: Claude Perrault; M. Pinault-Sørensen: Les animaux du roi, S. 159-84; C. Arminjon/B. Saule: Sciences et curiosités, S. 109-19.
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Repräsentationstypen. Die Autorin geht davon aus, dass die Aktivität der Jagd in den Blick der Menageriebesucher_in verlagert wurde. Le Vaus Schlossarchitektur machte ein panoramatisches Schauen über die einzelnen Höfe möglich. Eng damit in Verbindung steht Spickernagels Lesart der Menagerie als Naturkabinett. Ähnlich der beispielsweise von Samuel Quiccheberg 1565 in seiner Lehrschrift Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi vorgeschlagenen architektonischen Anlage eines freistehenden Baus für die ausgestellten Objekte, der nach allen vier Himmelsrichtungen in einen Garten geöffnet sein sollte, ist auch Le Vaus Grundriss zu verstehen. Die Tiere der Menagerie werden so zu ausgestellten Objekten eines Kunst- und Naturalienkabinetts.29
Abb. 3: Gérard Scotin, La Cour de Pélicans, nach einem Stich von Pierre Boël, 1670-74, Kupferstich, 18x10 cm
Tierliche P r ak tiken im R aum Betrachtet man die lebenden Tiere der Menagerie als naturhistorische Sammlungsstücke, die räumlich ge- und angeordnet werden, fällt allerdings noch ein anderer Aspekt in den Blick. Mit der räumlichen Habhaftwerdung der aus fernen Ländern eingeführten Tiere ist im Unterschied zur Kunst- und Natura-
29 | Vgl. E. Spickernagel: Der Fortgang der Tiere, S. 33-38.
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lienkammer verbunden, dass das Menagerietier lebt.30 Der panoptische Blick findet seine Befriedigung in einer eingehegten tierlichen Lebendigkeit, in Bewegungen, in Farben der Gefieder und der Felle, in Geräuschen sowie in Interaktionen der Tiere untereinander. Um dieser Lebendigkeit, die beispielsweise im Stich »Le Cour des Pélicans« von Boël (Abb. 3) mit einer Detailansicht der Menagerie ansichtig ist, näher zu kommen, ist ein Blick in de Certeaus Werk und auf seine Unterscheidung von Ort und Raum hilfreich. Im Werk des Soziologen und Kulturphilosophen stehen die Analyse und die Interpretation der Verknüpfung von alltäglichen Praktiken und deren Raum produzierenden Aspekten im Fokus. Gerne führt de Certeau das Laufen durch den städtischen Raum als Beispiel an. Hier werden einzelne Orte durch den Gehenden verbunden, Hauptwege, Seitenstraßen, Umwege und Abkürzungen werden bestätigt oder verworfen. De Certeau erklärt, wie durch die Fixierung von Dingen in ein Gefüge aus dynamisch gedachten Räumen fixierte Orte entstehen und definiert werden. De Certeau unterscheidet in der Kunst des Handelns aus dem Jahre 1980 am Beispiel der Stadt zwischen Ort und Raum.31 »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält keinen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.« 32
Der Gegensatz zwischen Ort und Raum wird von De Certeau auf zweierlei Bestimmungen zurückgeführt: »Einmal auf das Objekt, das letztlich auf das Dasein von etwas Totem, auf das Gesetz eines Ortes reduziert werden könnte (vom Kieselstein bis zum Leichnam scheint im Abendland ein Ort immer durch einen reglosen Körper definiert zu sein und die Gestalt eines Grabes anzunehmen); und zum anderen durch die Handlungen, die – an einem Stein, einem Baum oder einem menschlichen Wesen vorgenommen – die Räume durch die Aktionen von historischen Subjekten abstecken.« 33
Als Ort bezeichnet er »Ordnungen, nach denen Elemente in Koexistenzbedingungen aufgeteilt werden«, als Räume definiert er hingegen »Geflechte von
30 | Vgl. zur Qualität tierlichen Lebens, den Möglichkeiten ihrer Beschreibbar- und Erkennbarkeit die PhD-Arbeit von André Krebber: Raising the Memory of Nature. 31 | M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 217-220. 32 | Ebd., S. 218. 33 | Ebd., S. 219.
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beweglichen Elementen.«34 Ein Raum ist mit de Certeau, kurz gesprochen, »ein Ort, an dem man etwas macht«.35 Dieses Widerspiel von endgültiger Lagerung und Mobilität, von Reglosigkeit und Handlung, von Ordnung und Bewegung kann auch in der tierlichen Menagerie ausgemacht werden. Im Modell der Menagerie bilden die ursprünglich heterogenen Herkunftsorte der Tiere eine räumliche Einheit. Die Zusammenschau der Tiere sowie die Vergleichbarkeit ihrer Gestalt und ihrer Verhaltensweisen gewährt die Architektur der Menagerie. Deutlich in den Blick gerät dabei auch das differente Äußere der tierlichen Gestalten. Farbliche und morphologische Beziehungen können zwischen den Tieren ausgemacht werden. Obwohl die Architektur der Höfe, ihre Gestaltung mit Wasserbecken und Grünflächen ganz sicher die Bewegungen der Tiere dominiert, gibt es auch eine Eigendynamik der tierlichen Insass_innen, die sich nicht bis ins letzte Detail beherrschen lässt. Das Tier und vor allem die Vögel und ihre Handlungen stehen für das nicht gänzlich Zähmbare, auch wenn der Ort der Menagerie aufgrund seines Machtgefälles zwischen Mensch und Tier klar strukturiert ist. Tierliche Weisen, den vorgegebenen Raum einzunehmen, bilden in der Gesamtschau aber auch ein vielfältiges Geflecht aus Bewegungen, Formen, Farben und Stimmen. Auf dem Stich von Boël ist erkennbar, wie ein vom linken Bildrand angeschnittener Pelikan versucht, an Land einen Fisch mit seinem Schnabel vom Boden aufzunehmen. Rechts von ihm putzt sich ein weiterer Pelikan das Gefieder. Um noch einmal die gesamte Gestalt des Vogels vergleichend betrachten zu können, ist rechts im Bild ein Wasservogel als Rückenfigur zu sehen, dessen Schnabel jedoch im Profil in voller Größe studiert werden kann. Im Bildmittelfeld baden drei Vögel in einem angelegten Wasserbecken. Die Interaktion zwischen den Tieren als Tableau findet im Auge der Betrachtenden statt, die Positionen und Aktionen der Wasservögel als Gesamteindruck präsentiert bekommen. Im Hintergrund der Menagerie stehen Graugänse und ein Pfau vor einem Gebäude, das von einer Balustrade umgeben ist. Diese Bildlichkeitspraktik führt das Potenzial der Mimesis mit dem Ziel der Naturerkenntnis ins Feld. Die Anmutung einer bildlichen Naturnachahmung in den Bewegungen der Pelikane ist dabei auch Ausdruck eines künstlerischen Erkenntnisprozesses. Der Stich ist darauf angelegt, Betrachterrealität und Bildwirklichkeit in Einklang zu bringen. Das mimetisch orientierte künstlerische Darstellungsverfahren lenkt das Augenmerk wiederum auf die Prozesse des Lebens der Pelikane. Mit der Einführung des Begriffs der Praxis, wie ihn De Certeau versteht, kann, ganz allgemein gesprochen, ein Perspektivwechsel von der Beschreibung der stabilen Struktur der Bildelemente hin zu deren Kontexten und deren Produktion erreicht werden. In verschiedenen Bildebenen 34 | Ebd., S. 218. 35 | Ebd.
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befinden sich unterschiedliche Vögel, deren formale Gestalt sowie deren Äußeres in Beziehung mit den geometrischen Formen der Architektur stehen. Tierliche Ikonizität korreliert mit dem Wunsch nach einer Bildformel, die den Moment räumlich situierter Handlungen von Tieren in Gefangenschaft glaubhaft verdichten kann. Ein ikonischer Eigensinn ist im Gegensatz zwischen den geraden Linien der Architektur im Hintergrund und den klaren, aber durch die Flügel bewegten Umrisslinien der Pelikane zu finden. In der Bewegung des Flügelschlags der Pelikane und ihrer Schnabelführung zeigt sich ein bildliches Bewusstsein tierlicher Bewegungskonstellationen. Im Flügelschlag und in den Sitz- und Badepositionen der Körper der Wasservögel wird deren selbstständige Wirkung auf das bildlich Mitgeteilte ausgehandelt. Auf Augenhöhe der Position der Betrachter_innen eröffnen die Handlungen der Pelikane einen zeugenlosen Bildraum. Die Selbstbezogenheit der Vögel wird für das Bildprogramm insofern dienstbar gemacht, als sich hier ein Modus der Wirklichkeitsreflexion wiederfindet, der versucht, die Position der Tiere als visuellen Ausgangspunkt zu nehmen. Damit gehen die Bildbeobachtungen über zeitgenössische Verfahrensweisen der Naturgeschichte hinaus. Interdependenzen zwischen dem sorgsamen Verwahrungsgedanken aller Lebewesen in räumlichen Ordnungen der Naturgeschichte und den räumlichen Ordnungen von Menagerie-Tieren im Bild sind sowohl in der kulturalisierten Anordnung von Réaumurs Insektenmenagerie als auch in Le Vaus Architektur der Versailler Menagerie zu finden. Mithilfe von De Certeaus praxeologisch orientierter Raumtheorie kann die Menagerie nicht nur als Ort verstanden werden, der nach den Regeln eines Serails oder einer Kunst- und Naturalienkammer strukturiert ist, sondern auch als Raum, in dem gefangene Tiere Spuren ihres Wirkens hinterlassen, wie das Spinnennetz, Kokons oder Nester. Ein Ort, der zwar von Mauern begrenzt ist, an dem aber durch Bewegungen wie dem Flügelschlag und durch Handlungen wie dem Putzen und Fressen trotz der Gefangenschaft ein tierlich definiertes Raumgefüge möglich ist.
L iter aturverzeichnis Primärliteratur Aquin, Thomas von: Summa contra gentiles III, 71 (dt. Summe gegen die Heiden), hg. und übersetzt von Karl Albert/Paul Engelhardt/et.al., Darmstadt: Wiss. Buchges. 1974, Bd. III. Baudier, Michel: Histoire general du serail, et de la cour du grand seigneur, empereur des turcs. Où se voit l’Image de la Grandeur Otthomane, le Tableau
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des passions humaines, et les exemples des inconstantes prosperitez de la Cour, Lyon: chez Claude La Riviére 1626. Ferchault de Réaumur, René Antoine: Mémoires pour servir à l’histoire des insectes I, Paris: De L’Imprimerie royale 1734. Nicolay, Nicolas de: Les quatre premiers livres des navigations et pérégrinations orientales, avec des figures au naturel tant d’hommes que de femme selon la diversité des nations, Lyon: Par Guilaume Rouillé 1568. Rycaut, Paul: Histoire de l’Etat présent de l’Empire ottoman, Paris: impr. De S. Mabre-Cramoisy 1670.
Sekundärliteratur Arminjon, Catherine/Saule, Béatrix: Sciences et curiosités à la cour de Versailles, Ausstellungskatalog Versailles, Paris: Gallimard 2010. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve-Verl. 1988 (1980). Cojannot, Alexandre: »Un sérail pour le cardinal Mazarin. Louis Le Vau et l’adaption du Serraglio de‹ Leoni de Florence à Vincennes«, in: Annali di architettura 21 (2009). Foucault, Michel: Überwachen und Strafen Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (1977). Guerrini, Anita: »The ›Virtual Menagerie‹: The Histoire des Animaux Project«, in: Configurations 14 (2006). Haraway, Donna Jeanne: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York: Campus-Verlag 1995. Haraway, Donna Jeanne: When species meet, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 2008. Krause, Katharina: Die maison de plaisance. Landhäuser in der Ile-de-France (1660-1730), München/Berlin: Deutscher Kunstbuchverlag 1996. Krebber, André: Raising the Memory of Nature: Animals, Nonidentity and Enlightenment Thought, PhD-Thesis, University of Canterbury, Christchurch, 2015. Loisel, Gustave: Histoire des Ménagerie de l’antiquitè a nos jours II, Temps modernes, XVIIe et XVIIIe siècles, Paris: Octave Doin et Fils Éditions 1912. Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 (1936). Paust, Bettina: Studien zur barocken Menagerie im deutschsprachigen Raum, Worms: Werner 1996. Picon, Antoine: Claude Perrault, 1613-1688. Ou la curiosité d’un classique, Paris: A. et J. Picard 1988. Pinault-Sørensen, Madeleine: »Les animaux du roi: De Pieter Boel aux dessinateurs de l’Académie royale des sciences«, in: Charles Mazouer (Hg.), L’animal au XVIIe siècle, Tübingen: Narr 2003.
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Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tierforschung anhand von Jean-Henri Fabre und Henri Bergson Kristian Köchy und Matthias Wunsch
Die Methodenfrage stellt sich für eine philosophische Untersuchung der biologischen Tierforschung in mindestens zweierlei Hinsicht: Man kann diese Frage erstens so verstehen, dass sie die Methoden der philosophischen Untersuchung betrifft. Diesbezüglich haben wir uns für die Darstellung eines Fallbeispiels entschieden, um zu unterstreichen, dass unser Ansatz vermittels solcher wissenschaftshistorischer Exempel erfolgt. Da wir selbst jedoch keine wissenschaftsphilosophische Feldarbeit betreiben und Forscher_innen bei ihrer Arbeit besuchen, setzt unsere Untersuchung mit der Sichtung von Texten zum Thema ein. Sie ist methodisch in dieser Hinsicht hermeneutische Textarbeit. Unser Interesse zielt allerdings über diese Texte hinaus auf die in ihnen zum Ausdruck kommenden Forschungsprogramme und die in ihnen einschlägigen Tier-Mensch-Relationen. Methodisch ist diese Arbeit eine Kombination von wissenschaftsphilosophischen, -historischen und -soziologischen Verfahren. Darüber hinaus, so zeigt es das Fallbeispiel, sind klassische Ansätze der Philosophie relevant. Damit kommt die zweite Weise in den Blick, in der ›Methoden‹ eine Rolle spielen: Mit philosophischen Methoden untersuchen wir die Methoden der wissenschaftlichen Erforschung von Tieren. Wo Methoden und Methodisches zum Gegenstand der Reflexion werden, nimmt die Untersuchung einen methodologischen Charakter an. Wir gehen allerdings davon aus, dass generalisierte oder abstrakte wissenschaftstheoretische Rekonstruktionen für unsere Fragestellungen keinen Aufschluss liefern, sondern nur konkrete, historisch realisierte Forschungsansätze. Zentraler Fragepunkt ist dann das in diesen Methoden oder Methodologien zum Ausdruck kommende Tier-Mensch-Verhältnis. Dabei ist es eine weitere Vorannahme unserer Arbeit, dass auch in diesen Kontexten Tiere keinesfalls nur die Rolle passiver Objekte von menschlicher Forschung spielen, also nur ›Gegenstände‹ einer wissenschaftlichen Methode sind. Tiere
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sind vielmehr immer auch aktive Glieder der methodischen oder methodologischen Relationen, die wir untersuchen. Ihre Aktivität (und sei es in Form der Widerständigkeit gegen methodische Eingriffe) bildet ein entscheidendes Moment der von uns untersuchten relationalen Beziehungen. Hier setzt das Fallbeispiel an. Wir haben die Instinktforschung des französischen Insektenforschers Jean-Henri Fabre (1823-1915)1 und ihre philosophische Reflexion bei Henri Bergson (1859-1941) ausgewählt. Es wird sich jedoch zeigen, dass nicht eigentlich Fabre und Bergson, ihre Methoden oder Methodologien im Zentrum stehen. Vielmehr sind es die Tiere, an denen und mit denen geforscht und über die nachgedacht wird. Wesentliche Akteure des folgenden Textbeispiels sind die Grabwespen der Gattung Tachytes.
D ie Ta xonomie des I nstink ts – I nsek ten kl assifizieren I nsek ten Diese Grabwespen treten nach dem Obigen in der Narration unseres Forschers auf. Wir setzen mit zwei Zitaten ein; das erste betrifft die Auswahl der Beute durch die Grabwespe, das zweite die Lähmungsstrategie dieser Wespe: »Nun gut! Habe ich die Tachytes zu Recht als Heuschreckenliebhaberin definiert? Welche Konstanz in den gastronomischen Regeln der Rasse! Und mit welchem Gespür sie ihre Jagdbeute variiert, aber nie die Ordnung der Gradflügler verlässt! Was haben Heuschrecke, Grille, Gottesanbeterin, Maulwurfsgrille in ihrem allgemeinen Aussehen gemeinsam? Nichts, absolut nichts. Wer nicht mit den von der Anatomie diktierten komplizierten Verknüpfungen vertraut ist, käme nie darauf, sie in eine Klasse zu stellen. Doch Tachytes irrt sich nicht. Vom Instinkt geleitet, macht sie der Wissenschaft eines Latreille Konkurrenz und vereint alle in einer Klasse. Diese Taxonomie des Instinkts wird noch erstaunlicher, wenn man die Verschiedenartigkeit der in einer Höhle aufgehäuften Stücke bedenkt. […] 2 Was sagen Sie dazu? Stimmen die Theorie des Gelehrten und die Praxis des Tieres nicht bewundernswert überein? Hat das Tier nicht perfekt ausgeführt, was Anatomie und Physiologie uns vermuten lassen? Der Instinkt, eine kostenlose Zugabe, eine unbewusste Eingebung, konkurriert mit dem Wissen, einer sehr kostspieligen Erwerbung. […] Die Tachytes weiß also, wo die Nervenzentren ihrer Jagdbeute liegen; oder besser gesagt, sie tut, als wüsste sie es. Dieses unbewusste Wissen haben sie und ihre Rasse nicht durch über die Zeitalter immer mehr vervollkommnete Versuche und durch von Generation zu Generation weitergegebene Gewohnheiten erworben. Es ist unmöglich […], eine Kunst 1 | Dieser Gedanke wird umfänglicher ausgeführt in K. Köchy: ›Scientist in Action‹. 2 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 3, S. 200 (frz., Bd. 3, S. 151).
Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tier forschung auszuprobieren und zu erlernen, bei der man verloren ist, wenn man nicht auf Anhieb Erfolg hat. Man rede nicht von Atavismus, von kleinen Erfolgen, die durch Vererbung größer werden, wenn der Neuling, der seine Waffe falsch setzt, in der Doppelsäge [der Fangarme der Fangheuschrecke] zermalmt und zur Beute der wilden Mantis wird! Die friedliche Heuschrecke protestiert gegen den Angriff vergeblich durch Ellenbogenstöße; die fleischfressende Mantis […] würde dadurch protestieren, dass sie den Ungeschickten frisst; das Wildbret verzehrt den Jäger, ein trefflicher Fang. Fangschrecken zu lähmen ist ein hochgefährliches Gewerbe und verträgt keinen halben Erfolg; die Tachytes muss sich bei Strafe des Untergangs schon beim ersten Mal auszeichnen. Nein, die Kunst der Chirurgie [der Tachytes] ist keine erworbene Kunst. Woher bekommt sie diese, wenn nicht aus dem universalen Wissen, in dem sich alles bewegt und alles lebt?« 3
Diese Textabschnitte zeigen nicht nur den Wissenschaftler und Poeten Fabre bei der Arbeit, sondern sie machen auch deutlich, dass es eine Dimension von ›Methode‹ gibt, die bei unserer Auflistung vernachlässigt wurde: Nicht die Methoden des Forschers – seine Klassifikation der Grabwespen, seine Definition dieser Tiere als ›Heuschreckenliebhaber‹ oder seine Experimente, um diese Definition zu rechtfertigen – fallen ins Auge, sondern die Methoden der Grabwespen selbst. Deren bewunderungswürdige Leistungen bei der Klassifikation von Insekten sind es, die Fabre hervorhebt: Die Tatsache, dass Grabwespen instinktiv in der Lage sind, ihre Beute nur aus der Ordnung der Gradflügler zu wählen und sich dabei von Gestaltunterschieden nicht irritieren zu lassen. Dieses unbewusste Wissen des Instinkts und dessen Verhältnis zum bewussten Wissen des Intellekts interessieren Fabre. Woher kommt die Kunstfertigkeit? Ist sie angeboren oder erworben? Wird sie über Versuch und Irrtum gewonnen? Für Fabre zeigen seine Beobachtungen: Hier ist ein Wissen der Grabwespen präsent, das nicht aus unvollkommenen Vorformen entstanden sein kann. Die Wespe setzt ihre betäubenden Stiche genau dort, wo die Nervenzentren ihrer Beute liegen. Vor allem, wenn es darum geht, gefährliche Räuber wie die Gottesanbeterin zu erlegen, ist diese Genauigkeit für die Wespe überlebenswichtig. Jeden Fehler würde sie sofort mit dem Tod bezahlen. Mit diesen Textpassagen fächert sich die zweite Ebene unserer Methodenfrage auf: Mit seinen experimentellen und beobachtenden Methoden erforscht der Insektenforscher Fabre die Methoden ›seiner‹ Grabwespen. Während im ersten Zitat die Sammlungstätigkeit von Beute (die Fabre auf Basis eigener Sammlungen aus dem Vorratslager der Tachytes beschreibt) die Analogie zur wissenschaftlichen Sammlung und Systematik abruft und für Fabre eine »Taxonomie des Instinkts« nahelegt, wird die zum Erlegen der Beute notwendige Kunstfertigkeit (die Fabre durch Experimente und eigene anatomische Sektionen untersucht) in Analogie zur wissenschaftlichen Anatomie und Physiologie 3 | Ebd., S. 209f. (frz. Bd. 3, S. 159).
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gesetzt und ist entsprechend eine Chirurgie des Instinkts. In beiden Fällen wird menschliches Wissen (savoir humain) mit dem Wissen des Insekts (savoir de l’insecte) auf mehreren Ebenen in Bezug gesetzt.4 Fabres Zielsetzung ist in beiden Fällen die Bestimmung des für ihn zentralen Vermögens dieser Tiere: ihres Instinkts.
I nstink t als M e thode der I nsek ten Das obige Zitat zeigt, dass Fabres Forschung ein spezielles Untersuchungsprogramm der Instinktforschung ist. Damit fächert sich ein weites Feld fachwissenschaftlicher und philosophischer Debatten auf:5 Der Instinktbegriff steht dabei für Verschiedenes. Bis zur Kontinuitätsthese des Darwinismus etwa stand er für den Unterschied zwischen unveränderlichen Abläufen in der lebendigen Natur und variablen Vernunfthandlungen. Weiter wird der Instinkt als angeborenes Vermögen von erlernter Gewohnheit unterschieden. Alle Untersuchungen zum Instinkt stehen zudem vor dem methodologischen Grundproblem, dass er sich zwar in beobachtbaren Verhaltensweisen äußert, aber als innerer Antrieb der direkten Beobachtung entzogen ist. »Instinkt« wird zudem in vielen philosophischen Reflexionen als zweckmäßiges, wiewohl unbewusstes Geschehen zum nicht-mechanischen Prinzip der organischen Natur. Andere deuten hingegen Instinkte als zusammengesetztes Reflexgeschehen. Auf der Basis seiner Studien zeichnet Fabre folgendes Bild: Der Instinkt ist das erste Prinzip des Insektenlebens. Instinkte werden nicht durch Nahrung, Umwelt oder Material geformt, sondern sind bereits fertig und stellen ihrerseits das Gesetz der Nahrungssuche, der Umweltbezüge und der Gestaltbildung dar.6 Der Instinkt ist keine während des Lebens der Tiere erworbene Fähigkeit oder Gewohnheit. »Wo Erfahrung und Nachahmung nichts vermögen, gebietet der Instinkt mit seinem unbeugsamen Gesetz«.7 Instinkt ist weder eine freie noch eine bewusste Fähigkeit. Seine Handlungsphasen sind prädeterminiert und der Ablauf erinnert an ein Uhrwerk. Der Instinkt entwickelt sich also nicht, ist ohne Lehrzeit, beim ersten Versuch vollkommen ausgebildet und verweist auf 4 | Ebd., S. 207 (frz. Bd. 3, S. 155). 5 | Vgl. G. Toepfer: Instinkt. 6 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 3, S. 215 (frz. Bd. 3, S. 162). In diesem Sinne hat Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 17ff.) den Instinkt als artdienliche, sinnvolle, in einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufende Reaktion bestimmt. Der Instinkt ist für ihn angeboren und erblich. Seine vollkommene Umsetzung ist von der Zahl der Versuche unabhängig. 7 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 4, S. 62 (frz. Bd. 4, S. 49).
Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tier forschung
eine planvolle Ordnung des Kosmos. Allerdings weiß Fabre, dass ein starres »Wissen, das nichts von sich weiß« (rigide science qui s’ignore)8, allein das Überleben der Tiere nicht gewährleisten kann. Der starre Instinkt muss deshalb ergänzt werden durch die flexible Erfahrung. Weil Fabre diese Fähigkeit bei Insekten nicht ›Intelligenz‹ nennen möchte – »ein viel zu großes Wort« –, bezeichnet er sie als »Unterscheidungsvermögen« (discernement).9 Instinkt ist ein Werkzeug. Er ist wie ein Organ und arbeitet mittels Organen. Dennoch ist die Ähnlichkeit im Körperbau, die der Anatom im Museum feststellt, nicht identisch mit der Ähnlichkeit der Instinkte, die der Verhaltensforscher im Freiland erforscht. So ist es auch beim Heiligen Pillendreher Skarabäus (Scarabaeus sacer). Eine alleinige Berücksichtigung von dessen Körperbau und der Arbeitsbedingungen ergibt keine Erklärung für den Prozess der Bildung der Mistkugel. Deutlich wird ein Unterschied zwischen Mensch und Insekt: Wo Menschen runde Formen mit einer Drechslerbank erzeugen oder wie Kinder bei der Fertigung eines Schneeballs durch das Rollen über das Material, zeigt der Blick auf das Instinktvermögen, dass der Pillendreher anders vorgeht. Das Insekt ist ein Modellierer (artiste modeleur) und kein Drechsler (ouvrier tourneur). Mit dieser Gegenüberstellung unterscheidet Fabre nicht nur zwei Verfahren (Modellieren und Drechseln) oder das Verfahren von Menschen (mit der Drehscheibe die Kugel formend) und das Verfahren von Insekten (durch Schichtenbau die Kugel erzeugend), sondern eben auch ein künstlerisches Verfahren (der Insekten) von einem handwerklichen Verfahren (der Menschen). Der Instinkt ist ein unbewusstes Vorauswissen eines Plans der Natur, das unser Wissen übertrifft10 und dennoch zugleich deutlich beschränkt ist: Da bereits vollkommen entwickelt, benötigt der Instinkt keine Kenntnis von früheren (Fehl-)Versuchen; ein Gedächtnis fehlt ihm.11 Insofern ist die vollkommene Anpassung nur eine Seite der Medaille. Die andere sind für den Beobachter zunächst seltsam erscheinende Fehlleistungen: Der Instinkt ist in bestimmten Hinsichten blind. Die Mutter des Mistkäfers (Geotrupes spec.) sorgt aufwendig für die Sicherheit ihrer Eier. Nach der Eiablage jedoch ist ihr deren Schicksal vollkommen egal und sie erkennt sie nicht wieder, wenn sie ihr in ungewohnter Umgebung präsentiert werden. Das Vorauswissen des Instinkts kann schließlich durchaus in Rücksicht auf physikalische Bedingungen erfolgen. Die Eipakete der Gottesanbeterin (Mantis religiosa) etwa berücksichtigen den Effekt der geringen Wärmeleitfähigkeit. Neben dieser Bestimmung des für Fabre wesentlichen Vermögens seiner Versuchstiere – die damit Instinktwesen sind – zielt das Methodeninteresse 8 | Ebd. (frz. Bd. 4, S. 50). 9 | Ebd., S. 62f. (frz. Bd. 4, S. 50). 10 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 5, S. 86 (frz. Bd. 5, 66). 11 | Ebd., S. 88 (frz. Bd. 5, S. 68).
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unseres Ansatzes jedoch weiter. Es geht um das gesamte Szenario des Forschungsprogramms, seines Denkstils, seiner philosophischen Implikationen – insbesondere in denjenigen Teilen, die für das Tier-Mensch-Verhältnis, hier eine Tier-Mensch-Differenz, von Bedeutung sind.
F abres F orschungsprogr amm An Fabres Forschung lässt sich zunächst die Bedeutung der räumlichen Situiertheit von Wissenschaft erkennen. Fabre steht einerseits für den Ansatz der Freilandforschung. Sein ›Labor‹ ist ein Freilandlabor, sein von Wildkräutern überwucherter Garten in der Provence (Sérignan-du-Comtat, Vaucluse), den er »Harmas« nennt. Das Laboratorium der Physiologen oder das Museum der Systematiker als Forschungsorte lehnt er ab. Jedoch zeigt der genaue Blick auf die Art, wie Fabre arbeitet, einen besonderen Kreislauf des Wissens. Seine Forschung beginnt im freien Land (aux champs), wird unter kulturell geformten Bedingungen des Harmas fortgesetzt, der quasi ein Protolaboratorium ist, und endet im Arbeitszimmer Fabres. Dieses Arbeitszimmer steht dann nicht nur im übertragenen Sinne für den Übergang vom Feld zum Labor, sondern ist in seiner faktischen Ausgestaltung dieser Übergang: Es besitzt zum Garten hin zwei Fenster, von denen eines stets geöffnet ist und den Insekten freien Zugang ermöglicht.12 Das Arbeitszimmer ist sowohl ein Ort der Kultur (Labor zur Untersuchung von Insekten) als auch der Natur (Lebensraum von Insekten) und so ein »Laboratop«.13 Fabres Forschung ist zudem durch eine positivistische Orientierung an Beobachtung und Experiment bestimmt. Theorien gegenüber ist er skeptisch: »Theorien waren nie mein Fall; sie sind mir alle suspekt. Genauso wie verworrenes Argumentieren mit zweifelhaften Prämissen. Ich beobachte, ich experimentiere und lasse Tatsachen sprechen.«14 Diese positivistische Ausrichtung bildet ein zentrales Motiv für Fabres Kritik am Darwinismus, der für Fabre spekulativ ist. Diese Kritik hat auch andere Motive, wie eine bestimmte religiöse Ausrichtung oder ein romantisches Naturbild. Man geht aber sicher zu weit, wenn man wie C. Favret15 die Evolutionskritik Fabres auf dessen nicht ausreichende wissenschaftlich-intellektuelle Ausbildung zurückführt. Diese Unterstellung läuft auf eine Diskreditierung Fabres als Wissenschaftler hinaus. Er wird zum Laienforscher, Naturliebhaber oder Künstler. Die Wissenschaftlichkeit Fabres hingegen steht außer Frage. Sie zeigt sich in seiner Ausrichtung auf 12 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 3, S. 297 (frz. Bd. 3, S. 216). 13 | Vgl. dazu K. Amann: Menschen, Mäuse und Fliegen. 14 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 3, S. 38 (frz. Bd. 3, 28). 15 | C. Favret: Jean-Henri Fabre, S. 43f.
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Beobachtung und Experiment. Er wendet sich mit diesem Ansatz auch gegen wissenschaftliche Mythen und Erzählungen. Fabres jahrelange Beobachtung des Heiligen Pillendrehers dient so allein der Entkräftung der Behauptung des Insektenforschers Émile Blanchard, der eine gegenseitige Hilfeleistung der Tiere postulierte.16 Zur Untersuchung der Altruismusthese Blanchards setzt Fabre auf experimentelle Situationen, »in denen das Insekt dringend Hilfe brauchte«. Nie sei ihm »ein Beweis für Freundschaftsdienste zu Augen gekommen.«17 In Fabres Selbsteinschätzung ist die besondere Beobachtungsgabe der wesentliche Punkt seiner naturwissenschaftlichen Neigungen – er versteht sich als geborener Tierbeobachter,18 seine Haupttugend ist die Geduld.19 Beobachtung allein reicht jedoch nicht aus: »Man muss experimentieren, das heißt, sich einmischen und Bedingungen schaffen, die das Tier nötigen, uns etwas zu offenbaren, was es unter normalen Umständen nicht sagen würde.« Das Experiment ist vor allem wichtig, um subjektive Vorurteile auszuschalten und wirklich die Natur zu befragen. »Die Beobachtung stellt das Problem, das Experiment löst es, wenn es lösbar ist; falls es nicht alles aufklärt, erhellt sie zumindest die Ränder der undurchdringlichen Wolke.«20 Dieses Votum ist jedoch stets verbunden mit dem Lob der Freilandforschung und der Kritik an reiner Laborforschung. Hier erweist sich Fabre auch als Anhänger einer organismischen Lebensforschung, die sich gegen die Analyse und für die Synthese ausspricht: »Ihr schlitzt das Tier auf, ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm ein Objekt des Abscheus und des Mitleids, ich mache es liebenswert, ihr arbeitet in einer Werkstatt, wo gefoltert und zerstückelt wird, ich beobachte unter blauem Himmel beim Gesang der Zikaden; ihr behandelt Zelle und Protoplasma mit Chemikalien, ich studiere den Instinkt in seinen erhabensten Formen; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben.« 21
Diese starke wissenschaftliche Ausrichtung schließt allerdings für Fabre die Kunst nicht aus. Ein wesentlicher Aspekt von Fabres Forschung ist deshalb die innige Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Neben der positivistischen Forderung nach fundierter Taxonomie und klassifikatorischer Angemessenheit steht immer das poetische Motiv, das Fabre in die Nähe zur Romantik und zur Lebensphilosophie rückt. Sein maßgebliches Ziel ist es, eine lebendige Spra16 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 1, S. 17ff. (frz. Bd. 1, S. 17ff.). 17 | Ebd., S. 19 (frz. Bd. 1, S. 18). 18 | J.-H. Fabre: Souvenirs, Bd. 6, 49. 19 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 4, S. 165 (frz. Bd. 4, S. 125f.), vgl. auch J.-H. Fabre: Souvenirs Bd. 10, S. 27. 20 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 4, S. 35 (frz. Bd. 4, S. 28). 21 | J.-H. Fabre: Erinnerungen, Bd. 2, S. 9 (frz. Bd. 2, S. 10).
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che zur Darstellung des Lebens seiner Insekten zu finden – ein Gedanke, der sich auch in Bergsons Philosophie findet: Um die Grundstruktur der Welt, die Ordnung des Lebens, angemessen darstellen zu können, muss man die Begriffe dieser natürlichen Ordnung möglichst exakt anschmiegen und fließende Repräsentationen einsetzen. Für Fabre ist die Wahl einer flüssigen Sprache auch ein Ausdruck für die Sympathie und Freundschaft mit seinen Insekten. Insgesamt wird also in unserer Arbeit ein komplexes Forschungsprogramm Fabres erkennbar. Eine solche Perspektive hatte schon A. Portmanns Überlegung nahegelegt, der die Arbeiten Fabres mit den Forschungen des Tinbergen-Schülers G.P. Baerends (1916-1999) verglich.22 Dabei zeigt sich ein Methodenwechsel in der Feldforschung, der umso lehrreicher ist, als er bei Beibehaltung der untersuchten Tierart (Sandwespe, Ammophila spec.) und des zu erforschenden Vermögens (Instinkt) erfolgt. Die Ansätze von Fabre und Baerends verbindet auch die Überzeugung, angemessene Erforschung tierischen Verhaltens erfordere die Beobachtung im natürlichen Lebensraum. Zugleich sind bedeutsame Änderungen in Forschungsstil und Forschertyp feststellbar: Die Haltung Fabres, der als Frondeur in lebenslanger Einsamkeit seine Einzelbeobachtungen im Feld umsetzt, folgt noch den Idealen der Naturgeschichte einer Tierart. Baerends Forschung hingegen ist von Teilfragen bestimmt. Dabei kommt es auch zu einem Wandel von Habitus und Methoden der Feldarbeit. Nicht mehr lange Streifzüge durch das Exkursionsgebiet bilden die Grundlage, sondern ein eingegrenztes, parzelliertes und laborähnlich gemachtes Terrain, das der nun ortsfeste Forscher langfristig beobachtet. In beiden Forschungsprogrammen werden zudem bestimmte Tiere als Modellorganismen der Forschung thematisch. Fabres Spektrum umfasst viele solcher Lebewesen, vorrangig jedoch sind es Insekten. Durch die Brille von Fabres Methode betrachtet, wird die Gegenüberstellung von Mensch und Tier damit zu einer Gegenüberstellung von Mensch und Insekt. Berücksichtigt man den Fokus von Fabre auf den Instinkt, dann wird die Gegenüberstellung von Mensch und Insekt zur Gegenüberstellung von Intellektwesen und Instinktwesen. Vor allem mit dieser Dichotomie beeinflusst Fabre die Philosophie, wie sich an der Lebensphilosophie von Henri Bergson zeigen lässt.
22 | A. Portmann: Das Tier als soziales Wesen, S. 34ff. Zu Fabre und Baerends vgl. auch N. Tinbergen: Tiere untereinander, S. 123.
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B ergson liest F abre Henri Bergson war einer der Bewunderer Fabres. Dessen Arbeit war von großer Bedeutung für seine philosophische Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie, die 1907 unter dem Titel L’Évolution créatrice erschien und ihm 20 Jahre später den Literaturnobelpreis eingebracht hat. Fabres Einfluss zeigt sich implizit, wo Bergson erklärt: »Wenn ein paralysierender Hautflügler sein Opfer genau an den Punkten sticht, wo sich die Nervenzentren befinden, so daß er es lähmt, ohne es zu töten, dann verfährt er wie ein sachkundiger Entomologe und ein geschickter Chirurg zugleich«.23 Bergson erwähnt Fabre aber auch explizit. Er nennt Beispiele zum »Lähmungsin stinkt gewisser Wespen« aus drei verschiedenen Bänden von Fabres Souvenirs Entomologiques.24 Am beeindruckendsten ist der Fall der behaarten Sandwespe (Ammophila hirsuta), die ihr Beutetier, eine Raupe, erst an neun verschiedenen, genau bestimmten Stellen sticht, bevor sie ihr in den Kopf beißt, der gerade lang genug gekaut wird, damit die Lähmung, aber nicht der Tod eintritt.25 Fabres entomologische Forschungen stehen bei Bergson in einem umfassenden philosophischen Kontext. Worum es Bergson geht, ist das Projekt eines Neuen Evolutionismus. Die negative These ist, dass die bisherigen Konzeptionen der Evolution, seien sie mechanistisch oder finalistisch ausgerichtet, von einem unzureichenden Zeitverständnis ausgehen und damit den grundlegenden Prozesscharakter des Lebens (durée) verfehlen. Die positive These ist, dass es eine einzige ursprüngliche Schwungkraft des Lebens gibt (élan vital), die sich in divergierende Evolutionslinien aufsplittert, und zwar hauptsächlich in das pflanzliche und tierische Leben und beim tierischen in einer weiteren Aufspaltung zum Instinkt und zur Intelligenz führt.
I nstink t und I ntelligenz Bergson zufolge gibt es keine höhere Entwicklungsform des Instinkts als bei den Insekten, insbesondere den Hautflüglern, und keine höhere Entwicklungsform der Intelligenz als bei den Menschen. In dieser Hinsicht hat die Evolution nicht zu einer ›Krone‹ der Schöpfung, sondern zu zwei grundverschiedenen Höhepunkten geführt. Denn sowohl Menschen als auch Insekten entwickeln sich »in den verschiedensten Umgebungen«, »allen erdenklichen Hindernissen zum Trotz«, und decken dabei »eine größtmögliche Fläche« ab.26 23 | H. Bergson: Schöpferische Evolution, S. 169. 24 | Ebd., S. 198f. 25 | Ebd., S. 199. 26 | Ebd., S. 156.
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Instinkt und Intelligenz sind bei Bergson zwei »Methoden des Einwirkens« auf die Materie.27 Ihre Differenz lässt sich anhand von vier Aspekten erläutern: Werkzeugaspekt. Da Bergson dem Handeln den Vorrang vor dem Erkennen einräumt, ist der Werkzeugaspekt für ihn der primäre. Der Instinkt wird als Fähigkeit bestimmt, »organisch-strukturierte Werkzeuge [gemeint sind: Teile des eigenen Körpers] zu gebrauchen«. Die Intelligenz gilt demgegenüber als die Fähigkeit, künstliche Werkzeuge »herzustellen und zu verwenden«.28 Kognitiver Tätigkeitsaspekt. Ein weiterer wichtiger Unterschied hängt mit den Erkenntnissen zusammen, die in die jeweilige Aktivität involviert sind. Beim Instinkt, so Bergson, sind diese Erkenntnisse eher vollzogen und unbewusst, bei der Intelligenz eher gedacht und bewusst. Aspekt des Bezugs. Instinkt und Intelligenz unterscheiden sich Bergson zufolge weiterhin darin, wovon sie angeborenes Wissen besitzen: Bei der Intelligenz handele es sich um ein Wissen von Relationen oder bezüglich einer Form, beim Instinkt dagegen um ein Wissen von Dingen oder bezüglich einer Materie. Dieser letzte Punkt lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Die Sandwespe wird mit einem Sachwissen über ihre Opfer geboren, dessen Zuverlässigkeit dem wissenschaftlichen Wissen mindestens ebenbürtig, aber von grundverschiedener Art ist: Der Entomologe kenne die Raupe so, wie er auch die anderen Dinge kennt, »das heißt von außen her«; er muss »die Positionen der Nervenzentren der Raupe eine nach der anderen erlernen«. Für die Sandwespe gilt das offenbar nicht. Sie hat von vornherein ein zuverlässiges »Gespür für die Verwundbarkeit der Raupe« und ist »sozusagen von innen her« über deren Verwundbarkeit unterrichtet.29 Erkenntnisaspekt. Bergson beschreibt die für den Instinkt charakteristische Zugänglichkeit-von-innen-her mit den Termini »Sympathie«30 und »Intuition«.31 Aufgrund dieses Kennzeichens ist dem Instinkt – und das ist die vierte wichtige Differenz zur Intelligenz – eine unbedingte (nicht-hypothetische, kategorische) Erkenntnis möglich. Eine derartige Erkenntnis bleibt allerdings – anders als die durch Intelligenz erreichbare Erkenntnis – auf wenige Gegenstände beschränkt. Für Bergsons Neuen Evolutionismus ist der Instinkt ein zentraler Topos. Bergson meint unter anderem im Rückgriff auf Fabre zeigen zu können, dass sich ein komplexes Instinktverhalten, wie das Beuteverhalten der behaarten Sandwespe, mit den gängigen wissenschaftlichen Theorien, insbesondere dem Neodarwinismus, nicht erklären lässt. Er begründet auch, woran das 27 | Ebd., S. 159. 28 | Ebd., S. 163. 29 | Ebd., S. 200. 30 | Ebd. 31 | Zu diesen Bergson’schen Konzepten siehe D. Lapoujade: Intuition et Sympathie.
Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tier forschung
liegt. Wissenschaft basiert auf der theoretisch gewendeten und methodisch instruierten Intelligenz. Intelligenz und Instinkt sind aber divergierende Entwicklungen des Lebens, zwischen denen eine »radikale[] Inkompatibilität« besteht: »Das Wesentliche am Instinkt«, so Bergson, »läßt sich nicht in intellektuellen Begriffen ausdrücken und folglich auch nicht analysieren«.32
B ergsons M enschenbild Vor diesem Hintergrund lassen sich nun einige Grundzüge des Menschenbildes von Bergsons Neuem Evolutionismus herausstellen. Wie bereits deutlich geworden ist, gilt dort der Mensch als Intelligenzwesen par excellence.33 Doch Bergson spricht ihm in einer eingeschränkten Form auch Intuition zu. »Intuition« gilt ihm allgemein dabei als diejenige »Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren«.34 Ein solches innerliches Erfassen von etwas ist uns ansatzweise durch die Kunst und in unserem Selbstbezug bekannt.35 Menschen als Intelligenzwesen und Insekten und als Instinktwesen bilden für Bergson, wie schon erwähnt, insofern die beiden Höhepunkte der Evolution, als sie sich beide an den verschiedensten Orten und gegen alle Widrigkeiten behaupten. In einer anderen Hinsicht spricht Bergson dem Menschen jedoch eine Sonderstellung zu. Die Ausbildung der Intelligenz gehe Hand in Hand mit einer bestimmten Gehirnentwicklung. Das menschliche Gehirn hat, obwohl es mit allen anderen Gehirnen in biologischer Kontinuität steht, die Besonderheit entwickelt, dass die Anzahl der von ihm generierbaren motorischen Mechanismen und wählbaren Auslöser unbegrenzt ist. »Zwischen dem Begrenzten und dem Unbegrenzten jedoch«, so Bergson, »liegt dieselbe Entfernung, die das Geschlossene vom Offenen trennt«36; sie markiert einen grundsätzlichen Unterschied. In diesem Sinne kommt das Leben nur mit der Menschheit ins Offene, zur Freiheit. Allerdings weist Bergson einschränkend darauf hin, dass der Mensch in seiner unbegrenzten Fortführung der Lebensbewegung »nicht alles, was das Leben in sich trug, auf seinem Wege mitnimmt«.37 Der auf der Menschen32 | H. Bergson: Schöpferische Evolution, S. 194. 33 | Ebd., S. 166. 34 | H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 183. 35 | H. Bergson: Schöpferische Evolution, S. 204, S. 239f.; H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, S. 184. 36 | H. Bergson: Schöpferische Evolution, S. 298. 37 | Ebd., S. 301.
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linie beinahe völlig zurückgelassene Teil ist die Intuition. Die im Menschen bestehende Dominanz der Intelligenz gegenüber der Intuition hat ihren Preis. Sie resultiert in einem weitgehenden »Unverständnis für das Leben« und dessen Werden.38 Statt uns dem Leben allein vom Intelligenzstandpunkt aus zuzuwenden und es damit in die Kategorien der Leblosigkeit zu übersetzen, sollten wir uns Bergson zufolge um unsere Intuitionsfähigkeit bemühen, darum, es auch von innen her zu erfassen. Bergson formuliert dieses normative Menschenbild explizit: »Eine vollständige und perfekte Menschheit wäre jene, in der diese beiden Formen von Bewusstseinsaktivität zur vollen Entfaltung kämen«.39
E benen von M e thode und M e thodologie Nach diesem Überblick zur Konstellation »Fabre – Bergson« möchten wir abschließend die verschiedenen Ebenen von Methode und Methodologie herausstellen, die für eine Philosophie der Tierforschung von allgemeiner Wichtigkeit wären. Zunächst gibt es die Methode von Tachytes, bestimmte Heuschrecken zu lähmen. Dieser Aspekt betont die für die Philosophie der Tierforschung wichtige Einsicht, dass Tiere in dieser Perspektive möglicherweise nicht nur als Objekte, als Gegenstände einer methodischen Erfassung, in den Blick kommen, sondern zudem in gewissen Hinsichten als Subjekte, die sich entweder aktiv oder passiv methodischen Eingriffen des wissenschaftlichen Zugangs widersetzen oder die selbst über methodische Verfahren des Umgangs mit ihren Umwelten verfügen. Davon zu unterscheiden ist die Methode der empirischen Tierforschung, hier des Entomologen, Insekten zu erforschen. Als solche Methoden kommen etwa Beobachtung, Experiment, Analyse u.a. in Betracht. Dieser Aspekt betont die Tatsache, dass ein metatheoretischer Zugriff der Philosophie der Tierforschung Tiere niemals direkt, sondern immer nur vermittelt im Horizont methodischer Zugriffe der Tierforschung (oder textualer respektive bildlicher Formen der Darstellung solcher Zugriffe) in den Blick bekommt. Andererseits betont er aber ebenso, dass auch die Tierforschung Tiere stets im Horizont (und damit in den Grenzen) ihrer eigenen methodischen und konzeptionellen Zugriffe erfasst. Demgegenüber stellt es eine höhere Reflexionsstufe dar, wenn es um den Charakter eines bestimmten entomologischen Forschungsansatzes insgesamt geht. Wir nennen das die »methodologische Signatur« eines Ansatzes. Zu 38 | Ebd., S. 191, S. 187-190. 39 | Ebd., S. 302.
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ihren Kenngrößen gehören die betrachteten Modellorganismen, der bevorzugte Forschungsort, die primär untersuchte Verhaltensart, die implizite Konzeption der Tier-Mensch-Beziehung, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, innerwissenschaftliche Abgrenzungen und philosophische Bezüge. Dieser Aspekt betont die Tatsache, dass der methodische Horizont der Erfassung von Tieren durch die Tierforschung niemals in einem isolierten Verfahren oder einer separierten Darstellungsweise aufgeht, sondern stets im komplexen Rahmen ganzer Forschungsprogramme und deren materialer und kognitiver Ausprägungen. Damit ist auch die Metaperspektive einer Philosophie der Tierforschung auf diesen gesamten Denkstil verpflichtet. Von der Herausarbeitung dieser Aspekte lässt sich die philosophische Reflexion auf Methodenaspekte der empirischen Tierforschung unterscheiden. Dabei geht es auch um die systematische Frage nach der methodischen Relevanz der Philosophie für die Tierforschung. Umgekehrt schließlich stellt sich auch die Frage nach der methodischen Relevanz der Tierforschung für die Philosophie, etwa in der Philosophie des Geistes oder der Philosophischen Anthropologie.40 Die beiden letzten Aspekte betonen sowohl die Möglichkeit einer fruchtbaren Interaktion, Inspiration und Ergänzung von Philosophie und Tierforschung als auch die Tatsache ihrer grundsätzlich unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Perspektiven. Die Metaperspektive einer Philosophie der Tierforschung ist damit nicht nur als Metaperspektive von ihrem Gegenstand (der Tierforschung) zu sondern, denn sie könnte sich möglicherweise auch insofern von der Methodik der Tierforschung unterscheiden, als sie nicht lediglich in deren Methodologie (qua philosophischer Reflexion über Methoden) aufgeht, sondern auch alternative Konzepte des Untersuchten (der Tiere) entwickelt. Hat man die Übersicht all dieser Punkte vor Augen, wird noch einmal deutlich, inwiefern unsere Überlegungen zu Fabre und Bergson als Exemplifikation eines grundsätzlichen Ansatzes gelten können. Was wir hier für diese beiden Autoren skizziert haben, ließe sich für eine ganze Reihe weiterer wissenschaftlich-philosophischer Konstellationen untersuchen, etwa für »Wolfgang Köhler – Philosophische Anthropologie«41 oder für »Dorothy Cheney & Robert Seyfarth – Daniel Dennett«. Was damit in den Blick kommt, ist eine historisch-systematische Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung – ein Forschungsgebiet, das die gegenwärtige Tierphilosophie bislang kaum wahrgenommen hat. 40 | Für die Philosophische Anthropologie siehe zu diesem Punkt M. Wunsch: Fragen nach dem Menschen, S. 268ff. 41 | Vgl. dazu die Überlegungen in G. Hartung/M. Wunsch: Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie.
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L iter aturverzeichnis Primärliteratur Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Westkulturverlag 1948. Bergson, Henri: Schöpferische Evolution (1907), Hamburg: Meiner Verlag 2013. Fabre, Jean-Henri: Erinnerungen eines Insektenforschers, übersetzt von Friedrich Koch, Berlin: Matthes & Seitz 2010ff., Bd. 1-6 (frz. J.-H. Fabre: Souvenirs Entomologiques. Etudes sur l’Instinct et les Mœurs des Insectes, Nouvelle Edition Illustree, Edition Sciences Nat, Compiègne (o.J.) 1985, Bd. 1-10).
Sekundärliteratur Amann, Klaus: »Menschen, Mäuse und Fliegen. Eine wissenschaftssoziologische Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte«, in: Zeitschrift für Soziologie 23(1) (1994), S. 22-40. Favret, Colin: »Jean-Henri Fabre: His life experiences and predisposition against Darwinism«, in: American Entomologist 45(1) (1999), S. 38-48. Hartung, Gerald/Wunsch, Matthias: »Tierforschung im Horizont der Gestalttheorie. Wolfgang Köhlers Experimente zum Verhalten von Schimpansen«, in: Martin Böhnert/Kristian Köchy/Matthias Wunsch (Hg.), Philosophie der Tierforschung. Bd. 1: Methoden und Programme. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2016 (im Druck). Köchy, Kristian: »›Scientist in Action‹: Jean-Henri Fabres Insektenforschung zwischen Feld und Labor«, in: Martin Böhnert/Kristian Köchy/Matthias Wunsch (Hg.), Philosophie der Tierforschung. Bd. 1: Methoden und Programme. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2016 (im Druck). Lapoujade, David: »Intuition et Sympathie chez Bergson«, in: Eidos 9 (2008), S. 10-31. Portmann, Adolf: Das Tier als soziales Wesen, 2. Auflage, Zürich: Rhein-Verlag1953. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hg. von Manfred S. Frings, 14. Auflage, Bonn: Bouvier 1998. Tinbergen, Nikolaas: Tiere untereinander. Soziales Verhalten bei Tieren insbesondere Wirbeltieren, Berlin/Hamburg: Paul Parey Verlag 1955. Toepfer, Georg: »Instinkt«, in: Ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stuttgart: Metzler 2011, Bd. 2, S. 195-214.
Zu methodischen Aspekten der Philosophie der Tier forschung
Wunsch, Matthias: Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie, Frankfurt a.M.: Klostermann 2014.
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Spurenschichten: Menschen unter Tieren, Tiere unter Menschen
Bei den Tieren dieser Sektion handelt es sich um solche, die leben oder einmal gelebt haben und um ihre Interaktion mit Menschen, um direkte, gewissermaßen hautnahe Annäherungen in zoologischen Gärten, in der Wildnis und in landwirtschaftlichen Betrieben. Diese findet einen Ausdruck gerade auch in der Verflechtung menschlicher und tierlicher Räume, wie sie an den im Folgenden betrachteten Praktiken der Zucht und Selektion, Haltung und Nutzung, der Zähmung und Vorführung sowie der Umsiedlung und Auswilderung aufscheint. Im Zoo, im Landwirtschaftsbetrieb und in der zum Nationalpark geformten Wildnis haben Menschen Orte der Begegnung mit Tieren eingerichtet, etwa im Rahmen von Arbeits- und Pflegeverhältnissen oder von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beziehungen. Diese Orte präfigurieren ihrerseits menschliche Erwartungen und Ansprüche an Tiere, wie sie in Kategorisierungen wie »Wildtiere«, »Zootiere« und »Nutztiere« einen sprechenden Ausdruck finden. Die Herausbildung der genannten Räume ging mit der Entstehung von Professionen der Vermittlung zwischen Tieren und Menschen einher, denen im Folgenden eine wichtige Rolle zukommt: Zoowärter_innen und Tierpfleger_ innen, Landwirt_innen und Züchter_innen sowie Wildhüter und Tierfänger – im ostafrikanischen Kontext eine nahezu vollständig männliche Berufsgruppe – agieren als Mittelsleute und kulturelle Übersetzer, die gesellschaftliche Vorstellungen von Tieren formen, tierliche Bedürfnisse gegenüber Menschen vermitteln und mithin die menschliche Aneignung von Tieren ausgestalten. Von den vier hier versammelten Aufsätzen, die sich mit Annäherungen und Vermittlungen zwischen solchen Akteuren und Tieren befassen, stammen jeweils zwei aus der Geschichts- und zwei aus der Agrarwissenschaft. Ihnen gemein ist die Beschäftigung mit der Gestaltung einer Beziehung und die Vermittlung zwischen den Bedingungen von Menschen und Tieren auf verschiedenen Ebenen – wobei ein gewisses Ungleichgewicht zu beobachten ist.
Um dieses und die Vielgestaltigkeit der Mensch-Tier-Interaktionen zu erfassen, soll die Zusammenstellung von Beiträgen aus zwei grundverschiedenen Disziplinen einen fruchtbaren Rahmen bieten, der historische Fragen mit solchen nach der konkreten Ausgestaltung von Mensch-Tier-Beziehungen in der Gegenwart verbindet. Zähmung, Selektion und Domestizierung sind Spielarten der Begegnung zwischen den Spezies und der Gestaltung von – nicht als grundsätzlich harmonisch zu verstehenden – Mensch-Tier-Verhältnissen. Sie weisen historisch wie gegenwärtig Kontingenzen auf und befinden sich zwischen Nutzen und Schützen in ständiger Aushandlung. Entsprechend dem Fokus der vorliegenden Sammlung verbinden die Aufsätze das Thema Annäherungen und Vermittlungen jeweils mit einer Diskussion über eine methodische Frage ihrer Fachdisziplin. Im Fall des ersten Aufsatzes ist dies eine sehr grundsätzliche Frage: Da sich Forschung stets auf Vorhergegangenes stützt, zählt das Erfassen des Forschungsstands zum unverzichtbaren methodischen Grundstock wissenschaftlichen Arbeitens in jeder Disziplin. Wiebke Reinert sucht in der Zoogeschichtsschreibung nach Zoowärter_innen und Tierpfleger_innen als einer bedeutenden Akteursgruppe der Vermittlung zwischen Menschen und Tieren – in diesem Fall zwischen Menschen und von ihnen exotisierten Tieren. Mit Fokus auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies und verschiedenen, mitunter divergierenden individuellen, sozioökonomischen, politischen und ideologischen Interessen lassen sich Zoologische Gärten als ein um wilde Tiere entstandenes Beziehungsgeflecht erkennen, in dem sich die Tiermenschgesellschaft in stetiger Aushandlung befindet. Von Zootieren und ihren Wärter_innen wandert der Blick zu Nutztieren und ihren Züchter_innen. Laura Santos und Sven König stellen das methodische Instrumentarium der agrarwissenschaftlichen Tierzuchtforschung vor und unterziehen zwei seiner Elemente einer näheren Diskussion: die Exterieurbeurteilung und die Zuchtwertschätzung. In Anbetracht der zentralen Bedeutung von Erblichkeit (Heritabilität) für ihre Fragen stützt sich die Tierzuchtforschung maßgeblich auf quantitative Verfahren, namentlich auf die Anwendung statistischer Modelle zur Schätzung von Heritabilitäten für Merkmale, die in Zuchtzielen definiert sind. Im Fall der Milchviehzucht kommt der äußeren Erscheinung der Tiere – dem Merkmalskomplex »Exterieur« seit dem Beginn der systematischen Zucht eine wichtige Rolle zu, weil sie im Zusammenhang mit der Milchproduktionsfähigkeit und damit der Wirtschaftlichkeit steht. Über die Exterieurbeurteilung hinaus bezieht sich die Zuchtwertschätzung auf alle als wirtschaftlich bedeutsam erachteten Merkmalskomplexe von Milchvieh. Zur Ermittlung eines Gesamtzuchtwerts werden dabei zahlreiche Merkmalskomplexe zu Relativzuchtwerten zusammengefasst und unter Berücksichtigung ihrer genetischen Beziehungen zueinander gewichtet und kombiniert. Eine besondere Bedeutung sehen Santos und König in Merkmalen des Tierverhaltens, die als Gradmesser des Tierwohls im Rahmen einer nach-
haltigen Tierzucht verstärkt in Zuchtzielen berücksichtigt werden sollten. Um die Bestimmung von Zuchtzielen stärker am Tierwohl zu orientieren, gilt es demnach, weitere Verhaltensmerkmale zu identifizieren, mittels Testverfahren bezüglich ihrer Erfassbarkeit zu validieren und weiterführend genetische Parameter zu schätzen. Neben Tierwärter_innen und Tierzüchter_innen bilden Wildhüter eine weitere bedeutende Gruppe in der Vermittlung zwischen Menschen und Tieren. In Ostafrika sahen sich solche Akteure Mitte des 20. Jahrhunderts mit einem gravierenden Rückgang von Wildbeständen und der Gefahr des Artensterbens konfrontiert. Indem sie Rhinozerosse, Giraffen, Elefanten und weitere Arten auf die im Viktoriasee gelegene Insel Rubondo umsiedelten und dort auch zuvor in Gefangenschaft gehaltene Schimpansen auswilderten, suchten sie ein Refugium für bedrohte Arten zu schaffen, gleichsam einer modernen Arche Noah. Felix Schürmann skizziert diese Vorgänge als eine Mikrogeschichte, an der größere Veränderungen der Beziehungen zwischen Menschen, Tieren und ihrer Umwelt in Afrika während der Dekolonisationszeit exemplarisch aufscheinen. Neben der Herausbildung und sukzessiven Professionalisierung von Tierumsiedlungen und -auswilderungen als Instrumente des Artenschutzes gibt der Fall von Rubondo unter anderem zu erkennen, dass die »ursprüngliche Natur« Ostafrikas nicht nur durch zahlreiche menschliche Eingriffe geprägt ist, sondern auch auf einem historisch gewordenen, ideologisch überformten und kolonial beziehungsweise postkolonial situierten Verständnisses von Wildnis und Wildtieren beruht. Als eine methodische Frage seiner Forschung diskutiert Schürmann, inwiefern ein eigener Feldaufenthalt auf Rubondo zu Einsichten über die Vergangenheit der Insel verhelfen kann. Obwohl sich durch das Aufsuchen von Schauplätzen historischen Geschehens keine unmittelbare Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt historiographischer Erkenntnis herstellen lässt, können Reisen zu diesen Schauplätzen demnach ein nützliches Mittel sein: Im Feldaufenthalt erfahren Historiker_innen etwas von der Gegenwart, das ihnen hilft, sich eine Vorstellung von der Vergangenheit zu bilden und diese zu repräsentieren. Seit der Zeit der Tierumsiedlungen nach Rubondo hat sich der Tierschutzdiskurs erheblich intensiviert und unter anderem die Frage nach den Bedürfnissen und dem Wohlergehen von Nutztieren zu einem wichtigen Thema werden lassen. Mit der zunehmenden Bedeutung, die Menschen dem Wohlergehen etwa des von ihnen genutzten Milchviehs beimessen, findet auch die Beziehung zwischen solchen Tieren und ihren Halter_innen verstärkte Beachtung. Die agrarwissenschaftliche Tierwohlforschung stützt sich zur Beurteilung dieser Beziehung auf Verhaltensindikatoren, auf deren Grundlage Strategien zur Verbesserung des Wohlergehens, der Gesundheit und Produktivität der Tiere wie auch der Arbeitssicherheit und -qualität der Tierhalter_innen entwickelt werden können. Die dabei untersuchte Reaktivität der Kühe gegen-
über Menschen kann auch für die Milchviehzucht von Interesse sein, da die Heritabilität von Verhaltensmerkmalen im moderaten Bereich geschätzt wird. Vor diesem Hintergrund stellen Ute Knierim und Asja Ebinghaus wesentliche methodische Herausforderungen der angewandten Ethologie vor und erläutern diese beispielhaft an einer etablierten und einer innovativen Verhaltensmessgröße der Mensch-Tier-Beziehung. Besondere methodische Herausforderungen bestehen darin, die Praktikabilität und die Inter-Observer-Reliabilität einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um Messfehler so gering wie möglich zu halten und um die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen. Asja Ebinghaus, Wiebke Reinert, Laura Santos, Felix Schürmann
Beziehungsweise Zoo Methodische und theoretische Überlegungen zur Neueren und Neuesten Zoogeschichtsschreibung Wiebke Reinert
Ein privilegiertes Feld für eine Historiographie, die sich neben Menschen vor allem Tieren zuwendet, ist der Zoo – Krüger et al. haben ihn kürzlich als »das wohl am besten erforschte Untersuchungsfeld der Tiergeschichte«1 beschrieben. Gleichwohl bietet auch die Zoogeschichte ein Weiterentwicklungs- und Innovationspotenzial hinsichtlich der praktischen Anwendung und empirischen Erprobung theoretischer Ansätze bei der Befragung des aus der Vergangenheit überlieferten Materials. Anhand empirischer Beispiele sollen im Folgenden Leerstellen aufgezeigt und Möglichkeiten vorgeschlagen werden, wie diese in Verbindung mit einigen theoretischen Überlegungen gefüllt werden können. Das Phänomen Zoo ist eng verknüpft mit der Entwicklung von modernen Naturwissenschaften, Bürgertum, Kolonialismus, Nationalismus, Massenkonsum und Urbanisierung. Kategorial an diese ›großen‹ Fragen der Geschichtswissenschaft geknüpft 2, ist der Zoo als multifunktionaler Ort definiert worden.3 Es mag auch in dieser Multifunktionalität begründet sein, dass sich verschiedenste Disziplinen des Phänomens angenommen haben.4 Im Hinblick auf die Akteure konzentrierten sich die Studien dabei meist auf Gründungsmitglieder aus Politik und Wirtschaft sowie Wissenschaftler_ 1 | G. Krüger et al.: Animate History, S. 18. 2 | Ebd., S. 25. 3 | M.G. Ash: Mensch, Tier und Zoo, S. 19. 4 | Stellvertretend für eine Fülle von Studien: E. Baratay/E. Hardouin-Fugier: Zoo; J. Buchner-Fuhs: Gebändigte Wildheit: S. 301; N. Rothfels: Representing Animals, J.E. Steinkrüger: Thematisierte Welten. Vgl. außerdem die kürzlich erschienene Studie von Uddin, die US-amerikanische Zoos als Knotenpunkt von Utopien und Antipathien innerhalb der städtischen Gesellschaft ausdeutet: L. Uddin: Zoo Renewal.
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innen und Direktor_innen. Ash hat in den Jubiläumsschriften der Zoos die »Wurzeln der Tiergartengeschichtsschreibung« ausgemacht und festgestellt, dass sie »aus Gründen der Repräsentanz und des Prestigegewinns […] vorrangig institutionsgeschichtlich orientiert geblieben sind.«5 Randfiguren blieben in bisherigen Untersuchungen auffälliger Weise jene, die in den Zoologischen Gärten mit Wartung6, Pflege und Vorführung der Tiere betraut waren. Wessely zufolge sind Wärter_innen in Zoos »die einzigen Personen, die die materiellen Grenzen zwischen Tier und Mensch überschreiten und in ein intimes Verhältnis mit den ihnen anvertrauten Lebewesen treten durften«.7 Sie hat diese außerdem als »Figuren des Bürgerlichen« bezeichnet.8 Diesem Befund ist, interpretiert man den Zoo als eine Bühne der Natur9, zwar zuzustimmen, es bleiben jedoch Spielarten und Reichweite der bürgerlichen Kultur und der ihr zugeordneten Akteure zu untersuchen. Gemeinhin als »städtisch« gedachte »bürgerliche Praktiken der Naturaneignung«10 sollten in Beziehung gesetzt werden zu denen jener, die täglich mit der Wartung und Pflege der ausgestellten Tiere beauftragt waren – und die nicht diesem Bürgertum entstammten.11 Ein für die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren geschärfter Blick auf die Geschichte der Haltung von exotischen Wildtieren erhellt auch die Geschichte der Beziehungen zwischen anderen sozialen Gruppen12 – was im Folgenden anhand dreier Beispiele aufgezeigt werden soll.
5 | M. G. Ash: Mensch, Tier und Zoo, S. 18; angemessen kritisch dazu C. Goldner: NaziZoos, S. 60. 6 | Wartung war bis mindestens in die 1920er Jahre geläufiger Begriff. Vgl. Grimmsches Wörterbuch, Eintrag: wärter, m. aufseher, wächter, pfleger, zu warten ›wonach ausschauen, etwas beaufsichtigen, versorgen‹. URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=D WB&mode=Vernetzung&lemid=GW07497#XGW07497 (letzter Zugriff 15.06.2015). 7 | C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 64. Einzelne Berufe im Bereich der Tierbetreuung erfuhren Beachtung bei R.M. Wilkie: Livestock/Deadstock; E. Cudworth: Social Lives, G. Hofmeister: Mit Tieren leben und R. Kaltenegger: Arbeitsplatz Zoo. Zu Dompteuren und Tierführern siehe A. Rieke-Müller: Ein Kerl mit wilden Thieren …, Anmerkungen zu Wärtern bei C. Wessely: Künstliche Tiere, G. Heindl: Der Tiergarten Schönbrunn, R.W. Burckhardt: Akteure und Interessen, S. 119. 8 | C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 53 u. S. 63ff. 9 | M. Klemun: Amor im Zoo, S. 74. 10 | C. Geulen: Center Parcs, S. 257. 11 | Auswertung von Personalverzeichnissen der Zoologischen Gärten Hannover, Frankfurt a.M., Köln, Wien, Dresden und Leipzig. 12 | H. Ritvo: The animal estate, S. 4, C. Wischermann: Tiere und Gesellschaft.
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G renzgänge »Nach jedem schönen Sonntag«, schrieb Margret Immendorf in der Diana Zoo-Beilage vom Mai 1957, »wenn tausende von Besuchern in den Zoo gekommen sind, gibt es vierbeinige Patienten. Schon manch ein Tier ist im wahren Sinne dieses Wortes totgefüttert worden.«13 Aufgrund der Gefährdung der Tiere bestand im Zoo eigentlich ein generelles Fütterungsverbot. Die meisten Besucherinnen und Besucher, so klagt Immendorf, zeigten sich hiervon jedoch gänzlich unbeeindruckt, sodass »wir Tierpfleger oft unsere liebe Not haben, den Zoofreunden gegenüber unseren Standpunkt zu vertreten.«14 Die damals im Kölner Zoo wohnhafte Meerkatze Pitti hingegen sei da »viel rabiater: sie beißt jeden, der füttern will und sie läßt sich auch nicht durch kleine Leckereien bestechen.«15 Pitti durfte bisweilen frei im Zoo herumlaufen, doch nachdem sie eine Besucherin, die sie füttern wollte, ins Bein gebissen hatte, bekam sie bis auf Weiteres ›Ausgangssperre‹. Konflikte zwischen Tieren und Menschen waren weder Einzelfälle noch eine besondere Problematik des Kölner Zoos. Sie lassen sich seit Beginn der Zoologischen Gärten in Mitteleuropa bis zur Gegenwart nachweisen.16 An ihnen wird deutlich, dass das spezifische Tierhaltungssystem Zoo, das Miller beschrieben hat als »a manufactured ecology that brought humans and other animals together […] for the purpose of setting them apart«17, insbesondere dann heikle Situationen hervorgebracht hat, wenn die vorgesehenen Grenzen zwischen den Spezies übertreten oder brüchig wurden. Als Grenzgänger_innen zwischen tierlichen und menschlichen Räumen nahmen die Tierpfleger_ innen dabei eine zentrale Rolle ein. Immendorf stellt mit Blick auf Meerkatze Pitti abschließend fest: »Wir Pfleger sind verpflichtet, das Füttern zu unterbinden und wenn unsere Schützlinge uns dabei einmal helfen, wird das nicht verstanden.«18 Immendorf selbst verstand sich als Aufsichtsperson sowohl 13 | »Pitti« weiß sich zu helfen, Diana – Zoo-Beilage, 6./9./10. Mai 1957; Archiv Kölner Zoo. Diana war eine von mehreren Zoologischen Gärten herausgegebene Beilage zu den jeweils lokalen Zoo-Zeitungen, in denen des Öfteren kurze Berichte von Tierpfleger_innen erschienen. 14 | »Pitti«, S. 14. 15 | Ebd. 16 | Erst 2014 ist im Frankfurter Zoo der Nilpferdbulle Maikel an einem in sein Gehege geworfenen Tennisball verendet. An dem nun unbesetzten Gehege wurde ein Schild mit Bildern der Obduktion angebracht. Vgl. die Pressemeldung des Zoos, URL: www.zoofrankfurt.de/presse/aktuell/news/artikel/qualvoller-tod-von-flusspferd-bulle-maikel. html (letzter Zugriff 06.07.2015). 17 | Miller, I. J.: The Nature of the Beasts, S. 2. 18 | »Pitti«, S. 15.
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gegenüber den oft unverständigen Besucher_innen als auch den »Schützlingen« – denen sie durchaus agency zugestand19. Diverse Vorschriften und die Rolle der Tierpfleger_innen waren dabei nicht allein das Ergebnis der Begegnung von Menschen und Tieren im Zoo selbst, sondern ebenso von gesamtgesellschaftlichen Diskursen, Hierarchien, Ökonomien und mehr beeinflusst. Wesselys Feststellung, dass »die Tierpfleger doch die einzigen Personen« gewesen seien, »die […] in ein intimes Verhältnis mit den ihnen anvertrauten Tieren treten durften«20, ist dahingehend zu relativieren, dass sich diese Exklusivität je nach Zeit und Zoo unterschiedlich gestalten konnte und zudem stets speziesabhängig war. So verweist Rothfels darauf, dass Millionen von Besuchern des Londoner Zoos auf dem Rücken des Elefanten »Jumbo« geritten sind – eine Annäherung von Besucher_innen und Tieren, die komplett eingestellt wurde.21 Ein Spaziergang mit Löwe, wie ihn der Frankfurter Tierpfleger Karl Neiß in den 1920er und 1930er Jahren oft unternommen haben soll, wurde beispielsweise unter Steinbacher (1938-1945 Direktor des Frankfurter Zoos) streng verboten, unter Bernhard Grzimek (Direktor ebd. 1945-1974) dann zunächst – als Ausdruck des Zähmungserfolgs22 – wieder erlaubt.23 Auch im Hinblick auf dominante Sozialstrukturen traten Tierpfleger_innen oft als grenzüberschreitende Figuren auf. Ihr Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft wurde maßgeblich beeinflusst von der Wahrnehmung ihrer Person im Verhältnis zu Tieren.
Tiermenschen und E lefantenmädchen Margret Immendorf war eine der ersten weiblichen Tierpflege-Lehrlinge des Kölner Zoos, in dem sie im April 1954 ihre Ausbildung begann.24 Erst 1949 war der Beruf Tierpfleger in das Verzeichnis staatlich anerkannter Ausbildungs-
19 | Stellvertretend für die Debatte um agency in der Geschichtswissenschaft M. Roscher: Where is the animal in this text? und Dies.: Geschichtswissenschaft; Ullrich et al.: Ich, das Tier, und G. Krüger et al.: Animate History. Grundsätzlicher bzgl. der Repräsentation Unterrepräsentierter nach wie vor G.C. Spivak: Can the Subaltern Speak?; J. Fabian: Präsenz und Repräsentation. 20 | C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 64. 21 | N. Rothfels: Tiere berühren, S. 24f. 22 | Frankfurter Zoo-Mitteilungen 1950. 23 | Archiv Zoologischer Garten Frankfurt, 1313 A 1933. 24 | Lehrlingsberichtsheft Margret Immendorf, Archiv Zoo Köln.
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berufe aufgenommen worden25 und noch viele Jahrzehnte blieb er männlich dominiert. Im ersten Blatt zur Berufskunde hieß es 1952: »Der Beruf des Tierpflegers ist in einzelnen Sparten für Frauen gut geeignet (Jungtieraufzucht, Vogelpflege, Tierkrankenhaus, Affenpflege, Tierkindergarten, Futterküche). Bei weiblichen Interessenten ist besonders auf die körperliche Eignung zu achten.« 26
Die »körperliche Eignung« wurde mehrfach in der lokalen Presse besprochen: »Obwohl sie nicht gerade eine Figur wie die Germania hat, hantiert das zierliche Ding mit Resolutheit selbst mit den massigen Dickhäutern herum«27, so Heinz Ockhardt im Kölner Stadt-Anzeiger im Juli 1954, in dem er außerdem mitteilt, der Kölner Direktor Windecker sei »stolz auf sein ›Amazonencorps‹.«28 2007 schickte Margret Roberts, geb. Immendorf einige Unterlagen an den Kölner Zoo, in denen sie u.a. anmerkte, dass einige der Pressefotos dieser Zeit gestellt waren und dass die Pflegerinnen »immer sehr formal in der Anrede der älteren Tierpfleger« gewesen seien.29 Wer als »geeignet« erachtet wurde, mit Tieren umzugehen, und ob dieser Umgang mit einem hohen oder niedrigen sozialen, symbolischen sowie ökonomischen Status einherging, muss mit gesamtgesellschaftlichen Inklusionsund Exklusionsformen zusammengedacht werden.30 Zentral sollte bei einer Untersuchung der sozialen Beziehungen in Zoologischen Gärten, die den Vorschlag annimmt, »in der Geschichte der MenschTier-Beziehungen von der Beziehung als kleinster Untersuchungseinheit auszugehen«31, die konkrete Begegnung und Beziehung mit dem real gewesenen Tier sein, wenngleich das Reale durchaus »ein schwieriges Register« ist.32 Zootiere existieren auch abgesehen von der Schwierigkeit der Auffindbarkeit in Quellen kaum ohne Menschen. Ferner gehören zum soziokulturellen Setting mindestens noch Tiere verschiedener Spezies, Besucher_innen verschiedener 25 | Runderlasse, Anerkennung des Lehrberufs »Tierpfleger«; Mitteilungsblatt der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, 3. Jg., Nr. 13, Teil 1, 30. Juli 1949, Frankfurt a.M.-Höchst, 117f. 26 | Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen, Abt. Berufsberatung, Blätter für Berufsberatung, Beilage zur »Berufskunde« 1952, Nr. 6/Blatt Nr. 30, A 1146a: Tierpfleger; Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M., Stadtarchiv, Magistratsakten 8.566. 27 | »Gleichberechtigung für Elefantenmädchen«, Kölner Stadt-Anzeiger, 24.07.1954. 28 | Ebd. 29 | Archiv Zoo Köln, o.A. 30 | Vgl. J. Hribal: Animals, Agency, and Class, K. Kete: A cultural history, S. 1-27 und E. Fudge: A Left-Handed Blow. 31 | G. Krüger: Tiere und Imperium, S. 35, sich auf Haraway beziehend. 32 | P. Sarasin: Vom Realen reden?, S. 122.
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sozialer Milieus, Direktor_innen, Wissenschaftler_innen, Wärter_innen und Pfleger_innen, Veterinärmediziner_innen, Handwerker_innen, Gärtner_innen, Kurator_innen, Befürworter_innen und Gegner_innen, Inspektor_innen, Aktiengesellschafter, Futter- und Bürgermeister_innen. Diese stehen auf je verschiedene Weise mit je eigenen Hierarchien, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen mit dem Zoo und den dort lebenden wie arbeitenden Wesen in Verbindung. Die Tiere lassen sich erschließen über die (symbolische, körperliche, finanzielle) Realität, die sie den beteiligten Menschen jeweils waren. »Agency«, darin ist Grossberg zuzustimmen, »can only be described in its contextual enactments. Agency is never transcendent; it always exists in the differential and competing relations among the historical forces at play.«33 Zur Feier des 75. Jahrestages des Frankfurter Zoos erschien im August 1933 in der Neuesten Zeitung eine Vorstellung der im Zoo beschäftigten Wärter. Über Oberwärter Anton Kiewitz heißt es: »Man muß Kiewitz gesehen haben, wie er von Haus zu Haus seines Tierreichs geht, wie er verwachsen ist mit dieser Vierfüßlerwelt […], um zu begreifen, daß dieses Mannes Leben nicht ohne das Tier sein kann.«34 Auch der Raubtierwärter Neiß, so schreibt wenige Jahre später Paul Eipper, der mehrere erzählende Tierbücher veröffentlicht hat, habe seit frühster Kindheit »immer mit Tieren sein« wollen; der Zoo sei seine »wahre Heimat; denn Karl Neiß ist als Tiermensch geboren.«35 Andere zeitgenössisch geläufige Beschreibungen der »Tiermenschen« lauten »Vogelvater« oder »Affenvater«, »bester Freund« und »guter Kamerad«, der »nicht allein zum Broterwerb, sondern mehr aus innerem Drang Stunde um Stunde den Alltag der Tiere teilt«36. Thomas Haarhaus und Paul Frei-Braito, Wärter, von denen gedruckte Erinnerungen vorliegen, und auch Anton Kiewitz hatten vor ihrer Anstellung im Zoo einige Zeit beim Zirkus gearbeitet – was von der Neuesten Zeitung als »Station[en] [s]eines wunderlichen Lebens« und »Zigeunerleben« bezeichnet wurde. Neiß war als »davongelaufener Photographenlehrling« ebenfalls einige Jahre auf Wanderschaft, bis er es »schafft […] beim Zoo anzukommen«37. Der Topos des positiv bewerteten »Seßhaftwerdens« der »Tiermenschen« in der bürgerlichen Institution des Zoologischen Gartens findet sich ebenfalls bei Hagenbeck über Thomas Daggesell.38 Die Erzählung des »Seßhaftwerdens« im Zoo kontrastiert mit der Mobilität der Wandermenagerien und Zirkusse. Dies lässt sich des Weiteren erhellen, in33 | L. Grossberg: We Gotta Get Out of This place, S. 123. 34 | Neueste Zeitung, 08. August 1933, Frankfurt a.M. 35 | P. Eipper: Als Tiermensch geboren, Frankfurter Zoo-Zeitung, 15. Jg, 08/1938, 61. 36 | P. Eipper: Vier Möglichkeiten, S. 8f. 37 | Frankfurter Zoo-Zeitung, Heft 8, August 1938, 62. 38 | P. Frei-Braito: Rund um Tiere, Umschlagstext; J. Haarhaus: Unter Kunden, S. VI; C. Hagenbeck: Von Tieren und Menschen, S. 40.
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dem zeitgenössische Diskurse über andere »Tiermenschen« in die Analyse einbezogen werden. Tier-Mensch-Unterscheidungen waren stets auch Ausgangspunkt sozialer Hierarchien.39 Während über die ausstellungswürdigen Tiere und die Anstellung im bürgerlichen Zoo Rehabilitation und Wertschätzung für die einen geschaffen wurde, wurden Bilder einer anderen »faszinierenden Wildheit und Ursprünglichkeit«40 von als natur- und tiernah charakterisierten Schichten und Milieus »überschrieben und in negative, diskriminierende Zusammenhänge gestellt«.41 Tierhaftem kommt »im Spannungsfeld zwischen dem Eigenen, dem Verwandten und dem Anderen eine wichtige Funktion zur gesellschaftlichen Produktion symbolischer Ordnungen«42 zu. Der Zoologische Garten scheint Ort der Einübung solcher symbolischen Ordnungen moderner Subjektivität zu sein, die sich zu anderen Spezies aufwertend in Beziehung setzte, während sie im gleichen Zuge »andere« homo sapiens sapiens schuf und diskreditierte. Diese waren sodann, stellt Bogdal fest, »keine Subjekte im Sinne modernen, aufgeklärten Rechtsdenkens […]«.43 Laclau und Mouffe folgend gilt jedoch, dass Attribute und Kategorien nicht statisch gegeben sind, »that there is the impossibility of ultimative closure«44, und somit ständig umgeformt und gestaltet werden müssen, damit bestimmte Deutungs- und Machtverhältnisse aufrechterhalten werden können. Durch soziale Regulierungen und Disziplinierungen wurden Tieren wie Menschen bestimmte symbolische, wirtschaftliche, soziale wie räumliche Positionen in der städtischen Gesellschaft Mitteleuropas zugewiesen. Das Verständnis des Konzepts der Domestikation als wichtiger Teilaspekt moderner Gesellschaften und deren Selbstverständnis sowie soziologische Modernisierungstheorien könnten aus diesem Blickwinkel heraus erweitert werden.45
39 | K. Anderson: The beast within, S. 307. 40 | K.M. Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, S. 330. 41 | Ebd. 42 | B. Mütherich: Die soziale Konstruktion, S. 49. 43 | K.M. Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, S. 325. Vgl. Ders.: Schaurige Bilder, Kap. 3: Bestien. 44 | E. Laclau/C. Mouffe: Hegemonie, S. 177. 45 | Vgl. H. Rosa et al.: Soziologische Theorien, S. 237 und C. Dipper: Die Epoche der Moderne.
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W irtschaf tliches 1864 beklagte der Arzt und Publizist Wilhelm Stricker in einem Brief an die Zeitschrift Der Zoologische Garten, dass die im Zoologischen Garten Dresden »überall aufgestellten Sammelbüchsen für die Wärter« keinesfalls »würdig der Gesellschaft« seien. Ebenso wenig glaube er »an ein bedeutendes Erträgniss derselben.«46 Dass diese Trinkgeldbüchsen Ausdruck geringer Entlohnung der Wärter sowie einer doppelten Disziplinierungsmaßnahme angesichts mannigfaltiger Kulturkontakte waren, erläuterte drei Jahre darauf der damalige Inspektor des Zoologischen Garten, Alwin Schöpf: »Wärter, die Thiere pflegten, wie Bären, Affen, Elephanten, Löwen u. s. w., bekamen sehr oft Trinkgelder in die Hand gedrückt, wenn sie die Thiere zu irgend einer Thätigkeit veranlassten, versäumten ihre Pflicht bei anderen Thieren, die unter ihrer Obhut standen […] verkauften sogar unter der Hand Brod u. s. w. […] Die Vortheile erregten aber begründeten Neid bei den anderen Wärtern, die weniger beliebte Thiere pflegten, und so hörte der Streit nicht auf.« 47
Schöpf führte die Trinkgeldbüchsen zwecks einer gleichmäßigen Verteilung der Trinkgelder ein – und nicht zuletzt, um die ordnungsgemäße Pflege der Tiere sicherzustellen. Wessely hat in ihrer vergleichenden Untersuchung der Zoologischen Gärten in Wien und Berlin festgehalten, dass für die Gruppe der Wärter ein strenges Regelwerk galt und unter ihnen eine strenge Hierarchie bestand.48 Deutlich wird am Dresdner Beispiel, dass diese Hierarchie sich auch über die Interaktion, die Vorführung mit bestimmten Tieren verhandeln ließ, dass die Beliebtheit des gepflegten Tieres sich auf die sozioökonomische Stellung des Wärters auswirkt. Allerdings zog diese Vorteilnahme umgehend Maßnahmen seitens des in der Betriebshierarchie höher angesiedelten Inspektors nach sich. Bezüglich der Notwendigkeit, die Wärter zu disziplinieren, hielt Hermann von Lattorf, königlicher Major hohen Adels und Forstfachmann, 1846 in einem Bericht über den Zoologischen Garten zu Berlin fest: »Mit der Sorge für die nöthige und gute Nahrung der Thiere steht aber auch die für Reinlichkeit, Wartung und Pflege in unmittelbarer Verbindung. Es wäre falsch zu glauben, 46 | »Aus einem Schreiben des Herrn Dr. W. Stricker dahier an den Herausgeber«, Dresden, 12. September 1864; in: Der Zoologische Garten, Zeitschrift für die gesamte Tiergärtnerei, Bd. 5, 1864, S. 417. 47 | Schöpf, Alwin: Nachrichten aus dem Zoologischen Garten zu Dresden, in: Der Zoologische Garten, Zeitschrift für Beobachtung, Pflege und Zucht der Tiere, 8. Jg., Frankfurt a.M. 1867, S. 188; Sperrung im Original. 48 | C. Wessely: Künstliche Tiere, S. 65.
Beziehungsweise Zoo man könne diese Erfordernisse durch das Halten vieler Wärter erzielen, denn es ist dieser Klasse von Leuten eigen, dass je weniger sie zu thun haben, desto weniger sie thun wollen. Ursprünglich sehr brauchbare Leute sind regelmäßig verdorben, wenn sie zu viel Muße haben.« 49
Betriebswirtschaftliche Aspekte sind bisher empirisch eher vernachlässigt worden, was deren Bedeutung kaum gerecht wird. Zwar sind die Verbindungen zwischen Kolonialismus und Handelsnetzen am Beispiel von Großwildjagd und Tierhandlungen betont worden50, alltägliche Futter- und Energiekosten, die notwendige Logistik und Technik spielten bisher aber keine ernsthafte Rolle. Die eigentlich von Beginn an heikle finanzielle Situation der Zoologischen Gärten, die in Karlsruhe schon 1868 zu einem Antrag auf finanzielle Unterstützung durch die Stadt geführt hat und in Hannover 1922 sogar zur zeitweiligen Schließung, hatte konkrete Auswirkungen auf die Mensch-TierBegegnung, auf die Beurteilung des ›Schauwerts‹ der Tiere, die Frage des Tötens ›unnützer Fresser‹ und selbstredend auf die ökonomische Situation der Arbeiter_innen. Mit Fokus auf die Nahbeziehung wäre zu fragen, welche Ansichten es diesbezüglich seitens der Zoo-Arbeiter_innen gab, ob das Verhältnis von Beherrschen oder Beschützen bestimmt war, wie die Dominanz über Tiere die Stellung der jeweiligen Personen in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen beeinflusste und schließlich auch, wie Tiere in diesem Zusammenhang beschrieben und bewertet, ob sie bemitleidet, beneidet oder unterdrückt wurden.
Q uellenl age Die »empirische Erforschung konkreter kultur- und schichtspezifischer Sozialisationsprozesse«51 innerhalb der Sozialisationsinstanz Zoologischer Garten52 soll ermöglichen, Tier-Mensch-Beziehungen und deren Wandel genauer zu beschreiben – und dabei die realen Tiere zu integrieren. Dass die aufgeführten Aspekte in der Zoogeschichtsschreibung bisher vernachlässigt worden sind, 49 | H. v. Lattorf: Flüchtige Notizen über den Zoologischen Garten. 50 | T. Scholz: Die Tierhandlung; E. Ames: Carl Hagenbeck’s Empire; L. Dittrich/A. Rieke-Müller: Carl Hagenbeck. Unter diesem Aspekt finden Zoologische Gärten auch die einzige Erwähnung in Osterhammels monumentaler Geschichte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf »Natureroberung« und den Zusammenhang von Großwildjagd, Zirkussen und Zoos: J. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 554. 51 | A. Gestrich: Vergesellschaftungen, S. 12. 52 | Ebd., S. 118.
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ist auch auf die Erschließung möglicher Quellen zurückzuführen. Als privat geführte Institutionen bestand für die Zoologischen Gärten keine Anbietungspflicht. Mit der Übernahme in kommunale Trägerschaft änderten sich zwar die Zuständigkeiten, aus den frühen Jahrzehnten sind jedoch nur wenige Dokumente überhaupt erhalten, noch seltener systematisch erfasst und können – soweit sie nicht mit den Zoos in städtische Zuständigkeit übergingen – nur in Absprache mit den Direktionen eingesehen werden. Angesichts der Kontroverse um Zoologische Gärten haben die Mitarbeiter_innen und Direktor_innen ein Interesse daran, Informationen zu kontrollieren. Persönliche Erinnerungen der Wärter_innen und Pfleger_innen selbst sind selten.53 Da an der Niederschrift und Veröffentlichung der wenigen gedruckten Berichte Zoodirektor_innen oder andere Personen beteiligt waren, ist eine weitere Reflexion der sozialen Verhältnisse und Hierarchien im Sinne einer kritischen Diskursanalyse notwendig. Die Pfleger_innen sind, was die Quellen anbelangt, womöglich als ebenso unterrepräsentierte Randfiguren zu bezeichnen wie die Tiere, die sie betreuten.54 Jene haben zwar selbst keine Schriften hinterlassen, aber bei ethologischen Beobachtungen, Gebäudeplanungen, Futterzuteilungen und Vorführungen durchaus eine Hauptrolle gespielt. Zur facettenreichen Rekonstruktion der Beziehung zwischen Pfleger_innen und Tier einerseits und der Ordnung des sozialen und wirtschaftlichen Systems Zoologischer Garten andererseits ist die Einbeziehung vielfältigen Quellenmaterials notwendig. Relativ gut erschließen lassen sich zeitgenössische Fachschriften, aus denen erkenntlich wird, wie sich Erkenntnisse und Betrachtungsweisen veränderten. Aus der Zeit nach der Professionalisierung und Bürokratisierung des Tierpflegeberufs liegen Fachzeitschriften über Tierpflege und Unterlagen zur Ausbildung der Pfleger_innen vor. Bezüglich der Formalisierung der Ausbildung sind diverse Briefwechsel zwischen Direktoren und Protokolle der Industrie- und Handelskammern erhalten 55, ebenso Entwürfe von Blättern zur Berufskunde, vereinzelt auch Berichtshefte der Auszubildenden selbst. Eine Rekonstruktion des Arbeitsalltags der Pfleger_innen kann anhand von Inventarlisten, Tierbestandslisten, Futterlisten, Versicherungsunterlagen und Un53 | Vgl. P. Eipper: Vier Möglichkeiten im Vorwort zu R. Riedtmann: Tiere kommen und gehen, S. 8. 54 | Bezüglich tiernaher Berufsgruppen, die in der Geschichtswissenschaft vernachlässigt wurden, vgl. die aufschlussreichen Untersuchungen zu Knechten und Mägden bei H. Heidrich: Mägde – Knechte – Landarbeiter, wie auch die von Ortmayr: Knechte, zusammengestellten biographische Dokumente von Knechten. 55 | Dass der Beruf der TierpflegerIn überhaupt im Zuständigkeitsbereich der Industrieund Handelskammern ist (und nicht, wie von einigen Zoodirektoren in den 1950er Jahren zunächst gewünscht, bei der Landwirtschaftskammer), wird gesondert zu untersuchen sein und ist bis heute nicht unstrittig.
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fallberichten versucht werden, auch geben die regelmäßig erschienenen Führer und Lagepläne Auskunft über Tierbestände, Wege, Reviere und Fütterungszeiten. Bezüglich Entlohnung und Lohnentwicklung geben für die Zeit vor der kommunalen Trägerschaft die Geschäftsberichte der Aktiengesellschaften Auskunft. Wenige Archivbestände sind allerdings so gut erhalten und erfasst, dass sie eine serielle Auswertung erlauben. Biographische Aspekte lassen sich – über die bereits erwähnten persönlichen Berichte hinaus – mit vereinzelt erhaltenen Bewerbungsschreiben und Unbedenklichkeitsbescheinigungen erhellen. Aufzeichnungen über un/erwünschtes Verhalten seitens der Menschen, z.B. unerlaubtes Füttern und Misshandlungen durch Besucher_innen, unerwünschtes Vorführen und Fotografieren der Tiere seitens der Pfleger_innen56 und »Fehlverhalten« der Tiere bieten weitere Einblicke in die MenschTier-Beziehungen innerhalb der Zoologischen Gärten.
I nterdisziplinäre I nspir ationen Nicht zuletzt bietet der Fokus auf Beziehungen und Interaktionen die Möglichkeit, tierliche Praktiken zu historisieren, wie Baratay sie für eine Integration ethologischer Ansätze in die Geschichtswissenschaft konzipiert hat.57 Neben der Ethologie bieten die Ethnologien und Anthropologien für die vorliegende Thematik Inspirationen, da es sich bei Tier-Mensch-Verhältnissen immer wieder um Fragen nach Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, Beziehungen und Differenzen handelt – und nicht zuletzt um Fremdverstehen, das auch für die Geschichtswissenschaft grundlegend ist.58 In der »writing culture«-Debatte wurde die Frage der Repräsentativität des Anderen intensiv behandelt, was als Inspiration für eine »writing nature«-Kontroverse dienen könnte. Ferner hat sich mit der multispecies ethnography jüngst eine Herangehensweise entwickelt, »that is not just confined to the human but is concerned with the effects of our entanglements with other kinds of living selves.«59 Als unmittelbare Interaktionssubjekte bewegten sich Tiere und ihre Pfleger_innen stets innerhalb eines Geflechts bestimmter, jeweils historisch grundierter
56 | Brief Richard Müller, Direktor des Zoologischen Gartens Wuppertal, an Bernhard Grzimek, Direktor des Zoologischen Gartens Frankfurt vom 28.12.1952, Archiv Zoo Frankfurt. 57 | É. Baratay: Les socio-anthropologues. 58 | Z.B. I. Wallerstein: Die Barbarei der anderen, S. 83-90. 59 | E. Kohn: How Dogs Dream, S. 4. Vgl. außerdem S. E. Kirksey/S. Helmreich: The Emergence.
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Machtbeziehungen60, die mit Viveiros de Castro als »only partially overlapping ontologies«61 zu denken sind. Eine »Analyse von Vergesellschaftungen als Entstehung und Wandel sozialer Beziehungen«, so Nathaus, könne die Sozialgeschichtsschreibung über das bisher Erreichte hinausführen.62 Sozialisationsprozesse mit Tieren wären als Zoozialisationen zu fassen, innerhalb derer Kultur, Gesellschaft und Natur als konfliktreiche Felder von Auseinandersetzungen um Bedeutungen verstanden werden und nicht auf die Beschreibung eines stabilen oder homogenen Gewebes abzielen. Kämpfe um Deutungsmacht und die kulturelle Prozessierung sozialer und speziesspezieller Ungleichheiten, der »nie zu beendende Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken« bestimmt dabei im Sinne der Cultural Studies die Analysen. »Ausgangspunkt sind die Alltagspraktiken, die Kulturen schaffen und soziale Wirklichkeiten hervorbringen.«63 Im Hinblick auf die wichtigen Themenkomplexe Macht, Gewalt und Herrschaft in Bezug auf Tiere64 und auf die vielfältigen Disziplinierungen im Zoologischen Garten wäre das Foucaultsche Konzept der Biopolitik zu berücksichtigen und zu fragen, inwiefern der Zoologische Garten als Disziplinarinstitution Teil einer Macht ist, die »das Leben verwaltet und bewirtschaftet«.65
A rchivalische Q uellen Archiv Zoologischer Garten Frankfurt a.M. Schreiben von Richard Müller an Bernhard Grzimek vom 28.12.1952 Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a.M., Magistratsakten 8.566 Archiv des Kölner Zoo, Lehrlingsberichtsheft Margret Immendorf »Pitti« weiß sich zu helfen, Diana – Zoo-Beilage, 6./9./10. Mai 1957
60 | Vgl. P. Sarasin: Darwin und Foucualt, S. 91; M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 113. 61 | S. E. Kirksey/S. Helmreich: The Emergence, S. 553; E. Viveiros de Castro: Cosmological Deixis. 62 | K. Nathaus: Sozialgeschichte, S. 221. 63 | K.H. Hörning/R. Winter: Widerspenstige Kulturen, S. 9f. 64 | G. Krüger et.al.: Animate Studies, S. 26. 65 | Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 163, 166.
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Methoden in der Tierzucht am Beispiel der Exterieurbeurteilung und der Zuchtwertschätzung für Milchrinder Erste Annährungen zur Untersuchung der Mensch-Tier-Beziehung Laura Santos und Sven König
G rundl agen der Tierzucht : G enerelle M e thodik Die Tierzucht beschäftigt sich mit der gezielten Auswahl (Selektion) von Elterntieren zur Zeugung nachfolgender Generationen. Tierzucht heißt somit, in Generationen zu denken. Ein Zuchtfortschritt wird dann deutlich, wenn die Nachkommen ihren Eltern in der genetischen Veranlagung überlegen sind. Diese Definition beinhaltet, dass bestimmte Eigenschaften, die im Erbgut (den Genen) verankert sind, zumindest teilweise von den Eltern auf ihre Nachkommen weitervererbt werden können. Die Gesamtheit aller Gene beschreibt den Genotyp eines Tieres. Der Genotyp eines Tieres kann jedoch nicht gemessen werden, sondern üblicherweise nur der Phänotyp. Als Phänotyp wird die äußere Erscheinung eines Tieres bzw. die an einem Tier gemessene Leistung bezeichnet (Merkmale der Milchleistung, des Exterieurs). Der Phänotyp wird bei kontinuierlich variierenden Merkmalen (z.B. der Milchleistung), bei denen die meisten Beobachtungen um das Mittel konzentriert sind, sowohl durch die genetische Veranlagung als auch durch die Umwelt beeinflusst. Daher gilt die Grundgleichung der Tierzucht wie folgt: P=G+U Hierbei ist P der Phänotyp, G der Genotyp und U bezeichnet die Umweltwirkungen (z.B. Fütterung, Haltungsform, Management), die zur letztendlich erreichten Leistung, also dem Phänotyp, beitragen. Die Leistungen der Nach-
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kommen der nächsten Generation werden wieder gemessen und bezüglich des Zuchtziels evaluiert und eingestuft.1 Der züchterische Fortschritt bei der Anwendung bestimmter Selektionsund Paarungsverfahren kann mathematisch vorausgesagt werden, sofern bestimmte biologische, wirtschaftliche und genetische Voraussetzungen bekannt sind.2 Wesentlicher genetischer Parameter ist hierbei die Erblichkeit (Heritabilität), die essentieller Bestandteil von Zuchtwertschätzmethodik und Methoden zur Vorhersage des Zuchtfortschritts ist.
Methodik der Zuchtzieldefinition Grundsätzlich ist die Nutztierzucht auf die Erstellung von vitalen Tieren ausgerichtet, die unter den zukünftigen Produktionsbedingungen einen höchstmöglichen Gewinn sicherstellen.3 Im Vordergrund steht, insbesondere in der Milchrinderzucht, die Zuchtwertschätzung für Vatertiere. Dies ist darin begründet, dass durch künstliche Besamung von einem Vatertier eine große Anzahl Nachkommen erzeugt werden kann (mehr als 10.000 Töchter je Vererber sind möglich). Im Gegensatz zu früher (Erhöhung einzelner Eigenschaften des Tieres z.B. Milchleistung) liegt das heutige Ziel der Züchtung darin, insbesondere funktionale Merkmale zu verbessern. Zuerst muss man die Zuchtziele definieren und hierbei gilt es vorab, die folgenden Kernfragen zu evaluieren: Auf welche Merkmale will ich selektieren? Inwieweit sind Merkmalsausprägungen genetisch bedingt? Wie sind die genetischen Beziehungen zwischen den Merkmalen? Welche ökonomische Bedeutung haben die einzelnen Merkmale? Sind die Merkmale erfassbar? Weiter gibt es Methoden, um für Merkmale, die keinen direkten Verkaufserlös haben, wirtschaftliche Gewichte basierend auf Befragungsmethodik abzuleiten. Hierzu gehört u.a. die Contingent Valuation Methode.4
Methodik der Zuchtwertschätzung Der Zuchtwert eines Tieres wird immer in Relation zum Populationsmittel gesehen und definiert. Der Zuchtwert ist somit keine fixierte Größe, sondern hängt auch von der genetischen Struktur jener Population ab, aus der die jeweiligen Paarungspartner stammen.
1 | A. William/H. Simianer: Tierzucht, S. 153. 2 | L.N. Hazel et al.: The selection Index. 3 | C. Fürst: Zuchtwertschätzung. 4 | W.H. Desvousges et al.: Measuring.
Methoden in der Tierzucht am Beispiel der Exterieurbeur teilung
Wie wird nun ein Zuchtwert (ZW) geschätzt? Ziel jeder Zuchtwertschätzung ist die Erstellung einer Rangierung der Tiere einer Population nach geschätzten Zuchtwerten. Für den einfachsten theoretischen Fall multipliziert man die gemessene Leistung y einer Kuh mit der Heritabilität und das Resultat ist eben der Zuchtwert dieser Kuh. Die Eigenleistung (y) ist somit mit der Heritabilität (h2) zu gewichten. Es gilt somit: ZW = h2 * (y – VG) wobei VG die durchschnittliche Leistung von Vergleichsgefährtinnen beschreibt. Vergleichgsgefährtinnen sind solche Kühe, die ihre Leistungen unter gleichen Umweltbedingungen erbracht haben. Leider lassen sich mit dieser relativ einfachen Formel nicht alle Problemstellungen in der Milchrinderzucht bzgl. der Zuchtwertschätzung fassen. Deshalb wurde schon in den 40er Jahren die Methodik des Selektionsindexes entwickelt.5 In den nächsten Abschnitten wird näher erläutert, dass diese Formel stark vereinfacht ist und nicht ausreicht, um aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. In der Milchrinderzucht handelt es sich bei den besonders wichtigen Merkmalen um geschlechtsgebundene Merkmale. Dies bedeutet, dass sie nur an der Kuh und nicht am Bullen gemessen werden können. Aber gerade die Zuchtwerte für Bullen sind von Interesse. Seit Einführung der künstlichen Besamung (KB) ohne zeitliche und räumliche Begrenzung des Spermahandels produziert ein Bulle u.U. 10.000 oder gar 100.000 Nachkommen. Unter diesen Voraussetzungen ist es einleuchtend, dass sein Zuchtwert äußerst genau geschätzt werden muss. Jeder Züchter, der intensive Zuchtarbeit betreibt, berücksichtigt bei Selektionsentscheidungen nicht nur die Eigenleistung des Tieres. Er erhält über den Pedigree (Stammbaum) Informationen über die Leistungen der verwandten Tiere und bindet diese Information folgerichtig in die Selektionsentscheidung mit ein. Genau diesen Aspekt versucht auch die Zuchtwertschätzung korrekt zu berücksichtigen. Entsprechend den Verwandtschaftsverhältnissen zu dem Tier, dessen Zuchtwert geschätzt werden soll, werden die Verwandtenleistungen gewichtet und in die Zuchtwertschätzung mit integriert. Dies kann die obige Grundgleichung nicht leisten, wohl aber ein Selektionsindex.6 Für eine Kuh zählt somit nicht nur ihre eigene Leistung, sondern auch die der Mutter und insbesondere ihrer väterlichen Halbgeschwister. Von diesen väterlichen Halbgeschwistern liegen schon zahlreiche Informationen vor, wie die genetischen Effekte in dieser Familie auf die nächste Generation übertragen wurden. 5 | L. Hazel: The genetic basis. 6 | Ebd.
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b) Die gemessene Leistung y ist ein absoluter Wert und damit unbrauchbar, weil es bei der Selektion darum geht, wie der additiv-genetische Wert eines Individuums im Verhältnis zu allen Tieren der Population weitergegeben wird. Als Vergleichswert sollten hierbei jene Tiere berücksichtigt werden, die ihre Leistung unter ähnlichen Umweltbedingungen erbringen. Wenn z.B. die Milchleistung y einer Kuh mit den Leistungen ihrer Herdengefährtinnen verglichen wird, ist auch automatisch der Vergleich zur Population hergestellt. Der Beweis hierfür ist anhand von Formeln möglich, geht aber bei diesen grundlegenden Betrachtungen zu sehr ins Detail. Eine weitere Aufgabe der Zuchtwertschätzung ist es, die genetischen von den umweltbedingten Einflüssen zu trennen, denn die Umwelteinflüsse sind betriebsspezifisch (von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich) und werden nicht an die Nachkommen weitergegeben. In anderen Worten ist sie die genauste mögliche Erfassung der genetischen Merkmalsveranlagungen, d.h. der genotypischen Merkmalswerte der für die Zuchtwahl verfügbaren Tiere zwecks Selektion. In der Zuchtwertschätzung können von den genetischen Effekten nur die additiv-genetischen Effekte erfasst werden. Daneben wird der Genotyp noch von Dominanz- und Epistasieeffekten (Epistase liegt vor, wenn ein Gen die Unterdrückung der phänotypischen Ausprägung eines anderen Gens bewirken kann) bestimmt, die aufgrund spezieller Anordnungen der Gene des jeweiligen Individuums auftreten, aber nicht an die Nachkommen weitergegeben werden. Züchtung ist überhaupt nur dann möglich, wenn additiv-genetische Unterschiede zwischen den Tieren vorliegen, d.h. wenn additiv-genetische Varianz vorhanden ist. Der Anteil der additiv-genetischen Varianz an der gesamten phänotypischen Varianz ist der Erblichkeitsgrad (Heritabilität = h2). In Prozent ausgedrückt, kann man damit sagen, zu welchem Anteil ein bestimmtes Merkmal erblich ist. Für die Merkmale der Milchleistung liegen die Erblichkeitsgrade zwischen 20 % und 60 % und für die Merkmale des Exterieurs im Bereich von 20 % bis 30 %. Niedrig erblich mit einer Heritabilität von kleiner als 10 % sind die Merkmale der Fruchtbarkeit und der Tiergesundheit (Kalbeverlauf, Non-Return-Rate, Mastitis). Bei solchen Merkmalen bringt züchterische Arbeit nicht viel, hier muss der Erfolg über die Verbesserung des Managements realisiert werden. Zusammengefasst ist das Ziel der Zuchtwertschätzung: Aus den erfassten Leistungs- und Abstammungsinformationen möglichst frühzeitig im Leben eines Tieres möglichst sicher seinen genetischen Wert (Zuchtwert) zu schätzen, um den Zuchtfortschritt je Zeiteinheit zu maximieren.
Methoden in der Tierzucht am Beispiel der Exterieurbeur teilung
Methodik der Zuchtwertschätzung nach der BLUP-Methode Die oben dargestellte Berechnung der Leistungsabweichung (y – VG) ist mit einem wesentlichen Problem behaftet: Wenn die Herdengefährtinnen als Vergleichswert herangezogen werden, können zwar spezielle Umwelteffekte, die auf alle Kühe dieser Herde wirken (Futterration, Melktechnik, Haltungsform), korrekt erfasst werden, aber nicht die Unterschiede im genetischen Niveau der Herden. Eine Kuh, die mit genetisch sehr hochwertigen Herdengefährtinnen verglichen wird, hat es somit viel schwerer, bei diesem Vergleich (y – VG) gut abzuschneiden, als eine genetisch gleichwertige Kuh, die in einer züchterisch auf niedrigem Niveau stehenden Herde ihre Leistung erbringt. Dieses Problem der Zuchtwertschätzung war für lange Zeit nicht lösbar. Erst mit der Einführung der BLUP-Methode (in der offiziellen Zuchtwertschätzung für Milchrinder seit 1988) ist es möglich, dass der genetische und umweltbedingte Anteil von Einflussfaktoren (z.B.) der Herde korrekt berücksichtigt werden kann. Mathematisch handelt es sich bei der Zuchtwertschätzung nach der BLUP-Methode um die Lösung sehr großer Gleichungssysteme mit vielen, u.U. Millionen von Unbekannten (Zuchtwerte, Umweltfaktoren). Bei der Lösung dieser Gleichungssysteme werden Umweltfaktoren und Zuchtwerte gleichzeitig geschätzt und wechselseitige Korrekturen eingebaut. Dies ermöglicht die schon erwähnte optimale Trennung zwischen Genetik und Umwelt. Zu Beginn wurden mit der BLUP-Methode nur Zuchtwerte für Bullen berechnet (BLUP-Vatermodell). Im BLUP-Tiermodell (in der offiziellen Zuchtwertschätzung für Milchrinder seit 1992) werden Zuchtwerte von Bullen und Kühen gleichzeitig geschätzt und alle verfügbaren Verwandtenleistungen können genutzt werden. Das statistische Modell für das allgemeine lineare gemischte Modell ist wie folgt definiert:7 Y = Xb + Zu + e Y – Beobachtungsvektor (phänotypischen Beobachtungen) X – Designmatrix der fixen Effekte ß – Vektor der zu schätzenden fixen Effekte Z – Designmatrix der zufälligen Effekte u – Vektor der zu schätzenden zufälligen Effekte e – Vektor der zufälligen Resteffekte
7 | Hendersons Mixed Model Equation, 1984.
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Die Mischmodellgleichung lautet
X`X Z`X
X`Z Z`Z + A-1ʎ
b u
=
X`y Z`y
b: Lösungen für Umwelteffekte u: Lösungen für genetische Effekte = Zuchtwerte
Molekulargenetische Methoden Seit der Publikation von Mendel über die Vererbungsmechanismen (1865)8 ist bekannt, dass einzelne Gene den Phänotyp (das Aussehen, die Leistung) eines Tieres bestimmen. Das Gen kann in verschiedenen Varianten (Allelen) auf dem doppelten Chromosomensatz eines Individuums vorliegen. Wenn die Allele auf beiden Chromosomen identisch sind, dann ist das Tier reinerbig (homozygot) für das betreffende Merkmal; sind die Allele verschieden, ist es mischerbig (heterozygot). Klassische Beispiele, bei denen von der Genkonstellation direkt auf den Phänotyp geschlossen werden kann und umgekehrt, sind z.B. die Farbvererbung des Rindes oder auch Defektgene, die durch molekulargenetische Methoden direkt im Labor identifiziert werden können. Kommt es bei einem Tier zur phänotypischen Ausprägung des Erbdefekts, so hat es in der Regel das entsprechende Defektgen in reinerbiger Form, d.h. von beiden Elterntieren eine Kopie dieses Defektgens erhalten. Für die Ausprägung von quantitativen Merkmalen, die im Rahmen von Leistungsprüfungen erfasst werden (Milchleistung, Exterieur, Merkmale der Zuchtleistung), sind eine Vielzahl von Genen mit in der Regel kleinen Effekten verantwortlich. Der Effekt aller Gene wird im Zuchtwert des Tieres ausgedrückt. Allerdings wird seit einiger Zeit vermutet, dass auch auf quantitative Merkmale einzelne Gene mit doch größerem Effekt wirken. Man bezeichnet diese Gene als QTL, was auf das englischsprachige Quantitative Trait Loci9 zurückgeht. Beispiele für QTL-Effekte bei quantitativen Merkmalen sind das Fruchtbarkeitsgen beim Schaf (Boorola-Gen) oder das Doppellendigkeitsgen beim Rind (Myostatin-Gen). Diese beiden Beispiele beinhalten allerdings einen sehr großen Effekt des QTL, der auch rein äußerlich zu erkennen ist und für dessen Entdeckung molekulargenetische Methoden nicht notwendig sind. Wunschvorstellungen laufen in die Richtung, Gene des Kalbes mittels molekulargenetischer Methoden zu identifizieren und über den Zusammenhang Genotyp – Phänotyp die spätere Leistung des Tieres vorherzusagen.
8 | G. Mendel: Experiments. 9 | Quantitative = quantitativ, trait = Merkmal, loci = Genort.
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Einzelgeneffekte, z.B. bei der Milchleistung des Rindes, sind nicht so groß, dass sie schon rein äußerlich wie bei der Doppellendigkeit erkannt werden. Dies ist auch nicht zu erwarten, denn auf die Milchleistung wird seit Langem selektiert, sodass vermutet werden kann, dass alle diesbezüglichen Einzelgene mit sehr großem Effekt und ökonomischer Relevanz längst in reinerbiger Form bei allen Kühen vorliegen. Dennoch wurde von einem belgischen10 und einem deutschen11 Forscherteam etwa zeitgleich das sogenannte DGAT-Gen gefunden, das positive Auswirkungen auf die Inhaltsstoffe, insbesondere den Fettgehalt, bringt, aber die Milchmenge deutlich reduziert.
Zuchtziele für Milchrinder Die Zuchtziele für Milchrinder umfassen seit Beginn der systematischen Zucht im vorletzten Jahrhundert in allen Populationen verschiedene Merkmalskomplexe. Die Milchleistungsmerkmale hatten und haben aufgrund des großen direkten ökonomischen Nutzens sicher die größte Bedeutung. Neben diesen wurden aber auch gleichzeitig weitere Merkmale wie Exterieur, Kalbeeigenschaften, Eutergesundheit oder Nutzungsdauer im Zuchtziel berücksichtigt und verfolgt, da sie einen Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit der Milchproduktion haben. Die ökonomische Wirkung beruht dabei im Wesentlichen auf der Senkung der Kosten und nicht auf einer Erhöhung der Einnahmen durch den Produktverkauf. Für diese Merkmale hat sich der Begriff »funktionale« Merkmale etabliert.12 Die eher traditionellen Merkmale (u.a. Milchmenge) sind die sogenannten Produktionsmerkmale. Der Deutsche Holstein Verband hat bereits 1997 einen Gesamtzuchtwert (RZG) definiert, der alle wirtschaftlich bedeutsamen Merkmalskomplexe entsprechend ihrer Gewichtung im Zuchtziel umfasst. Die geschätzten Zuchtwerte für die vielen Einzelmerkmale werden zunächst innerhalb von Merkmalskomplexen zu Relativzuchtwerten zusammengefasst. Unter Berücksichtigung der genetischen Beziehungen der Merkmalskomplexe zueinander werden diese mit unterschiedlicher Gewichtung zum RZG kombiniert. Abbildung 1 zeigt die Änderung in der Merkmalsgewichtung des RZG ab 1996 bis heute.
10 | B. Grisart et al.: Positopnal candidate cloning. 11 | C. Kühn et al.: Evidence. 12 | R. Reents/S. Rensing: Zuchtziele.
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Abb. 1: Änderungen in der Merkmalsgewichtung des Gesamtzuchtwertes (RZG) (Quelle: Deutscher Holstein Verband 2013) RZM: Relativzuchtwert Milchleistung FUN+EUT: Fundament und Euter RZE: Relativzuchtwert Exterieur RZN: Relativzuchtwert Nutzungsdauer RZS: Relativzuchtwert somatischer Zellgehalt RZR: Relativzuchtwert Töchterfruchtbarkeit KV: Kalbeverlauf RZZ: Relativzuchtwert Zuchtleistung Die quantitative Milchleistung beschreibt, welche Menge Milch, Fett und Protein von einer Kuh während einer biologisch bestimmten Zeitperiode, i.d.R. der sogenannten Laktation, erzeugt wird.13 Für den größten Zeitraum des 20. Jahrhunderts waren die Ziele der tierischen Landwirtschaft eine hohe Produktion und höhere Effizienz, um einen Verbrauchermarkt zu befriedigen, der eine Abundanz von tierischen Produkten kostengünstig abverlangt hat. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass das Hauptziel der Milchrinderzucht in den letzten 50 Jahren darin bestand, die Effizienz der Produktion zu verbessern. Daher fokussierte die genetische Selektion weitestgehend auf einen erhöhten Milchertrag.14 Das aktuelle Zuchtziel für die Rasse »Deutsche Holstein« definiert leistungsstarke, gesunde und langlebige Kühe. Hohe Milchleistungen, ein großes 13 | A. William/H. Simianer: Tierzucht. 14 | P.A. Oltenacu/B. Algers: Selection.
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Futteraufnahmevermögen, eine stabile Gesundheit und gute Fruchtbarkeit sowie ein korrektes Fundament werden angestrebt. Das genetische Leistungspotenzial soll bei 10.000 kg Milch mit 4 % Fett und 3,5 % Eiweiß liegen. Das äußere Erscheinungsbild spiegelt sich in einer Kreuzhöhe von 145 bis 156 cm und einem Gewicht von 650 bis 750 kg wider (Deutscher Holstein Verband 2013). Ein funktionaler Merkmalskomplex, welcher einer subjektiven Beurteilung obliegt, ist das Exterieur. Daher soll im Folgenden im Detail auf die Exterieurbeurteilung eingegangen werden.
Methodik der E xterieurbeurteilung Die Exterieurbeurteilung dient der Erfassung der Merkmale der äußeren Erscheinung. Tierbeurteilung spielt schon seit dem Beginn der Tierzucht eine wichtige Rolle. Aus dem anfänglichen Formalismus, bei dem versucht wurde, Leistungseigenschaften aus Form- und Farbmerkmalen abzuleiten, entwickelte sich über die Jahrzehnte eine systematische Tierbeurteilung. In aktuellen Untersuchungen zum Exterieur von Kühen wird immer deutlicher, dass die Merkmale des Exterieurs für eine wirtschaftliche Milchviehhaltung eine große Bedeutung haben. Diese Bedeutung manifestiert sich durch die zum Teil engen Beziehungen des Exterieurs zu Merkmalen der Gesundheit und Langlebigkeit. Ein funktionaler Körperbau ist Grundlage für eine hohe Leistung über mehrere Laktationen. In Deutschland wird seit vielen Jahren die lineare Beschreibung bei der Exterieurbeurteilung von Bullennachzuchten durchgeführt. 19 lineare Merkmale werden durch geschulte Klassifizierer beschrieben. Die äußere Erscheinung der Kühe wird durch die Kombination der vier Merkmalskomplexe Milchtyp, Körper, Fundamente und Euter nach einem 100-Punkte-System bewertet. Für jeden Merkmalskomplex sind Noten von 65 bis max. 99 Punkten möglich. Diese vier Noten ergeben nach einer gewichteten Zusammenfassung von 10 % Milchtyp, 20 % Körper, 30 % Fundamente und 40 % Euter eine Exterieurnote von 65 bis max. 99 Punkten. Erstkalbskühe können in jedem Merkmal maximal 88 Punkte erreichen. Bei Zweitkalbskühen liegt die Obergrenze bei 90 Punkten je Merkmal. Erst ab der dritten Abkalbung gibt es keine Limitierungen mehr. Kühe, die mit 90 und mehr Punkten in der Gesamtnote bewertet werden, erhalten das Prädikat »Exzellent«. In Deutschland ist zurzeit die höchste Bewertung einer Kuh EX-97. Nun eine kurze Übersicht zu den einzelnen Merkmalskomplexen: Milchtyp (10 % der Gesamtnote) Wird definiert als die Schärfe im Widerrist. Hierzu gehört auch der Milchcharakter. Weitere Merkmale, die auch beurteilt werden, sind: Rippenausprägung,
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Harmonie (bewertet werden Körperproportionen, Übergänge, Oberlinie, Haut), Skelett und Halslänge, Kopfform (DHV, 2013). Körper (20 % der Gesamtnote) Die Größe wird gemessen von der Mitte des Kreuzbeins bis zum Boden. Sie ist das einzige Merkmal, das in vielen Ländern tatsächlich gemessen und nicht nur geschätzt wird. In Deutschland wird daher auch das originäre Messergebnis in cm erfasst und bis zur Zuchtwertschätzung verwendet. Im Zuchtziel wird eine durchschnittliche Größe von 145 bis 156 cm angestrebt (1. Laktation >142 cm oder 1. Laktation >145 cm oder 45o) bedeutet eine steile Klaue. Für das Klauenmerkmal gab es international unterschiedliche Definitionen (z.B. Trachtenhöhe, Klauendiagonale). Die Definition als Klauenwinkel ist am besten erfassbar, z.B. auch beim Stand auf nicht-planem Untergrund (Gras, Stroh). Dennoch ist die Wiederholbarkeit für dieses
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Merkmal relativ gering und in der Folge auch die Erblichkeit mit h2 = 0,12 die niedrigste von allen Exterieurmerkmalen. Sprunggelenk: Beschreibt die Dicke des Sprunggelenkes. Die Erblichkeit liegt mit h2 = 0,15 im Bereich der übrigen Fundamentmerkmale. Die Hinterbeinstellung beurteilt die Richtung der Klauen, von hinten gesehen. Beurteilt wird nicht der Abstand der Hacken zueinander, sondern die Richtung, in die die Klauen zeigen (sehr nach außen: negativ; leicht nach außen bis parallel: positiv). Die Erblichkeit der Hinterbeinstellung ist h2 = 0,15. Die modernen Haltungsbedingungen führen häufig zu Problemen mit den Klauen. Als Landwirt muss man besonders auf die Gesundheit der Klauen achten, damit das Tier sich problemlos bewegen kann und immer genügend Futter aufnimmt. Klauenerkrankungen sind eine sehr häufige Abgangsursache.15 Euter (40 % der Gesamtnote) Bei der Hintereuterhöhe wird der Abstand von der Scheide bis zum Beginn des Drüsengewebes des Euters beschrieben. Dieses Merkmal ist relativ unabhängig vom Füllgrad des Euters. Im Zweifel hilft ein leichtes Anziehen der Haut am Hintereuteransatz, um den Übergang zum Eutergewebe zu erkennen. Die Hintereuterbreite spielt bei der Beurteilung keine Rolle. Die Erblichkeit beträgt h2 = 0,22. In Deutschland wird die Länge und Tiefe des Euterspaltes nach oben beurteilt. Bei der Definition des Zentralbandes bestehen immer noch unterschiedliche Auffassungen. Hierin ist evtl. auch die Ursache für die vergleichsweise niedrige Heritabilität von h2 = 0,13 zu suchen. So wird in Deutschland mit dem Zentralband oft die Deutlichkeit, oder die Höhe, bis zu der der zwischen den Hintervierteln sichtbare Ausläufer des Zentralbandes reicht, verbunden. Strichplatzierung vorne: Beschreibt den Ansatz der Vorderstriche unter den Eutervierteln. Beurteilt wird also nicht der Abstand der vorderen Striche zueinander und auch die Richtung, in die die Striche zeigen, spielt keine Rolle. Ausschließliches Kriterium ist der Ansatz der vorderen Striche relativ zum Viertel. Die Erblichkeit beträgt h2 = 0,22. Strichplatzierung hinten: Ist der Ansatz der Hinterstriche unter den Eutervierteln. Dieses Merkmal wurde erst 2002 als Standardmerkmal hinzugefügt, da aufgrund der großen Zuchtfortschritte bei der Euteraufhängung immer mehr Holsteinkühe sehr engstehende und sich z.T. berührende hintere Striche zeigen, die besonders bei der neuen Technik der Automatischen Melksysteme Probleme verursachen. Wie bei der vorderen Strichplatzierung zählt nur der 15 | DHV: Zuchtwertschätzung.
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Strichansatz im Verhältnis zum Euterviertel, nicht die Richtung, in der die Striche zeigen. Die Erblichkeit ist mit h2 = 0,28 die höchste von allen Eutermerkmalen.16 Trotz der skeptischen bis ablehnenden Stellungnahmen der Tierzuchtwissenschaftler zur Verwendung von Exterieurmerkmalen als Selektionskriterium spielt die Exterieurbeurteilung in der Rinderzucht nach wie vor eine wesentliche Rolle. Die Kritik der Wissenschaftler wurde anfangs damit begründet, dass bisher die wirtschaftliche Bedeutung der meisten Exterieurmerkmale nicht belegt ist und die Intensität der Selektion auf die Leistungsmerkmale bei Berücksichtigung von Exterieurmerkmalen eingeschränkt wird.17 Darüber hinaus sind Exterieurmerkmale lediglich Indikatormerkmale, um die Gesundheit und Langlebigkeit der Milchkuh zu verbessern. Somit sollte auch die Alternative evaluiert werden, nämlich direkt Gesundheitsmerkmale zu erfassen. Dies wird nun auch zunehmend gemacht, um auf dieser Basis direkte Selektionsstrategien auf Tiergesundheit implementieren zu können.
Neue funktionale Merkmale in der Tierzucht Oft wird eine hohe Produktionsleistung kritisch gesehen und dazu werden die folgenden Gründe definiert: i) die Steigerung der Milchleistung geht mit dem Rückgang der Fortpflanzungsfähigkeit, zunehmendem Auftreten von gesundheitlichen Problemen, und einer reduzierten Lebenserwartung moderner Milchkühe einher; ii) es gibt beträchtliche antagonistische genetische Korrelationen zwischen Milchleistung und Fruchtbarkeit und zwischen Milchleistung und mehreren Produktionskrankheiten, die zeigen, dass, wenn die Auswahl für die Produktion weiterhin unverändert steigt, weitere genetische Verschlechterungen der Fruchtbarkeit und Gesundheit erwartet werden; iii) hohe Krankheitsinzidenz, verminderte Fähigkeit zu züchten, verminderte Lebenserwartung und Änderung des normalen Verhaltens weisen auf einen deutlichen Rückgang für das Wohlergehen der Milchkühe hin; iv) der Erfolg der Milchindustrie hängt von der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Produkte und Produktionsmethoden ab und verstärkte öffentliche Bedenken in Bezug auf moderne landwirtschaftliche Tierhaltung, insbesondere Tierschutz, gefährden die Zukunft der Milchwirtschaft.18 Daher erschließt sich, warum Tiergesundheit, Tierwohl und Tierverhalten eine besondere Betrachtung beigemessen werden sollte. Allerdings sei schon jetzt deutlich darauf hingewiesen, dass insbesondere in der Milchrinderzucht
16 | Ebd. 17 | H. Kräusslich: Rinderzucht, S. 287. 18 | P.A. Oltenacu/B. Algers: Selection.
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diese Merkmalskomplexe aktuell verstärkt berücksichtigt und kontinuierlich verbessert werden.
Tiergesundheit und Tierwohl Der Gesamtzuchtwert in der Rinderzucht fasst die einzelnen Teilzuchtwerte zusammen und bietet damit ein Rangierungskriterium, das nicht nur die Milchleistung, sondern auch die funktionalen Merkmale entsprechend ihrer wirtschaftlichen Bedeutung berücksichtigt. Relativ unstrittig ist, dass zwischen Leistung und Fitnessmerkmalen ein genetischer Antagonismus besteht. Dies ist eine zwangsläufige Folge jeder Selektion auf mehrere Merkmale, unabhängig davon, ob es sich um natürliche oder künstliche Selektion handelt.19 Andererseits liegt es auf der Hand, dass die ausgeprägte Mobilisierung von Körperfettreserven am Laktationsbeginn eine physiologische Belastung darstellt.20 Kontrovers diskutiert wird aber, in welchem Umfang dies grundsätzlich tierwohlrelevant ist.21 Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass genetisch überlegene Bullen auch in ungünstigeren Umweltverhältnissen Töchter mit höheren Leistungen hervorbringen.22 In der Rinderzucht hat sich im Hinblick auf die Berücksichtigung tierwohlrelevanter Merkmale in den vergangenen 20 Jahren viel getan. Man kann durchaus behaupten, dass alles, was auf dem jeweiligen technischen Entwicklungsstand machbar war, auch umgesetzt wurde. Dabei kam die Forderung nach züchterischen Verbesserungen in tierwohlrelevanten Merkmalen immer von den Landwirten selbst, lange bevor die Gesellschaft und die Medien begannen, sich für das Thema zu interessieren. Der Anteil der Leistung in Rinderzuchtzielen wird stets heftig diskutiert. Dabei sind die Auswirkungen einer konsequenten Selektion auf Funktionalität auf den Zuchtfortschritt in der Milchleistung in aller Regel durchaus verkraftbar, wie Modellrechnungen zeigen.23 Der Trend zu einer höheren Gewichtung von Fitness- und Gesundheitsmerkmalen wird auch in Zukunft anhalten. Für überzeugende Schritte in Richtung Tierwohl benötigen wir intensive interdisziplinäre Forschungen im Hinblick auf die Physiologie und auf Indikatoren für einen gesunden Stoffwechsel und die Schaffung einer breiten Datengrundlage.24
19 | D.S. Falconer/T.F.C. Mackay: Introduction. 20 | H. Martens: Energiebilanz. 21 | M. Schwerin: Milchkuh. 22 | A. Gerber et al.: Analysis. 23 | C. Egger-Danner: Zucht. 24 | DGfZ-Projektgruppe »Ökonomie und Tiergesundheit«: Tierzucht.
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Um neue Merkmale möglichst rasch flächendeckend einsetzen zu können, kann aber nicht abgewartet werden, bis 3.000 Besamungsbullen hinreichend sichere Zuchtwerte, basierend auf Töchterinformationen, haben. Aus diesem Grund wird es zukünftig vermehrt erforderlich sein, Kühe mit zuverlässigen Phänotypen zu genotypisieren und so auf der Ebene des Genoms direkte Beziehungen zwischen Phänotyp und Genotyp zu ermitteln. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Stimmung sind tierwohlorientierte Zuchtziele alleine jedoch nicht mehr ausreichend. Wenn eine mehrheitliche gesellschaftliche Akzeptanz sichergestellt werden soll, müssen Zuchtprogramme auch die Bereiche Erbfehler und mittelbare Tierwohleffekte überzeugend darstellen können. In der Gegenwart und in der Zukunft werden Aspekte des Tierverhaltens eine wichtigere Rolle spielen.
Verhaltensmerkmale Tierverhalten spielt eine große Rolle im Zusammenhang mit Tierwohl und es ist ein Grundpfeiler für eine nachhaltige Tierzucht. In den letzten Jahrzehnten war die Zucht auf erhöhte Produktion das dominierende Ziel in der Milchviehzucht. Es wurde geschätzt, dass die durchschnittlichen Produktionsniveaus mehr als 85 % seit 1960 zugenommen haben. Parallel dazu wurde eine Erhöhung bei den produktionsbezogenen Krankheiten festgestellt.25 Die Genetik des Verhaltens beinhaltet die genetische Analyse von Verhaltensphänotypen. Den genetischen Hintergrund, der Umwelt und das Zusammenspiel von Vererbung und Umwelt führen zur phänotypischen Expression des Verhaltens.26 Das Verhalten erlaubt den Tieren, sich an ihre sozialen und physischen Umgebungen anzupassen. Wenn man dann auf Verhalten selektiert, sind positive Nebenwirkungen auf das generelle Wohlergehen der Tiere zu erwarten. Wenn Gene, die während einer auf erhöhte Produktion ausgerichteten Zucht unter Selektionsdruck stehen, gleichzeitig einen Einfluss auf das Verhalten haben, könnte dies die adaptive Leistungsfähigkeit der Tiere beeinflussen.27
E xkurs: Verhaltensmerkmale bei Fleischrindern Die Fleischrinderzucht hat sich der möglichen weiteren Nutzung von Verhaltensmerkmalen bereits vor einigen Jahren angenommen. Die extensiven Haltungsformen, die sich durch einen minimalen Kontakt des Tieres zum Menschen auszeichnen, brachten bei einigen Rassen zunehmend Handlings25 | P. Jensen/L. Andersson: Genomics. 26 | J. Brouček et al.: Genetics. 27 | P. Jensen/L. Andersson: Genomics.
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probleme mit sich. Diese äußern sich u.a. in einem gesteigerten Zeitaufwand für das Einfangen und Fixieren, einem erhöhten Stress sowie direkten Verletzungsgefahren für die Tiere und die Tierbetreuer.28 Neuere Untersuchungen zeigen bei verschiedenen Fleischrinderrassen, dass einigen Eigenschaften des Temperaments, definiert als die Verhaltensantwort des Tieres auf den Umgang mit Menschen,29 mittlere Heritabilitäten zugrunde liegen30 und damit züchterisch genutzt werden können. In den meisten Untersuchungen erfolgt die Beschreibung des Temperaments auf Basis der Antwortreaktionen des Tieres auf menschlichen Kontakt.31 Tieren wird ein gutes, d.h. ein für die jeweilige Haltungsform geeignetes Temperament unterstellt, wenn mit ihnen leicht und sicher umgegangen werden kann.32 Da in der Fleischrinderhaltung die Mutterkühe die Zuchtbasis darstellen, kommt auch dem maternalen Temperament eine besondere Rolle zu. Die Mutterkuh beeinflusst den Aufzuchterfolg des neugeborenen Kalbes. Wird bei notwendigen Maßnahmen, wie der Markierung oder der Gewichtsermittlung der Kälber, auch der Tierhalter von der Kuh als Bedrohung betrachtet und reagiert diese aggressiv, kann zusätzlich leicht eine Gefahr für die Betreuungsperson entstehen. Dieses Risiko ist in extensiven Haltungsverfahren besonders groß, da aufgrund des losen Kontaktes zum Menschen keine Gewöhnung an Betreuungsmaßnahmen erfolgt.33
Verhaltensmerkmale in der Milchrinderzucht Funktionale Merkmale des Tierverhaltens und des Temperaments in Kombination mit Stressindikatoren werden zukünftig eine verstärkte Bedeutung in der Milchrinderzucht einnehmen. Diese Einschätzung ist begründet durch Aspekte der Mensch-Tier-Beziehungen und des Tierschutzes, aber auch, insbesondere in Großbetrieben, durch Optimierungsprozesse zur Reduktion von Arbeitszeiten und zur Verbesserung des allgemeinen Herdenmanagements. Merkmale der routinemäßigen Leistungsprüfung beim Milchrind, die das Tierverhalten, Stress oder Temperament widerspiegeln, sind das durchschnittliche Minutengemelk (DMG) und Melkverhalten (MV). DMG oder Milchfluss als ein kontinuierliches messbares Merkmal steht hierbei über Oxytocinaus-
28 | A. Boissy/M.-F. Bouissou: Effects. 29 | G. Fordyce et al.: Cattle temperaments; H.M. Burrow: Measurement. 30 | H. Mathiak et al.: Genetic parameters; M. Gauly et al.: Estimating; S. Hoppe et al.: Temperament. 31 | H.M. Burrow: Measurement. 32 | T. Grandin: Behavioural agitation. 33 | M. Gauly/G. Erhardt Verhaltensparameter.
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schüttungen in enger Beziehung zum endokrinen System, dessen Wirkungsweise wiederum durch Stressoren beeinflusst wird.34
I nnovative gene tisch - statistische M e thodik zur A nalyse von V erhaltensmerkmalen Beziehungen zwischen DMG mit Produktionsmerkmalen und DMG mit funktionalen Merkmalen (insbesondere der somatischen Zellzahl) wurden auf phänotypischer und quantitativ-genetischer Ebene bisher mittels traditioneller linearer Modelle analysiert.35 Darüber hinaus haben aber Strukturgleichungsmodelle36, d.h. quantitativ-genetische Modelle mit rekursiven Effekten, das Potenzial, Rückkopplungseffekte und Assoziationen zwischen den Merkmalen durch Reflexion eines physiologischen Hintergrundes abzubilden. Bevor somit innovative physiologische Merkmale des Tierverhaltens (z.B. Hormonlevel etc.) aufwendig erfasst und deren genetischer Hintergrund analysiert wird, ist es angebracht, Merkmale der konventionellen Leistungsprüfung wie DMG mittels alternativer statistischer Modellierung bzgl. ihrer Wirkungsprinzipien und Kausalitäten näher zu überprüfen. Ziel der folgenden aufgeführten Beispielsstudie ist es, das Merkmal DMG in Beziehung zu Produktionsmerkmalen (Mengenmerkmale und Inhaltsstoffe) und funktionalen Merkmalen (insbesondere Zellzahl) mittels rekursiver Strukturgleichungsmodelle zu modellieren und zu analysieren.
Beispiele zur Methodik der Datenaufbereitung und genetisch-statistische Methodik Das Datenmaterial beinhaltete longitudinale Testtagsdaten der Merkmale Milch-kg, Fett- %, Eiweiß- % und somatische Zellzahl (SCS) von insgesamt 5.736 HF-Kühen in der ersten Laktation der Kalbejahre 2003-2008. Weiter wurden energiekorrigierte Milch (ECM) und der Fett-Eiweiß-Quotient (FEQ) auf Testtagsbasis berechnet. Das Merkmal DMG basierte auf einer einmaligen Messung zu Beginn der Laktation. Die Pedigree-Datei umfasste insgesamt 20.473 Tiere mit Basistieren des Geburtsjahres 1940. Der Fokus der Studie war auf Merkmale zu Laktationsbeginn gerichtet. Die Merkmalsdefinition stellte ein biologisches System dar, das DMG und zwei Testtagsmerkmale miteinander kombinierte. Merkmal 1 (z.B. Milch-kg_1) bezieht sich auf den Testtag, der in zeitlicher Abfolge vor der DMG- Messung 34 | R.M. Bruckmaier/J.W. Blum: Oxytocin release. 35 | R. Rupp/D. Boichard: Genetic parameters. 36 | D. Gianola/D. Sorensen: Quantitative genetic models.
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(DMG = Merkmal 2) liegt, während Merkmal 3 (hier: Milch-kg_3) die Milchmengenmessung vom ersten offiziellen Testtag nach der DMG Messung definiert. In diesem 3-Merkmalsgerüst im rekursiven Modell beschreibt der Strukturgleichungskoeffizient ʎ21 somit die Änderungen im Merkmal DMG je kg Milchmengensteigerung, während die Änderungsrate ʎ32 die Änderungen in der Milchmenge in Bezug zu DMG abbildet. In Matrixschreibweise wurde somit ein rekursives Modell [1] in Anlehnung an Rehbein et al. (2013) verwendet:
Λy 1 X 1 Z s1 e 1 Λy 2 X 2 Z s 2 e 2 ... = ... β + ... s + ... = Xβ + Z s s + e Λy X Z e s n n n n wobei i = 1, 2,…., n die einzelnen Kühe mit Beobachtungen für die drei Merkmale beschreibt, Vektor yi die verschiedenen Merkmale abbildet, β ein Vektor mit den systematischen Effekten Herde, Jahr x Saison, Erstkalbealter, Herde und Melkfrequenz ist, s ein Vektor der Kuhvatereffekte ist und Vektor e die zufälligen Restfehler beschreibt; X und Zs sind die zugehörigen Inzidenzmatritzen. Die Berechnungen im rekursiven Modell erfolgten mit dem Sir-Bayes-Softwarepaket (Wu, 2007) im Bayes-basierten Ansatz mit insgesamt 100.000 Iterationen und 10.000 »Burn-in«-Runden. Weiter kamen zwei alternative Modelle zur Anwendung: Modell [2] war ein lineares Mehrmerkmalsmodell für alle Merkmalskombinationen im definierten zeitlichen Pfad analog zu Modell [1], aber ohne Modellierung des rekursiven Effektes, d.h. ohne Modellierung der Matrix Λ. Modell [3] ist eine Ergänzung zu [2], da hier zusätzlich der Effekt von Merkmal 1 auf Merkmal 2 bzw. von Merkmal 2 auf Merkmal 3 mittels linearer Regression modelliert wurde. Die Parameterschätzung für die Modelle [2] und [3] erfolgte mittels REML-Methodik mit dem Programmpaket DMU (Madsen & Jensen 2000). Die Heritabilitäten für Testtagsdaten und für DMG aus verschiedenen Läufen waren ziemlich konstant und lagen in einem engen Bereich zwischen 0,29-0,38 und bestätigen die Bandbreite der Schätzwerte anderer Studien.37 Auffällig sind die nahezu identischen Heritabilitäten der Modelle [2] und [3], d.h. die Modellierung einer zusätzlichen linearen Regression hat keine Auswirkungen auf die additiv genetische Varianz und auf die Heritabilität. Tendenziell höhere Schätzwerte für die Heritabilitäten aller Merkmale liefert das rekursive Modell. Die Ursache hierfür gilt es aber noch zu identifizieren. 37 | B. Karacaören et al.: Genetic parameters.
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Trotz der Unterschiede in den Laktationsstadien, wurden nur geringe Unterschiede in den Heritabilitäten für SCS_1 und SCS_3 (vor und nach der Messung von DMG) festgestellt (0,06 bis 0,08). Auf genetischer Ebene reflektieren die genetischen Korrelationen als Ergebnis der Modelle [1], [2] und [3] durchweg gleichgerichtete Beziehungen. Auffällig ist lediglich, dass der erwartete Merkmalsantagonismus zwischen somatischer Zellzahl und DMG nicht abgebildet wird, wenn im bivariaten Schätzmodell zwischen SCS_3 und DMG die Melkgeschwindigkeit als lineare Regression in Modell [3] berücksichtigt wird (rg = -0.21). Somit liegt die Vermutung nahe, dass rekursive Modelle mit einer zusätzlichen Matrix Λ doch eher geeignet sind, »Feedback«-Situationen zwischen Merkmalen zu modellieren, anstatt simultan im bivariaten Modell identische Merkmale mit identischen Effekten abzubilden. Im Gegensatz zu dem gefundenen Phänomen auf genetischer Ebene reflektieren Strukturgleichungskoeffizienten und lineare Regressionskoeffizienten identische Beziehungen zwischen DMG und SCS_3 auf phänotypischer Skala. Wenn das Merkmal DMG um 1 kg/Minute steigt, steigt simultan der SCS am folgenden Testtag um 0,18 Einheiten (Strukturgleichungskoeffizient von Modell [1]) bzw. um 0,78 Einheiten (Regressionskoeffizient von Modell [3]). Generell ist aus tierzüchterischer Sicht aufgrund antagonistischer Beziehungen zwischen DMG und Gehaltsmerkmalen der Milch und zur Eutergesundheit keine Merkmalsmaximierung, sondern eine Merkmalsoptimierung im Sinne eines intermediären Optimums anzustreben. Rekursive Modelle scheinen besser geeignet, um Assoziationen zwischen physiologischen Merkmalen des Tierverhaltens Produktionsmerkmalen der Milchleistungsprüfung zu erklären. Eine genaue Aufklärung der komplexen Merkmalsbeziehungen wird aber wohl nur dann möglich sein, wenn ein stärkerer Input zugunsten einer innovativen Merkmalserfassung erfolgt, um so die »richtigen« Phänotypen zur komplexen Beschreibung des Milchkuhverhaltens zu identifizieren.
A bschliessende B e tr achtung Heritabilitäten für die gleichen Merkmale, geschätzt auf Basis verschiedener genetisch-statistischer Modelle, sind nahezu identisch. Jedoch sind die Heritabilitäten, die mit rekursiven Modellen geschätzt wurden, tendenziell höher. Allgemein ist festzustellen, dass die geschätzten Heritabilitäten für Tierverhaltensindikatoren wie DMG eher gering sind und somit züchterische Ansätze schwierig sind. Jedoch sind hohe wirtschaftliche Gewichte für Verhaltensmerkmale zu vermuten, da Tierverhalten aufgrund verschiedenster Ursachen Auswirkungen auf Arbeitseffizienz, Arbeitsqualität und Ökonomie milchkuhhaltender Betriebe haben.
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Aufgrund der gegenwärtig unzureichenden Datengrundlage für Verhaltensmerkmale sollte DMG jedoch als Indikator genutzt werden, um eine genetische Verbesserung von Verhalten zu erzielen, da die Beziehung zwischen DMG und Temperament stark ausgeprägt ist.38 Außerdem wurden ähnliche genetische Korrelationen mit den verschiedenen Modellen für die Beziehung zwischen DMG und anderen Merkmalen geschätzt. Eine Erhöhung der Milchmenge hat eine Erhöhung des durchschnittlichen Minutengemelks zur Folge. Hier spiegeln lineare Modelle mit einer zusätzlichen Kovariablen zur Modellierung des Effekts nicht vollkommen die Beziehungen zwischen den Merkmalen wider, wie man sie anhand der Strukturgleichungskoeffizienten erkennen kann. Die Funktionalität von Milchkühen bei gleichzeitiger hoher Milchleistung ist von zentraler Bedeutung für eine rentable Milcherzeugung und wird von den Milcherzeugern wie auch von der Gesellschaft gefordert. Die Erblichkeiten der funktionalen Merkmale, und somit auch die Möglichkeiten für deren züchterische Bearbeitung, sind deutlich geringer als bei den Produktionsmerkmalen. Trotzdem kann und muss die Zucht einen Beitrag leisten. Grundlage jeder Zuchtarbeit ist eine zuverlässige Leistungsprüfung. Für die Produktionsmerkmale ist eine umfassende Logistik der Leistungsprüfung implementiert. Dies gilt jedoch nur begrenzt für die funktionalen Merkmale.
L iter aturverzeichnis Boissy, Alain/Bouissou, Marie-France, »Effects of early handling on heifer’s subsequent reactivity to humans and to unfamiliar situations«, in: App. Anim. Beh. Sci. 20 (1988), S. 259-273. Brouček, Jan/Uhrinčat, Michal/Šoch, Miloslav/Kišac, Peter, »Genetics of behaviour in cattle«, in: Slovak J. Anim. Sci., 41 (2008), S. 166-172. Bruckmaier, Rupert M./Blum, Jürg W, »Oxytocin release and milk removal in ruminants«, in: J. Dairy Sci. 81(4) (1998), S. 939-949. Burrow, Heather M., »Measurement of temperament and their relationship with performance traits of beef cattle«, in: Anim. Breeding Abstracts 65 (1997), S. 478-495. Desvousges, William H./Johnson, F. Reed/Dunford, Richard W./Boyles, Kevin J./Hudson, Sara P./Wilson, Nicole, »Measuring natural resource damages with contingent valuation: tests of validity and reliability«, in: Jerry A.
38 | M.M. Schutz/E.A. Pajor: Genetic control.
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Rubondo und eine Reise dorthin Der Feldaufenthalt in der Geschichtswissenschaft – und unter afrikanischen Wildtieren Felix Schürmann
Weil das Vergangene vergangen ist, lässt es sich nicht sinnlich erfahren. Die Klänge der Vergangenheit sind verhallt, ihre Gerüche verflogen. Vergangenes ist nicht sichtbar und nicht tastbar. Es lässt sich nicht aufsuchen. Historiker und Historikerinnen wissen, dass ihre Arbeit unausweichlich in der Gegenwart verstrickt bleibt. Und dennoch streben viele von ihnen wie selbstverständlich danach, ihren Erkenntnisinteressen auch auf der Ebene sinnlicher Erfahrungen nachzugehen. Ein versuchsorientiertes Teilgebiet gleichsam der experimentellen Archäologie hat die Geschichtswissenschaft bislang zwar nicht hervorgebracht; doch auf einer anderen, weniger öffentlichen Ebene hat sich das Verlangen nach Vergangenheitserfahrung seinen Weg in die Kultur der Disziplin gebahnt. Hans Ulrich Gumbrecht etwa berichtet von der Arbeit an seinem Buch über das Jahr 1926, dass er häufig Jazz-Aufnahmen gehört und Stummfilme angesehen habe, die in jenem Jahr entstanden sind – wohl wissend, dass er seinen Wunsch nach einem unmittelbaren Erfahren dieser Zeit dadurch allenfalls scheinbar, nicht aber wirklich erfüllen konnte.1 Solche Bestrebungen, über den Umgang mit Überresten früherer Zeiten ein Nacherleben der Vergangenheit zu simulieren, lassen sich bis in die Anfänge der akademischen Geschichtsschreibung zurückverfolgen.2 Nicht minder häufig als diesen an Dinge und Medien geknüpften Formen des Vorspiegelns von Vergangenheitserfahrung begegnet man in der Ge1 | H.U. Gumbrecht: 1926, S. 463f. Für wertvolle Hinweise und Kommentare zu diesem Aufsatz danke ich den Kolleginnen und Kollegen am LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft«, insbesondere Christian Presche, Mieke Roscher und Susanne Schul. Robert und William Carr-Hartley und der Bildagentur Okapia sei für das Bereitstellen der Bilder gedankt. 2 | F.R. Ankersmit: Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, S. 107.
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schichtswissenschaft der Praxis, Schauplätze historischer Vorgänge zu bereisen. Ob als Forschungsaufenthalt, Exkursion oder privater Urlaub: Vielen Historikern und Historikerinnen scheint das Aufsuchen von Orten des von ihnen untersuchten Geschehens etwas zu bedeuten. Wieder und wieder bekräftigte etwa Keith Hancock, der Doyen der australischen Geschichtswissenschaft, dass ein guter Historiker feste Stiefel bräuchte.3 Wohl kaum jemand ist im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen über die eigene Forschung noch nicht mit der Frage konfrontiert worden: »Bist du dort gewesen?« Dort gewesen zu sein, das signalisiert eine enge Vertrautheit mit dem Forschungsgegenstand. Dort gewesen zu sein verleiht die Aura einer besonderen Autorität, sich qualifiziert über diesen Gegenstand zu äußern. Dort gewesen zu sein gilt manchen als Condicio sine qua non für wahres Expertentum.4 Doch warum sollte man dort sein, sollte man Schauplätze historischer Vorgänge aufsuchen, wo doch das Vergangene dort nicht weniger vergangen ist als im Archiv oder etwa am heimischen Schreibtisch? Im Lichte der eingangs getroffenen Bemerkungen ließe sich die These ins Feld führen, dass historische Feldaufenthalte, wie ich solche Reisen im Folgenden nenne, zu keinem Zugewinn an historiographischer Erkenntnis führen. Demgegenüber könnte eine Gegenthese lauten, dass historische Feldaufenthalte durchaus zu Einsichten in die Vergangenheit führen – und somit als Instrument im methodischen Werkzeugkasten der Geschichtswissenschaft anerkannt werden sollten. Wie aber ließe sich das begründen? Eine naheliegende Begründung bietet der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel an, ein entschiedener Befürworter historischer Feldaufenthalte. Nach seinem Dafürhalten sollte sich die Geschichtswissenschaft von ihrer habituellen Fixierung auf schriftliche Überlieferungen lösen und etwa auch Gebäude, Straßen oder Friedhöfe als historische Quellen behandeln, um sich so zu einer umfassenderen und mithin »der geschichtlichen Realität angemesseneren Wahrnehmung« zu verhelfen.5 »Gebaute Welten sind Resultate, mit langen, meist verborgenen Vorgeschichten«, meint Schlögel.6 Das Ergründen solcher Vorgeschichten erfordere es, »die bequeme Illusion aufzugeben, daß die Welt ein einziger großer Text sei«.7 Dabei verlangen andere Arten von Quellen freilich andere Arten von Quellenkritik. »Orte kann man nicht lesen, sondern man muß sie aufsuchen, um sie herumgehen. […] Es geht um Raumverhältnisse, Entfernungen, Nähe und Ferne, Maße, Proportionen, Volumina, Gestalt.
3 | T. Griffiths: Discovering Hancock, S. 257. 4 | A. Howkins: ›Have You Been There?‹, S. 514f. 5 | K. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 68. 6 | Ebd., 302. 7 | Ebd., 22f.
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Räume und Orte […] wollen erschlossen sein. […] Das geht nicht ohne Schulung des Auges, nicht ohne Feldstudien, nicht ohne Arbeit vor Ort.« 8 Schlögels Begründung historischer Feldaufenthalte stützt sich auf die Bewertung der vor Ort vorzufindenden materiellen Kultur als historischen Quellenfundus: Weil es sich bei menschlichen Bauten um Überreste vergangener Zeiten handelt, kommt das Feld einem Archiv, der Feldaufenthalt einem Archivaufenthalt gleich und kann zu Einsichten in die Vergangenheit verhelfen – so man sich eines geeigneten hermeneutischen Verfahrens bedient, um solche Bauten als Quellen zu entschlüsseln. Eine solche Begründung reduziert den historischen Feldaufenthalt allerdings auf seine Funktion als Variante der Materialerhebung. Doch wie in den Eingangsbemerkungen angedeutet, scheint eine Verbindung zu bestehen zwischen dem historischen Feldaufenthalt und dem Wunsch nach sinnlicher Vergangenheitserfahrung.9 Beides gehört offenkundig zur Kultur der Geschichtswissenschaft. Aber gehört die Praxis, Letzteres (den Wunsch) durch Ersteres (den Feldaufenthalt) verwirklichen zu wollen, deshalb zu ihren Mitteln, gar zu ihrer Methodik? Womöglich motiviert das Streben nach Sinneserfahrungen historische Feldaufenthalte oft noch stärker als die Möglichkeit einer Inaugenscheinnahme artefaktischer Überreste. Eine hohe Bedeutung wird Feldaufenthalten etwa in der Forschung zur Geschichte der Antarktis zugemessen – obgleich Historiker und Historikerinnen in den dortigen Eismeeren und Schneelandschaften kaum »gebaute Welten« im Sinne Schlögels finden. Von der sensorischen Erfahrung der extremen Kälte oder der Schneestürme erhoffen sie sich etwa, die Stimmungen nachfühlen zu können, die historische Besucher der Antarktis unter diesen Umständen erlebten.10 In diesem Sinne berichtet auch die Historikerin Lynette Russell über die Arbeit an ihrem Buch über die Geschichte aboriginaler Wal- und Robbenfänger in Australien: »I have spent time on ships observing whales, and scrambled around seal colonies in order that I might better understand the experiences of the men and women I am writing about.«11 Russell nennt dieses Vorgehen Doing of history und erläutert: Da sich etwa die Geräusche eines in nächster Nähe auftauchenden Buckelwals oder die Gerüche auf einer Robbeninsel durch die geschichtliche Zeit hindurch nicht verändert hätten, könne die Historikerin solche Sinneseindrücke heute in glei8 | Ebd., 22f. 9 | Schlögel lässt in seinen Hinweisen auf den Wert des Erfahrens räumlicher Verhältnisse erkennen, dass er dieser Verbindung ebenfalls Bedeutung zuerkennt, geht aber nicht näher darauf ein. Siehe dazu auch das aufschlussreiche Interview, das Walter Sperling und Alexander Kraus mit Schlögel geführt haben (K. Schlögel/W. Sperling/A. Kraus: Abenteuer des Lebens). 10 | A. Howkins: ›Have You Been There?‹ 11 | L. Russell: Roving Mariners, S. 17.
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cher Weise erleben wie Menschen in vergangenen Zeiten. Dieses Nachvollziehen von Sinneswahrnehmungen eröffne ihr einen Vorstellungsraum, in dem sie ein Verständnis und ein Gefühl für die Erfahrungen historischer Akteure entwickeln könne, das ihr versagt bliebe, würde sie allein archivalische Schriftquellen erheben.12 In dieser Begründung ihrer Feldaufenthalte verkennt Russell, dass auch die menschliche Sinneswahrnehmung historischen Veränderungen unterworfen ist. In seiner physikalischen Gestalt als Schallwelle mag sich das von ihr angeführte Geräusch eines auftauchenden Buckelwals über Jahrtausende nicht wesentlich verändert haben. Von Menschen, die es hörten, wurde es aber zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen unterschiedlich wahrgenommen, empfunden und gedeutet.13 Eine Historikerin, die einen Buckelwal im beginnenden 21. Jahrhundert auftauchen hört, erlebt nicht dasselbe wie ein Walfänger, der einen Buckelwal im 18. Jahrhundert auftauchen hörte. In diesem Fall, wie auch bei Reisen ins antarktische Eis, muss das angestrebte sinnliche Nacherleben von Vergangenem als illusorische Selbsttäuschung gelten.14 Die historische Wirklichkeit bleibt unerlebt. Wenngleich das somatische Nachvollziehen von Sinneswahrnehmungen das Aufsuchen historischer Schauplätze also nicht plausibel zu begründen vermag, so verweist Russells Herangehensweise doch auf eine Beobachtung, der es sich nachzugehen lohnt: Die Beschäftigung mit Themen der Tier- und Umweltgeschichte veranlasst Historiker und Historikerinnen zu Feldaufenthalten, die sie nicht zu anthropogenen Artefakten vergangener Zeiten führen, sondern zu den biotischen Daseinsformen der gemeinhin als überzeitlich wahrgenommenen Natur. In Anbetracht dessen eignet sich die tier- und umweltgeschichtliche Forschung besonders gut, so meine ich, um die grundsätzliche Frage zu diskutieren, inwieweit der Feldaufenthalt über seine Funktion als Form der Materialerhebung hinaus zu historiographischen Erkenntnisprozessen beizutragen vermag – und welche Rolle das sinnliche Erleben des Dort-seins dabei spielt. Von dieser Ausgangsüberlegung leitet sich die zentrale Frage dieses Aufsatzes ab: Kann das Dort-sein in der Natur und unter Tieren zu Einsichten in die Vergangenheit verhelfen, die Daheimgebliebenen nicht oder nicht in gleicher Weise zugänglich sind?
12 | Ebd. 13 | Zur Historizität von Sinneswahrnehmungen in Naturräumen siehe etwa A. Kraus: Der Klang des Nordpolarmeers. Fraglich ist allerdings, ob alle Sinneswahrnehmungen gleichermaßen dem historischen Wandel unterliegen oder ob dies etwa für den Tastsinn nicht in gleichem Maße gilt wie für den Hörsinn. (F.R. Ankersmit: Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, S. 107f.) 14 | Vgl. auch A. Howkins: ›Have You Been There?‹, S. 517.
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Im Folgenden diskutiere ich diese Frage am Fall meiner eigenen Forschung zur Tier- und Umweltgeschichte, die sich mit Umsiedlungen und Auswilderungen von Tieren in den 1960er und 1970er Jahren auf der Insel Rubondo befasst. Um dem Anspruch des vorliegenden Sammelbands Rechnung zu tragen, Gesprächsangebote für einen interdisziplinären Austausch zu formulieren, füge ich dabei drei Arten des Schreibens zusammen, die es erleichtern sollen, die hier erörterten Fragen auch außerhalb der disziplinären Debatte nachzuvollziehen und mit übergeordneten Diskussionen in Verbindung zu bringen: Zunächst skizziere ich in einer sequenziellen Narration die fraglichen Vorgänge auf Rubondo. Nachfolgend berichte ich in einem Auszug aus meinem Forschungstagebuch von einer eigenen Reise auf die Insel. Abschließend greife ich die oben gestellte Frage auf und diskutiere in Form einer allgemein gehaltenen Reflexion, inwiefern die Reise auf die Insel zum Gewinn von Einsichten in ihre Vergangenheit beitragen kann.
R ubondo , warum ? Eine Insel unberührter Natur in einem ökologisch kollabierten See: Kann es ein treffenderes Bild für das geben, was wir heute unter »Wildnis« verstehen? Die Insel heißt Rubondo. Der See heißt Viktoriasee. So wie der Viktoriasee weithin als Paradebeispiel für ein durch menschliche Eingriffe verwüstetes Ökosystem gilt, so steht Rubondo im Ruf, zu den letzten Resten einer intakt gebliebenen, naturbelassenen Tier- und Pflanzenwelt in Afrika zu zählen. Die Insel liegt im südwestlichen, tansanischen Teil des Sees. Die Nationalparkbehörde Tansanias bezeichnet Rubondo als eine von nur wenigen Gegenden, in denen der immergrüne tropische Regenwald Zentralafrikas in seinem Naturzustand erhalten ist – ein einzigartiger Urwalddschungel mit einer außergewöhnlichen Artenvielfalt. Ein Reiseveranstalter bewirbt Rubondo als eines der letzten unerschlossenen Wildnisgebiete der Erde und spricht von einem Paradies.15 Doch anders, als es solche Formulierungen vermuten lassen, ist die Insel kein zeitloser, kein außergeschichtlicher Ort. Ihre heutige Geltung als ein Inbegriff afrikanischer Wildnis ist vor allem das Ergebnis einer Reihe von Tierumsiedlungen und -auswilderungen in den 1960er und 1970er Jahren, die mit der Aussiedlung der menschlichen Bevölkerung der Insel einhergingen. Diese Vorgänge lassen sich in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase begann noch in den 1950er Jahren, als die Wildbehörde des britisch kontrollierten Tanganjika-Territoriums eine drastische Bestands15 | Rubondo Island Camp, Asilia, 2015. http://rubondo.asiliaafrica.com (letzter Zugriff 09.07.2015); Rubondo Island National Park, Tanzania National Parks, 2012. www.tanzaniaparks.com/rubondo.html (letzter Zugriff 09.07.2015).
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verminderung der stark bejagten Spitzmaulnashörner verzeichnete. Am Vorabend der Unabhängigkeit Tanganjikas, deren Eintreten nach einer entsprechenden Zusage der britischen Regierung von 1959 nur noch eine Frage von Monaten war, betrachteten die Wildhüter die Überlebenschancen der Spitzmaulnashörner als alarmierend schlecht.16 Bruce Kinloch, der 1960 als letzter Kolonialbeamter die Leitung der Wildbehörde übernahm, verfolgte die Strategie, Nashörner aus Gegenden, in denen ihnen Bejagung drohte, an sichere Orte umzusiedeln. Als Zielgebiet für ein solches Experiment schlug der leitende Wildhüter der Mwanza-Region, Peter Achard, 1961 Rubondo vor.17 Zwar hatten Nashörner nie auf der Insel gelebt, doch Achard schien sie für das Vorhaben bestens geeignet, da Rubondo für Wilderer schwer zugänglich war und es keine größeren Raubtiere gab, die Nashörnern gefährlich werden konnten.18 Mithilfe des gewerblichen Tierfängers Thomas Carr Hartley aus Kenia fing die Behörde 1963 und 1964 insgesamt elf Nashörner auf dem Festland (Abb. 1) und siedelte sie per Boot nach Rubondo um. Zugleich wurde die menschliche Bevölkerung von Rubondo entfernt: Schätzungsweise 500 Menschen, die zur Bevölkerungsgruppe der Zinza zählten und hauptsächlich vom Fischfang lebten, mussten an die Festlandküste und auf andere Inseln des Sees umsiedeln.19
16 | E.M. Martin. West Lake Province Annual Report 1960. National Archives of Tanzania, Dar es Salaam (nachfolgend: TNA) 967.822.1; B. McCulloch/P.L. Achard: Mortalities Associated with the Capture, Translocation, Trade and Exhibition of Black Rhinoceroses, S. 184; G. H. Swynnerton: Black Rhino in East Africa. 17 | B.G. Kinloch an Game Rangers & Elephant Control Officers, 09.09.1960. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.; P.L. Achard an B.G. Kinloch, 21.11.1961. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept. 18 | B. McCulloch/P.L. Achard: Rhino Reserve in Lake Victoria, S. 162. 19 | P.L. Achard an B.G. Kinloch, 21.11.1961. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.; Geita District Commissioner an Lake Region Regional Commissioner, 28.03.1962. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.; W. Brockmann. Project Evaluation of the Rubondo Island Game Reserve, Project Annual Report 1971. Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Afrika, 00001970, Rubondo 3, Keller Regal 01021.
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Abb. 1: Mitarbeiter Carr Hartleys fangen ca. 1964 ein Spitzmaulnashorn im GrumetiWildschutzgebiet. Quelle: Robert & William Carr-Hartley Die zweite Phase setzte ein, nachdem das zuständige Ministerium Kinloch im Zuge der sogenannten Afrikanisierung der Verwaltungselite Mitte 1964 seines Postens enthob. Sein Nachfolger, Hassan Mahinda, lehnte es ab, weiterhin Ressourcen für Umsiedlungsexperimente aufzuwenden. Anstatt mit ungewissem Ausgang neue Lebensräume für Wildtiere zu schaffen, sollten die Wildhüter die Tiere in ihren bestehenden Lebensräumen besser schützen.20 Achard aber gelang es, den Frankfurter Zoodirektor, Filmemacher und Tierschutzaktivisten Bernhard Grzimek für das Rubondo-Projekt zu begeistern. Als Präsident der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt, die er in eine international orientierte Naturschutzorganisation umgewandelt hatte, verfügte Grzimek über einen Kapitalstock an Spendengeldern, der ihm zu großem Einfluss auch in den unabhängig gewordenen Staaten Ostafrikas verhalf.21 Da Grzimeks Hauptsorge in jener Zeit den Schimpansen galt – deren baldige Ausrottung er als reelle Gefahr betrachtete, weil die Transplantationsmedizin kurz davor zu stehen schien, die Verpflanzung von Schimpansennieren auf Menschen zu ermöglichen22 –, sollten anstatt weiterer Nashörner nun Schimpansen nach Rubondo gebracht werden. Da sich Schimpansen in freier Wildbahn aggressiv ver20 | J.S.G. Capon: Translocation of Animals. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Re-stocking by Game Dept.; B.G. Kinloch: The Shamba Raiders, S. 347. Zur »Afrikanisierung« des Behördenapparats siehe A. Eckert: Herrschen und Verwalten, S. 231-6. 21 | C. Sewig: Bernhard Grzimek, 316f. Grzimek bekundete seinerseits, sich vor allem wegen des ansteckenden Enthusiasmus von Achard des Rubondo-Projekts angenommen zu haben. (B. Grzimek: Apes Travel from Europe to Africa, S. 271-4) 22 | B. Grzimek: Apes Travel from Europe to Africa, S. 278. Zur Geschichte der Xenotransplantationsmedizin siehe S. Schicktanz: Fremdkörper, S. 181f.
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teidigen, entschied Grzimek, von Umsiedlungen abzusehen und stattdessen Zootiere auf der Insel auszuwildern. Von skandinavischen, deutschen, französischen und österreichischen Tiergärten erhielt er durch Schenkungen und Käufe insgesamt elf Tiere, die er Mitte 1966 per Schiff von Hamburg nach Dar es Salaam, von dort per Lastwagen an die Küste des Viktoriasees und schließlich per Boot nach Rubondo schaffen ließ (Abb. 2).23 Nach der Schimpansen-Operation trat das Rubondo-Projekt in seine dritte Phase. Da Achard 1966 wegen einer schweren Erkrankung aus der Wildbehörde ausschied, sein Posten zunächst nicht wiederbesetzt wurde und die Wildbehörde unter Mahinda kaum Interesse an der Insel zeigte, erfreuten sich Grzimek und die Zoologischen Gesellschaft Frankfurt weitreichender Handlungsfreiheiten. Sie nutzten diese, um den Charakter des Projekts grundlegend zu verändern: An die Stelle der ursprünglichen Idee eines Refugiums für bedrohte Arten trat nun der Plan, Rubondo in eine spektakuläre Touristenattraktion zu verwandeln.24 Da sich die postkolonialen Staaten Afrikas nach Grzimeks Überzeugung perspektivisch nur dann um den Schutz ihrer Wildtiere bemühen würden, wenn sie wirtschaftlich davon profitierten, wollte er sowohl besonders seltene Spezies wie etwa Okapis als auch besonders populäre Arten wie beispielsweise Elefanten nach Rubondo bringen und die Insel baldmöglichst als Nationalpark ausweisen lassen. Das Vorhaben ließ sich nur zum Teil verwirklichen: Einerseits gelang es, ab 1967 weitere Schimpansen sowie Stummelaffen, Pferde- und Suni-Antilopen und schließlich auch Elefanten auf der Insel anzusiedeln.25 Andererseits ließ die Umwandlung der Insel in einen Nationalpark durch das Parlament auf sich warten, während zugleich die Aussicht auf eine Übertragung der Zuständigkeit auf die Nationalparkbehörde die Mitwirkungsbereitschaft der Wildbehörde nahezu vollständig erlahmen ließ. Da die Zoologische Gesellschaft Frankfurt ihrerseits nicht bereit war, die teuren Tierumsiedlungen allein zu finanzieren, kam das Projekt 1974 zum Stillstand und die geplante Aussetzung von Gorillas, Okapis und weiteren Spezies wurde nicht realisiert. 1977 wurde Rubondo schließlich zum zehnten Nationalpark Tansanias erklärt – zum größten Insel-Nationalpark Afrikas – und für den Tourismus geöffnet.26 Die nun zuständige Nationalparkbehörde sah von weiteren Umsiedlungen ab und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt zog sich aus dem Projekt zurück. 23 | B. Grzimek: Apes Travel from Europe to Africa. 24 | B. Grzimek an D.N.M. Bryceson, 02.03.1967. Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Afrika, 00001976, Rubondo 1, Keller Regal 01019. 25 | M. Borner: Translocation of 7 Mammal Species to Rubondo Island National Park in Tanzania. 26 | Ebd., S. 117; W. Brockmann an B. Grzimek, 15.10.1977. Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Afrika, 00001970, Rubondo 3, Keller Regal 01021.
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Soweit, in aller verkürzenden Knappheit, die Geschichte von Rubondo zwischen etwa 1960 und 1980. Sie ist einer eingehenden Untersuchung wert, weil sich an ihr Phänomene im Kleinen beobachten lassen, die Einsichten in große historische Veränderungen ermöglichen. Dazu zählt zunächst die Herausbildung und sukzessive Professionalisierung von Tierumsiedlungen und -auswilderungen als einem neuartigen Instrument des Artenschutzes in Afrika. Gerade hinsichtlich der Freilassung von Schimpansen – der ersten Auswilderung dieser Spezies überhaupt – zog das Rubondo-Projekt erhebliches Interesse der Fachwelt auf sich und regte weitere Schimpansen-Auswilderungen an, etwa 1974 im senegalesischen Nationalpark Niokolo-Koba und 1978 auf einer Inselgruppe im Gambia-Fluss.27 Ferner lässt sich im Glauben der Projektbeteiligten an eine umfassende planerische Gestaltbarkeit der ökologischen Umwelt unschwer eine Ausprägung zeittypischer Fortschritts- und Entwicklungsparadigmen erkennen, wie sie die Forschung als Erscheinung des High modernism der 1950er und 1960er deutet. Allerdings prägten die Umstände des tansanischen Unabhängigkeitsprozesses die Vorgänge auf der Insel so gravierend, dass fraglich scheint, ob sich das Rubondo-Projekt allein als Manifestation des High modernism begreifen lässt – oder nicht vielmehr als spezifisches Produkt der Dekolonisationsdynamik verstanden werden sollte. Darüber hinaus scheint an Rubondo eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen nach dem historischen Wandel von Mensch-Tier-Beziehungen und seinen Einflussgrößen auf, für deren Diskussion hier nicht der Ort ist. Festgehalten sei aber: Die als wild, ursprünglich und paradiesisch beworbene Natur Rubondos ist nicht nur Produkt gestalterischer Eingriffe durch Menschen, sondern zugleich Ausprägung eines historisch gewordenen, ideologisch überformten und kolonial beziehungsweise postkolonial situierten Verständnisses von Wildnis und Wildtieren.
27 | J.A. Carter: A Journey to Freedom; O. Soave: The Rehabilitation of Chimpanzees and Other Apes, S. 4.
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Abb. 2: Mitarbeiter der Wildbehörde im Juni 1966 beim Aussetzen von Schimpansen am Ufer von Rubondo.Quelle: Prof. Bernhard Grzimek/OKAPIA
D ort sein Heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn der Tierumsiedlungen, ist die Insel noch immer für den Tourismus zugänglich. Angesichts ihrer relativen Abgelegenheit verschlägt es nur wenige Touristen und Touristinnen dorthin, weswegen auch keine regelmäßigen Flüge angeboten werden – zumindest nicht außerhalb der Hauptsaison für Tierbeobachtungsreisen im Juli und August. Für zahlungswillige Passagiere legt allerdings das Kleinflugzeug, das regelmäßig zwischen Mwanza und Bukoba verkehrt, eine Zwischenlandung auf Rubondo ein. Auf diesem Weg bin im März 2015 auch ich auf die Insel gelangt. Um eine Grundlage für eine Reflexion des Aufenthalts zu schaffen, gebe ich im Folgenden einen – für die Veröffentlichung redigierten und ins Reine geschriebenen – Auszug aus meinem Forschungstagebuch wieder. Obgleich in der Geschichtswissenschaft nicht weit verbreitet, scheint mir diese Form der hier diskutierten Sache angemessen, ermöglicht sie doch ein Nachvollziehen zeitnah notierter Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken, auf die ich im Weiteren Bezug nehme. Wie im Auszug unschwer zu erkennen, war meine Wahrnehmung durch Annahmen und Erwartungen geprägt, wie sie sich aus der Rahmung meiner Forschung ergeben.
Rubondo und eine Reise dor thin Samstag, der 14. März In der kleinen Abfertigungshalle von Mwanza flimmern Nachrichten über einen Bildschirm. Vor 20 Jahren, heißt es dort, wurde J urassic Park zum bis dahin erfolgreichsten Film aller Zeiten. Ob zwischen Rubondo und der Insel des Films eine Verwandtschaft besteht? Der Tag heiß und schwül, wie so oft. Abflug um 13 Uhr, Landung auf der Sandpiste von Rubondo eine halbe Stunde später. Umliegende Wiesen strahlen in der Mittagssonne in einem bleichen Grün so hell, dass sie blenden. Fahrt zur Unterkunft im Jeep eines leutseligen Parkwächters. 68 Mitarbeiter der Behörde, so erzählt er, leben dauerhaft auf der Insel, manche mit Familie. Joel [der mich auf dieser Reise begleitet hat] und ich kommen in einer Hütte am Ufer der Kasesa-Bucht unter, in der sich einige Flusspferde treiben lassen. Eine träge Stille ruht über allem. Am Nachmittag eine Wanderung in den Wald, der hier sehr hügelig ist – und alles andere als still. Am lautesten sind die Insekten. Eine Art erzeugt einen schrillen, durchdringenden Dauerton, ähnlich dem einer Kreissäge. E., unser Führer, wirkt mit olivgrüner Uniform, Kampfstiefeln und Kalaschnikow ausgesprochen soldatisch. Letztes Jahr sind Wildhüter bei einer Art Feldzug gegen Wilderer wie marodierende Militärs durch den Norden Tansanias gezogen, doch E. mit seiner sanften Stimme möchte man nicht zutrauen, dabei gewesen zu sein. Er zeigt uns umgerissene Bäume – das Werk von Elefanten, die so an die Früchte der höchsten Äste gelangen. Dann ein Felsen, der den Zinza einst als heilige Stätte diente und unter dem ein erhalten gebliebenes Gefäß von ihren Ritualen zeugt. Auf dem Rückweg führt uns E. zur Küste, wo der Wind eine stetig rauschende Brandung ans Ufer treibt. Es klingt nach Meer und riecht doch nach See. An manchen Stellen schwemmt das graublaue Wasser Müll aus anderen Teilen des Sees an, vor allem Flaschen, Plastiktüten und Schuhe. Große Raubvögel kreisen in nur wenigen Metern Höhe. Am Abend nimmt die Hitze ab, viel stärker als in Dar es Salaam. Mit Einbruch der Dunkelheit schallt und vibriert der Wald immer stärker. Sonntag, der 15. März Am Vormittag eine längere Wanderung. Der heutige Führer, M., leitet uns durch das Innere der Insel an die Westküste. Es geht durch dunkle, alte Wälder und über Savannen, deren Terrain tatsächlich an J urassic Park erinnert. Für ein Paradies ist es deutlich zu heiß. Erneut sehen wir von Elefanten umgerissene Bäume – aber nicht nur solche, die Früchte tragen. M. erklärt, dass Elefanten Bäume auch auf der Flucht umreißen, um ihren Verfolgern den Weg zu versperren. Die Parkwächter lesen solche Bäume als Spuren der Präsenz von Wilderern, weil Elefanten auf Rubondo nur vor ihnen flüchten. Als hätten sie unser Kommen erwartet, umschwärmen uns unzählige Libellen, sobald wir sandige Böden betreten. Im Staub, den unsere Schritte aufwirbeln, erbeuten sie Kleinstinsekten. Betreten wir Gras, verschwinden sie so unversehens, wie sie gekommen sind. Im Wald begegnen wir Meerkatzen und Buschböcken; Letztere machen sich aufgeregt
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Felix Schürmann davon, wenn wir uns nähern. Dann, auf einer Baumrinde fast nicht zu erkennen, eines der Insekten, von denen das Kreissägengeräusch herrührt. Es ist wohl eine Zikade. Wie kann ein so kleines Tier einen so ohrenbetäubenden Lärm erzeugen? Während einer Pause am Rande einer lichten Sumpflandschaft greift M. zum Handy – und telefoniert. Eigens für das Personal, so erklärt er später, wurde ein Handymast aufgestellt. Nachmittags eine Fahrt mit dem Jeep in den Norden. Wir begegnen Flusspferden, Buschböcken, entrückt dreinblickenden Giraffen und einem Waran, der sich mühsam über trockene Erde schleppt. Schließlich hören wir recht laut eine Gruppe Schimpansen, die sich aber nicht zeigt. Rhinozerosse sehen wir keine. Es gibt sie nicht mehr, meinen die Parkwächter. Einige seien Wilderern zum Opfer gefallen, die übrigen auf andere Weise gestorben. Die Fahrt endet am Hauptquartier der Parkwächter, wo sich auch eine Art Friedhof für Holzboote befindet, die Wilderern abgenommen wurden. Hier verrotten sie nun. Montag, der 16. März Als wir mit dem Sonnenaufgang aufstehen, ist Rubondo längst erwacht. Die Nilpferde schwimmen in der Bucht und haben sich ausweislich ihrer Spuren direkt an unserer Hütte vorbei dorthin begeben. Recht nahe lassen sich nun auch einige Grünmeerkatzen und ein Buschbock sehen. Letzterer scheint zutraulich und nähert sich auf wenige Meter, während wir frühstücken. Ob Touristen ihn gefüttert haben? Ich schaue den Bock fragend an, doch der kaut nur gleichgültig auf seinem Gras herum. Um 9:30 Uhr mit dem Jeep zur Flugpiste, wo heute wieder ein Flugzeug aus Bukoba landen soll. Auf einer Karte im Wartehäuschen lassen sich unsere Wanderwege der vergangenen Tage ablesen. Es sind winzig kurze Linien. Nach einiger Zeit landet eine Maschine, doch es ist das Aufklärungsflugzeug der Parkwächter. Heute haben sie noch keine Wilderer entdeckt, berichten die Männer. Einer, sehr jung und wohl zum ersten Mal dabei, lässt sich von den anderen stolz vor seinem Arbeitsgerät fotografieren. Eine halbe Stunde später landet das Flugzeug aus Bukoba. Der Pilot beschwert sich bei den umstehenden Parkwächtern energisch über die hohen Bäume in der Einflugschneise. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis ein Unglück geschehe, meint er, und schimpft über Sparsamkeit am falschen Platz. Wenige Minuten später sind wir in der Luft. Während Rubondo kleiner und kleiner wird, scheint sich der See am Horizont immer nur weiter zu vergrößern.
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Abb. 3: An der Felsformation Ntungamirwe, einer von mehreren heiligen Stätten der Zinza, hat die Parkbehörde ein Gefäß bewahrt, das bei religiösen Opfergaben Verwendung gefunden haben soll. Quelle: Felix Schürmann
H ier sein Zurück am heimischen Schreibtisch stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Reise nach Rubondo nun zukommen, welchen Nutzen, Ertrag oder Vorteil sie gehabt haben mag. Ganz allgemein lässt sich mit Martin Heidegger annehmen, dass das Dort-gewesen-sein dazu befähigt, sich Rubondo zu vergegenwärtigen: Erst die sinnliche Erfahrung eines Ortes ermöglicht demnach dessen Vergegenwärtigung und Erinnerung – und mithin den Gebrauch der dem Menschen eigenen Fähigkeit, leibhaftig an einem und zugleich gedanklich bei einem anderen Ort zu sein, also das Dort-sein in das Hier-sein zu integrieren.28 Gedanklich bei einem Ort zu sein, an dem man nicht leibhaftig gewesen ist, gilt Heidegger hingegen nicht als Vergegenwärtigung, sondern als Einbildung oder Illusion.29 Für die geschichtswissenschaftliche Forschung, die von nicht wenigen, die sie betreiben, als Vergegenwärtigung von Vergangenem betrachtet wird – Schlögel etwa spricht von »Vergegenwärtigungsarbeit«30 –, ist dies eine bedeutsame Unterscheidung, auf die ich im Weiteren noch zurückkomme. Hinsichtlich der Reise nach Rubondo sei zuvor festgehalten, dass ihre Vergegenwärtigung eine Gegenwartsoperation ist, die nicht auf die Zeit der untersuchten Vorgänge referieren kann. Vermag diese Gegenwartsoperation dennoch zum Gewinn von Einsichten in die Vergangenheit der Insel beizutragen? 28 | M. Heidegger: Zollikoner Seminare, S. 141. 29 | Ebd., S. 86-104, 215f. 30 | K. Schlögel/W. Sperling/A. Kraus: Abenteuer des Lebens, S. 50.
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Historische Quellen im konventionellen Sinne ließen sich auf Rubondo ebenso wenig finden wie Ruinen. Und niemand dort konnte von der fraglichen Zeit berichten: Die Parkwächter wechseln jeweils nach wenigen Jahren den Einsatzort und die Tiere erzählen nicht von ihrer Vergangenheit. Auch ließen sich auf Rubondo nicht die Sinneserfahrungen nacherleben, die Wildhüter, Artenschützer oder Zinza dort in den 1960er Jahren machten. Zwar mögen sich die Laute der Tiere, der Geruch des Sees oder die allgegenwärtige Hitze seitdem nicht wesentlich verändert haben. Doch das Rubondo der Gegenwart ist ein anderer Ort als das der Vergangenheit. Allein der Umstand, dass man dort heute mit einem Mobiltelefon in die ganze Welt kommunizieren kann, verweist eindrücklich darauf, wie gravierend sich die Raum-Zeit-Konstellation gewandelt hat. Wäre es also möglich, eine Geschichte von Rubondo zu schreiben, ohne dort gewesen zu sein? Zweifelsohne. Und doch wäre dies eine andere Geschichte als eine, die unter den Eindrücken des Feldaufenthalts entsteht. Zu diesen Eindrücken zählt etwa die Beobachtung, dass Menschen und menschliche Artefakte auf der Insel präsenter sind, als die überlieferten Schriftquellen – und die Geltung von Rubondo als unberührte Wildnis – es vermuten ließen. Das Personal der Nationalparkbehörde dürfte sich mit den Familienangehörigen und den Mitarbeitern einer privaten Luxus-Lodge, die 2012 an der Ostküste der Insel eröffnet wurde, auf eine Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich summieren. Gegenüber der Zeit vor der Aussiedlung der Zinza hat sich die Größe der menschlichen Bevölkerung also nur unwesentlich verändert. Obgleich Rubondo den Tieren gehören soll, wird es doch von Menschen bewacht und besessen. Die regelmäßigen Jeep-, Boots- und Flugzeugpatrouillen der Parkwächter verleihen dem einen weithin sicht- und hörbaren Ausdruck. Die Umgestaltung der Insel in ein Tier-Refugium hat sie nicht in eine Alternative zu, sondern in eine Variante von menschlicher Tier- und Naturbeherrschung verwandelt. Die Gebäude der Nationalparkbehörde, die von den Parkwächtern angelegten Wege, die Hinterlassenschaften der Zinza, die Boote der Wilderer (Abb. 4) und selbst der angeschwemmte Müll ließen sich im Sinne des eingangs referierten Arguments von Schlögel als Quellen betrachten – als Artefakte, die Auskunft über die jüngere Geschichte von Rubondo geben können, so sie in geeigneter Weise befragt werden. Unter dem Eindruck der eigenen Reise gehen meine Überlegungen allerdings dahin, nicht nur diese anthropogenen Artefakte, sondern auch die dort vorgefundenen biotischen Daseinsformen und ihre Überreste als Träger von Zeichen zu betrachten – und mithin die dichotomistische Unterscheidung zwischen beiden Kategorien in Zweifel zu ziehen. Denn die Gestalt der Tierwelt von Rubondo weist einen artifiziellen Anteil auf. Fraglos handelt es sich bei den dortigen Giraffen, Elefanten oder Schimpansen um natürliche, gewachsene Wesen, die sich fortpflanzen und evolutionär verändern. Doch ihre Präsenz und ihr Zusammenleben auf der Insel resultieren
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aus dem planerischen Handeln von Menschen, die das Natürliche im Sinne einer kulturellen Zielsetzung mit technischen Mitteln zugerichtet und dabei ein Ökosystem ersonnen und ausgestaltet haben, das es in dieser Form nie zuvor gegeben hat. Wie in Wildparks, Stadtwäldern oder Landschaftsgärten vermengt sich das Natürliche mit dem Kulturellen, Technischen und Künstlichen zu einer Naturkultur, die vermeintliche Gewissheiten über den Unterschied zwischen Gewordenem und Gemachtem infrage stellt.31 Für die Geschichtswissenschaft ist die Beschäftigung mit Grenzphänomenen dieser Art nicht neu, man denke nur an agrargeschichtliche Forschungen etwa zu Landwirtschaft, Tierzucht oder Forstverwaltung. Mit Blick auf aktuelle Debatten der Tier- und Umweltgeschichtsschreibung kann es allerdings gewinnbringend sein, über die bereits vielfach vorgenommene Problematisierung der Grenzziehung zwischen Natur- und Kulturlandschaften hinaus auch die Unterscheidung zwischen dem zeichentragenden Artefaktischen und dem zeichenlosen Biotischen, zwischen menschlichen »Spuren« und tierlichen »Fährten« infrage zu stellen. Denn womöglich verlangt das Erzählen von Geschichten, in denen Tiere mehr als bloß Kulissenelemente auf einer Bühne menschlicher Handlungen sein sollen, einen veränderten Begriff davon, was Geschichte sein und wie man Kenntnis von ihr erlangen kann. Tiere überliefern keine Schriftquellen, überhaupt überliefern sie keine Artefakte. Um dennoch Kenntnis über die Tiere der Vergangenheit zu erlangen, behelfen sich Historiker und Historikerinnen gewöhnlich damit, Informationen über Tiere aus menschlichen Überlieferungen herauszufiltern – also archivalische Schriftquellen »zwischen den Zeilen« oder »gegen den Strich« zu lesen32, wie dieses Vorgehen in den etwas angestaubten Metaphern älterer Methodendebatten heißt. Da es aber zum Selbstanspruch der auf Tiere orientierten Geschichtsschreibung gehört, Beziehungen zwischen Menschen und Tieren als wechselseitig relationale Einflussnahme zu betrachten und nicht etwa bloß als uni-
31 | Siehe zum Begriff der »Naturkultur« vor allem D. Haraway: The Companion Species Manifesto. Jüngere Forschungen diskutieren die Grenzverwischung zwischen Gewordenem und Gemachtem verstärkt im Hinblick auf Gegenständliches. Zu dieser Debatte um »Biofakte« zwischen Artefakt und Lebewesen siehe insbesondere die Beiträge in N.C. Karafyllis: Biofakte. Über den artifiziellen Charakter der Wildnis von Rubondo waren sich die verantwortlichen Akteure übrigens im Klaren – Achard sprach bereits 1961 von einem »artificial game reserve«. (P.L. Achard an B.G. Kinloch, 21.11.1961. TNA, Acc. 599, GD/14/18, Game Catching for Translocation and Restocking by Game Dept.) 32 | Siehe für diesen Methodendiskurs etwa M. Roscher: Where is the Animal in this Text?; A. Steinbrecher: In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede.
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direktionale Machtentfaltung der einen auf die anderen33, wäre es konsequent, den Anthropozentrismus auch in der Materialerhebung zu problematisieren und die Suche nach historischen Quellen nicht auf anthropogene Artefakte zu beschränken. So ließen sich beispielsweise die vergleichsweise kleinen Stoßzähne, die Elefanten im südlichen Afrika heute tragen, als Zeichen der Geschichte der Elefantenjagd deuten, in der sich große Zähne als Überlebensnachteil für die Tiere erwiesen haben.34 Auf Rubondo können die Überreste der Bäume, die Elefanten bei der Flucht umgerissen haben, als Zeichen der jüngeren Geschichte der Wilderei betrachtet werden. Überdies wurden manche Fruchtbäume, die sich heute auf der Insel finden lassen, dort von den Zinza angepflanzt und lassen sich als Spuren ihrer Geschichte lesen. Stoßzähne, Bäume, Früchte – all dies lässt sich als Fundus zeichentragender Überreste einer geteilten Geschichte von Tieren und Menschen betrachten. Nicht zuletzt sind auch die Körper der nach Rubondo umgesiedelten Tiere und ihrer Nachkommen selbst lebende Zeugnisse dieser Geschichte. Sie als Überreste vergangener Zeiten auszudeuten bedarf freilich einer angemessenen Verfahrenstechnik – und womöglich der Zusammenarbeit mit anderen, gerade auch mit naturwissenschaftlichen Disziplinen.
Abb. 4: Einer von mehreren Bootsfriedhöfen zeugt von den Versuchen von Wilderern, nach Rubondo zu gelangen beziehungsweise vor der Insel zu fischen. Quelle: Felix Schürmann
D ie grosse I llusion Im ersten Kapitel seines Moby-Dick beschreibt Herman Melville einen Sonntagnachmittag in Manhattan Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus allen Stadtteilen 33 | Siehe zu diesem Selbstanspruch etwa G. Krüger: Das koloniale Tier, S. 74f. 34 | D.W. Coltman et al.: Undesirable Evolutionary Consequences of Trophy Hunting.
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ziehen Menschen in Scharen an die Kaimauern. Manche richten ihre Blicke auf die Schiffe und das geschäftige Treiben im Hafen. Weitaus mehr aber betrachten das Wasser, das sich im Südwesten am Horizont zum Ozean öffnet. Sie alle verbringen ihr Leben hinter Werkbänken, Ladentheken oder Schreibtischen. Sie alle werden dem Horizont wohl nie näher kommen als an diesem Ufer. Das offene Meer und das, was dahinter liegt, bleiben Wirklichkeitsbereiche außerhalb ihrer Erfahrungsmöglichkeiten. Warum starren sie auf das Wasser?35 Eine mögliche Antwort deutet Melville im Titel des Kapitels an: »Loomings«. Ein Looming ist eine mehrfache Luftspiegelung, für die es im Deutschen das wenig geläufige Wort »Kimmung« gibt. Im Aufeinandertreffen warmer und kalter Luftmassen brechen die Lichtstrahlen der Sonne und erzeugen in der Luft verzerrte und vergrößerte Spiegelbilder von entfernten Objekten am Boden. Das Phänomen kann überall dort auftreten, wo eine kalte Luftschicht am Grund von einer heißen Luftschicht überlagert wird. Besonders häufig tritt es über dem Meer auf. Ein Looming erzeugt eine phantastische Atmosphäre. Es kann Dinge zu erkennen geben, die sich jenseits der eigenen Sichtweite befinden, hinter dem Horizont. Dadurch verändert es das Raumgefühl, ähnlich wie in einem Traum oder bei einem Rauscherlebnis. Grenzen, denen die menschliche Wahrnehmung unterworfen ist, scheinen für einen Moment überwunden. Im Lichte des Titels lässt sich Melvilles Schilderung dahingehend deuten, dass die »water-gazers« auf das Meer sehen, um eigentlich über es hinweg zu sehen – durch das Erspähen einer Luftspiegelung, durch die Hingabe an einen Tagtraum, durch Kontemplation.36 Ein leibhaftiges Entweichen aus ihrem Hier-sein wird ihnen dadurch nicht möglich, es bleibt Illusion. Doch die Illusion ermöglicht ihnen ein kognitives und affektives Entweichen – und ist mithin lebensdienlich. Historiker und Historikerinnen stehen vor der Vergangenheit wie Melvilles »water-gazers« vor dem Meer. Nur einen marginalen Teil können sie auf der Grundlage eigener Erfahrungen vergegenwärtigen und erinnern. Den übergroßen Teil, der jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts liegt, vermögen sie nicht in gleicher Weise in ihr Hier-sein zu integrieren. Er bleibt dem sinnlichen Erleben verschlossen und die eigene Beziehung zu ihm bleibt überaus indirekt. Zwischen dem erkenntnissuchenden Subjekt und dem Objekt seines Erkenntnisinteresses lässt sich eine unmittelbare Beziehung durch Feldaufenthalte so wenig herstellen wie durch Quellenlektüren oder Oral History-Interviews. Geschichte, wie sie die Wissenschaft von ihr hervorbringt, ist nicht 35 | H. Melville: Moby-Dick, S. 1f. 36 | In dieser Deutung des Kapitels folge ich John R. Stilgoe (Alongshore, S. 23f.), für eine andere Lesart siehe etwa C. Holtorf: Das ozeanische Gefühl, S. 72.
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Vergegenwärtigung – zumindest nicht im Sinne Heideggers –, sondern Repräsentation von Vergangenheit: Poetisch konstruierte Erzählungen, die Vergangenes nach einem konventionalisierten Regelsystem zu Geschichte werden lassen und in einem interpretativen Akt mit der Gegenwart verflechten.37 Die Referenten der Methodik, die diesem Verfahren zugrunde liegt, sind nicht vergangene Zeiten selbst, sondern ihre Überreste. Der Historiker Hans-Jürgen Goertz: »Von der Vergangenheit kann paradoxerweise nur erkannt werden, was an ihr nicht vergangen ist.«38 In der Beschäftigung mit dem, was nicht vergangen ist, scheint Vergangenes wie ein Looming am Erkenntnishorizont auf und bleibt doch unerreichbar. Erreichbar sind allein die Überreste, die in weitaus vielfältigeren Formen existieren, als es das gebräuchliche Verständnis von »historischen Quellen« annehmen lässt.39 Indem Feldaufenthalte in der Natur und unter Wildtieren Historikern und Historikerinnen dazu verhelfen, auch im Biotischen einen Fundus zeichentragender Überreste zu erkennen, erweitern sie die Möglichkeiten des Fragens, des Reflektierens, des Zugangs und mithin der Einsicht. Die sinnlichen Erfahrungen solcher Aufenthalte ermöglichen kein Nacherleben von Vergangenem, können aber dazu beitragen, das eigene Vorstellungsvermögen zu erweitern, Neugier anzuregen und Einfallsreichtum auszubilden. Durch Feldaufenthalte angeregte Illusionen einer Vergangenheitserfahrung verhelfen mithin dazu, die eigenen Repräsentationen um Effekte einer Vergangenheitserfahrung anzureichern – und damit Oberflächenqualitäten zu erzeugen, wie sie etwa Gumbrecht als Anforderung an eine Geschichtsschreibung auf der theoretischen Höhe der Zeit betrachtet.40 Es sind diese Qualitäten, die Repräsentationen als Vergegenwärtigungen erscheinen lassen. »Nichts wird für uns am Horizont leuchten, wenn wir ihm nicht selbst ein Stück entgegenkommen«, hat der Historiker Greg Dening im Hinblick auf das Looming als Erkenntnismetapher angemerkt.41 Sich dem Horizont im Bewusstsein zu nähern, ihn nie erreichen zu werden, ist gewissermaßen das Schicksal der Disziplin. In den Worten Gumbrechts: »Eine historische Kultur kann nicht anders leben als zwischen ihrem Bemühen um Erfüllung dieses PräsenzWunsches [nach direkter Vergangenheitserfahrung – F. S.] und dem Bewußtsein, daß es unmöglich ist, diesen selbst erteilten Auftrag zu erfüllen.«42 Die eingangs gestellte Frage nach dem Nutzen des historischen Feldaufenthalts und der Bedeutung seines sinnlichen Erlebens möchte ich im Lichte dessen 37 | Ich folge hier G. Dening: A Poetic for Histories. 38 | H.-J. Goertz: Unsichere Geschichte, S. 95. 39 | G. Dening: The Death of William Gooch, S. 27. 40 | H.U. Gumbrecht: 1926, S. 460f. 41 | G. Dening: Tiefe Zeiten, tiefe Räume, S. 47. 42 | H.U. Gumbrecht: 1926, S. 463.
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in Abwandlung eines Satzes von Goertz 43 beantworten: Im Feldaufenthalt erfahren Historiker und Historikerinnen etwas von der Gegenwart, das ihnen dazu verhilft, sich eine Vorstellung von der Vergangenheit zu bilden und diese zu repräsentieren. Die aporetische Vorstellung, vergangene Wirklichkeiten unmittelbar nacherleben, sie wiederauferstehen lassen zu können – in Texten, an Gegenständen, im Film, auf Reisen –, ist die große, lebensdienliche Illusion der historischen Kultur. Der Feldaufenthalt ist ein nützliches Mittel, sie heraufzubeschwören.
A rchivalische Q uellen Tanzania National Archives, Daressalam 967.822.1 West Lake Province Annual Report 1960 Acc. 599, GD/14/18 Game Catching for Translocation and Re- stocking by Game Dept. Zoologische Gesellschaft Frankfurt Afrika, 00001970, Rubondo 3, Keller Regal 01021
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43 | »Im Experiment […] erfahren wir etwas von der Wirklichkeit, das uns in den Stand versetzt, uns eine Vorstellung von ihr zu bilden.« (H.-J. Goertz: Unsichere Geschichte, S. 87)
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Methodische Ansätze zur Qualitätssicherung in der angewandten Ethologie mit Beispielen aus einer Untersuchung zur Mensch-TierBeziehung bei Milchkühen1 Ute Knierim und Asja Ebinghaus
Z usammenfassung Verhaltensbeobachtungen oder -tests bei Nutztieren weisen ein relativ hohes Potenzial für Messabweichungen zwischen verschiedenen Forscher_innen auf, weil der notwendige Schritt der Beurteilung beispielsweise durch persönliche Erfahrung, Erwartungen oder durch unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeiten beeinflusst wird. Ähnlich wie bei Labormethoden ist es daher im Sinne der Qualitätssicherung von ethologischen Untersuchungen äußerst wichtig, durch genaue ›Messanweisungen‹, Training und Überprüfung der (Inter-Observer-)Reliabilität der angewandten Methoden den Messfehler so gering wie möglich zu halten und sicherzustellen, dass die Ergebnisse durch andere Personen reproduzierbar wären. Die Messanweisungen beinhalten eine transparente Darstellung der Methoden und Definitionen des zu beobachtenden Verhaltens. Die Forscher_innen sollten gewahr sein, dass die Durchführung sinnvoller Reliabilitätsprüfungen durchaus aufwendig sein kann, da eine ausreichende Zahl unabhängiger Stichproben notwendig ist und die verschiedenen Qualitäten oder Quantitäten des zu beurteilenden Verhaltens in ausreichendem Umfang vorkommen sollten. Bezüglich geeigneter statistischer Verfahren oder der Kriterien für eine akzeptable Übereinstimmung gibt es unterschiedliche Sichtweisen. In diesem Beitrag werden die Anwendung relativ einfacher statistischer Größen, Korrelations- und Kappa-Koeffizient, empfohlen, Anhaltspunkte für deren Beurteilung gegeben und konkrete Anwen1 | Teile des Beitrags sind publiziert als: Knierim, Ute: Qualitätssicherung bei ethologischen Untersuchungen – der Aspekt der Reliabilität, in: Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung, KTBL-Schrift 503, KTBL, Darmstadt 2013, S. 97-105.
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Ute Knierim und Asja Ebinghaus
dungsbeispiele aus einer Untersuchung zur Identifikation und Entwicklung reliabler Messgrößen der Mensch-Tier-Beziehung bei Milchkühen gegeben.
E inleitung Das systematische Beobachten von Fokustieren oder Tiergruppen und das Durchführen von Verhaltenstests, beispielsweise bezüglich der Reaktivität der Tiere gegenüber dem Menschen, sind wichtige ethologische Methoden. Allerdings wird ihnen häufig angelastet, es handele sich nicht um exakte Messungen, sondern um subjektive Beurteilungen. Diese Behauptung ist teilweise berechtigt. Mit den genannten Methoden soll in den meisten Fällen die quantitative Ausprägung von spezifischem Verhalten erfasst werden; es handelt sich also selbstverständlich um Messungen. Allerdings ist der mögliche Einfluss der beobachtenden Person sicherlich größer als zum Beispiel bei einer Längenmessung mit dem Metermaß. Selbst wenn bei der Längenmessung bei ungenauen Messanweisungen durchaus Abweichungen zwischen den Ergebnissen verschiedener Personen auftreten können, so liegt bei den genannten ethologischen Methoden ein größeres Potenzial für Messabweichungen vor. Denn zunächst müssen eine Beurteilung des Wahrgenommenen und eine Einordnung in Verhaltenskategorien erfolgen, um dann Zahl, Dauer, Ausmaß oder Abfolge zu erfassen. Abgesehen von möglichen Messfehlern im letzten Schritt, kann die davor liegende Beurteilung durch persönliche Erfahrung, Erwartungen oder durch unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeiten beeinflusst werden. Ähnlich wie bei Labormethoden ist es daher im Sinne der Qualitätssicherung von ethologischen Untersuchungen äußerst wichtig, durch genaue ›Messanweisungen‹, Training und Überprüfung der Zuverlässigkeit (Reliabilität) der angewandten Methoden den Messfehler so gering wie möglich zu halten und sicherzustellen, dass die Ergebnisse durch andere Personen reproduzierbar wären. Daneben sollte die Datenerfassung so weit wie möglich ›blind‹ beispielsweise hinsichtlich der Zuordnung zu vorangegangenen Behandlungen der Tiere erfolgen.2 In der ethologischen Forschung besteht in dieser Hinsicht noch erhebliches Verbesserungspotenzial. So fanden Kaufmann und Rosenthal (2009) in nur vier von 100 relevanten Artikeln, die 2008 in der renommierten Zeitschrift Animal Behaviour veröffentlicht wurden, Angaben zur Reliabilität der Verhaltensbeobachtungen. In sieben Beiträgen waren sogar Daten durch mehrere Beobachter_innen erfasst worden, ohne Reliabilitätsaspekte zu adressieren. Sie sprechen sich nachdrücklich dafür aus, diesem Aspekt zukünftig deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zu vergleichbaren Er-
2 | P. Martin/P. Bateson: Measuring behaviour; G.M. Burghardt et al.: Perspectives.
Methodische Ansät ze zur Qualitätssicherung in der angewandten Ethologie
gebnissen und Schlussfolgerungen kommen Burghard et al. (2012) aufgrund einer ausgedehnteren Untersuchung ethologischer Arbeiten. Selbstverständlich ist die Reliabilität der Beobachtungen nicht der einzige Aspekt bei der Qualitätssicherung ethologischer Untersuchungen. Genauso gehören auch eine klare Hypothesenformulierung, ein geeignetes Versuchsdesign, valide Messgrößen und eine angemessene Interpretation der Ergebnisse dazu.3 Es gibt einige sehr empfehlenswerte allgemeine Anleitungen für die Durchführung ethologischer Arbeiten, wie das Textbuch von Martin und Bateson (2007), von Dawkins (2007) oder von Lehner (1996). Im vorliegenden Beitrag wird der Blick lediglich auf die Qualitätssicherung ethologischer Methoden anhand des Erstellens der Messanweisungen, des Trainings und der Überprüfung der Reliabilität gelegt. Dazu werden konkrete Anwendungsbeispiele aus Untersuchungen zur Identifikation und Entwicklung reliabler Messgrößen der Mensch-Tier-Beziehung (MTB) bei Milchkühen (im Rahmen des LOEWE-Teilprojektes »Mensch-Tier-Beziehung bei Milchkühen«) dargestellt. Die Zielsetzung dieses Projektes ist es, Messgrößen zu identifizieren bzw. zu entwickeln, die unter unterschiedlichen Management- und Haltungsbedingungen zuverlässige Rückschlüsse auf die Reaktivität der Tiere gegenüber dem Menschen zulassen und die zudem als Zuchtmerkmal, also integriert in die routinemäßigen Abläufe der linearen Beschreibung im Rahmen der Zuchtwertschätzung, anwendbar sind. Untersuchungen zur Überprüfung der Reliabilität verschiedener MTB-Messgrößen wurden von Mai bis Juli 2014 auf drei nordhessischen Milchviehbetrieben mit Laufstallhaltung und Herdengrößen von 45 bis 195 Kühen der Rassen Holstein Friesian und Deutsches Schwarzbuntes Niederungsrind durchgeführt. Bei den Kühen wurden einerseits die Ausweichdistanzen (AD) gegenüber einer unbekannten Person am Fressgitter und im Laufstall gemessen, welche als etablierte Verhaltenstests zur Beurteilung der MTB gelten. Weiterhin wurden innovative MTB-Messgrößen entwickelt und auf ihre Praktikabilität und Reliabilität überprüft: die Qualitative Verhaltensbeurteilung (QBA) der Kühe in einer Mensch-Tier-Interaktion, die Berührungstoleranz (BT), das Verhalten beim Freilassen aus der Fixierung und die Position und Form der Stirnhaarwirbel.4 Beispielhaft werden in diesem Beitrag die Erfassung der Ausweichdistanz am Fressgitter und der Berührungstoleranz sowie deren Überprüfung auf Inter-Observer-Reliabilität behandelt.
3 | Z.B. B. Wechsler: Optimierung. 4 | Zusammenhänge zwischen der Stirnhaarwirbelposition und dem Temperament bei Rindern wurden z.B. von T. Grandin et al. (1995) gefunden.
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E rstellen der M essanweisungen Neben der Wahl der anzuwendenden Methode, z.B. kontinuierliche Fokustierbeobachtung oder punktuelle Übersichtsbeobachtung5, ist eine genaue und sinnvolle Festlegung der Verhaltenskategorien notwendig. Die Festlegung dieser Kategorien erfolgt idealerweise anhand dreier Kriterien: 1. anhand der Fragestellung oder Hypothese, 2. anhand der Literatur und 3. anhand von Pilotbeobachtungen oder -beurteilungen. Während das erste Kriterium auf den ersten Blick profan erscheint, ist es dennoch häufig eine Herausforderung, den angemessenen Grad der Detaillierung festzulegen: Reicht es z.B. nur zu erfassen, ob eine Verhaltensreaktion des Tieres erfolgt, oder soll ihre Frequenz, Dauer oder Intensität erfasst werden? Häufig werden die Daten sehr viel detaillierter erfasst, als sie dann am Ende in die statistische Auswertung eingehen. Das ist an sich kein Fehler – immerhin kann der umgekehrte Weg nicht beschritten werden. Wenn nur grob erfasst wurde, können nachträglich keine Detailinformationen mehr gewonnen werden. Allerdings kann sich eine sehr detaillierte Erfassung negativ auf die Zuverlässigkeit auswirken, nämlich wenn die beobachtende Person durch ein sehr herausforderndes Beobachtungsschema überfordert wird oder wenn die Abgrenzung zwischen zwei Kategorien so schwierig wird, dass Zufallszuordnungen entstehen. Solche Probleme treten bei der Überprüfung der Reliabilität unweigerlich zutage. Dennoch sollte sich bereits vorher im Sinne der Untersuchungseffizienz kritisch überlegt werden, welche Informationen tatsächlich zur Beantwortung der Forschungsfragen nötig sind. Das zweite Kriterium ist ebenso wichtig: Wie wurden die gewünschten Informationen in vorherigen Untersuchungen erhoben? Es ist eine gewisse Tendenz festzustellen, dass jede Arbeitsgruppe ihre eigenen Verhaltenskategorien erstellt. Das ist aus menschlicher Sicht verständlich; schließlich ist keine Vorgehensweise perfekt und jeder möchte einen Beitrag zur Verbesserung leisten. Allerdings ist dann ein Vergleich der Ergebnisse mit anderen Arbeiten praktisch unmöglich, was einen erheblichen Nachteil für die Interpretation der eigenen Ergebnisse und den allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn darstellt. Pilotbeobachtungen ermöglichen letztlich auch eine Überprüfung der Praktikabilität der Beobachtungen und eine Verfeinerung der Definitionen der entsprechenden Kategorien, die ein zentraler Aspekt der Messanweisungen sind. Immer wieder ist festzustellen, dass publizierte Definitionen nicht ausreichen, um die Untersuchungen eindeutig zu reproduzieren. Wichtig ist, dass sämtliche Kriterien aufgeführt werden, anhand derer die Zuordnung zu einer 5 | P. Martin/P. Bateson: Measuring behaviour.
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bestimmten Kategorie erfolgt. Generell sollen interpretative Beschreibungen vermieden werden. Dies wäre z.B. eine Definition wie »Furcht der Tiere bei der Berührung durch den Menschen«. Hier müssten im Einzelnen die Anzeichen für Furcht benannt werden wie »Ausweichen« oder »Anheben der hinteren Gliedmaße«. Für Einordnungen der Intensität eines Verhaltens müssen klare Anhaltspunkte gegeben werden, also eine genaue Beschreibung des beobachtbaren Verhaltens.
E rstellen der M essanweisungen zur U ntersuchung der M ensch -Tier -B eziehung Kriterium 1: Abgeleitet von der Zielsetzung der Untersuchungen, sollten die MTB-Messgrößen bei einer praktikablen und zeiteffizienten Anwendung reliable Ergebnisse liefern, die die Reaktivität der Tiere gegenüber dem Menschen in einer guten Auflösung abbilden können. Es sollen also nicht nur extreme Unterschiede zwischen den Tieren deutlich werden, sondern auch Abstufungen von sehr reaktiv bzw. sehr furchtsam bis nicht reaktiv bzw. nicht furchtsam. Kriterium 2: Im Vorfeld der Untersuchungen wurden die methodischen Zugänge zur Erforschung von Temperament und Reaktivität von Rindern gegenüber unbekannten Stimuli im Allgemeinen und im Rahmen der MenschTier-Beziehung im Speziellen in der wissenschaftlichen Literatur recherchiert. Die AD wurde bereits in zahlreichen Untersuchungen zu Milchkühen angewendet und eine ausreichende Inter-Observer-Reliabilität mehrfach erzielt.6 Auch im internationalen Welfare Quality®-Protokoll für Rinder wird die AD zur Beurteilung der Mensch-Tier-Beziehung herangezogen.7 In der hier präsentierten Untersuchung wurde die Vorgehensweise zur Messung der AD von Welfare Quality® übernommen. Das Messen der BT wurde basierend auf der Vorgehensweise bei Untersuchungen des Temperamentes von Mastrindern in Handling-Situationen8 zur Anwendung unter Praxisbedingungen bei Milchkühen adaptiert. Kriterium 3: Da die Methode zur Messung der AD aus der Literatur übernommen werden konnte, waren hierzu keine Pilotbeurteilungen notwendig. Anders bei der Messung der BT: Nach der theoretischen Entwicklung wurden Pilotbeurteilungen an den Milchkühen auf dem Lehr- und Forschungsbetrieb 6 | Z.B. S. Waiblinger et al.: Assessing the human-animal relationship.; I. Windschnurer et al.: Reliability; I. Windschnurer et al.: Reliability of an avoidance distance test. 7 | Welfare Quality, 2009. 8 | Z.B. T. Grandin: Behavioral agitation; K.O. Curley et al.: Exit velocity; S. Hoppe et al.: Temperament Traits.
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der Universität Kassel durchgeführt. Zur Beurteilung der BT wurden zwei Varianten der taktilen Interaktion während der Fixierung der Kühe im Fressgitter getestet: (1) das Streichen am Euter und (2) das Streichen über Rücken und Flanke. Bereits in der Pilotphase zeigte sich, dass Variante 1 ein deutliches Sicherheitsrisiko für die Versuchsperson darstellen kann. Die Reaktionen der Kühe, insbesondere der Erstlaktierenden, sind teilweise unvorhersehbar und mit heftigem, schnellem Ausschlagen verbunden. Für den routinemäßigen Einsatz unter Praxisbedingungen wurde diese Variante daher als ungeeignet eingestuft. Die Variante 2 des Berührungstoleranz-Tests stellte sich hingegen als praktikabel heraus und sollte weiter auf Inter-Observer-Reliabilität überprüft werden. Die Pilotbeurteilungen zeigten aber auch, dass genauere Definitionen der Verhaltenskategorien notwendig waren, um abweichende Zuordnungen durch unterschiedliche Beobachter_innen zu vermeiden.
Tr aining der B eobachtungen oder B eurteilungen Vor dem eigentlichen Untersuchungsbeginn sollten die Beobachtungen praktiziert werden. Dabei sollen die erstellten Definitionen eine wichtige Rolle spielen. Sie können im Laufe des Trainings auch noch verbessert werden. Optimalerweise kann das gesamte Spektrum der erstellten Verhaltenskategorien beobachtet oder beurteilt werden, da dies eine zutreffende Zuordnung zu den Kategorien erleichtert. Das ist in der Praxis nicht immer leicht zu erreichen. Manchmal ist es notwendig, das Training mit Video-, mit Bildmaterial oder direkten Beobachtungen an anderen Tieren unter anderen Bedingungen zu ergänzen, auch wenn dies der geplanten Untersuchungsdurchführung nicht entspricht. Sind Videobeobachtungen geplant, ist es ohnehin ratsam, einige direkte Pilotbeobachtungen durchzuführen, um das Verhalten der Tiere in ihrer Gesamtumgebung besser einschätzen zu können.
Tr aining im R ahmen der U ntersuchungen der M ensch -Tier -B eziehung bei M ilchkühen Nach Abschluss der Pilotbeurteilungen und Anpassung der Verhaltenskategorien wurden die verschiedenen Messgrößen zur Beurteilung der MTB an den Milchkühen auf dem Lehr- und Forschungsbetrieb der Universität Kassel von den zwei Beobachterinnen, deren spätere Datenerfassung dann auch auf Inter-Observer-Reliabilität überprüft werden sollte, trainiert. Hilfreich war dabei vor allem der Austausch untereinander – sowohl hinsichtlich der eigenen Vorgehensweise (z.B. die Art und Weise des Zugehens auf das Tier im AD-Test) als auch hinsichtlich der Zuordnung zu Kategorien.
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Ü berprüfung der R eliabilität der B eobachtungen oder B eurteilungen Die Überprüfung der Reliabilität ist der Dreh- und Angelpunkt der MethodenQualitätssicherung. Hier erweist sich, ob Definitionen unklar oder missverständlich sind oder Verhaltenskategorien überhaupt zuverlässig erfasst werden können. Darüber hinaus zeigt sich, ob die gewählten Beobachtungsmethoden eine reproduzierbare Datenerfassung erlauben, ob beispielsweise bei einer kontinuierlichen Verhaltenszählung in einer Tiergruppe9 die Zielverhaltensweisen zuverlässig erkannt und quantifiziert werden. Für die Überprüfung der Reliabilität gibt es grundsätzlich zwei Wege: die Überprüfung der Intra-Observer-Übereinstimmung und die der Inter-Observer-Übereinstimmung. Zusätzlich kommt bei Verhaltenstests die Überprüfung der Test-Retest-Übereinstimmung infrage. Bei der Intra-Observer-Reliabilität wird überprüft, wie gut Beobachter_innen mit sich selbst übereinstimmen, also wie konsistent die Datenerfassung ist. Bei der Inter-Observer-Reliabilität geht es darum, wie gut zwei oder mehrere Beobachter_innen miteinander übereinstimmen. Bei der Test-Retest-Reliabilität werden dieselben Tiere denselben Tests in zeitlichem Abstand unterzogen und von derselben Person beobachtet. Sie dient vor allem der Beurteilung der Zuverlässigkeit des Tests, aber gleichzeitig auch der Intra-Observer-Übereinstimmung. Die Intra-Observer-Reliabilität ist ansonsten nicht bei Direktbeobachtungen anwendbar. Die Inter-ObserverÜbereinstimmung ist auch als wichtiges Maß anzusehen, wenn die Untersuchung nur durch eine Person durchgeführt werden soll. Nur so kann überprüft werden, ob die Ergebnisse intersubjektiv nachvollziehbar, reproduzierbar sind. Wird keine ausreichende Inter-Observer-Übereinstimmung erreicht, muss diese durch Verfeinerung der Definitionen, Änderung der Beobachtungskategorien, der Erhebungsmethoden oder durch zusätzliches Training verbessert werden. Oft kann es beispielsweise helfen, verschiedene Kategorien zusammenzulegen oder weniger Tiere auf einmal zu beobachten. Es kann sich auch herausstellen, dass eine Person für die Datenerhebung nicht geeignet ist, z.B. weil sie kurzsichtig ist oder andere Einschränkungen der Wahrnehmungsfähigkeit aufweist. In den Fällen, in denen trotz der geschilderten Maßnahmen keine ausreichende Reliabilität erreicht werden kann, sollte von der geplanten Datenerfassung abgesehen werden, da die zu erzielenden Ergebnisse nicht vertrauenswürdig sein werden. Zusätzlich ist es ideal, wenn die Intra- oder Inter-Observer-Reliabilität nicht nur vor einer Untersuchung überprüft wird, sondern auch noch einmal im Laufe der Untersuchung, da sich mit zunehmender Erfahrung die Zuordnungen zu den Kategorien ändern können. Besonders wichtig ist das, wenn meh9 | P. Martin/P. Bateson: Measuring behaviour.
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rere Beobachter_innen beteiligt sind, da es dadurch zu einem Auseinanderdriften in der Datenerhebung kommen kann. Bei der Durchführung der Reliabilitätsprüfung sind einige wichtige Punkte zu beachten: Damit eine statistische Überprüfung erfolgen kann, muss eine ausreichende Zahl möglichst unabhängiger Stichproben zur Verfügung stehen. Die anzustrebende Stichprobengröße ist abhängig vom angewandten statistischen Verfahren und der Durchführbarkeit, sollte aber als Daumenregel mindestens bei zehn liegen. Bei Verhaltensbeobachtungen, bei denen nicht mehrere Tiergruppen zur Verfügung stehen und es nicht um Fokustierbeobachtungen geht, werden nur kleinere Stichprobengrößen mit verhältnismäßigem Aufwand zu erreichen sein und es müssen hinsichtlich der Unabhängigkeit der Stichproben in der Regel Kompromisse eingegangen werden. Hier kann z.B. an mehreren Orten in einem Stall oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachtet werden, auch wenn diese Stichproben eigentlich nicht unabhängig voneinander sind. Die einzelnen Beobachtungsabschnitte müssen aus Praktikabilitätsgründen nicht sehr lang sein, es ist aber grundsätzlich wichtig, dass die spätere Erhebungssituation in ihrer ganzen Breite möglichst gut abgebildet wird. So sollte das Zielverhalten tatsächlich in unterschiedlichen Quantitäten bzw. Qualitäten auftreten, da sonst eine Reliabilitätsprüfung nicht möglich oder wenig aussagefähig ist. Für kategoriale Beurteilungen sollten die einzelnen Kategorien aus unten erläuterten Gründen darüber hinaus möglichst gleichmäßig vertreten sein. Hierfür sind manchmal ein größerer Organisationsaufwand und die Einbeziehung ergänzender Untersuchungsmaterialien oder -tiere notwendig (siehe unter Training). In manchen Fällen ist es auch nicht einfach, zwei oder mehrere Beobachter_innen dasselbe beobachten zu lassen. Beispielsweise beim Testen der AD eines Tieres gegenüber einem Menschen10 kann immer nur eine Person den Test durchführen. Bei der Durchführung durch die zweite Person kommt automatisch ein Zeit- und möglicherweise Erfahrungseffekt beim Tier zum Tragen, der dazu führen wird, dass die Ergebnisse nicht exakt übereinstimmen; sie sollten aber miteinander korrelieren.11 Hier gibt es überdies zwei Aspekte, nämlich ob die Tiere unterschiedlich auf verschiedene Personen reagieren und ob die Personen die Entfernung, ab der das Tier ausweicht, vergleichbar einschätzen. Gegebenenfalls können diese beiden Aspekte auch separat getestet werden. Selbstverständlich müssen generell alle Beobachtungen oder Beurteilungen, die in die Reliabilitätsprüfung eingehen, vollkommen unabhängig voneinander durchgeführt werden. Für die Tests der Reliabilität ist eine größere Zahl verschiedener einfacher und komplexerer statistischer Verfahren verfügbar, die in einer Reihe von Ver10 | S. Waiblinger et al.: Assessing the human-animal relationship. 11 | S. Waiblinger/C. Menke: Influence.
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öffentlichungen diskutiert werden.12 Als einfache Testmethoden sind bei kontinuierlichen Daten Korrelationsanalysen zu empfehlen und bei kategorialen (ordinalen oder nominalen) Daten die Berechnung des Cohen’s Kappa13 oder des PABAK.14 Im Fall von mehreren Kategorien werden üblicherweise Noten vergeben (ordinale Daten). Dann ist auch abzuwägen, ob der Grad der Abweichung von Bedeutung ist, also ob die vergebenen Noten weit auseinander liegen oder nur gering abweichen. Soll dies einbezogen werden, sind beispielsweise ein gewichteter Kappa oder eine Intra-class-Korrelationsanalyse geeignete Methoden.15 Alternativ kann ggf. festgelegt werden, dass Abweichungen von einer Note noch akzeptiert und diese noch als Übereinstimmung gewertet werden.16 In die statistische Reliabilitätsprüfung sollten genau die Variablen einzeln eingehen, die in der Untersuchung als Zielvariablen vorgesehen sind, also zum Beispiel die Frequenz bestimmter Verhaltensweisen pro Tier oder deren prozentualer Anteil pro beobachteter Zeit. Bei der Durchführung von Korrelationsanalysen – je nach Datenvoraussetzung nach Pearson, Spearman oder bei mehr als zwei Beobachter_innen nach Kendall – ist es wichtig, nicht nur den Korrelationskoeffizienten zu berechnen, sondern auch die Steigung der Regressionsgeraden zu betrachten – auch bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen für parametrische Verfahren mit dem Pearson-Korrelationskoeffizienten. Wie in Abbildung 1 gezeigt, kann durchaus eine hohe Korrelation vorliegen, aber zwei Beobachter_innen weichen trotzdem systematisch voneinander ab. Hier hat Beobachter_in 2 durchweg deutlich weniger agonistische Interaktionen pro Tier beobachtet als Beobachter_in 1; dennoch ergibt sich ein Korrelationskoeffizient von r = 0,971. Die Trendlinie, die den Nullpunkt schneiden soll, weist eine deutliche Abweichung von einer Steigung (y) mit einem Wert von 1 auf, der vorliegen würde, wenn die Ergebnisse übereinstimmten. Hier gibt es keinen allgemein akzeptierten Grenzwert, aber je näher die Steigung an 1 liegt, umso unkritischer ist das Ergebnis. Die hier dargestellte Abweichung wäre sicherlich als nicht zufriedenstellend einzustufen. Empfehlenswert ist in solchen Fällen eine genauere Beurteilung der vorliegenden Abweichungen. Denkbar ist dann auch eine Überprüfung, inwieweit die jeweiligen Daten der beiden Beobachter_innen zu signifikant unterschiedlichen Ergebnissen führen. 12 | Z.B. P.N. Lehner: Handbook; S. Gunnarsson et al.: Description and evaluation; B. Engel et al.: Assessment; P. Martin/P. Bateson: Measuring behaviour; A.B. Kaufman/R. Rosenthal: Can you believe my eyes? 13 | J. Cohen: A coefficient. 14 | T. Byrt et al.: Bias, prevalence and kappa; S. Gunnarsson et al.: Description and evaluation; C. Brenninkmeyer et al.: Reliability. 15 | D.V. Cicchetti/D. Showalter/P.J. Tyrer: The effect of number. 16 | B. Engel et al.: Assessment of observer performance.
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Abb. 1: Beispiel einer hohen Korrelation bei systematischen Beobachtungsunterschieden. Quelle: Ute Knierim Ebenso kommt es bei der Anwendung des Cohen’s Kappa zu Problemen, wenn eine Kategorie nur sehr selten auftritt. Dann kommt es außerdem, abhängig von der Verteilung der Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den Beurteilern, trotz hoher prozentualer Übereinstimmungen zu zunächst unerklärlich scheinenden niedrigen Kappa-Werten. Grund hierfür ist die an sich sinnvolle Korrektur der prozentualen Übereinstimmung um die zu erwartende zufällige Übereinstimmung zwischen den Beobachter_innen.17 Der PABAK unterstellt eine gleichmäßige Verteilung der Kategorien (sowohl hinsichtlich Übereinstimmungen als auch Differenzen) und führt damit in solchen Fällen zu höheren Werten.18 Es ist diskutabel, welche Vorgehensweise angemessener ist. In erster Linie sollte die Stichprobenwahl auf ausgeglichene Verteilungen abzielen. Wenn das bei der Reliabilitätsprüfung in der Praxis aber nicht möglich ist, sollten die Prozentübereinstimmungen und Einzeldatenbeurteilungen 17 | A.R. Feinstein/D.V. Cicchetti: High agreement but low kappa: I; D.V. Cicchetti/A.R. Feinstein: High agreement but low kappa: II; C.A. Lantz/E. Nebenzahl: Behavior and interpretation of the kappa statistic. 18 | T. Byrt et al.: Bias, prevalence and kappa; C.A. Lantz/E. Nebenzahl: Behavior and interpretation.
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in die Bewertung der Reliabilität einbezogen werden. Grundsätzlich sollten die Prüfverfahren also nicht nur rein schematisch durchgeführt werden, sondern auch eine adspektorische Prüfung der Daten einbeziehen. Damit gelangen wir zur zentralen Frage, ab wann eine ausreichende Intra- oder Inter-Observer-Übereinstimmung vorliegt. Für die Interpretation der Kappa-Werte gibt es zwei geringfügig abweichende Vorschläge, aber häufig werden Cicchetti und Sparrows (1981) sowie Fleiss et al. (2003) zitiert mit k ≤ 0,40: schlecht (›poor‹), 0,40 < k < 0,60: mittelmäßig (›fair‹), 0,60 0,75: sehr gut (›excellent‹). Gunnarsson et al. (2000) schlagen daher vor, k = 0,41 als Untergrenze für eine akzeptable Übereinstimmung heranzuziehen. Allerdings kann eine Übereinstimmung von nur k = 0,40 bei dichotomen Beurteilungskategorien Differenzen in Prävalenzschätzungen im Extremfall von bis zu 30 % zwischen den beiden Beobachter_innen bedeuten.19 Keppler (2008) spricht sich daher für einen Grenzwert von k = 0,75 aus. Gleichzeitig ist festzustellen, dass es teilweise sehr schwer ist, diesen Grenzwert tatsächlich zu erreichen, sodass unter Gesichtspunkten der Durchführbarkeit oft auch niedrigere Werte in Kauf genommen werden. Ähnlich verhält es sich mit Grenzwerten für Korrelationskoeffizienten. Martin und Bateson (2007) schlagen vor, dass ein Wert von deutlich über r = 0,7 angesetzt werden sollte. Sie gestehen aber auch zu, dass bei wichtigen und schwierig zu erfassenden Parametern dieser Wert als unterster Grenzwert akzeptabel sein könnte. Auch hieraus resultieren ggf. deutliche Abweichungen zwischen den Ergebnissen zweier Beobachter_innen.20 Je nach Untersuchungsgegenstand und geplanter Ergebnisverwendung können möglicherweise unterschiedliche maximale Abweichungen tolerierbar sein. Zudem soll darauf hingewiesen werden, dass das Signifikanzniveau bei den Reliabilitätsstatistiken nur eine Aussage darüber erlaubt, ob die jeweiligen Werte wahrscheinlich zufällig bedingt sind oder nicht; sie haben keinen Bezug zum Grad der Beobachterübereinstimmung. Hierüber sagen allein die Korrelationskoeffizienten oder Kappa-Werte etwas aus.21
R eliabilitätsuntersuchungen bei den M essgrössen der M ensch -Tier -B eziehung Zur Untersuchung der Beobachterübereinstimmung bei den Messungen der AD wurden die Kühe immer zuerst von Beobachterin 1 und anschließend von
19 | C. Keppler: Untersuchungen; U. Knierim/C. Winckler: On-farm welfare assessment. 20 | Ebd. 21 | A.J. Viera/J.M. Garrett: Understanding Interobserver Agreement; P. Martin/P. Bateson: Measuring behaviour.
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Beobachterin 2 beurteilt. Der zeitliche Abstand zwischen den Messungen betrug jeweils etwa 10 Minuten. Die Beobachterübereinstimmung zwischen Beobachterin 1 und 2 bezüglich der AD war mit einem höchst signifikanten Spearman-Rang-Korrelationskoeffizienten von rs = 0,789 (p < 0,001) akzeptabel. Im Streudiagramm (Abb. 2) zeigt die Steigung der durch den Nullpunkt gezwungenen linearen Trendlinie einer Pearson-Korrelation (r = 0,833, p < 0,001) mit 0,927 zudem an, dass nur geringe systematische Abweichungen zwischen den Beobachterinnen 1 und 2 vorlagen. Zur Untersuchung der Inter-Observer-Reliabilität des BerührungstoleranzTests wurde die Interaktion mit dem Tier (das Streichen über Rücken und Flanke) immer von Beobachterin 1 durchgeführt. Beobachterin 2 beobachtete die Interaktion und die Reaktion des Tieres aus etwa 2 m Entfernung. Die Übereinstimmung zwischen Beobachterin 1 und 2 bezüglich der Messungen der BT (Variante 2) war mit einem PABAK von 0,80 sehr gut (Tab. 1). Die tabellarische Darstellung zeigt zudem, dass die Beurteilungen von Beobachterin 1 und 2 nie weiter als eine Kategorie auseinander lagen.
Abb. 2: Streudiagramm zum Beobachterabgleich der AD im Fressgitter, Pearson-Korrelation und Steigung (y), n = 84. Quelle: Asja Ebinghaus
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Tab. 1: Übereinstimmung der Messungen der Berührungstoleranz zwischen Beobachterin 1 und 2 und PABAK (n = 55).
Beobachterin 1
PABAK = 0,80 1 2 3 4 5
Beobachterin 2 1 2 29 3 0 7 0 1 0 0 0 0
3 0 3 7 1 0
4 0 0 1 3 0
5 0 0 0 0 0
Übereinstimmungen: 46
S chlussfolgerungen Zur Sicherung einer hohen Qualität von ethologischen Untersuchungen gehört der Nachweis der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Datenerfassung. Dies umfasst Reliabilitätsprüfungen, im Wesentlichen bezüglich der Inter-Observer-Übereinstimmung, sowie eine transparente Darstellung der Methoden und Definitionen des beobachteten Verhaltens. Die Durchführung sinnvoller Reliabilitätsprüfungen kann durchaus aufwendig sein und es gibt unterschiedliche Sichtweisen bezüglich geeigneter statistischer Verfahren oder der Kriterien für eine akzeptable Übereinstimmung. In diesem Beitrag wird die Anwendung relativ einfacher statistischer Größen, Korrelations- und Kappa-Koeffizient, empfohlen, in der Regel gepaart mit einer eingehenderen Betrachtung der Daten und Beurteilung des Grads der Abweichungen im Zusammenhang mit den Zielsetzungen der jeweiligen Untersuchung. In jedem Fall ist es dringend zu empfehlen, der Reliabilitätsprüfung mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als das bisher in ethologischen Untersuchungen der Fall ist. Die Überprüfung der Inter-Observer-Reliabilität im Rahmen der Untersuchungen zur Mensch-Tier-Beziehung bei Milchkühen zeigte, dass die Beobachterinnen in ihren Beurteilungen der AD und der BT gut übereinstimmen. Eine Überprüfung der Test-Retest-Reliabilität soll im weiteren Verlauf des Projektes erfolgen.
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Den KatzenARTigen auf der Spur
Die bekannte zoologische Enzyklopädie Brehms Tierleben widmet 1926/27 den »Katzenartige[n] Raubtiere[n]« einen eigenen Band1 und weist ihnen – mit den Worten Alfred Brehms – eine herausgehobene und damit ›ehrenvolle‹ Stellung zu: »Der Laie wird keinen Augenblick im Zweifel sein, welcher Familie er die Ehre geben soll, die Reihe aller Raubtiere zu beginnen. Er gedenkt an den schon von den Alten zu der Tiere König gekrönten Löwen und räumt ihm gern jede Bevorzugung ein, sogar auf Kosten des liebsten und getreuesten Hausfreundes Hund, dessen geistiges Wesen einer anderen, weit wertvolleren Krone würdig ist. Diesmal darf auch der Forscher mit dem Laien übereinstimmen, und somit vereinigen wir in der ersten Familie die Katzen (Felidae).«2
Wie die Ausführungen verdeutlichen, können sich mit unserem titelgebenden Begriff KatzenARTige unterschiedliche Darstellungsmuster, Deutungen und Wertungen verbinden. An erster Stelle verweist der Begriff auf naturkundliche Ordnungsmodelle einer biologischen Systematik – dies entspricht zunächst der klaren Struktur einer modernen Enzyklopädie, die zwischen naturwissenschaftlicher Beschreibung und übertragener Deutung unterscheidet. In der Ordnung der Raubtiere wird nun der Familie der »Felidae« eine bevorzugte Stellung eingeräumt, was jedoch keineswegs zoologisch begründet wird. So transportieren die Beschreibungen – und sogar die Reihenfolge der Tierarten 1 | Alfred Edmund Brehm: Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Die Säugetiere, Bd. 3: Katzenartige Raubtiere. Nach der zweiten Originalausgabe bearbeitet von Dr. Adolf Meyer, Bibliotheksrat und Privatdozent […], Hamburg: GutenbergVerlag 1927: http://gutenberg.spiegel.de/buch/brehms-tierleben-saugetiere-band3-katzenartige-raubtiere-7668/2 (letzter Zugriff 24.06.2015). Der Begriff entspricht allerdings noch nicht der heutigen Taxonomie. 2 | Ebd.; wörtlich beibehalten aus: Alfred Edmund Brehm: Illustrirtes Thierleben. Eine allgemeine Kunde des Thierreichs, erster Bd. Erste Abtheilung: Die Säugethiere. Erste Hälfte, Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1864, S. 184.
– zugleich kulturhistorische Projektionen mit. Zum Ausgangspunkt wird der Löwe, der »von den Alten« her als »der Tiere König« gilt: also aus einer naturkundlichen Tradition heraus, die sich bspw. aus einer christlich-allegorischen Überlieferung des Physiologus speist; seine Bevorzugung legitimiere nun die Voranstellung der gesamten Tierfamilie. Diese Berufung auf eine tierliche Stände- oder auch Heilsordnung erinnert an allegorische Naturdeutung: Systematisches Wissen wird durch symbolisches Wissen beglaubigt und ergänzt. Der enzyklopädische Text inszeniert in der Erstplatzierung der Arten sogar eine tierliche Rivalität mit dem Hund, »des liebsten und getreuesten Hausfreundes«; obwohl dessen »geistiges Wesen einer anderen, weit wertvolleren Krone würdig« sei, hat er hinter dem Löwen – und damit hinter der gesamten Katzen-Familie – zurückzustehen. Theologisch-symbolische Deutungen, Herrschafts- und Kameradschaftskonzepte stehen sich dabei sprichwörtlich »wie Hund und Katz« entgegen. Wie diese Ausführungen des Tierleben[s] zeigen, fächern sich die Differenzierungsmuster des KatzenARTigen vielgestaltig auf: Rezeptions- und produktionsästhetische Verfahren, Laien- und Expertenwissen, ständische und klassenspezifische Hierarchien, Nähe- und Distanzkonstellationen, Geschlechterordnungen, Emotionalisierungsformen, Raumkonstellationen sowie Tugend- und Vernunftbefähigung treten als mögliche Dimensionen einer Tier-Mensch-Relationierung in Erscheinung. Dieser Mehrdeutigkeit unseres Titelbegriffs suchen wir im Folgenden durch literatur- und kunstgeschichtliche Perspektivierungen auf die Spur zu kommen. Die exemplarisch ausgewählten Tiere sind dabei sowohl Gegenstand wissenschaftlicher Neugier als auch ästhetischer Gestaltung, um Muster des Lebendigen zu ergründen. Hierbei manifestiert sich das jeweilige Verhältnis zu Tieren auch in ihren medialen Darstellungsformen. Der literatur- und kulturgeschichtliche Beitrag »›Von dem pantier‹: Tier-Mensch-Relationen zwischen ästhetischer Gestaltung und naturkundlicher Erfahrung in Konrads von Megenberg Buch der Natur« fragt anhand des Panther-Exempels nach Formen piktoral-visueller und textlicher Wissenskonzeption, nach Erkenntnishaltung und Argumentationsweise einer vormodernen Enzyklopädie. Der kunstgeschichtliche Beitrag »Leoparden in Bild und Wort. Über die Eigenständigkeit und Abhängigkeit visueller Erkenntnis« wendet sich beispielhaft den Leoparden in der Kasseler Menagerie Landgraf Carls in Bild- und Textquellen zu und konkretisiert das Medium Bild in seiner epistemologischen Relevanz. Die für die Analysen ausgewählten Tier-Figurationen lassen sich dabei ›mehr‹ oder ›weniger‹ eindeutig einer naturkundlichen Systematik der KatzenARTigen zuordnen. Die wortinterne Großschreibung dient dazu, die Bedeutungsvielfalt der historischen Tier-Darstellungen und ihrer Ordnungsmuster bewusst zu halten, samt den damit verbundenen methodischen Herausforderungen. Auf diese Weise kommen Uneindeutigkeiten, Brüche und Widerstän-
digkeiten in den Blick, die sich bspw. aus einer historischen Bedingtheit der strukturellen Erkenntnismodelle oder aus gattungsspezifischen Vermittlungsverfahren ergeben können. Auf einer zweiten Ebene betont unser Titelbegriff KatzenARTige somit die kulturhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Grenzen, die mit derartigen Ordnungssystemen und ihren Typen von Wissensspeichern immer einhergehen. Die Text- und Bild-Tiere erhalten in diesem Zusammenhang eine dreifache Funktion – eine inhaltliche, strukturelle und argumentative –, der die literatur- und kunstgeschichtlichen Beiträge durch einen Methodenpluralismus nachzukommen suchen. Hierdurch treten verstärkt kulturhistorische Figurationen und Motive, Diskurse und Wissensfelder, kulturelle Praktiken und ästhetische Verfahren in den Blick. Diese Mehrdimensionalität wird im literatur- und kulturgeschichtlichen Beitrag deutlich, der anhand des Buch[s] der Natur Konrads von Megenberg der Frage nachgeht, wie das erste, systematisierte und mehrfach illustrierte Kompendium enzyklopädischen Wissens aus der Mitte des 14. Jahrhunderts das Wissen über Tiere verarbeitet und darbietet. Naturbeschreibung und Naturdeutung zeichnen sich hier durch ein Nebeneinander von naturkundlich-pragmatischen, christlich-allegorischen und moralisch-tropologischen Zugängen aus, sodass Ordnungen der vormodernen Gesellschaft in Ordnungen des enzyklopädischen Textes eingehen können. Die tierliche Narrativik beschränkt sich dabei nicht auf empirisch überprüftes Wissen, sondern sie entwirft eine naturkundliche Wissenslogik, die wahrnehmbare Erscheinungsformen ebenso wie symbolische Repräsentationen als Vermittlungsgegenstand auswählt und akzentuiert. Dies stellt der Beitrag anhand des Panther-Exempels vor. Auch im »Großen Tierbild« von Johann Melchior Roos, in dem die Tiere der Kasseler Menagerie des Landgrafen Carl in friedlicher Koexistenz visualisiert wurden, lässt sich eine vergleichbare Fülle an Deutungsebenen feststellen, wie der kunstgeschichtliche Beitrag herausstellt. Naturkundliches Interesse am Erscheinungsbild der Tiere konkurriert mit ikonographischer Bedeutung, dokumentarische Erfassung mit Herrschaftsrepräsentation. So ergibt sich aus der Verknüpfung mit ausgewählten Schriftquellen ein umfangreiches Feld, in welchem dem Bild als epistemologisch relevantes Objekt Bedeutung zukommt. Dabei ist der Blick auf das Tier als Informationsträger fokussiert, dessen Körperlichkeit in verschiedene menschlich determinierte Bedeutungszusammenhänge eingebunden ist. Auf diese Weise kommen wir zur dritten Ebene, die ebenfalls unseren Titelbegriff bestimmt: nämlich diejenige der Kunst (franz./engl. art) und Ästhetik. Es handelt sich bei den untersuchten Tier-Figurationen um ästhetische Darstellungsformen, um menschliche Kulturproduktionen, die durch ihr schöpferisches Potenzial ein Experimentierfeld für Tier-Mensch-Relationen eröffnen können. Deren kontext- und medienspezifische Herstellungs- und Vermitt-
lungsprozesse in Text und Bild treten im Folgenden in den Fokus. So ist auch die Rezeption der Tiere in ihrer vielfältigen Materialität zu betrachten, denn die jeweiligen medienspezifischen Eigenheiten lassen verschiedene Aspekte der tierlichen Motive hervortreten. Was kann bspw. das Gemälde oder die Illustration der Enzyklopädie anderes leisten als die Textquellen, die Menagerie selbst oder die ausgestellten Präparate? In welcher Weise ergänzen sich die verschiedenen Präsentationsformen und in welchen Kontexten werden die jeweiligen Tier-Narrative – sei es im spätmittelalterlichen Wissenskompendium oder im frühneuzeitlichen Gemälde – überhaupt rezipiert? Die Fragen nach Darstellungsformen, medialen Spezifika und Präsentationskontexten ergeben wiederum Hinweise auf die Funktion und Wirkung, die das Kunstwerk ebenso wie die enzyklopädische Sammlung im Hinblick auf die Rezipient_innen hatte. Alles zusammengenommen ermöglicht auch Rückschlüsse auf produktionsästhetische Motive. Entscheidend ist dabei der naturkundliche Kontext, in dem das Gemälde wie die mehrfach illustrierte Enzyklopädie stehen, da die Bilder hierbei zur Instanz in der Wissensproduktion werden. Als künstlerisches Produkt in Enzyklopädie und Gemälde durch den Menschen entworfen, sind die Tiere als relationale Konstrukte aufzufassen, deren spezifische Beschaffenheit von menschlichen Vorstellungen abhängig ist. Physische Erfahrbarkeit und ästhetische Sinnfälligkeit dienen in Text und Bild als Vermittlungs- und Organisationskonzepte zwischen ausgewählter Erscheinung und tierlicher Eigenart. Im Folgenden konzentrieren sich die methodischen Reflexionen auf eine Verhältnisbestimmung zwischen Text und Bild, zwischen Sprach-Bildern und BilderSprache, und dies geschieht aus zwei disziplinären Perspektiven – aus einer kunstwissenschaftlichen einerseits und einer literatur- und kulturwissenschaftlichen andererseits. Dabei rücken die Tier-Narrative in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses und können im kunst- und literaturhistorischen Kontext als Projektions- und Repräsentationsflächen erfasst werden. Anna-Theresa Kölczer, Christian Presche, Susanne Schul, Daniel Wolf
»Von dem pantier« Tier-Mensch-Relationen zwischen ästhetischer Gestaltung und naturkundlicher Erfahrung in Konrads von Megenberg Buch der Natur Anna-Theresa Kölczer und Susanne Schul
Abb. 1: Universitätsbibliothek Heidelberg, Konrad von Megenberg: Buch der Natur. »Von dem panthiere«, Cpg 311, fol. 104r, um 1455/60. »Panthera i ſ t ein tier mangerlai varb an dem leib, ſ am Solinus ſ pricht, vnd i ſ t gar ſ choͤ n, reht ſ am ez gemalt ſ ei mit clainen chraizzlein: Der ſ int etzleich gel oder goltvar, die andern weiz oder anderr varb.«1 1 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,4-6. Im Folgenden wird die Naturenzyklopädie Buch der Natur Konrads von Megenberg nach der Ausgabe von R. Luff und G. Steer von
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Anna-Theresa Kölczer und Susanne Schul (»Panthera ist ein Tier, das vielerlei Farben am Körper trägt, wie Solinus sagt, und ist sehr schön, gerade wie mit kleinen Kreisen gezeichnet. Einige davon sind gelb oder goldfarbig, andere weiß oder andersartig gefärbt.«) 2
In seinen Ausführungen »Von dem pantier«3 im Buch der Natur stellt Konrad von Megenberg die Vielfarbigkeit als faszinierende Eigenschaft dieses Tieres allen anderen voran. Die Erzählinstanz der volkssprachigen Naturenzyklopädie modelliert, Bezug nehmend auf naturkundliches Expertenwissen, einen tierlichen Körperentwurf »gar schoen«. Dieser wird für die Rezipient_innen in Gelb, Gold, Weiß und weiteren Farben und mit kreisrunden Mustern versehen wahrnehmbar – in einem medialen Wechselspiel von Sprach-Bildern und Bilder-Sprache. Hierbei erfährt das Raubtier differente Zuschreibungen, die zwischen Attraktivität und Faszination ebenso wie zwischen Wildheit und Gefährlichkeit changieren, wenn »andrev tier«4 es nicht nur besonders anziehend finden, sondern auch »von ſeinem anplick erschrekend«.5 Der Pantier tritt als Verkörperung des Schrecklich-Schönen in Erscheinung.6 Das Verhältnis von Tieren, Menschen und medialer Vermittlung erweist sich im vormodernen Wissenskompendium als äußerst vielfältig und reicht über ein reines Abbildungsverhältnis hinaus. Der enzyklopädische Text vereinigt in sich heterogene Aspekte, die auf eine andersartige Grenzziehung zwischen Naturkunde und literarischer Überlieferung verweisen, als sie einer modernen Zoologie vertraut ist. Selbstverständliche Distanzmodelle einer neuzeitlichen Wissenschaft, wie etwa der Gegensatz von Gelesenem und Gesehenem, Literarischem und Historischem, Gelehrsamkeit und Wunderbarem, verlagern sich zugunsten einer Näherelation.7 Ein naturkundliches Erzählen vom Tier folgt einer zeittypischen Erkenntnisform und eröffnet in text- und bildnarrativen Gestaltungsmustern eine ambivalente Zeichenhaftigkeit des Animalischen. Diese unterläuft eine heutige Erwartungshaltung bereits dadurch, dass in der Abbildung gerade keine schwarze Großkatze, sondern ein farbenreiches Kompositwesen zum Sprung ansetzt. Die mehrdeutigen Tier-Mensch-Relationen verlangen daher nach einem methodischen Zugriff, der diejenigen Wissensformationen, in denen Tiere dargestellt werden, in kulturhistorische, gattungs- und medienspezifische 2003 zitiert. Sie beruht auf einer kritischen Textüberlieferung der Handschriften, die der A-Fassung als Leithandschrift folgt. 2 | Die Übersetzung orientiert sich an der Ausgabe von H. Schulz. 3 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,3. 4 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,11 (»andere Tiere«). 5 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,11f. (»vor seinem Anblick erschrecken«). Vgl. S. Dittrich/L. Dittrich: Leopard (Panther), S. 282. 6 | Vgl. M. Schnyder: Panther, Pardel, Pardelthier, S. 70. 7 | Vgl. U. Friedrich: Naturgeschichte, S. 7.
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Kontexte verortet. Die Grundlage der Analyse bildet das Sprach- und Methodenarsenal eines vormodernen Erkenntnisprozesses, der sich durch die Koexistenz und Konkurrenz verschiedener Ordnungsformen zugleich auszeichnet. Es gilt zu untersuchen, welchen Status Tiere im enzyklopädischen Text erhalten und welche Vorstellungen von Tieren im interspezifischen Beziehungsgefüge vermittelt werden. Anhand des Pantier-Exempels und zurückgreifend auf tier- und kulturtheoretische Ansätze werden im Folgenden diejenigen Voraussetzungen näher beleuchtet, die einem solchen sowohl ästhetisch-symbolischen als auch naturkundlich-pragmatischen Zugriff auf Tiere zugrunde liegen.8
»V on den t yrn in e yner gemain « 9: Z wischen Tier - und Te x tgat tung Im Mittelalter finden sich diejenigen Tiere, die mit den Artbezeichnungen Pantier, Panthiere, Panteltier, Pantel, Parder oder lat. Panther bzw. Panthera versehen werden, in zahlreichen literarisch-höfischen Texten, Abbildungen und in der Heraldik ebenso wieder wie in lateinischen oder volkssprachigen Naturkunden, Bestiarien und Enzyklopädien.10 Aber nicht nur taxonomische oder nomenklatorische Ordnungen erweisen sich in vormodernen Darstellungen als uneindeutig, sondern die benannten Tiere zeichnen sich auch durch eine unbeständige Gestalt und Wesensart aus. Die Spannbreite reicht von katzenartigen Raubtieren bis zu vielgestaltigen Kompositwesen, denen differente Eigenschaften, Handlungsräume und Deutungen zugewiesen werden. Allerdings erweisen sich die Nachweisbarkeit des Tieres bzw. die empirische Richtigkeit der angeführten Verhaltensweisen für mittelalterliche Rezipient_innen nicht als die entscheidenden Kriterien, sondern von Bedeutung ist vielmehr deren tradierte Existenz und Beglaubigung als Wissensspeicher. Die Beurteilungskriterien dafür, was als real oder als fantastisch zu gelten hat, sind kultur8 | Vgl. hierzu ausführlich das im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts entstehende Promotionsprojekt von Anna-Theresa Kölczer mit dem Titel »Die Welt im Tier. Zur Konstruktion von Tier-Mensch-Beziehungen in Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹« und das Postdoc-Projekt von Susanne Schul mit dem Titel »Humanimale Ästhetik. Semantik und Narrativik ästhetischer Tier-Mensch-Relationierungen«: https://www. uni-kassel.de/projekte/tier-mensch-gesellschaft/projektbereiche/erfassung-repraesentation.html (letzter Zugriff 09.09.2015). 9 | KvM: Kapitelregister. Buch III.A.0 »Von den tyrn in eyner gemain«, S. 4,24 (»von den Tieren im Allgemeinen«). 10 | In der Analyse folgt die Artbezeichnung der jeweiligen Benennung der Quellentexte; so wechselt die Bezeichnung vor allem zwischen Pantier (vgl. Kapitelregister KvM A-Fassung) und Panther bzw. Panthera (vgl. lat. Überlieferungstradition).
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abhängig und können je nach diskursiven und gattungsgeschichtlichen Kontexten auch zur gleichen Zeit variieren.11 Im Mittelalter gilt die Zoologie als Lehre der lebenden Wesen zwar noch nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin, aber auch hier sucht eine naturkundliche Beschäftigung eine Systematik der Tiere zu erstellen. Die Tiere, von denen in der Enzyklopädie erzählt wird, sind in der Regel zwischen zwei Polen angesiedelt, zwischen Sachkunde und Naturinterpretation, zwischen Pragmatik und allegorischer Funktionsbestimmung, und sind daher nicht eindeutig zuzuordnen, wenn sich naturkundlich-pragmatische und ästhetische Gestaltungen im modalen Status der Narrationen immer wieder überlagern. Eine vormoderne Naturkunde strebt danach, Tiere im Rahmen der Unermesslichkeit der göttlichen Schöpfung zu erkennen und zu verstehen. Tiere treten dabei in ein spezifisches Verhältnis zum Menschen, dienen sie doch als Medium der Erfassung und Wertung der Welt und erlauben es, eine menschliche Selbstkonstituierung aus der Distanz zu illustrieren und zu erklären.12 Dieser Ausrichtung entsprechend unterstützt die Beschäftigung mit naturkundlichem Wissen keinen Selbstzweck, sondern gilt als Spiegel der Schöpfung, der es gestattet, einen göttlichen Heilsplan zu begreifen und Hinweise zu einer gottesfürchtigen Lebensführung zu erhalten.13 Während im Hochmittelalter weitgehend eine in christlicher Allegorese heilsgeschichtlich ausgedeutete Naturlehre in der Tradition des Physiologus im Zentrum der Wissenskompendien steht, erweitert die Wende hin zu den Naturenzyklopädien des 13. Jahrhunderts die Beschreibung und Deutung der Proprietäten um antike und zeitgenössische Quellen. Gleichzeitig bleibt das naturkundliche Wissen aber einer moraltheologischen Lehre verpflichtet. Die Enzyklopädie gilt seit der Antike als eine Textgattung universalen Wissens, die als systematische Sammlung und didaktische Anordnung zum einen auf Ausführlichkeit hin angelegt ist und zum anderen ausgewählte Wissensbestände dokumentiert.14 Auch Konrad von Megenberg (1309-1374) greift in dem zwischen 1348 und 1350 entstandenen, ersten systematisierten volkssprachigen Kompendium des Wissens über die geschaffene Natur auf antike Überlieferungstraditionen zurück. Dieser enzyklopädische Text, bei dem es sich um eine Übersetzung, Überarbeitung und Erweiterung von Thomas von Cantim11 | Vgl. P. Michel: Einführung, S. 9f.; T. Heimerl: Religiöse Wissensspeicher, S. 141; R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 92. 12 | Vgl. G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann: Animate History, S. 20. 13 | Vgl. M. Neumeyer: Bestiaries, S. 15f.; S. Obermaier: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, S. 10; P. Beulles: Like a Book Written by God’s Finger, S. 128; W.B. Clark/M. McMunn: Beasts and Birds of the Middle Ages; M.-H. Tesnière/T. Delcourt: Bestiaire du Moyen Age. 14 | Vgl. U. Friedrich: Die Paradigmatik des Esels, S. 93f.
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prés Liber de natura rerum handelt, erfährt eine weite Verbreitung in mehr als 170 Handschriften und Drucken. Wo Konrad von Megenberg seine Vorlage erweitert, positioniert er sich zwischen Traditionsbewusstsein und Innovation, wenn er naturkundlich-pragmatische und ökonomische Perspektiven ebenso wie ästhetische, symbolische, allegorische und tropolische Aspekte miteinander verknüpft und darüber hinaus diverse Belegstellen seiner Vorläufer hinterfragt oder in Bezug zu eigenen Beobachtungen setzt.15 Es entsteht, wie Gerold Hayer betont, ein »gleichberechtigte[s] und gleichwertige[s] Nebeneinander von Naturbeschreibung und Naturdeutung«.16 Allerdings provoziert die Übersetzung der lateinischen Vorlage auch die Frage, wen Konrad von Megenberg eigentlich belehren wollte. Sie kann trotz des Hinweises, er habe den Text für einen »gar guot freund«17 verfasst, nicht eindeutig rekonstruiert werden. Das Buch der Natur macht auf diese Weise wichtige Bereiche des Naturwissens für ein volkssprachig-gelehrtes Publikum zugänglich.18 Als »Maister chunrat von Megenberg chorher ze Regenspurch«19 benennt die älteste datierte Handschrift den Verfasser, positioniert ihn ständisch und weist damit nicht nur auf den eigenen Entstehungskontext hin, sondern liefert auch einen Hinweis auf eine mögliche Gebrauchsfunktionen. So wird Konrads Naturenzyklopädie zu Beginn wahrscheinlich u.a. als Handbuch für Geistliche genutzt, die aus den Naturbeschreibungen im Sinne einer Dinginterpretation Anregungen für Predigten erhalten.20 Das Überlieferungsumfeld, in dem das Buch der Natur in Sammelhandschriften tradiert ist, dokumentiert indes eine lang anhaltende und vielgestaltige Rezeptionsgeschichte, in der sich die gebrauchsfunktionalen Zusammenhänge immer wieder wandeln: So kann es als allgemeine En-
15 | Abgesehen von Aristoteles sind die Naturgeschichten von C. Plinius Secundus d. Ä. (Naturalis historia), Gaius Julius Solinus (De mirabilibus mundi) und Ambrosius (Hexameron) auch im frühen und hohen Mittelalter greifbar, aber ihre Entwürfe stoßen im geistlich-religiös dominierten Naturverständnis bis zum Spätmittelalter nur auf wenig Interesse. Indirekt wird Plinius d. Ä. aber durchaus rezipiert, und zwar über Isidor von Sevilla. Vgl. B.K. Vollmann: Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg, S. 16f. 16 | G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 29. 17 | Vgl. ebd., S. 2. 18 | Vgl. zur Frage nach einem (Laien-)Publikum u.a. D. Gottschall: Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen, S. 13; H. Vögel: Sekundäre Ordnungen des Wissens, S. 46f. 19 | Hs. Sc1, fol. 161v. Vgl. G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 4-8; H.F. Fuchs: Neue Quellen zur Bibliographie Konrads von Megenberg, S. 43-72. 20 | Vgl. G. Hayer: Zur Kontextüberlieferung und Gebrauchsfunktion von Konrads von Megenberg »Buch der Natur«, S. 63.
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zyklopädie, als Astronomie-Handbuch, als Tierheilkunde oder als Arzneibuch dienen.21 Das Buch der Natur liegt in zwei unterschiedlichen Fassungen vor, die sich in erster Linie auf der Corpusebene unterscheiden. Es gliedert sich in acht große Teilbereiche, die in den Ausgaben der Prologfassung durch Pro- und Epilog gerahmt werden.22 Buch I widmet sich den Menschen und erörtert u.a. einzelne Glieder und Organe in der Reihenfolge von Kopf bis Fuß; Buch II beschreibt zunächst die »himeln«, dann die »ſ iben planeten« und die Elemente. Buch III »Von den tyrn in eyner gemain«23 enthält schließlich eine Ordnung der Tiere nach ihren Habitaten:24 »Hie hebt ſ ich an daz dritt puch dez puͦ chs von den tirn in einer gemain. Daz dritt ſ tuck dez puͦ chs ſ chol ſ agen von allerlai tiern, vnd dez er ſ ten von den, die da gend auf der erden, da nach von allem gefuͤ gel vnd denn von den wazzertiern.« 25 (»Hier beginnt der dritte Teil des Buchs von den Tieren im Allgemeinen. Der dritte Teil des Buches soll sich mit den verschiedenen Tierarten beschäftigen und zwar zunächst mit den Tieren, die auf der Erde sich fortbewegen, dann mit allem Geflügel und schließlich mit den Wassertieren.«)
Nach dieser Einteilung rücken die anatomische Beschaffenheit und die daraus abgeleitete Befähigung der Tiere in den Fokus, ihre jeweiligen Lebenssphären zu bevölkern. Die systematische Anordnung des enzyklopädischen Kompendiums verbindet dabei verschiedenartige, serielle Arrangements. Diese greifen etymologische Hinweise, Typologien und Sacherklärungen ebenso auf wie Einzelbelege, Berichte oder Legenden.26 Neben der spatialen Trennung erfolgt eine alphabetische Strukturierung nach der lateinischen Bezeichnung
21 | Vgl G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 66ff.; Ders.: zu lob dem hochgebornen fürsten Rudolfen dem vierden herczog in Österreich, S. 473-492; C. List: Tiere. Gestalt und Bedeutung, S. 97f. 22 | Die Prologfassung ist mit 51 Textzeugnissen am breitesten überliefert und ihr entspricht die kritische Ausgabe. Vgl. G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 14-21. 23 | KvM: Kapitelregister. Buch III.A.0 »Von den tyrn in eyner gemain«, S. 4. 24 | Buch IV wendet sich den Bäumen, Buch V den Kräutern, Buch VI den Edelsteinen und Buch VII den Geschmeiden zu. Buch VIII weist keine erkennbare Ordnung auf, enthält aber bspw. Hinweise zu »den wunderleichen laeuten«. 25 | KvM: Buch III.A.0 »daz dritt puch dez puͦ chs von den tirn in einer gemain«, S. 139,2-6. 26 | Vgl. N. Henkel: Studien zum »Physiologus« im Mittelalter, S. 139f.
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der Tierarten, sodass sich tier- und textgattungsspezifische Ordnungsmuster überlagern:27 »Nv hab wir ge ſ ait von den tiern in einer gemain. Fuͤ rbaz well wir ſ agen von eime iegleichen tier aigencleichen, vnd dez er ſ ten von den, der nam ſ ich ze latein anhebent an ainem a, darnach an ainem b, reht als daz abc ſ tet.«28 (»Ich habe nun über die Tiere im Allgemeinen gesprochen. Jetzt wollen wir von jedem Einzelnen insbesondere handeln, und zwar zunächst von denen, deren Namen im Lateinischen mit einem A beginnen, dann von denen, die mit B anfangen, gerade so, wie es im ABC steht.«)
Bereits die Einleitung der »tyrn in eyner gemain«29 verdeutlicht, dass die TierMensch-Beziehungen im enzyklopädischen Text durchaus durch Ambivalenzen bestimmt sind. Denn neben einer mehrdeutigen Verhältnisbestimmung der Tiere untereinander rückt immer wieder der Mensch als Relationskontext in den Fokus, dessen konstitutive Differenz zu den Tieren betont wird. So leitet sich seine Sonderstellung in der Schöpfung bspw. dadurch ab, dass er die Lehre Gottes im Gegensatz zu den Tieren durch seine körperliche Konstitution nicht nur aufzunehmen vermag, sondern auch befähigt ist, sie zu verstehen und sich einzuprägen: »Ari ſ totiles ſ pricht: Ein iegleich tier mag ſ einev orn gewegen, an den men ſ chen, vnd daz i ſ t billeich, wann der men ſ ch ſ chol die goͤ tleichen gepot, die daz or hoͤ rt, haben vnwendeleichen in ſ einr ſ el vnd in ſ einem hertzen.« 30 (»Aristoteles lehrt, dass mit Ausnahme des Menschen jedes Geschöpf seine Ohren bewegen kann. So gehört es sich auch, denn der Mensch soll die göttlichen Gebote, die sein Ohr vernimmt, unwandelbar in seiner Seele und seinem Herzen festhalten.«)
Das Interesse an den tierlichen Eigenschaften gliedert sich in Nähe- und Distanz-Relationen und regt zum Nachdenken über das Gemeinsame und Trennende zwischen Tieren und Tieren sowie zwischen Tieren und Menschen an. Der enzyklopädische Text verhandelt vielschichtige Verflechtungen von Wahrnehmung, Nutzung und Deutung des Animalischen und nimmt dabei zu27 | Die Kapitel im Buch der Natur sind, mit Ausnahme der Bücher I, II und VIII, alphabetisch nach lateinischen Benennungen der Themen geordnet. Diese Struktur geht allerdings nicht über den ersten Buchstaben hinaus. 28 | KvM: Buch III.A.0 »daz dritt puch dez puͦ chs von den tirn in einer gemain«, S. 144,18-20 29 | KvM: Kapitelregister. Buch III.A.0. »Von den tyrn in eyner gemain«, S. 4. 30 | KvM: Buch III.A.0 »daz dritt puch dez puͦ chs von den tirn in einer gemain«, S. 139,20-23.
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nächst das Allgemeine in den Blick, die Gattungs- und Arteigenschaften der Tiere, die über die Reihung einzelner Zeugnisse induktiv ermittelt werden. Die systematische Kompilation besteht demzufolge aus einer Sammlung von Einzeldaten, d.h. sie gewinnt ihre Wissensbestände aus Belegstellen angeführter Autoritäten statt aus der Empirie – sie verfährt somit schrift- und quellenorientiert. Der exemplarische Status der Erkenntnisse kann je nach kulturellem Horizont ganz unterschiedlich ausgerichtet sein; faktisches Wissen kann geistlich gedeutet, narrativ oder fiktiv vermittelt werden.31 Enzyklopädisches Erzählen arrangiert und diskursiviert somit ein gelehrtes Wissen, kombiniert Deutung, Beschreibung und Praxis und die einzelnen Beiträge vereinigen in sich, ohne eindeutig Mustern der Textkohärenz zu folgen, zahlreiche tierliche Eigenschaften, Dokumentationen oder Anekdoten. Der Umstand einer eher sprunghaften, diskontinuierlichen Darbietung heißt allerdings nicht vorab, dass der Verfasser die jeweilige Besonderheit der Erzählmodi nicht zu unterscheiden vermag. Vielmehr gilt es, das Buch der Natur in seiner Spezifik zu erfassen und als Texttypus zu beschreiben, der in seiner Material- und Gegenstandsordnung das GemachtSein naturkundlicher Wissensvermittlung und tierlicher Erkenntnisse betont. Die Analyse fragt im Folgenden nach literatur- und wissenshistorischen Zusammenhängen im enzyklopädischen Erzählen und verknüpft anhand des Pantier-Exempels methodische Zugänge einer spätmittelalterlichen Literaturund Kunstgeschichte, Narratologie und Geschichte der Gelehrsamkeit mit einander. Den theoretischen Konzepten der Cultural Animal Studies folgend, sind Tiere in vormodernen Wissenskompendien nicht nur Objekte einer gelehrten Komposition, sondern durch ihre jeweilige Funktionalisierung auch als poetische Reflexionsfiguren und soziale Ordnungsinstrumente zu verstehen.32 Hierbei treten Tiere im Buch der Natur, der Typologie Roland Borgards gemäß, sowohl als semiotische Tiere – also als Zeichenträger und Mittel der Wissensformation – als auch als diegetische Tiere – also als Handlungsträger naturkundlicher Erzählwelten – in Erscheinung.33 Die Herausforderung besteht in einem Darstellungsprinzip, in dem sich naturkundlich-pragmatische Nutzaspekte und ihre Repräsentationen in Form ästhetischer Gestaltung und symbolischer Überhöhung überlagern. Konrad von Megenberg verbindet hierbei ein geistlich-moraltheologisches Interesse mit logisch-kritischer Argumentation und so stellt sich im Folgenden die Frage, welche Gestaltungs-, Wahrnehmungs- und Erklärungsstrukturen die naturkundliche Wissensbildung
31 | Vgl. U. Friedrich: Die Paradigmatik des Esels, S. 95; C. Hünemörder: Antike und mittelalterliche Enzyklopädien, S. 343. 32 | Vgl. R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 95; S. Zahlmann: Tiere und Medien, S. 161; R. Borgards/E. Köhring/A. Kling: Texte zur Tiertheorie, S. 9. 33 | Vgl. R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 89.
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prägen und auf welche programmatischen und gattungsspezifischen Traditionen sich der enzyklopädische Text stützt.34
»A ber si erschrekend von seinem anplick« 35 : Z wischen B ilder -S pr ache und S pr ach -B ildern Die Vielschichtigkeit und der Facettenreichtum der Tierdarstellungen im enzyklopädischen Text verlangen nach einem methodischen Zugang, der ›die Fährten‹ der Tiere in Form einer text- und bildnarrativen Verhältnisbestimmung verfolgt. Geschriebenes bzw. vorgetragenes Wort und gemaltes Bild werden im Mittelalter als vergleichbare Medien verstanden, deren Kommunikationsverfahren miteinander korrespondieren und die das Potenzial einer mehrfachen Sinnerschließung in sich tragen.36 Diese explizite Verschränkung von Text und Bild in mittelalterlichen Handschriften aufgreifend, plädiert bspw. der Mediävist Horst Wenzel für eine »Text-Bildwissenschaft«37 und somit für eine Öffnung der Fächergrenzen zwischen Literatur- und Kunstgeschichte, die dieser medialen Symbiose methodisch Rechnung trägt. Demgemäß beginnt sich zunehmend ein disziplinär getrennter Zugriff zugunsten einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Quellen zu verschieben, um ein Zusammenwirken von Text und Bild in den Blick zu bekommen.38 Denn sowohl Teile der höfischen Literatur als auch und im Besonderen theologische, historiographische, juristische oder ›wissenschaftliche‹ Lehrwerke des Mittelalters sind so konzipiert, dass sich Sinnzusammenhänge nur durch den wechselseitigen Einbe-
34 | Vgl. C. Schneider: Logiken des Wissens, S. 43f.; D. Gottschall: Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen, S. 202f.; M. Giebel: Tiere in der Antike, S. 61f. 35 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,11f. (»Aber sie erschrecken vor seinem Anblick«). 36 | Vgl. M. Curschmann: Hören – Sehen – Lesen, S. 219; C. Brinker-von der Heyde: Die literarische Welt des Mittelalters, S. 100f. 37 | H. Wenzel: Beweglichkeit der Bilder, S. 9. Vgl. hierzu auch C. Meier/U. Ruberg: Text und Bild, S. 10f. 38 | Hierbei können sowohl Debatten aus den Bildwissenschaften zur spezifischen Dignität des Bildes als auch medien- und kommunikationstheoretische Ansätze zur Textualität und Historizität als Bedingung der Sinnerschließung für einen ganzheitlichen, kulturwissenschaftlichen Zugriff fruchtbar gemacht werden. Vgl. bspw. G. Boehm: Was ist ein Bild? S. 11-38; Ders.: Jenseits der Sprache? S. 28-43; zur historischen Bedingtheit ausführlich bspw. H. Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 32ff.
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zug von Texten und Abbildungen erschließen lassen.39 Durch eine gemeinsame Rezeption beider Wissensspender erfolgt eine mehrfache Vermittlung und Aneignung von Erkenntnissen, die es in Bilder-Sprache und Sprach-Bildern zu erfassen, zu verknüpfen und zu verstehen gilt. Der Status von Tierdarstellungen in Text und Bild ist allerdings je nach historischem und gattungsgeschichtlichem Hintergrund stets neu zu ermitteln. Es stellt sich somit die Frage, wie sich Darstellung und Auf bereitung naturkundlicher Wissensbestände im Buch der Natur in Text, Bild und Layout verbinden, um die Rezeption visuell zu leiten.40 Hierbei erweist sich das Wechselspiel der Medien nicht in allen Überlieferungsträgern als gleichermaßen dicht. Die Spannbreite reicht von einleitenden, ganzseitigen Sammelabbildungen, die eine Auswahl unterschiedlicher Tiere zusammenführen, über konsequente Einzelabbildungen derjenigen Tiere, die in den jeweiligen Beiträgen ausgeführt werden, bis hin zu einem In-Szene-Setzen ausgewählter Tier-Tierbzw. Tier-Mensch-Verhältnisse. Dieses mediale Zusammenwirken ermöglicht es, unterschiedliche Konstellationen zu vergegenwärtigen und das Animalische durch ein sprachliches wie bildliches Sammeln, Ordnen, Beschreiben und Klassifizieren zu systematisieren.41 Die Handschrift Cpg 311 gewährt den Tierdarstellungen bspw. eine herausgehobene Stellung, denn in Buch III, also in der Ausführung zu den Tieren, wird jede Art im »papyrus style«42 ins Bild gesetzt und rahmen- bzw. hintergrundlos in die einspaltigen Textkolumnen integriert (vgl. Abb. 1).43 Die Einzelabbildungen übernehmen gemeinsam mit der alphabethischen Struktur zum 39 | Vgl. N.H. Ott: Überlieferung, Ikonographie – Anspruchsniveau, Gebrauchsfunktion, S. 356-386. 40 | Die Handschrift (Cpg 311, UB Heidelberg) ist als Sammelhandschrift konzipiert und überliefert neben der Prologfassung des Buch[s] der Natur, interpolierend im Pflanzenkapitel, das Kräuterbuch Johannes Hartliebs. Gerold Hayer datiert die Handschrift in seiner Grundlagenforschung zur Text- und Überlieferungsgeschichte auf die Jahre 1455/60 und verortet sie entstehungsgeschichtlich im mittelrheinischen bzw. rheinfränkischen Schreibgebiet; die Fragen nach Entstehungsort, Schreibern, Zeichnern und Auftraggebern sind bisher unbeantwortet geblieben, die Abbildungen sind allerdings zwei unterschiedlichen Gestaltern zuzuordnen. Die Handschrift ist als Digitalisat auf der Homepage der Universitätsbibliothek Heidelberg einzusehen: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg311/0001 (letzter Zugriff 09.09.2015). Vgl. G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 171. 41 | Vgl. R.E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft, S. 54. 42 | Vgl. hierzu K. Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex, S. 53. 43 | Alle anderen Kapitel werden in Cpg 311 durch ganzseitige Sammelabbildungen eingeleitet. Vgl. hierzu das Digitalisat der Universitätsbibliothek Heidelberg: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg311/0001 (letzter Zugriff 09.09.2015). Vgl. G.
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einen die Aufgabe, ein schnelles Auffinden der Erzähleinheiten zu ermöglichen, und sie provozieren zum anderen Fragen, welche Eigenschaften oder Besonderheiten die jeweiligen Tiere auszeichnen. Die bildliche Darstellung tritt als Stellvertreter der Tiergattung, Ordnung oder Art in Erscheinung. Die Artikel überführen ein Abstraktum in konkrete tierliche Eigenschaften und Praktiken, bestimmen Handlungsorte und Lebensläufe und beglaubigen diese Zuschreibungen durch den Verweis auf antike Autoritäten. Auf diese Weise werden die Tiere zwar nicht individualisiert, aber doch konkretisiert.44 Durch Wort- und Bildschöpfung postuliert die systematische Sammlung zum einen die Existenz eines animalischen Referenten, zum anderen überlässt sie die imaginäre Ausgestaltung aber den Rezipient_innen. Je weniger naturkundliches Wissen über eine Art vermittelt wird, desto offener gestaltet sich der Freiraum, tierliche Wesensarten in der Vorstellungswelt fortzuschreiben. Auffällig ist in der Gesamtkomposition der Handschrift Cpg 311, dass der Fließtext nur dann unterbrochen wird, wenn ein neues Kapitel durch eine rubrizierte Überschrift der Tierarten und die zugehörige Abbildung eingeleitet wird. Dabei gelten offenbar für Maler wie für Schreiber die gleichen Gestaltungsregeln, denn Text und Bild bleiben innerhalb der Randlinierung, die die Fließrichtung des Verschriftlichungs- und Rezeptionsvorgangs leitet.45 Während Abbildungen anderer Handschriften die ›Erlaubnis‹ erhalten, auch über diese Grenzlinien hinauszugreifen, erhält der Codex in seiner Gebrauchsfunktion eine fast nüchterne Ästhetik. Die Abbildungen erfüllen weder eine rein dekorative oder strukturelle Funktion, noch erschöpft sich ihre Bedeutung im repräsentativen Charakter. Sie machen das wortreich Beschriebene einsichtig und eröffnen über dieses hinausweisend neue Sinndimensionen. Umgekehrt gelingt es dem Text, die Vieldeutigkeit der Abbildung auf ausgewählte Möglichkeiten des Verstehens hin zu reduzieren.46
Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 405; U. Spyra: Das »Buch der Natur« Konrads von Megenberg. 44 | Bruno Latour und Donna Haraway sind als Wegbereiter der Diskussion um einen erweiterten Akteursstatus zu verstehen, der die Wahrnehmung einer tierlichen agency ermöglicht. Der Begriff der ›Akteurschaft‹ ist allerdings nicht mit dem der agency gleichzusetzen. Beide Konzepte schließen allerdings die von Tieren (mit-)gestalteten Interaktionsgefüge ein, die gleichermaßen von intentionalem und nicht-intentionalen Handeln geprägt sein können und die sich in ästhetischen Gestaltungsformen auf besondere Weise entfalten können. Vgl. J. Bodenburg: Tier und Mensch, S. 51f; R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 103ff.; G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann: Animate History, S. 12f. 45 | Vgl. K. Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex, S. 72. 46 | Vgl. C. Brinker-von der Heyde: Die literarische Welt des Mittelalters, S. 100.
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Einer derartigen Hermeneutik, die prozessual, ganzheitlich gestaltend und Beziehungen stiftend vorgeht, gilt es sich durch einen rekonstruierenden Zugang anzunähern. Um ihre Bedeutungsdimensionen zu bestimmen, eignet sich eine Bezugnahme auf Ikonographie und Ikonologie im Sinne Erwin Panofskys.47 Seine Interpretationsmatrix bildlicher Darstellungen, die eine Verknüpfung von Text- und Bildtraditionen berücksichtigt, beinhaltet einen analytischen Dreischritt: Zuerst steht die Beschreibung des faktischen Vorkommens – hier des Animalischen – als Sujet im Fokus (»vor-ikonographisch«). Die Bildinhalte und Bildgegenstände werden durch Anwendung von Kontextwissen ausschließlich identifiziert, ohne sie bereits auszudeuten. Panofsky bezieht sich dabei auf das bloße Aufzählen von Formen, die »als Träger primärer oder natürlicher Bedeutungen«48 erkannt werden.49 Diese Bedeutungen werden in einem zweiten Schritt erfasst, der eine stil-, motiv- und symbolgeschichtliche Einordnung (»ikonographisch«) fordert und die identifizierten Formen ihren u.a. allegorischen und metaphorischen Bedeutungsebenen zuordnet. Drittens erweitert eine kulturhistorische Kontextualisierung unter Einbezug weiterer Quellenbestände die Deutungsperspektive (»ikonologisch«)50, die dem Bild schließlich einen ›Wesenssinn‹ zuschreibt. Durch diese mehrfache Sinnerschließung werden die medialen Bedeutungsebenen in einem kulturhistorischen Bezugssystem verortet.51 Während der methodische Ansatz Panofskys bisher von unterschiedlichen, in erster Linie historischen Disziplinen herangezogen wurde, um ihre meist textbasierte Forschung durch faktenlieferndes Bildmaterial zu erweitern, fokussiert die literatur-, kultur- und wissensgeschichtliche Perspektive neben der Historizität auch explizit eine bildliche Medialität, die als selbstreflexive Dimension der Tierdarstellungen untersucht wird. So erweist sich für die vormoderne Enzyklopädie bereits die erste Ebene, nämlich die Feststellung des Vorkommens von Tieren als Bild- und Textmotiv, die Identifikation und Beschreibung des dargestellten Tieres und seine Relationen im medialen Gefüge, als voraussetzungsvoll: Handelt es sich doch grundsätzlich um ein gedeutetes, verfremdetes, arrangiertes Wissen und damit keinesfalls um ein identisches
47 | Vgl. hierzu E. Panofskys Analysen »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« (1932) sowie auch die spätere überarbeitete Version des Modells von 1955 »Ikonographie und Ikonologie«, in: Ders., Ikonographie und Ikonologie. Vgl. hierzu M. Schulz: Ordnung der Bilder, S. 40-45. 48 | E. Panofsky: Ikonographie und Ikonologie, S. 37. 49 | Ebd. 50 | Vgl. ebd., S. 57; Ders.: Einführung, S. 7-35 und S. 36-67. Zum Analysepotenzial für Tierdarstellung M. Hengerer: Tiere und Bilder, S. 38f. 51 | Vgl. zur bildwissenschaftlichen Kritik bspw. M. Schulz: Ordnungen der Bilder, S. 42.
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Bild der Wirklichkeit.52 Dies bedeutet, dass die Anschauung allein nicht genügt, um eine Einsicht zu gewinnen, sondern sie erfordert immer eine mehrgliedrige Rekonstruktion und eine narratologische, symbolische, diskurstheoretische und kontextualisierende Einbettung der Tierdarstellungen.53 Die Zeichenhaftigkeit der Welt entschlüsselt sich weder durch ein ›einfaches‹ Lesen noch durch ein ›alleiniges‹ Betrachten, sondern ein eigentliches Erkennen der tierlichen ›Fährten‹ ist erst in der Kombination von beiden Darstellungsformen möglich. Welche Wertigkeit die einzelnen Zuschreibungen der Tiere erhalten, bleibt im Buch der Natur im Gegensatz zur geistlich-allegorischen Tradition allerdings mehrmalig offen, sodass unterschiedliche Deutungsdimensionen als Filter über die enzyklopädische Darstellung gelegt werden können, wie sich nun am Pantier-Exempel zeigen soll.54
»S o volgent sie aber seinr suͤ z zen « 55 : Z wischen ästhe tischer G estaltung und naturkundlicher E rfahrung Die Natur erscheint im enzyklopädischen Text als ein von Gott eingesetztes Zeichensystem und ist immer Trägerin mehrfacher Sinnebenen, die es zu erfahren und zu verstehen gilt. Hierbei überlagern sich im Pantier-Artikel Darstellungsmuster ästhetischer Gestaltung und naturkundlicher Erkenntnis, wenn das Tier erst durch die Erfahrung differenter Sinneseindrücke Gestalt annimmt:56 Visuelle, auditive, olfaktorische und taktile Wahrnehmung werden als tierliche Fern- und Nah-Sinne angesprochen, um eine Verhältnisbestimmung zwischen Tier und Tier bzw. zwischen Tier und Mensch zu entwerfen. Die tierlichen Sinneskanäle erweisen sich dabei als hoch entwickelt, sie ermöglichen Kommunikation sowie Interaktion und fungieren als Informationsträger, die in Text und Bild wirksam werden, um nicht nur ›über‹ sondern auch ›mit‹ Tieren zu denken. Diese Pluralisierung der Wahrnehmung lenkt den Fokus auf die Frage nach der Ordnung der Welt und des Wissens: Auf welche 52 | Vgl. P. Dinzelbacher: Mensch und Tier in der Geschichte Europas; S. Dittrich/L. Dittrich: Lexikon der Tiersymbole, S. 11; M. Hengerer: Tiere und Bilder, S. 44. 53 | Vgl. C. Meier/U. Ruberg: Text und Bild, S. 9; R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 96ff. 54 | Vgl. H. Grimm/C. Otterstedt: Einführung, S. 10; C. Lund: Bild und Text in mittelalterlichen Bestiarien, S. 62; H. Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild, S. 32ff. 55 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,12 (»So folgen sie aber seinem süßen Geruch nach«). 56 | Der mehrfache Schriftsinn bezeichnet ein Verfahren der Allegorese, das hinter dem wörtlichen Sinn eines Textes mehrere Bedeutungsebenen ausmacht. Vgl. N. Henkel: Studien zum »Physiologus« im Mittelalter, S. 139f.
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Weise verortet das Buch der Natur die Tier-Narration zwischen den Polen von naturkundlich-pragmatischer Sachinformation und christlich-allegorischer Naturinterpretation? Welche Exponenten der Naturbetrachtung werden explizit oder implizit aufgerufen, um die naturkundlichen Ordnungs- und Geltungsräume zu erfassen? Und wie verankert sich die Ausdifferenzierung der Tierarten in einem heilsgeschichtlichen Rahmen? Zu Beginn des Pantier-Artikels steht, wie bereits beobachtet, die visuelle Wahrnehmung des tierlichen Körperbildes im Vordergrund, das zwischen Vielfarbigkeit und Vielgestaltigkeit changiert. Zur artspezifischen Schönheit des Tieres zählt die Wohlgestalt in farblicher Harmonie und kreisförmiger Fellmusterung, die als äußerliche Qualität einen visuellen Anreiz bietet und die sowohl in antiker als auch geistlicher Tradition aufs engste mit dem Pantier verknüpft wird.57 Leuchtende Farben erhalten in der mittelalterlichen Kultur eine Zeichenfunktion von besonderer Intensität, wirken ordnungsstiftend und markieren ästhetische Wertigkeit. Eine derartige farblich hervorgehobene Position im Tiergefüge zeigt bspw. die Panther-Abbildung eines lateinischen Bestiariums mit der Signatur MS. Bodley 602 der Bodleian Library in Oxford (vgl. Abb. 2). Einer vor-ikonographischen Perspektive folgend lässt sich ein katzenhaftes Raubtier identifizierten, das in regenbogenartigen Farbvarianzen schillert, ein geflecktes Fell aufweist und das sein Maul weit geöffnet hat und etwas Linienförmiges ausspeit.58 57 | Vgl. zur Vielfarbigkeit PdÄ: Naturalis historia, Buch VIII, S. 56, XXIII,62; IvS: Etymologiae, S. 456, II.8. Die Farben Gold, Gelb, Schwarz und Weiß werden bei der Beschreibung des Pantier wiederholt genannt. Diese Farbpalette greift das antike Vierfarbschema auf, welches den Grundstein der mittelalterlichen Farbpoetik bildet. Vgl. R. Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter, S. 63; C. Oster: Die Farben höfischer Körper, S. 17f. 58 | Die lateinischen Bestiarien, die in der Überlieferungstradition auf dem Physiologus beruhen, stellen den Panther häufig als katzen-, hunde- oder bärenartiges Raubtier dar. Obwohl die Gestaltungen auf einer gemeinsamen Texttradition beruhen, variieren die bildlichen Darstellungsformen somit stark. So zeigt bspw. der Millstätter Physiologus ebenfalls die Szenerie der nachfolgenden Tiere, die auch Abb. 2 entwirft, der Panthere ist dort aber ebenfalls als Kompositwesen entworfen, das pferde- und löwenähnliche Züge trägt. Die Forschung zu Fragen der Überlieferungs- und Traditionslinien deutscher Naturkunden steht noch am Anfang, sodass sich zunächst nur für die Kompositionen im Buch der Natur feststellen lässt, dass hier die Darstellung des isolierten Kompositwesens (vgl. Abb. 1) vorherrscht. Vgl. dazu die Pantier-Abbildungen des Cpg 300 (um 1442-1448) der Universitätsbibliothek Heidelberg: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg300 (letzter Zugriff 09.09.2015) oder Ms Carm 1 Ausst 47 (um 1440) der Universitätsbibliothek Frankfurt: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/ msma/content/titleinfo/1971583 (letzter Zugriff 09.09.2015).
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Abb. 2: Oxford, Bodleian Library, Anonym: Bestiarium. Panther, MS Bodley 602, fol. 20r, Zweites Viertel 13. Jh. Den Panther, als den der lateinische Text das Raubtier ausweist, begleitet eine Gruppe verschiedenartiger Tiere: Vier katzen-, bären- oder hundeartige Raubtiere mit Klauen, die dem Panther in ihrer Gestalt nahestehen, und drei Beutetiere, die sich als Hirsch, Rind und Esel bestimmen lassen, treten als Stellvertreter ihrer jeweiligen Art in Erscheinung. Letztere stellen eine Verbindung zur Sphäre menschlicher Nutz- und Gebrauchstiere her, sodass aus einer ikonographischen Perspektive auch Hochwildjagd und Agrarwirtschaft als Bezugsrahmen in den Blick geraten und auf diese Weise unterschiedliche Raum- und Machtbeziehungen in einer Szene zusammengeführt werden. Wilde und domestizierte Tiere sehnen sich gleichermaßen nach der Nähe des Panthers, strecken sich ihm entgegen und nehmen mit geöffneten Mäulern seine Witterung auf. Währenddessen reflektiert sein grün-, rot- und braungemusterter Körper gleichsam ihre Farbigkeit und führt sie alle in seiner Gestalt zusammen.59 Im Gegensatz dazu sucht am rechten Bildrand ein geflügeltes Schlangenwesen die
59 | Vgl. D. Hassing: Medieval Bestiaries, S. 158f.
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Distanz und versteckt sich in einer Höhle.60 Zum einen fußt diese Bildsequenz auf einer engen Verbindung zur geistlichen Texttradition, zum anderen steht sie aber auch in einer Spannung zu ihr. Denn die Bild-Narration beschränkt sich nicht auf eine Repräsentation des Wortes mit piktoral-visuellen Mitteln, sondern folgt einer eigenständigen Sinnproduktion in Form einer szenischen Gleichzeitigkeit. Sie eint mehrere Tier-Narrative, die der Text aufeinanderfolgend ausführt sowie mit unterschiedlichen Wertungen versieht, und fokussiert stattdessen den Interaktionsprozess zwischen den Tierarten. Im Sinne einer ikonographischen Einordnung und einer ikonologischen Rekonstruktion überlagern sich hierbei naturkundlich-pragmatische und christlich-allegorische Darstellungsmuster. Diese Verwicklung einer animalischen Mehrdeutigkeit erkennt bereits Isidor von Sevilla in seiner Etymologiae als Herausforderung der Naturbeschreibung. Auf seine Wissensbestände greift Konrad von Megenberg wiederholt zurück, da Isidor das vorhandene Wissen der Antike kompiliert und seiner Zeit verfügbar macht. Seine Erkenntniseinstellung und Bewertungsmaßstäbe strukturieren sich über das etymologische Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem: So spiegele sich die Eigenart des Panthers, als soziales Wesen andere Tiere an sich zu binden, bereits in seiner Artbezeichnung. Sein Name leite sich aus der griechischen Sprache von pan ab, das alles bedeute.61 Diese etymologische Wesensbestimmung der Tierart lässt sich im Buch der Natur sowohl mit der abgebildeten Vielfarbig- und Vielgestaltigkeit verbinden, die eine ›naturgegebene‹ Nähe zu allen anderen Tieren suggeriert, als auch auf die Positionierung des Panthers in der Tiergemeinschaft übertragen, wenn Isidor ausführt: »Panther dictus, sive quod omnium animalium sit amicus, excepto dracone, sive quia et sui generis societate gaude et ad eandem similitudinem quicquid accipit reddit.« 62 (»Der Panther wird so genannt, entweder weil er aller Tiere Freund ist außer der des Drachen, oder weil er sich an der Gesellschaft seinesgleichen freut und denen, die ihm ähnlich sind, was er erhält, auch zurückgibt.«) 63
Diese Klassifizierung fußt auf einer zweigliedrigen Argumentation, die vom Allgemeinen zum Besonderen verläuft: Auf der einen Seite zeichne den Panther eine artübergreifende Beziehungsfähigkeit aus, wenn er seine Freundesliebe 60 | Vgl. zur Darstellungstradition der Vielfarbigkeit in Bestiarien z.B. auch eine Panthera-Abbildung, die das Tier in grün-, rot- und blaugestreift zeigt: in Royal MS 12 F. Xiii, der British Library, (um 1230), folio 9r: www.bl.uk/manuscripts/Viewer. aspx?ref=royal_ms_12_f_xiii_f001r (letzter Zugriff 09.09.2015). 61 | IvS: »Von den wilden Tieren«, S. 456, II.8. 62 | IvS: »De Bestiis«, II.8. 63 | IvS: »Von den wilden Tieren«, S. 456, II.8.
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(fast) allen Tieren widmet. Der Ausschluss des Drachen aus dieser Gemeinschaft zeugt gleichzeitig von der Kompetenz der Differenzierungsfähigkeit. Diese Beurteilung der Arten findet sich auf der anderen Seite in einem komplementären Emotionsgefüge wieder, in dem Freude empfangen und erwidert wird, allerdings nur unter Seinesgleichen. Welche Tierarten diesem Kreis der Ähnlichen angehören, bleibt dabei offen. Ein vielschichtiges, tierliches Sozialleben erfordert somit die Fähigkeit zur gegenseitigen Aufmerksamkeit, sodass ein Einander-Beobachten und -Einschätzen zur Voraussetzung von Nähe- und Distanzmodellen wird. Derartige hierarchisierende Zuschreibungen korrespondieren mit der antiken Vorstellung, nach der die äußere Schönheit zugleich eine moralisch-ethische Qualität widerspiegelt. Demzufolge kann aus einer ikonographischen Perspektive die tierliche Vielfarbigkeit zum Zeugnis einer Tugendvielfalt werden, wie die Erzählinstanz im Buch der Natur bestätigt: »Daz tier iſt gar ſa ͤ nftig vnd hat nevr ainen veint: den trachen.«64 Der Pantier erweist sich der semantischen Breite von »ſa ͤ nftig« entsprechend, ähnlich wie bei Isidor, als sanftmütig, zahm, wohlgefällig und freundlich gegenüber (fast) allen Tieren und erscheint daher in mehrfacher Beziehung »gar schoen«65, wenn sich seine visuelle Anziehungskraft über die auditive und olfaktorische Wahrnehmung noch potenziert: »Wenn ez geizzt vnd ſ at wirt von mangerlay ezzen, ſ o verpirgt ez ſ ich in ſ ein hol, ſ am Ari ſ totiles ſ pricht, vnd ſ laͤ ft drei tag. Dar nach ſ tet ez auf von dem ſ laff vnd ſ chreit gar ſ er. Daz hoͤ rnd andrev tier vnd ſ amnent ſ ich zvͦ im durch dez ſ uͤ zzen ſ mackes willen, der auz im get.« 66 (»Wenn es sich an mancherlei Speise sattgefressen hat, verbirgt es sich, nach Aristoteles, in seiner Höhle und schläft drei Tage. Dann steht es vom Schlaf wieder auf und schreit gewaltig. Das hören dann andere Tiere und versammeln sich in seiner Nähe wegen des süßen Geruches, der von ihm ausgeht.«)
Die sachliche Erzählung vom süßen Atem erhält im Buch der Natur, einer geistlichen Überlieferungstradition folgend, zugleich eine allegorische Signalwirkung, denn der Panthera tritt im Physiologus dezidiert als Träger christologischer Aussagen in Erscheinung. Aus den beschriebenen Eigenschaften, 64 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,7 (»Das Tier ist sehr sanfter Art und hat nur einen Feind, den Drachen«). 65 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,4. Vgl. hierzu den Millstädter Physiologus »Dar nach heizzet ein tier Panthere, mit mislicher varwe./scone ist ez genouch, dar zuo listich unde gefuoch./von dem tiere man liset, dem Drachen ist ez vient, swa ez in sihet.« (»Danach wird ein Tier Panther genannt. Es besitzt verschiedene Farben, ist sehr schön und dazu klug und geschickt. Über das Tier steht geschrieben, dass es dem Drachen feindlich gesonnen ist, wo es ihn auch erblickt.«) MPhy, 10,1-3. 66 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,8-11.
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dem Charakter und Verhalten des Tieres werden Analogien zur christlichen Heilslehre hergestellt, sodass eine derartige Funktionsbestimmung der Naturbeschreibung andersgearteten Strukturmustern folgt als die antiken Quellentraditionen. Die naturkundlichen Berichte des Physiologus enthalten deshalb kaum – es sei denn, sie werden als bedeutungshaltig angesehen – naturkundliche Sachunterrichtung. Er entwirft stattdessen tatsächliche wie vermutete Eigenschaften als tierliche Wort- und Abbilder, die erst durch ihre geistliche bzw. moraldidaktische Auslegung bedeutsam werden. Die beschriebenen Eigenschaften des Tieres werden konsequent auf das zu behandelnde theologische Thema angewandt, sodass der gesättigte Panthera, der sich für einen dreitägigen Schlaf in die Höhle zurückzieht, bis er mit einem lauten Schrei wieder erwacht, zu einem Sinnbild Christi wird. Der Millstätter Physiologus legt den Panthera wie folgt aus:67 »Also tet der heilige Christ, der er wariu Panthera ist, do er gesach daz mennisclich chunne mit dem tievil bedwungen, von himil fuor er gereite mit siner mennischeite. er lost uns mit sinem suozzen smach.« (»Ebenso verhielt sich der heilige Christus, der in Wahrheit der Panther ist. Als er erkannte, dass die Menschheit vom Teufel überwältigt ist, kam er so bereitwillig vom Himmel herab und wurde Mensch. Durch seinen süßen Duft erlöste er uns.«)68
Hier scheint der Panthera seine Raubtiermanier abgelegt zu haben, ist zivilisiert und ihm folgen die Tiere nach wie die Gläubigen dem auferstandenen Christ, der die Menschen durch die Süße seiner Gnade erlöst. Die Feindschaft zum Drachen kennzeichnet keine artspezifische Konkurrenz, sondern den Kampf gegen den Teufel, das Böse und die Erbsünde, den der Panthera erfolgreich führt. Auch die Erzählinstanz im Buch der Natur betont dieses tierliche Verhältnis, wenn der Pantier-Artikel mit dieser exklusiven Gegnerschaft schließt: »Der trackch fuͤ rhtet ſein ſtimm vnd chain tier mer.«69 So lässt sich der Rückzug des Drachen in die Höhle, den die Abbildung MS. Bodley 602 visualisiert (vgl. Abb. 2), aus einer ikonographischen Perspektive als ein Triumph über den Teufel verstehen. Für die anderen Tiere zeichnet der »suozze smache« 70 den Panthera hingegen als Inbegriff des Schönen aus – er ist Vor- und 67 | Der Millstätter Physiologus ist eine illustrierte, in südbairischen Frühmittelhochdeutsch und in Reimversen verfasste Handschrift, deren Entstehungszeit um das Jahr 1200 angenommen wird. Vgl. C. Schröder: Der Millstätter Physiologus. 68 | Mphy 14,1-4. 69 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,23 (»Der Drache fürchtet seine Stimme, sonst kein anderes Tier«). 70 | Mphy 12,2.
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Heilsbild.71 Der Millstätter Physiologus stellt die Unvergleichbarkeit des Sinneseindrucks heraus: »so rohot iz starche, von im chumet solich smache,/daz niht im gelichis in der werlde suozze ist.« 72 Die christlich-allegorische Auslegung dieser Eigenschaft prägt die Tier-Narrative in der mittelalterlichen Literatur nachhaltig und so setzen bspw. Bestiarien des englischen und französischen Sprachraums wiederholt eben diese tierliche Gefolgschaft als Zeichen einer Tier-Mensch-Gott-Relationierung in Szene (vgl. Abb. 2).73 Die Erzählinstanz im Buch der Natur hingegen positioniert sich bewusst zwischen den Traditionslinien, wenn sie zwar die typisierte Eigenschaft des süßen Atems benennt und damit die theologischen Wissensbezüge ko-memoriert, die Auslegung derselben aber ausspart. Stattdessen rückt mit dem Verweis auf Aristoteles wieder die antike Überlieferungstradition in den Fokus, in der der süße Atem noch eine ganz andere Funktion erfüllt – und zwar in einer Räuber-Beute-Beziehung: »Aber ſ i er ſ chrekend von ſ einem anplick, ſ o verpirgt er ſ ich. So volgent ſ ie aber ſ ienr ſ uͤ zzen, al ſ o laͤ t er ſ ie vnd ſ traft ſ ein ge ſ t, wann er frizzt etzleichen.«74 (»Vor seinem Anblick erschrecken sie aber, er verbirgt sich dann und die anderen Tiere folgen seinem süßen Geruch weiter nach. Auf diese Weise lockt der Panther sie an und schädigt dann seine Gäste, denn einige von ihnen frisst er.«)
Hier lockt der Pantier seine Beute also mithilfe des anziehenden Dufts in die Falle, er ist Teil seiner ›schrecklich-schönen‹ Jagdstrategie. Auch Plinius beschreibt in der Naturalis historia, in der ältesten überlieferten, naturgeschichtlichen Enzyklopädie in lateinischer Sprache, ein derartiges, zielbewusstes Vorgehen:75 »ferunt odore earum mire sollicitari quadripedes cunctas, sed capitis torvitate terreri; quam ob rem occultato eo reliqua dulcedine invitatas corripiunt.«76 (»Durch den Geruch der Panther sollen alle Vierfüßler auf merkwürdige Weise angezogen, durch die Wildheit des Kopfes aber abgestoßen werden; deshalb verbergen die Panther diesen und fangen die Tiere, die sie durch das andere Reizmittel angelockt haben.«) 71 | Vgl. M. Schnyder: Panther, Pardel, Pardelthier, S. 70; C. List: Tiere. Gestalt und Bedeutung, S. 73f. 72 | Mphy, 11,4f. (»Ein derartiger Duft geht von ihm aus, dass es keinen süßen Wohlgeruch, der dem gleich wäre, in der Welt gibt.«) 73 | Vgl. N. Harris: gar süezen smac daz pantir hât, S. 65. 74 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,11-13. 75 | Vgl. S. Schreiner: Plinius der Ältere über Tiere in der Naturalis Historia, S. 93ff.; C. List: Tiere. Gestalt und Bedeutung, S. 56. 76 | PdÄ: Naturalis historia, Buch VIII, S. 56, XXIII,62.
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Dieser Zuschreibung folgend, modelliert auch die Bilder-Sprache im Buch der Natur den Pantier als einzigartiges Raubtier, das durch seine Vielgestaltigkeit in einem Grenzbereich der Arten verortet ist (vgl. Abb. 1). Die querformatige, kolorierte Federzeichnung zeigt, einer vor-ikonographischen Perspektive entsprechend, ein Kompositwesen in rotbrauner, weißer und gelber Färbung, das differente tierliche Körperteile in sich vereint.77 Der Begriff des Kompositwesens betont das Entworfen-Sein der Gestalt, sodass die Separation der Einzelglieder zum einen das ästhetische Darstellungsmuster akzentuiert, während der Blick auf dessen Gesamtheit zum anderen aber eine naturkundliche Verortung als selbstständige Art einschließt. Hierbei kommt im kraftvollen Körper, der zum Sprung ansetzt, die Mobilität und Jagdbereitschaft zum Vorschein. Während das Kompositwesen sorgsam koloriert ist, verstärkt die leichte Verschiebung des textspaltenbreiten, grün- und braungefärbten Bodenstreifens und des über den Rand hinausragenden Schwanzes die Imagination eines Tiers in Bewegung – bereit seine Beute zu verfolgen und zu greifen.78 Der hundeähnliche Kopf zeigt ein weit aufgesperrtes Maul, aus dem rotgefärbte, flammenartige Linien strömen, und er trägt zwei gelb- und weißgefärbte Hörner, die wie die eines Stiers geformt sind. Hierdurch rückt der Pantier im ikonographischen Sinn in die Nähe zum Drachen, der sich durch eine gleichartige Vielgestaltigkeit auszeichnet, während der Text hingegen die tierliche Distanz betont.79 Die Vorderbeine sind als viergliedrige vogelartige Klauen in gelber Färbung gestaltet, die Hinterbeine als katzenartige Pranken in rotbrauner Färbung; sie vervollständigen den Eindruck eines Beutegreifers. Dabei ist die Vorstellung, dass die Tiere vor »ſeinem anplick« erschrecken bzw. dass der Kopf des Pantier furchterregend sei, dass er ihn verberge, um die angelockten Tiere nicht zu verjagen, Teil der physiognomischen Auffassung, dass sich eine räuberische Listigkeit in der Mimik ablesen lasse.80 Die Erzählinstanz im Buch der Natur lehnt ein derartiges Verhalten ab, wenn sie mit der Formulierung, der Pantier »ſtraft ſein geſt«, den sozialen Normverstoß herausstellt. Das Raubtier ignoriert jede Regel höfischer Gastfreundschaft, wenn es die geladenen Tiere schließlich verspeist. Die bildliche Vereinzelung des Tieres (vgl. Abb. 1) illustriert zwar nur begrenzt die im Text beschriebenen Eigenschaften, sie rückt das Kompositwesen aber, einer ikonographischen Einordnung zum einen und 77 | Als eine der insgesamt 299 ca. viertelseitengroßen Federzeichnungen des Cpg 311 ist auch diese mit Wasser- und Deckfarben entworfen. Vgl. G. Hayer: Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«, S. 171. 78 | Vgl. hierzu M. Reuter: Text und Bild, S. 5. Nach Reuter ist diese Abbildungsform rahmenloser Bilder für naturkundliche Werke nicht unüblich, wenn viele Einzelobjekte einer Spezies abgehandelt werden, wie dies bei Cpg 311 der Fall ist. 79 | Schweif und Mähne greifen diese Dreigliederung ebenfalls auf. 80 | Vgl. M. Schnyder: Panther, Pardel, Pardelthier, S. 70.
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einer ikonologischen Kontextualisierung zum anderen folgend, in die Nähe der antiken Überlieferungen, die diese gewaltfähige und räuberische Wesensart betonen. So verortet Isidor von Sevilla den Panther unter den »bestia«, also unter den wilden Tieren, »welche mit dem Maul oder den Krallen wüten«:81 »Bestiae dictae a vi, qua saeviunt. Ferae appellatae, eo quod naturali utuntur libertate et desiderio suo ferantur. Sunt enim liberae eorium voluntates, es huc atque illuc vagntur et quo animus duxerit, eo feruntur.« 82 (»Die wilden Tiere sind nach der Gewalt benannt, durch die [oder auch mit der] sie wüten. Wild werden sie genannt, weil sie sich ihrer natürlichen Freiheit bedienen und von ihrem Begehren getragen werden. Ihr Wille ist nämlich frei und hier und da streifen sie umher, und wohin sie ihr Sinn führt, dorthin lassen sie sich tragen.«) 83
Der Pantier-Artikel im Buch der Natur konkretisiert diese Eigenschaften, wenn die Erzählinstanz, Bezug nehmend auf Isidor und Plinius, eine geschlechtsspezifische Dimension der Gewaltfähigkeit kennzeichnet und die Auswirkung der artspezifischen Wildheit auf Fortpflanzungs- und Geburtsverhalten ausführt: »Y ſ idorus ſ pricht, daz das tier nevr ains mals geper darvmb, daz ſ einev chindel in der muͦ ter leib der rehten zeit erbaitend vnd zerrend die muͦ ter inwendig mit irn scharpfen claen vnd lazzent die muͦ ter halb tot. Darvmb wirt ſ ie vnperhaft, wan als Plinius ſ pricht, welhiu tier scharpf claen habent, die muͤ gent niht oft gepern darvmb, daz die chindel in der muͦ ter ſ ich wegent vnd verderbent ſ ie.« 84 (»Isidor sagt, das Tier werfe nur einmal, weil die Jungen im Mutterleibe die rechte Zeit nicht abwarten, die Gebärmutter inwendig mit ihren scharfen Klauen zerren und nach der Geburt das Muttertier halbtot liegen lassen. Deshalb wird das Weibchen unfruchtbar, wie auch Plinius bemerkt, dass alle Tiere mit scharfen Klauen nicht oft werfen können, weil die Jungen im Mutterleibe sich bewegen und die Mutter beschädigen.«)
Den weiblichen Pantier zeichnet eine gefährliche Fürsorgebeziehung aus, wenn die ungeborenen Nachkommen bereits durch ihre Anatomie sowie durch ihre angeborene Wildheit, Freiheitssuche und Ungeduld eine Gefährdung für ihr Leben darstellen und ihre Fähigkeit einschränken, sich mehr als einmal fortzupflanzen. Gerade diejenigen Eigenschaften, die den Pantier zum erfolgreichen Beutegreifer prädestinieren, machen die Reproduktion zu einem ernsthaften Wagnis. Die Erzählinstanz im Buch der Natur entwirft im Rückgriff auf antike Traditionen eine risikovolle Mutter-Kind-Beziehung, die zum 81 | IvS: »Von den wilden Tieren«, S. 455, II.1. 82 | IvS: »De Bestiis«, II.2. 83 | IvS: »Von den wilden Tieren«, S. 455, II.2. 84 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,14-19.
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einen die mütterliche Opferbereitschaft hervorhebt und zum anderen eine ›naturgegebene‹ Unkontrolliertheit als Disposition beschreibt, die selbst verwandtschaftliche Beziehungsgefüge nicht verschont. Doch auch hier tritt der Pantier nicht vorrangig über eine individuelle Geschichte in Erscheinung, sondern der sachkundige Verweis in antiker Tradition dient eher einer naturkundlich-pragmatischen Funktionalisierung. Mit Plinius wird die Besonderheit des Fortpflanzungsverhaltens noch vom Speziellen auf das Allgemeine – die ganze Gattung »bestia« – übertragen, da diese Eigenart unter anderem für Züchtungs- und Zähmungsversuche von Raubtieren von Bedeutung ist.85 Wie über Gestalt, Bewegungsart und Herkunft ordnet sie auch die Wesensart der Wildheit, Gewaltfähigkeit, Freiheitsliebe und Gewandtheit in eine Hierarchie des Lebendigen ein, wie sie sich auch im bildlichen Körperbau des Pantier (Abb. 1) manifestiert. Sie bleibt aber ohne individuellen Bezug: Das vielgestaltige Raubtier wird zum naturkundlichen Schaustück gemacht. Die bildlichen Darstellungen des Pantier folgen in der Handschriftenüberlieferung des Buch[s] der Natur nahezu gleichförmig dieser Bilder-Sprache des Kompositwesens. Auf diese Weise entsteht, einer ikonologischen Perspektive folgend, eine piktoral-visuelle Nähekonstellation zu einer weiteren zentralen Diskurstradition tierlicher Zeichencodes, nämlich zur Heraldik. Besonders augenf ällig wird ein intertextueller und interfiguraler Bezug anhand der Pantier-Abbildung in der Buch der Natur-Handschrift Ms. Carm. 1 der Universitätsbibliothek Stuttgart aus dem 15. Jahrhundert. Denn dieser Pantier steht als einziger seiner Art aufrecht auf seinen (behuften) Hinterbeinen86 und verweist in seiner Darbietung mit senkrechtem, mehrfach gewundenen Schweif und mit erhobenen Vorderbeinen auf ähnliche Abbildungen aus der Wappentradition.87 Diese kennt eine Vielzahl von Tier-Chiffren, in denen vor allem Löwen, Adler, Pferde und Eber zu bevorzugten Objekten adeliger Identifikation gemacht werden. Das Wappen erweist sich dabei als institutionelles und genealogisches 85 | Plinius d. Ä. hinterfragt die Gültigkeit dieser Zuschreibung allerdings selbst in Bezug auf den Löwen und bezieht sich in seinen Ausführungen auf Aristoteles, dem er nachfolgen will. Vgl. PdÄ: Naturalis historia, Buch VIII, XVII,43. 86 | Es werden hierbei die Pantier-Abbildungen folgender Handschriften eingeschlossen: Frankfurt a.M., StuUB, Ms. Carm. 1, fol. 107v; Heidelberg, Ub, Cpg 300, fol. 111r; Heidelberg, UB, Cpg 311, fol. 105r; Strasbourg, BNU, Cod. 2264, fol. 88va; Stuttgart, WLB, Cod. Med. et phys. Fol. 14, fol. 128v. Alle Abbildungen sind einzusehen bei U. Spyra: Das »Buch der Natur« Konrads von Megenberg (Anhang, ohne Seitenangaben). 87 | Während die Pantier-Darstellungen in den Buch der Natur-Handschriften bei den Hinterbeinen gelegentlich zwischen Raubtierpranken und Hufen variieren, unterteilt die Heraldik diese Darstellungen in zwei Tier-Chiffren: Das behufte Wesen wird als »Feuerspeiende Antilope« benannt. Vgl. W. Leonhard: Das große Buch der Wappenkunst, S. 242.
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Medium, das die Person, die es trägt, in einem mehrdimensionalen Kontext verortet.
Abb. 3: Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol. Jörg Rugen: Wappenbuch. Das Herztom Steyr, Cod. 545, fol. 231r, um 1495/98. Der Panther gehört zu den ältesten Bildmotiven der Wappenkunde und ist erstmals um 1160 auf einem Siegelstempel des Markgrafen Otakar III. von Steier zu finden.88 Aus dem anfänglich als Familienwappen adaptierten Bildmotiv entwickelt sich schließlich der »Steirische Panther«, der bis heute in weiß (silber) auf grünem Grund das Landeswappen der Steiermark ziert.89 Auch hier zeigt sich der Panther, einer vor-ikonographischen Sicht folgend, als ein Kom88 | Vgl. ebd., S. 16. 89 | Vgl. zur Entstehungsgeschichte erstmals A.R.A. von Siegenfeld: Das Landeswappen der Steiermark; H. Appelt: Die Entstehung des steirischen Landeswappens, S. 77-86.
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positwesen mit Vogel-, Raubkatzen- und Stierattributen.90 Er verweist in einem ikonographischen Sinn mit seinen feurigen Atemlinien sowohl auf die antike Tradition einer gewaltfähigen Jagdstrategie als auch auf die geistliche Tradition einer christlichen Gemeinschaftsfähigkeit.91 Somit fügen sich heraldische, naturkundlich-pragmatische und christlich-allegorische Deutungsdimensionen ineinander, wenn der Panther zum symbolhaften Bildträger einer mehrfachen Herrschaftsbefähigung wird: In ihr überlagern sich ideologische, genealogische, affektive, ästhetische und politische Einschreibungen. Damit gilt das PantherWappen nicht nur als kollektives Standeszeichen, sondern auch als »Sinnbild der Person und zugleich [als] Sinnbild der Persönlichkeit«92. Es attestiert seinem Träger eine überlegene Natur- und damit Herrschaftsqualität, die gewissermaßen das ›natürliche‹ Gegenstück zur ständischen Selbstvergewisserung bildet.93 Gerade höfisch-literarische Texte heben diesen ambivalenten Verweiszusammenhang wiederholt hervor und eröffnen den Wappen in ihrer Beziehung zu den literarischen Helden sogar eine Art Eigenleben. In dieser heraldischen Codierung verbindet sich der Ritter nämlich mit seinen ständischen Insignien, mit Waffen und Pferd, und erweist sich als eine Symbiose von Mensch, Tier und Kampftechnik. So stattet bspw. Wolfram von Eschenbach im Parzival den Vater des Titelhelden, Gahmuret, mit einem »pantel«94 als Wappentier aus und in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet trägt ein Verwandter des Protagonisten einen Schild mit einem »pantiere«.95 Waffe, heraldisches Raubtier und Held teilen animalische Qualitäten und so steuert diese Tier-Mensch-Ding-Relation die Selbst- und Fremdwahrnehmung des adeligen Kampfkörpers. Hierbei kreuzen sich verschiedene naturkundlich geprägte Zeichenfunktionen der Tier-Chiffre, wenn der Pantier in einer spannungsvollen Bezugnahme auf 90 | Die Entstehungsgeschichte des heraldischen wie des naturkundlichen Kom positwesens wurde bisher noch nicht rekonstruiert. Wie sich die Kombination aus Raubkatze (Löwe), Vogel (Adler), Stier (Pferd, Hund) ergibt, kann nur mutmaßlich aus den Gemeinsamkeiten der Tiere im christlich-höfischen Kontext hergeleitet werden. 91 | In der Forschung dominiert die Überzeugung, der heraldische Panther speise sich aus dem Physiologus. Spätestens der italienische, heraldische Panther mit dem sprechenden Namen »La Dolce« (die Süße) verweist auf den Zusammenhang zwischen Heraldik und Tierkunde. Vgl. hierzu A.R.A. von Siegenfeld: Das Landeswappen der Steiermark, S. 128f. 92 | Mit welchem Bewusstsein der mittelalterliche Adel seine Wappen auswählte, kann heute nicht mehr gesagt werden, da keine schriftlichen Quellen die Motivationen benennen. Vgl. W. Leonhard: Das große Buch der Wappenkunst, S. 17f. 93 | Vgl. U. Friedrich: Menschentier und Tiermensch, S. 205f. 94 | WvE: Parzival, V. 101,7f. 95 | UvZ: Lanzelet, V. 6307f. Vgl. H. Hartmann: Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters, S. 147-179.
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weltliche und geistliche Verweishorizonte zugleich als Symbol feudaler Macht und als Zeichen des miles Christi erscheint. Eine derartige Korrelation und Hybridisierung naturkundlicher und feudaler Diskurse zeigt sich bspw. auch in poetischen Traditionen enzyklopädischer Dichtungen, in denen höfisch-literarische Verfahren mit enzyklopädischer Wissenspräsentation einhergehen. Mittelalterliches ›gelehrtes‹ Wissen korrespondiert somit mit Bereichen ›ungelehrten‹ Wissens, mit Praktiken des Alltags und spiegelt in vielen Facetten den Wandel und die Expansion der Wissensformationen als einer interdiskursiven Austauschbeziehung wider.96 Die höfisch-literarischen Texte zeugen dabei von einer Polyvalenz des Animalischen, wenn Tiere sowohl als semiotische Zeichenträger als auch als handlungsaktive, diegetische Figurationen in Erscheinung treten. So erweist sich der Panthier etwa im Roman Appolonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, der auf das frühe 14. Jahrhundert datiert wird, als Kampfgefährte, Reittier und sprachfähiger Begleiter des Titelhelden. Erneut vermischen sich naturkundliche und christlich-allegorische Überlieferungstradition, wenn auch hier sein »geschmack also güt«97 ist, dass ihm alle anderen Tiere nachfolgen, oder die Feindschaft zum Drachen zu einem Kampfgeschehen führt, in dem Titelheld und Panthier gemeinsam gegen den Gegner antreten.98 Gleichzeitig nimmt diese Tier-Mensch-Beziehung auch intertextuell Bezug auf die Texttraditionen des höfischen Romans, wenn eine interspezifische Gemeinschaft beschrieben wird, die der von Iwein und dem Löwen bei Hartmann von Aue ähnelt.99 Derartige interspezifische Relationen kennt auch die antike Naturkunde. Plinius führt eine Exempelerzählung an, um der Frage nachzugehen, welche Beziehungen zwischen wilden Tieren und Menschen denkbar sind. Die naturkundliche Beobachtung erfährt dabei, gekennzeichnet als Bericht des Naturforschers Demetrius, eine doppelte Beglaubigung: »Aeque memorandum et de panthera tradit Demetrius physicus: iacentem in media via hominis desiderio repente apparuisse patri cuiusdam Philini, adsectatoris sapientiae; illum pavore coepisse regredi, feram vero circumvolutari non dubie blandientem seseque conflicantem maerore, qui etiam in panthera intellegi posset. feta erat, catulis procul in foveam delapsis. primum ergo miserationis fuit non expavescere, proximum et curam intendere. secutusque qua trahebat vestem unguium levi iniectu; ut causam doloris intellexit simulque salutis suae mercedem, exemit catulos. ea cum his prosequente usque extra solitudines deductus laeta atque gestiente, ut facile appareret gratiam referre et nihil in vicem inputare, quod etiam in homine rarum est.« 96 | Vgl. T. Bulang: Enzyklopädische Dichtungen, S. 30f. 97 | HvN: Apollonius von Tyrland, V. 10165. 98 | Vgl. ebd., V. 10203-10206. 99 | Vgl. HvA: Iwein, V. 3828-3882. Vgl. N. Harris: gar süezen smac daz pantir hât, S. 74.
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Es handelt sich um eine Tier-Mensch-Erzählung, die eine artübergreifende Kommunikations- und Emotionsfähigkeit in den Mittelpunkt rückt. Planendes Verhalten im Tierreich ist für den Naturforscher Plinius von besonderem Interesse, vor allem wenn sich ein wildes Tier – wie hier beschrieben – Hilfe suchend an Menschen wendet. Dabei rückt das menschliche Bewusstsein für die Gefahr, die von dem Raubtier droht, durch dessen körperlichen Emotionsausdruck und die signalisierte Schwäche völlig in den Hintergrund, während das Mitgefühl eine Hilfsbereitschaft zwischen den Spezies ermöglicht.101 Die Beschreibung der tierlichen Körpersprache, einer nonverbalen Bitte um Hilfe und das Führen zur Grube spiegelt eine gedankliche Öffnung eines TierMensch-Dualismus, der dem Tier typischerweise die Rolle des ›ganz Anderen‹ zuweist. Stattdessen arbeitet Plinius analog zur Betonung der vielfältigen anatomischen und mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede zwischen Tieren und Menschen auch zahlreiche Gemeinsamkeiten heraus. So wirkt das genderbezogene Stereotyp einer weiblichen Hilfsbedürftigkeit über die Grenzen der Arten hinweg und motiviert das männliche Gegenüber zu handeln: Der Mann kann Mutter und Kind aus einer Notlage befreien. Diese individualisierende Konstellation betont ein konkretes emotionales Bezugssystem zwischen Tieren und Menschen. Hierdurch rückt sogar eine temporäre Umkehrung der Hierarchien in den Blick, wenn die tierliche Begleiterin Dankbarkeit und Freude für die geleistete Hilfe stärker auszudrücken vermag, als dies im Vergleich zu ihr bei vielen Menschen der Fall sei. Plinius zeigt in dieser Anekdote, aber auch in einer Reihe seiner enzyklopädischen Ausführungen, einen mehrmaligen Wechsel zwischen naturkundlich-pragmatischen Sachinformationen und einer zunehmenden Individualisierung der Beziehungsgefüge, die sich auch in 100 | PdÄ: Naturalis historia, Buch VIII, S. 54,XXI,59f. 101 | Vgl. S. Schreiner: Plinius der Ältere über Tiere in der Naturalis Historia, S. 93f.
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einem nähesprachlichen Erzählmodus abbildet. Dieses anekdotische Erzählen eröffnet einen Möglichkeitsraum, der Tieren wie Menschen wiederholt gleichartige Fähigkeiten – auch moralisch-ethische – zuspricht, mit denen sie ihre Lebensgeschichten meistern. So weiß Plinius in Bezug auf den Panthera von einer animalischen Spurensuche zu berichten, die im enzyklopädischen Erzählen eine mehrdeutige Tier-Mensch-Beziehung der Nähe eröffnet. Er konstatiert: »miremur postea vestigia hominum intellegi a feris, cum etiam auxilia ab uno animalium sperent!« (»Da sollen wir uns in Zukunft nicht wundern, daß wilde Tiere die Spuren des Menschen erkennen, wenn sie von ihm allein unter den Lebewesen Hilfe erwarten!«)102
»E ltleich sprechent von dem pantier « 103: ein F a zit »Eltleich ſprechent von dem pantier« – so berichtet es uns die Erzählinstanz im Buch der Natur – dieser Vielstimmigkeit als einer spezifischen Qualität des enzyklopädischen Textes galt unsere Analyse. Hierbei werden Bezugspunkte eines gattungs-, zeit- und kulturspezifischen Umgangs mit Tieren aufgezeigt und das Spektrum enzyklopädischer Darstellungs- und Deutungsmöglichkeiten anhand eines ausgewählten Beispiels systematisiert. Der Pantier fordert in diesem Zusammenhang eine intermediale Analyse geradezu ein, wenn seine Tier-Narrative unmittelbar die Fragestellung thematisieren, welche Formen des Kontakts zwischen Tieren und Menschen im Wahrnehmungsprozess von Welt, Text und Bild möglich sind. Die Sprach-Bilder und die Bilder-Sprache im Buch der Natur Konrads von Megenberg legen unterschiedliche Sinnschichten frei, die uns ein reiches Potenzial mittelalterlicher Assoziationsmöglichkeiten andeuten. Naturkundlich-pragmatische, theologische, heraldische und höfisch-literarische Wissensbestände erweisen sich als Wissensspeicher, die sich wechselseitig bedingen und die in ihrer Bedeutungsvielfalt einen ambivalenten Möglichkeitsraum tierlicher Ordnungs- und Wertungsmuster eröffnen. Sie stellen im Pantier-Artikel im Buch der Natur gleichermaßen einen tierlichen Schönheitspreis, Handlungs- und Bewegungsfreiheit des wilden Raubtiers, christlich-allegorische Auslegung, Kommunikations- und Interaktionsprozesse sowie Emotionalisierungsformen, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse zur Schau. Die Narrativik der Bilder korrespondiert dabei mit einer Bildhaftigkeit der Sprache, sodass eine mehrdeutige Perzeption des Animalischen in Form von Vergegenwärtigung, Teilhabe und Memorierbarkeit möglich wird. 102 | PdÄ: Naturalis historia, Buch VIII, S. 54,XXI,58. 103 | KvM, III.A.58 »Von dem pantier«, S. 182,22f. (»Viele erzählen sich von dem Pantier«).
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Hierbei tritt auch die eigenständige Leistung des Bildes als Medium hervor, welches die Rezeption des Textes zu lenken und zu regulieren vermag und die mit ihrem Bezug zur Heraldik eine extratextuelle, erweiterte Sinn- und Bedeutungsebene bereitstellt.104 Für diese Positionierung zwischen Eigenem und Fremdem, die die Reflexion des Animalischen im enzyklopädischen Wissenskompendium bestimmt, erweist sich eine diskurs-, wissens- und kulturgeschichtliche Perspektivierung als notwendig.105 Die Gestaltung des Pantier-Exempels zeigt, dass sich die Tier-Narrative im Buch der Natur durch ein vielfältiges Sammeln, Ordnen und Klassifizieren im Sinne einer enzyklopädischen Wissensformation auszeichnen. In ihr kreuzen sich unterschiedliche Diskurstraditionen, sodass das Buch der Natur geradezu danach verlangt, verschiedenartige Überlieferungszusammenhänge zu einander ins Verhältnis zu setzten. Dementsprechend bestimmt der jeweilige Rezeptionsvorgang und das spezifische Kontextwissen der Rezipient_innen, welchen tierlichen ›Fährten‹ gefolgt und wie diese gelesen werden können. Aber die Positionen sind dennoch klar verteilt: Es sind die Menschen, die die Erkenntnisse in Texten und Bildern zusammentragen und die sich anhand dieser Materialien auf eine tierliche Spurensuche begeben können. Somit wird eine konstitutive Differenz zwischen Tieren und Menschen in Produktion, Vermittlung und Rezeption tierlicher Wissensbestände im Buch der Natur entworfen und bekräftigt. Trotz dieser hierarchisierenden Verkopplung menschlicher und tierlicher Darstellungsräume ermöglichen es enzyklopädische Texte aber auch, eine relationale Untersuchungsperspektive einzunehmen und die wissensvermittelnden Dichtungen in ihrem Deutungszusammenhang zu erfassen, sodass ein tierliches Handlungspotenzial in der naturkundlichen Erzählwelt in den Blick kommen kann.106 Denn nur wer die »Natur der Dinge«, also die Eigenschaften und das Verhalten der Tiere wahrnimmt und deren Deutungen (er-)kennt, der versteht auch, welche symbolträchtige Aussagekraft sie im ästhetischen Gestaltungsprozess als Elemente gesellschaftlicher Werteund Ordnungssysteme erhalten.
104 | Vgl. S. Ehrlich/J. Ricker: Mittelalterliche Weltdeutung in Text und Bild – Einleitung, S. 10. 105 | Vgl. N. Harris: Tiersymbolik, S. 542f. 106 | Vgl. T. Macho: Einführung, S. 73; R. Borgards: Tiere in der Literatur, S. 105ff.
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Leoparden in Bild und Wort Über die Eigenständigkeit und Abhängigkeit visueller Erkenntnis Christian Presche und Daniel Wolf
Bei der Analyse und Interpretation von Bildern sind Betrachter_innen oftmals auf eine Vielzahl schriftlicher Quellen angewiesen. Wozu dienen diese und wie wirken sie sich auf die Wahrnehmung aus? Welche eigenständigen Qualitäten haben die jeweiligen Medien und in welcher Beziehung stehen Bild und Text zueinander? Und welchen spezifischen methodischen Zugang zu Wort und Bild hat dabei die Kunstwissenschaft? Diesen Fragen wird im Folgenden am Beispiel des »großen Kasseler Tierbildes« von Johann Melchior Roos (* 1663, † um 1731) nachgegangen. Das großformatige Gemälde wurde um 1722-29 im Auftrag des hessischen Landgrafen Carl geschaffen und sollte alle Tiere zeigen, die während seiner Regierungszeit in der Kasseler Menagerie gehalten wurden.1 Als zeitgenössische Textquellen
1 | Öl auf Leinwand, ca. 340 cm x 665 cm, Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK), Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.-Nr. GK 1114; vgl. Bestandskatalog der Gemäldegalerie Alte Meister der MHK, http://altemeister.museum-kassel.de/33811/Zum Gemälde vgl. ausführlich E. Lehmann: Tierbild. Zur Datierung vgl. ebd., S. 24-27; zu Johann Melchior Roos und seiner Tätigkeit in Kassel vgl. ebd., S. 27f., S. 29f., S. 58-61, mit weiterführenden Literaturangaben auf S. 104f. Zum Auftraggeber vgl. H. Philippi: Landgraf Karl, hier bes. S. 602-605. Dagegen bietet die jüngere Diss. von Petra Werner zu den hier relevanten Fragen keine weiterführenden Erkenntnisse (Werner, Petra: Die Menagerie des Landgrafen Karl. Ein Beitrag zur Einheit von Natur und Kunst im Barockzeitalter, Kassel 2013, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:34-2014030345177). Im Be standskatalog der MHK ist das Gemälde als »Die Menagerie des Landgrafen Carl« betitelt; da diese Bezeichnung anscheinend erst im 19. Jh. aufkam (vgl. E. Lehmann: Tierbild, S. 49f.) und – wie im Folgenden deutlich wird – im Hinblick auf die Zusammenstellung der Tierarten sowie die Darstellungsweise nicht unproblematisch ist, werden die
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zur landgräflichen Menagerie werden zwei Reiseberichte hinzugezogen und durch weitere Überlieferungen ergänzt. Die Untersuchungen sind dabei auf die Leoparden fokussiert, sodass – wie im literaturwissenschaftlichen Beitrag2 – ebenfalls Großkatzen im Mittelpunkt stehen. Bei den Betrachtungen dieser Tiere aus der Perspektive der Kunstwissenschaft soll untersucht werden, welcher Erkenntniswert dem Bild selbst zuzuschreiben ist und in welchem Zusammenhang schriftliche Quellen erforderlich sind, um einem Bild Sinn zu entnehmen. Im Hintergrund steht dabei auch die Frage, inwieweit Tiere als Bildmotive besondere methodische Zugänge erfordern. Die folgenden Darlegungen3 sollen anhand ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen die spezifische Eigenart visueller Medien, aber auch die notwendige Verknüpfung mit den vorhandenen Quellen verdeutlichen.
D ie L eoparden in der K asseler M enagerie L andgr af C arls – » das grosse K asseler Tierbild « und zeitgenössische S chrif tquellen Die eingangs formulierten Fragen werden am Beispiel des »großen Kasseler Tierbilds« konkretisiert. Zu diesem Zweck werden das Gemälde, zwei zeitgenössische Reisebeschreibungen und weitere historische Quellen jeweils auf folgende Aspekte hin untersucht: • Welche Informationen erhalten wir über die Unterbringung und Haltung der Leoparden? • Wie präzise sind die Tierarten zu identifizieren? • Wie wurden die Leoparden der Menagerie im »Tierbild« und in den Textquellen dargestellt? Die jeweils gewonnenen Erkenntnisse werden miteinander in Bezug gesetzt und ausgewertet – im Hinblick auf die Beantwortung dieser drei konkreten Fragen und auf das allgemeine methodische Vorgehen. Die dritte Frage zielt
Begrifflichkeiten aus E. Lehmann: Tierbild übernommen, die sich stärker an den zeitgenössischen Benennungen des 18. Jh. orientieren. 2 | Vgl. in diesem Band: A. Koelczer/S. Schul. 3 | Für hilfreiche Kommentare und Diskussionen zu diesem Aufsatz danken wir unseren Kolleginnen und Kollegen am LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft«, namentlich Christopher Hilbert und Stephanie Milling, sowie unserer Projektleiterin Frau Prof. Dr. Martina Sitt.
Leoparden in Bild und Wor t
vor allem darauf ab, welche zeitgenössische Wahrnehmung der Kasseler Menagerie-Leoparden sich in den Darstellungen niederschlägt.
D ie L eoparden im » grossen K asseler Tierbild « von J ohann M elchior R oos
Abb. 1: Johann Melchior Roos: Das große Kasseler Tierbild (Menageriebild), um 1722-29, Öl auf Leinwand, ca. 340 x 665 cm, MHK, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.-Nr. GK 1114.
Welche Informationen erhalten wir über die Unterbringung und Haltung der Leoparden? Das Gemälde zeigt eine ideale Hintergrundlandschaft in der Tradition der Paradiesdarstellungen.4 Ohne weitere Kenntnisse über das Bild wäre kein Bezug zur Kasseler Menagerie herstellbar. Die Landschaft ist offenkundig fiktiv; sie lehnt sich an die heimischen Mittelgebirgslandschaften an, ist aber um einzelne fremdländische Pflanzen (Lorbeer, Palme) bereichert.5 Die zahlreichen exotischen Tiere sind dabei als Teil der Herrschaftsrepräsentation zu werten, denn es bedurfte finanzieller Mittel und auswärtiger Beziehungen, diese Tiere zu beschaffen und zu halten. Dementsprechend hat auch das Format 6 des Gemäldes von 340 cm x 665 cm einen ausgesprochen repräsentativen Charakter. 4 | Vgl. E. Lehmann: Tierbild, S. 36-44. 5 | Vgl. ebd., S. 28. 6 | Nicht zutreffend sind die viel größeren Formatangaben ebd., S. 50, die nach einer Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1830 errechnet sind; setzt man den damaligen Kasseler Fuß zu ca. 28,77 cm an, erhält man bei 13 x 23 Fuß vielmehr Maße von ca. 374
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Abb. 2 und 3: Die beiden Leoparden im Menageriebild (Ausschnitte). Die Leopardin ist mit zwei Jungen dargestellt, was auf dem Bild eine Besonderheit ist; die Vermutung liegt nahe, dass hier stolz auf reale Zuchterfolge verwiesen wird. Eine gelungene Nachzucht wiederum spricht für gute Haltungsbedingungen, die auf diese Weise indirekt vermittelt werden.
Wie präzise sind die Tierarten zu identifizieren? Die Tiere auf dem Gemälde sind so getreu wiedergegeben, dass eine zoologische Bestimmung der einzelnen Arten möglich ist.7 Die Signatur in der Mitte des unteren Bildrands erwähnt zudem ausdrücklich, dass Roos ad vivum gemalt habe; dies kann sich sowohl auf lebende Tiere als auch auf Präparate beziehen.8
x 662 cm, wobei die Fußangaben aber offenbar gerundet sind. Vgl. zum rechten und linken Bildrand ebd., S. 46-48 mit Abb. 41. Es bleibt allerdings eine stark abweichende Höhenangabe, und eine zweite, kleinere Fassung in Braunschweig zeigt neben Nr. 69 [Großtrappe] noch ein weiteres Tier (vgl. ebd., Abb. 44; Nummerierung und Zuordnung gemäß ebd., S. 12-15). Ob das Gemälde in der Höhe und möglicherweise (schon vor 1830) am rechten Rand (vgl. ebd., S. 48) beschnitten wurde, wäre anhand der Befunde des letzten Restaurierungsberichts noch einmal zu überprüfen. 7 | Vgl. E. Lehmann: Tierbild, S. 12-15. 8 | Vgl. ebd., S. 27; die Signatur befindet sich unter einem Lorbeerzweig zwischen der Ginsterkatze und dem Streifenhörnchen (vgl. ebd., S. 12f., Nr. 57 und 60). Sie ist auch insofern wichtig, als sie angibt: »JMRoos.ad.Vivum/Pinxit.ÆTATIS.SVÆ65/Finis. Coronat.Opus« Sie überliefert also nicht nur den Namen des Malers, sondern gibt auch sein Alter zum Zeitpunkt der Vollendung des Werks an – da Roos am 27.12.1663 gebo-
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Wie wurden die Leoparden der Menagerie im »Tierbild« dargestellt? Über die unmittelbare Wahrnehmung der lebenden Tiere in der Menagerie sagt die idealisierte Darstellung nichts aus. Entsprechend dem Ideal der Paradieslandschaft (vgl. Abb. 5) wird auch das natürliche Verhalten der Tiere weitgehend ausgeblendet; nur so war es möglich, die Raubtiere in einer logisch nachvollziehbaren Weise zwischen den anderen Tieren darzustellen. Zugleich ermöglichte dies auch eine Ästhetisierung der Tierhaltung: Käfiggitter und Schmutz etc. konnten ausgeblendet werden. Zum Verhalten der in Gefangenschaft lebenden Kasseler Menagerietiere trifft das Bild somit ebenfalls keine Aussage und Menschen sind hier ganz unberücksichtigt. Man beachte auch das friedliche Miteinander der Leopardin und des Kapuzineräffchens, das auf ihrem Rücken sitzt und sie laust: ein besonders signifikantes Beispiel für den Verweis auf das paradiesische Ideal (vgl. Jesaja 11,6-8 und Jesaja 65,25).9 Die Leopardin wurde möglicherweise deshalb für eine solche Szene gewählt, weil man einerseits ein harmloses Äffchen in Eintracht mit einer gefährlichen Raubkatze zeigen konnte, andererseits die Majestät des Löwenpaars damit nicht antastete. Dies setzt allerdings auch voraus, dass die Gefährlichkeit der Großkatzen ebenso hinreichend bekannt war wie die Tradition der Paradiesbilder. Und auch die folgenden Aspekte verlangen ein kulturelles Hintergrundwissen, um ihre Wirkung entfalten zu können. So ist bemerkenswert, dass alle Großkatzen in der Mitte des Gemäldes angeordnet sind: die beiden Löwen im Zentrum, die beiden Leoparden flankierend daneben, aber ein wenig nach hinten zurückgesetzt, alle vier auf erhöhten Felsplateaus postiert. Dem Löwen gebührt diese zentrale Position als König der Tiere, wobei er sogar symbolisch für den Fürsten inmitten seines Hofstaates stehen kann; im Kasseler Tierbild könnten darauf der Schwan über dem Löwen und der Mops unterhalb der Löwin hindeuten: der Schwan als ein Emblem-
ren wurde, muss er das Bild demnach zwischen dem 27.12.1728 und dem 27.12.1729 vollendet haben. 9 | In gleicher Weise liegt z.B. ein großer Hund (Nr. 66) neben einem Jagdfasan (Nr. 67), ohne diesen weiter zu beachten (die Nummern gemäß E. Lehmann: Tierbild, S. 12-15).
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tier Landgraf Carls10, der Mops als beliebter höfischer Schoßhund.11 Da Affen, Vögel und andere kleinere Tiere über das ganze Bild verteilt sind, dürfte die zentrale Position aller Großkatzen tatsächlich hierarchisch und nicht im Sinne einer Ordnung nach Tierarten gewählt worden sein: die Löwen an bedeutendster Stelle, die Leoparden ihnen im Rang gleich nachgeordnet. Allerdings werden die bei der Wiedergabe von Menschen üblichen Bildkonventionen12 gewissermaßen auf den Kopf gestellt, indem die Weibchen in der höherrangigen linken (ikonographisch rechten) Bildhälfte platziert sind, die Männchen in der anderen Bildhälfte; die Hierarchie wird aber insofern wieder hergestellt, dass das Löwenmännchen sich dem Betrachter zuwendet (ohne ihn direkt anzublicken) und mit seinem Kopf fast genau die Bildmitte einnimmt, das Weibchen sich dagegen abwendet und in seiner Rückenansicht wesentlich weniger Bildfläche beansprucht.13 Die Einrahmung der Löwen durch die Leoparden ist 10 | Der Wahlspruch des Landgrafen Carl »candide et constanter« (vgl. H. Philippi: Landgraf Karl, S. 565) wird durch einen Schwan (mit Halskrone) auf einem Sockel symbolisiert. Diese Kombination erscheint auf mehreren Münzen aus Carls Regierungszeit (vgl. P. Weinmeister: Schwan; vgl. z.B. Auktionskat. Künker 2012, Nr. 7591), auf dem Schabkunstporträt Carls von Jacob Gole 1696 (allerdings mit einer Säule statt des Sockels) und auf weiteren Objekten (Glaspokal, Ofenplatten etc.; vgl. F.A. Dreier: Glaskunst, Nr. 37; Bildarchiv Foto Marburg, Nr. 221.721, vgl. Nr. 221.740). Das Weiß des Gefieders wurde traditionell mit Reinheit gleichgesetzt und seit dem späten Mittelalter galt der Schwan auch als Symbol für die Unvergänglichkeit des Ruhms bzw. Nachwirkens (vgl. C. Zerling: Tiersymbolik, S. 279). In der antiken Mythologie war der Schwan Apollo zugeordnet, der wiederum mit dem Sonnengott gleichgesetzt werden konnte. Zudem war die Schwanenhaltung in Europa schon seit dem Mittelalter meist eine herrschaftbzw. hoheitliche Angelegenheit, in England, den Niederlanden und Hamburg sogar als Regal. – Im »Tierbild« ist auffallend, dass der Schwan nicht nur vor dem hellsten Bereich des Himmels, sondern auch bei fast gleicher Länge exakt über dem Löwen angeordnet ist; möglicherweise spielt sogar der felsige Berg, aus dessen Richtung der Schwan herabfliegt, auf das Postament im Emblem an. 11 | Daher besonders mit Frauen (und Kindern) assoziiert. Vgl. Zedlers Universallexikon, Bd. 13 (1739), Sp. 1184. Im »Thierbild« wird möglicherweise sogar auf eine konkrete Mopshündin angespielt, die Roos auch in einem Einzelbild dargestellt hat (vgl. E. Lehmann: Tierbild, Abb. 28). 12 | In der abendländischen Kunst ist die ikonographisch rechte (vom Betrachter aus gesehen linke) Bildseite die höherwertige. Vgl. auch im Neuen Testament Mt. 25,33; vgl. allgemein die Bevorzugung der rechten Hand und die daraus entstandenen gesellschaftlichen Konventionen. So steht bei Doppelporträts (von den Dargestellten aus gesehen) der Ehemann zur Rechten, die Ehefrau zur Linken. 13 | Wenn man das Löwenpaar allegorisch auf das Fürstenpaar bezieht, wäre nicht nur der Löwe auf den Landgrafen Carl (* 1654, † 1730), sondern auch die nach hinten
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dadurch unterstrichen, dass beide Leoparden zur Bildmitte gewandt sind: Das Männchen blickt zu seinem Weibchen, und der Blick des Weibchens fällt auf den Königsgeier, der oberhalb des Löwen sitzt. Die zentrale Stellung der vier Großkatzen in der Bildkomposition wird zusätzlich durch eine seitliche, vertikale Einfassung dieser Gruppe betont: einerseits durch einen Strauß, andererseits durch eine Palme, die als Sitzplatz für Papageien dient.
Z eitgenössische R eisebeschreibungen Betrachten wir nun zwei zeitgenössische Reiseberichte zu den Leoparden der Menagerie: persönliche Aufzeichnungen von Reisenden aus dem Frankfurter Patriziat, die erst posthum veröffentlicht wurden. Quelle 1: Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen Holland und Engelland, 1. Teil, hg. von Johann Georg Schelhorn, Ulm und Memmingen 1752, S. 4f.: 12. Nov. 1709 »Nach dem Essen giengen wir nach dem hinter dem Schloß gelegenen sogenannten Löwen-Haus, darinnen aber nicht mehr, als folgende Thiere zu sehen waren: In dem Hofe zwo Grönländische Gänse, welche schwarz und weiß sind, kleiner als die unserige, mit kleinem Kopf, und Spitzen-schmalen Schnäbeln; zwey Stachel-Schweine; ein Casuarius; zwey Tieger [das sind Leoparden], ein Männgen und Weibgen, beyde ungemein schön. Sie thaten zwar mit der Wärterin sehr gemein und freundlich, und küsseten sie; aber gegen Fremde sollen sie sich sehr böse anstellen, und mit den Pfoten gewaltig durch die hölzerne Gegitter heraus schlagen. Weiters ein Löw und Löwin. Sie sind zwar nur drey Jahr alt, aber sonderlich war das Männgen sehr groß, jedoch noch ohne gar grosse Mähne und Haare an dem Halse. Das Weibchen liebkosete der Wärterin, eben wie die Tieger: der Löw aber lag ganz wild und trotzig vor dem Wasser-Troge, und wollte auf das Zuruffen sich nicht bewegen, aufzustehen. Letztens sahen wir in einem besondern Ställgen sechs weisse Indianische Vögel, wie Papageyen, deren Nahmen mir entfallen […]. Dabey war noch ein Indianischer kleiner, den Papageyen auch fast ähnlicher, Vogel, so roth, schwarz und bräunlicht aussahe. Dieser war überaus munter, und redete sehr viel, wiewohl etwas undeutlich. Er kan mit dem Schnabel, wie ein Mensch mit den Fingern, schnellen, schlagen, auch niessen, und ausspeyen. An der Thüre war in einem Ställgen auch noch ein junger Bär.«
wegschreitende Löwin auf die bereits verstorbene Landgräfin Maria Amelia (* 1653, † 1711) zu beziehen.
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Quelle 2: Johann Friedrich Armand von Uffenbach’s Tagbuch einer Spazierfahrth durch die Hessische in die Braunschweig-Lüneburgischen Lande (1728), hg. von Max Arnim, Göttingen 1928, S. 47f.: »[Die Menagerie ist] ein viereckender Hoff mit niedrigen holländischen Häußern umsezet, worüber ein dergleichen Landsman die Aufsicht hat. In dem ersten Stall oder Behälter zeigte man uns zwey große schöne Vogel, nehmlich sogenante Könige von Bawow, die sehr hohe Farben an denen Federn hatten. Auf dieße folgte aber ein großer Affe, ebenfalß in einem aparten Gehäuße, gleichw ie die folgende alle auf gleiche Weiße einquartirt sind, als ein westindischer Geyer, eine Biesamkatze aus Westindien, so wie eine gemeine Katze gestaltet, aber viel größer und angeschloßen, auch von sehr starkem Geruch war. Ferner ein ostindische wilte Katze, zwei ostindische Raben von sehr hohen und schönen farbigten Federn, ein Luretje, zwey Cacadoje, zwey Monine, so eine Art von Papageyen ist, und ein kleiner Parokit, die alle zusammen in einem Behälter verschloßen waren. Ferner zwey Stachelschweine, ein Luchs, ein überaus schöner ansehnlicher und großer Löwe, der wohl das schönste Stück von allen hier bewahrten Thieren seyn mogte, und zwey Löwinnen, welche bei weitem das Ansehen nicht hatten und jede in aparten Ställen, wofür jedesmahl ein kleiner Plaz mit hohen Brettern beschlagen zum Spazieren vorhanden war. Außer dießen grimmigen Haußgenoßen hatten sie noch sechs sehr schöne Tiger [das sind Leoparden], welche allzumahl hier jung worden und groß gezogen sind. Hierauf zeigte man uns ferner einen Strauß in einem aparten Behälter, wie auch einen Casuarius, der der einzige Vogel ist, so weder Feder noch Flügel hat, neben welchen man uns einen Behälter mit weisen Pfauen zulezte zeigete. Alle dieße Thiere und vor dießem noch eine größere Anzahl werden zur Augenlust alhier mit großen Kosten erhalten und brauchen alle Tage nur an frischem geschlachteten, nicht aber verrecktem oder anstößigtem Fleische 60 Pfd. ohne die andre Fruchtnahrung und ist also eine Liebhaberey, die große Kosten veruhrsachet. Das Hauß selbsten ist, wie oben gedacht, nicht eben das ziehrlichste noch bequehmste. Man hat es aber so stehen laßen, dieweil es dem Dessein von der Aue nach hat sollen weggebrochen und ein anderes prächtigeres erbauet werden.«
Welche Informationen erhalten wir aus den Beschreibungen über die Unterbringung und Haltung der Leoparden? Die Menagerie-Gebäude werden 1728 soweit beschrieben, dass ein ungefährer Eindruck vermittelt wird: niedrige »holländische« Bauten um einen Hof gruppiert, mit einzelnen »Behältern«. Zumindest die Löwen hatten damals vor ihren Käfigen Auslaufflächen, die mit hohen Brettern umzäunt waren (das »hölzerne Gegitter«14, das 1709 erwähnt wird?). Der genaue Standort der ge14 | Vgl. Deutsches Wörterbuch (DWB), Bd. 5, Sp. 2305f.: »gitterwerk, zu gitter, wie gegätter zu gatter.«
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samten Anlage geht aus den Berichten allerdings nicht eindeutig hervor, hierzu benötigt man weitere Quellen. 1728 werden die Bauten als veraltet bezeichnet. Die Löwen und Leoparden (also die Großkatzen) wurden unmittelbar nebeneinander gehalten. Dies entspricht der direkten Nähe dieser Tiere im Menageriebild; das Gemälde dürfte dennoch nicht von der realen Haltung beeinflusst sein, sondern die Absicht, die Raubkatzen gemeinsam zu zeigen, kann jeweils eigene Ursachen haben: im Gemälde hierarchisch, in der Menagerie möglicherweise auch im Sinne einer Ordnung der verschiedenen Tierarten. Insgesamt variiert der Tierbestand in beiden Beschreibungen stark, und bei Z.C. von Uffenbach klingt 1709 an, dass er die Anzahl der vorhandenen Tiere anscheinend als gering empfand. Die Haltung der Tiere war mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden, wobei J.F.A. von Uffenbach den kostspieligen Fleischbedarf der Raubtiere besonders herausstellt. Die Menagerie war damit Teil der Herrschaftsrepräsentation – dies ergänzt den ersten Eindruck, den das Tierbild diesbezüglich vermittelt. Über die zugrundeliegenden Motive des Landgrafen erfahren wir freilich nichts. Als Tierwärter werden 1728 ein Niederländer und dessen Frau genannt; 1709 wird der enge Kontakt der Wärterin zu den Leoparden und zur Löwin hervorgehoben. Der Begriff ›Wärter/in‹ ist dabei in seiner zeitgenössischen Bedeutung zu lesen; so wurde das Wort ›warten‹ im 18. Jh. noch im Sinne von ›liebevoll versorgen‹, ›pflegen‹, ›seine Aufmerksamkeit auf etwas richten‹ gebraucht und bezeichnete z.B. auch die Pflege und Versorgung von Kindern.15 Alle 1728 gehaltenen sechs Leoparden waren in Kassel geworfen und aufgezogen worden. Ein solcher Zuchterfolg war noch im späten 18. Jh. in Europa ungewöhnlich – dies galt umso mehr, da die Jungtiere offenbar auch das Erwachsenenalter erreichten.16 15 | Deutsches Wörterbuch (DWB), Bd. 27, Sp. 2125-2168 (›warten‹), hier bes. die Bedeutung ›D‹, und Sp. 2168-2170 (›Wärter‹). Vgl. z.B. ein Inserat in der Casselischen Polizey- und Commerzien-Zeitung vom 9.1.1786, S. 35; darin sucht eine Anstellung: »Eine Person, welche mit Wartung der Kinder umzugehen weiß […].« 16 | Vgl. J.H.W. Tischbein: Aus meinem Leben, 1. Bd., S. 127; über einen seiner Kassel-Aufenthalte zwischen dem 2.9.1773 und dem 13.6.1777 schreibt er u.a. zur damaligen Menagerie Landgraf Friedrichs II.: »diese [die Leopardin] bekam in selbiger Zeit zwei Junge; sie hatte schon einigemal geworfen, was selten in Europa ist.« Vgl. ebenso C.G. Küttner: Reise, 1. Teil, S. 318; über die Naturaliensammlung im Museum Fridericianum am Ende des 18. Jh. berichtet er: »Auch sind da zwey junge Leoparden, die in dieser Stadt geworfen worden sind: also ein abermahliger, neuer Beweis, daß Löwen, Leoparden und andere der großen und südlichen Raubthiere sich auch in der Gefangenschaft fortpflanzen.« Die Bemerkung zeigt umso mehr den Stellenwert eines solchen Wurfs, da Küttner aus der Naturaliensammlung ansonsten nur den Elefanten
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Wie präzise sind die Tierarten zu identifizieren? Die Bezeichnungen der Tiere wurden anscheinend mündlich vom Wärter mitgeteilt; so haben 1728 die Benennungen der Papageien einen auffallend niederländischen Klang. Mit den ›Tigern‹ sind die Leoparden gemeint17, und auch andere Namen erschließen sich nicht sofort; zur Identifizierung benötigt man genauere Beschreibungen oder am besten Abbildungen.
Wie wurden die Leoparden der Menagerie in den Reisebeschreibungen dargestellt? Z.C. von Uffenbach schreibt 1709 über die Leoparden als einzige Tiere, dass sie »ungemein schön« seien. J.F.A. von Uffenbach hält 1728 den Löwen für das »schönste Stück« der Menagerie und nennt die Leoparden zumindest »sehr schön« – eine Charakterisierung, die sie ebenso über andere Tiere erhebt. Zuletzt erwähnt er ausdrücklich, dass alle Tiere »zur Augenlust« gehalten würden; dies ist allerdings nur eine Wertung des Besuchers und lässt damit keine Rückschlüsse auf die landgräfliche Intention zu. Z.C. von Uffenbach geht zudem auf das Verhalten der Raubkatzen ein – eine ausführliche Beschreibung, wie er sie sonst bei keiner anderen Tierart gibt: Er beobachtet ein zutrauliches Betragen gegenüber der Wärterin (mit Ausnahme des Löwen); dem Hörensagen nach berichtet er aber von »böse[m]« Verhalten gegenüber Fremden.
W eitere Q uellen Hinzu kommen weitere wichtige Informationen, die allerdings nur aus anderen Quellen zu erschließen sind. erwähnt und die Qualität der einzelnen Sammlungsbereiche – stets im Vergleich mit anderen deutschen und europäischen Sammlungen – eher kritisch beurteilt, insgesamt fast keine Einzelobjekte nennt und das Museum vor allem nur wegen seiner »großen Mannigfaltigkeit von Dingen« als »sehr wichtig und sehenswerth« lobt (ebd., S. 317320). Die erwähnten zwei Leopardenjunge sollen 1774 geworfen worden sein (D.A. von Apell: Cassel, S. 57); vom Leopardennachwuchs in der Menagerie Friedrichs II. erreichte jedoch kein einziges Tier das Erwachsenenalter. 17 | Vgl. Zedlers Universallexikon, Bd. 44 (1745), Sp. 108-113. Demnach umfasste der Begriff damals allgemein sowohl gestreifte als auch gesprenkelte und einfarbige Großkatzen einschließlich der Panther (bzw. Leoparden; vgl. ebd., Bd. 17 (1738), Sp. 252-254), in Unterscheidung zum Löwen. – Erst die Darstellung der Leoparden im Roosschen Tierbild ermöglicht eine genauere Identifizierung,
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Zur Unterbringung der Tiere: Der genaue Standort der Menagerie-Gebäude geht erst aus weiteren Beschreibungen und vor allem aus einem Stadtplan des Jahres 1751 hervor (Abb. 4).18 Das Gemälde zeigt indessen nicht nur die Tiere der Menagerie, sondern auch den Eisbären aus dem Schlossgraben19, die Kamele aus der Aue-Meierei20, die Fasane aus der Fasanerie und die Wisente aus Weißenstein21 oder dem Tierpark Sababurg, in dem auch die abgebildeten Axishirsche gehalten wurden.22 Die gezeigten Tiere waren zudem nicht immer auch gleichzeitig vorhanden; verschiedene Beschreibungen lassen den Schluss zu, dass sich der Bestand der Menagerie immer wieder veränderte. Leoparden und Löwen scheinen jedoch zum Grundbestand gezählt zu haben; gerade die Löwen werden in allen Beschreibungen erwähnt.23 Für diese Differenzierung ist man allerdings auf Schriftquellen angewiesen. Das Gemälde ist somit kein ›Bestandskatalog‹ der Aue-Menagerie, sondern tatsächlich ein Überblick über die insgesamt in Kassel und Umgebung 18 | Vgl. F.C. Schmincke: Cassel, S. 123 (an der Fulda, unweit der Orangerie, im Bereich des früheren fürstlichen Jägerhauses). Philipp Wilhelm Leopold: Plan von der Stadt Cassel, lavierte Federzeichnung, MHK, GS 14516; Bestandskatalog Architekturzeichnungen der MHK, Nr. 1.1.2.2. Die Datierung ist auf 1751 anzusetzen: nach der Regierungsü bernahme Wilhelms VIII. am 5.4.1751 und vor dem Bau des neuen Gewächsh auses in der Aue, der im selben Jahr begonnen wurde (vgl. hierzu A. Holtmeyer: Cassel-Stadt, S. 369). An der Stelle des Menageriehofs befindet sich heute der Parkplatz zwischen Orangerieschloss und Auedamm. – Über die Zusammensetzung der Besucher ist wenig bekannt und die Zufälligkeiten schriftlicher Überlieferung (zum einen, welche Personen es sind, die Berichte verfassen, zum anderen, welche davon erhalten bleiben oder sogar publiziert werden) lassen keine Verallgemeinerung zu. 19 | Vgl. J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch (1728), S. 4. Auch der abgebildete Braunbär könnte zu den Tieren im Bärengraben gehören. 20 | Vgl. J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch (1728), S. 47. 21 | Vgl. Z.C. von Uffenbach: Reisen (1709), Bd. 1, S. 11. 22 | Zu den Wisenten und Axishirschen bei der Sababurg vgl. F. Glassl: Tiergarten Sabab urg, S. 49f. 23 | Vgl. J.-J. Winkelmann: Hessen (1697), 2. Teil, S. 276f.; anonimo Veneziano: Reise (1708), S. 103; Z.C. von Uffenbach: Reisen (1709), S. 4; J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch (1728), S. 47f.; F. Weilbach: Kassel (Lauritz Thura 1729), S. 157f. So war von manchen Arten z.B. nur ein Exemplar vorhanden oder die Fortpflanzung scheiterte aus anderen Gründen. Andererseits kamen immer wieder auch neue Arten hinzu. Lediglich der anonimo Veneziano erwähnt keine Leoparden. – Allerdings sind die Beschreibungen summarisch gehalten, was etwa die Affen oder die exotischen Vögel betrifft, und aus längeren Zeiträumen gibt es gar keine Überlieferungen.
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gehaltenen Tierarten; sein Informationsgehalt geht daher zeitlich und räumlich über den eines realen Menageriebesuchs hinaus. Der Tierbestand ist allerdings nicht vollständig wiedergegeben: So fehlen der 1695 erworbene Elefant sowie Meerschweinchen, Pekari etc. aus der Anfangszeit der Menagerie.24 Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden; am wahrscheinlichsten dürfte sein, dass für das Gemälde auf keine vertrauenswürdigen Vorlagen dieser Arten zurückgegriffen werden konnte.
Abb. 4: Die ehem. Menageriegebäude in der Aue, 1751. Ausschnitt aus einem Stadtplan von Philipp Wilhelm Leopold, lavierte Federzeichnung, MHK, . Graphische Sammlung, Inv.-Nr. GS 14516 (bearb. Verf.). Unterhalb des Orangerieschlosses (nach 1700 begonnen) erkennt man die älteren Gebäude der Menagerie (a) sowie weitere Funktionsbauten (zur besseren Lesbarkeit sind sie in der Abb. nachträglich eingefärbt), und vor dem Orangerieschloss, neben dem Marmorbad, stehen die Gebäude der Meierei (b); z.T. sind die Bauten durch die projektierten Seitenflügel des Orangerieschlosses überschnitten, die in ihren Umrissen eingezeichnet sind. Rechts befindet sich das Landgrafenschloss (c).
Zur Herkunft bzw. Benennung der Tiere: Die Tiere wurden überwiegend über die Niederlande bezogen, zu denen Landgraf Carl gute politische Beziehungen unterhielt.25 Die Benennungen der Arten folgen deshalb z.T. dem Einzugsbereich der jeweiligen niederländischen 24 | Zum Elefanten vgl. H. Philippi: Landgraf Karl, S. 614; er findet aber wenige Jahre später schon in keiner Reisebeschreibung mehr Erwähnung. Zu den anderen genannten Tieren vgl. J.-J. Winkelmann: Hessen, 2. Teil, S. 277. 25 | Vgl. H. Philippi: Landgraf Karl, S. 614; vgl. S. 79f.
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Handelsgesellschaft (westindischer, ostindischer Affe oder Papagei etc.). Auf einer Reise 1685 hatte Landgraf Carl bereits Het Loo besichtigt 26 und von dieser Niederlande-Reise brachte er auch den Grundstock des Kasseler Tierbestands mit.27 Es ist zudem anzunehmen, dass jenes niederländische Wärterpaar bereits aufgrund einschlägiger Kenntnisse und Erfahrungen nach Kassel angeworben wurde. – Andere Tiere gelangten als Kriegsbeute oder als Geschenke nach Kassel: z.B. Kamele als Beute der Türkenkriege (Schlacht vor Wien 1683)28, zwei Kasuare (vor 1697) als Geschenke zweier gebürtiger Hessen29, zwei Bären (1688), Wisente (vor 1709) und ein Eisbär (1722) als Geschenke des Berliner Hofs.30 Diese Hintergründe ermöglichen somit eine historische Einordnung des Tierbestands, vieler Artenbezeichnungen und der Herkunft des Wärterpaars.
Zu Kontext und Funktion des Gemäldes und seiner Tier-Darstellungen: Das Gemälde war offenbar von Anfang an für das Kasseler Kunsthaus bestimmt31, in dem vor allem naturwissenschaftliche, technische und naturkundliche Sammlungen sowie die Kunstkammer zusammengefasst waren; zudem war es Sitz des Collegium Carolinum (einer höheren Lehranstalt).32 Im 26 | Zum Besuch Carls in der Residenz Het Loo vgl. H. Philippi: Landgraf Karl, S. 80. 27 | Vgl. J.-J. Winkelmann: Hessen, 2. Teil, S. 277: »und ist zuverwundern/daß solche Orientalische und andere ausländische Thiere und Vögel im Hessenland sich so wol sasseln und fortpflanzen. Welche Stücke mehrentheils Herr L. Carl aus den vereinigten Niederlanden mitgebracht.« 28 | Chronik des Niederzwehrener Bäckers Hans Henrich Arnold: U.B. Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Handschriftensammlung, 4° Ms. Hass. 11[1, 94r-199v], f. 185v zum Oktober 1783; vgl. auch H. Philippi: Landgraf Karl, S. 64f. 1728 erwähnt J.F.A. von Uffenbach, dass die Kamele in der Meierei »ehedeßen aus Ungarn hieher gebracht worden« (J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch, S. 47), was zumindest ebenso auf Kriegsbeute aus den Türkenkriegen hinweist. 29 | Vgl. J.-J. Winkelmann: Hessen, 2. Teil, S. 276f. (aus »Ostindien« durch einen Soldaten und aus »Indien«). 30 | Zu zwei Bärenweibchen 1688 vgl. G. Landau: Jagd, S. 213; I. Auerbach: Hund, S. 38, Anm. 93. Zu den Wisenten vgl. Z.C. von Uffenbach: Reisen (1709), Bd. 1, S. 11; zum Eisbären vgl. J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch (1728), S. 4. 31 | Vgl. E. Lehmann: Tierbild, S. 49, gemäß einem Bericht des Hofrats Schmincke vom 30.9.1727; vgl. auch ebd., S. 24, S. 27. Das Tierbild wird 1730 auch im Inventar des Kunsthauses aufgeführt; vgl. ebd., S. 49. 32 | Zum Kunsthaus vgl. A. Holtmeyer: Cassel-Stadt, S. 534-642. Die Sammlungen wurden 1779 in das neue Museum Fridericianum überführt. Vgl. zum Kunsthaus auch
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Kunsthaus hing das Tierbild in unmittelbarer Nähe zu zahlreichen Tierpräparaten.33 Durch diesen Ausstellungskontext gewinnt nun auch der naturkundliche Informationswert besondere Relevanz. Den toten, ausgestopften Tieren, die zwar nicht in ihrer Lebendigkeit, aber in der Beschaffenheit ihrer Felle, Gefieder, Krallen und Klauen erlebbar waren, wurden somit die Abbilder der lebenden Tiere zur Seite gestellt; originale Materialität und gemalte Lebendigkeit ergänzten sich und konnten einen möglichst umfassenden Eindruck der Tiere vermitteln – wobei es offensichtlich nicht darum ging, ihr Verhalten34 zu studieren und darzustellen. Dabei ist auch zu bedenken, dass mehrere Tiere vermutlich nur noch nach Präparaten gemalt werden konnten, weil sie in der Menagerie nicht mehr vorhanden waren. Die Besucher des Kunsthauses wurden in der Regel geführt, wobei die Objekte erläutert wurden; die überlieferten Führungen folgten aber anscheinend keinem festen Programm und waren in Zeitrahmen und Schwerpunktsetzungen sehr individuell.35 Dass das Gemälde [nahezu] sämtliche in der Zeit des Landgrafen Carl in Kassel gehaltenen Tiere darstellte, konnten die Besucher
F. Waitz von Eschen: Wissenswege, S. 20, S. 39-50, mit Abb. 11. Das Kunsthaus war um 1696 durch den durchgreifenden Umbau eines ehem. Theaters entstanden; verantwortlicher Baumeister war vermutlich der Zweite Hofbaumeister Johann Conrad Giesler. 33 | Vgl. C. Knetsch: Reisebeschreibungen (Carl Bentzmann, 1757), S. 69; F.C. Schmincke: Cassel, S. 187. 34 | Wobei man ohnehin nur das Verhalten in Gefangenschaft hätte beobachten und wiedergeben können; ob dieses Problem damals allerdings Auftraggeber und Maler bewusst gewesen wäre, ist eine andere Frage. 35 | Z.C. von Uffenbach wurde 1709 durch den Mediziner Peter Wolfahrt durch das Kunsthaus geführt, der auch über naturhistorische und physikalische Themen forschte (vgl. Z.C. von Uffenbach: Reisen, Bd. 1, S. 1, S. 12f.). Beim Besuch J.F.A. von Uffenbachs 1728 war der Hofrath Schmincke der »ordentliche Aufsichter« des Kunsthauses; allerdings war er abwesend, die Führung wurde anscheinend vom Mathematiker und Physiker Henrich Ludwig Muth vorgenommen, zu dem Uffenbach Kontakt hatte (J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch, S. 51). Die dänischen Reisenden Thura und Rosenkrantz wurden 1729 vom Oberkämmerer Baron von Lindau geführt, begleitet durch den Kammerjunker von Meysenbug (F. Weilbach: Kassel, S. 139). Und der Danziger Carl Bentzmann wurde 1757 durch den Hofrat Arckenholtz geführt (C. Knetsch: Reisebeschreibungen, S. 69); bei den übrigen Sehenswürdigkeiten führt Bentzmann das Trinkgeld auf, das üblicherweise gegeben wurde. – Zu dem damals üblichen Vorgehen der Kontaktaufnahme mit derartigen Mittelsmännern vgl. K. Merkel: Reisekultur, S. 15-18. Aus der späteren Zeit unter Landgraf Friedrich II., als auch ein Besucherbuch geführt wurde, sind allerdings keine Rückschlüsse auf die Zeit Landgraf Carls möglich.
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aber wohl in jedem Fall diesen Erläuterungen entnehmen.36 Kundige Führer hätten dabei auch Angaben über die oben erwähnte Herkunft einzelner Tiere auf dem Gemälde machen können.
A uswertung Anschauliche Belehrung der Betrachter und Herrschaftsrepräsentation können als zentrale Funktionen des großformatigen Gemäldes angenommen werden – es ergänzte damit die Menagerie in der Aue und die Tierpräparate im Kunsthaus um eine weitere, dauerhafte Präsentationsform. Das Tierbild lässt allerdings keinen unmittelbaren Rückschluss auf den engeren Menagerie-Bestand zu, da die gezeigten Arten z.T. an verschiedenen Orten und auch nicht immer gleichzeitig gehalten wurden. Dieses Ergebnis kann erst aus weiteren, schriftlichen Quellen gewonnen werden, wobei aber die darin überlieferten Bezeichnungen häufig nicht eindeutig sind und z.T. auch unklar bleibt, ob die Beschreibungen immer auch alle Tiere erwähnen. So ist die bildliche Darstellung der Tiere wiederum eine wichtige Quelle, um die Bezeichnungen in den überlieferten Texten zu identifizieren (vgl. etwa die Benennung der Leoparden als »Tiger«). Für die räumliche Unterbringung, das Verhalten der Tiere und ihre Betreuung ist man ausschließlich auf zeitgenössische Reiseberichte und weitere Quellen (Stadtplan etc.) angewiesen. Auch der Frage, wie die Tiere nach Kassel gelangt waren, kann nur anhand von Schriftquellen nachgegangen werden. Das Gemälde löst dabei die Probleme einer lebendigen Gesamtschau von zeitlich und räumlich nicht gemeinsam gehaltenen Tieren, von Raubtieren und möglichen Beutetieren: durch Rückgriff auf eine bestehende Bildtradition (Paradiesbild), die angesichts dieser pragmatischen Gründe auch keinen tieferen Beweggrund zu haben braucht. Die Entscheidung für diese Bildtradition geht allerdings zu Lasten des Dokumentationswerts hinsichtlich des 36 | Der Däne Lauritz Thura besichtigte bei seinem Kassel-Besuch 1729 das Gemälde, das damals zeitweise im Kasseler Schloss hing, und schrieb: »Im Schloß wurde uns unter anderem ein großes Gemälde gezeigt, von einem berühmten Meister gemalt, worauf alle Tiere und Kreaturen, die man eine Zeitlang in der fürstlichen Menagerie gehabt hatte, abgebildet waren, ein Stück, das in gewisser Beziehung und was die leibhaftige Abbildung der Kreaturen anbetrifft, vorzüglich ausgeführt war.« (F. Weilbach: Kassel, S. 157f.) Und der Danziger Carl Bentzmann schrieb 1757: »Von hier geht man in die Thier Kammer, wo man alle Gattungen von ausgestopften Thieren sieht, die vormals im hiesigen Thiergarten gewesen. […] Man findet auch ein Gemälde, auf welchem alle Thiere abgemahlet sind, welches von Rose gemahlet worden, deren 3 Brüder gewesen sind, von denen aber der älteste der beste gewesen.« (C. Knetsch: Reisebeschreibungen, S. 69.)
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Verhaltens und der Haltung – Aspekte, die für das Gemälde offenbar als irrelevant oder sogar störend erachtet wurden. So ermöglicht die Anlehnung an Paradiesbilder zugleich auch eine Ästhetisierung der Tierhaltung. Der Aspekt der Ästhetik wird dadurch ergänzt, dass die Schönheit der Tiere ein wichtiges Merkmal in den ausgewählten Reisebeschreibungen ist. Innerhalb des Tierbestands kommt den Großkatzen (Löwen, Leoparden) jeweils eine zentrale Rolle zu: Dies betrifft sowohl ihre hervorgehobene Anordnung im Zentrum des Gemäldes als auch die Wahrnehmung der lebenden Tiere in der Menagerie seitens der beiden Reisenden. Im Gemälde erhält das Löwenpaar allerdings noch eine potenzielle allegorische Zusatzbedeutung, indem es auf das Fürstenpaar bezogen werden kann. Der Gesamteindruck beim Betrachten des Gemäldes, dass die exotischen Tiere und ihre großformatige Darstellung auch ein Teil der Herrschaftsrepräsentation waren, wird durch einen der Reiseberichte ergänzt, der ausdrücklich die hohen Unterhaltungskosten der Menagerie hervorhebt. Im Hinblick auf die Zuchterfolge bei den Leoparden, die ebenfalls im weiteren Sinne in diesen Zusammenhang einzuordnen sind (als Indiz für gute Haltungsbedingungen), bestätigen sich Gemälde und Schriftquellen gegenseitig. Über den Ausstellungskontext des »Tierbilds« im Kunsthaus, bei den Präparaten der Menagerietiere, erfahren wir nur aus den Schriftquellen; dies ermöglicht Rückschlüsse auf die gegenseitige Ergänzung von Menagerie, Präparaten und Gemälde (in Bestand und Repräsentationsform der Tierarten) – und damit weitere Rückschlüsse auf mögliche Motive des Auftraggebers. Gerade der Ausstellungsort und der Zusammenhang mit den Präparaten betonen die naturkundliche Funktion des Gemäldes. Die mündlichen, individuellen Informationen, die den Besuchern der Menagerie und des Kunsthauses mitgeteilt wurden, sind heute nur noch fragmentarisch aus überlieferten Reisebeschreibungen zu erschließen. Während sich in der Menagerie zumindest die Exotik der meisten Tiere von selbst erschloss, sind für das Verständnis des Tierbilds einige grundlegende Erläuterungen unbedingt notwendig, da Inhalt und Funktion des Gemäldes nur aus dem Titel und dem historischen Kontext erschlossen werden können: Allein vor dem Hintergrund der Bildtradition bliebe die Betrachtung auf der vordergründigen Ebene eines Paradiesbildes und könnte die wichtigste Bedeutungsebene (als Menageriebild) nicht erkennen; ohne Kenntnis des naturkundlichen Ausstellungskontextes dagegen, nur im Wissen, dass das Gemälde 1729 im Schloss besichtigt wurde37, bestünde für heutige Interpretationen die Gefahr, den Aspekt der Herrschaftsrepräsentation überzubewerten.
37 | So berichtet es Thura über seinen Kassel-Besuch 1729 (F. Weilbach: Kassel, S. 157f.), vgl. hier die vorige Anm.; vgl. auch E. Lehmann: Tierbild, S. 49 (zum 30.9.1727).
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A llgemeine me thodische Ü berlegungen Lösen wir uns von dem konkreten Beispiel des Kasseler Tierbildes, so können wir insgesamt festhalten: Kunstwerke setzten schon bei den zeitgenössischen Betrachtern bestimmte Vorkenntnisse voraus, die für die Deutung wesentlich sind. Diese Vorkenntnisse können in Sachinformationen, zeitgenössischen Geisteshaltungen und Auffassungen, dem jeweils üblichen Bildungskanon, Bildtraditionen, literarischen Traditionen etc. bestehen. Für eine Deutung sind die benötigten Vorkenntnisse möglichst weitgehend zu ermitteln. Die Methoden dafür sind in erster Linie geschichtswissenschaftlich (Quellenarbeit). Kunstwerke und Textquellen können auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen Informationen vermitteln, etwa symbolisch/allegorisch oder dokumentarisch. Oftmals ist erst in der Gesamtheit der Quellen eine sorgfältige Unterscheidung und Deutung dieser Ebenen möglich, ebenso eine Feststellung eventueller Mehrdeutigkeit. Auch bestimmte Tiere werden in historischen Bildtraditionen häufig in symbolischen/allegorischen oder auch heraldischen Bedeutungen verwendet (vgl. hier etwa den Löwen im Zentrum der Tiere, so wie der Herrscher im absolutistischen Idealbild jener Zeit im Zentrum des Hofes und der Untertanen steht). Dieser Symbolgehalt vermittelt z.B. Informationen über eine porträtierte Person oder den Bauherren eines Gebäudes. Dabei können Motive, wenn sie als Zitate eingesetzt werden, auch einen neuen Symbolgehalt annehmen, indem sie – losgelöst von ihrer originären oder inzwischen üblichen Bedeutung – auf Eigenschaften des zitierten Objekts verweisen.38 In mehreren Fällen besteht eine Diskrepanz zwischen der vordergründigen Bildtradition, in der ein Werk steht, und den historischen Umständen; das Tierbild ist eben kein Paradiesbild im eigentlichen Sinne, sondern es stellt die landgräflichen Tiere in Kassel dar. Das Bild hat also einen realen 38 | Vgl. die Entwürfe des Kasseler Hofbaumeisters Heinrich Christoph Jussow für ein Palais des Freiherrn von Veltheim, um 1800 (vgl. Bestandskatalog Architekturzeichnungen der MHK, Nr. 4.12.2). Die Freitreppe wird von zwei Löwen flankiert, die aber weder als unangemessene Herrschaftssymbole noch als Wappentiere aufgefasst sind; als Nachbildungen der ägyptischen Löwen, die in Rom am Fuße der Kapitolstreppe aufgestellt sind (vgl. ebd., Nr. 8.17.16), sind sie in erster Linie Antikenzitate: Die ägyptischen Löwen stehen gemeinsam mit dem griechisch-dorischen Portikus und der römischen Flachkuppel für die klassische Bildung des Bauherrn, der u.a. Direktor des Kasseler Museum Fridericianum war; das Motiv von Kuppel, Portikus und Freitreppe nimmt auf die Landsitze des aufgeklärten englischen Adels Bezug. Nicht der Gegenstand der Bauplastik (der Löwe), sondern die Bauplastik als Zitat vermittelt die inhaltliche Aussage, die antike Form ist selbst zum Inhalt geworden.
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historischen Hintergrund, aber die gewählte Form des Paradiesbildes ist keine dokumentarische Wiedergabe der tatsächlichen Haltungsbedingungen. Kunstwerke geben daher z.T. auch nur eine eingeschränkte Sicht auf den realen Umgang mit Tieren wieder; erst im Zusammenhang mit historischen Schriftquellen erhält man ein umfassenderes oder zumindest ergänzendes Bild und kann die künstlerischen Darstellungen zugleich auch besser einordnen.39 – Methodik und Quellen sind dabei in erster Linie geschichtswissenschaftlich. Umso mehr kann aber auch die Idealisierung von Darstellungen – jenseits der Bildtraditionen – wertvolle Informationen über die jeweilige Sicht auf Tiere in der menschlichen Gesellschaft ergeben: Informationen, die gerade aus den Unterschieden gegenüber der historischen Quellen-Überlieferung hervorgehen können. Christian Presche
D as B ild und seine epistemologische R ele vanz Wie der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm in seinen Schriften stets hervorhebt, kommt Bildern als eigenständigen, von Sprache unabhängigen Medien der Erkenntnis eine spezifische Bedeutung zu.40 Doch worin besteht das Erkenntnispotenzial eines Bildes und wie wird dieses vermittelt? Wie Boehm darlegt, basiert die Logik der Bilder »[…] auf einem Überhang: Das Faktische lässt sich als das, was es ist, anders sehen.«41 Der Überhang an Bedeutung ist aber nicht ausschließlich von den Absichten der Bildproduzent_innen abhängig, da die Bildentstehung ebenso durch den kulturellen und sozialhistorischen Kontext geprägt ist. Ganz ohne sprachliche Informationen kommen Betrachter_innen deshalb nicht aus. Erst die Kenntnis darüber, ob eine Abbildfunktion – im Sinne der Reproduktion gegebener Wirklichkeit – überprüf bar war, lässt etwa auf die Gewichtung bildlicher Wahrnehmung im Verhältnis zum Gegenstand schließen. So ist etwa dem hier zu behandelnden Menageriebild (Abb. 1) allein natürlich kaum zu entnehmen, welchem Publikum es in welchem Kontext gezeigt wurde oder woher die dargestellten Tiere stammten. Aus derartigen kontextuellen Informationen ergeben sich Deutungszusammenhänge, welche der se39 | Ein Beispiel ist etwa die Haltung von Singvögeln: In Porträts werden sie in erster Linie mit Frauen assoziiert – der Vogel im Käfig kann dabei auch als Symbol der Ehe gedacht sein; in den Schriftquellen des späten 18. und frühen 19. Jh. ist die Aufzucht und Haltung von Singvögeln dagegen vielmehr bei Jungen und Männern belegt. 40 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 35. 41 | Ebd., S. 52.
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henden Interpretation weitere Anhaltspunkte liefern. Sprache und Bild lassen sich im Deutungsprozess deshalb nicht vollständig getrennt betrachten. Dass das Sehen ohne sprachlich vermittelte Informationen nicht auskommt, wie es die immer schon kontextuell orientierten Analysen in der Kunstwissenschaft nahelegen, schließt dieses jedoch nicht als Mittel der Erkenntnis aus. Um den Horizont der Betrachtung nachvollziehen zu können, müssen daher die Bedingungen des Sehens der Zeit definiert werden, soweit nicht ausschließlich nach den eigenen zeitlich und kulturell geprägten Kriterien interpretiert werden soll. Gleiches gilt auch für die textbasierten Quellen, denn auch diese unterliegen einem spezifischen soziokulturellen Kontext. Es gibt weder ein voraussetzungsloses Sehen noch eine voraussetzungslose Sprache. Ohne Textquellen zu Rate zu ziehen, mag kein umfassendes Verständnis der Bildbedeutung möglich sein, doch durch die Einbeziehung von Texten verliert das Bild selbst nicht seine Relevanz.
Die Leoparden bei Roos Zur Frage, was Bildern sehend entnommen werden kann, ist zunächst die Rolle der Beschreibung hervorzuheben. Die Bildbeschreibung ist als Ausgangspunkt jeder nicht rein subjektiven Anschauung von besonderer Relevanz. Insbesondere in Anbetracht des Formats und der Fülle der Bildelemente des Menageriebildes kann die Beschreibung, als Formalisierung der individuellen ästhetischen Erfahrung, die Übersichtlichkeit des Bildes strukturieren helfen. Die Beschreibung tritt dabei nicht an die Stelle des Bildes, sondern dient dazu, die relevanten Aspekte bewusst zu machen, und ergänzt es durch eine lineare Deutungsstruktur, welche die weitere sprachliche Auseinandersetzung mit dem Bild erleichtert. Die Notwendigkeit der Beschreibung soll dabei nicht als Beleg angeführt werden, dass dem Bild allein eine entsprechende Deutlichkeit nicht zuzutrauen wäre. Doch so wie man sich über Begriffe einig werden muss, ist es auch erforderlich, sich über das Gesehene zu verständigen, um eine intersubjektive Grundlage für weitere Untersuchungen zu schaffen. Die Beschreibung tritt nicht an die Stelle des Gesehenen, sondern verweist in ähnlicher Weise auf das Bild, wie das Bild selbst auf seinen Gegenstand verweist – wie Boehm darlegt: »Die Beschreibung hat eine Zeigefunktion. Diese Beschreibung muß Hinweise enthalten, die es dem Leser erlauben, zu rekonstruieren, daß der Text nicht die Sache ist, sondern, daß der Text ein Hinweis auf die Sache ist, die mit dem Korrektiv der Wahrnehmung erst aufgenommen und überprüft werden kann.« 42
42 | G. Boehm im Interview mit S. Germer/I. Graw: Auge um Auge, S. 122.
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An Roos’ Menageriebild (Abb. 1) sollen spezifische Bildeigenschaften zunächst verdeutlicht und anschließend ihre Bedeutung für die Wissensproduktion herausgestellt werden, um die Bedeutung von Bildern als eigenständige Erkenntnismedien für die Wissensproduktion und das Tier-Mensch-Verhältnis exemplarisch zu erfassen. Was ist also auf dem Bild, insbesondere im Hinblick auf die Leoparden, deren Darstellung eine Reihe von Besonderheiten aufweist und an denen im Folgenden die Konstituierung einer visuellen Präsenz dargelegt werden soll, zu sehen? Mehr als 70 Tiere aus unterschiedlichen Regionen der Erde sind auf dem 340 x 665 cm messenden Bild von Roos dargestellt. Beinahe zentral unter einem Lorbeerzweig am unteren Bildrand steht die Signatur des Künstlers mit dem Zusatz ad vivum, ›nach dem Leben‹. In der vorderen, dunkel abgesetzten Bildebene am unteren Bildrand befinden sich vornehmlich kleinere Tiere, während die mittlere Bildebene, die durch einen helleren Untergrund gekennzeichnet ist, vor allem von größeren Säugetieren und Vögeln eingenommen wird. Im Hintergrund öffnet sich die Landschaft und gibt den Blick auf einen blassblauen Himmel frei. Hier sind zudem die winzigen Silhouetten einiger größerer Tiere, etwa Elche, Bären und ein Kamel zu sehen. Eine Gazelle, ein Schweinsaffe auf einem Baumstumpf sowie der Mops in der vorderen Bildebene blicken die Betrachter_innen an und erleichtern so den ›Einstieg‹ ins Bild. Der Pflanzenbewuchs ist insgesamt eher spärlich. Im Vordergrund sind nur einige Gräser und Ranken auf dem sonst steinigen Boden zu sehen. Im Mittelgrund stehen zwei Laubbäume sowie eine Palme, im Hintergrund sind schemenhaft eine Waldlandschaft und ein Gebirge zu erkennen. So wie auch viele der anderen Arten sind die Großkatzen hier jeweils in Paaren abgebildet, wobei die Löwen gemeinsam das Zentrum des Bildes einnehmen, während die Leoparden links und rechts von ihnen angeordnet sind und sie so gewissermaßen einrahmen. Sie sind auf leicht abgesetzten Steinplateaus abgebildet. Das männliche Tier liegt rechts von den Löwen, den Blick nach links gewendet, ohne dabei sein weibliches Pendant anzublicken. Bei dem sitzenden Leopardenweibchen befinden sich zwei winzige Jungtiere, die gesäugt werden, wobei die Aufmerksamkeit des Muttertiers nicht auf sie gerichtet ist. Auf ihrem Rücken hält sich ein Kapuzineraffe fest. Welche Informationen können darüber hinaus dem Bild als Bild entnommen werden? Was ›sagt‹ oder besser ›zeigt‹ dieses zu Unterbringung und Haltung, zum Zuchterfolg, zur Identifizierung und zum Verhalten der Tiere? Und was sagt dies einerseits über die Tiere selbst aus, andererseits über die Wahrnehmung der Tiere durch den Menschen und in Verbindung damit über die Bedeutung des Bildes für das Wissen über die Tiere?
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Hierbei ist zu untersuchen, wie das Bild diese Informationen vermittelt – also was gezeigt wird, was gerade nicht gezeigt wird, welche Verbindungen hergestellt werden – und in welchen Zusammenhängen Betrachter_innen auf Textquellen angewiesen sind. Zunächst fällt die Vielfalt der Arten ins Auge, deren distanzlose und dennoch friedliche Koexistenz das Bild als fiktive räumliche Konstruktion ausweist. Entsprechend bildet die Landschaft auch nicht den Auegarten, in welchem die Menagerie verortet war, und die darin enthaltenen Pflanzen ab, sondern ist eine künstliche Kompilation.43 Die Menagerie wird hier zu einem Lehrstück über animalische Objekte komprimiert. Die Tiere sind naturgetreu dargestellt: So sind die Arten mithilfe von Zoologen recht genau identifizierbar,44 womit, im Gegensatz zur Zusammenstellung, ein starker Realitätsbezug hergestellt wird, der durch den bildinternen Vermerk ad vivum noch verstärkt wird. Dabei ist anzumerken, dass dieser Hinweis auch die Zeichnung nach Präparaten einschließt.45 Die Verwendung von Text im Bild in dieser Form verweist einmal mehr auf die Verschränkung von Wort und Bild als Erkenntnismedien. Das Bild stellt mittels der Sprache seine Wahrhaftigkeit heraus und sich selbst als adäquates Surrogat der Naturbeobachtung dar, da es die Lebendigkeit der Darstellung betont. Im Verhältnis zu Textquellen zeigt sich hier zudem ein entscheidender Vorteil des Bildes, da die Bezeichnungen der Tiere, die zum Teil von Tierhändlern und Menageristen übernommen wurden, oftmals nicht ganz eindeutig waren. Eine Identifikation der Tierarten anhand schriftlicher Belege wäre deshalb ungenauer. So wurde ein Papagei unabhängig von der spezifischen Art meist als »indianischer Rabe« bezeichnet und Leopard oder Gepard gleichermaßen als »Tigertier«.46 Das Bild vermittelt Wissen über bestimmte Aspekte der Tiere – explizit die äußere Erscheinung – auf eine spezifischere Weise, als dies in sprachlicher Form möglich wäre. Die Landschaftselemente hingegen scheinen primär nach ästhetischen Erwägungen aufgenommen worden zu sein, zumal sie, wie etwa die Bäume im Mittelgrund, meist vollständig von Tieren besetzt sind und vornehmlich als Sockel für diese fungieren. Diese Präsentationsfunktion ist gerade bei den beiden Leoparden wie auch dem männlichen Löwen, die auf abgesetzten Steinplateaus liegen oder sitzen, deutlich zu erkennen. Vermittels dieser Elemente werden die Großkatzen über die Tiere im Vordergrund erhoben, sodass sich kaum eine Überlagerung ergibt und sie somit nicht nur sehr zentral, sondern auch fast vollständig zu sehen sind. 43 | Vgl. E. Lehmann: Tierbild, S. 28. 44 | Vgl. ebd., S. 14f., 27. 45 | Vgl. ebd., S. 27. 46 | Vgl. ebd., S. 81.
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Doch nicht nur die Sockelung hebt die Leoparden im Bild hervor. Die seltsam anmutende Kombination mit dem Affen, der sich auf dem Rücken der Großkatze festzuhalten scheint, stellt unter den Menagerietieren die einzige physische, speziesübergreifende Interaktion im Bild dar. Für deren Bedeutung bietet das Bild jedoch keine weitere Erklärung an, weshalb es vornehmlich der Lenkung des Blicks und damit der Hervorhebung der Tiere dienen dürfte. Hinzu kommt, dass die Leoparden nicht, wie die meisten der anderen paarweise vertretenen Arten, nebeneinander dargestellt werden, sondern die Löwen gewissermaßen einrahmen. Das männliche Tier schaut in Richtung des Weibchens, welches den Blick jedoch nicht erwidert. Die Konstellation könnte den Betrachter dazu verleiten, auf eine tatsächliche Trennung innerhalb der Menagerie zu schließen, auch wenn dies aufgrund der übrigen räumlichen Gestaltung des Gemäldes unwahrscheinlich erscheint. Des Weiteren sind hier die einzigen Jungtiere dargestellt, was die Leoparden weiter hervorhebt, zugleich aber auch ihre Hervorhebung durch die anderen Elemente begründen könnte. Die Leoparden sind hierdurch in ihrer Bedeutung auf den menschlichen Besitzer der Menagerie ausgerichtet. Die Jungtiere, welche sie unter den anderen Tierarten im Bild auszeichnen, zeigen als Beleg eines bemerkenswerten Züchtungserfolgs47 vornehmlich die guten Haltungsbedingungen und somit die Fähigkeit des Besitzers, seinen Herrschaftsbereich gut zu versorgen und gedeihen zu lassen. Ohne eine Kontextualisierung anhand von Schriftquellen müssen inhaltliche Überlegungen jedoch zumeist rein spekulativ bleiben. Denn was das Bild eigenständig zeigt, sind weniger spezifische Inhalte, sondern vielmehr die vielfältigen Beziehungen zwischen den Bildelementen, die insbesondere auch durch Auslassungen – hier etwa der Haltungsbedingungen – konstituiert werden. Der Verzicht, etwas zu zeigen, verweist ebenso auf die Position des Auftraggebers oder des Malers wie auch auf äußere Umstände der Bildentstehung, da Bilder stets aus einer Reihe von Entscheidungsprozessen hervorgehen. Auch wenn jeder Wahrnehmungsakt einen Interpretationsprozess darstellt, unterscheidet sich das Bild als Gegenstand der Anschauung von einem darauf dargestellten Objekt durch ein Mehr an Bedeutung, welches durch die Notwendigkeit der bewussten Auswahl generiert wird. Gerade in diesem Zusammenhang sind sprachliche Hintergrundinformationen nicht vom bildinternen Informationsgehalt zu lösen, da Auslassungen ohne diese kaum als solche erkannt werden können. Der Verzicht auf die Dar-
47 | Siehe hierzu Anm. 16.
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stellung der Haltungsbedingungen oder die Auswahl der Tiere48 kann nur unter der Voraussetzung als Entscheidung aufgefasst werden, dass es sich um die Darstellung einer spezifischen Menagerie handelt. Jede Distanz, räumlich wie auch zeitlich, ist aufgehoben. Die Tiere erscheinen durch die, an einen naturkundlichen Ausstellungsraum erinnernde, dichte Zusammenstellung als Sammlungs- oder Studienobjekte. Dazu passend wird auch kein Verhältnis der Tiere untereinander dargestellt, welches auf ihre üblichen Verhaltensweisen rekurriert. So haben die Raubkatzen etwa keinerlei aggressives Potenzial. Dabei ist die Darstellung nicht allein auf die körperliche Präsentation beschränkt. Durch die Lebendigkeit der Posen wie auch die Einbindung in einen landschaftlichen Hintergrund die Präsentation der vielfältigen Tierarten, insbesondere in Verbindung mit dem meist paarweisen Auftreten der Exemplare, wird zudem ein Bezug zur Bildtradition von Paradiesbildern oder Arche-Darstellungen hergestellt (Abb. 5).
Abb. 5: Jan Breughel d. Ä.: Paradieslandschaft mit Arche Noah, um 1613, Öl auf Holz, 61 x 90,2 cm. Budapest Szepmüveszeti Museum, Inv. Nr. 548. Diese Assoziation verweist wiederum auf einen Zustand der Harmonie und des Friedens, der auf die menschliche Gesellschaft übertragen und damit auf den verantwortlichen Herrscher bezogen werden kann. Neben der naturkundlichen Präsentation der Tierarten zeigt sich auch eine repräsentative Funktion, da dieses friedliche Zusammenleben durch den Besitzer der Menagerie erst ermöglicht wird, auf dessen Qualitäten als Herrscher es damit 48 | Nicht alle in der Menagerie nachgewiesenen Arten sind abgebildet. Gleichzeitig sind auch Tiere, die an anderen Orten verwahrt wurden, dargestellt. Siehe hierzu S. 219f.: Zur Unterbringung der Tiere.
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verweist. Zudem ist die naturgetreue Wiedergabe der Tiere auf die menschliche Bildung ausgerichtet. Sie werden durch das Bild zugänglich gemacht und als Studienobjekte präsentiert – wobei diese gerade aufgrund des Paradiesbezuges auf eine rein körperliche Darstellung beschränkt bleiben, während artspezifisches Verhalten und das Verhältnis der Arten untereinander ausgeklammert werden müssen. Somit geht von den Raubtieren keinerlei Bedrohungspotenzial aus. Der visuelle Bezug auf diesen Bildtypus schränkt also den Informationsgehalt und somit den möglichen Erkenntniswert des Bildes ein, öffnet es aber zugleich für die Vermittlung symbolischer Bedeutung. Im Kontrast zur Bemühung um naturgetreue Darstellung steht zudem, dass die Tiere nicht durchgehend in einem korrekten Maßstab zu sehen sind, wie etwa am linken Bildrand an der Größenrelation zwischen Eis- und Braunbär und dem dahinter befindlichen Kamel deutlich zu erkennen ist. Die verschobenen Größenverhältnisse lassen vor allem auf die Entstehungsbedingungen des Bildes schließen.49 Sie verweisen auf die Vereinzelung, in der die Tiere ins Bild übertragen wurden, und damit auf die realen räumlichen Bedingungen, die in der Darstellung überwunden wurden. Gerade bei den Leopardenjungen, die im Verhältnis zum Muttertier, insbesondere zu den deutlich überproportionierten Gliedmaßen, winzig erscheinen, offenbart sich, wie auch durch die unpassende Haltung der Leopardin beim Säugen, die Künstlichkeit der Darstellung. Dass diese Szene nicht auf bloßer Mimesis beruht, verweist auf die bewusste Entscheidung für dieses Motiv und die zentrale Bedeutung des Zuchterfolgs, welcher dem Betrachter hier vermittelt wird. Im Gegenzug erscheint es verwunderlich, dass keine weiteren Jungtiere zu sehen sind, obgleich durchaus weiterer Nachwuchs, etwa bei Kamel, Rentier, Stachelschwein sowie einigen Affen, nachweisbar ist.50 Eine mögliche Begründung wäre die mangelnde Verfügbarkeit entsprechender Vorbilder zum Zeitpunkt der Bildentstehung, um ›nach dem Leben‹ zu zeichnen, weshalb sie dem naturkundlichen Anspruch nicht genügt hätten. Die Leoparden könnten aber auch eine besondere Rolle im Vergleich mit anderen Menagerien spielen, sofern es sich bei dieser Art um einen bis dahin einzigartigen Erfolg handelte. Dem Bild allein ist dies jedoch nicht zu entnehmen.
49 | So erklärt sich etwa die verkleinerte Darstellung der Bären, ebenso wie die etwas seltsam anmutende Aufsicht im Falle des Braunbären aus ihrer isolierten Haltung in einem Bärengraben, welche die richtige Einschätzung der Größenverhältnisse aufgrund der Distanz erschwert und die mögliche Perspektive eingeschränkt haben dürfte. Siehe hierzu: J.F.A. von Uffenbach: Tagbuch, S. 4, 64. 50 | Vgl. J.-J. Winkelmann: Hessen, 2. Teil, S. 277.
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Doch welchen Mehrwert hat das Bild nun im Verhältnis zu einer schriftlichen Auflistung der Tiere? Was also ist die genuin bildliche Qualität dieses Gemäldes? Auch wenn es einen Überblick über alle Tiere der Menagerie geben sollte und somit Ähnlichkeit zu einer Inventarliste aufweist, geht es doch darüber hinaus. Notwendigerweise stellt es Beziehungen im Raum her und zeigt eine Gewichtung der Tiere. Die Tiere sind voreinander gestellt oder nur teilweise im Bild, werden im Hintergrund kleiner bis zum Verschwinden, sitzen beieinander oder sind getrennt, zentral im Bild oder am Rand. Das Bild bietet in der Unmittelbarkeit des Zeigens einen eigenständigen Zugang zum Verständnis des Verhältnisses der Bildproduzenten – zu denen in diesem Zusammenhang auch der Auftraggeber zu zählen ist – zum Bildgegenstand. Das Bild zeigt, wie die Tierarten überhaupt aussehen können, wie die spezifischen Tiere der Menagerie ausgesehen haben, wie der Maler sie gesehen hat und wie er sie darstellt:51 »Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert. Die Regeln dafür sind historisch veränderlich, von Stilen, Gattungsordnungen, Auftraggebern usw. geprägt. Bilder – wie immer sie sich ausprägen mögen – sind keine Sammelplätze beliebiger Details, sondern Sinneinheiten.« 52
So stellt die Konstellation der Tiere im Bild zwar eine unmögliche, konstruierte Ansicht dar, die jedoch in Relation zur Menagerie, in der die Tiere alle, wenn auch nie zur gleichen Zeit oder am selben Ort 53, zu sehen waren, einen realen Bezugspunkt aufweist, der die Bildelemente miteinander in Verbindung setzt. Es handelt sich insofern um ein Bild, das mimetischen Charakter hat, also an Empirie gebunden bleibt, aber dennoch nicht empirisch überprüf bar ist. Die Beziehung des Rezipienten zu den Tieren als Bildgegenstand ist infolgedessen stark durch das Bild geprägt. Es handelt sich um eine empirisch orientierte Bildlichkeit, die jedoch in ihrer Ganzheit etwas schafft, was ohne das Bild kein Aussehen hätte. Als Idealbild zeigt es nicht nur die unmögliche Konstellation, sondern auch die Unmöglichkeit selbst, da es in einen entsprechenden Kontext an Bildthemen einzuordnen ist. Die naturkundliche Qualität der Tierdarstellungen, die beinahe alle genau zu identifizieren sind, macht den mimetischen Teil des Bildes aus, hinter dem die konstruierten Elemente, wie etwa die räum51 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 39. 52 | G. Boehm: Wiederkehr, S. 29f. 53 | Siehe hierzu S. 219: Zur Unterbringung der Tiere.
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liche Anordnung, zu betrachten sind, welche wiederum das Bild ausmachen und die Wahrnehmung strukturieren. Im Bild wird sichtbar, was besteht, was nicht mehr besteht und was nicht vorstellbar ist.54 Einerseits zeigt es die Menagerie, die besteht, vereint aber auch, was sich nicht mehr darin befindet, andererseits erhält es die Tiere auch für kommende Betrachter, für die nichts davon mehr existiert. Zudem zeigt es eine idealisierte, nicht real umsetzbare Vereinigung der Tiere vor einem fiktiven Hintergrund. Es erscheint wie eine referentengebundene Malerei, die ihre Referenten jedoch erst zur Erscheinung bringt, sofern dem Betrachter die dargestellten Tiere nicht selbst als empirisches Korrektiv zur Verfügung stehen. Mit dem Bild wird ein Anspruch auf ein Eigentum der Tiere über deren Tod hinaus erhoben und gleichzeitig ein Repräsentationszusammenhang hergestellt, indem die Wirklichkeit, auf die es anspielt, nur als Ausgangsbasis der Darstellung begriffen wird, nicht als unveränderlicher Fixpunkt. Eine solche dahinter stehende Absicht wird erst durch den Vergleich mit seiner realen Grundlage deutlich. Diese ist jedoch nicht jedem Betrachter des Bildes zugänglich, sondern ergibt sich aus der retrospektiven Betrachtung und Analyse anhand schriftlicher Nachweise, die unter anderem belegen, welche Tiere bereits bei Entstehung des Bildes verstorben waren. Zum Teil lässt sich dies zwar auch aus der Anschauung schließen, da für geschulte Betrachter_innen anhand der Körperform und Haltung einiger Tiere durchaus erkennbar ist, dass es sich bei der Vorlage um Präparate gehandelt haben muss. Dies kann für Zeitgenossen jedoch keineswegs angenommen werden. Zudem kann das Aussehen der Tiere heute anhand empirischer Korrektive überprüft werden, welche zeitgenössischen Betrachter_innen nicht zur Verfügung gestanden haben. Abgesehen von einigen Präparaten war der einzige empirische Beleg für die Existenz und das Aussehen der Tiere nach der Auflösung55 der Menagerie 1730 das Bild selbst. Dieses kann somit für den zeitgenössischen Betrachter als wirklichkeitskonstitutiv gelten. Sein Wert liegt nicht allein in der Abbildung der Wirklichkeit und dem Erhalt des Vergänglichen, sondern in der Produktion der Sichtbarkeit dieser Tiere und damit einer Vorstellung fremder Welten, welche sie repräsentieren sollten. Der Realitätsbezug ändert sich dabei entsprechend dem Kontext der Betrachtung. Durch das Bild konnte etwas erfahren werden, dessen Sichtbarkeit nur im Bild verfügbar war. Da es sich um ein Lehrstück handelte, anhand dessen der Betrachter den Tieren zum Teil erstmalig oder auch ausschließlich begegnete, legt die Darstellung fest, wie die Tiere erfahren werden. Das Bild schafft ein Paradigma der Vorstellung und Wahrnehmung von den Tieren. Die ganze Exo54 | Vgl. G. Boehm: Ikonisches Wissen, S. 128. 55 | Nach dem Tode Carls 1730; vgl. F.C. Schmincke: Cassel, S. 123.
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tik der Welt, die zunächst in der Menagerie zugänglich gemacht wurde, ist im Bild noch weiter verdichtet und bietet dem zeitgenössischen Betrachter eine Welterfahrung, die nur in diesem Bild möglich ist. Die Realität wird durch das Bild nicht verkörpert, sondern definiert.56 Das im Bild wahrgenommene Objekt erhält eine Präsenz, die über seine eigene physische Vergänglichkeit hinausgeht, wodurch wiederum Vorstellungen und daraus resultierendes Wissen erzeugt werden, die mit sprachlichen Mitteln nicht zu erreichen sind. Die mit dem Auge konstituierte Semantik basiert dabei gerade auf dem Bewusstsein der Differenz von Gesehenem und Anwesendem57, was für das Roossche Menageriebild als Lehrstück von entscheidender Relevanz ist, da dieses die in Kassel vorhandenen Tiere über ihre tatsächliche Lebensspanne hinaus verfügbar machen konnte. Körperliche Information wird auf ein Medium übertragen und dem abwesenden Bildgegenstand – den Tieren wie auch den durch sie vertretenen fremden Welten – eine Gegenwärtigkeit verschafft, die jedoch nicht der physischen Präsenz des tatsächlichen Objekts entspricht, sondern gerade im Bewusstsein der Abwesenheit liegt und damit der spezifisch bildlichen Anwesenheit eine Bedeutung verleiht.
Phänomenologie vs. Ikonologie und Semiotik Im Folgenden ist nun noch zu betrachten, worin der nicht sprachlich substituierbare Erkenntnisgehalt allgemein besteht und wie dieses Erklärungsmodell von Theorien abzugrenzen ist, in welchen Bilder als bloße Zeichensysteme aufgefasst werden. Mit »Unflattening«58 von Nick Sousanis wurde erstmals eine Dissertation in der Form eines Comics vorgelegt. Er behandelt darin die Möglichkeiten visuellen Denkens und stellt durch die praktische Anwendung die Vorrang56 | Auch die Verfügbarkeit realer Tiere ändert dabei nichts an diesem wirklichkeitskonstitutiven Potenzial. Denn erst im Bild wird eine intersubjektiv erfahrbare Ansichtigkeit festgehalten, anhand derer eine gemeinsame Vorstellung vom Tier überprüfbar ist. Vgl. S. Majetschak, Bild-Zeichen, S. 103. »Im internen Geflecht ihrer Markierungen verwirklichen und fixieren sie [Bilder] Ordnungen von Sichtbarkeit, indem sie aus der Unerschöpflichkeit dessen, was der Blick im unbestimmten optischen Potential sichtbarer Realität gewahren kann, für das jeweilige Sehen signifikante Ordnungen allererst herausheben; Sichtbarkeitsordnungen, welche dem natürlichen Blick in der Zeit so nie gegeben sind, weil sich die Ordnung seines Gesichtsfeldes dynamisch verändert. In Bildern allein gewinnen solche Ordnungen Stabilität.« Vgl. zur Veränderung des Wirklichkeitsverständnisses durch Darstellung auch den Beitrag von Stephanie Milling in diesem Band. 57 | Vgl. K. Sachs-Hombach: Das Bild, S. 17. 58 | Siehe hierzu: N. Sousanis: Unflattening.
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stellung des Wortes in der menschlichen Wissensproduktion infrage. Anstelle der Illustration als Beiwerk zum Wort wird hier ein Raum zur visuellen Reflexion geschaffen, der sich mit den Kapazitäten des Mediums befasst. Das Bild wird als eigenständiges Denkmodell in den wissenschaftlichen Diskurs aufgenommen. In Anbetracht der verbreiteten Vorstellung von der Produktivität der Bilder, welche an die Stelle der vormodernen Vorstellung einer reproduktiven Funktion getreten ist 59, scheint dieser Versuch durchaus vielversprechend. In ähnlicher Form verwies auch die, von der Chef-Kuratorin der Documenta d(13) Carolyn Christof-Bakargiev als »Brain« betitelte, zentrale Präsentation in der Rotunde des Fridericianums auf das Visuelle als Denkraum bzw. als mögliche Form der Wissensproduktion und -vermittlung. Doch Sousanis stellt die Frage aus dem Feld der Wissenschaft selbst, in dem den Bildern sonst nur eine dienende Funktion zugestanden wird. Er zweifelt so die sprachliche Struktur des Denkens in Form einer Innenrevision als alleinige Methode der Erkenntnis an und nimmt die bislang nur von außen an die Wissenschaft herangetragene Kritik ernst. Wie Boehm konstatiert, werden Bilder, wenn sie vom Text ausgehend analysiert werden, wie es außerhalb der kunstwissenschaftlichen Disziplinen durchaus üblich ist, oftmals eher als Illustration oder als Ergänzung sprachlich vermittelter Informationen aufgefasst. Derartige dienstleistende Funktionen sollen hier keinesfalls negiert oder negativ bewertet werden. Wenn man die Bilder jedoch darauf reduziert, neigt man dazu, sie selbst zu ›übersehen‹ und nur noch auf einen hinter ihnen vermuteten Text, also auf rein sprachliche Bedeutung zu schauen.60 Mit Boehm, der den Begriff des iconic turn geprägt hat, und William Mitchell, der mit dem pictorial turn ein ähnliches Konzept entwickelte, ist anzunehmen, dass sprachorientierte Modelle Bilder nicht in allen Facetten ihrer Bedeutung erfassen können. Will man Boehm folgen, bewähren sich »[b]ildgebende Verfahren […] als Instrumente von Erkenntnissen, die sich nur auf diesem Wege zeigen lassen.«61 Es gilt also, den ihnen eigenen Sinn zu finden. Der iconic turn wie auch der pictorial turn stellen insofern eine Sprachkritik dar, dass mithilfe dieser Modelle Bilder als erkenntnistheoretische Quellen eigener Art definiert werden, welche nicht durch eine Übersetzung von Bildern in Sprache substituierbar sind. Eine bildwissenschaftliche Betrachtung ist, im Sinne phänomenologischer Modelle und im Kontrast etwa zur ikonologischen Auffassung, darauf ausgerichtet, dem Bild einen spezifischen Sinn zu entnehmen. Die Kritik an klassischen ikonologischen Modellen besteht dabei darin, dass das Bild in diesen 59 | Siehe hierzu u.a.: G. Boehm: Wiederkehr, S. 16. 60 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 42f. 61 | Ebd., S. 35.
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zum Durchgangsobjekt – zu einem reinen Platzhalter der Sprache – degradiert wird. So ginge etwa, wenn das Menageriebild allein auf seinen herrschaftlichrepräsentativen Charakter hin betrachtet würde, die von Boehm vorausgesetzte sinnstiftende Qualität von Bildlichkeit durch eine derartige Auffassung des Bildes als Träger einer sprachlichen Botschaft verloren62, da dessen Bedeutung für die Erfahrung der physischen Präsenz der Tiere und die Überwindung ihrer Abwesenheit verloren ginge. Wie Mitchell es in seiner Bildtheorie formuliert: »In Panofskys Ikonologie ist das ›Ikon‹ gründlich vom ›Logos‹ absorbiert […].«63 Die Ikonologie verspricht eine Bändigung des Bildes durch das Wort, wobei die bildlichen Elemente oftmals zu schnell durch das Wort ersetzt und somit als reine Repräsentanten sprachlichen Sinns aufgefasst werden. Die Bilder werden durch die Begriffe und Geschichten, welche an sie herangetragen werden, präformiert und das Assoziationsspektrum durch den Bezug auf sprachliche Quellen eingeschränkt, sodass sie keinen eigenständigen Sinn entfalten können. Boehm zufolge zeichnet das Bild die Fähigkeit aus, auf Abwesendes nicht bloß zu verweisen, sondern es zur Erscheinung zu bringen.64 Dabei ist die Differenz von Bild und Abbild von zentraler Bedeutung, da »[…] der sekundäre Status des Abbildes das Bildverhältnis schwer behindert«65, indem dem Bild grundlegend eine reproduktive Funktion zugeschrieben wird. So verbirgt sich die konstitutive Struktur und die damit geschaffene Anwesenheit der Tiere durch das Menageriebild hinter dessen Referenzwert, wenn es als rein reproduktives Medium aufgefasst wird. Und auch wenn die Überzeugung, Abbilder würden sich vollständig in ihrer reproduzierenden Funktion erschöpfen, kaum tragfähig scheint, ist doch anzunehmen, dass der hinter den Abbildern stehende Anspruch im alltäglichen Gebrauch durchaus darin besteht. Der Interpretationsprozess distanziert auch im Falle des Abbildes die Interpretation des Bildbetrachters vom Bildgegenstand. Somit birgt gerade das vermeintlich bloße Abbild die Gefahr der Manipulation, da zwar auch hier selektive Prozesse ablaufen, welche Wahrnehmung und Darstellung prägen, diese aber verborgen werden. Entsprechend begründet Boehm die Annahme einer historischen Zäsur in Form des iconic turn auf Entwicklungsprozessen in der bildenden Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, welche der Bildlichkeit und den Prozessen der Bildentstehung zunehmend zu einer primären Sichtbarkeit verhalfen und das Bild – als Gegenstand eigener Wertigkeit – der Reflexion darboten. »Die eigentliche Leistung [der Kunst des späten 19. Jahrhunderts] (und der Gehalt dieses historischen Geschehens) ist die Entkräftung des Abbildes und, zugleich damit, die 62 | Vgl. ebd., S. 42. 63 | W. Mitchell: Bildtheorie, S. 126. 64 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 38f. 65 | G. Boehm: Wiederkehr, S. 16f.
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Entdeckung genuiner und produktiver Leistungen des Bildes selbst.«66 Grundlegend kann jedoch, wie Boehm konstatiert, von Konstanten im Vorgang der Anschauung ausgegangen werden, die trotz aller Veränderungen eine gemeinsame Grundlage der Wahrnehmung der historischen und aktuellen Betrachter ermöglichen, »[…] weil sich das Sehen zwar historisiert, aber nicht in toto. Es gibt also vermutlich Konstanten der Orientierung, die uns erlauben, ein Bild der Vergangenheit anzuschauen, und trotzdem in einer Weise mit alten Erfahrungen der Autoren oder des ursprünglichen Publikums übereinzukommen, auch wenn sicherlich historische Verwerfungen da statthaben.«67 Die Implikationen dieser veränderten Perspektive erstrecken sich somit nicht allein auf die avantgardistischen Werke, welche diesen Prozess auslösten, sondern auf einen überzeitlichen Bildbegriff. Während Boehm den Erkenntniswert des Bildes gerade in Unabhängigkeit von sprachlichen Quellen herauszustellen bestrebt ist, indem er die visuelle Wahrnehmung der sprachlichen zeitlich voranstellt, hebt Mitchell die Verknüpfung zwischen bildlichen und sprachlichen Darstellungsformen, welche ein Leitmotiv seines Denkens darstellt, stärker hervor. Er argumentiert, Bilder seien nicht getrennt von Sprache zu fassen, aber ebenso wenig Sprache unabhängig von ihrer Bildlichkeit.68 Er geht von der Verschränkung der visuellen Kultur mit den sozialen, politischen und historischen Bedingungen aus. Dies bedeutet, dass Bilder nicht nur Auskunft über diese Bedingungen geben, sondern aufgrund der manipulativen Kapazitäten der Bilder auch Anteil an deren Entwicklung haben, woraus er eine »Konstituiertheit des menschlichen Subjekts durch sowohl Sprache als auch bildliche Darstellung«69 ableitet. Sprachliche Erkenntnisformen sollen in beiden Positionen nicht verleugnet oder ersetzt, sondern ergänzt werden. Man muss Bilder auch als Zeichensysteme verstehen; wenn man sich jedoch auf semiotische Ansätze beschränkt, werden die eigentlichen Qualitäten von Bildern übersehen.70 Boehm formulierte in diesem Zusammenhang das Ideal des sehenden Philosophen bzw. des denkenden Kunsthistorikers, um die notwendigen Voraussetzungen für den angemessenen Umgang mit den Bildern zu veranschaulichen.71 Nur unter der Bedingung der Anerkennung der Relevanz visueller und sprachlicher Medien gleichermaßen können die Bilder auch der Erkenntniserweiterung dienen. Die sprachlichen Quellen bilden hierbei eine Grundlage, auf welcher das Sehen als
66 | Ebd., S. 16. 67 | G. Boehm im Interview mit S. Germer/I. Graw: Auge um Auge, S. 119. 68 | W. Mitchell: Bildtheorie, S. 136f, 142-146. 69 | Ebd., S. 121. 70 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 43. 71 | Vgl. K. Sachs-Hombach: Das Bild, S. 12.
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Interpretationsakt dem Bild in angemessener Weise angepasst werden kann, indem sie die »Kulturen des Umgangs« 72 vergegenwärtigen. Bei einer derartigen bildwissenschaftlichen Betrachtung handelt es sich insofern um einen hermeneutischen Ansatz, der dem Bild eine eigenständige Funktion der Erkenntnisbildung zuspricht, die sich nicht in seiner Ausdeutung als Zeichensystem erschöpft. Die systematische Betrachtung wird in einen historischen Zusammenhang eingebettet, um richtig sehen zu können. Eine vermeintliche Objektivität muss hierbei aufgegeben werden, um die eigenen und historischen Voraussetzungen auch als mitwirkende Faktoren in erkenntnisbildenden Prozessen auffassen zu können. Insofern ist jeder Wahrnehmungsakt, so auch der der Künstler_innen, immer auch ein Interpretationsakt.73 Die Visualisierung fügt diesem eine zweite Ebene der Interpretation hinzu, da die Umsetzung in ein Medium Entscheidungen der Bildschaffenden erforderlich macht. Diese Fixierung im Bild reduziert mögliche Ansichtigkeiten und erzeugt eine intersubjektive Perspektive, durch welche sich folgende Betrachter_innen über den dargestellten Gegenstand austauschen können. So verleiht das Menageriebild den Tieren eine zeit- und raumübergreifende Präsenz, anhand derer sich, unabhängig von der Möglichkeit zur Anschauung der Tiere selbst, eine den Rezipient_innen gemeinsame und somit kommunizierbare Vorstellung konstituiert. Das Bild repräsentiert nicht nur, es präsentiert auch, es zeigt.74 Ein Bild ist in diesem Sinne niemals bloß Abbild. Was im Bild zu sehen ist, wie etwas sichtbar gemacht wird und welche Elemente ausgeschlossen wurden, wird nicht allein durch den Bildgegenstand determiniert, sondern vor allem durch den Produktionskontext. Jede Bildwerdung beruht auf konventionellen oder individuellen Entscheidungen, die auf etwas Bestimmtes hinweisen, es zeigen. Kein Bild zeigt das Dargestellte, wie es ist, sondern wie es gesehen werden soll. Ein Bild verweist somit auf die Denkstrukturen, welche seine Form bedingen und ist insofern, wie bereits Aby Warburg konstatiert, »Ausdrucksträger eines sozialen Gedächtnisses«.75 Entsprechend ist eine Kenntnis historischer Quellen, also eine Rekonstruktion der Voraussetzungen der Wahrnehmung, erforderlich, da sich die Bildkultur ständig verändert ebenso wie der spezifische Kontext der Präsentation. So betont die Ausstellung des Tierbildes im Rahmen einer naturkundlichen Sammlung dessen intendierten naturkundlichen Wert gegenüber der Herrschaftsrepräsentation.76 72 | K. Sachs-Hombach: Das Bild, S. 12. 73 | Vgl. G. Leidloff/W. Singer: Neurowissenschaft, S. 311ff. 74 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 37. 75 | M. Warnke: Aby Warburg, S. 123. 76 | Siehe hierzu: Zur Wahrnehmung des Gemäldes bzw. der dargestellten Tiere, S. 10f.
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Über das Bild wird den Betrachtern eine Ansichtigkeit des Bildgegenstandes angeboten, welcher über die subjektive Perspektive hinausweist. Das Bild reduziert die unendlichen Varianten der Ansichtigkeit eines Objekts und erzeugt so Übersichtlichkeit. Es schafft einen intersubjektiven Konsens der subjektiven Perspektiven und definiert so die Erscheinung, an welcher sich der Bildgegenstand schließlich zu messen hat. Das Bild bildet insofern nicht bloß ab, sondern definiert Sichtbarkeit.77 Ein Spezifikum der Bildlichkeit liegt dabei gerade in der semantischen Unbestimmtheit 78, was zunächst im Widerspruch zur Eindeutigkeit der fixierten Ansichtigkeit zu stehen scheint. Die Anschauung eröffnet jedoch ein höchst umfangreiches Maß an möglichen Verknüpfungen. So sind Bilder bestimmter als Sprache, »[…] weil sie uns etwas in unmittelbarer Weise zeigen. Zugleich sind sie unbestimmter, weil das, was sie zeigen, sehr verschieden verstanden werden kann.« 79 Obwohl Bilder ihre Gegenstände auf sehr spezifische Weise vor Augen führen bzw. zeigen, sind diese durch die unbestimmtere Leserichtung in Bildern vielfältig verknüpft und somit in unterschiedlichen Zusammenhängen gleichzeitig deutbar. Bilder sind deshalb immer vielfältig interpretierbar.
Bilder und das Tier-Mensch-Verhältnis Für die beschriebene Herangehensweise ist also von zentraler Bedeutung, dass Bilder nicht als bloße Illustrationen oder als zu entschlüsselnde Zeichensysteme zu verstehen, sondern als eigenständige Medien der Erkenntnisgewinnung zu betrachten sind 80, deren Gehalt nicht auf Begriffe zu reduzieren ist. Die bildwissenschaftliche Methode liegt insofern im Entschlüsseln eines ikonischen Sinns, der sich zum einen aus dem Verhältnis der einzelnen Bildelemente zueinander sowie zum Gesamtbild ergibt, zum anderen aus der Einbettung in einen Kontext kollektiver Bilder, also der Analyse der Bildtradition. Texte dienen hierbei ergänzend dazu, den Horizont, den sozialen und kulturellen Kontext zu erschließen, in dem sich ein ikonischer Sinn entfaltet, wie in dem hier betrachteten Beispiel die Möglichkeit zur Erfahrung physischer Präsenz der dargestellten Tiere und die Überwindung der Abwesenheit der Tiere selbst. In Bezug auf die Auswirkungen von Tieren als Untersuchungsgegenstand auf methodische Fragen lässt sich vermerken, dass immer auch berücksichtigt werden muss, inwieweit diesen eine aktive Rolle zugewiesen wird oder ob sie 77 | Vgl. S. Majetschak: Bild-Zeichen, S. 103. 78 | Vgl. K. Sachs-Hombach: Das Bild, S. 15. 79 | K. Sachs-Hombach: Bildwissenschaft, S. 177. 80 | Vgl. G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 35.
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rein gegenständlich behandelt werden. »Mit der Fähigkeit zum Bild verbindet sich nicht allein das Sehen, sondern das ›Sehen-als‹«.81 Wenn das Sehen von Bildern einen anderen internen Vorgang voraussetzt, ist der Umstand, dass Tiere keine Bilder produzieren oder auf diese spezifisch reagieren, ein veritabler Hinweis auf eine bedeutungsvolle Speziesdifferenz. Grundlegend stellt sich deshalb die Frage, ob Tiere überhaupt in Prozesse der Bildwahrnehmung zu integrieren sind, was in bildwissenschaftlichen Theorien bislang kaum Berücksichtigung findet, da das Bild in diesen meist als rein anthropologisches Problem behandelt wird. Diese Fragestellung befindet sich jedoch auf einer anderen Ebene, als die behandelten rezeptionsgeschichtlichen Fragen. Vornehmlich wirkt sich das Tierthema hier deshalb auf die spezifischen Fragestellungen aus, weniger auf die methodische Struktur. Allerdings haben Bildwahrnehmung und Gegenstandswahrnehmung, wie Sachs-Hombach darlegt, viele kognitive Verarbeitungsprozesse gemein, wodurch »[…] sehr leicht eine Übertragung von der Darstellung auf die Wirklichkeit erfolgt« 82, das Abwesende also als Anwesendes interpretiert wird. Bildsinn kann deshalb als unmittelbarer als Wortsinn bezeichnet werden, sofern Bilder nicht als Verweise mit spezifischer Struktur, sondern als reine Durchgangsobjekte aufgefasst werden. Äußere Bilder und Vorstellungen von Realität korrespondieren dieser These nach sehr direkt, was Bilder zu potenziellen Produzenten kollektiver Vorstellungen von Tieren macht. Dass sich menschliche Vorstellungen von Tieren demzufolge zumeist in Unabhängigkeit vom realen Tier, anhand von Bildern konstituieren, begründet die Relevanz des Bildes für das Tier-Mensch-Verhältnis. Als menschliche Domäne stellen die Bilder dabei einen höchst problematischen Aspekt des Tier-Mensch-Verhältnisses dar,83 weshalb diese auch in der Untersuchung der Tier-Mensch-Beziehung und ihrer Entwicklung berücksichtigt werden müssen. Daniel Wolf
A rchivalische Q uellen U.B. Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Handschriftensammlung, 4° Ms. Hass. 11[1,94r-199v]: Chronik des Niederzwehrener Bäckers Hans Henrich Arnold.
81 | G. Boehm: Jenseits der Sprache, S. 39. B. Mersmann/M. Schulz: Kulturen, S. 14. 82 | K. Sachs-Hombach: Bildwissenschaft, S. 172. 83 | Siehe hierzu: J. Ullrich: Bildwerdung.
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Dem Diskurs folgen: Die Tötung einer Giraffe in öffentlicher Verhandlung
Am 9. Februar 2014 wurde im Kopenhagener Zoo eine männliche Netzgiraffe (Giraffa cameloparadalis reticulata) namens ›Marius‹ durch einen Bolzenschuss getötet. Die Tötung der Giraffe und die folgende Autopsie sowie ihre Verfütterung an die Karnivoren des Zoos erregte starkes öffentliches Interesse, das sowohl von Empörung über die Vorgänge im Kopenhagener Zoo als auch von einer generellen Infragestellung der Legitimität von zoologischen Gärten und Zuchtprogrammen geprägt war. Diese öffentliche Empörung führte dazu, dass einige andere zoologische Fachvertreter sich zu Wort meldeten und zum Teil Partei für die Verfahrensweise des Kopenhagener Zoos und das Vorgehen von dessen wissenschaftlichem Direktor Bengt Holst ergriffen. Die Tötung der Giraffe setzte eine öffentliche Debatte in Gang, in der die Tier-Mensch-Relation unter besonderer Berücksichtigung von Tieren in zoologischen Gärten verhandelt wurde. Sie spielte sich in der Tages- und Fachpresse, in verschiedenen Onlineformaten sowie im öffentlichen und privaten Rundfunk ab. Kritiker_innen der Giraffentötung sammelten Unterschriften – im Vorhinein, um die Tötung zu verhindern oder im Nachhinein, um den Kopenhagener Zoo schließen zu lassen –, hielten Mahnwachen in mehreren europäischen Städten ab und einige ließen sich sogar zu Todesdrohungen gegen den Zoodirektor hinreißen. Jene hingegen, die das Vorgehen befürworteten, sprachen von einer Doppelmoral der Kritiker_innen, von der ›Disneyfizierung der Natur‹ und einer emotionalisierten Betrachtung der Vorgänge. Der Ökologe und Ethologe Marc Bekoff sah zu Recht in der Vorgehensweise des Kopenhagener Zoos und in der nachfolgenden Debatte »a perfect subject for study for researchers in the field of anthrozoology, the study of human-animal relationships«.1 1 | M. Bekoff: Two Healthy Lions, and Their Cubs, »Zoothanized« … Why?, livescience. com, 27.03.2014, www.livescience.com/44416-zoo-euthanizes-healthy-lions.html (letzter Zugriff 29.07.2015).
Die Geschehnisse im Kopenhagener Zoo und die von ihnen ausgelöste Debatte werfen eine Vielzahl möglicher Fragen zu unserem Verhältnis zu Tieren im Allgemeinen und Zootieren im Besonderen auf: Unterliegt dieses Verhältnis einem Gleichheitsgrundsatz, der für alle Tiere gleichermaßen gilt, oder gibt es eine spezifische Hierarchisierung innerhalb derer einige Tiere anders betrachtet und behandelt werden? Wodurch unterscheiden sich innerhalb der Debatte die Perspektiven der zoologischen Vertreter und der medialen Öffentlichkeit auf die Giraffe? Wie ist eine Mensch-Tier-Beziehung zu verstehen, in der Menschen, die Marius nie »persönlich« begegnet sind, in Trauer und Wut über seinen Tod verfielen? Welche Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, dass die Giraffe einen (inoffiziellen) Namen trug und ein zweijähriges Jungtier war? Was können wir aus der medialen Aufnahme des Ereignisses über den gesellschaftlichen Umgang mit Artenschutz und Tierschutz aussagen? Und weiter: Um welche Art von Tier handelt es sich bei Marius? Ist er ein reales Tier oder ein Repräsentant für eine ›echte‹ oder ›vermeintliche‹ Natur? Bildet der Zoo Natur ab oder zeigt er in seiner Artifizialität das Gegenteil von Natur? Die Ereignisse um Marius’ Tötung und Sektion bieten sich als Ausgangspunkt für eine gemeinsame, multi- und interdisziplinäre Betrachtung von Tier-Mensch-Verhältnissen an. In der Debatte um Marius manifestiert sich diese Beziehung des Menschen zum Tier als Repräsentationsverhältnis und schlägt sich im sogenannten »Marius-Effect«2 nieder: In einer polarisierten Debatte vereinnahmen die Konfliktparteien aus unterschiedlicher Motivation die tierliche Perspektive. Dabei entsteht die offensichtliche Schwierigkeit, dass sie beanspruchen von und für Marius zu sprechen, während sie gleichzeitig das menschlich-tierliche Repräsentationsverhältnis nicht verlassen können. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die sich im Kontext der Human-Animal-Studies und der Tierstudien bewegt, stellt sich die Frage, ob und wie man sich dem Tier als Forschungsgegenstand wenigstens annähern kann. Vor diesem Hintergrund werden in der Zusammenschau der hier versammelten Beiträge von Philosophie, Naturwissenschaft und Kunstwissenschaft die Tier-Mensch-Verhältnisse rund um Marius nachgezeichnet und das Selbstverständnis der für Marius sprechenden Menschen untersucht. Der »Marius-Effect« bildet den Dreh- und Angelpunkt der einzelnen Beiträge der Sektion, die methodisch ihren Disziplinen verpflichtet bleiben. Dieser liefert die Grundlage, auf der die Selbstverständnisse und Fremdzuschreibungen innerhalb der Debatte als Diskursstrategien sichtbar werden, die darum bemüht sind, die je eigene Repräsentation des Tieres als die tierliche oder zumindest ethisch vertretbare zu behaupten. Ungeachtet der disziplinär verschiedenen Schwerpunktsetzungen erfordert die Untersuchung der TierMensch-Verhältnisse und der für Marius Sprechenden demnach von den ein2 | Ebd.
zelnen Beiträgen dieser Sektion gleichermaßen, dass sie die teilweise unscharfen Perspektiven der Debatte differenzieren und diese gleichzeitig konstruktiv fokussieren. Daran schließen sich in den einzelnen Beiträgen Analysen an, die in ihren disziplinär unterschiedlichen methodischen Zugängen (biologisch, kunstwissenschaftlich, philosophisch) die Debattenbeiträge rund um Marius für die Untersuchung der Rollen der beteiligten Akteur_innen sowie die Auswirkungen auf das Tier-Mensch-Verhältnis fruchtbar machen. Sie befragen die züchterischen, juristischen und ethischen Positionen des Diskurses in Bezug auf den Tier- und Artenschutz, untersuchen die Diskurstrategie der zoologischen Fachvertreter sowie deren fachlich-methodologisches Selbstverständnis begriffsgeschichtlich oder bedienen sich performance-analytischer Kategorien wie Zeitlichkeit und Räumlichkeit, Medialität und Körperlichkeit, um den Diskurs neu zu kontextualisieren. Der Beitrag von Birgit Benzing kommt zum Ergebnis, dass eine disziplinäre Verhandlung ein tieferes Verständnis für die Perspektiven der Kontrahenten ermöglichen kann, aber letztlich keine Lösung für die Debatte über den Umgang mit Tieren bringt; der bestehende Konflikt verweist vielmehr auf die fortlaufende Notwendigkeit, die Debatte zu führen und Positionen neu auszuhandeln. Christopher Hilbert verortet die Vorgänge im Zoo als idealtypischen Versuch einer Naturalisierung, welche die Tierforschung in Form der Anthropomorphismuskritik seit ihren Anfängen begleitet. Stephanie Milling schließlich sieht in der performativen Wirkung des »Marius-Effects« die Verstärkung eines anthropozentrisch geprägten Tier-Mensch-Verhältnisses. In allen drei Beiträgen wird zudem deutlich, wie eng die Berührungspunkte der Disziplinen sind. So fragt Stephanie Milling, wann eine Inszenierung zur Intervention aufruft und wie sich der Zoo bewusst und unbewusst durch die Art und Weise der Präsentation positioniert. Birgit Benzing betont die Notwendigkeit, ethisch relevante Entscheidungen transparent zu gestalten, auch wenn dafür viel Fachwissen vermittelt werden muss. Christopher Hilbert zeigt die metaphysischen Vorannahmen im methodischen Vorgehen der naturwissenschaftlichen Tierforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert auf. Die disziplinär geprägten Blicke formen zudem ihren Untersuchungsgegenstand: Marius ist nicht gleich Marius. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wird Marius zum Vertreter einer Spezies, der wesentlich durch seine Biologie und seine Funktion für das Zuchtziel definiert ist. Die Philosophie betreibt dagegen eine Art Metaforschung zum epistemischen Anspruch der Naturwissenschaften; Gegenstand ihrer Forschung ist daher ein Metatier: Marius, wie er durch die Augen der Naturwissenschaftler_innen erkennbar wird. Schließlich zeigt sich Marius aus kunstwissenschaftlicher Perspektive als Tier mit Symbolgehalt, das immer schon kulturell überformt ist und beim Publikum in seiner Eigenschaft als Zoobewohner Exotik, als Jungtier Empathie evoziert.
In der Zusammenschau aller drei Beiträge wird die Komplexität deutlich, welche die Vorgänge um Marius’ Tötung im Speziellen, aber auch TierMensch-Relationen im Allgemeinen kennzeichnen. Einer umfassenden Darstellung des Geschehens und der angemessenen Abwägung widerstreitender Ziele kann die Perspektivenvielfalt eines interdisziplinären Ansatzes daher nur zuträglich sein. Birgit Benzing, Christopher Hilbert, Stephanie Milling
Konflikte über Zootiere Die Giraffe Marius zwischen moralischer Empörung und Artenschutz Birgit Benzing
So lange zoologische Gärten1 existieren, schwelt die Debatte über ihre Legitimation und über den Umgang mit Zootieren. Alle paar Jahre, oftmals entfacht durch Ereignisse, deren Bedeutung später nicht immer nachvollziehbar ist, wird die Debatte virulent und erfasst größere gesellschaftliche Kreise und Medien. Im Jahr 2014 war es die Tötung einer Giraffe im Kopenhagener Zoo, die ein internationales Medienecho und nachfolgend eine beginnende wissenschaftliche Aufarbeitung hervorrief.2 Der junge Giraffenbulle namens Marius war hinter den Kulissen getötet, anschließend vor angemeldetem Zoopublikum zerlegt und an fleischfressende Zootiere verfüttert worden. Dass die Zerlegung als halböffentliche naturkundliche Lehrstunde genutzt wurde, zeigt, dass zoologische Gärten gewisse Einblicke in ihre Betriebsabläufe gewähren. Zugleich gab es Irritationen in der Zoowelt über die heftigen Reaktionen, die zwar nicht alltägliche, aber auch nicht außergewöhnliche Vorgänge wie Tötungen im Zoo auslösen. Zoomitarbeitende sehen sich damit konfrontiert, dass Entscheidungen, die früher fach- und institutionsintern getroffen wurden, seit einigen Jahren Gegenstand öffentlicher Debatten sind: »Where once such activities as feeding live prey or shipping a gorilla to another zoo fell largely within the purview of the profession, the reality of today is that the entire spectrum of zoo and aquarium activities is repeatedly held up to public scrutiny and judgment«. 3 1 | Die Begriffe zoologischer Garten und Zoo werden in diesem Beitrag synonym verwendet. 2 | Z.B. G. Hildebrandt et al.: Fortpflanzungsmanagement; J. Brückner/T. Schmidt: Grenzen; P. Sandøe: Killing for Conservation. 3 | D.G. Lindburg: Zoos, S. 433.
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In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, dass sich Ereignisse wie eine Tiertötung im Zoo als Forschungsgegenstand interdisziplinärer Studien zur MenschTier-Beziehung anbieten und aufdrängen, und zwar nicht nur als abstrakte Verhandlung, sondern auch in Form realer Fallbeispiele. Ich werde nicht dafür argumentieren, dass sich eine gesellschaftliche Institution, als die ich zoologische Gärten verstehe, berechtigterweise einer gesellschaftlichen Debatte aussetzen muss – ich setze das voraus. Als Aufgabe der Mensch-Tier-Studien sehe ich es, in einem ersten Schritt Perspektiven und Zugänge zum Forschungsgegenstand zu versammeln und zu analysieren, als Voraussetzung, um in ein echtes Gespräch einzutreten. Ob darauf auf bauend eine Synthese möglich ist oder ob wir den Konflikt zwischen widerstreitenden Perspektiven aushalten müssen, ist anschließend zu ergründen. Ausgehend von der Debatte um die Giraffe Marius werde ich einige Perspektiven zusammentragen, die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit ihren jeweiligen Methoden abbilden: Marius war ein Vertreter einer Giraffenspezies; er lebte im Zoo und war Teil eines Zuchtprogramms; was kann uns der tiergartenbiologische bzw. züchterische Zugang vermitteln? Er war ein Lebewesen, dessen potenzielle Interessen und Rechte zu klären und in Bezug zu anderen Zielen zu setzen sind; welchen Beitrag kann also ein philosophischer Zugang leisten? Er wäre in Deutschland möglicherweise ein Gerichtsfall geworden; welches Verständnis ermöglicht der juristische Zugang?
D ie tiergartenbiologische L egitimation Die Aufgaben moderner zoologischer Gärten Wer sich heute mit der Legitimation von zoologischen Gärten und Handlungen ihrer Vertreter_innen befasst, trifft rasch auf das »Vier-Säulen-Konzept«, das auf Heini Hediger zurückgeht. Er formulierte die Aufgaben moderner zoologischer Gärten als Forschung, Bildung, Naturschutz 4 und Erholung.5 Über die Rangfolge der vier Aufgaben herrscht bis heute keine Einigkeit – weder in der Debatte zwischen Zoos und Tierschützer_innen noch in der Zoogemeinschaft selbst. Gleichwohl gibt es, insbesondere in den Strategie- und Positionspapieren der Zoodachverbände, eine Hervorhebung des Natur- und Artenschutzes. In den Vorfällen, die medienwirksam und gesellschaftlich diskutiert werden, 4 | Sowohl aus fachlicher als auch konzeptioneller Sicht wird Artenschutz meist unter Naturschutz subsumiert, jedoch können beide Ansätze auch separat aufgefasst werden. Zu den Teilgebieten von Naturschutz siehe G.M. Teutsch: Mensch und Tier, S. 150, zu konzeptionellen Fragen die Literaturangaben im Abschnitt Ethische Konflikte. 5 | H. Hediger: Wildtiere.
Konflikte über Zootiere
ist es ebenfalls der Artenschutz, der zur Legitimation kritisch beachteter Entscheidungen herangezogen wird – so auch im Fall der Giraffe Marius im Kopenhagener Zoo.
Historischer Abriss: Wie die Zoos zum Artenschutz kamen Mehrere internationale Konferenzen und Abkommen bildeten den Hintergrund für die Selbstpositionierung der Zoos als Artenschutzakteure. Immensen Einfluss hatte das 1973 unterzeichnete Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen (CITES). Dieses auch Washingtoner Artenschutzübereinkommen (WA) genannte Dokument regelt den Handel mit gefährdeten Tieren und Pflanzen sowie den aus ihnen produzierten Erzeugnissen. Ein derartiges Abkommen hatte die Internationale Union von Direktoren Zoologischer Gärten (IUDZG, Vorläufer des heutigen Weltzooverbands) bereits im Jahr 1964 gemeinsam mit der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) gefordert.6 Dadurch waren für Zoos die »Wildentnahmen«, wie das Einfangen von Wildtieren zoologisch genannt wird, eingeschränkt. Betroffene Zootierpopulationen mussten von nun an weitgehend selbsterhaltend sein; hierzu wurden verstärkt Zuchtprogramme ins Leben gerufen. Als Reaktion auf die zunehmende Umweltzerstörung, auf den Habitatverlust und auf den Rückgang von Tier- und Pflanzenspezies verabschiedeten die IUCN und ihre Partner_innen im Jahr 1980 die Weltnaturschutzstrategie. Sie gibt spezifische Empfehlungen für Artenschutzmaßnahmen außerhalb des natürlichen Lebensraums. Zoologische Gärten sahen die Möglichkeit, einen bedeutenden Beitrag im internationalen Naturschutz zu leisten, indem sie beim Bau einer »Zeitbrücke« mitwirken, bis die Natur sich erholt habe.7 Zudem wurde im Jahr 1987 erstmalig ein offizielles Positionspapier der IUCN veröffentlicht, in dem die Erhaltungszucht der Zoos als Erfolg versprechende Maßnahme bei der Rettung bedrohter Arten gewürdigt wurde. Auf dem sogenannten Weltgipfel (UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro, 1992) wurde die Agenda 21 als Meilenstein der Integration von Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz erarbeitet. Es entstand das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als internationales Leitbild, welches auch die gemeinsame Nutzung von Produkten aus wilden und domestizierten Arten vorsieht. Die Natur, und damit auch Tiere, werden als Ressource behandelt. Die frühen 1990er Jahre galten als eine »Zeit des Auf bruchs«. Diese Entwicklung mündete in die Welt-Zoo- und Aquarium-Naturschutz-Strategie, die 6 | G. Nogge: Umgang, S. 452. 7 | P. Wesuls/G. Nogge: Zusammenfassung, S. 8.
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im Jahr 1993 verabschiedet und in den Jahren 2005 und 2015 aktualisiert wurde. Im Mittelpunkt der zweiten Ausgabe steht die Forderung, Naturschutz zu einem durchgängigen Prinzip im Zoo zu machen. Alle Arbeitsbereiche sollen mit Naturschutz in Verbindung gebracht werden, von der Auswahl der Baumaterialien bis hin zu den Souvenirs, von den Forschungsthemen bis zur Spendensammlung für Schutzprojekte. In der neuesten Ausgabe wird dem Schutz wildlebender Populationen höchste Priorität eingeräumt.8 Meist werden in Zooschriften folgende Bereiche unter Artenschutz subsumiert: 1. Schutzmaßnahmen für bedrohte Tierarten im natürlichen Lebensraum und in menschlicher Obhut; 2. Umweltbildung, Bewusstseinsbildung, Kampagnen, Lobbying; 3. Sammlung und Bereitstellung von finanziellen Mitteln (Fundraising); 4. Forschung zu relevanten Aspekten. Davon sind m.E. die unter 2. bis 4. gelisteten Aktivitäten lediglich begleitende Aktivitäten, die dem Artenschutz zuträglich sind, aber nicht sinnvollerweise selbst als Artenschutzmaßnahmen verstanden werden können. Da für die Debatte um die Giraffe Marius das Zuchtprogramm zentral ist, beschränke ich mich im Weiteren auf diesen Bereich.9
Erhaltungszuchtprogramme Erhaltungszuchtprogramme sind langfristig angelegte, auf genealogischen Informationen und populationsgenetischen Berechnungen beruhende Strategien, um den Bestand einer Tierart oder -unterart in Menschenobhut mittelfristig zu sichern. Sie umfassen in der Regel große geografische Regionen, d.h. es gibt europäische, amerikanische und australische Zuchtprogramme. Um möglichst viele Tierarten zu erhalten, versuchen sich die Zoodachverbände darüber abzusprechen, auf welchem Kontinent welche Tierarten gezüchtet werden. Gibt es für eine Tierart mehrere Programme, werden – selten (wegen des Transports und des rechtlichen Aufwands) – Tiere zwischen den Zuchtprogrammen ausgetauscht. Derzeit gibt es ca. 200 Europäische Erhaltungszuchtprogramme (European Endangered Species Programme, EEP) und knapp 200 8 | R. Barongi et al.: Conservation Strategy, S. 12. 9 | Neue Artenschutzkonzepte in der Tiergartenbiologie verstehen Zuchtprogramme als einen Bestandteil einer holistischen Herangehensweise, namentlich das Konzept der Metapopulation (R.C. Lacy: Sustainability) und der »One Plan Approach«, der wildlebende Populationen einer Spezies und Populationen in Menschenobhut integrativ betrachtet (R. Barongi et al.: Conservation Strategy).
Konflikte über Zootiere
Europäische Zuchtbücher (European StudBooks, ESB)10; letztere sind weniger intensiv gemanagt als Erstere.
Ziele der Zuchtprogramme Nach der Unterzeichnung des Washingtoner Artenschutzabkommens dauerte es einige Jahre, bis 1985 das erste offizielle Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP) ins Leben gerufen wurde. Andere Zuchtprogramme gab es, in geringem Umfang, bereits ab Ende des 19. Jahrhunderts. Das ursprüngliche Ziel der Erhaltungszuchten war es, die Zoopopulationen von Wildentnahmen möglichst unabhängig zu machen11, d.h. so viele Nachkommen zu züchten, dass sich die Zoopopulation erhält. Aufgrund des Rückgangs von Wildtierpopulationen und der fortdauernden Lebensraumzerstörung wurde alsbald ein weiteres Ziel hinzugefügt, namentlich die Bereitstellung einer »Reservepopulation« oder »Sicherheitspopulation« für den Fall, dass die Wildpopulation erlischt. Für den Fall der Wiederauswilderung ist es essentiell, dass die Zoopopulation möglichst viele Merkmale der Wildpopulation behält. Dies bedeutet züchterisch, dass mind. 90 Prozent der genetischen Vielfalt einer Art über einen Zeitraum von 200 Jahren erhalten werden sollen.12 Es kann nun berechnet werden, wie viele Individuen bei gegebenem Verwandtschaftsgrad in Abhängigkeit von zu erwartender Lebensdauer und Generationszeit nötig sind. Erhaltungszuchtprogramme unterliegen einigen Regeln, die ich folgend skizziere.
Regeln eines Erhaltungszuchtprogramms Tiere eines Erhaltungszuchtprogramms gehören aus moralischer Sicht nicht dem Zoo, der das Tier hält, sondern der Zoogemeinschaft. Juristisch gehören sie dem Zoo, nicht zuletzt da gegenüber den Behörden und für Transportdokumente ein_e Ansprechpartner_in und Verantwortliche_r benötigt wird. An Erhaltungszuchtprogrammen dürfen in der Regel nur Zoos teilnehmen, die Mitglied im Dachverband sind. Dadurch soll u.a. die Qualität der Tierhaltung gesichert werden. Der/die Zuchtbuchkoordinator_in gibt Empfehlungen, welches Tier in welchem Zoo gehalten und mit wem es verpaart werden soll. Dazu verwendet
10 | Siehe Website der EAZA. 11 | U. Schürer: Naturschutz, S. 394; L. Dittrich: Zoologische Gärten, S. 21. 12 | M. Soulé et al.: The Millenium Ark – gilt als »landmark paper« zu diesem Thema; C. Tudge: Zuflucht, S. 84; G. Hosey et al.: Zoo Animals, S. 355ff.
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er eine komplexe Software, die aus der Abstammung eines Tieres Verwandtschaftsverhältnisse zwischen potenziellen Paarungspartner_innen berechnet. Die Informationen zur Abstammung eines Individuums wurden aus alten Unterlagen der Zoos entnommen. Da diese mitunter falsch oder unvollständig sein können, wurden Methoden entwickelt, die Verwandtschaftsverhältnisse zusätzlich genetisch zu untersuchen. Da der Platz im Zoo begrenzt ist, sollen vorzugsweise Tiere gehalten werden, die für den Arterhalt wichtig sind. Dieser Punkt ist bei langlebigen Tieren wie Giraffen oder Tigern besonders relevant. Zoos, die sich nicht an diese Regeln halten, können aus dem Zuchtprogramm und/oder dem Dachverband ausgeschlossen werden und erhalten künftig keine Tiere mehr. Da auch Wildentnahmen oftmals nicht mehr möglich sind, können diese Zoos nur noch mit anderen verbandsfreien Zoos oder Tierhändler_innen arbeiten. Derlei Ausschlüsse sind selten, kommen jedoch vor. Als Fazit ist festzuhalten, dass jeder einzelne Zoo für die von ihm gehaltenen Tiere verantwortlich ist und zugleich über den Verbleib einzelner Tiere nicht gänzlich nach eigenem Gutdünken entscheiden kann.
Kritik an Zuchtprogrammen Gegen die Erhaltungszucht als eine Form des Artenschutzes werden meist zwei Argumentationsstränge angeführt. Erstens wird bezweifelt, dass Zoos in dieser Hinsicht erfolgreich sind. Zweitens werden einige der Folgen von Zuchtprogrammen als inakzeptabel oder zumindest problematisch erachtet. Tatsächlich gibt es einige bekannte Beispiele für Tierarten, die nur durch das Zuchtengagement der Zoos überdauert haben, wie der Davidhirsch, das Wisent und das Przewalski-Pferd.13 Allerdings handelt es sich bislang um weniger als 50 Tierarten bzw. 70 Arten und Unterarten, die mithilfe des Zuchtprogramms überlebt haben, und weniger als die Hälfte von ihnen ist erfolgreich ausgewildert worden.14 Zudem ist die Anzahl der bedrohten Tierarten zu groß und die technische und finanzielle Umsetzung der Zuchtprogramme zu aufwendig, als dass zoologische Gärten einen wesentlichen quantitativen Beitrag gegen das Artensterben leisten können.15 Im Zusammenhang mit dem »Fall Marius« wurde vorwiegend der zweite Argumentationsstrang, namentlich die Frage der sogenannten »überzähligen Tiere« diskutiert. Darunter versteht man Tiere, die aus verschiedenen Gründen nicht oder nicht mehr für die Zucht benötigt und daher getötet werden. 13 | U. Schürer: Naturschutz, S. 393. 14 | C. Tudge: Zuflucht, S. 7; J. Brückner/T. Schmidt: Grenzen, S. 50f. 15 | M. Hutchins et al.: Planning, S. 10.
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Punktgenau züchten oder Überschuss produzieren? Die Begründung für die Tötung von Marius, dass er einer Blutlinie entstamme, die bereits ausreichend vertreten sei, sodass er für die Zucht keinen Wert habe, stieß auf viel Unverständnis. Dies habe man doch voraussehen können. Warum wird in einem gemanagten Programm nicht genau so gezüchtet, dass jedes Jungtier aufwachsen und in eine Herde übernommen werden kann? Hier kommen biologisch-züchterische Einschränkungen zum Tragen: a) Tiere können vorzeitig (vor der Fortpflanzung) sterben, sei es durch Erkrankungen oder durch Unfälle. b) Gendefekte, Verhaltensdefekte oder Erkrankungen können dazu führen, dass ein Tier nicht zuchttauglich ist. c) Bei den meisten Tierarten, zumindest bei Säugetieren, ist es nicht möglich, das Geschlecht der Jungtiere zu planen. Insbesondere bei Spezies, die in Sozialgruppen mit ungleichen Geschlechterverhältnissen leben, ist das relevant. d) Zuchteinschränkungen funktionieren oft nicht. In diversen Spezies hat sich gezeigt, dass Hormongabe als Empfängnisverhütung zu Unfruchtbarkeit oder Krebs führen können. Zudem kann es in Herden ohne Fortpflanzung zu dauerhafter Unfruchtbarkeit und Störungen der Gruppenharmonie kommen. e) Fortpflanzung ist Teil der verhaltensgerechten Haltung und dient dem Wohlbefinden der Tiere. Letzteres ist kein züchterisches, sondern tierschutzbezogenes Argument, das aus Sicht der Zootierhaltung gewichtig ist.16 Als Vorbild für den Umgang mit Zuchtfragen sollen natürliche Prozesse dienen: »Das Management der Fortpflanzung im Zoo soll sich an der Natur orientieren. In der Natur vermehren sich die Tiere grundsätzlich im Überschuss, wobei nicht jedes Individuum zur Fortpflanzung gelangt. Verschiedene Faktoren, wie Emigration und Immigration, Krankheit, Beutegreifer, Konkurrenz, Futterknappheit oder Klimaeinflüsse, regulieren die Bestandsgröße. Dieser regulative Vorgang muss in verantwortungsvoller und tierschutzkonformer Weise auch im Zoo umgesetzt werden.«17
Aus züchterischer Perspektive erscheint es somit notwendig, »Überschuss« zu produzieren, um alle Genlinien (Blutlinien) zu erhalten und Ausfälle von für die Zucht wichtigen Individuen auszugleichen bzw. vorzubeugen. Daraus ergibt sich eine weitere Schwierigkeit: Wie soll mit den als »überzählige Tiere« deklarierten Individuen umgegangen werden?
16 | Z.B. M. Stauffacher: Thesen; Hildebrandt: Kinderlosigkeit; E. Isenbügel: Fort- pflanzung. 17 | Rigi-Symposium: Konsensdokument: S. 21, Punkt 2.
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Was tun mit überzähligen Tieren? Der europäische und der Weltzooverband befürworten eine verantwortungsvolle Euthanasie beim Populationsmanagement; der amerikanische Verband hingegen bleibt in dieser Frage reserviert. Auf einem Fachsymposium der zoologischen Gärten im Alpenraum im Jahr 2003 verfassten die teilnehmenden Zoovertreter_innen das bereits zitierte Konsensdokument, demzufolge die Tötung überzähliger Tiere als letztes Mittel der Wahl legitim sei: »Zoos sind verpflichtet, die Grösse der Zoopopulationen bzw. der Bestände verantwortungsvoll zu steuern. Dies schliesst folgende Möglichkeiten ein: a) Abgabe (ausschliesslich an artgemässe Tierhaltungen, bevorzugt an wissenschaftlich geleitete Zoos), […] c) Auswilderung […], d) temporäre Verhinderung der Reproduktion. Wenn keine dieser Massnahmen realisiert werden kann, ohne dabei Leiden für das Tier zu verursachen oder das Gruppenverhalten zu beeinträchtigen, sind einzelne Tiere angst- und schmerzlos zu töten. Solche, im Folgenden als ›überzählig‹ bezeichnete Tiere sind, wenn immer möglich, in den zoointernen Nahrungskreislauf einzubringen.«18
Wenn also töten, dann auch verfüttern, lautet das Konsensdokument, zumal die verfütterten Tiere meist ein tiergerechteres Leben hatten als Schlachtvieh, das alternativ bezogen werden müsste. Worüber sich das Konsensdokument nicht auslässt, ist die Frage, wie publikumsoffen das Töten und Verfüttern erfolgen möge.
D er normative R ahmen Die Zuchtpraxis der zoologischen Gärten unterliegt nicht nur biologisch-züchterischen Rahmenbedingungen. Als gesellschaftliche Institution sind Zoos sozialen Normen unterworfen, die sich aus verschiedenen Quellen zusammensetzen, wechselseitig beeinflussen und immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Bei den sozialen Normen, die ich in Bezug auf das Thema dieses Beitrags in Betracht ziehe, handelt es sich um ethische und juristische Normen. Juristische Normen reflektieren ethische Normen, sodass ich die Behandlung letzterer voranstelle. Zudem lassen einige Gesetze einen gewissen Ermessenspielraum offen, in dem eine Güterabwägung und eine ethische Reflexion vorgenommen werden, um im Einzelfall zu einer Entscheidung zu gelangen. 18 | Ebd., Punkt 3.
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Ethische Konflikte Eine mögliche Herangehensweise, die Debatte um Marius nachzuzeichnen, könnte darin bestehen, die zugrundeliegenden ethischen Wertedissense zwischen Artenschutzethik, Tierschutz und Tierschutzethik zu analysieren und explizieren. Dazu könnten zunächst die vielfältigen Begründungsansätze dargestellt werden, die mittlerweile ausgearbeitet sind, und von denen jeder seine Stärken und Schwächen aufweist.19 Die Artenschutzethik befasst sich beispielsweise mit der Frage, ob Arten um ihrer selbst willen zu schützen seien oder wegen ihrer Bedeutung für Menschen; ob die Vielfalt an Arten einen Wert an sich darstellt; welchen ontologischen Status Arten20 haben und ob sie dementsprechend Gegenstand moralischer Pflichten sein können.21 Analog existiert für den Tierschutz und die Tierethik ein Bündel an Ansätzen, das sich beispielsweise auf die Leidensfähigkeit von Individuen, auf ihre Interessen bzw. Präferenzen oder auf Tierrechte beruft und grob in Tierschutz- (im engeren Sinn), Tierrechts- und Tierbefreiungspositionen differenziert werden kann.22 Sodann könnte versucht werden, zwischen den konfligierenden Werten im Arten- und Tierschutz abzuwägen oder eine pluralistische Konzeption auszuarbeiten, die kontextbezogen verschiedene Werte anerkennt.23 Meines Erachtens kann solch eine Herangehensweise zwar einen Beitrag leisten, um das jeweilige Problem besser zu verstehen bzw. den jeweiligen Dissens konkreter lokalisieren zu können; möglicherweise lassen sich sogar einige Konflik19 | So hat Angelika Krebs eine »Landkarte« der wesentlichen Naturschutzargumente gezeichnet, die sich zwischen anthropozentrischen, physiozentrischen und biozentrischen Positionen für den Naturschutz aufspannt (A. Krebs: Ethics of Nature). Das Verdienst, eine holistische Theorie im Hinblick spezifisch auf Artenschutz umfassend ausgearbeitet zu haben, kommt Martin Gorke: Artensterben zu. Bryan G. Norton hat sich in mehreren Werken mit ethischen Begründungen für Artenschutz befasst, darunter auch im Zusammenhang mit der Rolle von zoologischen Gärten (B.G. Norton: Preserve Natural Variety; Ders.: Preservation of Species; B.G. Norton et al.: Ethics of the Ark). 20 | Z.B. E.C. Hargrove: Role of Zoos, S. 15; H. Rolston: Duties. 21 | Vgl. L. Siep/J.S. Ach: Artenschutz. 22 | Für einen Überblick siehe u.a. U. Wolf: Texte zur Tierethik, F. Schmitz: Tierethik: Grundlagentexte. Eine vereinfachende Gegenüberstellung von Tierschutz- und Artenschutzethik kann dazu verführen, Tierschutz mit zoofeindlichen Positionen zu verknüpfen und dem individuellen Leben die höchste Priorität einzuräumen. Es lassen sich jedoch durchaus Tierschutzpositionen denken, denen zufolge die Tötung von Marius statthaft war. Beispielsweise kennt der utilitaristische Sentientismus das Ersetzbarkeitsargument, demzufolge eine andere Giraffe an Marius Stelle hätte treten können. 23 | Z.B. B.G. Norton: Caring.
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te entschärfen. Ich denke jedoch nicht, dass sich die Auseinandersetzungen damit aus der Welt schaffen lassen. Denn Konflikte entstehen insbesondere, wenn die konfligierenden Werte beiderseits legitim sind – und in diesen Fällen stößt der Habermassche zwanglose Zwang des besseren Arguments an seine Grenzen.
Die juristische Auslegung Arten- und Tierschutz sind gesetzlich verankert. Gesetze und Verordnungen reflektieren ethische Normen und setzen ihrerseits einen normativen Handlungsrahmen. Sie lassen dabei einen Ermessensspielraum, in dem eine fallbezogene Güterabwägung erfolgt. Das Artenschutzrecht ist ein Bestandteil des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts. Es ist im 5. Abschnitt des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) sowie in der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) geregelt. Dabei kommt es zu Überschneidungen mit anderen Gesetzen; bei Widersprüchen gilt der Grundsatz der Spezialität: Die im Einzelfall speziellere Norm geht der allgemeineren vor.24 Mit dem Artenschutzrecht erfüllt die Bundesrepublik Deutschland zugleich internationale Verpflichtungen.25 Das Tierschutzgesetz (TierSchG) bezeichnet Tiere als Mitgeschöpfe und gewährt ihnen Anspruch auf Schutz, auf möglichst weitgehende Schmerzfreiheit, Leidensfreiheit und körperliche Unversehrtheit. Die Nutzung und Tötung von Tieren ist jedoch nicht ausgeschlossen; sie hat nach §§ 4 und 4a TierSchG bei Wirbeltieren durch Personen mit den notwendigen Kenntnissen und Fähigkeiten unter Vermeidung von Schmerzen zu erfolgen. § 17 TierSchG lautet: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder 2. einem Wirbeltier a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.«
Für die juristische Bewertung ist der vernünftige Grund wesentlich. So gilt beispielsweise für den Fall, dass ein Zoo geschlossen wird, die Euthanasie nur dann als vernünftiger Grund, wenn die Tiere nicht in tiergerechte Haltungen vermittelt werden können.26
24 | A. v. Mutius: Artenschutz, S. 220. 25 | CITES, Bonner Konvention, Berner Konvention, Ramsar-Konvention u.a. 26 | BNatSchG § 42 Abs. 8.
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Obwohl seit Jahren in den Zuchtprogrammen überzählige Tiere entstehen und somit de facto eine Praxis vorhanden ist, wird aufgrund einiger weniger »Präzedenzfälle«, die auch breitflächig medial verhandelt wurden, der Ruf der Zoogemeinschaft nach rechtlicher, einheitlicher Legitimation lauter. In Deutschland handelt es sich v.a. um den Fall des Magdeburger Mischlingstigers »Taskan« (2008) sowie um die »Leipziger Bärenmorde« (1998, 2006). Nach Beginn der Trächtigkeit von Tigerkatze »Colina« wurde festgestellt, dass ein Vorfahre des Katers »Taskan« ein Mischling aus Sibirischem Tiger und Sumatra-Tiger war. Statt einem Trächtigkeitsabbruch wurde entschieden, die drei Jungtiere direkt nach der Geburt zu töten. Die Zooleitung wurde gerichtlich verurteilt. Die Leipziger Zooleitung ließ 1998 zwei Braunbären einschläfern, da sie sich unter beengten Haltungsbedingungen gegeneinander aggressiv zeigten, Verletzungen zufügten und nicht an andere Zoos zu vermitteln waren.27 Acht Jahre später entschied sich die Zooleitung gegen die Handaufzucht zweier neugeborener Lippenbären. Ein Jungtier starb an Unterkühlung, das zweite wurde eingeschläfert.28 Zoologische Gärten sehen bei der Frage der Tiertötung einen ungleichen und ungerechtfertigten Bewertungsmaßstab angewandt: Millionen Nutztiere werden getötet, Millionen Labortiere werden »verbraucht«, Millionen Haustiere euthanasiert sowie unzählige Wildtiere täglich vom Menschen gejagt und von Beutegreifern geschlagen und gefressen. Die Anzahl überzähliger Zootiere sei dagegen vergleichsweise gering.29 Für die juristische Bewertung ist der Kontext, in dem die Tötung erfolgt, jedoch relevant und lässt sich nicht mit Beispielen oder Zahlen aus anderen Kontexten verrechnen. Vielmehr kommt das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Anwendung: Sind die eingesetzten Mittel geeignet (dient die Maßnahme der Erreichung des Zwecks), erforderlich (steht kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung) und angemessen (Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme)? Im Fall der Leipziger Bärentötungen wurde kein Strafverfahren eingeleitet, da das angerufene Gericht die Maßnahme als verhältnismäßig ansah und keine Verletzung des vernünftigen Grunds feststellte. Dagegen kam es zu einer Verurteilung der Magdeburger Zooleitung. Der Grund dafür war, dass das Gericht die Verhältnismäßigkeit als nicht gegeben beurteilte, denn die Zooleitung hatte keinen
27 | M. Orgeldinger: Wildes Fressen. 28 | bi: Bärenbaby. 29 | Nach Schätzung der Direktorin des Europäischen Zoodachverbands handelt es sich um jährlich 3.000-5.000 Tiere in europäischen Zoos, die aus Managementgründen getötet werden (H. Barnes: Healthy Animals).
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Versuch unternommen, die Jungtiere zu gegebener Zeit an andere akzeptable Haltungen zu vermitteln30: »Der Artenschutz und die biologische Vielfalt erfordern keine Euthanasie. Es wird schlimmstenfalls notwendig, zuchtungeeignete Tiere zu gegebener Zeit fortpflanzungsunfähig zu machen und sie nicht in ein Erhaltungszuchtprogramm aufzunehmen«. 31
Zoonahe Fürsprecher_innen interpretieren das Urteil im Fall »Taskan« als Vorrangstellung des Tierschutzes (Schicksal des Einzeltiers) gegenüber dem Artenschutz32, während tierschutznahe Autor_innen »den verfassungsrechtlich gebotenen Artenschutz gleichrangig dem Schutz des individuellen Tieres« entgegengestellt verstehen.33
D er Z oo als hybrider R aum Angesichts der hochemotionalen Debatte um den Tod der Giraffe Marius wurde mehrfach die Rückkehr zu »sachlicher« und »vernünftiger« Argumentation gefordert. Dies kann auf zweierlei Weise gedeutet werden. Zum einen kann die Konkurrenz zwischen wissenschaftlichen »Fakten« bzw. Sachzwängen und ethischen Werten gemeint sein; zum anderen die Forderung, die Debatte auf philosophisch-reflektierender Ebene zu führen. Es sollte offensichtlich geworden sein, dass weder eine rein tiergartenbiologische noch eine rein ethische Debatte die Konflikte um überzählige Tiere lösen kann. Da juristische Urteile 30 | Die Zooleitung entschied, dass Mischlingstiger nicht zu vermitteln seien – zumal der nicht reinblütige Vorfahre des Katers »Taskan« mehrere Tigergenerationen zurücklag und zeitgleich mit »Taskan« knapp 40 mischblütige Nachkommen aus dem Zuchtprogramm genommen worden waren. Der biologische Hintergrund für die Ablehnung von Hybriden ist, dass sich Arten, Unterarten und geografische Varietäten in den Anpassungen an die lokalen Bedingungen wie Temperatur, Beutespektrum usw. unterscheiden und sich dies auf das Überleben der Individuen wie der Art auswirkt (C. Tudge: Zuflucht, S. 152). Dass dies nicht nur ein theoretisches Problem ist, zeigt der Fall der Steinböcke in der Hohen Tatra der Slowakei. Dort war die heimische Unterart ausgerottet. Drei andere Unterarten, Alpensteinböcke aus Österreich, Bezoarziegen aus der Türkei und Nubische Steinböcke aus dem Sinai, wurden angesiedelt. Die Mischlinge paarten sich im Herbst statt im Winter, die Jungtiere wurden im Februar geboren und starben in der Kälte. Die gesamte Population starb letztlich aus (A.P. Dobson: Vielfalt, S. 174). 31 | OLG Naumburg: Urteil vom 26.06.2011, Aktenzeichen 2 Ss 82/11, zitiert nach G. Hildebrandt et al.: Fortpflanzungsmanagement, S. 18. 32 | G. Hildebrandt et al.: Fortpflanzungsmanagement, S. 17. 33 | T. Brückner/T. Schmidt: Grenzen, S. 47.
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sowohl ethische Reflexionen als auch Sachzwänge beachten und für Einzelfälle Güterabwägungen vornehmen, können auch sie nicht als eindeutige Entscheidungsgrundlage dienen. Entgegen der Meinung Jamiesons bin ich nicht überzeugt, dass wir einen Konsens erreichen, wenn wir alle Philosoph_innen werden.34 Vielmehr lenkt der Aufruf zu vernünftiger, sachlicher Diskussion den Blick weg von der moralischen Empörung. Sie entsteht, wenn Menschen ihre tief verankerten moralischen Werte verletzt sehen.35 Diese Empörung sollte ernst genommen und Raum für Diskussionen zugelassen werden. Das bedeutet, dass das Ziel nicht die Vermeidung von Debatten sein sollte, so anstrengend sie auch zuweilen sein mögen. Dies gilt für zahlreiche Konflikte; insbesondere zoologische Gärten scheinen mir ein Paradebeispiel für eine gesellschaftliche Institution zu sein, in der diverse Wertvorstellungen und Per spektiven aufeinandertreffen und miteinander ringen. Den Zoo als »hybriden Raum« mit biologischen und ethischen (sowie sozialen, edukativen usw.) Zielen zu verstehen ist kein neuartiger Gedanke.36 Wenn wir ihn jedoch ernst nehmen, gewinnen wir einen Raum für notwendige Debatten, die bisher als bloße Ärgernisse wahrgenommen wurden. Wir werden den Konflikt aushalten müssen. Die Aufarbeitung dieses vielfach verflochtenen Themas, die Abklärung der methodischen Grenzen zwischen den Disziplinen und die genaue Lokalisierung von Berührungszonen scheinen mir genuine Themen für die interdisziplinären Mensch-Tier-Studien zu sein. Mehr noch: Die aufrichtige Auseinandersetzung mit den Stimmen der Gesellschaft wäre sogar ein genuines Thema für transdisziplinäre Mensch-Tier-Studien.
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34 | D. Jamieson: Conservation, S. 73. 35 | L. Montada: Normative Impact. 36 | Z.B. D.G. Lindburg: Zoos, S. 445; G. Hildebrandt et al.: Fortpflanzungsmanagement, S. 24.
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Vorhang auf! Ein Blick auf Marius’ Sektion, verstanden als Aufführung Stephanie Milling
Schockierte Kindergesichter auf der einen Seite, rücksichtslose Wissenschaftler auf der anderen, die Tötung und Zerlegung eines Tiers mit treuherzigem Augenaufschlag – für die von Auflage und Klicks lebenden Medien war die Sektion des Giraffenbullen Marius im Kopenhagener Zoo ein gefundenes Fressen. In der engagiert geführten Debatte trafen die Perspektiven von Laien und Profis aufeinander, das Ziel der Arterhaltung wurde gegen das Lebensrecht eines individuellen Tieres ins Feld geführt und im Zusammenspiel von sozialen und klassischen Medien prallten Emotionen und wissenschaftliches Weltverständnis aufeinander – alles in allem also ein veritables Medienereignis, in dessen Zentrum sich der Körper der jungen Giraffe Marius befand, der in einer halböffentlichen Sektion vor Kindern und Erwachsenen auseinandergenommen wurde. Nun ist dieses Ereignis nicht als künstlerische Aktion oder Performance zu verstehen. Weder der Ort noch die Beteiligten oder die Rezeption legen eine Einordnung von Marius’ Sektion als künstlerisches Unterfangen nahe. Und doch: Seine Zerlegung war eine inszenierte, pädagogisch-didaktische Wissensvermittlung vor einem überschaubaren Publikum im Zoo, das sich mithilfe sozialer Medien und in hitzigen, medial geführten Diskussionen vervielfachte. In der Lesart als inszeniertes Ereignis, als Aufführung eines biologischen Lehrstücks lassen sich Berührungspunkte mit der Kunstwelt finden. Eine Betrachtung von Marius’ Sektion im Kopenhagener Zoo unter einem solchen Paradigma ist allerdings auch heikel. Vermeintlich werden nämlich die Grenzen zweier Räume durch die gewählte theoretisch-methodische Herangehensweise verwischt: die zwischen dem Kunstraum, der der Prämisse des symbolischen Als-ob und den Gesetzen der Ästhetik folgt, und dem vorgeblich real(er)en Raum, wo der naturwissenschaftlich hergeleitete Wahrheitsanspruch der Biologie seine universale Gültigkeit behauptet. Solche Grenzen sind jedoch eher imaginärer denn realer Natur. Heute ist gerade die Vermischung von Kunst und Wissenschaft wie auch die von bildender Kunst und
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Performancekünsten eine allgegenwärtige Tendenz, die von beiden Seiten vorangetrieben wird – wenn auch die Kunstwelt hierbei den größeren Eifer an den Tag legt.1 Für die Untersuchung bieten sich Kategorien aus der Performance-Analyse an, wie Sibylle Peters sie exemplarisch für wissenschaftliche Vorträge beschreibt: »Ein kulturelles Geschehen nach performanceanalytischen Verfahren zu untersuchen, heißt also, es im Hinblick auf seine zeitlichen und räumlichen, seine materiellen, medialen und körperlichen Parameter zu untersuchen, heißt seine Figurationen, Rollenbilder und sozialen Protokolle ebenso zu beschreiben wie das Verhältnis zwischen Aktion und Beobachtung, Adressierung und Teilhabe«
– unter der Prämisse, dass alle diese Gegebenheiten die Aufführung konstituieren und Einfluss auf ihre Bedeutung haben.2 So sei »gerade den konstitutiven Grenzen von Intentionalität, Materialisierung und Konventionalität auf die Spur zu kommen, die eine cultural performance jeweils ausmachen.«3 Die methodische Übertragung erscheint folglich gerade für die Causa Marius erfolgversprechend, denn es ist der Zusammenstoß von Intentionen und Konventionen des zoologischen Gartens mit denen seines Publikums, der hier von Interesse ist.4 1 | Die Begriffsgeschichte um Performativität und Performanz kann in ihrer Komplexität hier nicht aufgerollt werden. Vgl. aber dazu z.B. die Grundlagentexte in U. Wirth (Hg.): Performanz, hier besonders E. Schumacher: »Performativität und Performance«, S. 383402, mit einer Gegenüberstellung verschiedener Performativitätsbegriffe etwa von Jacques Derrida, Shoshana Felman, Judith Butler, Peggy Phelman und Philip Auslander und K.W. Hempfer/J. Volbers (Hg.): Theorien des Performativen. Einen Überblick über die Entwicklung des Begriffs und seine Fruchtbarmachung für die Kunstwissenschaft gibt z.B. J. Plodeck: Bruce Nauman und Olafur Eliasson. 2 | S. Peters: Der Vortrag als Performance, S. 39. 3 | Ebd. S. 38. 4 | Der gesamte Diskurs rund um Performativität wird in den Kulturwissenschaften von einer ganz ähnlichen Warte aus geführt und hat im deutschsprachigen Raum insbesondere durch die zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Umfeld des SFB ›Kulturen des Performativen‹, die hier nicht im Einzelnen genannt werden können, einen Schub erfahren. Die Tendenz zum Performativen in Kunstpraxis und -theorie geht einher mit der Auflösung des traditionellen Werkbegriffs seit den 1960er Jahren und der zunehmend aktiven Rolle, die den Betrachter_innen zugeschrieben wird. Die Erhebung des Performativitätsbegriffs zum Paradigma der Kunstwissenschaft trifft auf teils heftige Kritik, etwa von Autoren wie Christian Janecke (vgl. C. Janecke: Bei sich selbst ankommende Betrachter, S. 6586). Für ihn bleiben Begriffe wie Werk und Autorschaft vor allem mit der Inszenierung,
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I nszenierung und A ufführung einer B iologielehrstunde Marius’ Sektion lässt sich in der Tradition (halb-)öffentlicher Experimente und Sektionen im 17. und 18. Jahrhundert einordnen. Sie entspringen einer naturwissenschaftlichen Praxis, werden aber in einem Aufführungskontext zu Spektakeln, die der Unterhaltung, der Publikumsbildung wie auch der Eigenwerbung dienen. Ein Beispiel für die Inszenierung und Aufführung naturwissenschaftlicher Praxis sind Sektionen in anatomischen Theatern, die sich als Bautypus um 1600 entwickelten und schon früh auch ein Bedürfnis nach spektakulärer Unterhaltung befriedigten.5 Zur Verbreitung neuer Wissenschaftsparadigmen waren (und sind) auch die performativen Qualitäten experimenteller Anordnungen entscheidend. So setzte sich das Herz-Kreislauf-Modell William Harveys überhaupt erst dank der Vorführungen im anatomischen Theater durch: »Weil die medizinische Fakultät der Universität Paris sich weigerte, die Forschungsergebnisse William Harveys anzuerkennen, gründete der König den Jardin des Plantes ausdrücklich mit dem Ziel, durch Vorführungen den Herzkreislauf, wie Harvey sie in De motu cordis (1628) dargestellt hatte, durchzusetzen. […] Unter diesem öffentlichen Druck durch die Konkurrenz vom Jardin des Plantes akzeptierte die altehrwürdige Sorbonne die Harvey’sche Wissenschaft – fünfzig Jahre nach ihrer Entdeckung.« 6
In der nicht zuletzt auch pädagogischen Tradition solcher Wissenschaftsspektakel können die öffentlich abgehaltenen Zergliederungen gesehen werden, die der Kopenhagener Zoo durchführt. Auch für sie lässt sich ein starker Inszenierungs- und Aufführungscharakter diagnostizieren. Nachdem der zweijährige Giraffenbulle Marius unter Ausschluss der Öffentlichkeit mittels eines Bolzenschussgeräts getötet worden war, fand die Zerlegung seines Kadavers auf einem Platz vor einem wohl als Wirtschaftsgebäude genutzten Schuppen statt. Die angemeldeten Eltern und Kinder fanden sich in mehreren Reihen vor dem auf dem Boden liegenden Giraffenkörper ein. Tierärzte in weißer Schutzkleidung zerlegten den Körper und erklärten biologische Details wie den Bewegungsapparat, Muskeln und Organe der Giraffe. Anschließend schleiften Mitarbeiter_innen die einzelnen Fragmente des Tierkörpers in das nahegelegene Wirtschaftsgebäude. Die Fleischstücke wurden später an die ebenfalls der künstlerisch-planerischen Gestaltung der Aufführung, verbunden. Aus solcher Sicht stellt der performative turn eine überschätzte, zumindest aber überfrachtete begriffliche Wendung dar, während andere Diskursteilnehmer_innen in ihm einen Paradigmenwechsel erkennen. 5 | A. Bergmann: Wissenschaftliche Authentizität, S. 323-349, hier S. 337. 6 | R. Felfe/L. Schwarte: Performative Prozesse, S. 100-112, hier S. 107.
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im Zoo gehaltenen Löwen verfüttert. Erklärtes Ziel war die Vermittlung von Bildung: Wissen um »natürliche« Vorgänge wie Fressen und Gefressen-Werden und die Verbreitung wissenschaftlicher Methoden – ein Anspruch, den der Kopenhagener Zoodirektor Bengt Holst für die Sektionen in seinem Zoo in einem Interview mit dem britischen Fernsehsender Channel4 selbst formuliert hat: Die Zerlegung einer Giraffe zu sehen trage zur Bildung bei. Man könne so über die anatomischen Besonderheiten des Tieres sprechen, etwa über sein großes Herz, das notwendig sei, um das Gehirn einer Giraffe in zwei Metern Höhe ausreichend mit Blut zu versorgen.7 Marius’ Sektion war für den Zoo kein ungewöhnlicher Vorgang: Der Giraffenbulle war nicht das erste Tier, das dort getötet und an Karnivoren verfüttert wurde, und blieb nicht das letzte.8 Holst bezeichnete entsprechend seiner Überzeugung auch die öffentliche Erregung über das Töten, Zerlegen und Verfüttern als scheinheilig: »If we didn’t feed the giraffe to the lions we had to feed a cow. Is that different?«9 Im selben Interview bekräftigte er auch die Absicht des Zoos, weiterhin öffentliche Sektionen durchzuführen, die Inszenierung also im Grunde unverändert beizubehalten. Der gemeinsame Raum, in dem sich aus dem Zusammenspiel der Akteur_innen die Aufführung ergibt, ist nicht als rein architektonisch begrenzt zu verstehen, sondern wird während der Aufführung als Ort der performativen Handlung erst konstituiert. Der Aktionsraum muss im besonderen Fall von Marius sicherlich um den virtuellen Raum erweitert werden, ebenso wie die körperliche Anwesenheit in diesem Raum um eine virtuelle Präsenz ergänzt werden muss, denn die Rolle der Medien und sozialen Netzwerke ist für den Ablauf des Geschehens kaum zu überschätzen. Die Ko-Präsenz der Akteur_innen als Merkmal einer Aufführung bezieht sich dann nicht nur auf die körperliche Anwesenheit, sondern auf die Beteiligung eines erweiterten Zuschauerkreises via Internet. Der Abstand dieser Personen zur Inszenierung ist allerdings so groß, dass sich das Kontingenz-Potenzial, die Unvorhersehbarkeit der Aufführung, vervielfacht. Mit der gewachsenen Distanz zur Inszenierung und zu den Handelnden vor Ort entkoppelt sich die Reaktion des Publikums. Ohne die direkte Kommunikation mit den Akteur_innen fehlt ein Gegengewicht zu den Affekten des Zuschauers, die sich so ungehindert aufschaukeln können. Man kann davon ausgehen, dass die Morddrohungen gegen Holst und seine Familie in einer direkten Begegnung kaum ausgesprochen worden wären. Diese virtuelle und mediale Dimension und damit auch das Potenzial zum shit storm hat der Zoodirektor womöglich unterschätzt. 7 | Vgl. Bengt Holst im Interview mit Channel 4 News, https://www.youtube.com/ watch?v=vuxgAC0dWK4 (letzter Zugriff 06.07.2015). 8 | Vgl. ebd. 9 | Ebd.
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P erforming M arius ? Fasst man die Spezifika performativer Handlungen allgemein und über die Kategorien Inszenierung und Aufführung hinausgehend, so zeichnet sie aus, dass sie im Zusammenspiel von Praxis, ihrer Wiederholung und Abwandlung entstehen und sich verfestigen.10 Per definitionem ist performativen Akten eine Wirkung eigen. Wie sie wirken, ist dagegen offen: Sie können als »emanzipatorische Entwürfe«11 subversiven Charakter haben, doch können sie ebenso »Tätigkeiten der Bestätigung und Untermauerung bestehender oder sich etablierender Herrschafts- und sozialer Machtverhältnisse« sein, »die Wechsel, Veränderung, Alternativen ideologisch (symbolisch) machtvoll bekämpfen und niederhalten«.12 Jedenfalls konstruieren und beeinflussen sie die Wirklichkeit – sie wird für einen Moment prekär, offen. Bestehendes kann durch performative Akte bestätigt und bestärkt werden, es kann durch sie aber auch infrage gestellt werden – dann kann eine Neuaushandlung der Verhältnisse notwendig sein. Lassen sich solche Zusammenhänge im hier behandelten Beispiel wiederfinden? Durch die Praxis der Zerlegung wird Marius’ Körper zum Gegenstand zoologischer Wissens- und Naturbegriffsvermittlung. Die wiederholten Sektionen des Zoos entfalten eine performative Wirkung auf das Tier-Mensch-Verhältnis, konkreter: Sie verfestigen das Recht zur Objektivierung von Tieren, das sich der Mensch im Allgemeinen nimmt und das der Zoo im Besonderen ausübt. Der fragmentierte Körper gehört in diesen Sinnzusammenhang: Aus dem toten Subjekt Marius, das sogar einen Namen trägt, wird ein Fleischstück, dessen Verfütterung an die Löwen legitim erscheinen kann. Anhand der Ereignisse um Marius werden zwei gesellschaftliche Strömungen sichtbar: Auf der einen Seite zeigt sich ein alltäglicher Anthropozentrismus, der die menschliche Entscheidungsgewalt über Leben und Tod von Tieren beinhaltet, auf der anderen Seite stehen Menschen, die ihr Herz für Tiere durch ihre Unterschrift unter 10 | In seiner Kritik an John Austins Sprechakttheorie erkennt Jacques Derrida in »Signatur Ereignis Kontext«, S. 325-351, Iterierbarkeit als Strukturmerkmal von Sprechakten, ohne die sie ihre performative Wirkung gar nicht erzielen könnten. Analog verhält es sich mit Marius’ Sektion: Sie zitiert, wie oben ausgeführt, eine Wissenschaftsgeschichte, durch die sie sich einerseits selbst legitimiert, die sie andererseits fortschreibt. Iterierbarkeit, wie sie Derrida versteht, geht dabei Hand in Hand mit einer »strukturelle[n] Unbewußtheit«, einer »wesentliche[n] Abwesenheit der Intention in der Aktualität der Äußerung« (ebd., hier S. 347). Intention und Wirkung sind für den Handelnden nur teilweise zu überblicken – wie auch die Wirkung des Geschehens im Kopenhagener Zoo nur bedingt zu antizipieren war. 11 | J. Fiebach: Cultural Performance, S. 127-142, hier S. 129. 12 | Ebd.
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Onlinepetitionen öffentlich unter Beweis stellen. Der Verdacht liegt nahe, dass dieses Engagement für Marius nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als eine Art durch die Medien geprägte Person(a) begründet liegt. Als Säugetier, als Exot und Jungtier zieht ein Einzelschicksal wie seines eher Sympathien auf sich als die kaum zu zählenden Nutztiere, die zur Nahrungsbeschaffung gehalten werden. Analog dazu wird die bloße Artikulation von Meinungen, die nicht in Handlungen münden, weniger Wirkung entwickeln als die Handlungen, die tatsächlich und regelmäßig durchgeführt werden, seien es Sektionen im Zoo oder der Kauf von billigem Discounterfleisch. Im Fall von Marius treffen mindestens zwei Sichtweisen auf die Wirklichkeit des Zoos aufeinander, denen ein jeweils anderer Naturbegriff und unterschiedliche Moralvorstellungen zugrunde liegen. Auf der einen Seite zeigt sich ein nicht-professionalisiertes Tier-Mensch-Verhältnis, das besonders in der in sozialen Netzwerken, Kommentaren und einigen Medien geäußerten Tierliebe widerhallt.13 Der Zoo ist aus dieser Sicht keine Einrichtung, in der die Natur möglichst getreu gespiegelt oder nachgeahmt werden soll. Vielmehr fungiert er als eine Art erweiterter Wohn- und Erlebnisraum, dessen tierliche Bewohner eher als geliebte Haustiere denn als Wildtiere wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite steht die Wirklichkeit des Zoos und seiner Artenschutzprogramme, der sich selbst zwar nicht als Natur, aber, wie Zoodirektor Bengt Holst sagt, »as close to nature as we can get under these circumstances«14 versteht. Aus der Naturnähe leiten Holst und seine Unterstützer dann die Legitimität der Tötung von Zootieren ab.15 Beide Sichtweisen treten im Zuge der Tötung und Zerlegung von Marius in offenen Widerstreit. Bengt Holst formuliert als klares Ziel die Konfrontation der Besucher mit den »realen« Verhältnissen: Löwen fressen Fleisch, Giraffen sind Fleisch, also fressen die Zoolöwen die Zoogiraffen. Das Ziel ist eine Veränderung des Wirklichkeitsverständnisses der Zoobesucher, die Berichtigung ihres disneyfizierten Tierbildes. Sie sollen stattdessen für die »echte« Natur, die »echte« Biologie und die »echte« Wissenschaft begeistert werden. Diese Begeisterung lasse sich, so behauptet der Zoodirektor, beim Besuch der öffentlichen Sektionen wecken. Im erweiterten Zuschauerkreis derjenigen, die nicht vor Ort waren, aber nichtsdestotrotz eine Meinung zum Geschehen entwickeln, kann sich die Version des Zoos, eben nah an der Natur zu sein, 13 | Die übersteigerte Rolle von Tieren als Haus- und Kuscheltiere bei gleichzeitiger Marginalisierung von Tierhaltung und ‑schlachtung hat der Kunsthistoriker John Berger schon in den 1970ern in seinem Essay »Why look at animals?« diagnostiziert. Vgl. J. Berger: Why look at animals?, S. 3-28. 14 | Bengt Holst im Interview mit Channel 4 News, https://www.youtube.com/ watch?v=vuxgAC0dWK4 (letzter Zugriff 06.07.2015). 15 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Christopher Hilbert in diesem Band.
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jedoch nicht ohne Weiteres durchsetzen. Das Selbstverständnis des Zoos als »Natur in Maßen« trifft auf Widerspruch außerhalb seines relativ geschlossenen sozialen Raums. Dieses wird, ob gewollt oder ungewollt, durch die Einsicht erweitert, dass das Verständnis von Natur außerhalb des Zoos ein plurales ist. Natur- und Kulturbegriffe sowie Moralvorstellungen beider Sphären beeinflussen sich, wenn sich durch Ereignisse wie etwa Marius’ Sektion gemeinsame Grenzbereiche bilden. Gegen die Pluralität der möglichen Naturbegriffe muss der eigene immer wieder aufs Neue inszeniert und zur Aufführung gebracht werden. An der Praxis der Sektionen festhalten zu wollen, wie Bengt Holst verkündete, ist nur eine Möglichkeit, das Naturverständnis des Zoos zu verfestigen. Das Konglomerat aus wissenschaftlichem Anspruch und Naturnähe wird auch durch andere Praxen immer wieder performativ bestätigt, etwa durch die positivistische Berufung auf biologische Zusammenhänge in Bildtafeln oder die Konzeption »naturnaher« Tiererlebniswelten mit verschiedenen Arten, die sich auch in ihren Verbreitungsgebieten den Lebensraum teilen.16 Matthias Kroß bringt das Aufeinanderprallen der beiden performativen Welten von Natur- und Kulturwissenschaften auf den Punkt, das sich im Fall von Marius exemplarisch zeigt: »Das bei Naturwissenschaftlern häufig anzutreffende Selbstverständnis, dass ihre Disziplin im Gegensatz zu den Kulturwissenschaften ihrem Wesen nach nicht-performativ sei, erweist sich […] selbst als ein (wenn auch kaschierter) performativer Zuschreibungsakt, der sich freilich in seinem Vollzug selbst ›durchstreicht‹.«17
Inszenierung und Aufführung sind Elemente performativer Formate in der bildenden Kunst wie am Theater. Unter dem Schlagwort »Performativität« haben sie darüber hinaus Wirkung als Forschungsparadigmen entfaltet. Die Karriere des Begriffskonglomerats um das Performative, Performativität und, als künstlerische Praxis, Performance, ist auf einem Allzeithoch angekommen. Entwickelt in der Linguistik, ausgedehnt in die Kultur- und Sozialwissenschaften mit einem Fokus auf Gender und postkolonialen Diskursen, aufgegriffen in Theater- wie Kunstwissenschaften: In seiner Ubiquität liegt die Stärke, aber auch die Schwäche des Performativen. Man kann daher hinterfragen, ob die Übertragung dieses Paradigmas auf die Vermittlungspraxis einer öffentlichen Einrichtung im Grenzbereich zwischen Naturwissenschaft und Kultur zwingend ist – für ein tieferes Verständnis der Causa Marius ist sie fruchtbar zu machen. Die Sektionen im Zoo sind eine performative Praxis, insofern die Akteur_innen ein Publikum und Bühnenpersonal im weiteren Sinn umfassen. 16 | Vgl. beispielsweise das Geozoo-Konzept des Tierparks Hellabrunn: www.hellabrunn.de/ueber-hellabrunn/geozoo-hellabrunn (letzter Zugriff 02.09.2015). 17 | M. Kroß: Performativität, S. 249-272, hier S. 257.
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Sie sind wiederholte Handlungen, deren Aufführungen Kontingenzen unterliegen, und haben den Anspruch, mit ihrem Verständnis von Natur und Kultur auf die Wirklichkeit einzuwirken. Der Zoo versucht also durchaus, mithilfe performativer Mittel das Weltverständnis seines Publikums zu verändern. Und schließlich kann man auch dem Zoo unterstellen, dass er, ähnlich wie die Kunst, ein einziges großes Als-ob verkörpert: eine Beinahe-Natur, deren kulturelle Überformung gerne übersehen wird, aber kaum zu überschätzen ist.
L iter aturverzeichnis Bengt Holst im Interview mit Channel 4 News, https://www.youtube.com/ watch?v=vuxgAC0dWK4 (letzter Zugriff 06.07.2015). Berger, John: »Why look at animals?«, in: Ders., About Looking, New York: Vintage International 1991, S. 3-28. Bergmann, Anna: »Wissenschaftliche Authentizität und das verdeckte Opfer im medizinischen Erkenntnisprozeß«, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn et al. (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen: Francke 2007, S. 323-349. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 325-351. Felfe, Robert/Schwarte, Ludger: »›Performative Prozesse‹ und ›epistemologische Konfigurationen‹«, in: Praktiken des Performativen, Paragrana 13 (2004), S. 100-112. Gronau, Barbara/Roselt, Jens: »Diskursivierung des Performativen«, in: Praktiken des Performativen, Paragrana 13 (2004), S. 112-120. Janecke, Christian: »Performance und Bild/Performance als Bild«, in: Christian Janecke (Hg.), Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin: Philo & Philo Fine Arts 2004, S. 11-113. Janecke, Christian: »Bei sich selbst ankommende Betrachter: Irrwege des Performativitätsdiskurses auf dem Feld bildender Kunst«, in: Lars Blunck (Hg.), Werke im Wandel? Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung, München: Schreiber 2005, S. 65-86. Kroß, Matthias: »Performativität in den Naturwissenschaften«, in Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München: Fink 2003, S. 249-272. Peters, Sibylle: Der Vortrag als Performance, Bielefeld: Transcript 2011. Theorien des Performativen, Paragrana 10 (2001). Tierpark Hellabrunn: www.hellabrunn.de/ueber-hellabrunn/geozoo-hellabrunn (letzter Zugriff 02.09.2015). Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
»Anthropomorphismus!« als Totschlagargument Anthropomorphismuskritik und Methodologie der Tierforschung Christopher Hilbert
Die Tötung des Giraffenbullen Marius im Kopenhagener Zoo sorgte Anfang des Jahres 2014 für öffentliche Aufregung. Die erhobenen Vorwürfe umfassten verschiedene Punkte, welche sich vornehmlich gegen die Leitung des Zoos und das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP) gerichtet haben: Alternativen zur Tötung seien nicht abgewogen oder durch unbotmäßige Auflagen des Zuchtprogrammes von vornherein verhindert worden. Das Zuchtprogramm unterliege keinen oder nur unzureichenden Kontrollen und produziere in der Folge überschüssige Tiere. Aufgrund seiner Auflagen hätte die Giraffe nicht an aufnahmewillige Einrichtungen weitergegeben werden können. Nicht zuletzt wurde kritisiert, dass der Giraffenbulle in einer halböffentlichen Sektion vor den Augen von Kindern seziert und an verschiedene im Zoo beheimatete Karnivoren verfüttert wurde. Der Kopenhagener Zoo begegnete diesen Vorwürfen in mehreren Pressemitteilungen und Vertreter_innen anderer zoologischer Gärten ergriffen Partei für dessen Vorgehensweise. Unter Bezugnahme auf die englischsprachige Pressemitteilung des Zoos soll im Folgenden dessen Argumentationsstrategie innerhalb der polarisierten und polarisierenden Debatte skizziert werden. In dieser zeichnet sich der Versuch einer idealtypischen Naturalisierung des institutionellen Handelns ab. Das dabei verwendete Gegensatzpaar von Anthropomorphismus und Anti-Anthropomorphismus soll im Weiteren dazu dienen, den Stellenwert der Anthropomorphismuskritik in der Tierforschung zu betrachten.
N atürliche I nstitutionen und institutionelle N atürlichkeit Die Pressemitteilung zeichnet das Bild einer vorwiegend auf Artenschutz ausgerichteten Verfahrensweise des Kopenhagener Zoos, die scheinbar notwendig
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die Tötung des Giraffenbullen Marius zur Konsequenz hatte. Unter anderem argumentiert der wissenschaftliche Direktor Bengt Holst in der Pressemitteilung, dass unter dem Gesichtspunkt des Artenschutzes das Augenmerk nicht auf dem einzelnen Tier liegen dürfe, sondern primär auf der Erhaltung und Pflege einer gesunden Tierpopulation. Es gelte, dass »the most important factor must be that the animals are healthy physically and behaviourally and that they have a good life whilst they are living whether this life is long or short«.1 Im Weiteren betont Holst, die Zucht der Giraffen sei im Rahmen des Europäischen Erhaltungsprogrammes, trotz fehlender Auswilderungsprogramme und der Konsequenz, dass überschüssige Tiere getötet werden müssten, aus Gründen des tierlichen Wohlbefindens und zur Erhaltung des tierlichen Verhaltensrepertoirs nötig. »Parental care is a big part of an animal’s behaviour. It is a 24 hour job in longer periods of their lives and we believe that they should still be able to carry out this type of behaviour also in captivity«. Schließlich teilt er mit, die halböffentliche Autopsie folge einem öffentlichen Bildungsauftrag; auch gegen die Verfütterung der Giraffe sei nichts einzuwenden, da auch in der Wildnis gelte, dass »remains of dead animals are typically consumed by other animals and thereby help to serve the natural cycle of nature«. Der Protest und das Engagement der Kritiker_innen gegen das Vorgehen des Kopenhagener Zoos, führt Dag Encke, der gegenwärtige Direktor des Tierparks Nürnberg, darauf zurück, dass Giraffen die »großen Charismatiker unter den Tieren«2 sind. Es handele sich um »Sympathieträger«3, welche »andere Assoziationen als eine Ziege, ein Schaf oder ein Rind« weckten, woraufhin »man auch einen anderen Umgang mit dem Tier« erwartet, wie Andreas Knierim, der Direktor des Tierparks Hellabrunn, glaubt. Den Konflikt um die Verfütterung der Giraffe kann Encke nur eingeschränkt nachvollziehen, da »eine Giraffe zu verfüttern […] im Grund nichts anderes [ist], als ein Schwein zu keulen. Die Leidensfähigkeit der beiden Tiere ist identisch«.4 Die Empö1 | Why does Copenhagen Zoo euthanize a giraffe?, zoo.dk 09.02.2014, http://zoo. dk/BesogZoo/Nyhedsarkiv/2014/Februar/Why%20Copenhagen%20Zoo%20euthani zed%20a%20giraffe.aspx (letzter Zugriff: 04.07.2015). 2 | »Im Zoo. Giraffe an Löwen verfüttert«. Dag Encke im Interview mit der Frankfurter Rundschau online vom 10.02.2014, www.fr-online.de/panorama/im-zoo-giraffe-anloewen-verfuettert,1472782,26147856.html (letzter Zugriff: 04.07.2015). 3 | »Giraffenschlachtung in Hellabrunn »undenkbar«, Andreas Knierim im Interview mit Peter T. Schmidt, in: Oberbayrisches Volksblatt online vom 13.02.2014, www.ovbonline.de/bayern/giraffenschlachtung-hellabrunn-undenkbar-3363598.html (letzter Zugriff: 04.07.2015). 4 | »Im Zoo. Giraffe an Löwen verfüttert«. Dag Encke im Interview mit der Frankfurter Rundschau online vom 10.02.2014, www.fr-online.de/panorama/im-zoo-giraffe-anloewen-verfuettert,1472782,26147856.html (letzter Zugriff: 04.07.2015).
»Anthropomorphismus!«
rung ist für Encke daher vor allem dadurch gekennzeichnet, »dass viele Menschen diesen Themen rein emotional begegnen«. Der Konflikt um die Verfahrensweise des Kopenhagener Zoos wird von Holst und von den angeführten Vertretern anderer zoologischer Einrichtungen vornehmlich als Konfrontation zwischen einer wohlmeinenden, aber nur laienhaft informierten Öffentlichkeit und geschulter, naturwissenschaftlicher Expertise verstanden. Ihren Debattenbeitrag wollen sie als sachlichen und nicht-anthropomorphen Standpunkt verstanden wissen, welcher auf einer realistischen Perspektive auf Tier und Natur beruhte. Diese verlange es einzusehen, dass die Natur gerade kein Disneyfilm sei und die angemahnte Praxis des Zoos keinesfalls grausam, sondern vielmehr natürlich.5 Die Konfliktlinien in dieser Weise nachzuzeichnen und dabei eine exklusive Perspektive auf die Natur und das Natürliche zu behaupten, entspricht einer Art der Narration, welcher sich auch Gunter Nogge, der zwischen 1981 und 2007 Direktor des Kölner Zoos war, in seinem Aufsatz Über den Umgang mit Tieren im Zoo. Tierund Artenschutzaspekte (1998) bedient und um die Behauptung einer vermeintlich zunehmenden Naturentfremdung des Westeuropäers ergänzt: Die »Naturentfremdung [hat] dazu geführt, daß sich die Einstellung zur Natur, gerade auch zum Tier, verändert hat. Das realistische Verhältnis zur Kreatur, wie es der Landbevölkerung zu eigen war, die täglichen Umgang mit Nutztieren hatte, ist bei den Städtern, also dem weitaus größten Anteil unserer Bevölkerung, einer anthropomorphisierenden, romantisierenden und sentimentalen Sichtweise zum Opfer gefallen«.6
Die Debatte in dem Gegensatzpaar einer »naturentfremdeten Wohlstandsgesellschaft« 7 einerseits und dem realistischen Naturbezug von Praktikern und Naturwissenschaftlern andererseits abzuhandeln bietet allerdings kaum Perspektiven, unter denen es möglich wird, das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren zu verhandeln. Vielmehr verfestigt dieses Gegensatzpaar den institutionellen und disziplinären Anspruch auf einen exklusiven Standpunkt gegenüber dem Natürlichen. In der vorliegenden Debatte ist dieser allerdings allein dann mehr als ein bloßes Postulat, wenn zugleich beansprucht wird, dass die eigene Tätigkeit Natur methodisch gesichert abbildet und dadurch vor den Fiktionen einer ›Disneyworld‹ geschützt ist. Dieses wird in der Pressemitteilung des Zoos erreicht, indem die kulturellen Praktiken der Institutionen und Organisationen, die an der Züchtung, Tötung, Autopsie und Ver5 | Vgl. Bengt Holst im Interview mit Channel 4, abgerufen unter: https://www.youtube. com/watch?v=ENnNNVOEDZ4&list=PLcETo_Y-TJx2Tf1EzXLOPpQKAWLeEFhe4 (letzter Zugriff: 04.07.2015). 6 | G. Nogge: Über den Umgang mit Tieren im Zoo, S. 448. 7 | Ebd., S. 449.
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fütterung der Giraffe beteiligt sind, naturalisiert werden. Die institutionellen Verpflichtungen (wie etwa die Wahrung des natürlichen Verhaltensrepertoirs, des Genpools, des Wohlbefindens der Tiere, der Vermeidung von drohenden Krankheiten oder die Aufgabe, die Tiere auf ein Leben in der Wildnis vorzubereiten) legitimieren die Tötung und die Züchtung gleichermaßen als quasinatürliche Dienstleistungen an der Natur. Auf diese Weise erscheinen Artenschutz, Züchtungsprogramme, Autopsien und Zoos (ebenso wie die Wildnis) nicht länger als menschliche Kulturleistungen und Formungen von Welt. Die Verfahrensweisen des Zoos werden durch den Rekurs auf die Natur und das Natürliche naturalisiert und so der Kritik enthoben. Während die Narration, dass naturwissenschaftliche Praktiker über eine realistische Perspektive verfügten, welche es ihnen erlaube, ein nicht-anthropomorphes Verhältnis zu Natur und Tier einzunehmen, im vorliegenden Fall vornehmlich dazu zu dienen scheint, die Neutralität und Natürlichkeit des eigenen Standpunkts zu sichern, dient der Vorwurf des Anthropomorphismus und der Emotionalisierung, der gegen die Kritiker_innen gerichtet ist, dazu, diesen einen realistischen Naturbezug abzusprechen. Dadurch, dass die Debatte um die Tötung der Giraffe vorwiegend als Konfrontation zwischen Öffentlichkeit und Expert_innen oder in der Gegenüberstellung von Anthropomorphismus und Anti-Anthropomorphismus abgehandelt worden ist, wurde versäumt, der berechtigten Frage nachzugehen, wie in unserer Gesellschaft Tiere repräsentiert werden können und sollen. Dass die Debatte durch den Vorwurf des Anthropomorphismus versiegt ist, darf dabei nicht weiter verwundern, denn »anthropomorph«, »Anthropomorphist« und »Anthropomorphismus« sind immer auch Kampf begriffe, die ursprünglich verwendet wurden, um »eine Personengruppe zu diffamieren, die aus der Sicht ihrer Gegner die falsche theologische Anthropologie vertritt«.8 Im Folgenden soll der Stellenwert der Anthropomorphismuskritik innerhalb der Tierforschung ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert skizziert werden, um zu ermitteln, wie in diesem Diskurs epistemisch und methodisch mit dem Anthropomorphismus umgegangen wurde und welchen Einfluss dieser Umgang auf das Selbstverständnis und die Art und Weise der Tierforschung hatte und hat.
A nthropomorphismuskritik in der Tierforschung Die Bemühungen der Tierforschung, anthropomorphe Erklärungsansätze in der Deutung tierlichen Verhaltens zu vermeiden, werden aus den zahlreichen und vom gegenwärtigen Standpunkt bereits für den ethologischen Laien irri8 | R. Becker: Der menschliche Standpunkt, S. 336.
»Anthropomorphismus!«
tierenden Missinterpretationen tierlichen Verhaltens verständlich. Eines der bekanntesten historischen Fallbeispiele, aus welchem die Abgrenzung gegenüber anthropomorphen Annahmen verständlich wird, dürfte die Geschichte des »klugen Hans« sein. Das Pferd Hans lebte zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin und gehörte einem deutschen Schausteller. In öffentlichen Aufführungen begeisterte das Pferd das Publikum durch seine mathematischen Fähigkeiten. Indem es die korrekten Ergebnisse für die an es gerichteten Fragen durch Hufschlag mitteilte, bescherte es seinem Besitzer ein einträgliches Einkommen. Die Nachricht von den Fähigkeiten des Pferdes machte auch vor der etablierten Wissenschaft nicht Halt und der Student Oskar Pfungst wurde von Professor Stumpf, dem damaligen Direktor des Psychologischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, beauftragt, das Können des »klugen Hans« zu untersuchen. Schnell stellte sich heraus, dass Hans nicht rechnen konnte, sondern die unmerklichen Kopf bewegungen seines Besitzers als Anzeichen dafür nahm, das Hufschlagen einzustellen.9 Angesichts dieser und anderer Fälle verwundert es nicht, dass innerhalb der Tierforschung die Forderung nach einer disziplinierten, anthropomorphe Erklärungsansätze ausschließenden Methodologie entstanden ist. Die Etablierung einer methodisch validen und reliabel vorgehenden Tierforschung beginnt im ausklingenden 19. Jahrhundert in Abgrenzung zur sogenannten Naturgeschichtsschreibung.10 Diese Abgrenzung erfolgte vornehmlich deshalb, weil die Naturgeschichtsschreibung im Ausgang von Darwin in der Deutung tierlichen Verhaltens mentalistisch verfahren ist. Der Vorwurf lautete, dass deren Deutungen bereits auf der ungesicherten Grundannahme beruhten, dass nicht allein eine evolutionäre, sondern auch eine psychologische Kontinuität zwischen Mensch und Tier existierte, welche dazu berechtige, von einer grundsätzliche Ähnlichkeit ihrer Vermögen und Erfahrungen auszugehen.11 Für die Kritiker der Naturgeschichtsschreibung galt es, diese Annahme allerdings zunächst durch eine strenge Methodologie im experimentellen Versuch zu erhärten. Den Forschungsstand der vorherigen Tierforschung betrachteten sie als einen »enormous and somewhat chaotic mass of anecdotal fact and fiction«12, welche die Erforschung der tierlichen Physis und Psyche durch anthropomorphe Erklärungsansätze behindere. In Tierphysiologie und Tierpsychologie wurden daher Anstrengungen unternommen, sowohl eine 9 | Die Geschichte über den »klugen Hans« habe ich entnommen aus: M. Stamp Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewusstseins, S. 97f. Vgl. auch H. Baranzke: Der kluge Hans. 10 | Vgl. W.H. Thorpe: The Origins and Rise of Ethology, S. 3ff, sowie F.W. Wuketits: Die Entdeckung des Verhaltens, S. 24f. 11 | Vgl. R. Mitchell: Wie wir Tiere betrachten, S. 344ff. 12 | L.C. Morgan: On the Study of Animal Intelligence, S. 174.
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neutrale physiologische Terminologie13 als auch eine disziplinierte und valide Methodologie für die komparative Psychologie14 zu entwickeln. Die veränderte Terminologie und Methodologie sollte es ermöglichen, in der Erforschung der Tiere jeglichen Anthropomorphismus methodologisch auszuschließen oder zumindest auf die gemachten anthropomorphen Vorannahmen und Aussagen kritisch zu reflektieren. Mit der Disziplinierung der Tierforschung auf methodischer Ebene wurden gleichfalls metaphysische Entscheidungen darüber getroffen, was überhaupt am Verhalten des Tieres zu beobachten sei und in welche Beziehung tierliches Verhalten zu menschlichem Verhalten gesetzt werden kann. Prominent finden sich solche Überlegungen bei Lloyd Morgan, einer der Gründungsfiguren der komparativen Psychologie.15 In An Introduction to Comparative Psychology (1894) erörtert dieser die Grenzen und Möglichkeiten einer methodisch objektiven Bestimmbarkeit des Fremdpsychischen.16 In den Prolegomena seines Werkes räumt er ein, dass die Erforschung des Fremdpsychischen maßgeblich davon abhinge, welches Verhältnis von Psyche und Physis bei Menschen und Tieren vorausgesetzt würde, weshalb diese nicht allein empirisch verfahren könne, sondern metaphysische Vorüberlegungen anstellen müsse.17 Morgan vertritt eine monistische Konzeption des Lebendigen und grenzt sich durch diese Auffassung von der cartesianischen Konzeption zweier substantiell getrennter und unterschiedener Seinssphären von Psyche und Physis ab.18 Nach seinem Verständnis liegt in dem dichotomen Verhältnis von Physis und Psyche des Cartesianismus eine Trennung vor, die allein analytisch und abstrakt im Denken zu vollziehen sei, dabei allerdings konträr zu jedweder Lebenserfahrung stünde. Während der Cartesianismus die Untersuchung des Fremdpsychischen versperrt, insoweit diesem das Lebendige in eine äußere, anschaubare Physis sowie eine innere, verborgene Psyche zerfällt, eröffnet Morgans monistische Perspektive auf das Lebendige die Möglichkeit, dieses in seinem Lebensvollzug als ›psychophysi13 | Vgl. T. Beer et al.: Vorschläge. 14 | Vgl. L.C. Morgan: An Introduction. 15 | Vgl. M.R. Karin-D’Arcy: The Modern Role of Morgan’s Canon, S. 179, sowie W. H. Thorpe: The Origins and Rise of Ethology, S. 26. 16 | In einem Aufsatz von M. Böhnert und mir findet sich eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Lloyd Morgan unter besonderer Berücksichtigung der Debatte um Morgans Canon: »C. Lloyd Morgan’s Canon. Über den Gründervater der komparativen Psychologie und den Stellenwert epistemischer Bedenken«, in: Martin Böhnert/Kristian Köchy/Matthias Wunsch (Hg.), Philosophie der Tierforschung, Band 1: Methoden und Programme, Freiburg: Verlag Karl Alber (erscheint voraussichtlich 2016). 17 | Vgl. C.L. Morgan: An Introduction, S. 1f. und 376f. 18 | Vgl. ebd. S. 4ff.
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sche‹ Einheit zu betrachten. Unter der von ihm ebenfalls unterstützten These der evolutionären Kontinuität des Lebendigen ist die monistische Konzeption des Lebens zudem für das Forschungsvorhaben der komparativen Psychologie eine notwendige Bedingung, durch welche es überhaupt erst möglich wird, von einer prinzipiellen Vergleichbarkeit der mentalen Vermögen von Tieren und Menschen auszugehen. In diesen Überlegungen wird das Problembewusstsein, das er für die Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit der Erforschung des Fremdpsychischen hat, kenntlich. Gerade deshalb ist es erstaunlich, dass die metaphysischen Überlegungen, die er zur Konzeptualisierung des Lebendigen vornimmt, für ihn kaum Auswirkungen auf die Methodik der empirischen Untersuchung des Fremdpsychischen haben. Der Status, den die Prolegomena in seinem Werk einnehmen, wird geradezu fraglich, wenn er für empirische Untersuchungen die Entscheidung darüber, ob Psyche und Physis in einem monistischen oder dualistischen Verhältnis zueinander stehen, lediglich »as a matter of general philosophy«19 betrachtet. Für die Empirie genüge demnach die Annahme, dass sich am beobachtbaren Verhalten des Lebendigen ein wechselseitiger Mechanismus abbildet, an dem die »actions of animals as the outcome of mental processes«20 erscheinen. Das empirisch beobachtbare Verhalten begreift Morgan als Geschehen, in welchem die äußere Physis gleichsinnig oder parallel zur inneren Psyche abläuft.21 Mit dieser Konzeption des Verhaltens fällt er allerdings in einen methodischen Cartesianismus zurück, in welchem letztlich allein die Physis – die körperliche Struktur und Bewegung in Raum und Zeit – objektiv beobachtbar ist und die Fremdpsyche, wenn überhaupt, subjektiv durch einen introspektiven Analogieschluss zugänglich wird. Dieser Rückfall in einen methodischen Cartesianismus, den Morgan im Kontrast zur praktischen Lebenserfahrung nur als analytische und abstrakte Denkbewegung zulassen wollte, lässt sich nur bedingt aus den ursprünglichen metaphysischen Überlegungen ableiten. Nachvollziehbar wird er dagegen als Folgerung aus dem Ideal von Wissenschaftlichkeit, das durch die Anthropomorphismuskritik zum Bestandteil der sich etablierenden Tierforschung geworden ist. Diese hat in der Abgrenzung gegen die anthropomorphen Erklärungsansätze der Naturgeschichtsschreibung eine reproduzierbare Methodologie und neutrale Terminologie für die Erforschung von Tieren eingefordert. Das Verständnis von Wissenschaftlichkeit, das sie in Abgrenzung von den anthropomorphen Erklärungsansätzen der Naturgeschichtsschreibung etabliert hat, ist allerdings immer auch dadurch bestimmt, dass es das prak19 | Ebd. S. 30. 20 | Ebd., S. 51. 21 | Vgl. C.L. Morgan: Animal Intelligence, S. 181f. sowie Morgan: An Introduction, S. 36.
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tische, alltägliche oder lebensweltliche Verständnis von Tieren zurückweist. »The explanation which is good enough for the practical purposes of daily life is not sufficient for the more subtle and refined purposes of scientific purposes«.22 Durch die Kritik an den anthropomorphen Erklärungsansätzen wird die Opposition zum Verständnis von Tieren aus praktischen und alltäglichen Lebensbezügen ebenso wie das Misstrauen gegenüber allem der Subjektivität verdächtigen zur epistemischen Tugend der Tierforschung. Dementsprechend sind in der Methodologie und Terminologie, welche im Kontext der Anthropomorphismuskritik in die Tierforschung eingeführt wurde, die Forderungen nach experimentellen Überprüfungen und neutralen Beschreibungen von tierlichen Vermögen und Fähigkeiten immer mit der Anforderung verschränkt, den »Stempel des Subjektiven«23 zu vermeiden. Die Disziplinierung des Beobachtbaren auf die körperliche Erscheinung wird daher von einer Metaphysik des Objektiven getragen. Die Fokussierung auf die äußere Erscheinung und auf physiologische Vorgänge, folgt der Annahme, dass ein objektiver Gegenstand mit einer objektiven Perspektive korrespondieren würde. Dadurch könne, so die Idee, ein Standpunkt eingenommen werden, welcher die Subjektivität sowie den Anthropomorphismus als menschliche Standpunkte hinter sich ließe. Für den wissenschaftlich Forschenden ergeht daraus die epistemische Regel, dass er »Empfindungen und alles, was sich aus ihnen auf baut, das Subjektive, Psychische nur aus sich selbst [kennt]; [während er] außerhalb seiner […] nur Bewegungserscheinungen«24 beobachten kann. In der Bewegung vom Monismus zum wechselseitigen Mechanismus von Psyche und Physis folgt Morgan dieser dogmatischen Setzung. Seine Begrenzung des (empirisch) objektiv beobachtbaren Verhaltens auf die Physis des Lebendigen ist nichts anderes als die methodisch praktikable Operationalisierung der Metaphysik des Objektiven.25 Die implizite Annahme der Anthropomorphismuskritik ist es, dass durch die Fokussierung auf das räumliche Außen keine Deutungen mehr vorgenommen werden müssten. Um allerdings etwas über die mentalen und emotiona22 | C.L. Morgan: An Introduction, S. 52. 23 | T. Beer et al.: Vorschläge, S. 517. 24 | Ebd. 25 | Einen anderen Ansatz bieten Helmuth Plessner und Frederik J.J. Buytendijk in: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925). Vergleichbar mit der skizzierten Perspektive von Morgan fassen diese das Lebendige jenseits des Cartesianismus als psychophysische Einheit auf. Allerdings ist das Verhalten des Lebendigen für sie auch in der psychophysischen Einheit erfahrund beschreibbar, und zwar als Sinnverstehen – in Abgrenzung zum physiologischen Verständnis der kausalen Bewegungsabfolge von Körpern. Empfehlenswert ist der Artikel von Ralf Becker: Der Sinn des Lebens.
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len Vermögen von Tieren aussagen zu können, ist es nichtsdestotrotz notwendig, die beobachtbaren Bewegungserscheinungen zu interpretieren und auf das ›verborgene Innere‹ zu schließen. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Ausgangsposition der Tierforschung im Verhältnis zur Naturgeschichtsschreibung dahingehend gewandelt, dass jene experimentell nachweisen muss, was diese vermittels subjektiver Anschauung und lebensweltlicher Erfahrung in ihren anthropomorphen Erklärungsansätzen bereits vorausgesetzt hat.26 Die Anthropomorphismuskritik und Disziplinierung der Tierforschung führte diese daher in eine paradoxe Situation: Obwohl emphatisch eingeräumt wurde, dass Tiere Bewusstsein, Emotionen und Gefühle hätten27, wurden deren Ausprägung und Existenz fraglich, da ihre Erforschung unter dem Primat äußerer Beobachtung nur unter Bezugnahme auf das »unwissenschaftliche Hilfsmittel«28 des Analogieschlusses erfolgen könnte. Um die Problematik des Analogieschlusses einzudämmen und nicht erneut in einen naiven Anthropomorphismus zu verfallen, aber dennoch Aussagen über die mentalen und emotionalen Vermögen von Tieren zu ermöglichen, hat Morgan nach der Erörterung der Unzugänglichkeit des Fremdpsychischen die kanonische Regel aufgestellt: »In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale«.29 Die Gefahr dieses Grundsatzes liegt, wie Frans de Waal es ausdrückt, darin, dass er der Möglichkeit eines »Anthropodenial«30 innerhalb der Tierforschung Vorschub leisten könnte. Mit dem Aufkommen des Behaviorismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts verläuft sich auch tatsächlich die lebensweltliche Spur, dass Tiere ein Bewusstsein oder gar Emotionen haben könnten, vorerst völlig.31 Der ohnehin in seiner Zulässigkeit angezweifelte Analogieschluss wird vollends 26 | In diesem Umstand spiegelt sich auch der generelle Konflikt wider, in dem sich die exakte Wissenschaft vom Tier und die Tier-Praktiker befinden. In einer Dokumentation über Tierpflege und Beobachtung in diversen US-amerikanischen Zoos kommt ein Tierpfleger zu Wort, welcher über den von ihm betreuten Gibbon BaHee, der bis vor Kurzem gemeinsam mit einem anderen Gibbon untergebracht war, aussagt: »›BaHee was grieving. You could see it on his face.‹ Then she reconsidered. ›I shouldn’t say that,‹ she said, choosing her words carefully, ›because that’s anthropomorphism. I should say instead that BaHee was displaying withdrawal behaviors‹« (A. Halberstadt: Zoo Animals). Zur historischen Aufarbeitung der Rolle der Zoopfleger in zoologischen Gärten vgl. W. Reinert in diesem Band. 27 | Vgl. C.L. Morgan: Animal Intelligence, S. 185. 28 | T. Beer et al.: Vorschläge, S. 517. 29 | C.L. Morgan: An Introduction, S. 53. 30 | F. de Waal: Anthropodenial, sowie F. de Waal: Anthropomorphism. 31 | R. Mitchell: Tiere betrachten, S. 354.
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als »suggestive Interpretation« verworfen und »die meisten Wissenschaftler [dieser Zeit hören] auf, die Tiere so zu behandeln, als ob sie ein Bewusstsein besäßen«.32 Unbestritten haben die Forschungen zu den tierlichen Vermögen mit der Disziplinierung der Methodik und der Betonung des experimentellen Ansatzes im Verhältnis zu den anthropomorphen Annahmen der Naturgeschichtsschreibung die Tierforschung zu einem neuen Realismus und erheblichem Erkenntnisgewinn geführt. Dies hat allerdings nicht zu einer Klärung der Fragen geführt, was berechtigterweise aus dem Verhalten von Tieren geschlossen werden kann und über welche Fähigkeiten Tiere verfügen. Im Gegenteil, trotz innovativer Experimentalauf bauten33 sind diese Fragen gegenwärtig ebenso umstritten wie die Frage, wie überhaupt mit dem Anthropomorphismus umzugehen ist. Erstaunlicherweise, und kennzeichnend für die Persistenz der Problematik, unterscheidet sich auch die Antwort, die die gegenwärtige Tierforschung auf das Problem des Anthropomorphismus gibt, nach wie vor nicht wesentlich von der Antwort, die bereits 1894 von Morgan formuliert wurde. Sein Grundsatz ist vielmehr zur Faustregel der Tierforschung geworden.34 In ihrem Sinne gibt Marc Naguib in seinem Lehrbuch Methoden der Verhaltensbiologie (2006) zur Einhegung anthropomorpher Erklärungsansätze vor, dass bei der Interpretation tierlichen Verhaltens »von dem einfachsten Erklärungsmodell ausgegangen [werden muss], bevor den Tieren komplizierte Leistungen unterstellt werden«.35 Ergänzend fügt er hinzu, dass die Entscheidung darüber, was berechtigterweise aus dem Verhalten der Tiere geschlossen werden kann, wesentlich von der »übergeordneten Theorie«36 abhängt, vor deren Hintergrund die Befunde interpretiert werden. Diese Anweisung, nach der die Empirie im Rahmen der Theorie bewertet werden muss, macht kenntlich, dass aus der Empirie allein das Verhalten der Tiere zumindest nicht in seiner Bedeutung erfasst werden kann. Unter Berücksichtigung der historischen Anfänge der valide und reliabel vorgehenden Tierforschung gilt es zudem festzuhalten, dass nicht nur die Deutung der Empirie einer spezifischen Konzeptionalisierung unterliegt, sondern dass bereits der zu untersuchende empirische Gegenstand einer Konzeptionalisierung unterliegt, weshalb die Ergebnisse einerseits 32 | Ebd. S. 355. 33 | Vgl. bspw. die teilweise sehr komplexen und über die Zeit ständig variierten Experimentalaufbauten in der Erforschung kognitiver Fähigkeiten von Primaten bei J. Kaminski/J. Call/M. Tomasello: Chimpanzees. 34 | Morgans Canon gilt als der meist zitierte Satz der vergleichenden Psychologie (vgl. D. Dewsbury: Comparative Psychology, S. 187, sowie F. de Waal: The Ape and the Sushi Master, S. 67). 35 | M. Naguib: Methoden, S. 17. 36 | Ebd.
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stets »wissenschaftlich und metaphysisch«37 sind und andererseits immer auch den menschlichen Standpunkt repräsentieren. Diesen Standpunkt wollte die Anthropomorphismuskritik der sich etablierenden Tierforschung durch eine Wendung auf das Objekt ausschließen oder zumindest kritisch vermeiden. Was sie hingegen wirklich vermochte, war, den Anthropomorphismus – in der Form lebensweltlicher Erfahrung – auszuschließen, aber nicht den menschlichen Standpunkt an sich. Denn auch der naturwissenschaftliche Standpunkt und das Ideal objektiver Wahrheit sind Ausdrücke von menschlichen »Denkstilen«38, »disciplinary matrices«39 oder »scientific research programes«.40 Der Realismus der Tierforschung verkehrt sich demnach in einen naiven Realismus und Naturalismus, wenn angenommen wird, dass die objektive Methodik in ihrer Aspektivität das volle Sein der Forschungsgegenstände abbildet und somit nicht mehr als ein menschlicher Standpunkt anzusehen ist. Der Realismus der Tierforschung ist deshalb in der Einsicht aufzusuchen, dass alle Deutungen des tierlichen Erfahrungsvermögens auf Hypothesen beruhen, da das Problem der Interpretation des tierlichen Verhaltens, wie Naguib schließlich festhält, darin besteht, »das[s] wir nicht wissen, was tatsächlich in einem Tier vorgeht«.41
D ie S kepsis des »A nthropomorphismus!« ist kein Totschl agargument Die Debatte um die Tötung des Giraffenbullen Marius und die darin in beiden Lagern nachweisbare Empörung lässt sich als diskursive Verhandlung über eine angemessene Repräsentation der Giraffe lesen. Auffällig in der Debatte war, dass der Direktor des Kopenhagener Zoos ebenso wie die Befürworter von dessen Vorgehen sich dieser Verhandlung entzogen haben, indem sie sich auf den Standpunkt zurückzogen, man dürfe Natur nicht ›disneyfizieren‹. Die Verfahrensweise des Zoos wurde dadurch zum natürlichen Vorgehen stilisiert, welches in einer vermeintlich realistischen Perspektive auf Natur und Tier gründet. Damit eine gesellschaftliche Auseinandersetzung stattfinden kann, die der Frage nach einer angemessenen Repräsentation der Tiere und damit der Frage, wie wir mit diesen leben möchten, nachgeht, darf diese allerdings nicht durch die schlichte Gegenüberstellung einer realistischen und einer emotionalisiert anthropomorphen Perspektive ausgesetzt werden. Im 37 | K. Köchy: Einleitung: Umwelt-Handeln, S. 19. 38 | L. Fleck: Wissenschaftliche Beobachtung. 39 | T. S. Kuhn: The structure of scientific revolutions. 40 | I. Lakatos: Falsificationism. 41 | M. Naguib: Methoden, S. 17.
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Gegenteil gilt es in der Verhandlung um eine angemessene Repräsentation von Tieren in Rechnung zu stellen, dass diese an erster Stelle immer repräsentiert werden, und sich darauf zu besinnen, dass auch in der realistischen Perspektive der menschliche Standpunkt nicht aufgehoben ist. Im Rückgang auf die Anthropomorphismuskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts konnte gezeigt werden, dass sich mit der Metaphysik des Objektiven zu Beginn der modernen Tierforschung eine Haltung findet, welche im Misstrauen gegen das Subjektive und alles Deuten den Ausschluss des menschlichen Standpunkts in der Untersuchung des Tierlichen angestrebt hat. Die Absicht, eine methodologische Grundlage für eine beobachterunabhängige Untersuchung des Tierlichen zu etablieren, führte zu einem Selbstverständnis der Tierforschung, welches einerseits die kritische Reflexion auf kulturelle Ideale und metaphysische Vorannahmen als inhärentem Bestandteil aller Methodologie verhindert und dadurch andererseits verschleiert, dass die Tierforschung sich durch ihre Methodologie immer in einem Repräsentationsverhältnis zum Tier befindet. Von diesem Repräsentationsverhältnis abzusehen kann allerdings nicht folgenlos bleiben. Während Morgan noch unbeschwert angenommen haben muss, dass das Identifizieren tierlicher Vermögen allein von theoretischem Interesse sei, als er notierte, »an ungenerous interpretation of the faculties of animals can hardly be said to be open to like practical consequences«42, muss diese Überzeugung innerhalb eines Moralkontextes, in dem die Leistungsbemessungsgrenze dessen, was wie moralisch berücksichtigt wird, zurückgewiesen werden, da es in diesem keineswegs gleichgültig ist, wie das Tier betrachtet wird und welche Vermögen aus dem Verhalten von Tieren abgeleitet werden. Im Allgemeinen lässt sich dagegen einwenden, dass es sich bei Aussagen, die auf (natur)wissenschaftliche Theorien und Methoden zurückgehen, niemals nur um konstative Aussagen über das Tierliche, sondern immer auch um performative Äußerungen handelt.43 Das Tierliche unterliegt in den Theorien und Methoden, die zur Untersuchung und Beurteilung seiner Vermögen, seiner Erfahrungen und Lebensweise dienen, Objektivierungen, die nicht folgenlos für die Ausformung der jeweiligen Mensch-Tier Beziehung sind, da diese immer auch »erzeugen, was sie nur zu benennen und aufzudecken scheinen«.44 Unter dem Diktum der Metaphysik des Objektiven zeichnet sich die Performativität der sich etablierenden Tierforschung dadurch aus, dass sie sowohl die lebensweltliche Erfahrung des Menschen in der Deutung des tierlichen Verhaltens deklassiert, als auch das Bestehen tierlicher Emotionen und Kognitionen durch die Reduzierung des Beobachtbaren auf physiologische Vorgänge infrage stellt. In der Bemühung, einen beobachterunabhängi42 | C.L. Morgan: An Introduction, S. 54. 43 | Vgl. H. Kämpf: »So wie der Mensch sich sieht, wird er«, S. 218. 44 | Ebd.
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gen Standpunkt einzunehmen, verkennt die Tierforschung, dass »die Crux der Wissenschaft« nicht ist, »daß gedeutet werden bzw. verstanden werden muß, […] sondern wie«.45 Durch die Überzeugung, dass das tierliche Verhalten allein als körperliche Erscheinung untersucht werden kann, hat sie den Blick für das jedweder alltäglichen Beziehung zwischen Mensch und Tier vorgängige sinnhafte Verstehen des Verhaltens durch den Menschen als leibkörperlichem Lebewesen unter leibkörperlichen Lebewesen versperrt.46 Auf jener leiblichen Grundlage könnte sich allerdings eine vielversprechende Perspektive ergeben, welche von der Erfahrung einer geteilten Leibkörperlichkeit ausgeht und dadurch nicht mit dem Tier als dem »ganz Anderen«47 konfrontiert ist. Unabhängig davon, wie die Tierforschung ihre Aussagen über das Tierliche gewinnt, bleibt die Schwierigkeit bestehen, dass sie nicht aus der Aufgabe entlassen wird, das Tier zu repräsentieren. Da diese Repräsentation für das Tier nicht gleichgültig ist, gilt es an die inhärente Skepsis der Anthropomorphismuskritik anzuknüpfen, um diese als skeptisches Korrektiv für die Tierforschung zu begründen. Als Kritik an der Identifikation von tierlichen und menschlichen Vermögen, ist die Anthropomorphismuskritik getragen von einer Skepsis gegenüber der menschlichen Perspektive. Durch diese Skepsis hat sie den Blick dafür frei gemacht, das Was und Wie des Tieres als Frage zu formulieren. Damit diese Frage und mit ihr das tierliche Sein sein kann, gilt es das skeptische Moment gegen Überzeugungen zu behaupten, die davon ausgehen, durch ihre Untersuchungsmethoden Forschungsergebnisse präsentieren zu können, die keinen menschlichen Standpunkt mehr vertreten würden. Dies ist notwendig, da andernfalls droht, dass »aus Naturwissenschaft Naturalismus und aus heuristischer Reduktion Reduktionismus«48 wird. Die Gefahr einer solchen Entwicklung läge darin, dass Methode und Sein gleichgesetzt und die Lebenswelt von Mensch und Tier gleichermaßen positiviert werden; ist die Lebenswelt aber erst einmal eine voll bestimmbare, dann erübrigt es sich auch, über das Wie
45 | H. Plessner: Die physiologische Erklärung des Verhaltens, S. 26. 46 | Innerhalb der animal welfare science findet sich seit einigen Jahren mit dem Ansatz des qualitative behaviour assessments ein Zugang zum tierlichen Verhalten, der dieses sinnverstehend deutet. Verhalten ist für dieses kein ausschließlich physiologischer Vorgang, sondern Ausdruck einer »body language« des Tieres: »it is a psychological dimension that is immediately present and available for assesment, allowing us to judge the quality of an animal`s experience directly and in considerable detail« (F. Wemelsfelder: How animals communicate, S. 28). Dazu auch: Fußnote 25. 47 | B. Mütherich: Die soziale Konstruktion des Anderen, S. 51. 48 | R. Becker: Der menschliche Standpunkt, S. 342.
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des Lebens zu verhandeln.49 Soll dieses Wie verhandelbar sein, dann bedarf es der freihaltenden Skepsis, da diese ermöglicht, anzuerkennen, dass die Erfahrungswelt eines Lebewesens letztlich unvertretbar ist und immer nur vermittelt erschlossen werden kann. Aus diesem Grund gilt es, die Skepsis, welche die Anthropomorphismuskritik gegenüber der menschlichen Perspektive hatte, zu wahren, allerdings nicht gegen den menschlichen Standpunkt, sondern von ihm ausgehend. In der Einnahme dieser skeptischen Position kann ersichtlich werden, dass die naturalistische (aber auch die kulturalistische) Antwort darauf, was und wie das Lebewesen ist, diesem sein Schicksal spielt und sich dabei der Frage entzieht, wie die Beziehungen zwischen den Lebewesen gestaltet werden können. Um diese Frage in der Tier-Mensch-Relation überhaupt stellen zu können, muss die Frage nach dem Tier oder das Nicht-Wissen vom Tierlichen zum integralen Bestandteil des Wissens vom Tier werden. Dadurch würde ein skeptisches Korrektiv gewonnen, welches das Tierliche zwar nicht vom menschlichen Standpunkt freisetzen kann, aber dieses innerhalb von diesem als relevanten Akteur adressiert.
L iter aturverzeichnis Baranzke, Heike: »Der kluge Hans. Ein Pferd macht Wissenschaftsgeschichte«, in: Jessica Ullrich/Friedrich Weltzien/Heike Fuhlbrügge, (Hg.). Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin: Reimer 2008, S. 197-214. Becker, Ralf: Der menschliche Standpunkt: Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2011, S. 336. Becker, Ralf: »Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. F. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur«, in: Kristian Köchy/Francesca Michelini (Hg.), Zwischen den Kulturen. Plessners ›Stufen des Organischen‹ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München: Verlag Karl Alber 2015, S. 65-90. Beer, Theodor/Bethe, Albrecht/Uexküll, Jacob von: »Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems«, in: Centralblatt für Physiologie, 13 (6) (1899), S. 517-521. Bengt Holst im Interview mit Channel 4, abgerufen unter: https://www.youtube.com/watch?v=ENnNNVOEDZ4&list=PLcETo_Y-TJx2Tf1EzXLOPpQKAWLeEFhe4 (letzter Zugriff 04.07.2015). 49 | Dies ist nicht allein auf die Tier-Mensch-Relation einzuschränken, sondern stellt sich als grundsätzliche Frage des menschlichen In-der-Welt-Seins. Als Frage nach dem humanen Leben geht Jürgen Manemann diesem in: Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie (2014) im Ausleuchten der Alternative von »Humanisierung« oder »Homonisierung« nach.
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de Waal, Franz: »Are we in Anthropodenial?«, in: Discover 18 (7) (1997), S. 5053. de Waal, Franz: »Anthropomorphism and Anthropodenial: Consistency in our Thinking about Humans and other Animals«, in: Philosophical Topics 27 (1) (1999), S. 255-280. de Waal, Franz: The Ape and the Sushi Master. Cultural Reflections by a Primatologist, New York: Basic Books 2001. Dewsbury, Donald: Comparative Psychology in the twentieth Century, Stroudsburg: Hutchinson Ross 1984. Fleck, Ludwik: »Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im Allgemeinen«, in: Sylwia Werner/Claus Zittel (Hg.), Ludwik Fleck. Denkstile und Tatsachen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011 [1935], S. 211-238. »Giraffenschlachtung in Hellabrunn »undenkbar«, Andreas Knierim im Interview mit Peter T. Schmidt, in: Oberbayrisches Volksblatt online vom 13.02.2014, www.ovb-online.de/bayern/giraffenschlachtung-hellabrunnundenkbar-3363598.html (letzter Zugriff 04.07.2015). Halberstadt, Alex: »Zoo Animals and Their Discontents«, in: The New York Times vom 3. Juli 2014. »Im Zoo. Giraffe an Löwen verfüttert«. Dag Encke im Interview mit der Frankfurter Rundschau online vom 10.02.2014, www.fr-online.de/panorama/imzoo-giraffe-an-loewen-verfuettert,1472782,26147856.html (letzter Zugriff 04.07.2015). Kaminski, Juliane/Call, Josep/Tomasello, Michael: »Chimpanzees know what others know, but not what they believe«, in: Cognition 109 (2008), S. 224234. Kämpf, Heike: »›So wie der Mensch sich sieht, wird er‹. Überlegungen zur politischen der philosophischen Anthropologie im Anschluss an Helmuth Plessner«, in: Gerhard Gamm/Mathias Gutmann/Alexandra Manzei (Hg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld: Transcript 2005. Karin-D’Arcy, M. Rosalyn: »The Modern Role of Morgan’s Canon in Comparative Psychology«, in: International Journal of Comparative Psychology 18 (2005) S. 179-201. Köchy, Kristian: »Einleitung: Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik«, in: Ders./Martin Norwig (Hg.), Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, Freiburg: Verlag Karl Alber 2006. Kuhn, Thomas S.: The structure of scientific revolutions. 2nd edition, with postscript, Chicago: University of Chicago Press 1970.
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Andere Tiere, andere Menschen, andere Welt? Human-Animal Studies als Chance für neue Perspektiven, erweiterte Methoden und fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit – Ein Kommentar1 Michaela Fenske
D ie Tiere der A nderen : D isziplinäre Trennungen als S piegel moderner D ichotomien Tiere sind in der allgemeinen Wahrnehmung der Jetztzeit vornehmlich ein Arbeitsgebiet der Natur- und Agrarwissenschaften (sofern es um Lebewesen geht neuerdings auch Life Studies oder Lebenswissenschaften genannt). Im Zuge der akademischen Arbeitsteilung ist diesen Fächern im Laufe der Moderne die Zuständigkeit für das Verstehen sowie die damit eng verbundene Absicht, mögliche Nutzungen der natürlichen Umwelt zu eruieren, zugewachsen. Sie erforschen Wesen und Gesetze des Lebens auf der Erde, studieren dessen Entwicklungen und Potenziale. Die Begriffe und Taxonomien dieser Wissenschaften bringen spezifische Ordnungen in die Vielheit des Lebens. Zunehmend wurde dabei auch das organische Leben selbst geformt. Körper und Wesen sogenannter Nutztiere etwa wurden mithilfe der Agrarwissenschaften entsprechend menschlicher Effizienzvorstellungen gestaltet. Was dabei − ungeachtet der in diesem Feld gegebenen vielfältigen Differenzierungen − viele dieser Wissenschaften (bislang)2 verbindet, ist die Arbeit mit (noch) lebenden,
1 | Dieser Text fußt auf meinem Kommentar zum Workshop »Methoden der interdisziplinären Tierforschung« des LOEWE-Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft« in Kassel, 15./16. Januar 2015. Der Text reflektiert einige Aspekte der auf der Tagung geführten Diskussionen. Für die vorliegende Druckfassung wurde der ursprüngliche Text erweitert. 2 | Angesichts des Erfolgs von Molekularbiologie und Genetik in den Natur- und Agrarwissenschaften, die neuerlich etwa im Kontext von Bioengineering bedeutsam
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häufig sogenannten »realen« oder »echten« Tieren, konkret die Möglichkeit einer »haptische[n] Beziehung« zwischen Menschen und Tieren.3 Demgegenüber wirkt die Beschäftigung mit Tieren in den Kultur-/Geistes- und Sozialwissenschaften auf den ersten Blick einigermaßen leblos. Hier hatte man es bis vor Kurzem häufig mit Repräsentationen von Tieren zu tun, mit »fiktiven« Tieren gewissermaßen. Lebende Tiere sind in den Institutionen dieser Disziplinen äußerst selten anzutreffen (in wissenschaftlichen Instituten lebende Kleinstinsekten und Mikroorganismen ausgenommen). Ausnahmen, etwa in Gestalt von durch Studierende in ihre Lehrveranstaltungen mitgebrachten Hunden, bestätigen den Ausschluss von lebenden Tieren aus der Kultur dieser Fächer.4 Der zufolge werden derzeit weder Hunde noch andere »companion animals« in universitären Räumen offiziell geduldet. Abgesehen von den in Universitäten geltenden besonderen Exklusionsmechanismen ist die mangelnde Präsenz von lebenden Tieren in diesen Fächern auch ein Ergebnis des Ausschlusses von Tieren aus öffentlichen Räumen.5 Da nun aber menschliches Leben auf der Erde nicht ohne Beziehungen zu Tieren denkbar ist, sind Tiere auch in diesen, den Menschen gewidmeten Wissenschaften überaus präsent. Zielrichtung des Interesses war dabei stets der Mensch, ein profunderes Verständnis der menschlichen Organisation und Entwicklung. Ob in Erzählungen über Tiere in überlieferten Texten oder in zeitnah erhobenen Interviews, in tierlichen Abbildungen in der materiellen Kultur oder als Teil des musikalischen Erbes − über Tiere sowie den Umgang mit ihnen ließen sich grundlegende Erkenntnisse über menschliches Leben, seine Ordnungen und Möglichkeiten gewinnen. Nutzen und Anwendung fand das so erarbeitete Wissen in den ihrem Selbstverständnis nach Deutungs- und Orientierungswissenschaften vor allem im Sinne einer Selbst-Verortung menschlicher Akteur_innen, Gruppen und Gesellschaften. Was die verschiedenen Zweige der Wissenschaft mit Blick auf Tiere mithin bislang wesentlich trennt, sind Fragestellungen, Perspektiven, Theorien, Methoden und Ziele. In Folge dessen sind die Tiere der einen nicht die Tiere der anderen Disziplinen; oder anders formuliert: Anhand der Art und Weise, wie Tiere in den jeweiligen Wissenschaften interessieren, lassen sich tiefgehende Trennungen spätmoderner westlicher Gesellschaften nachvollziehen. Die dichotome Einteilung der Welt in Kultur und Natur etwa, die Unterscheidung werden, mag die Begegnung mit »ganzen« lebenden Tieren auch in diesen Fächern unter Umständen zunehmend der Vergangenheit angehören. 3 | Z.B. für die Zoologie V. Sommer: Zoologie, S. 359. 4 | Zum Mitbringen von Hunden an die Universität vgl. z.B. B. Krug-Richter: Hund und Student. 5 | Über die Verdrängung der Tiere aus den öffentlichen Räumen inzwischen klassisch A. Bimmer: Kein Platz für Tiere.
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von fiktiven und realen Tieren oder auch die Trennung zwischen Menschen und Tieren.
S pätmoderne »S uchbe wegungen «: neue P ositionierungen von Tieren in G esellschaf ten und W issenschaf ten Die bislang allgemein gültigen Perspektiven auf Kultur und Natur, Mensch und Tier werden seit einigen Jahren durch verschiedene Bewegungen hinterfragt. Dabei werden binäre Oppositionen zugunsten von Fragen nach Zusammenhängen hintangestellt. Westliche Gesellschaften und ihre Wissenschaften erproben derzeit verstärkt neue Perspektiven, Praktiken und Ordnungen, diskutieren angesichts der Vielfachkrise des beginnenden 21. Jahrhunderts (Klimawandel, massenhaftes Artensterben, Verknappung natürlicher Rohstoffe, Anwachsen sozio-ökonomischer Ungleichheiten etc.) Alternativen zum Bestehenden. Angesichts des experimentellen Charakters dieser Entwicklung spricht zum Beispiel der Europäische Ethnologe Dieter Kramer in diesem Zusammenhang von »Suchbewegungen«.6 Diese Suche nach neuen Perspektiven betrifft in besonderem Maße auch die Wahrnehmung von Tieren, ihrer Rolle in Gesellschaft und Wissenschaften. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Position der Tiere innerhalb der westlichen Gesellschaften drastisch verändert. Deutlich wird dies etwa an den immer breiter geführten Diskussionen um Tierrechte und Tierethik. Längst ist die Frage danach, was Menschen etwa den von ihnen gehaltenen sogenannten Nutz- oder Zootieren zumuten dürfen und welche Rechte diese Tiere haben, aus der Nische der (bislang weiblich dominierten7) Tierschutz- und Tierrechtsbewegung in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Ethische Fragen der Produktion und des Genusses von Lebensmitteln werden derzeit in Gesellschaft und Wissenschaft vor allem als Frage des (erlaubten?) Fleischgenusses geführt.8 In den Naturwissenschaften wird die Grenze zwischen Menschen und Tieren seit einigen Jahren von immer mehr Wissenschaftle_innen infrage gestellt.9 In den Kultur- und Sozialwissenschaften interessieren unter dem Eindruck der Human-Animal Studies zunehmend Tiere um ihrer selbst willen beziehungsweise sie geraten als eigenständige, »Welt erschaffende Lebewesen«
6 | D. Kramer: Kulturelle Faktoren, S. 82. 7 | Zu den sozialhistorischen Bedingungen spezifisch weiblichen Engagements im Tierschutz eindrücklich M. Roscher: Ein Königreich. 8 | V. Burhenne: Darf’s ein bisschen mehr sein?; G. Hirschfelder et al.: Was der Mensch essen darf; J. Rückert-John: CfP: Fleisch. 9 | V. Sommer: Zoologie.
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(»world producing beings«)10 in den Fokus. Überzeugend haben in diesem Zusammenhang die Literary Animal Studies argumentiert, dass fiktive und reale Tiere einander bedingen.11 Die Feststellung dieser Interdependenz erscheint mir wesentlich, akzentuiert sie doch zugleich den Status der bisherigen kulturwissenschaftlichen Tierforschung als Erforschung bloßer Repräsentationen neu. Sie ermöglicht nämlich, die lebenden Tiere und deren Objektivationen als jeweils verschiedene Realitäten gleichermaßen ernst zu nehmen. In Anlehnung an die Überlegung des Historikers Nigel Rothfels, ob sich überhaupt eine »echte«, haptische Berührung von deren Repräsentation trennen lasse, ließe sich mit Blick auf die dabei tätigen verschiedenen (wissenschaftlichen) Akteur_innen auch fragen, ob es sich nicht um verschiedene Wirklichkeiten der »Berührung« von Tieren handelt (2010). In den ebenfalls unter dem Dach der Kultur- und Sozialwissenschaften agierenden Ethnowissenschaften weitet sich derzeit die Perspektive auf nichtmenschliche Akteur_innen u.a. beeinflusst durch die Umweltforschung, hin zu einer Multispecies Ethnography.12 Sie untersucht neben den Tieren auch andere Lebewesen und versteht sich als eine »Anthropology of Life«.13 Damit verbunden ist in diesen Fächern eine Dezentrierung des Menschen14 bis hin zu einer »anthropology beyond the human«.15 Der vorliegende Kommentar fragt vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nach den Potenzialen der Human-Animal Studies als Chance für eine Neuperspektivierung sowohl kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung als auch interdisziplinärer Zusammenarbeit mit besonderem Blick auf den im deutschsprachigen Bereich noch wenig erprobten konkreten Austausch dieser Fächer mit natur- und agrarwissenschaftliche Disziplinen. Der Blick gilt im Besonderen den Forschungsmethoden, die für die bislang menschliche Kulturen und Gesellschaften erforschenden Disziplinen im Bereich der Mensch-Tier(e)-Forschung16 eine besondere Herausforderung darstellen. Die Frage nach den Forschungsmethoden ist zentral, sind die jeweils gewählten 10 | E. Fudge: What was it like to be a Cow? 11 | R. Borgards/N. Pethes: Einleitung: Tier – Experiment – Literatur 1880-2010, S. 7-13. 12 | S. Kirksey/S.Helmreich: The Emergence; L. Ogden/B. Hall/K. Tanita: Animals, Plants, People, and Things; A. Smart: Critical Perspectives. 13 | S. Kirksey/S. Helmreich: The Emergence, S. 545. 14 | Vgl. auch S. Eckardt/D. Hemme: Tiere als Verlierer. 15 | T. Ingold: Anthropology, S. 5. 16 | Die häufige Verwendung von Begriffen wie Tierstudien oder Mensch-Tier-Forschung verdeckt zum guten Teil, dass beide Akteur_innen im Plural verstanden werden müssen. Da dies angesichts der Vielheit der tierlichen Lebensformen für diese ganz besonders gilt, wurde hier der Plural gewählt.
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Methoden doch Ausdruck des jeweiligen Verständnisses von Tieren oder von Menschen. Die Methoden bestimmen maßgeblich, was jeweils gefunden und verstanden wird. Geschrieben ist der vorliegende Text aus der Perspektive der Kultur- und Sozialwissenschaften, konkret anhand der Europäischen Ethnologie. Als eine sowohl über Probleme in historischen als auch in gegenwärtigen Gesellschaften arbeitende Kultur- und Sozialwissenschaft eignet sich diese Disziplin in vieler Hinsicht als eine Art »Brückenwissenschaft« zwischen den Disziplinen.17 Die Beziehung zwischen Tieren und Menschen wird im Folgenden als Kern eines möglichen gemeinsamen Forschungsinteresses betrachtet. Mit der damit gegebenen Betonung unter anderem von Interaktion wachsen zugleich die methodischen Herausforderungen. Anhand der kulturanthropologischen Erforschung der seit einigen Jahren in westlichen Gesellschaften überaus populären urbanen Imkerei als neuer Möglichkeit der Begegnung von Menschen und Tieren sollen dabei einige dieser methodischen Herausforderungen angesprochen werden.
M enschen » machen « Tiere , Tiere » machen « M enschen : H uman -A nimal S tudies als C hance der N euperspek tivierung und me thodische H er ausforderung Einer grundlegenden Annahme der Human-Animal Studies zufolge definieren Menschen Tiere vornehmlich in Beziehung zu sich selbst, gemäß eigener Bedürfnisse und Selbstverortungen. Was Tiere und was Menschen sind, wird damit zu einer sozialen Konstruktion.18 Theoretisch grundlegend für solche Annahmen sind unter anderem praxeologische Ansätze, in den Kultur- und Sozialwissenschaften ursprünglich von Pierre Bourdieu und in dessen Gefolge von Andreas Reckwitz und anderen formuliert. In den Human-Animal Studies lenken sie den Blick auf die Prozesse aktiven Herstellens von Menschen und Tieren in verschiedenen Feldern gesellschaftlichen Tuns, inklusive
17 | Tim Ingold hält die Anthropologien auf dem Feld der Human-Animal Studies für besonders geeignet, die Aufgabe einer Brückenwissenschaft zwischen den verschiedenen Disziplinen zu übernehmen. Ein Ziel sieht er darin, die Grenzen zwischen Naturund Menschheitsgeschichte zu überwinden, Vortrag als Featured Thinker im Rahmen eines Workshops des »Zentrums für Theorien und Methodik der Kulturwissenschaften« der Universität Göttingen, 05.06.2014. Wesentlich für diese den Ethnowissenschaften zugeschriebene Rolle dürften deren breite thematische und methodische Ausrichtung sowie ihrer Erfahrung im Umgang mit Fremdheit sein. 18 | Grundlegend z.B. M. DeMello: Animals and Society.
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der Herstellung von Tieren in wissenschaftlichen Arenen.19 Dies umfasst die Felder der Wissenschaften, und zwar der Kultur- und Sozialwissenschaften als Deutungswissenschaften, die subjektive Aspekte ihres Tuns zunehmend reflektieren, aber auch die das Objektivitätsparadigma stärker beanspruchenden Natur-, Agrar- oder Lebenswissenschaften gleichermaßen. Wer mit den Human-Animal Studies Tieren eine eigene Handlungsmacht unterstellt, geht zugleich davon aus, dass Tiere umgekehrt auch Menschen »machen«, dass sie deren Möglichkeiten zu sein erheblich mit gestalten (klassisch Haraway: When Species Meet). Damit werden sowohl Menschen als auch Tiere zu in Zeit und Raum höchst wandelbaren, sich in physischer und psychischer Gestalt stetig verändernden Lebewesen. Wie Menschen »Tiere machen« ist mehr noch als wie Tiere »Menschen machen« im beginnenden 21. Jahrhundert angesichts der in den einzelnen Praxisfeldern menschlichen Tuns anzutreffenden vergleichsweise großen Diversität nicht nur widersprüchlich, es wird in verschiedenen Praxisfeldern auch fortwährend neu ausgehandelt. Zahlreiche Beispiele aus Wissenschaft und Gesellschaft könnten dies illustrieren. Im Folgenden wird ein derzeit populäres, d.h. in immer mehr gesellschaftlichen Gruppen und Schichten verbreitetes Beispiel gewählt. Es geht um die »sozialen Taxonomien« der (westlichen) Honigbiene, die seit etwa fünf Jahren immer mehr Städte des globalen Nordens bevölkert.20 Das Sterben der gemäß naturwissenschaftlicher Taxonomien sogenannten westlichen Honigbiene, aber auch und vor allem der Wildbienen ist derzeit ein aktuelles Thema, das vornehmlich in den westlich geprägten Gesellschaften und Wissenschaften des globalen Nordens verhandelt wird. Die Biene wird in diesem Zusammenhang vor allem positiv besetzt, mit ihrer Ausrufung als drittwichtigstem Nutztier (nach Rindern und Schweinen) und Ökosystemdienstleisterin par excellence gilt sie als »gutes« Lebewesen.21 Die derzeit verbreitete »Bienenphilie« greift auf eine jahrhundertealte, vornehmlich positiv besetzte Verbindung von Menschen und Bienen in der Kultur zurück; die Biene Maja etwa ist im 20. und 21. Jahrhundert ein überaus populärer Ausdruck dieser menschlichen Zuneigung.22 Im Kontext der grünen Bewegungen und der Renaissance des Gärtnerns sowie der Tierhaltung in den Städten erfreut 19 | Zusammenfassend neuerdings G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann: Animate History. 20 | Sofern im Folgenden nicht anders angemerkt, stammen die Angaben über aktuelle Mensch-Bienen-Beziehungen im urbanen Raum aus einem Ende 2014 begonnenen Projekt über urbane Imkerei am Beispiel Berlins: Fenske, Michaela: Feldnotizen Projekt urbane Naturen, November 2014 – Juni 2015. 21 | Imkerverband Berlin: Imkerinnen und Imker; Bundesamt für Naturschutz: http:// bfn.de/0326_oeko.html 22 | S. Anm. 20.
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sich auch das Imkern seit einigen Jahren in urbanen Milieus steigernder Beliebtheit. Während das traditionelle Imkermilieu zumeist als männlich, in fortgeschrittenem Alter und aus tendenziell eher kleinbürgerlichen Milieus kommend wahrgenommen wird, stammen Akteur_innen der neuen Imkerbewegung aus der Mitte der Gesellschaft, sind teils akademisch gebildet, in den mittleren Lebensjahren und immer öfter weiblichen Geschlechts. Mit den neuen Imker_innen hat auch eine größere Spannbreite an Haltungsformen, Wirtschaftsweisen und Zielen Einzug in die Imkerei gehalten und damit zugleich eine jeweils andere soziale Bestimmung der Biene. Eher klassisch wirtschaftende Imker beschreiben ihre Biene als Nutztier, das in jahrzehntelangen Zuchtanstrengungen hinsichtlich seiner Eigenschaften und Leistungsfähigkeit im Sinne menschlicher Interessen optimiert wurde. Dies entspricht dem Verständnis der Honigbiene auf Seiten naturwissenschaftlicher Bienenforscher_innen. Neue Imker_innen beschreiben ihre Tiere demgegenüber häufig als »Wildtiere«, als »halbdomestizierte Tiere« oder sogar als »Haustiere«. In diesen Milieus ist die Biene weitaus mehr als nur Honiglieferantin; sie ist zugleich Lehrerin bei der Vermittlung von Umweltwissen, spirituelles Gegenüber und Heilerin. Die ungeachtet der jeweiligen Haltungsform grundsätzlich eingeschränkte Kontrollierbarkeit von Bienen wird in allen Milieus als spezifische Eigenschaft dieser Tiere betrachtet (das Ausmaß von Kontrolle und Eingreifen wird damit zum Kennzeichen der Haltungsbedingungen von Bienen durch den Menschen). Mit den Human-Animal Studies lässt sich dies als Teil der Wirkungsmacht der Biene beschreiben, die auf Seiten der menschlichen Akteur_innen sowohl Angst und Verdruss als auch Begeisterung und Faszination auslöst. Diese Beziehung findet ihren Niederschlag in entsprechenden sprachlichen Ausdrücken. So ist seitens der Imker_ innen, mitunter nur situativ, von »denen« bzw. »die« die Rede oder aber von »Bienies«, »Damen«, »Mädels«.23 Die jeweilige Beziehung kann, muss aber keineswegs zwangsläufig mit spezifischen sozialen Milieus und Betriebsformen korrelieren – eine zärtliche Hinwendung zu den Bienen lässt sich im Feld klassisch wirtschaftender Imker_innen ebenso beobachten wie bei neuen Imker_innen eine eher distanzierte Haltung zu den Tieren vorhanden sein kann (diese muss den menschlichen Akteur_innen nicht bewusst sein). Eingedenk der Diversität, Komplexität und mitunter auch Widersprüchlichkeit solcher Beziehungen lässt sich festhalten: Biene ist nicht gleich Biene, ihre Definition und Wirkungsmacht verändert sich innerhalb der sozialen Konstellationen der Menschen fortwährend.
23 | Zum grundlegenden Zusammenhang von Ökologie und sprachlicher Praxis bzw. über den Einfluss der Tiere auf die menschliche Sprache vgl. L. Siragusa: Metaphors of Language; Dies.: Agency.
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Solche Aushandlungen dessen, was Tiere und Menschen jeweils sind, lenken den Blick auf grundsätzliche Fragen der Tier-Mensch-Beziehungen. Welche Menschen, welche sozialen Milieus und Gruppen, wissenschaftliche Disziplinen etc. machen welche Tiere, welche Faktoren spielen dabei eine Rolle und wie werden gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse wirksam? Und umgekehrt: Wie wirken Tiere in die jeweiligen Felder, Milieus, Gruppen und auf Individuen menschlicher Gesellschaften hinein? Welche Bedeutung haben die in der Spätmoderne omnipräsenten medialen Diskurse, Narrationen und Repräsentationen? Wie geht in diese diversen Beziehungen das Zusammenspiel von analogen und digitalen Praxisfeldern ein? Gerade die Perspektive auf verschiedene Praxisfelder und auf das, was hier unhinterfragt als »normal« gilt, aber zugleich permanent Tag für Tag ausgehandelt wird, verspricht tiefe Einsichten in die Konstruktionsprozesse von Mensch-Tier-Beziehungen, aber auch in mögliche Alternativen zu Gegenwärtigem. Solche und andere Fragen haben nicht nur das Potenzial, Tiere neu und anders zu begreifen, sie ermöglichen zugleich einen anderen Zugang und ein neues Verständnis von Menschen. Damit wird es unter anderem möglich, menschliche Akteur_innen anders zu sehen, historische Entwicklungen als Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener Kräfte neu zu betrachten, die eigene Spezies als tätig im Zusammenhang sich stetig verändernder Mitakteur_innen auf dem Planeten Erde.24 Je nach Fragestellung und Zielsetzung verfügen die Kultur- und Sozialwissenschaften über ein beträchtliches Set methodischer Vorgehensweisen. Allerdings wurden diese Methoden ausschließlich mit Blick auf die Erforschung von Menschen und menschlichen Gesellschaften entwickelt, was mit Blick auf die Erforschung der Beziehungen zwischen im Einzelnen sehr verschiedenen Tieren und Menschen immer wieder Fragen nach Methodenanpassungen oder sogar der Entwicklung neuer Methoden aufwirft. So zeigt sich gerade im Bereich der Human-Animal Studies eine verstärkte Methodenreflexion (für den deutschsprachigen Raum früh z.B. Ullrich/Weltzien/Feltien 2008, besonders intensiv im Bereich der Critical Animal Studies z.B. Griffin 2014). Es ist hier ein deutliches Bestreben erkennbar, das bisherige Instrumentarium zu erweitern. Damit bergen die Human-Animal Studies auch das Potenzial, gegebene wissenschaftliche Herangehensweisen zu erneuern. In den Ethnowissenschaften bieten neuere Ansätze einer selbstreflexiven Ethnografie der Körper und Sinne hierfür wichtige Anknüpfungspunkte.
24 | Dazu, wie viele Impulse etwa eine Animate History den Geschichtswissenschaften etwa im Bereich der Emotionsforschung, der Geschlechterforschung, der Postcolonial Studies, Ökonomie und Wissenschaftsforschung zu geben vermag, vgl. z.B. G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann: Animate History.
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Z um B eispiel : E thnogr afie von M enschen und B ienen Bereits der Titel ihrer ethnografischen Studie über Imker_innen und Honigbienen in New York benennt den Zugang von Lisa Jean Moore und Mary Kosut: »Buzz« ist eine Ethnografie, in der mit allen menschlichen Sinnen geforscht wird (2013a). Eine Anthropologie der Sinne zielt unter anderem auf ein Verständnis der kulturellen Formung der Sinne sowie als Forschungsmethode auf eine Schärfung ihres Einsatzes als Erkenntnisinstrumente.25 Im Feld kulturwissenschaftlicher Bienenforschung heißt dies zum Beispiel (die derzeitige Annahme von fünf Sinnen in westlichen Gesellschaften als gegeben angenommen): das Hören des Summens oder des gelegentlichen Auf brausens der Bienen sowie der Worte und Klänge der Imker_innen, das Fühlen/Tasten der Wärme des Brutnestes oder den alarmierenden Schmerz des Bienenstichs, das Schmecken des Honigs, das Sehen des Kommens und Gehens der Bienen am Flugloch oder der Performanzen menschlicher Bienenfreund_innen, das Riechen von Honig und Propolis, das bei erfahrenen Imker_innen häufig spontan Wohlgefühle auslöst und ihre Bindung zu den Bienen ebenso schafft wie ausdrückt, oder des beißenden Rauches der Smoker. Dabei wirken die Sinneseindrücke oft zusammen, wenn etwa das Summen einen spezifischen Rhythmus ausmacht, der auch im menschlichen Körper als Vibration fühlbar wird.26 Nicht nur das Imkern selbst, auch die Forschung über Imkerei und Bienen wird damit zur ganzkörperlichen Erfahrung. Der Körper der Forschenden wird in diesem Prozess zu einem Instrument der Erhebung und des Verstehens ethnografischer Daten. 27 Er wird auch zu einem Werkzeug der Interspecies-Kommunikation, wenn etwa der Gebrauch von Parfüm, der Verzehr reifer Bananen, das Tragen dunkler Kleidung oder aber schnelle Bewegungen auf Seiten der Bienen Alarmstimmung und aggressive Angriffe erzeugen. Bienen »disziplinieren« so gesehen Imker_innen ebenso wie Forscher_innen und die Menschen lernen schnell, ihre Körpersprache zum Wohle einer freundlich verlaufenden Interspecies-Begegnung anzupassen. Das Tragen von Schutzkleidung, eines Schleiers und Imkerhutes oder von Arbeitshandschuhen werden so unter Umständen auch zu Symbolen von gewünschter Nähe und Distanz in der Mensch-Tier-Beziehung. Die Anthropologin Deborah Kapchan (2015) stellt im Zusammenhang ihrer »Slow Ethnography« Praktiken des »tiefen Zuhörens« (deep listening) 25 | Z.B. R. Bendix, Was über das Auge hinausgeht; Dies.: Sense, Scent and (Urban) Sensibility, S. 214-220; M. Herzfeld: Anthropology, S. 240-253; S. Pink: Doing Sensory Ethnography. 26 | L.J. Moore/M. Kosut: Buzz. 27 | R. Bendix: Was über das Auge hinausgeht; A. Schwanhäußer: Herumhängen, S. 88f.
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vor. Den Intentionen der Human-Animal Studies vergleichbar, geht es auch ihr dabei um eine Dezentrierung des Menschen, auch in dem Sinne, Erleben jenseits der im Zuge der Moderne geschulten Ratio zu ermöglichen. Auch andere Sinne ließen sich etwa durch den von Kapchan geschilderten interkulturellen Austausch vergleichbar neu ausrichten oder gar entdecken. Wenn Moore und Kosut in ihrer Mensch-Bienen-Ethnografie zunächst den bekannten Pluralismus ethnografischer Methoden einsetzen (u.a. teilnehmende Beobachtung der Mensch-Bienen-Interaktion, Interviews mit Imker_innen), so tun sie dies mit Blick auf die tierliche Spezies vor allem in der Absicht, die Möglichkeiten ihrer Herangehensweisen zu erweitern.28 Es geht ihnen um neue Formen der Aufmerksamkeit, die einen Zugang zu Bienen als Mitakteurinnen erlauben. Im Sinne einer »dichten« oder »aktiven Teilnahme«29 werden die Forscher_innen zugleich auch zu Imker_innen geschult. Die Forscherinnen sehen sie sich dabei konsequent als Mitagierende im Feld, als Teil der Interspecies-Entität im Sinne Bruno Latours (2010) oder einer »agentic assemblage« im Sinne Jane Bennetts (2010). Damit sehen sie sich nicht nur als den menschlichen Forschungspartner_innen gegenüber ethisch verantwortlich, sondern ebenso ihren tierlichen Gegenübern. Die von ihnen sogenannte »Intra-Species-Mindfulness« dient dabei auch dem Schutz vor einer Anthropomorphisierung der Bienen und damit vor deren Unterwerfung unter menschliche Sichtweisen.30 Ethnografien mit Insekten zeigen Chancen, aber in besonderem Maße auch die Grenzen kultur- und sozialwissenschaftlicher Mensch-Tier(e)-Forschung. Zwar lässt sich die Biene als Akteurin begreifen, ihre Wirkungsmacht auf vielerlei Art und Weise beschreiben. Ob in Gestalt des Genusses von Honig, der warmen beruhigenden Düfte des Brutnestes, der Angst vor dem Stachel oder aber der Faszination angesichts der Macht des Schwarms – Bienen bewegen die ihnen begegnenden Menschen. Und sie verändern die Menschen, der Interspecies-Austausch beeinflusst Imker_innen und Forscher_innen hinsichtlich ihrer Verortung in der Welt nachhaltig.31 Um hier jedoch eine Überlegung der Biologin Lynda Birke aufzunehmen: Was sagen die Bienen? Was wollen sie? Wer versteht sie überhaupt?32 Was Honigbienen brauchen, damit es ihnen gut geht, das ist eine Frage, die erst mit dem massenhaften Sterben dieser Art in das Bewusstsein der Menschen gerät. Aspekte des Tierwohls, in der sogenannten Nutztierhaltung nicht nur aus Sicht von Tierschützer_innen in der Bundesrepublik wie in anderen westlich geprägten Ländern defizitär 28 | L.J. Moore/M. Kosut: Buzz. 29 | J.K. Samudra: Memory in our Body. 30 | L.J. Moore/M. Kosut: Among the Colony. 31 | L.J. Moore/M.Kosut: Buzz; Dies.: Among the Colony. 32 | L. Birke: Listening to Voices, S. 71.
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ausgeprägt 33, werden im Falle der Bienen allenfalls in alternativen Imkermilieus diskutiert.34 Ethnografische Methoden geraten hier früher oder später an ihre Grenzen, zumindest wenn es um eine direkte Kommunikation mit den Tieren geht. Weiterführender ist es diesbezüglich, den Imker_innen zuzuhören und zuzusehen.35 Sie haben aufgrund ihres Erfahrungswissens und ihres Körperwissens einiges zum Thema beizusteuern. Die Frage nach dem Wohlbefinden der Bienen etwa interpretieren sie vor allem als Frage der imkerlichen Kunst. Große Winterverluste oder aber Schwarmverluste im Spätfrühjahr gelten demnach als deutliche Kommunikation, nämlich von imkerlichem Fehlverhalten, gleiches gilt für plötzlich aggressives Verhalten von ansonsten friedlichen Völkern (die nicht unter dem Einfluss von Insektiziden etc. stehen). Insbesondere Imker_innen, die das Wesen der Biene als Maßstab ihrer guten imkerlichen Praxis begreifen, nutzen Empathie als Zugang zu ihren Bienen. Sie versuchen, sich in die Lage einer Biene zu versetzen, arbeiten dabei mit Kenntnissen über deren Biologie und Wesen.36 So können sie zwar nicht direkt fragen, wie die Biene es möchte, wohl aber deren Verhalten und das Wissen über deren Bedürfnisse als indirekte Auskunft werten. Sich in die Biene zu versetzen, bedeutet mitunter auch den Beginn bewusster Kommunikation. Die Praxis des »Anklopfens« an der Beute vor Beginn der Beutendurchsicht etwa kann ebenso als Akt der Höflichkeit und des Respekts gegenüber den Bienen wie der Konzentrationshilfe für den/die Imker_in zu Beginn einer bewusst gelassenen und ruhigen körperlichen Interaktion gelesen werden. Tier(e)forschung ist damit immer auch Wissensforschung. Die beinhaltet die Beobachtung der Relevanz verschiedener Wissensarten im jeweiligen Untersuchungsfeld, aber aus Sicht der mit Blick auf das lebendige Tier eher weniger geschulten Kultur- und Sozialwissenschaften auch die Rezeption von Wissen aus naturwissenschaftlicher Forschung. Dies betrifft nicht nur den Erwerb von Kenntnissen etwa über die Biologie von Honigbienen oder von wissenschaftlichen Diskursen über das sogenannte Bienensterben und imkerliches Fachwissen, sondern auch zunehmend ein Vertrautmachen mit naturwissenschaftlichen Methoden.
33 | F.-T. Gottwald: Tiergerecht und fair? 34 | Dies ist vor allem Thema sogenannter wesensgemäßer Imkerei, z.B. 20 Jahre Demeter-Bienenhaltung: Was braucht die Honigbiene? Kassel, 27. und 28.03.2015, http://portal.mellifera.de/fix/doc/2015%20M%E4rz%20Einladung%20Demeter%20 Bienenhaltung.pdf (19.07.2015). 35 | Fenske, Michaela: Feldnotizen Projekt urbane Naturen, November 2014 – Juni 2015. 36 | Dies erinnert an die »kinesthetic empathy« von K. Shapiro: Human-Animal Studies, nach M. DeMello: Animals and Society, S. 20.
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Folgerichtig finden sich im Kontext der Human-Animal Studies zunehmend Studien, die kultur- und sozialwissenschaftliche mit naturwissenschaftlichen Methoden kombinieren, etwa Kombinationen von ethnologischen und ethologischen Herangehensweisen erproben.37 Ob dies aus Sicht der beteiligten Disziplinen zu befriedigenden Ergebnissen führt, bleibt abzuwarten. Wesentlich werden in diesem Zusammenhang im Übrigen auch die Diskussionen um angemessene Repräsentationen und die mediale Formatierung des neu gewonnenen Wissens sein. Mit Blick auf die Honigbienen ist bereits jetzt die Erkenntnis wesentlich, dass auch Kultur- und Sozialwissenschaften zu diesem Themenfeld Grundlegendes beizutragen haben, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Bienensterben als ein von Menschen gemachtes Problem gelesen werden kann.38 So gesehen stellen die Human-Animal Studies eine Art »contact zone« im Sinne der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt dar (1991) dar: soziale Räume des Austausches, die auch zwischen einander fremden Fachkulturen Lernprozesse ermöglichen.39 Was bedeutet dies nun konkret für möglichen Formen der Zusammenarbeit von Natur- und Agrarwissenschaften auf der einen sowie Kultur- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite?
V om »B oundary W ork« zu »C ommunities of P r actise «: I nterdisziplinarität als L ernprozess Der Biologe und Philosoph Thomas Potthast hat in seinem Kommentar auf dem diesem Beitrag zugrunde liegenden Workshop auf die Vielheit möglicher Interpretationen von Interdisziplinarität und auf ihren normativen Charakter aufmerksam gemacht. Das im vorliegenden Text vertretene Verständnis von Interdisziplinarität geht von einer fachübergreifenden Kooperation aus. Eine solche Kooperation ermöglicht im Kontext der Human-Animal Studies Innovationen hinsichtlich der Perspektiven und Methoden. Im Idealfall macht Interdisziplinarität im hier gemeinten Sinne nicht bei der Erklärung der eigenen Prämissen wissenschaftlichen Arbeitens halt (Perspektiven, Fragestellungen, Begriffe, Konzepte, Theorien und Methoden), sondern strebt die Entwicklung gemeinsamer Sichtweisen an. Wünschenswert ist insofern, dass die Akteur_ innen aus Natur-, Kultur-/Geistes- und Sozialwissenschaften in einem Projektzusammenhang nicht nur getrennt nebeneinander forschen, sondern sich in 37 | Z.B. L. Birke: Listening to Voices; G. Krüger/A. Steinbrecher/C. Wischermann: Animate History. 38 | S. Lorenz/K. Stark: Menschen und Bienen. 39 | Bereits Donna Haraway hat in ihren Arbeiten auf dem Feld der Human-Animal Studies wiederholt das Konzept der contact zone eingesetzt, vgl. z.B. D. Haraway: Contact Zone.
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den jeweils begründeten disziplinär übergreifenden Forschungszusammenhängen auch teilweise verbinden und zueinander in Bezug setzen. Die Tiere der Anderen werden dabei immer weniger im Verständnis der Soziologie als »Boundary Object«40 genutzt − etwa insofern, als an einem interdisziplinären Verbund beteiligte Agrarwissenschaftler_innen für lebende Tiere und Theolog_innen oder Religionswissenschaftler_innen für tierliche Repräsentationen zuständig sind. Stattdessen gilt es, gemeinsam eine »Community of Practise«41 zu entwickeln, mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Praktiken und Routinen, mit bewusster Reflexion von Differenz und Gemeinsamkeit. Gerade fakultätsübergreifende Zusammenarbeit von einander in wissenschaftlichem Verständnis, Praxis und Habitus vergleichsweise fremden Disziplinen bedarf Raum und Zeit für die mit dieser Zusammenarbeit verbundenen Kommunikationsprozesse. Unter dem Stichwort »nachhaltige Interdisziplinarität« hat die Göttinger Forschergruppe »Cultural Property« ihre diesbezüglichen Erfahrungen als Beitrag zur neuen Wissensforschung dokumentiert und analysiert.42 Ihren Beobachtungen zufolge wird die gemeinsame Forschung in solchen fakultätsübergreifenden Verbünden auch zum Prozess sozialer Aushandlung. Sie empfehlen daher eine starke Einbindung von Nachwuchswissenschaftler_innen in diese Prozesse sowie die Bereitstellung verschiedener sozialer Räume als Orte der Aushandlung. Workshops, Tagungen, Gruppendiskussionen, aber auch gemeinsame Mahlzeiten und andere eher informelle Treffen erleichtern demnach den Austausch und das gegenseitige Verständnis. Die Human-Animal Studies eröffnen die Möglichkeit zu einem fakultätsübergreifenden interdisziplinären Austausch sowohl zwischen Kultur-/Geistes- und Sozialwissenschaften untereinander als auch fakultätsübergreifend zwischen diesen Disziplinen und den Natur- und Agrarwissenschaften. Letzteres ermöglicht auch neue Begegnungen mit Tieren. Mit jenen Tieren etwa, die scheinbar fern der Texte und Bilder leben und doch von menschlichen Vorstellungen und menschlichem Handeln zutiefst betroffen sind. Für die Kultur- und Sozialwissenschaften kann dies unter anderem eine stärkere Reintegration auch des lebenden Tiers in ihr Nachdenken bedeuten. Umgekehrt bietet sich Natur- und Agrarwissenschaften ein neuer Zugang zum scheinbar Bekannten aufgrund der aus ethnologischer Sicht für Erkenntnis wesentlichen Fremdheitserfahrungen im Austausch, aber auch aufgrund des Wissens um die Entwürfe und das permanente Werden dessen, was Tiere und Menschen in Zeit und Raum ausmacht. Das Wagnis und die Beharrlichkeit einer so verstandenen Interdisziplinarität könnten am Ende andere Tiere erschaffen und 40 | S. Leigh Star/J.R. Griesemer: Institutional Ecology. 41 | J. Lave/E. Wenger: Situated Learning. 42 | R. Bendix/K. Bizer: Verbundförderung; R. Bendix/K. Bizer/D. Noyes: Soustainable Interdisciplinarity.
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in ein anderes Verständnis dessen, was es bedeuten kann, Mensch und Tier zu sein, münden.
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Bildnachweis
Yvonne Sophie Thöne Abb. 1 und 2: Schroer, Silvia: Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Freiburg i.Br.: Herder 2010, S. 136 und S. 137. Abb. 3: Layard, A.H.: Nineveh und Babylon nebst Beschreibung seiner Reisen in Armenien, Kurdistan und der Wüste, Leipzig 1856, Taf XIV N. Silke Förschler Abb. 1: René Réaumur, Mémoires pour servir à l’histoire des insectes, Tome Premier, Sur les Chenilles & sur les Papillons, Paris 1734, S. 1 Abb. 2 und 3: Gustave Loisel, Histoire des Ménageries de l’Antiquité a nos jours, temps modernes XVIIe et XVIIIe siècle, Paris 1912, Planche XI & Planche XIII Sven König/Laura Santos Abb. 1: Änderungen in der Merkmalsgewichtung des Gesamtzuchtwertes (RZG) (Quelle: Deutscher Holstein Verband 2013) Felix Schürmann Abb. 1: Robert & William Carr-Hartley Abb. 2: © Prof. Bernhard Grzimek/OKAPIA Abb. 3: Felix Schürmann Abb. 4: Felix Schürmann Ute Knierim/Asja Ebinghaus Abb. 1: Beispiel einer hohen Korrelation bei systematischen Beobachtungsunterschieden. Quelle: Ute Knierim Abb. 2: Streudiagramm zum Beobachterabgleich der AD im Fressgitter, Pearson-Korrelation und Steigung (y), n = 84. Quelle: Asja Ebinghaus
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Anna-Theresa Kölczer/Susanne Schul Abb. 1: Universitätsbibliothek Heidelberg, Konrad von Megenberg: Buch der Natur; Johannes Hartlieb: Kräuterbuch (Cod. Pal. germ. 311); fol. 104r: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg311/0217 (letzter Zugriff 09.09.2015). Abb. 2: The Bodleian Library, University of Oxford, MS Bodley 602, fol. 20r. Abb. 3: ©Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 545, fol. 231r. Christian Presche/Daniel Wolf Abb. 1: Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK), Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.-Nr. GK 1114. Abb. 2 und 3: Ausschnitte aus Abb. 1. Abb. 4: Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK), Graphische Sammlung, Inv.-Nr. GS 14516; bearb. Verf. Abb. 5: akg-images, Bildnr. AKG 210872
Zu den Autor_innen
Birgit Benzing, Dipl.-Biol., M.A., studierte Biologie und Philosophie in Konstanz und Bielefeld. Nach mehrjähriger Tätigkeit im internationalen Artenschutz befasste sie sich in ihrer Magisterarbeit mit Artenschutz als Legitimation von zoologischen Gärten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Naturschutzethik und Ethologie. Zurzeit befasst sie sich mit methodischen und methodologischen Fragen der Tierwohlforschung. Sie ist Koautorin des Gutachtens »Gerechtigkeitsfragen im Naturschutz« im Auftrag des BfN. Asja Ebinghaus studierte Ökologische Landwirtschaft an der Universität Kassel, Witzenhausen. Im Rahmen ihrer Promotion im Bereich Wohlergehen von Milchkühen beschäftigt sie sich derzeit insbesondere mit der Eignung verschiedener Verhaltensmessgrößen zur Untersuchung der Mensch-Tier-Beziehung. Michaela Fenske, PD Dr., forscht und lehrt derzeit im Rahmen eines Heisenbergstipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität in Berlin. Zu den Fragen, die sie aktuell im Bereich der Human-Animal Studies und Multispecies Ethnography interessieren, gehört, wie Menschen und Tiere im Kontext von »Ländlichkeit« in Stadt und Land zusammenwirken. Silke Förschler, Dr. phil., ist seit 2014 wiss. Mitarbeiterin im LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel. Derzeit arbeitet sie an einer kunsthistorischen Habilitation mit dem Titel »Bildpraktiken der Lebendigkeit als Ordnungsmuster von Natur«. 2010 erschien die Dissertation Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch im Reimer Verlag Berlin. Christopher Hilbert hat an der Universität Kassel Philosophie, Soziologie und Kunstwissenschaft auf Magister studiert. Gegenwärtig ist er im dortigen LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« tätig und befasst sich
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mit der Methodik und Methodologie der Erforschung des Wohlbefindens von Nutztieren. Ute Knierim, Prof. Dr., leitet das Fachgebiet Nutztierethologie und Tierhaltung im Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften an der Universität Kassel in Witzenhausen. Sie ist Tierärztin und spezialisiert auf die Bereiche Verhaltenskunde und Tierschutz. Kristian Köchy, Dr. phil., Dr. rer. nat, ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Wissenschaftsphilosophie und Geschichte der Lebenswissenschaften, der Naturphilosophie sowie der Philosophie der Tier-Mensch-Beziehungen. Seit einigen Jahren bündeln sich diese Interessen unter dem Dach einer ›Integrativen Biophilosophie‹, die auch klassische Positionen einer phänomenologisch ausgerichteten Reflexion über Phänomene des Lebendigen (Helmuth Plessner, Hans Jonas, Maurice Merleau-Ponty) einbindet. 2003 erschien seine Monografie Perspektiven des Organischen, 2008 die Einführung Biophilosophie. André Krebber, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen (HAS) an der Universität Kassel und Mitglied im LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft«. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit und der Neueren und Neuesten Geschichte und den Human-Animal Studies. Zurzeit verfolgt er den Umgang mit tierlicher Agency und Spontanität – insbesondere, wie sie sich in ästhetisch erscheinendem Verhalten von Tieren andeutet – in Evolutionswissenschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Anna-Theresa Kölczer studierte Germanistik und Kunstwissenschaft an der Universität Kassel und ist dort seit 2014 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet der Germanistischen Mediävistik im LOEWE Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte und derzeitigen Interessen liegen im Bereich literarischer Tier-Mensch-Verhältnisse in den Natur- und Tierkunden des Mittelalters und im Höfischen Roman sowie in deren Handschriftenillustrationen. Zurzeit schreibt sie an einer Dissertation zum Buch der Natur Konrads von Megenberg. Sven König, Prof. Dr., hat am Institut für Tierzucht und Haustiergenetik zu züchterischen Fragestellungen bei Milchrindern promoviert und habilitiert. Im Anschluss daran war er für ein Jahr wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Animal Science der Universität Guelph, Kanada, und drei Jahre
Zu den Autor_innen
Arbeitsgruppenleiter für Biometrie und Agrarinformatik an der Universität Göttingen. Seit Oktober 2010 ist er Professor für Tierzucht am Fachbereich ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung von züchterischen Strategien für funktionale Merkmale mittels quantitativ-genetischer Methoden unter Berücksichtigung von molekulargenetischer Information. Stephanie Milling ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet an einer Promotion zu Tiertötungen in der zeitgenössischen Kunst. Mit einer Masterarbeit zu »Mensch und Tier im Spannungsfeld der Biotech Art« schloss sie 2012 ihr Studium an der KU Eichstätt und der Université de Montréal ab. Ihr Interesse gilt den Grenzbereichen, in denen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaftspolitik aufeinandertreffen. Christian Presche, Dr. phil., forscht im LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« über künstlerische Tierdarstellungen und Tier-Mensch-Beziehungen in Barockzeit und Aufklärung in Hessen. Seine Schwerpunkte sind außerdem Architektur- und Stadtbaugeschichte sowie die Geschichte Kassels und Hessens. Er promovierte über »Kassel im Mittelalter« und verband dabei historische Forschung mit bau- und stadtbaugeschichtlichen Untersuchungen über Planungs- und Entwurfskonzepte des 12.-14. Jahrhunderts. Mieke Roscher, Prof. Dr., ist Juniorprofessorin für die Geschichte von TierMensch-Beziehungen an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Neuere und Neueste Geschichte Großbritanniens, die britische Kolonialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Tiergeschichte und Human-Animal Studies. 2009 erschien ihr Buch Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung. Wiebke Maria Reinert studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Europäische Ethnologie und Konfliktforschung in Kiel, Freiburg und Marburg. Nach längerer Beschäftigung mit Geschichte und Gegenwart des sozialen Wohnungsbaus in der DDR im Rahmen ihres Studiumsabschlusses kuratierte sie zwei kleine Ausstellungen und war in Marburg und Wien als Lehrassistentin und wissenschaftliche Projektmitarbeiterin tätig. Seit 2014 arbeitet sie am Kasseler LOEWE-Schwerpunkt an einer Dissertation zur Berufsgruppe der Wärter und Pfleger_innen in Zoologischen Gärten (ca. 1860-1960). Laura Santos studierte Agrarwissenschaften an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Master Schwerpunkt in Tierwissenschaften. Derzeit ist sie im Rahmen einer Doktorarbeit im LOEWE-Projekt engagiert. Forschungsschwerpunkt hier ist die Evaluierung von züchterischen Strategien auf
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das Verhalten von Milchkühen unter Berücksichtigung innovativer Merkmale der Mensch-Tier-Beziehung. Susanne Schul, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel im Fachgebiet der Germanistischen Mediävistik und Postdoktorandin des LOEWE-Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Gender Studies, Intersektionalitätsforschung, Human-Animal Studies, Medienkomparatistik und Narratologie mit Bezug auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur und deren neuzeitlicher Rezeption. Felix Schürmann, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« der Universität Kassel. Studium der Geschichte und Germanistik in Hannover und Amherst; Lehrbeauftragter an der Gutenberg-Universität Mainz; Promotionsstipendiat am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt und am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz; freier Mitarbeiter und Kurator am Deutschen Filminstitut. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte Afrikas vom 18. bis 20. Jahrhundert, maritime Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert, Geschichte des frühen Films. Yvonne Sophie Thöne, Dr. phil., ist Alttestamentlerin und derzeit PostDoc im Loewe-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« mit einem Projekt zu Tierordnungen in der Tora. 2012 erschien ihre Dissertation Liebe zwischen Stadt und Feld. Raum und Geschlecht im Hohelied. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Liebe, Körperwahrnehmung und Sexualität im Alten Testament, biblische Tierethik, Feministische Exegese, Narratologie und Ikonographie. Daniel Wolf studierte Soziologie, Philosophie und Kunstwissenschaft in Göttingen und Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst- und Bildtheorie. Vor diesem Hintergrund arbeitet er derzeit an der Frage nach der Relevanz von Bildern für das Tier-Mensch-Verhältnis zwischen Aufklärung und Postmoderne, wozu er u.a. historische wie auch zeitgenössische Sammlungs- und Präsentationsstrukturen in Kassel erforscht. Dabei gilt sein Interesse auch dem tierischen Potenzial zur aktiven Teilnahme an Prozessen der Bildentstehung und -rezeption. Matthias Wunsch, Dr. phil., ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Wuppertal. An der Universität Kassel leitet er das DFG-Projekt »Personale Lebensform und objektiver Geist« und ist Mitglied des LOEWE Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft«. Seine Schwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Person, der Philosophischen Anthropologie, der Kant-
Zu den Autor_innen
forschung sowie der Kultur-, Sozial- und Wissenschaftsphilosophie. 2014 erschien seine Monographie Fragen nach dem Menschen. LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung«, Universität Kassel Postanschrift: Mosenthalstraße 8, 34109 Kassel Homepage: www.uni-kassel.de/go/tier-mensch-gesellschaft Sprecher: Prof. Dr. Winfried Speitkamp, Koordination: Sonja Dinter
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Human-Animal Studies Philipp von Gall Tierschutz als Agrarpolitik Wie das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg bereitete Januar 2016, 314 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3399-3
Annette Bühler-Dietrich, Michael Weingarten (Hg.) Topos Tier Neue Gestaltungen des Tier-Mensch- Verhältnisses 2015, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2860-9
Sven Wirth, Anett Laue, Markus Kurth, Katharina Dornenzweig, Leonie Bossert, Karsten Balgar (Hg.) Das Handeln der Tiere Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies 2015, 272 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3226-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Human-Animal Studies Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2232-4
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Tiere Bilder Ökonomien Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies 2013, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2557-8
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de