Philosophieren mit Comics und Graphic Novels: Methoden für den Philosophie- und Ethikunterricht 3787336524, 9783787336524

Der vorliegende Band liefert auf der Basis einiger in die Thematik einführender Bemerkungen der Herausgeber einen Theori

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German Pages 248 [247] Year 2021

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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG. Der lange Weg von Comics und Graphic Novelsin den Philosophie- und Ethikunterricht (Martina Peters und Jörg Peters)
Pädagogische Auswirkungen
Philosophisch oder ethisch ausgerichtete Comics
Zum Aufbau des Buches
1. WIE COMICS UND GRAPHIC NOVELS IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT EINGESETZT WERDEN KÖNNEN
Einige philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics (Jörg Peters)
Präsentative Medien
Comics werden im Philosophie- bzw. Ethikunterricht bislang nur wenig genutzt
Die Bedeutung von Comics für den Philosophie- und Ethikunterricht
Wann und wie sollte man Comics im Unterricht einsetzen?
Wo steht die philosophische Comic-Forschung?
Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht (Sven Dallmann)
Zum Begriff »Graphic Novel«
Autobiographische Comics und Graphic Novels
Comic-Adaptionen philosophischer Texte
Superhelden-Comics
Weitere Genres
M1 Craig Thompson: Blankets
M2 Ralf König: Prototyp
M3 Brian M. Bendis: House of M
2. MÖGLICHKEITEN FÜR DEN EINSATZ VON COMICS UND GRAPHIC NOVELS IN DER SEKUNDARSTUFE I
Die Graphic Novel "Sprechende Hände" als(philosophischer) Zugang zur Welt (Regina Uhtes)
Helen Kellers Weg aus dem Bewusstseinsdunkel in dieWelt der Begrifflichkeit
Thematischer Bezug und didaktische Einbettung
Die Graphic Novel Sprechende Hände im Unterricht
Initiierung von Bildungsprozessen
M1 Bewusstseinsdunkel
M2 Verständigung
M3 Ernst Cassirer: Die Vorstellungswelt des Menschen basiert auf Sprache
M4 Sprache
M5 Helen Keller: Wasser
M6 Ernst Cassirer: Sprache als Mittel für den Aufbau von Gefühls- und Willensregungen
Glück für 10 Cent. Philosophieren mit Bill Wattersons Calvin und Hobbes (Sven Dallmann)
Calvin und Hobbes als Zeitungsstrip
Philosophisches Potential von Calvin und Hobbes
Der Einsatz von Calvin und Hobbes im Philosophie- und Ethikunterricht
M1 Der Duplikator
M2 Das Duplikat
M3 Der Duplikator brennt durch
M4 Die Duplikate und ihre Schandtaten
The Golden Rule goes Comic. Zwei Unterrichtsskizzen für die Sekundarstufen I und II (Antje Knopf)
Zum Gegenstand – Deutungsmöglichkeiten der Goldenen Regel
Zur Kritik der Goldenen Regel in der Sekundarstufe I
Zum Verhältnis von Goldener Regel und Kategorischem Imperativ
M1 Nadia Hermann: Gar nicht so einfach – die Anwendung der Goldenen Regel
M2 Julian Baggini: Wie das »Wollen« in der Goldenen Regel verstanden werden muss
M3 Hans Reiner: Die Goldene Regel als Gebot der Klugheit
M4 Immanuel Kant: Imperative als objektiv geltende Handlungsnormen (Sek II)
M5 Immanuel Kant: Die Goldene Regel kann kein allgemeines Gesetz sein (Sek II)
M6 Hans-Ulrich Hoche: Die verallgemeinerte Form der Goldenen Regel (Sek II)
M7 Rathschek: Wird die Goldene Regel dank einer Ergänzung zum Kategorischen Imperativ?
3. MÖGLICHKEITEN FÜR DEN EINSATZ VON COMICS UND GRAPHIC NOVELS IN DER SEKUNDARSTUFE II
Realität versus Illusion. Über Merkmale, die zu einem gelingenden Leben beitragen –Philosophieren mit der Graphic Novel The Sandman (Carsten Roeger, Martina Peters und Jörg Peters)
The Sandman – einst und jetzt
Die Ewigen – Dream und seine Geschwister
Illusion als Lebensglück
Resümee
M1 Sandman: Der Kaiser von Amerika
M2 Robert Nozick: Die Erfahrungsmaschine
M3 Der König der Schmerzen
M4 Epikur: Brief an Menoikeus
V wie Vendetta. Ist anarchistische Gewalt als Widerstand gegen Tyrannei gerechtfertigt? (Jens Schäfer)
Worum geht es in V wie Vendetta?
Warum V wie Vendetta im Philosophieunterricht?
Anwendungsbeispiel: Faschismus und Anarchismus als konträre Versionen
Welche Möglichkeiten bieten sich bei der Erschließung dieses Kapitels im Philosophieunterricht?
Fazit
M1 V wie Vendetta – Kapitel 5: Versionen
M2 Eric J. Hobsbawm: Was kann man noch vom Anarchismus lernen?
M3 Johann Most: Es lebe der Tyrannenmord (1881)
Kendalls Gewissen – ein Anwendungsfall der Ethik Kants? (Michael Segets)
Vorüberlegungen
Zum Unterrichtsgegenstand
Zu den unterrichtlichen Voraussetzungen
Zum Unterrichtsverlauf
M1 Arturo del Castillo: Zwei Schuldige?
M2 Arturo del Castillo: Der Richter
M3 Immanuel Kant: Das Gewissen als innerer Gerichtshof
M 4 Immanuel Kant: Zur Reue
M 5 Immanuel Kant: Das Gewissen als Leitfaden
M6 Arturo del Castillo: Die Verhaftung
M7 Immanuel Kant: Der gute Wille
M8 Arturo del Castillo: Die Auflösung
Wem gehört die Natur?Ethische und rechtliche Reformen als Wege aus der ökologischen Krise (Michael Segets)
Vorüberlegungen
Zum Unterrichtsgegenstand
Zum Unterrichtsverlauf
M1 Einheit mit der Natur
M2 Häuptling Seattle: Wir sind ein Teil der Natur
M3 Holistisches und anthropozentrisches Weltbild
M 4 John Passmore: Der Mensch kann die Natur nicht zerstören14
M5 Dietmar von der Pfordten: Glaube und Rationalität
M6 Friedrich Rapp: Versachlichung der Welt
M7 Eckhard Meinberg: Anthropozentrismus
M8 Jean-Jacques Rousseau: Zur Entstehung des Eigentums
M9 Héctor Zagal/José Galindo: Ökologie und die Grenzen des Privateigentums
M10 Otfried Höffe: Selbstinteresse und Selbstschädigung
M11 Dieter Birnbacher: Der Klimawandel – eine Herausforderung für Moral und Ethik
Bilder von der Welt. Erkenntnistheoretische Überlegungen mit der Graphic Novel "Ganz allein" von Chabouté (Sven Dallmann)
Die gesellschaftliche Wirklichkeit
Comics »lesen« als aktiver ganzheitlicher Prozess
Umgang mit Medien einüben
Philosophische Relevanz und Stereotype
"Ganz allein" im Unterricht
Weitere Passagen für den Unterrichtseinsatz
M1 Der Leuchtturm und das Festland
M2 Der Lexikonartikel
M3 Fotos von der Welt
M4 Die Seemänner
4. WEITERE MÖGLICHKEITEN IM UMGANG MIT COMICS IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT
Der Blick des Anderen. Anregungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comic-Creator-Apps (Anna Klara Jatzkowski)
Der Blick des Anderen
Legitimation des Einsatzes von Bildbearbeitungs-Apps
Die Einsatzmöglichkeiten von Comic Creator Apps
Hinführung und Fokussierung der Problemstellung
Produktionsorientierter Umgang mit der Comic-Creator-App
Der Einsatz von Comic-Creator-Apps als Überprüfungswerkzeug
M1 Anna Klara Jatzkowski: Der Blick des Anderen
M2 Jean-Paul Sartre: Der Blick
Mit Snoopy und Co. ins Abitur. Zum Einsatz von Comicstrips im Fach Philosophie (Mandy Haupt)
Comicstrips im Abitur des Faches Philosophie
Vorschläge für Abituraufgaben
M1 Was ist der Mensch? – Anthropologie
M2 Was soll ich tun? – Moralphilosophie
M3 Was kann ich wissen? – Erkenntnistheorie
M4 Was darf ich hoffen? – Metaphysik
Auswahlbibliographie
Recommend Papers

Philosophieren mit Comics und Graphic Novels: Methoden für den Philosophie- und Ethikunterricht
 3787336524, 9783787336524

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PHILOSOPHIEREN MIT COMICS UND GRAPHIC NOVELS – METHODEN IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT – Herausgegeben von Martina und Jörg Peters

Band 4

Die Reihe Methoden im Philosophie- und E ­ thikunterricht ist auf neun ­Themenbände angelegt, die bis 2023 erscheinen werden: 1

Philosophieren mit Filmen im Unterricht (bereits erschienen)

2 Philosophieren mit Gedankenexperimenten (bereits erschienen) 3

Philosophieren mit Dilemmata (bereits erschienen)

4 Philosophieren mit Comics und Graphic Novels 5 Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht 6 Philosophieren mit Spielen 7

Literatur und Jugendliteratur im Philo­sophie- und Ethikunterricht

8 Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht 9

 heatrales Philosophieren, Musik und Video­clips im PhilosophieT und ­Ethikunterricht



Ausführliche Informationen unter:  www.philosophie-didaktik.de

PHILOSOPHIEREN MIT COMICS UND GR APHIC NOVELS ME THODEN IM PHILOSOPHIE- UND E THIKUNTERRICHT – Band 4

– Herausgegeben von Martina und Jörg Peters

– Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen ­Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­gra­phi­sche Daten sind im Internet a ­ brufbar über ‹https://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-3652-4 · ISBN eBook 978-3-7873-3660-9

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2021. Alle Rechte vor­­behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro­ver­fil­mungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Layout, Satz: Jens-Sören Mann. Gesamtherstellung: Printing Solu­ tions, Toruń. Printed in Poland.

INHALT

Einführung: Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den ­Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Martina Peters und Jörg Peters

1 

Wie Comics und Graphic Novels im Philosophie- und Ethik­unter­richt ­eingesetzt werden können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Einige philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Jörg Peters

Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sven Dallmann

2 

Möglichkeiten für den Einsatz von Comics und Graphic Novels in der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die Graphic Novel Sprechende Hände als (­ philosophischer) Zugang zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Regina Uhtes

Glück für 10 Cent – Philosophieren mit Bill Wattersons Calvin und Hobbes . 81 Sven Dallmann

The Golden Rule goes Comic – Zwei Unterrichtsskizzen für die ­ Sekundarstufen I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Antje Knopf

3  

Möglichkeiten für den Einsatz von Comics und Graphic Novels in der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Realität versus Illusion – Über Merkmale, die zu einem gelingenden Leben beitragen. Philosophieren mit der Graphic Novel The Sandman . . . 115 Carsten Roeger, Martina Peters und Jörg Peters

V wie Vendetta – Ist anarchistische Gewalt als Widerstand gegen Tyrannei ­gerechtfertigt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Jens Schäfer

6 Inhalt

Kendalls Gewissen – ein Anwendungsfall der Ethik Kants?. . . . . . . . . . . . . . 143 Michael Segets

Wem gehört die Natur? – Ethische und rechtliche Reformen als Wege aus der ökologischen Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Michael Segets

Bilder von der Welt – Erkenntnistheoretische Überlegungen mit der Graphic Novel Ganz allein von Chabouté. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Sven Dallmann

4

 eitere Möglichkeiten im Umgang mit Comics im PhilosophieW und Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der Blick des Anderen – Anregungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comic-Creator-Apps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Anna Klara Jatzkowski

Mit Snoopy und Co. ins Abitur – Zum Einsatz von Comicstrips im Fach ­Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Mandy Haupt

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

EINFÜHRUNG Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den Philosophie- und Ethikunterricht Martina Peters und Jörg Peters

 A

m 14. Januar 2021 meldeten amerikanische Medien, dass eine der noch wenigen existierenden Comic-Heftausgaben von Batman #1 aus dem Jahre 1940 in einer nahezu druckfrischen Qualität (Near Mint) im Auktionshaus Heritage zum Rekordpreis von $ 2.200.000 USD ersteigert worden war.1 Nur sechs Wochen später, am 7. April 2021, verkündete die amerikanische Tageszeitung USA Today: »A rare, high-grade copy of Action Comics #1, the issue featuring Superman’s first appearance, sold for a record $ 3.25 million in a private sale«. 2 Der Wert des sowieso schon teuersten Comic-Heftes der Welt war somit noch einmal um $ 50.000 USD gestiegen. Man kann mit großer Gewissheit davon ausgehen, dass ein Ende der Spekulationen mit Comics noch lange nicht gekommen ist – immer mehr Investoren entdecken den Comic-Markt für sich als Spielfeld. Das ökonomische Interesse an Comics ist derzeit folglich sehr groß. Schaut man sich im Internet auf den Angebotsseiten für Comics in Auktionshäusern um, so stellt man schnell fest, dass nahezu täglich selbst für unspektakuläre Heftnummern aus allen Zeitaltern 3 und allen Genres 4 neue Höchstpreise gezahlt werden. Selbst Comics, die mit dreißig Jahren noch recht »jung« sind, werden mittlerweile zum Teil zu Preisen verkauft, die selbst von Sammlern rational nicht mehr nachvollzogen werden können. So betitelt Chuck Rozanski, der Eigentümer des größten Comic-­Geschäfts der Welt, seinen Newsletter vom 17.04.2021 mit den Worten: »Back Issue Comics Boom Explodes«. Rozanski betont mit seiner plakativen Überschrift,

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3



4

Vgl. beispielsweise Stoilas, Helen: »Holy hammer! Near mint copy of Batman #1 sells for record $2.2m at Heritage Auctions«, in: The Art Newspaper, January 14, 2021, auf: https://www.theartnewspaper.com/news/near-mint-copy-of-batman-1-sells-for-record-usd2–2m-at-heritage-auctions (Stand: 17.04.2021). Associated Press: »Rare 1938 Superman comic book sells for record $3.25M«, in: USA Today, April 07, 2021, auf: https://eu.usatoday.com/story/entertainment/books/2021/04/06/rare-1938-superman-comic-book-sells-record-auction/7117029002/ (Stand: 17.4.2021). Will man Comics bestimmten Zeitaltern zuordnen, so kann man dies grob anhand folgender Einteilung vornehmen: The Golden Age (1938–1950), The Silver Age (1950–1971), The Bronze Age (1971–1980), The Modern Age (1980 bis heute). Zu den wichtigsten Genres zählen: Superhelden-Comics; Funnies; Abenteuer-Comics; Western-­ Comics; Grusel-, Spuk- und Horror-Comics; Crime-Comics; Kriegs-Comics; Fantasy-Comics; Science-Fiction-Comics; Love- and Romance-Comics; Vampir-Comics; Musik-Comics sowie Film- und TV-­Adaptionen.

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Martina Peters und Jörg Peters

dass die derzeitige extrem hohe Nachfrage (Boom) nach alten, vergriffenen Comics (Back Issue Comics) aus den Fugen geraten ist, und verweist darauf, dass keiner sagen kann, wo der durch die »Explosion« entstandene Weg hinführen wird. R ­ ozanski meint, den derzeitigen Ansturm auf Comics unter anderem folgendermaßen erklären zu können: »As crazy as it may seem to those of us who lived through the mass overprintings of the late 1980’s and early 1990’s, many titles from that era are now in high demand, especially by the legion of young collectors who are suddenly buying up everything in sight. For most of them (many of whom were born after 2000...), comics from 1993 are OLD!« 5 Aber woher kommt das große und immer größer werdende Interesse an Comics – und zwar nicht nur als Spekulationsobjekt –, das sich seit einigen Jahren beobachten lässt? Noch vor 25 bis 30 Jahren zeichnete sich nämlich ein ganz anderes Bild: Aufgrund dramatisch sinkender Verkaufszahlen über Monate hinweg bei gleichzeitiger Beibehaltung viel zu hoher Druckauflagen wären beinahe sämtliche Comic-Verlage aufgrund erheblicher finanzieller Verluste gänzlich von der medialen Bildfläche verschwunden gewesen. Die Comic-Industrie bediente zu dieser Zeit einen Markt mit schnell produzierter Massenware zum Teil in Millionenauflagen, bis sich die Käuferinnen und Käufer von heute auf morgen von den Bildergeschichten abwandten. Die Verkaufszahlen ließen so rapide nach, weil die Leserinnen und Leser merkten, dass viele Geschichten 1. inzwischen einfach nur noch trivial und zudem nur wenig amüsant waren, 2. künstlerisch nicht überzeugen konnten, 3. kaum Identifikationsmöglichkeiten (für Jugendliche) schufen und 4. praktisch keine kontroversen, politischen, sozialkritischen oder gar philosophischen Themen anboten. Doch zu Beginn des neuen Jahrtausends änderte sich die Lage: Comics waren auf einmal wieder begehrt. Ja, Comics haben in den letzten fünfzehn Jahren zu einem wahren Höhenflug angesetzt, dessen Ende zumindest derzeit nicht absehbar ist. Die Gründe für den enormen Erfolg sind leicht auszumachen: 1. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre konnte weltweit mit dem Export der japanischen Manga in die westliche Welt insbesondere die weibliche Käuferschaft für Bildergeschichten gewonnen werden, während bis zu diesem Zeitpunkt Comics (vor allem amerikanische) primär von einer männlichen Kundschaft konsumiert wurden. 2. Graphic Novels, denen man oft sowohl literarisch als auch künstlerisch eine hohe Qualität attestierte, wurden immer populärer. Hinzu kam, dass in ihnen Themen aufgegriffen wurden, die sich deutlich vom Superhero-Mainstream der großen Comic-Verlage unterschieden. Man denke hierbei beispielsweise nur an Art Spiegelmans Maus oder Marjane Satrapis Persopolis. Auf diese Weise konnte einerseits ein neues Käuferklientel generiert und andererseits den Comics endlich jene explizite Anerkennung als Kunstform zuteilwerden, die sie eigentlich schon lange verdient hatten.6

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6

Chuck Rozanski/Bettie Pages; President of Mile High Comics: »Back Issue Comics Boom Explodes«, Newletter from Mile High Comics Mailing List, April 16, 2021 (Stand: 17.04.2021). Vgl. Gentz, Anna: Wenn Literaten fremdgehen. Ausflüge in das Medium Comic am Beispiel Julio



Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den Philosophie- und Ethikunterricht

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3. Auch der bis heute andauernde Erfolg von DC- und Marvel-Comic-Verfilmungen hat fraglos dazu beigetragen, dass Comics wieder gelesen und gesammelt werden: Bislang gibt es 34 DC- und 23 Marvel-Comic-Verfilmungen (Stand Dezember 2020). Mit Avengers – Endgame stellt eine Comic-Verfilmung, die ein weltweites Einspielergebnis von $ 2.798.000.000 USD vorweisen kann, den derzeit erfolgreichsten Film aller Zeiten (Stand Dezember 2020). Hinzu kommt, dass sich unter den Top 100 der Filme mit den höchsten Einspielergebnissen 23 weitere ComicVerfilmungen befinden und sie somit nahezu ein Viertel der umsatzstärksten Filme ausmachen.7 Es wäre geradezu unverständlich, wenn ein solcher Triumph keine spürbaren Auswirkungen auf das Kaufverhalten von Comicheften selbst gehabt hätte. 4. Schließlich hat auch die nicht nur in den USA beliebte Sitcom Big Bang Theory, in der die nerdigen Protagonisten seit frühester Jugend den DC-Superhelden verfallen sind (allen voran Batman, Superman, Green Lantern und Flash) 8 , einen erheblichen Anteil an dem derzeitigen Comic-Boom. Durch den häufigen Aufenthalt der Hauptfiguren in einem Comic-Shop sind zum einen zahlreiche Amerikanerinnen und Amerikaner animiert worden, selbst einen solchen aufzusuchen, zum anderen hat sich dadurch der Umgang mit Comics grundsätzlich geändert, denn das Lesen der Hefte wurde mit einem Mal nicht mehr belächelt, sondern als gesellschaftsfähig und intellektuell angesehen.

  Pädagogische Auswirkungen Mit dem um die Jahrtausendwende neu einsetzenden Comic-Boom begann auf einmal auch die Wissenschaft, sich mehr und mehr ernsthaft für das Medium Comic Book zu interessieren. Zwar gab es schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Comic-Forschung, die jedoch oftmals dazu benutzt wurde, Comics zu diskreditieren. Zum lange Zeit vorherrschenden schlechten Ruf der Comics trug in besonderem Maße der deutsch-amerikanische Psychiater Fredric Wertham mit seinem 1954 erschienenen Buch Seduction of the Innocent bei.9 Wertham kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass Comics Teufelswerk seien, zur Jugendkriminalität, Gewaltverherrlichung und Amoralität beitragen würden und deshalb verboten werden müssten. Seine Kritik richtete er hauptsächlich gegen



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9

Cortázars«, in: Arnold, Heinz Ludwig; Knigge, Andreas C. (Hrsg.): Comics, Mangas, Graphic Novels, Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Sonderband, edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2009, S. 232–247: S. 234. Vgl.: Die weltweit umsatzstärksten Filme aller Zeiten, auf: https://www.insidekino.com/TOPoderFLOP/Global.htm (Stand: 22.12.2020). Mit den Marvel-Helden Thor, Wolverine, den Fantastic Four sowie der Dark Horse-Figur Hellboy werden nur sehr wenige, nicht dem DC-Universum entstammende Charaktere in den ersten drei Staffeln von The Big Bang Theory angeführt. Wertham, Frederic: Seduction oft he Innocent. The Influence of Horror Comics on Today’s Youth, Rinehart & Co., Inc., New York, NY 1954.

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Martina Peters und Jörg Peters

den Verlag EC, der mit seinen Crime-, Grusel-, Horror- und Monstergeschichten beim jugendlichen Publikum ebenso beliebt war wie der DC Verlag, der mit seinen Flaggschiffen Superman, Batman und Wonder Woman bei der Jugend punktete. Darüber hinaus sah Wertham in dem hautengen Top von Phantom Lady oder in anderen leicht geschürzten Dschungelheldinnen Verführungen zu sexueller Perversion. Die Schlinge des Zauberlassos von Wonder Woman war für ihn ein Vagina-Symbol, und im Verhältnis von Batman zu Robin fand er Hinweise auf eine homosexuelle Beziehung. Die amerikanische Comic-Industrie reagierte – um staatliche Repressalien in Form von Zensur zu vermeiden – auf die Kritik Werthams mit einer freiwilligen Selbstkontrolle, dem sogenannten Comics Code, der besagt, dass in den von ihnen publizierten Heften keine jugendgefährdenden Inhalte zu finden seien.10 In Deutschland richteten sich die Kritiker, die Werthams Argumentation plausibel fanden11, nicht nur gegen einzelne Genres, sondern generell gegen alle Comics.12 Sie verurteilten sie als »Pest«, »Gift«, »süchtig machendes Opium« oder als »Volksseuche«. Darüber hinaus behaupteten sie, Comics führten zu »Analphabetismus« und »Bildidiotismus«, »zur »Abtötung der Phantasie«, zur Bedrohung und Verrohung der »seelischen Substanz« sowie zur Untergrabung des »ethischen Kerns abendländischer Kultur«.13 Diese Auffassung galt nicht nur in der akademischen Welt, sondern setzte sich für lange Zeit im Denken der bundesdeutschen Bevölkerung fest. Wer in den 1960er und 1970er Jahren groß geworden ist, weiß, dass Eltern, Verwandte und vor allem Eine deutsche Übersetzung des Comic Codes findet sich in: Hoffmann, Detlef; Rauch, Sabine (Hrsg.): Comics. Materialien zur Analyse eines Massenmediums, Texte und Materialien zum Literaturunterricht, Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main 1973, S. 27–29. 11 Vgl. hierzu stellvertretend Schückler, Georg: Jugendgefährdung durch Comics!, Schriftenreihe des Volkswartbundes, Bd. 33, Volkswartbund; Köln 1955, S. 1:»Unter den Druckerzeugnissen, die eine immer größer werdende sittliche Gefährdung des jungen Menschen unserer Tage darstellen, nehmen die sog. Comics eine besondere Stellung ein, und dies nicht nur wegen ihres Inhaltes, sondern auch wegen ihrer Massenverbreitung.« Weiter heißt es bei ihm auf S. 8: »Alle Comics, ob sie so oder anders aufgemacht sind, sind abzulehnen! Alle Comics stellen eine Gefährdung für den jugendlichen Leser dar, weil sie alle der Verflachung dienen, der Wort- und Bild-Entwertung unserer Zeit Vorschub leisten und den Bilder-Götzendienst und die damit verbundene Reizüberflutung fördern.« 12 Vgl. Glietenberg, Ilse: Die Comics – Wesen und Wirkung, Diss., München 1956; vgl. auch Doetsch, Marietheres: Comics und ihre jugendlichen Leser, Schriftenreihe der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung, Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glan 1958 und vgl. Welke, Man­ fred: Die Sprache der Comics, dipa Verlag, Frankfurt am Main 1958. Dietrich Grünewald urteilt über diese Studien: »[Die drei Autoren] verstehen Comics als mindere Unterhaltungsliteratur […], und trotz Differenzierungen gegenüber der vorherrschenden pauschalen Pejorisierung werden die Ausführungen von einer kritisch-ablehnenden Grundhaltung getragen. Der Spezifik der Comics werden die Autoren wenig gerecht; die Arbeiten haben nicht das Ziel, zu einem besseren Verständnis des Comics und seiner Ästhetik beizutragen« (Grünewald, Dietrich: Comics, a. a. O., S. 67). 13 Vgl. Dolle-Weinkauff, Bernd: Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 1990, S. 96–98 und vgl. Grünewald, Dietrich: Comics, Grundlagen der Medienkommunikation, Bd. 8, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000, S. 77. 10

Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den Philosophie- und Ethikunterricht 11



Lehrerinnen und Lehrer davon abrieten, Comics zu lesen, weil dadurch der sprachliche Ausdruck leiden könnte und vor allem die moralischen Einstellungen degenerieren könnten.14 Vor diesem Hintergrund gab es etliche Comicgegner, die es begrüßten, dass Comics Mitte der 1970er Jahre im Literaturunterricht analysiert werden sollten. Sie meinten, den Schülerinnen und Schülern würde dadurch die Lust auf Comics ebenso vergehen wie die Lust auf Literatur.15 Interessanterweise zogen die Gegner des Comics ausschließlich die negativen Untersuchungen – und zwar ohne sie zu prüfen – für ihre Behauptungen heran, während sie die positiven Resultate amerikanischer Studien grundsätzlich nicht zur Kenntnis nahmen.16 Es gab aber auch Stimmen, die Comics nicht verteufelten. So bemerkte etwa Alfred Clemens Baumgärtner Mitte der 1960er Jahre: »Zu einer unbefangenen Arbeit mit Comics gehört, dass man sie zunächst einmal als das gelten läßt, was sie sind, statt sie zum Aufhänger einer Unterrichtseinheit zu degradieren, die ausschließlich darauf gerichtet ist, möglichst rasch und möglichst schlagend die Überlegenheit des schulischen Lektüreangebots über die bevorzugte Freizeitlektüre vermutlich des Großteils der Schüler nachzuweisen, auch auf die Gefahr hin, dass zugleich mit der Abwertung der Comics eine Abwertung ihrer Konsumenten einhergeht«.17 Tatsächlich – so fanden amerikanische Forscher bereits recht früh heraus – sind die pädagogischen Auswirkungen des Lesens von Comics durchgehend als beachtlich zu bezeichnen18: 1945 schreibt Florence Morrison Hogan, sich auf eine Untersuchung von Robert L. Thorndike19 aus dem Jahre 1941 stützend, in ihrer Masterarbeit über die Leseförderung von Schülerinnen und Schülern durch Comics, dass das Lesen von Comics zur Erweiterung des Wortschatzes beitragen könne: »He [Thorndike] found that each of the […] books [Superman, Batman, Action Comics and Detective Comics] contained about 10,000 words and about 1,000 different words other than those found in the commonest 1,000 of the Thorndike list. The four books contained 3,000 different words from those found in Thorndike‘s first 1,000 word list. Thorndike further discovered that for the most part the reading is standard English.« 20 Ben Cusomano akzentuierte, dass gerade schlechte Leserinnen und Le

Vgl. hierzu Schückler, Georg: Jugendgefährdung durch Comics!, a.a,O., S.1.. Vgl. Fuchs, Wolfgang J; Reitberger, Reinhold: Comics-Handbuch, rororo handbuch 6215, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 216. 16 Hesse-Quack, Otto: »Die soziale und soziologische Bedeutsamkeit der Comic Strips«, in: Zimmermann, Hans Dieter; Riha, Karl; Wiener, Oswald; Pforte, Dietger; Hofmann, Werner; HesseQuack, Otto; Baumgärtner, Alfred Clemens. Moeller, Michael Lukas.: Comic-Strips. Vom Geist der Superhelden, Colloquium zur Theorie der Bildergeschichte in der Akademie der Künste, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 8, Gebrüder Mann Verlag, Berlin 1970, S. 66. 17 Baumgärtner, Alfred Clemens: Die Welt der Comics. Probleme einer primitiven Literaturform, Kamps pädagogische Taschenbücher, Bd. 26, Verlag Ferdinand Kamp, Bochum 51972, S. 32. 18 Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf; Burgdorf, Paul: Comics im Unterricht, Beltz praxis, Beltz Verlag, Weinheim / Basel 1976, S. 65–72. 19 Vgl. Thorndike, Robert L.: »Words and the Comics«, in: The Journal of Experimental Education 10, 1941, Issue 2, S. 110–113. 20 Hogan, Florence Morrison: A Survey of the Literature on the Use of Comics as a Means of Promoting Interest, A Thesis submitted to the Faculty of Atlanta University in Partial Fulfilllment of the 14 15

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Martina Peters und Jörg Peters

ser von Comics profitieren würden, und W. W. D. Sones, von der School of Education an der University of Pittsburg, führte 1942 an: »Analysen zeigten, dass ein Kind beim Lesen von Comic-Heften genau die gleichen Aktivitäten einübte, die in einer guten Lese-Instruktion gebraucht werden. Es lernt neue Wortsymbole durch Bilder von Dingen oder Handlungen oder durch den epischen Zusammenhang. Das Interesse für die Geschichte erweckt den Bedarf, neue Wörter zu erkennen, um dieser folgen zu können. Es bekommt Übung beim Erkennen von neuen Wörtern durch ihre Erscheinungsform in unterschiedlicher Umgebung«. 21 Dass mit Comics tatsächlich Lesen gelernt werden kann, belegen Studien aus den 1970er Jahren, als Comics in amerikanischen Schulen eingesetzt wurden, um gegen den sich umgreifenden Analphabetismus anzukämpfen. Bemerkenswerte Resultate wurden dabei insbesondere in den sogenannten sozial benachteiligten Schichten erzielt, weil die Comics es gerade dort vermochten, der Leseunlust einer fernsehorientierten Jugend entgegenzuwirken. 22 Bezogen sich die genannten Studien noch auf die Leseförderung von Schülerinnen und Schülern, erkannte Coulton Waugh, der Autor von The Comics, dem ersten großen Standardwerk der Comic-Sekundärliteratur, schon 1947 den generellen pädagogischen Wert von Bildgeschichten. Er wies darauf hin, dass Comics sich als die natürlichste, einflussreichste Form des Unterrichtens erweisen könnten, die der Mensch kennt. 23 Waugh sollte mit seiner Prophezeiung Recht behalten, denn die Comics zogen nach und nach weltweit in die Klassenzimmer ein. In Deutschland war dies etwa zu Beginn der 1970er Jahre der Fall. 24 Zunächst wurden Comics nur im Sprach-, Kunst-, Literatur- und sozialwissenschaftlichen Unterricht eingesetzt 25 , aber im Laufe der Zeit kamen auch Fächer wie Geschichte, Religion, Wirtschaftswissenschaften, Mathematik, Physik oder Biologie dazu. Die für den Unterricht konzipierten Materialien, die Comics zum Gegenstand haben, findet man in Monographien, Fachzeitschriften und Anthologien, und die Anzahl der Publikationen ist seit den 1970er Jahren bis heute ins Unüberschaubare angewachsen. Dies gilt allerdings nicht für den Einsatz von Comics im Philosophie- und Ethikunterricht. Diese Entwicklung sollte erst dreißig Jahre später einsetzen.

Requirements for the Degree of Master of Arts, Department of Education, Atlanta University 1945, S. 6. 21 Sones, W. W. D.: »What about the Comics? Brochure, Children and Comic Magazines, Juvenile Group Foundation, 1942, zitiert nach: Burgdorf, Paul: Comics im Unterricht, a. a. O., S. 67. 22 Vgl. Fuchs, Wolfgang J; Reitberger, Reinhold: Comics-Handbuch, a. a. O., S. 221. 23 Vgl. Waugh, Coulton: The Comics, Luna Press, New York 21974, p. 351 (die erste Auflage erschien 1947 bei Macmillan Publishers, New York, NY). 24 Vgl. Grünewald, Dietrich: Comics, a. a. O., S. 72. 25 Vgl. Fuchs, Wolfgang J; Reitberger, Reinhold: Comics-Handbuch, a. a. O., S. 227–230; vgl. auch Grünewald, Dietrich: Comics, a. a. O., S. 72–73 und vgl. Peters, Jörg: Bilder und Comics«, in: Nida-­ Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 277– 293: S. 284–285.



Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den Philosophie- und Ethikunterricht 13

  Philosophisch oder ethisch ausgerichtete Comics Der Einsatz von Comics im Philosophie- und Ethikunterricht ist ein noch recht neues didaktisches Feld. Wissenschaftlich werden philosophische Comics bzw. Comics, denen man (von außen) einen philosophischen Inhalt zuschreibt, seit den 1990er Jahren untersucht. Die in diesem Bereich im anglo-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum erschienene Anzahl an didaktischen Publikationen ist (noch) recht übersichtlich. 26 Während insbesondere seit 2013 mit Jeff McLaughlins Graphic Novels as Philosophy 27 die Fortsetzung von Comics as Philosophy, James ­Rourkes The Comic Book Curriculum. Using Comics to Enhance Learning and Life28 , Chris Gavters und Nathaniel Goldbergs Superhero Thought Experiment. Comic Book Philosophy 29, Crag Hills Teaching Comics Through Multiple Lessons. Critical Perspectives30 , Maureen Bakis’ The Graphic Novel Classroom31, Carrye Kay Symas und Robert G. Weiners Graphic Novels and Comics in the Classroom32 sowie Frank Brandelts und Roy T. Cooks The Routledge Companion to Comics33 wichtige Veröffentlichungen für die Auseinandersetzung mit Comics und Graphic Novels aus philosophischer und philosophiedidaktischer Sicht vorgenommen worden sind, wird die Diskussion in Deutschland gerade erst – unter anderem durch den vorliegenden Band – angestoßen. Die erste deutschsprachige Publikation, die sich für ein Unterrichten mit Comics im Philosophie- und Ethikunterricht ausspricht, ist ein Aufsatz des Wiener Pädagogen Martin Bolz aus dem Jahr 2003. 34 Eine erste didaktische Umsetzung wird erst acht Jahre später durch Kai Wiesinger 201135 und eine erste didaktische Konzeption zum Philosophieren mit Comics noch einmal vier Jahre später von Jörg Peters 2015 vorgelegt. 36 Vgl. ibid., S. 291–292. McLaughlin, Jeff: Graphic Novels as Philosophy, University Press of Mississippi, Jackson, MS 2017. 28 Rourke, James: The Comic Book Curriculum. Using Comics to Enhance Learning and Life, A Teacher Ideas Press Book, Libraries Unlimited, An Impact of ABC-CLIO, LLC, Santa Barbara, CA /  Denver, CO – Oxford, GB 2010. 29 Gavater, Chris; Goldberg, Nathaniel: Superhero Thought Experiment. Comic Book Philosophy, University of Iowa Press, Iowa City, IO 2019. 30 Hill, Crag (Ed.): Teaching Comics Through Multiple Lessons. Critical Perspectives, Routledge Ltd., London / New York, NY 2019. 31 Bakis, Maureen: The Graphic Novel Classroom. Powerful Teaching and Learning with Images, Skyhorse Publishing, New York, NY 2014. 32 Syma, Carrye Kay; Weiner, Robert G. (Eds.): Graphic Novels and Comics in the Classroom. Essays on the Educational Power of Sequential Art, MacFarland& Company, Inc., Publishers, Jefferson, NC / London 2013. 33 Brandelt, Frank; Cook, Roy T. Cook: The Routledge Companion to Comics, Routledge Ltd., New York, NY / London 2017. 34 Bolz, Martin: »Von dem Wandern zwischen den Welten und der Macht der kleinen Bilder: Comics«, in: Bolz, Martin (Hrsg.): Philosophieren in schwieriger Zeit, Philosophie in der Schule, Bd. 4, LIT Verlag, Münster / Hamburg / London 2003, S. 211–229. 35 Wiesinger, Kai: »Die schwierige Liebe zur Wahrheit – Blick mit einem Comic auf das Höhlengleichnis«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 4: Liebe, S. 304–309. 36 Peters, Jörg: Bilder und Comics«, a. a. O. 26

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Für den Philosophie- und Ethikunterricht sind zunächst einmal solche Comics von Interesse, die versuchen, philosophische Theorien darzustellen, wie dies beispielsweise in der neunteiligen Heftserie Action Philosophers von Fred van Lente und Ryan Dunlavey, die mittlerweile auch in Buchform vorliegt, geschieht. 37 Sie stellen – mit Ausnahme der Vorsokratiker – von Platon bis Derrida auf wenigen Seiten jeweils eine Philosophin oder einen Philosophen mit derjenigen Theorie vor, die sie bzw. ihn berühmt gemacht hat. The Cartoon Introduction to Philosophy von Michael F. Patton und Kevin Cannon 38 konzentriert sich dagegen nicht auf einzelne Philosophinnen oder Philosophen, sondern auf zentrale Themen der Philosophie und/oder Ethik. Sie präsentieren in ihrem Werk graphisch die Auffassungen der einflussreichsten Vertreter zu Logik, Wahrnehmung, Erkenntnistheorie, freiem Willen, Gott und Ethik. In Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit39 geht es um die Errichtung eines logischen Fundaments für die gesamte Mathematik und damit auch um die Suche nach der absoluten Wahrheit. Bei seiner Suche trifft der Protagonist der Geschichte, der Mathematiker, Logiker und Philosoph Bertrand Russell, auf mathematische und philosophische Größen wie Kurt Gödel, Alan Turing, Alfred N. Whitehead oder Gottlob Frege und findet in Ludwig Wittgenstein einen genialen Schüler. Heretics! The Wondrous (and Dangerous) Beginnings of Modern Philosophy40 erzählt die Geschichten von achtzehn Philosophinnen und Philosophen des 17. Jahrhunderts und wie sie – trotz der Androhung von Gefängnisstrafe, Exkommunikation oder Tod – (staatliche) Autoritäten herausforderten, um die Grundlagen für eine moderne Philosophie und Wissenschaft zu legen. Die in dieser Graphic Novel vorgestellten Philosophinnen und Philosophen 41 haben durch ihre Schriften unsere Sicht auf die Welt, auf die Gesellschaft und auf uns selbst grundlegend verändert. Durch sie wurde deutlich, dass die Welt nicht im Zentrum des Weltalls steht oder dass Könige kein göttliches Herrschaftsrecht besitzen. Aber nicht alle Bücher, die mit Bildern und Sprechblasen ausgestattet sind, sind Comics. Dies gilt z. B. für die im Fink Verlag herausgegebene Reihe Philosophie für Einsteiger. 42 Hierbei handelt es sich vielmehr um kurze Einführungen in das Denken Van Lente, Fred; Dunlavey, Ryan: Action Philosophers, Evil Twin Comic, Brooklyn, New York, NY 2018. 38 Patton, Michael F.; Cannon, Kevin: The Cartoon Introduction to Philosophy, Hill an Wang, New York, NY 2015. 39 Doxiadis, Apostolos; Papadimitriou, Christos H.: Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit, übers. von Naumann, Eni, Atrium Verlag AG, Zürich 2010. 40 Nadler, Steven; Nadler, Ben: Heretics! The Wondrous (and Dangerous) Beginnings of Modern Philosophy, Princeton University Press, Princeton, NJ 2017. 41 Bei den vorgestellten Philosophinnen und Philosophen handelt es sich in alphabetischer Reihenfolge um Antoine Arnaud, Francis Bacon, Robert Boyle, Anne Conway, Giordano Bruno, René Descartes, Elisabeth von Böhmen, Galileo Galilei, Pierre Gassendi, Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibniz, John Locke, Nicolas Malbranche, Henry More, Isaac Newton, Blaise Pascal, Spinoza und Voltaire. 42 Die Reihe ist im Wilhelm Fink Verlag, Paderborn, erschienen und umfasst bislang Ausgaben zu Immanuel Kant, Judith Butler, Hannah Arendt, Thomas Hobbes, Karl Marx, Michel Foucault, 37



Der lange Weg von Comics und Graphic Novels in den Philosophie- und Ethikunterricht 15

von Philosophinnen und Philosophen, die hauptsächlich mit Zeichnungen ihrer Konterfeis ausgestattet sind. Von Zeit zu Zeit erhalten diese Konterfeis eine Sprechblase, in der ein Gedanke der dargestellten Philosophin oder des dargestellten Philosophen wiedergegeben wird. Dieses Stilmittel ist eine Übernahme aus der angloamerikanischen Reihe Introducing …43 , die zum Teil in deutscher Übersetzung unter der Reihenbezeichnung Ein Sachcomic im TibiaPress Verlag vorliegt 44 . Populär wurde diese Art der Präsentation philosophischer Theorien aber bereits in den 1980er Jahren durch die sogenannten Sachcomics, die im Rowohlt Verlag erschienen sind. 45 Neben den genannten philosophischen Comics gibt es noch zahlreiche ComicBiographien, etwa zu Nietzsche 46 oder Sartre47, aus denen durchaus Ausschnitte für unterrichtliche Zwecke verwendet werden können. Dies gilt übrigens auch für eine Comic-Einführung in Das Kapital48 , dem Hauptwerk von Karl Marx. Die wenigen hier vorgestellten Beispiele machen schon deutlich, dass es allein in dem Bereich des Comics mit philosophischem Inhalt mittlerweile genügend (ansprechendes) Material gibt, das sich als tragfähig für den Philosophie- und Ethikunterricht erweist.

  Zum Aufbau des Buches Mit diesem Buch halten Sie etwas Neues in der Hand. Philosophieren mit Comics ist ein Thema, das – wie schon an anderer Stelle hervorgehoben – in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Lediglich Heft 4/2019 der Zeitschrift Ethik und Unterricht49 und Heft 5/2020 der Zeitschrift Praxis Philosophie & Ethik50 ha-

Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Jean-Jacques Rousseau und Walter Benjamin. 43 Die Reihe Introducing … enthält sowohl Themenbände (z. B. Introducing Existentialsm oder Introducing Ethics) als auch Biographien (z. B. Introducing Aristotle oder Introducing Kant) und ist in Großbritannien bei Icon Books und in den USA bei Totem Books erschienen. 44 Im TibiaPress Verlag, Mülheim an der Ruhr, sind bisher folgende Sachcomic-Titel mit philosophischem oder ethischem Inhalt erschienen: Spieltheorie, Goodbye Gott?, Wittgenstein, Evolutionspsychologie, Anthropologie, Machiavelli, Nietzsche, Kontinentale Philosophie, Zeit, Die Aufklärung, Keynes, Slavoj Žižek, Ökonomie, Philosophie, Marxismus, Evolution, Logik, Ethik und Kapitalismus. 45 Im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, sind Titel mit philosophischem und/oder ethischem Inhalt erschienen: Marx für Anfänger, Mao für Anfänger, Lenin für Anfänger, Atomkraft für Anfänger, Freud für Anfänger, Trotzki für Anfänger, Kapitalismus für Anfänger, Ricardo, Marx, Keynes & Co. für Anfänger, Darwin für Anfänger, Frieden für Anfänger, Genetik für Anfänger, Das Kapital für Anfänger, Sozialismus für Anfänger, Umwelt für Anfänger, Welternährung für Anfänger und Computer für Anfänger. 46 Onfray, Michel; Le Roy, Maximilien: Nietzsche, übers. von Singh, Stephanie, Abrecht Knaus Verlag, München 2011. 47 Ramadier, Mathilde; Depommier, Anais: Sartre. Une existence, des libertés, übers. von Kootz, Anja, Egmont Graphic Novel, Egmont Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2016. 48 Banas, Jari: Das Kapital. In Farbe, ein Jari Comic, VSA-Verlag, Hamburg 2018. 49 Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic. 50 Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden).

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ben sich diesem Medium in jüngster Zeit gewidmet. Daher handelt es sich bei vielen der in diesem Band versammelten Aufsätze um eigens für diese Publikation geschriebene Beiträge. Der Aufbau des Buches lehnt sich natürlich an den seiner Vorgänger an und wartet daher sowohl mit einem Theorie- als auch einem Praxisteil auf. Da in allen Beiträgen Comics bzw. Auszüge aus Comics über mehrere Seiten enthalten sind, ist dieses Mal auf einen expliziten Materialteil verzichtet worden. Im Theorieteil finden sich die beiden Aufsätze, die bislang zum Einsatz von Comics im Philosophie- und Ethikunterricht verfasst worden sind. Sie geben für alle, die sich weder mit Comics noch mit Graphic Novels auskennen, einen Überblick darüber, welche Gründe ausschlaggebend dafür sind und welche Möglichkeiten sich anbieten, mit Comics oder Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht zu arbeiten. Im Praxisteil werden konkrete Vorschläge gemacht, wie sich der Einsatz von Comics bzw. Graphic Novels in den beiden Sekundarstufen umsetzen lässt. An Beispielen aus so unterschiedlichen Genres wie Funnies (Hägar sowie Calvin und Hobbes), Biographie (Sprechende Hände – Helen Keller), Gruselcomics (Gespenster Geschichten) oder Web-Comics (Die Goldene Regel) wird gezeigt, wie sich Comics bzw. Graphic Novels sinnvoll in bestimmte Kontexte des Philosophie- und Ethikunterrichts der Sekundarstufe I integrieren lassen. Für die ausgewählten Comics und Graphic Novels für die Sekundarstufe II gilt, dass Themen wie »Das gute Leben« (Epikur) an Auszügen aus The Sandman, »Anarchische Gewalt« an V wie Vendetta, die deontologische Vorstellung des Gewissens und der Kategorische Imperativ (Immanuel Kant) an dem Western-Comic Kendalls Gewissen, »Angewandte Ethik« (Naturphilosophie) an Der Weg des Schamanen und »Erkenntnistheorie« (Empirismus) an Auszügen aus Chaboutés Graphic Novel Ganz allein deutlich gemacht werden. Im dritten Teil werden weitere Möglichkeiten vorgestellt, wie Comics im Philosophie- und Ethikunterricht genutzt werden können. Dies betrifft zum einen den Abi­ turbereich und zum anderen die Herstellung von eigenen Comics durch die Schülerinnen und Schüler, durch die sie belegen können, ob sie philosophische Theorien oder Positionen verstanden haben. Der Band schließt mit einer Auswahlbibliographie ab, in der alle derzeit publizierten Beiträge zum Umgang mit Comics im Philosophie- und Ethikunterricht im deutschsprachigen Raum erfasst sein dürften.

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  W IE COMICS UND GR APHIC NOVELS IM PHILOSOPHIE- UND ETHIK­U NTER­R ICHT ­E INGESETZT WERDEN KÖNNEN

Einige philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics Jörg Peters   Präsentative Medien Spricht man im Bereich des Philosophie- oder Ethikunterrichts von sogenannten präsentativen Medien, so sind damit primär Bilder, Comics, Musik-Clips und Filme gemeint. Präsentative Medien dürfen aber nicht mit präsentativen Darstellungsformen verwechselt werden. Bei diesen geht es nämlich darum, dass Schülerinnen und Schüler eine philosophische Theorie, eine philosophische Fragestellung oder ein philosophisches Problem darstellend umsetzen – also etwa pantomimisch oder als Skulptur –, wie dies etwa methodisch durch das theatrale Philosophieren oder durch Standbilder geleistet wird. Das Gemeinsame der oben angeführten vier präsentativen Medien besteht nun darin, dass ihnen – wie durch den Begriff präsentativ zum Ausdruck gebracht wird – das Veranschaulichende immanent gegeben ist. Der Vorteil, Veranschaulichungen im Unterricht der Sekundarstufen I und II einzusetzen, besteht darin, dass manche Schülerinnen und Schüler auf diese Weise überhaupt erst einen Zugang zu philosophischen Fragestellungen erhalten oder durch sie in die Lage versetzt werden, (schwierige) Theorien nachvollziehen zu können. Veranschaulichungen können darüber hinaus auch noch motivierend wirken und somit dazu beitragen, sich überhaupt einem philosophischen Problem zuzuwenden. Auf diese Weise wird also ganz nebenbei – und ohne dass die Schülerinnen und Schüler es merken – auch noch das eigenständige Denken der Jugendlichen gefördert. Präsentative Medien lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen unterteilen: Auf der einen Seite stehen Bilder und Comics, die sich zu einer Gruppe zusammenfassen lassen, weil sie visuell-optisch angelegt sind, während auf der anderen Seite Video-Clips und Filme eine zweite Gruppe bilden, die über das Visuell-Optische hinaus auch noch auditiv-akustische Elemente aufweisen. Im Folgenden soll das Augenmerk allerdings nur auf die erste der beiden Gruppen – und dort wiederum ausschließlich auf Comics – gelegt werden.

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 Comics werden im Philosophie- bzw. Ethikunterricht bislang nur ­wenig genutzt In unserem Alltag werden wir ständig und überall durch Comicelemente beeinflusst. Man denke beispielsweise an Piktogramme, Werbung oder den Bundestagswahlkampf 2013. In diesem hat sich beispielsweise Christian Ströbele von den Grünen als Comic-Figur darstellen lassen. Peer Steinbrück von der SPD dagegen ruft dem Betrachter vom Plakat aus ein »Das WIR entscheidet« entgegen. Wollte man das Comichafte dieses Plakats perfekt machen, müsste der Slogan lediglich mit einer Sprechblase umrandet werden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, graphische Elemente verankern sich äußerst schnell in unserem Unterbewusstsein. Wenn aber Comics oder Comicelemente tatsächlich Einfluss auf uns ausüben, stellt sich die Frage, ob man dieses Medium nicht positiv für den Philosophie- und Ethikunterricht nutzen kann, um an ihm mit Schülerinnen und Schülern schwierige philosophische Fragestellungen zu erörtern, philosophische Theorien nachzuvollziehen oder philosophische Diskussionen in Gang zu setzen. Comics haben in vielen Fächern erst in den letzten Jahren Einzug in den Schulalltag gefunden. In Fächern wie Latein, Kunst, Geschichte, Deutsch oder den Fremdsprachen sind Comics inzwischen etabliert, so dass selbst der Schulbuchmarkt darauf reagiert und – zumindest für besagte Fächer – längst zahlreiche Unterrichtsmaterialien entwickelt hat: So erscheinen die Abenteuer von Asterix bereits seit 1974 in lateinischer Sprache und wird seitdem im Fach Latein immer wieder gern als Unterrichtsgegenstand eingesetzt. Im Bereich Kunst gibt es zahlreiche Publikationen, in denen z. B. berühmter Maler in Comics vorgestellt werden, wie etwa in der Reihe Kunst-Comic aus dem Prestel Verlag.1 Darüber hinaus ist das Thema Comics für den Kunstunterricht längst aufgegriffen und wird dementsprechend als Unterrichtsstoff angeboten. Als Beispiel sei hier nur auf das Buch Werkstatt Kunst. Comic und Cartoon2 verwiesen. Der C. C. Buchner Verlag hat für den Geschichtsunterricht das Heft Comics erzählen Geschichte 3 herausgegeben. In ihm werden wichtige Themen der Geschichte aus unterschiedliche Epochen vorgestellt. Mit diesen Materialien lassen sich Aspekte der zu besprechenden inhaltlichen Schwerpunkte methodisch abwechslungsreich und vielfältig gestalten.



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Vgl. z. B. Horncastle, Mona; Yelin, Barbara: Kunst Comic Vincent van Gogh, Prestel Verlag, München / London / New York 2006 oder Horncastle, Mona; Yelin, Barbara: Kunst Comic Albrecht Dürer, Prestel Verlag, München / London / New York 2011 oder Horncastle, Mona; Lehmann, Martin: Kunst Comic Claude Monet, Prestel Verlag, München / London / New York 2012 oder Horncastle, Mona; Konstantinov, Vitali P.: Kunst Comic Gustav Klimt, Prestel Verlag, München / London / New York 2012. Michaelis, Margot: Werkstatt Kunst. Comic und Cartoon, Schroedel Verlag, Hannover 2006. Mounajed, René; Semel, Stefan: Comics erzählen Geschichte. Begleitmaterial Geschichte, Sequenzen aus Comics, Mangas und Graphic Novels für den Geschichtsunterricht, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2010.



Philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics

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Für den Fremdsprachenunterricht sei schließlich noch der zum Comic umgearbeitete Roman von Agatha Christie Death on the Nile4 erwähnt, der im Bearbeitungsteil viele Activities aufweist, die von den Schülerinnen und Schülern schon während eines While-Readings durchführt werden können. In den Fächern Philosophie und Ethik sieht die Lage dagegen ganz anders aus, doch auch hier setzt mittlerweile ein Umdenken ein. Comics werden in diesen Fächern bislang stiefmütterlich behandelt und nur – wenn überhaupt – selten im Unterricht eingesetzt. In den meisten Fällen, in denen eventuell doch einmal ein Comic zum Tragen kommt, wird er vielleicht als Stunden-Opener benutzt, aber nur äußerst selten, um an ihm ein philosophisches Problem zu entwickeln oder deutlich zu machen. Folglich ist es (momentan noch) die Ausnahme, wenn mit gezeichneten Bildgeschichten ganze Unterrichtsstunden bestritten werden. Dabei können Comics auch für den Philosophie- und Ethikunterricht sehr gewinnbringend sein.

  Die Bedeutung von Comics für den Philosophie- und Ethikunterricht Comics können im Philosophie- und Ethikunterricht genutzt werden, um 1. sich motiviert auf ein philosophisches Problem einzulassen, in schwierige Theorien einzudringen oder Abstraktes zu erfassen. Sie helfen aber auch dabei, 2. komplizierte und komplexe Theorien vereinfacht darzustellen, 3. Emotionen zu erzeugen, die für Diskussionen nützlich sind, oder 4. die Phantasie anzuregen. Da der Einsatz von Comics im Unterricht eine ähnliche Funktion wie der von Filmen bzw. Filmausschnitten hat, lassen sich einige Parallelen zwischen diesen beiden Medien aufzeigen 5: 1.  Sich einem philosophischen Problem zuzuwenden, Abstraktes erfassen und in schwierige Theorien eindringen: Wie der Film besteht im Bereich der Bildenden Kunst nur noch der Comic aus einer Kombination aus Bild und Sprache. Dass es Ausnahmen gibt, in denen Comics und Filme auch ohne Sprache auskommen – man denke etwa an o. e. plauens Vater und Sohn oder an die Ära der Stummfilme –, soll hier unberücksichtigt bleiben. Daher lässt sich ein Comic genauso wenig allein auf Malerei oder Literatur reduzieren, wie ein Film nicht allein der Fotographie oder Literatur zugeschlagen werden darf.6 Aber genau die Kombination aus Bild und Sprache



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Christie, Agatha: Death on the Nile, simplified by Foreman, Peter, Chancerel International Publishers Ltd, London 1998. Zur Didaktik des Einsatzes von Filmen im Unterricht vgl. beispielsweise Peters, Jörg; Peters, Martina; Rolf, Bernd: »Filme im Philosophieunterricht«, in: Peters, Jörg; Peters, Martina; Rolf, Bernd: Philosophie im Film, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2006, S. 5–7. Platthaus, Andreas: Die 101 wichtigsten Fragen: Comics und Manga, bsr 1862, Verlag C.  H. Beck, München, S. 116.

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hilft vielen Schülerinnen und Schülern, sich einem philosophischen Problem bzw.einer philosophischen Fragestellung zuzuwenden und sich damit auseinanderzusetzen, etwas Abstraktes auf einmal als fassbar zu erfahren, oder sich in eine schwierige Theorie einzufinden. Der dem Medium innewohnende Motivationsgehalt ist daher nicht zu unterschätzen, wenn es darum geht, Jugendliche des 21. Jahrhunderts mit philosophischen Theorien vertraut zu machen. 2.  Vereinfachung von komplizierten und komplexen Theorien: Das Zurückgreifen auf Filme für unterrichtliche Zwecke legitimiert sich dadurch, dass durch geeignete Filmsequenzen komplizierte und/oder komplexe philosophische Sachverhalte durchaus vereinfacht dargestellt werden können. Dieser Fakt kann ohne Einschränkung auf den Einsatz von Comics im Philosophie- und Ethikunterricht übertragen werden. Mehr noch: Während es sich beim Film um ein sogenanntes »ephemeres« 7 oder »flüchtiges« Medium handelt, weil man in der Regel nicht (wieder und wieder) zurückspult, um eine für ein zu behandelndes Problem relevante Szene mehrmals zu betrachten, lässt sich dies beim Comic einfach dadurch bewerkstelligen, dass man zu der Stelle zurückblättert, die man sich noch einmal vergegenwärtigen möchte. 3.  Emotionen nutzen: Möglicherweise werden durch einen Film bzw. Filmausschnitt bei Schülerinnen und Schülern – insbesondere dann, wenn ethische Fragestellungen betroffen sind – Emotionen hervorgerufen. Da dieser Zustand bei nahezu allen Schülerinnen und Schülern erreicht wird, kann darauf verwiesen werden, dass er intendiert ist, weil die auf diesem Wege entstandene Emotionalität zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem anstehenden philosophischen Problem führt. Ein solcher emotionaler Zustand kann, wenngleich schwächer, weil unter anderem Musik und Geräusche fehlen, auch durch einen Leseprozess hervorgerufen werden, insbesondere dann, wenn er durch Bilder – wie dies beim Comic der Fall ist – unterstützt wird. Die einsetzenden Emotionen lassen sich z. B. nutzen, um im Bereich der Ethik kontroverse Diskussionen zwischen den Schülerinnen und Schülern führen zu lassen. 4.  Die Phantasie anregen: Die Phantasie der Lesenden wird durch Comics angeregt, denn die eigentliche Denkleistung findet zwischen zwei Panels statt 8: In den Panels eines Comics sind nur Momente der Handlung aufgehoben, alles andere aber muss sich der Leser dazu denken. Das, was nicht gezeigt wird, ist aber elementar für die Handlung, denn es wäre unmöglich, innerhalb des beschränkten Raums eines Heftes oder eines Strips ein Geschehen in all seinen Aspekten abzubilden. Diese Aufgabe wird der Erfahrung und der Phantasie des Lesers überlassen.



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8

Peters, Jörg; Rolf, Bernd: »Spielfilme im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Brüning, Barbara; Martens, Ekkehard (Hgg.): Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen, Beltz Verlag, Weinheim – Basel 2007, S. 116 – 136: S. 119. Vgl. McCloud, Scott: Understanding Comics. He invisible Art, A Kitchen Sink Book for Harper Perennial, New York, NY 41996, p. 94 und vgl. Platthaus, Andreas: Die 101 wichtigsten Fragen: Comics und Manga, a. a. O., S. 23.



Philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics

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Nach den Maßgaben unserer Alltagserfahrung ist es allerdings unmöglich, was uns ein gängiges Comic-Bild vorführt: eine stillgestellte Szene von der Dauer eines Sekundenbruchteils (denn es bewegt sich ja niemand), in der zugleich gesprochen wird (wofür im Regelfall eine deutlich längere Zeitspanne nötig wäre). Das Panel präsentiert also einerseits in der Zeichnung nur einen Augenblick, andererseits mit seinem Text eine ganze Szene. Schon innerhalb eines Bildes ist vom Leser Phantasie gefordert, weil er nicht nur den Übergang zum nächsten Panel meistern, sondern sich auch das vorstellen muss, was während des dargebotenen Dialogs passiert.9 Kurz: Auch hier wird – wie beim Philosophieren mit Bildern – das selbständige Denken der Jugendlichen gefördert. Dies zeigt etwa dieses Beispiel von Scott McCloud10:



9 10

Platthaus, Andreas: Die 101 wichtigsten Fragen: Comics und Manga, a. a. O., S. 23. McCloud, Scott: Understanding Comics. He invisible Art, a. a. O., pp. 24–25.

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Philosophiedidaktische Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comics

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  Wann und wie sollte man Comics im Unterricht einsetzen? 1.  Es gibt keine Faustregel dafür, wann man Comics im Unterricht einsetzen kann oder soll. Ein Comic kann – je nach Unterrichtsgestaltung – an den unterschiedlichsten Stellen im Unterricht seinen Platz finden. Dies kann dementsprechend am Anfang, innerhalb oder am Ende einer Unterrichtsreihe sein. 2.  Eine in diesem Zusammenhang wichtige Frage lautet, wie lang denn ein Comic sein darf oder muss. Auch auf sie gibt es keine eindeutige Antwort und keine Regel, die beachtet werden müsste. Folglich können im Philosophie- und Ethikunterricht Four-Panel-Strips, Ausschnitte aus Comic-Heften, Kurzgeschichten, ein Comic-Heft, mehrere Comic-Hefte (, die eine Geschichte ergeben,) oder auch Graphic Novels besprochen werden. 3.  Was die Frage betrifft, wie Comics im Philosophie- bzw. Ethikunterricht genutzt werden können, ergeben sich eine Reihe von Möglichkeiten, etwa

① um eine Stunde zu eröffnen, ② um zu einem Thema hinzuführen oder ein Thema zu rekapitulieren, ③ um sich mit einer philosophischen Theorie auseinanderzusetzen, ④ um ein Gedankenexperiment durchzuführen, ⑤ um ein philosophisches Problem deutlich zu machen oder ⑥ um ein Dilemma zu diskutieren. Im Folgenden sollen diese Aspekte anhand von Beispielen erläutert werden:

①  Häufig werden Comics als Impulsgeber am Anfang einer Stunde genutzt, um die

Schülerinnen und Schüler auf ein Thema einzustimmen oder um sie zum Thema der Stunde hinzuleiten. Comics, die für diesen Zweck eingesetzt werden, können oft auch nicht mehr leisten; in den meisten Fällen wäre es sogar unmöglich, mit ihnen eine Unterrichtsstunde Philosophie zu füllen. Dies gilt auch für den auf der folgenden Seite abgebildeten Comic, der z. B. in das Thema »Freundschaft« einzuführen könnte11. Die Schülerinnen und Schüler können in Bezug auf diesen Comic sämtliche Gefahren aufzählen und beschreiben, die Sven Glückspilz durchläuft, um seinem Freund Hägar einen Hamburger zu bringen (schwieriger Weg an einer Liane durch den Dschungel, Überqueren eines Gewässers durch Hüpfen von einem Krokodil­ rücken zum anderen, Verfolgung durch wilde Tiere und Sprung über eine Kluft sowie Schwimmen durch ein Gewässer bei Gewitter). Ferner können sie sagen, dass Hägar den Freundschaftsdienst Svens mit der Frage quittiert, warum er nur einen Hamburger und keine Pommes frites erhalten habe. Darüber hinaus können sie noch konstatieren, dass der Comic dadurch lustig wird, weil Hägar überhaupt nicht weiß, welche Gefahren Sven Glückspilz auf sich genommen und überwunden hat,

11

Der Comic ist entnommen aus: Blesenkemper, Klaus, Gindele, Egon, Philipp, Brigitte: Freunde haben, Freunde sein. Didaktische Anregungen und Unterrichtsmaterialien für »Praktische Philosophie«, hrsg. v. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Soest 1999, S. 51.

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um sein Ziel zu erreichen, nämlich seinem Freund den (wahrscheinlich bestellten) Hamburger unbeschadet zu übergeben. Da aus philosophischer Sicht nicht mehr aus dem Comic herausgeholt werden kann, kann dieser nur dazu genutzt werden, um die Schülerinnen und Schüler zum Thema der Stunde zu führen oder um sie auf das neu zu bearbeitende Unterrichtsthema einzustimmen. ②  Comics können auch dazu genutzt werden, um z. B. in die Problematik eines Themas einzuführen oder um bereits behandelte Themen zu rekapitulieren. Um das Ge-



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lernte noch einmal zu wiederholen und zu kontrollieren, ob der methodische Zweifel bzw. der Weg zum Cogito verstanden wurde, bietet sich folgender Comic an12:

Je länger ich nachdenke, desto mehr bezweifle ich alles! Sind die Dinge wirklich so wie sie scheinen? Woher weiß ich überhaupt, daß es mich gibt? Vielleicht bin ich nur eine Gestalt, von der ein anderer gerade träumt …?

Rolf ! Bist du in deinem Zimmer?



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Ein Philosoph hat einmal gesagt: Ich "  denke, also bin ich." Ich denke zwar, aber bin ich wirklich? Oder denke ich es nur?

Weiß ich leider nicht!

Berg, Dave: Der große MAD-Report, MAD Taschenbuch #6, hrsg., von Feldstein, Albert, übers. von Feuerstein, Herbert, Williams-Verlags GmbH, Hamburg 1975, S. 60–63.

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Was Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit dem Comic leisten sollen, ist Folgendes: ¬ Sie sollen erkennen, dass Rolf sich mit dem rationalen Beweisgang Descartes’ beschäftigt, ob die Erkenntnis »Ich denke, also bin ich« überhaupt richtig ist. ¬ Sie sollen die von Rolf aufgeworfene Frage diskutieren, ob es sich bei seiner Vorstellung von ihm als seiendem Wesen um eine Täuschung handelt, die ihm durch einen Traum vorgegaukelt wird, oder ob er nicht nur ein Teil eines »bösen« Traumes ist, den ein anderer gerade träumt. ¬ Sie sollen eine begründete Antwort auf die Frage finden, ob er überhaupt existiert. Das Kriterium »Ich denke« hilft Rolf nicht weiter, weil er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass er denken könnte, er würde gerade denken. Wenn dieser Gedanke richtig wäre, käme Rolf in einen Regress in infinitum und er müsste den Gedanken immer weiterdenken, ohne je zu einem Ende gelangen zu können. ¬ Sie sollen herausarbeiten, dass Kenny nicht alle Schritte der cartesischen Beweisführung, die zum »Ich denke, also bin ich«13 führen, in seine Überlegungen einbezieht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler noch einmal erklären, wie Descartes zu seiner Erkenntnis gelangt, weil sonst nicht klar ist, auf welcher Grundlage die drei von Rolf aufgeworfenen Probleme diskutiert werden können.

③ Insbesondere

in philosophischen Comics gelingt es oft auf hervorragende Weise, komplexe und/oder komplizierte Theorien so vereinfacht darzustellen, dass sie von Schülerinnen und Schülern gut nachvollzogen werden können. Unter der Voraussetzung, dass Bild und Wort sich sinnvoll ergänzen, können selbst schwierige Theorien von den Jugendlichen nachvollzogen und verstanden werden. Ein gutes Beispiel dafür sind sie Gottesbeweise von Thomas von Aquin, die Fred van Lente und Ryan Dunlavey in ihrem Comic über den mittelalterlichen Philosophen dargestellt haben.14 Sie haben für diesen keinen eigenen Text geschrieben, sondern ihn einer englischen Übersetzung der Summa theologica entnommen. Für die hier vorliegende Fassung wurde der Text des katholischen Akademieverbandes15 in die Sprechblasen eingefügt.



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Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. von Gäbe, Lüder, PhB 26a; Felix Meiner Verlag, Hamburg 1960 (unveränderter Nachdruck 1978), IV,3, S. 27. Lente, Fred van; Dunlavey, Ryan: »St. Thomas Aquinas«, in: Lente, Fred van; Dunlavey, Ryan: ­Action Philosophers #6, Evil Twins Comics 2006, pp. 14–23, p. 19. Aquin, Thomas von: Summa Theologica, vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, in: Aquin, Thomas von: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. I, 1–13: Gottes Dasein und Wesen, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, übers. von den Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Salzburg / Leipzig 1934, S. 45–46.



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Jörg Peters

Während der reine Text des Aquinaten für Schülerinnen und Schüler nicht einfach nachzuvollziehen ist, ändert sich dies, sobald seine Theorie durch Bilder unterstützt wird. In dem gewählten Ausschnitt aus dem Comic erläutert Thomas seine Lehre selbst anhand von gezeichneten Beispielen: So stutzt der Kinderarzt, weil er eigentlich kein Baby, sondern ein der Mutter en détail gleichendes Kind zur Welt bringt. Dadurch, so erklärt Thomas, soll die Unmöglichkeit deutlich gemacht werden, dass »etwas seine eigene Wirkursache ist«. Dass etwas sich selbst erschaffen kann, ist unmöglich, weil es sich dann »selbst im Sein vorausgehen [müsste]«. Auch die thomistische Erklärung, dass die Wirkursache nicht ins Unendliche gehen kann und dass es ohne eine erste Ursache keine Wirkung gebe, ist – ohne genauer darauf einzugehen – anhand der drei Darstellungen mit Domino-Steinen ebenso sofort nachvollziehbar wie die von Thomas gezogene conclusio, dass, wenn es aufgrund der gesetzten Prämissen eine erste Wirkursache gibt. Wenn es aber eine erste Wirkursache gibt, so kann diese, wie Thomas glaubt, bewiesen zu haben, nur »Gott« heißen. ④  Die meisten Comics sind schon in ihrer Anlage Gedankenexperimente. Die Frage nach dem: »Was wäre, wenn …«, steht häufig im Raum und führt direkt in philosophische Fragestellungen aller Richtungen. In dem One-Shot WHAT IF … Aunt May had died instead of Uncle Ben?16 wird beispielsweise der Frage nachgegangen, ob Peter Parker alias Spider-Man sich ebenfalls zu einem moralischen Menschen entwickelt hätte, wie er es in unzähligen Abenteuern unter Beweis stellt, wenn nicht Onkel Ben, dessen Tod er in letzter Konsequenz mitverschuldet hat, sondern Tante May gestorben wäre. Wie wäre Spider-Mans Geschichte verlaufen, wenn er sich zu einem skrupel- und gewissenlosen Menschen entwickelt hätte, der sich weder für seine Umwelt noch für seine Mitmenschen interessiert, sondern dem es allein um sein Wohlergehen geht? ⑤  Comics können auch dazu beitragen, ein philosophisches Problem deutlich zu machen. Die Kurzgeschichte L’hôte von Albert Camus umfasst fünfzehn Seiten17, während der gleichnamige Comic mit sieben Seiten auskommt.18 Inhaltlich unterscheidet sich der Comic nicht von

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Vgl. Brubaker, Ed, Di Vito, Andrea, Villari, Laura: What if … Aunt May had died instead of Uncle Ben?, Marvel 2004. Vgl. Camus, Albert: »Der Gast«, in: Kleine Prosa, übers, von Meister, Guido G., rororo 22190, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1961, Neuausgabe 1997, S. 143–159. Problematisch ist die Übersetzung des Titels, bedeutet »l’hôte« doch nicht nur »Gast«, sondern auch »Gastgeber«. Dieses Wortspiel kommt im Deutschen leider nicht zum Tragen, obwohl es für die Interpretation der Geschichte von Bedeutung ist, denn sowohl der Gast als auch der Gastgeber stehen als Protagonisten im Zentrum der Handlung. Mairowitz, David Zane; Korkos, Alain: Camus. Kurz und knapp, Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2000, S. 150–156.



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der Kurzgeschichte und die philosophischen Fragen nach Freiheit und Verantwortung stehen bei ihm genauso im Mittelpunkt wie in dem literarischen Werk. ⑥  In vielen Comic-Geschichten sind Dilemmata enthalten, die sich schon allein deshalb für den Unterricht eignen. Dilemmata können nämlich, wie Kohlberg und Rolf herausstellen, dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, eine begründete Position zu beziehen.19

  Wo steht die philosophische Comic-Forschung? Abschließend sei noch ein Blick auf die philosophische Comic-Forschung gestattet. Sie ist (noch) recht übersichtlich, aber sie dürfte in der nächsten Zeit stetig anwachsen. Die Gründe dafür sind leicht auszumachen: Comics, Manga und Graphic Novels sind mittlerweile gesellschaftsfähig und werden nicht mehr als Schundliteratur abgewertet; die (amerikanische) Comic-Industrie hat ihre langandauernde Krise überwunden und bietet inzwischen ein großes Themenspektrum an und – besonders wichtig – die Qualität zahlreicher Comics und Graphic Novels befindet sich mittlerweile auf einem hohen Niveau. Wenn man bedenkt, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit Comics überhaupt erst vor ungefähr 45 Jahren begann, dann handelt es sich selbst bei der generellen Comic-Forschung noch um eine sehr junge Disziplin. In Bezug auf die Philosophie muss sogar betont werden, dass sich (amerikanische) Philosophen erst vor weniger als fünfzehn Jahren das erste Mal mit Comics philosophisch und wissenschaftlich auseinandergesetzt haben. Mittlerweile liegt mit Unflattening von Nick Sousanis20 sogar eine Dissertation im Fach Philosophie in Comicform vor, die zugleich »ein leidenschaftliches Plädoyer für die Bildsprache des Comics und […] [dessen] Fähigkeit [ist], uns die Welt in all ihren Dimensionen greifbar zu machen«. 21 In Deutschland gibt es seit Mitte der 2010er Jahre erste Ansätze, die sich dem Comic aus philosophie-didaktischer Perspektive zugewandt haben. Davor gab es im deutschsprachigen Raum lediglich zwei Beiträge, die den Comic als einen für den Philosophie- und Ethikunterricht relevanten Unterrichtsgegenstand erkannt haben. Dabei handelt es sich zum einen um die im Jahre 2003 erschienene Studie »Von dem Wandern zwischen den Welten und der Macht der kleinen Bilder: Comics« von Martin Bolz 22 , der zeigt, dass Comics nichts Triviales sein müssen, sondern durchaus Chancen im Philosophie- und Ethikunterricht bieten, um mit Jugendlichen über Vgl. Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung, hrsg. von Althof, Wolfgang unter Mitarbeit von Noam, Gil und Oser, Fritz, stw 1232, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996 und vgl. Rolf, Bernd: »›Wie soll ich mich entscheiden?‹ Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 12, 2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 18–21: S. 19. 20 Sousanis, Nick: Unflattening, Harvard University Press, Cambridge, MA 2015. 21 Frisch, Marc-Oliver: »Die Entflachung der Welt« in: Tagesspiegel, Ausgabe vom 20. August 2015, auf https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/nick-sousanis-dissertation-in-comicform-dieentflachung-der-welt/12211020.html (Stand: 16.12.2020). 22 Vgl. Bolz, Martin: »Von dem Wandern zwischen den Welten und der Macht der kleinen Bilder:

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ernsthafte und philosophische Themen ins Gespräch zu kommen. Zum anderen ist damit der kurze Aufsatz »Die schwierige Liebe zur Wahrheit. Blick mit einem Comic auf das Höhlengleichnis« von Kai Wiesinger aus dem Jahre 2011 gemeint. Wiesinger zeigt, wie die Konfrontation mit den Bildmitteln eines Comics zur genaueren Lektüre von Platons Höhlengleichnis anleiten kann. 23 In England dagegen hat sich die populär-philosophische Zeitschrift Philosophy Now dem Philosophieren mit Comics schon vor einigen Jahren zugewandt und sogar ein Heft mit dem Titel Comics & Philosophy herausgebracht. 24 In den USA beschäftigt sich die Fachwissenschaft seit 2004 recht intensiv mit Comics, die philosophische Inhalte aufweisen. Dabei haben sich in den letzten Jahren insbesondere zwei Buch-Reihen hervorgetan, die sich entweder verfilmten Comics wie Watchmen25 oder der philosophischen Auseinandersetzung mit Superhelden widmen. Beide Reihen heißen … and Philosophy, werden von William Irwin herausgegeben und sind in ihrem Aufbau identisch. Jedes Buch ist in vier bis sechs Teilkapitel unterteilt, die Überschrift zu jedem Kapitel zeigt an, mit welchem philosophischen Problem sich zwei oder drei Autoren in ihren jeweiligen Beiträgen beschäftigen. Während die eine Serie »Blackwell Philosophy and Pop Culture Series« 26 heißt, lautet der Titel der anderen »Popular Culture and Philosophy« 27. Außerdem hat Jeff McLaughlin bereits 2005 eine Essay-Sammlung mit dem Titel Comics as Philosophy herausgegeben, der man aber deutlich anmerkt, dass zu dem damaligen Zeitpunkt ein neues Forschungsgebiet betreten wurde, denn die in diesem Band gesammelten Beiträge sind m. E. oft von geringer Qualität. 28 Schaut man sich Schulbücher für die Fächer Ethik, L-E-R, Praktische Philosophie und Werte und Normen an, dann sieht man schnell, dass dort – wenn überhaupt – fast ausschließlich 4-Panel-Comics29 Einzug gehalten haben, also Bildgeschichten,



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Comics«, in: Bolz, Martin (Hrsg.): Philosophieren in schwieriger Zeit, Philosophie in der Schule, Bd. 4, LIT Verlag, Münster – Hamburg – London 2003, S. 211–229. Wiesinger, Kai: »Die schwierige Liebe zur Wahrheit. Blick mit einem Comic auf das Höhlengleichnis«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 4: Liebe, S. 304–308. Vgl. Philosophy Now 2009, Issue. 73: Comics and Philosophy. White, Mark D. (Ed.): Watchmen and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ. 2009. Titel dieser Reihe, die sich mit Comics beschäftigen, sind z. B.: White, Mark D.; Arp, Robert (Eds.): Batman and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ 2008; White, Mark D. (Ed.): Iron Man and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ 2010; Dryden, Jane; White, Mark D. (Eds.): Green Lantern and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ 2011; Sanford, Jonathan J (Ed.): Spider-Man and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ 2012 oder White, Mark D. (Ed.): Superman and Philosophy, Blackwell Philosophy and Pop Culture Series, John Wiley & Sons Inc., Hoboken, NJ 2013. Titel dieser Reihe sind unter anderem: Morris, Tom; Morris, Matt (Eds.): Superheroes and Philosophy, Popular Culture and Philosophy, Open Court, Chicago / La Salle, IL 2005 oder Dyer, Ben (Ed.): Supervillains and Philosophy, Popular Culture and Philosophy, Chicago / La Salle, IL 2009. McLaughlin, Jeff (Ed): Comics as Philosophy, University Press of Mississippi, Jackson, MS 2005. Four-Panel-Comics sind Comic-Strips die aus vier Einzelbildern bestehen. Manchmal gibt – wenn



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die aus vier Bildern bestehen und meistens mit einer Punch-Line versehen sind. In der Regel handelt es sich dabei um sogenannte Funnies (Peanuts, Hägar, Blondie, BC etc.), also um solche Geschichten, die in einem bestimmten Stil gezeichnet sind und sich durch ihre humoristische Aussage auszeichnen. Längere, ganzseitige oder sogar mehrseitige Comics fehlen nahezu in allen deutschen Philosophie-Schulbüchern für die Sekundarstufe II 30 . Es bleibt zu hoffen, dass sich zukünftig mehr Bildgeschichten in Schulbüchern finden lassen, die zum Philosophieren einladen, und sich der Umgang mit Comics im Philosophieunterricht als Methode etablieren wird. Quelle: Peters, Jörg: »Bilder und Comics«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 277–293.

auch selten – One- oder Two- oder Three- Panel Comics. Sie alle finden sich in diversen Tageszeitungen überall auf Welt. 30 Eine Ausnahme bilden im Bereich der Sekundarstufe I lediglich das von Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf in drei Bänden für Niedersachsen herausgegebene Lehrwerk Lebenswert, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2011–2013 und das von Jörg Peters und Bernd Rolf für NRW ebenfalls in drei Bänden herausgegebene Lehrwerk philo praktisch, Bamberg 2008–2011.  Die folgenden Beispiele sind alle dem Lehrwerk LebensWert entnommen: In Band 1 wird auf einer ganzen Seite anhand der Brüder Dalton deutlich gemacht, gegen welche Gesetze sie bei einem räuberischen Banküberfall verstoßen (S. 106). In Band 2 gibt es einen ganzseitigen Comic zur Bergpredigt (S. 156), mehrere Ausschnitte zur Auferstehung Jesu (S. 165) und einen weiteren ganzseitigen Comic zur kirchlichen Hilfsorganisation Adveniat (S. 178). In Band 3 finden sich auf einer Seite zwei verschiedene Disney-Comics zur Unterscheidung von »Glück haben« und »glücklich sein« (S.18) und auf einer anderen Seite die Wandlung von Prinz Siddhartha zu Buddha (S. 156).  In dem von Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf für das Land Nordrhein-Westfalen herausgegebenen Lehrwerk philo praktisch NEU, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2021, gibt es mit einem Auszug aus einem Robin Hood-Comic eine Doppelseite, auf der das Thema »gut« und »böse« behandelt wird (S. 112–113).  In dem ebenfalls von Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf für das Land Baden-Württemberg herausgegebenen Lehrwerk Abenteuer Ethik 1 NEU, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2020, wird der biblische Sündenfall auf einer Doppelseite als Comic dargestellt (S. 196–197).   Ethik aktuell ist im deutschsprachigen Raum (wahrscheinlich nach wie vor) das einzige Schulbuch, das mit der Transformation der Kurzgeschichte »L’hôte« von Albert Camus in eine Bildgeschichte einen mehrseitigen Comic aufweisen kann (S. 126–132).

Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht Sven Dallmann

 I

n der jüngsten Zeit haben sich fachdidaktische Veröffentlichungen zunehmend mit dem Medium Comic im Philosophie- und Ethikunterricht befasst. Hier soll am Beispiel von Graphic Novels gezeigt werden, dass aufgrund bestimmter Comic-Eigenschaften konkrete Anbindungen an bewährte Vorgehensweisen des Philosophierens möglich sind. Dies wird anhand verschiedener Genres von Graphic ­Novels vorgestellt und reflektiert werden, und anknüpfend an die charakteristischen Merkmale der jeweiligen Genres werden Einsatz­möglichkeiten für den Unterricht präsentiert und mögliche Schwierigkeiten und Herausforderungen benannt. Exemplarisch für die ausgewählten Genres werden abschließend noch drei Unterrichtsvorschläge vorgestellt.

  Zum Begriff »Graphic Novel« Im wissenschaftlichen Kontext stößt die Bezeichnung »Graphic Novel« meist auf Ablehnung. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Eine Definition, die auf das Publikationsformat Bezug nimmt, scheint nicht plausibel, da dieses beliebig verändert werden kann. Zentrale Werke, die üblicherweise als Graphic Novels bezeichnet werden, wie Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen oder Art Spiegelmans Maus, wurden zunächst in Einzelheften veröffentlicht und erst später als abgeschlossene Geschichte in Buchform publiziert. Auch Will Eisners Ein Vertrag mit Gott umfasst nicht einen abgeschlossenen Roman, sondern drei Kurzgeschichten.1 Der alternative Vorschlag, dass Graphic Novels als anspruchsvolle Literatur mit abgeschlossenem Werkcharakter2 aus der breiten Masse der Comicveröffentlichungen hervorstechen, scheitert an der Vielseitigkeit der in Frage kommenden Bildgeschichten sowie an der inflationären Verwendung des Begriffs durch den Buchhandel. Jeff McLaughlin fasst pointiert zusammen, dass Graphic Novels einfach Comics ohne



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Vgl. Frahm, Ole: »Die Fiktion des Graphischen Romans«, in: Hochreiter, Susanne; Klingenböck, Ursula (Hrsg.): Bild ist Text ist Bild, Narration und Ästhetik in der Graphic Novel, Lettre, transcript, Bielefeld 2014, S. 53–78: S. 54; Seeßlen, Georg: »Rückkehr und Erinnerung. Zehn Variationen der neunten Kunst«, in: TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur 10, 2017, Sonderband. Graphic Novels, S. 5–36: S. 8. Vgl. Frahm, Ole: »Die Fiktion des Graphischen Romans«, a. a. O., S. 58.

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negative Konnotationen seien, die einem Comic-Heft immer noch anhaften. 3 Die Bezeichnung »Comic« scheint daher grundsätzlich geeigneter zu sein. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Ausdruck »Graphic Novel« dennoch hilfreich sein kann, um für den Philosophie- und Ethikunterricht relevante Comicveröffentlichungen ausfindig zu machen. Dafür müssen zunächst mögliche Merkmale von Graphic Novels betrachtet werden: Es werden ernsthafte Themen verarbeitet (z. B. der Verlust des eigenen Kindes in Ein Vertrag mit Gott), die Erzählhaltung ist selbstreflexiv (zur Hälfte dokumentiert Maus die eigene Entstehungsgeschichte und die Gedanken des Künstlers) oder die künstlerische Gestaltung ist eher experimentell und unterliegt keinen engen Vorgaben bestimmter Formate (beispielsweise werden in Roz Chasts Können wir nicht über was anderes reden? Originalzeichnungen und -fotos in die autobiographische Geschichte eingebaut). Im Philosophieunterricht können Comics mit diesen Eigenschaften genutzt werden, um Schülerinnen und Schüler ins Philosophieren zu bringen, eine selbstreflexive Haltung einzuüben oder um das Medium Comic im Hinblick auf ästhetische und medientheoretische Gesichtspunkte zu analysieren. Gerade die vielseitigen Gestaltungsmittel regen zur Kreativität und zur intensiven Auseinandersetzung mit der jeweiligen Geschichte an. Obwohl es noch ungewohnt ist, Comics im Philosophie- und Ethikunterricht zu lesen, können die Lernenden oftmals bereits auf erworbene Lesegewohnheiten zurückgreifen. Dabei ermöglichen Graphic Novels die Behandlung authentischer Inhalte. 4 Im Vergleich zu herkömmlichen Lehrbuchtexten oder konstruierten Fall­beispielen kann dies im Philosophie- und Ethikunterricht eine willkommene Abwechslung sein. Im Folgenden werden drei Genres vorgestellt, welche im Zusammenhang zu den bereits genannten Merkmalen stehen.

  Autobiographische Comics und Graphic Novels In autobiographischen Graphic Novels setzen sich Autorinnen und Autoren mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander. Dies geschieht oft aus einer subjektiven Sichtweise heraus. Der Reiz für Schülerinnen und Schüler liegt hierbei darin, dass meist Lebensabschnitte in Szene gesetzt werden, in denen die Autorinnen und Autoren ihren Platz in der Gesellschaft noch finden müssen oder den gefundenen Platz hinterfragen. Themen solcher Comics können auch prägende Erlebnisse sein – bis hin zu schwerwiegenden Schicksalsschlägen, dunklen Seiten des Alltags, Familienproblemen, Krankheit oder Krieg. 5

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Vgl. McLaughlin, Jeff: »Deep Thinking in Graphic Novels«, in: The Philosophers’ Magazine 60, 2013, Issue 1: Problems in Mind, pp. 44–49: p. 44. Georg Seeßlen betont, dass viele Graphic Novels biographische Geschichten aufgreifen und sich durch eine beson­dere Intensität des inneren Erlebens sowie durch das Zitieren anderer Medien oder Werke auszeichnen. Vgl. Seeßlen, Georg: »Rückkehr und Erinnerung. Zehn Variationen der neunten Kunst«, a. a. O., S. 12–13. Vgl. Schröer, Marie: Graphic Memoirs – autobiographische Comic«, in: Abel, Julia; Klein, Christian



Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht

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Der Einsatz solcher Bildgeschichten ist in vielerlei Hinsicht gerade für die Sekundarstufe I interessant: ① Schülerinnen und Schüler können sich mit den Figuren identifizieren, vor allem wenn die Protagonisten ebenfalls Jugendliche sind (wie z. B. in Blankets oder Mein Freund Dahmer). Da beim Lesen von Comics die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bildern selbst hergestellt und Bedeutungen selbst konstruiert werden müssen, wird die Empathie und die Identifikation mit den Figuren angeregt.6 Die Besprechung von autobiographischen Comics kann an die Methoden des autobiographischen Philosophierens anknüpfen, da in den Geschichten verschiedene Möglichkeiten der Lebensführung und -deutung simuliert werden. In Anlehnung an Gabriele Münnix können autobiographische Bildgeschichten zuerst genutzt werden, um eine philosophische Fragehaltung zu wecken und eine Problemstellung für den Unterricht zu entwickeln. Das philosophische Problem kann beispielsweise dadurch bearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler den Comic selbst fortschreiben (dies kann in Form von Texten, Comics oder Rollenspielen geschehen). Anschließend können die Fortsetzungen und möglichen Problemlösungen miteinander oder mit dem Fortgang der Graphic Novel verglichen werden.7 ② Die Themen von autobiographischen Graphic Novels sind auch Themen der Philosophie. Die Geschichten setzen sich u. a. mit moralischen Fragen, Identitäts­ krisen, dem eigenen Körper, Familienerfahrungen oder dem eigenen Liebesleben auseinander. 8 Es besteht so die Möglichkeit, private oder intime Lebensbereiche zu besprechen, ohne dass die Schülerinnen und Schüler aus ihrem eigenen Leben berichten müssen. Die postulierte Authentizität der Geschichte übt dabei einen besonderen Reiz aus, welcher fiktiven Biographien verloren geht. Autobiographische Comics können für die Lernenden Themengebiete erschließen, die jenseits ihrer eigenen Erfahrungen liegen (z. B. Kriegserfahrungen wie in Mizukis Auf in den Heldentod! oder die Identitätsfragen jenseits binärer Geschlechterkonzepte wie in Jongelings Hattest du eigentlich schon deine Operation? und Backers Küsse für Jet). Das Hineinversetzen in eine andere Figur kann dabei als eine Art Gedankenexperiment



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(Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 263–275: S. 264–265. Für den Deutschunterricht führt Swantje Rehfeld aus, dass der Einsatz von Graphic Novels zur »Stabilisierung von biographischen Bewusstwerdungsprozessen [und] zum Selbstund Fremdverstehen« beiträgt. Am Beispiel der Autobiographie von Nadja Budde können auch »philosophische Grundfragen nach der Erfahrung von Raum und Zeit und der Begegnung mit Tod und Leben« im Unterricht aufgegriffen werden (Rehfeld, Swantje: »Kindheitsgeschichte als Graphic Novel. (Auto-)biographische Bild-Text-Zusammenhänge verstehen und interpretieren«, in: Praxis Deutsch 29, 2012, Heft 234: Interpretationsaufgaben stellen, S. 22–28, S. 22). Vgl. Smith, Sidonie; Watson, Julia: »Auto/biographics and Graphic Histories Made for the Classroom. Logicomix and Abina and the Important Men«, in: Aldama, Frederick Luis (Ed.): The Oxford Handbook of Comic Book Studies, Oxford University Press, Oxford 2019, pp. 1–24, p. 6. Für diese Überlegung habe ich mehrere Unterrichtsvorschläge von Gabriele Münnix miteinander kombiniert (vgl. Münnix, Gabriele: »Perspektivität und Perspektivwechsel. Zur Bedeutung des Philosophierens mit Fabeln«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 31, 2005, Heft 3: Hobbes, S. 236–244: S. 204). Meine Absicht dabei war es, den Comicroman nicht nur als Einstieg in ein philosophisches Pro­blem zu verwenden, sondern die Geschichte selbst als roten Faden für die weitere Problembearbeitung aufzugreifen. Vgl. Schröer, Marie: Graphic Memoirs – autobiographische Comic«, a. a. O., S. 271.

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verstanden und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel geschult werden.9 Dies kann mit einfachen Mitteln umgesetzt werden, indem beispielsweise die Lernenden Gedankenblasen ergänzen, um das Innenleben der Figuren darzustellen. Diesem Vorgehen muss dabei eine sorgfältige Analyse der Handlung und der bildlichen Darstellung der jeweiligen Figur vorausgehen. ③ Auf einer Metaebene können im Unterricht die Grenzen unseres Erinnerungsvermögens und die Konstruktion der eigenen Vergangenheit und Identität erörtert werden. In vielen (auto-)biographischen Comics werden das eigene Zeit­empfinden, das Erinnerungsvermögen und ähnliche Aspekte hinterfragt.10 »Oft dienen die Panels als Bausteine, die einerseits bei der Strukturierung der Erinnerung helfen, andererseits durch ihre Zwischenräume und Grenzen das Fragmentierte und Versatzstückhafte der Identität demonstrieren.«11 Indem Comics darstellen, wie Menschen ihr eigenes Leben wahrnehmen, werden persönliche Empfindungen visualisiert, die über das Überprüfbare hinausgehen.12 Im Unterricht können unterschiedliche Arten der Selbstdarstellung oder -reflexion miteinander verglichen werden, z. B. (auto-)biographische Darstellungen in Form von Comics, Büchern, Fotografien, Gemälden oder Blogs. In Anbindung an die Frage nach der personalen Identität könnte mit Comics die Frage thematisiert werden, inwiefern unsere Erinnerungen unsere Identität ausmachen. Die Frage, wie verschiedene Medien die Darstellung von Lebenserfahrungen beeinflussen, kann im Unterricht abschließend dadurch bearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler eigene Erlebnisse in Comicform gestalten. ④ Eine weitere Möglichkeit ist die Erstellung von Comics zu autobiographischen Texten von Philosophinnen und Philosophen in der Sekundarstufe II. Dieses Vorgehen würde dem Prinzip entsprechen, dass man ein Medium dann besonders gut versteht, wenn man es selbst gestaltet. Durch das eigenhändige Erstellen einer philosophischen Biographie können sich die Jugendlichen lebensnah prominenten Figuren der Philosophie annähern.13 Einen hilfreichen Überblick zu philosophischen Autobiographien bietet Vanessa Albus.14 Der Vorteil dieses Lernprodukts wäre es, dass sich die Lernenden dafür intensiv mit dem philosophischen Text – wie Descartes’ Discours de la Methode oder Bertrand Russels Autobiographie – sowie mit den Gestaltungsmitteln von Comics auseinandersetzen müssen und so vielseitige Fä

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Vgl. Albus, Vanessa: »Methoden und Medien des autobiographischen Philosophierens«, in Zeitschrift der Didaktik der Philosophie und Ethik 34, 2012, Heft 2: Autobiographie, S. 95–103: S. 98. Vgl. Schröer, Marie: Graphic Memoirs – autobiographische Comic«, a. a. O., S. 271. Ebd. Vgl. Schell, John Logan: »This Is Who I Am. Hybridity and Materiality in Comics Memoir«, in: Aldama, Frederick Luis (Ed.): The Oxford Handbook of Comic Book Studies, Oxford University Press, Oxford 2019, pp. 1–24, S. 4. Diese Möglichkeit nennen Volker Steenblock und Otto Wiezorek in Bezug auf bereits vorliegende Comics zur Philosophiegeschichte. Vgl. Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophie-Didaktik und Handbuch: Praktische Philosophie, Münsteraner Einführungen – Münsteraner Philosophische Arbeitsbücher, Bd. 1, LIT Verlag, Münster 2007, S. 174. Albus, Vanessa: »Methoden und Medien des autobiographischen Philosophierens« a. a. O., S. 96– 98.



Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht

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higkeiten eingeübt werden können. Die Arbeit kann den Jugendlichen durch eine Vielzahl an kostenlosen Online-Werkzeugen zur Erstellung von Comics erleichtert werden.15 Es ist außerdem hilfreich, die Hürden für die Qualität der Zeichnungen möglichst niedrig anzusetzen. Lernende können auch dann unter Beweis stellen, dass sie die Gesetzmäßigkeiten von Comics verstanden haben, wenn sie Strichfiguren zeichnen. Es gibt auch Klassiker unter den Bildgeschichten, die in einem äußerst minimalen Zeichenstil gestaltet sind.16 Beim Unterrichtseinsatz von biographischen Graphic Novels werden Lehrkräfte und Lernende möglicherweise vor einige Herausforderungen gestellt. Dies kann beispielsweise den Umfang (Blankets), die Komplexität (Logicomix) oder die Überforderung mit Themen wie Drogen und Gewaltverbrechen (Mein Freund Dahmer) betreffen. Diesen Herausforderungen kann dadurch begegnet werden, dass man im Vorhinein die zu besprechenden Stellen ausgewählt, die Graphic Novels durch Vorinformationen die entlastet oder Probleme durch Unterrichtsgespräche aufgefangen werden.

■  Auswahl autobiographischer Comics und Graphic Novels: Alfred/Oliver Ka: Warum ich Pater Pierre getötet habe. Carlsen 2008. (Kindesmissbrauch) Backderf: Mein Freund Dahmer. Metrolit 2013. (Entstehung von Gewalt) Budde: Such dir was aus, aber beeil dich. Fischer 2010. (Diverse Themen, u. a. Tod) Chast: Können wir nicht über etwas anderes reden? Rowohlt 2015. (Pflege der Eltern, Tod) Mizuki: Auf in den Heldentod! Reprodukt 2019. (Sinnlosigkeit des Krieges) Nagata: Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit. Carlsen 2019. (Depression, Identität) Picciotto: We are Gypsies now. Metrolit 2013. (Lebensführung, Grundbedürfnisse, Verzicht) Thompson: Blankets. Carlsen 2009. (Erste Liebe, fundamentalistisch-christliche Erziehung)

■  Auswahl biographischer Comics und Graphic Novels: Doxiadis/ Papadimitriou: Logicomix. Atrium 2010. (Biographie Bertrand Russels) Grolleau/ Royer: Charles Darwin. Knesebeck 2019. (Weltbild der Evolutionslehre) Herzog: Lampe und sein Meister Kant. Edition Büchergilde 2017. Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt. dtv 2019. (Biographie Hannah Arendts) Tardi: Ich. René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B. Edition Moderne 2013. (Freiheit und Unfreiheit in Kriegsgefangenschaft)

Für den Philosophie- bzw. Ethikunterricht bieten sich auch Kurzbiographien mit einem Umfang von eins bis sechs Seiten an. Folgende Sammlungen von Biographien Beispiele unter: https://www.wb-web.de/material/medien/zehn-tools-zur-gestaltung-voncomics-und-cartoons.html (Stand: 24.04.2020). 16 Vgl. https://www.avant-verlag.de/comics/das-lange-ungelernte-leben-des-roland-gethers/ (Stand: 24.04.2020). 15

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stellen zwar keine Graphic Novels im engeren Sinn dar, weisen aber großes Potenzial für unterrichtliche Zwecke auf: In Vita Obscura widmet sich Simon Schwartz eher unbekannten und exzentrischen Biographien. Gerade die Absurdität mancher Biographien regt zur philosophischen Auseinandersetzung an, wie z. B. das Leben des Obdachlosen Joshua Morton, welcher sich im 19. Jahrhundert zum Kaiser der USA erklärte. Einen anderen Fokus legt Pénélope Bagieus in der zwei Bände umfassenden Sammlung Unerschrocken: Es werden ausschließlich besondere und prägende Frauen der Menschheitsgeschichte vorgestellt. An den einzelnen Kurzbiographien lässt sich exemplarisch die Vorbildhaftigkeit bzw. Tugendhaftigkeit der einzelnen Leben genauso wie die Entsprechung von Geschlechtererwartungen diskutieren.

  Comic-Adaptionen philosophischer Texte Über das Verhältnis von Literatur und Philosophie kann gestritten werden. Mehrfach wird jedoch betont, dass Literatur gewinnbringend im Philosophie- und Ethikunterricht eingesetzt werden kann, da literarische Werke als ansprechend, abwechslungsreich und zugänglich gelten.17 Es erscheint naheliegend, dass sich diese Vorzüge literarischer Textformen auch auf Comics und Graphic Novels übertragen lassen. Dieser Abschnitt befasst sich mit Comicumsetzungen philosophischer Texte. Die meisten solcher Bildgeschichten sind Adaptionen literarischer Texte von Philosophinnen und Philosophen, z. B. eine Umsetzung von Camus’ Erzählung Der Fremde (von Jacques Ferrandez) und Prousts siebenbändigem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (von Stéphanes Heuet). Vereinzelt lassen sich auch Comic-Adaptionen diskursiver Texte finden wie jüngst von Marx’ und Engels’ Das kommunistische Manifest (von Martin Rowson). Darüber hinaus werden in einigen Bildgeschichten philosophische Ausführungen wiedergegeben. Vor allem Platons Höhlengleichnis lässt sich gleich mehrfach finden, z. B. in Craig Thompsons Blankets (S. 495–503) und in Ralf Königs Prototyp (S. 67–72). Viele Anwendungen solcher Comics für den Unterricht scheinen naheliegend und wurden in der Philosophiedidaktik bereits vorgeschlagen: 1.  Ein Vergleich des philosophischen Comics mit dem Primärtext kann zu einem vertieften Verständnis des Textes führen. Darauf wies bereits Kai Wiesinger für den Oberstufenunterricht hin.18 Dieses Vorgehen kann ergänzt werden, indem verschiedene Comic-Adaptionen und der zugrundeliegende Text verglichen werden. Durch Dies hebt Klaus Goergen für belletristische Werke hervor (vgl. Goergen, Klaus: »Das Gute im Schönen. Belletristik im Literatur- und Ethikunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38, 2016, Heft 1: Jugendliteratur, S. 113–119, S. 114). Auch Johannes Rohbeck betont in Hinblick auf die Sekundarstufe I, dass die Literatur ohne Zweifel oftmals hilfreich für den Philosophie- und Ethikunterricht sei (vgl. Rohbeck, Johannes (2004): »Literarische Formen des Philosophierens im Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 26, 2004, Heft 2: literarisches Philosophieren, S. 90–101, S. 91). 18 Wiesinger, Kai: »Die schwierige Liebe zur Wahrheit. Blick mit einem Comic auf das Höhlen­ 17



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einen Vergleich der Bildgeschichten miteinander könnten die jeweiligen Merkmale besonders anschaulich herausgearbeitet und die Schülerinnen und Schüler so im Umgang mit Comics geschult werden. Zwar scheint die Anzahl von philosophischen Comic-Umsetzungen überschaubar zu sein, jedoch liegen zumindest für Platons Höhlengleichnis mehrere Versionen vor, die ins Deutsche übersetzt worden sind. 2.  Es ist zu überlegen, inwiefern ein Comic einen Text ersetzen kann.19 Für Wiesinger und seine Lerngruppe20 scheint der Primärtext notwendig für ein tiefergehendes Verständnis, jedoch steckt gerade im Comic das Potential einer Vereinfachung der philosophischen Inhalte und die Anbindung an die Lebenswelt der Jugendlichen (so taucht in Wiesingers Adaption, die einer studentischen Zeitung entnommen ist, die Figur des Morpheus aus dem Film Matrix auf und in Thompsons Version bezieht der Protagonist Platons Ausführungen auf sein Schulleben). Gibt eine Comic-Adaption die zentralen Aussagen des Primärtextes adäquat wieder, so kann auch die alleinige Auseinandersetzung mit der Bildgeschichte Inhalte der Philosophiegeschichte vermitteln und durch das Herausarbeiten der Argumente zudem zentrale Fähigkeiten bei den Lernenden schulen. 21 Außerdem können Bildgeschichten eingesetzt werden, um im Unterricht Sachwissen zu vermitteln. Für die Sekundarstufe I schlägt Katrin Seele etwa die Thematisierung von Siddhartha Gautamas Leben durch einen Comic vor. 22 3.  Anstelle eines Fokus auf die philosophischen Argumente, welche meist im Text enthalten sind, kann ein Fokus auf bildliche Zeichen und Symbole lohnenswert sein. Dies würde eine besondere Abwechslung zur Textarbeit bieten. Beispielsweise kann eine Analyse von Farbgebung, gewählten Symbolen, Mimik oder Gestik der gezeigten Proletarier in Rowsons Adaption des kommunistischen Manifests dazu führen, dass die Ausführungen von Marx und Engels anschaulicher und eindringlicher vermittelt werden können, als dies beim Primärtext der Fall wäre. Mit Stefan Maegers Ausführungen zu einer philosophischen Bilddidaktik kann argumentiert werden, dass gerade die Analyse bildlicher Zeichen zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Lerngegenstand führt, z. B. durch eine Diskussion der Bedeutungsebenen oder eine interpretative Hypothesenbildung und -beurteilung. 23 Auch in



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gleichnis«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 4: Liebe, S. 304–308, S. 308. Klaus Goergen erörtert die Vorzüge, moralphilosophische Positionen durch belletristische Texte zu erarbeiten anstatt mit Primärtexten. Diese seien leichter verständlich, ansprechender und würden den Reiz des Ungewohnten und des Narrativen aufweisen (Vgl. Goergen, Klaus: »Das Gute im Schönen. Belletristik im Literatur- und Ethikunterricht«, a. a. O., S. 114). Offensichtlich gelten diese Vorzüge auch für Comic-Umsetzungen philosophischer Texte oder für Graphic Novels, welche philosophische Fragen bzw. Ausführungen enthalten. Vgl. Wiesinger, Kai: »Die schwierige Liebe zur Wahrheit. Blick mit einem Comic auf das Höhlen­ gleichnis«, a. a. O., S. 306–307. Wiesinger resümiert, dass der Text-Comic-Vergleich beides ermögliche. Vgl. ebd., S. 308. Seele, Katrin: »Interkulturelles Philosophieren mit Comics und goanimate.com. Buddhismus – Sekundarstufe I«, in: Ethik & Unterricht 23, 2012, Heft 1: Woran glaubst du?, S. 29–31. Vgl. Maeger, Stefan: »Der Reiz der Bilder. Einsatzmöglichkeiten von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 11, 2000, Heft 3: Methoden , S. 35–41, S. 37.

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anderen Zusammenhängen des Philosophie- und Ethikunterrichts kann eine Untersuchung der Symbole und Zeichen relevant sein. 24 Welche unterrichtlichen Nachteile können mit den aufgeführten Vorgehensweisen verbunden sein? Einerseits ist ein nicht zu unterschätzender Zeitaufwand damit verbunden, die einzelnen Comics zu analysieren und miteinander bzw. mit dem philosophischen Primärtext zu vergleichen. Auch im Unterricht würde viel Zeit für den Vergleich benötigt. Dass gerade dieses Vorgehen aber lohnenswert ist, hat bereits Wiesinger dargelegt. Sollten Comics eingesetzt werden, so scheint es erforderlich, dass dies regelmäßig geschieht, damit die Schülerinnen und Schüler einen kritischen Umgang25 mit dem Medium erlernen. Auch dies muss die Lehrkraft zusätzlich in ihrer Zeitplanung bedenken.

■  Auswahl an Adaptionen philosophischer Werke: Camus/Ferrandez: Der Fremde. Jacoby & Stuart 2014. Proust/Heuet: Suche nach der verlorenen Zeit. Knesebeck 2010–2020 (bislang 7 Bände). Marx/Engels/Rowson: Das kommunistische Manifest. Knesebeck 2018. Hervor sticht außerdem die Promotionsarbeit von Nick Sousanis, die er in Comicform einreichte und veröffentliche. In Unflattening setzt er sich nicht nur mit Fragen der Erkenntnistheorie, sondern auch mit der Darstellungsform des Mediums auseinander, und zeigt dabei, wie die Gestaltungsmittel von Comics eingesetzt werden können, um philosophische Ausführungen zu vermitteln.

■  Graphic Novels, die Adaptionen philosophischer Theorien oder Texte enthalten26: Mazzucchelli: Asterios Polyp. Eichborn 2009. (enthält Ausschnitte aus Platons Symposion) Thompson: Blankets. Carlsen 2009. (gibt Platons Höhlengleichnis wieder) König: Prototyp. Rowohlt 2010. (enthält u. a. ebenfalls das Höhlengleichnis)



Katrin Manz und Jan Standke schlagen vor, dass durch eine Untersuchung der symbolischen Bedeutung der Raumdarstellung im Comic der Frage nachgegangen werden kann, ob ein Mensch, der sein Leben lang Böses getan hat, noch ein guter Mensch werden kann. Als Grundlage für den Unterrichtsentwurf dient die Graphic Novel Der Mörder weinte von Thierry Murat (vgl. Manz, Katrin; Standke, Jan: »Können Mörder weinen? Moralische und symbolische Dimen­sionen des Bösen im Roman Der Mörder weinte«, in: Praxis Deutsch 24, 2017, Heft 261: Das Böse, S. 28–35). 25 Auch Christa Runtenberg betont, dass diese Fähigkeit nur in längeren Prozessen gefördert werden kann – vom elementaren Sehen zum komplexen Bildlesen. Vgl. Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 116. 26 Auch wenn es sich bei dem Band nicht um eine Graphic Novel handelt, so kann hier Nicolas Mahlers Partyspaß mit Kant ergänzt werden. Mahlers Philosofunnies umfassen u. a. Platons Aus­ führungen zum Kugelmenschen aus dem Symposion oder Ausschnitte aus Rousseaus Gesell­ schafts­vertrag. Die kurzen »Funnies« ergänzen Originalpassagen philosophischer Texte um verfremdete, meist in der Gegenwart angesiedelte Zeichnungen, welche die eigentliche Pointe von Mahlers Band bilden. So tritt Blaise Pascal als Weltraumheld auf und Arthur Schopenhauer als Fahrschullehrer. Zu beachten ist, dass für einige Jugendliche die Lektüre durch Mahlers stark reduzierten Zeichenstil und das verfremdete Setting erschwert wird. 24



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  Superhelden-Comics27 Aufgrund der Vielfalt und Wandelbarkeit von Superhelden-Comics ist es nur schwer möglich, das gesamte Genre mit einer einheitlichen Definition zu bestimmen. Selbst der zentrale Begriff des Superhelden bzw. der Superheldin lässt sich nicht klar definieren. Zentrale Merkmale wie Superkräfte, ein bestimmtes Kostüm oder Werte und Ideale28 gelten zwar als weit verbreitet, jedoch lassen sich schnell Gegenbeispiele finden. So gibt es Helden und Heldinnen ohne besondere Fähigkeiten oder dramatische Geschichten, in denen diese gezwungen sind, Probleme zu lösen, ohne ihre Kräfte oder technische Hilfsmittel einzusetzen. Nicht selten verschwimmen außerdem in modernen Geschichten die Grenzen zwischen moralisch guten und fragwürdigen Figuren. 29 In der Comicforschung gibt es den Ansatz, das Genre aus historischer Perspektive zu untersuchen, um Kontinuitäten und Wandel der Superheldengeschichten herauszuarbeiten. Interessant für den Philosophieunterricht werden diese Geschichten ab dem sogenannten Silver Age, in dem Konflikte der Superheldenidentität mit der privaten Identität der Heldinnen und Helden zunehmend thematisiert werden, u. a. bei den Fantastic Four oder Spider-Man. Dies lag auch daran, dass in den USA die Comics durch die Comic Code Authority reglementiert wurden. 30 Da kein rotes Blut gezeigt werden sollte, wurden manche Konflikte nun mit Außerirdischen oder Maschinen ausgetragen, was für einige philosophisch interessante Geschichten sorgte. 31 In dem darauf­folgenden Bronze oder Dark Age Auf den ersten Blick scheint es sich bei Superhelden-Comics um Serien zu handeln. Ole Fram legt anschaulich dar, dass sich Graphic Novels nur unzureichend von Superhelden-Comics unterscheiden lassen (vgl. Frahm, Ole: »Die Fiktion des Graphischen Romans«, in: Hochreiter, Susanne; Klingenböck, Ursula (Hrsg.): Bild ist Text ist Bild, Narration und Ästhetik in der Graphic Novel, a. a. O., S. 62). Als Beispiel können hier auch abgeschlossenen Maxiserien genannt werden (wie z. B. Tom Kings und Mitch Gerads Mister Miracle – Darkseid ist) oder vergleichsweise abgeschlossene Geschichten innerhalb von Comic-Serien (z. B. Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos Old Man Logan – Berserker). 28 Diese Merkmale lassen sich beispielsweise in Simon Mayers Gedankenexperiment zur SuperIdentität finden. Vgl. Mayer, Simon: »Ich und mein Super-Ich. Mit der Graphic Novel Ms. Marvel Fragen nach Identität, Transkulturalität und Körperidealen reflektieren«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 30–36: S. 33. 29 Eine bedenkenswerte Erklärungsmöglichkeit bietet der Begriff der Supererogation, welcher auf die Vulgata zurückgeht (die lateinische Bibel aus dem 4. Jahrhundert). Super­erogation meint die moralischen Handlungen über die religiöse und moralische Pflicht hinaus (vgl. Raters, MarieLuise: »Einmal ein Held sein? Kritische Überlegungen zur Supererogation als Leitbild der Moralerziehung«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik2 37, 2015, Heft 2: Moralische Urteilsbildung, S. 54–66: S. 55). 30 Einen Überblick über die Entstehung und die Geschichte des Comic Code ist unter https://www. heise.de/tp/features/Wir-haben-den-Ultimate-Nullifier-3414804.html (Stand: 24.04.2020) zu finden. Der übersetzte Originaltext von 1971 kann hier abgerufen werden: https://www.splashcomics.de/php/specials/seiten/71 (Stand: 14.04.2020). 31 Beispielsweise werden in der klassischen Geschichte »Terror in a Tiny Town« von 1981 die Fantastic Four von Doctor Doom gefangenen genommen (Fantastic Four #236). Die Familienmitglieder werden ihrer Erinnerungen beraubt und ihr Bewusstsein wird in die Körper von Robotern versetzt. Im Unterricht kann der Comic auf das Leib-Seele-Problem bezogen werden – genauso 27

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werden Superhelden einer Ideologiekritik unterzogen. In den Klassikern Watchmen oder The Return of the Dark Knight weisen die Protagonisten neurotische, desillusio­ nierte oder brutale Wesenszüge auf. 32 Aufgrund ihres Inhalts können Superhelden-Comics meist in einem moralphilosophischen Kontext im Unterricht eingesetzt werden. 1.  So empfiehlt sich beispielsweise ein begriffsanalytisches Vorgehen. 33 Oft reicht schon das Vorwissen der Lerngruppe über bekannte Figuren und Antagonisten aus, um sich den Begriffen »gut« und »böse« anzunähern. Möglich ist aber auch die Arbeit mit den Begriffen »Mut«, »Tapferkeit«, »Gerechtigkeit« oder »Frieden« (letzteres ist zum Beispiel durch Paul Dinis und Alex Ross› Superman – Friede auf Erden möglich). Mit einigen Geschichten aus dem Bronze Age können vor allem Grenzfälle betrachtet werden, da viele Superheldinnen und -helden nicht mehr als eindimensional moralisch gut dargestellt werden. Ein mögliches Beispiel hierfür ist Sean Murphys Batman – der Weiße Ritter. In der Graphic Novel gilt der Joker als geheilt und wird zum titelgebenden Helden, der mit Polizeigewalt gegen den Vigilanten Batman kämpft. 2.  Der Inhalt der Superheldengeschichten kann dazu dienen, ethische Diskussionen anzuregen oder moralphilosophische Theorien zu veranschaulichen. Einige Geschichten enthalten scheinbare Dilemmata34 , die im Philosophie- und Ethikunterricht als Ausgangspunkt für Diskussionen dienen können. Beispielsweise droht dem Joker in Chuck Dixons und Graham Nolans Joker – Des Teufels Advokat die Todesstrafe für Morde, die der Clownprinz des Verbrechens zwar gestanden, aber nicht begangen hat. Zudem kann das Handeln zentraler Figuren einer moralphilosophischen Fallanalyse unterzogen werden. Hier bietet sich ein zentraler Moment am Ende von Alan Moores und Dave Gibbons› Watchmen an. Der Antagonist der Bildgeschichte offenbart, dass er ein gewaltiges Monster gezüchtet hat, um es auf die Menschheit loszulassen. Seine Absicht dahinter ist es, die Staaten, welche sich kurz vor einem nuklearen Dritten Weltkrieg befinden, zur friedlichen Zusammenarbeit zu zwingen. Das Szenario (so kontrafaktisch es zunächst scheinen mag) lässt sich ohne Umwege auf die deontologische und konsequentialistische Ethik anwenwie an Descartes‘ Erkenntnistheorie, indem sich die Lerngruppe fragt, wie sich die Protagonisten sicher sein können, was ihr richtiges Leben ist. Der Comic ist auf Deutsch u. a. in der Reihe Klassiker der Comic-Literatur der F. A.Z. erschienen. 32 Ecke, Joche: »Superheldencomics«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 233–247: S. 233–234. 33 Anhand eines Comics zum Märchen Die Schöne und das Biest können Merkmale des Begriffs Schönheit heraus­gearbeitet werden. Dieses Vorgehen schlägt Jörg Peters vor (vgl. Peters, Jörg: »Bin ich schön? Das Ich im Spiegel des Anderen«, in: Praxis Philosophie und Ethik 3, 2017, Heft 6; Ich und der Andere – die anderen und ich (Einzelstunden), S. 6–13). 34 Auf diese Anbindung an den Philosophieunterricht verweist u. a. Jörg Peters (Vgl. Peters, Jörg: »Mit Wort und Bild philosophieren. Gehören Bilderbücher und Comics in den Philosophie- und Ethikunterricht?«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 30 – 36: S. 12–13; vgl. auch Peters, Jörg: »Bilder und Comics«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 277–293: S. 286 und S. 291.



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den. Der Antagonist fragt Dr. Manhattan, welcher die Fähigkeit besitzt, in die Vergangenheit und Zukunft zu sehen, ob er das Richtige getan und am Ende alles funktioniert habe. Es kann sich lohnen, diese Frage an die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Dr. Manhattan selbst erwidert, dass nichts je wirklich enden würde. Aus der Graphic Novel kann so ein Argument gegen den ethischen Konsequen­ tialismus entnommen werden. Auf diese Weise kann der Comic nicht nur das Verständnis einer moralphilosophischen Theorie erleichtern, sondern auch dazu beitragen, deren Gültigkeit kritisch zu hinterfragen. 3.  Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Superhelden-Comics fast ausnahmslos als kontrafaktisch bezeichnet werden können. Bestimmte Geschichten eignen sich daher, um abstrakte Konzepte zu thematisieren und zu konkretisieren – wie Körper, Seele oder Identität. 35 Manche Superhelden-Fähigkeiten haben dabei sogar einen stärkeren Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, z. B. die Fähigkeit der jugendlichen Heldin Ms. Marvel, ihren eigenen Körper beliebig zu verändern. Simon Mayer verweist auf den Vorteil bestimmter Comics, dass die Durchführung des Gedankenexperiments unmittelbar visuell gezeigt und von der Protagonistin auch reflektiert wird. 36 Gedankenexperimente der Populärkultur können den Lernenden aufzeigen, so argumentiert Jeff McLaughlin, welche Relevanz und Verbreitung philosophische Ideen haben können, die seit Jahrhunderten diskutiert werden. 37 4. Eine gewinnbringende – aber zeitaufwendigere – Möglichkeit, SuperheldenComics im Philosophie- und Ethikunterricht zu analysieren, wäre es, ausgewählte Comic-Darstellungen mit einer filmischen Inszenierung zu vergleichen. Mit diesem medialen Vergleich ließe sich vor allem die Fähigkeit der Lernenden schulen, Comics und Filme sorgfältiger zu analysieren und sich der Besonderheiten der einzelnen Medien bewusst zu werden. 38 Eine philosophische Erschließung der verschiedenen Materialien würde so mit der in allen Fächern geforderten Medienkompetenz verbunden werden. Als Beispiel können hier Superhelden-Verfilmungen dienen. So verweist Rico Handorf auf die moral- bzw. staatsphilosophische Relevanz von

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Bezugnehmend auf Die Klonsaga (The Clone Saga, 1994–1996, primär von Terry Kavanagh, Howard Mackie und Gerry Conway) oder Die verlorenen Jahre (The Lost Years, 1995–1996, von Jean Marc DemMatteis, John Romita junior und Klaus Janson) kann gefragt werden, inwiefern sich Peter Parker und seine Klone Bein Reilly oder Kaine eine Identität teilen. Mit Hilfe von Wilson, G. Willow; Alphona: Alphonas Ms. Marvel – Metamorphose, Panini Verlag, Stuttgart 2016, lassen sich so Zusammen­hänge von Körper und Identität, aber auch von westlichen Schönheitsidealen bzw. Stereotypen im Unterricht behan­deln. So nimmt die jugendliche Heldin, welche die Tochter pakistanischer Einwanderer ist, zunächst die äußere Erscheinung ihres Vorbilds Carol Denvers bzw. Captain Marvels an – einer blonden langbeinigen Amerikanerin (vgl. Mayer, Simon: »Ich und mein Super-Ich. Mit der Graphic Novel Ms. Marvel Fragen nach Identität, Transkulturalität und Körperidealen reflektieren«, a. a. O., S. 31). Vgl. McLaughlin, Jeff: »Deep Thinking in Graphic Novels«, a. a. O., S. 47. Dieses Vorgehen stellt auch eine Variante der Comicwissenschaft dar, um Comics zu analysieren (vgl. Packard, Stephan; Rauscher, Andreas; Sina, Véronique; Thon, Jan-Noël; Wilde, Lukas R. A.; Wildfeuer, Janina: Comicanalyse. Eine Einführung; Lehrbuch, J. B. Metzler, Stuttgart 2019, S. 113– 150).

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Frank Millers Die Rückkehr des Dunklen Ritters und Christopher Nolans The Dark Knight. 39 Möchte man den Einsatz von Superhelden-Comics im Philosophie- und Ethikunterricht hinterfragen, so ist es hilfreich, diese gegen andere Medien bzw. Materialien abzuwägen. Gerade bei moralphilosophischen Themen könnte eine Anwendung ethischer Theorien auf Alltagsbeispiele (wie dies z. B. in der SZ-Rubrik Gewissensfragen von Rainer Erlinger geschah40) eine lohnenswerte Alternative darstellen. Diese Beispiele haben einen starken Lebensweltbezug für die Lernenden und weisen dafür nicht die multimodale komplexe Darstellungsform von Comics auf. Manche Bereiche der Philosophie und Ethik beziehen sich jedoch auf Bereiche jenseits des jugendlichen Alltags, z. B. wenn es um eine Technik-Folge-Abschätzung zukünftiger Technologien geht. Für solche Bereiche könnten Comics als anschauliche und unterhaltsame Beispiele herangezogen werden. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Thematisierung von Superheldinnen und -helden als tugendhafte Vorbilder aus verschiedenen Gründen fraglich scheint. Neben der bereits erwähnten kontrafaktischen Grundannahme und der moralischen Ambiguität kann eingewendet werden, dass viele Heldinnen und Helden supererogativ handeln, also sich aufopfernd für das Gute über die Grenzen moralischer Pflichten hinaus einsetzen. Daher sollte gefragt werden, ob solche »Übermenschen« überhaupt als Vorbilder für Menschen geeignet sind. 41 Bei der Verwendung von Superhelden-Comics sollte stets bedacht werden, dass diese ursprünglich ideologische Figuren darstellten, die immer noch für politische, propagandistische oder ähnliche Ziele instrumentalisiert werden können. 42 Im Unterricht kann eine solche Manipulationsgefahr direkt thematisiert werden, zumal diese Ideologiekritik in einigen wenigen Comics selbst stattfindet, z. B. bei Miss Marvel43 oder Batman 44 . Weitere mögliche Nachteile von Superheldengeschichten, mit denen sich Vgl. Handorf, Rico: »Die Tücken der Gerechtigkeit in Gotham City – oder: Philosophieren mit Batman? Der Film ›The Dark Knight‹ im Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 3: Globale Gerechtigkeit, S. 212–219: S. 213. 40 Diese Fragen sind abrufbar unter: http://www.rainererlinger.de/die-gewissensfrage.html (Stand: 24.04.2020). 41 Marie-Luise Raters kommt zu dem Ergebnis, dass es zielführender für eine Wertevermittlung ist, Menschen aus dem Alltag als Vorbild zu thematisieren. Beispielsweise könnten die Lernenden mit ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ins Gespräch kommen, die beispielsweise bei einer Obdachlosentafel helfen, und diese unter anderem nach der Belastung und der emotionalen Befriedigung fragen (vgl. Raters, Marie-Luise: »Einmal ein Held sein? Kritische Überlegungen zur Supererogation als Leitbild der Moralerziehung«, a. a. O., S. 64). 42 Auf diese Gefahr weist u. a. Michael Segets hin (vgl. Segets, Michael: »Was ist ein Held? Der Held als Tugendmodell zwischen Vorbild und Instrumen­t alisierung«, in: Ethik & Unterricht 29, 2018, Heft 4: Tugend und Laster, S. 47–54: S. 47). 43 Vgl. Mayer, Simon: »Ich und mein Super-Ich. Mit der Graphic Novel Ms. Marvel Fragen nach Identität, Transkulturalität und Körperidealen reflektieren«, a. a. O., S. 19. 44 Hier dient erneut Frank Millers The Dark Knight Returns (1986, dt.: Die Rückkehr des Dunklen Ritters) als stilgebendes Beispiel. In der Graphic Novel wird beispielsweise Superman als willfähriger Befehlsempfänger des amerikanischen Präsidenten hingestellt, während Batman seine moralischen Prinzipien ablegt (wie z. B. das Tötungsverbot). 39



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Lehrkräfte auseinandersetzen sollten, lassen sich in folgenden Fragen festhalten: Inwiefern sind die düsteren Darstellungsformen und Inhalte wie Gewaltdarstellungen für jugendliche Leserinnen und Leser geeignet? Welches Vorwissen wird für das Verständnis der Geschichte oder des Ausschnittes benötigt (zeichnen sich doch viele Geschichten von großen Verlagen wie DC oder Marvel durch eine erhebliche Komplexität aus, die sich nicht selten über verschiedene Multiversen erstreckt)?

■  Auswahl an Superhelden-Comics: Moore/Gibbons: Watchmen. Panini 2008. (Diverse Bezüge, u. a. zum Utilitarismus) Miller: Die Rückkehr des Dunklen Ritters. Panini 2017. (Diverse Bezüge, u. a. Selbstjustiz) Dixon/Nolan: Der Advokat des Teufels. Panini 2010. (Konflikt zur Todesstrafe) Rucka/ Jones: Batman/ Wonder Woman – Hiketeia. Panini 2017. (Moralischer Relativismus) Gaiman/Kubert: Was wurde aus dem Dunklen Ritter? Panini 2020. (Guter Tod) Dini/Ross: Superman – Friede auf Erden. Carlsen 1999. (Frieden und Sicherheit) King/Gerads: Mister Miracle – Darkseid ist. Panini 2019. (Dilemma, Wirklichkeit) Remender/Opeña/Larraz: Ultrons Zorn. Panini 2015 (Vergleich Mensch und Maschine) Duggan/Larraz: Ultrons Rückkehr. Panini 2017 (Vergleich Mensch und Maschine) Bendis/Coipel: House of M. Panini 2007. (Parallelen zu Nozicks Erlebnismaschine) Slott/Ramos/Gage/Camuncoli: Spider-Man – Kein Ausweg. Panini 2015. (Todesstrafe) Cage/Foreman: Spiderman – Civil War II. Panini 2017. (Willensfreiheit und Determinismus) Aaron/Ribic: Thor: Götterschlächter. Panini 2013. (Identität und Gotteskritik) Ellis/Granav: Iron Man – Extremis. Panini 2013. (Folge-Abschätzung von Waffentechnik)

  Weitere Genres Es gibt weitere Subgenres von Comics bzw. Graphic Novels, welche sich mit ernsthaften und komplexen Themen auseinandersetzen. Einige sollen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz vorgestellt und deren mögliche Anbindung an den Philosophieunterricht skizziert werden. Comicreportagen beispielsweise verbinden Fakteninformationen mit der subjektiven Reflexion des Reporters oder der Reporterin. 45 Auf diese Weise lassen sich anschaulich Bezüge zu gesellschaftlichen, politischen oder historischen Themenkomplexen herstellen, welche zu einer ethischen Reflexion führen können. Beispiele für Anknüpfungspunkte sind die Verantwortung für die Natur (Kazuto Tatsutas Reaktor 1F – Berichte aus Fukushima), Erfahrungen mit Krieg und Konflikten (Joe Saccos Palästina oder Guy Delisles Aufzeichnungen aus Jerusalem) oder psychische Belastungen von Soldaten (Maëls und Olivier Moreks Die Rückkehrer – Wenn der Krieg im Kopf nicht endet). Die Stärke der Comicreportagen liegt darin, geopolitische oder ökologische Zusammenhänge mit Erfahrungen konkreter Menschen zu verbinden

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Vgl. Hangartner, Urs: »Sachcomics«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 291–303: S. 298.

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und diese so für die Leserinnen und Leser greifbar zu machen. Im Unterricht können Fakten aus den Comics erarbeitet und in größere Zusammenhänge eingeordnet werden. Gleichzeitig ist es reizvoll, sich in die betroffenen Menschen hineinzuversetzen und eventuell ethische Schlussfolgerungen aus diesem Perspektiv­wechsel zu ziehen. Will man die Gestaltungsmöglichkeiten des Comics im Fachunterricht ausloten, so empfiehlt sich die Lektüre von sogenannten Meta-Comics. Diese stellen ihren eigenen Status als Comic heraus und reflektieren diesen. 46 Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl Scott McClouds Comics richtig lesen. Auszüge aus seinem Werk sind in den Zeitschriften Ethik & Unterricht47 und APuZ48 abgedruckt worden. ­McClouds Standardwerk ist aufgrund seiner Anschaulichkeit und Zugänglichkeit in Auszügen auch für Schülerinnen und Schülerinnen ab der Mittelstufe im Schulunterricht gut einsetzbar. Alternativ können die Regeln der Gestaltungsmittel des Comics unterhaltsam mit Pascal Jousselins Unschlagbar – der einzig wahre Superheld des Comics analysiert werden. Für den titelgebenden Helden gelten die Gesetz­mäßigkeiten des Mediums nicht, so kann er beispielsweise mit dem Inhalt in anderen Bildern interagieren, während andere Figuren mit ihren Sprechblasen Hindernisse erschaffen oder die Fähigkeit haben, perspektivische Darstellungen zu manipulieren. Aufgrund der Thematik und der Kürze der einzelnen Geschichten 49 ist dieser Comic hervorragend für den Unterricht geeignet. Zuletzt sollen noch weitere Subgenres aufgezählt werden, welche eine Relevanz für den Philosophie- und Ethikunterricht besitzen: historische Comics (Identität in Birgit Weyhes Madgermans oder Sinnlosigkeit des Krieges in Tardis Grabenkrieg), phantastische Comics (z. B. Neil Gaimans Sandman) und Kriminalcomics (diese können ähnlich wie Superhelden-Comics in den Unterricht eingebunden werden, z. B. die diversen Adaptionen der Geschichten von Sherlock Holmes).



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Vgl. Werner, Lukas: »Metacomics«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 304–315: S. 304. Vgl. Mayer, Simon: »Materialteil«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019. Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 5–7. Vgl. McCloud, Scott: »Was sind Comics?, in: Aus Politik und Zeitgeschehen (APuZ) 64, 2014, Ausgabe 33–34: Comics, S. 3–10, auf: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/189540/comics (Stand: 24.04.2020). Der Comic ist in keiner Weise eine Graphic Novel. Der Großteil der Geschichten umfasst lediglich eine Seite.



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■  Comicreportagen Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Reprodukt 2012. (Nah-Ost-Konflikt) Maëls/Moreks: Die Rückkehrer. Carlsen 2014. (Posttraumatische Belastungsstörung) Sacco: Palästina. Edition Moderne 2009. (Interkulturelles Zusammenleben) Sacco: Wir gehören dem Land. Edition Moderne 2020. (Ökologie, Kapitalismus, Postkolonialismus) Stetter: Uns fürchtet nur das Unbekannte. Jaja Verlag 2019. (indische Lebensweise) Tatsuta: Reaktor 1F. Carlsen 2016–2017 (3 Bände). (Technik-Folge-Abschätzung)

■  Graphic Novels mit philosophischen Bezügen Bagieu: Wie ein leeres Blatt. Carlsen 2018. (Massenkultur und Identität) Bondoux/Murat: Der Mörder weinte. Schreiber & Leser 2011. (Schuld, Verantwortung) Chabouté: Ganz Allein. Carlsen 2011. (Gedankenexperiment zur Erkenntnistheorie) Crumb: Robert Crumbs Genesis. Carlsen 2009. (Christliches Menschen- und Gottesbild) Moon/Bá: Daytripper. Vertigo 2018. (Lebensführung, Tod und Identität) Mathieu: Gott höchstselbst. Reprodukt 2010. (Gott, Medien- und Kapitalismuskritik) Mathieu: Otto. Reprodukt 2017. (Determinismus, Identität) McGuire: Hier. Dumont 2015. (Raum, Zeit, Menschheitsgeschichte) Pausewang/Hage: Die Wolke. Tokyopop 2010. (Atomkraft, Technik-Folge-Abschätzung) Pedrosa: Jäger und Sammler. Reprodukt 2016. (u. a. Theodizee und Lebensführung) Tan: Ein neues Land. Carlsen 2015. (Migration und Flucht)

Die hier angeführten Beispiele und Subgenres zielen nicht auf Vollständig­keit ab. So sind einige Themenbereiche nicht aufgeführt worden (u. a. Fantasy- oder ScienceFiction-Comics). Die Unterteilung in bestimmte Genres soll vor allem der Orientierung dienen. Ziel ist es dabei nicht, die einzelnen Genres klar voneinander abzugrenzen oder einzelne Werke ausschließlich einem Genre zuzuordnen.

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 M 1   Craig Thompson: Blankets50

Der Ausschnitt zeigt Craig mit seinem Bruder Phil. Beide besuchen einen Ort ihrer Kindheit.



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Thompson, Craig: Blankets, a. a. O., S. 536–538.



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 Arbeitsanregungen  Beschreibe, worum es in dem Ausschnitt geht. Achte auch auf zeichnerische Besonderheiten.  Analysiere, ob der Comic eine philosophische Frage enthält.  Untersuche, inwiefern die Frage im Comic beantwortet wird (am Text und Bild erläutern).  Erörtere die Fragestellung nun selbst (u. a. mit eigenen Argumenten und Beispielen).  Beurteile abschließend, ob die Antwort im Comic überzeugend ist.



Graphic Novels im Philosophie- und Ethikunterricht

 M 2   Ralf König: Prototyp51



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König, Ralf: Prototyp, a. a. O., S. 69–70.

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 Arbeitsanregungen  Fasse den Comic zusammen und erarbeite anschließend seinen philosophischen Gehalt.  Vergleiche den Comic von Ralf König mit dem entsprechenden Text von Platon.  Beurteile, ob der Comic Platons Text richtig wiedergibt.



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 M 3   Brian M. Bendis: House of M52 In dem Comic House of M finden sich alle Superhelden plötzlich in einer anderen Realität wieder. Ein Anführer der Mutanten, Magneto, hat die Realität nach seinen Vorstellungen verändert. Dafür hat er unter anderem die Kräfte seiner Tochter benutzt: Wanda Maximoff (Scarlett Witch). Das folgende Zitat stammt aus dem Comic: »Magneto überredete […] seine […] Tochter, die Welt nach seinem Bild zu verändern, […] damit er uns geben kann, was wir uns im Innersten wünschen. Oder etwas, das dem nahekommt, damit wir zufrieden sind. Glücklich in Magnetos Traum.«

Captain America wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nie eingefroren. Jedoch ist er nun 100 Jahre alt und kann den anderen keine Hilfe sein.

Peter Parker wurde zu Spider-Man. Ansonsten sind ihm seine privaten Schicksalsschläge erspart geblieben. Onkel Ben lebt noch und Peter ist mit Gwen Stacy verheiratet.

Tony Stark ist der erfolgreichste Mensch der Geschäftswelt. Als Iron Man und Privatperson muss er sich aber strikt an die Vorgaben des »House of M« halten. Ursprünglich konnte sich Wolverine nicht an seine Vergangenheit erinnern. Jetzt weiß er alles, z. B. wo er herkommt, wer seine Eltern sind usw. Er kann sich aber auch an alle ­negativen Erfahrungen erinnern, z. B. die grau­ samen Experimente …

 Arbeitsanregungen  Der Comic kann als ein Gedankenexperiment betrachtet werden. Lies den Text oben durch und nenne die Annahmen, die in dem Comic stecken. Beginne mit »Angenommen, dass …«. Nenne mögliche philosophische Fragen, die sich aus den Annahmen ergeben.  Stell dir vor, die Annahmen, die du oben gesammelt hast, würden auch für dich gelten.  Untersuche, wie dein Leben dann aussehen könnte.  Lies die Erläuterungen zu den einzelnen Superhelden durch. Fasse kurz zusammen, welche Auswirkungen die andere Realität auf ihr Leben hat. Begründe, ob die Superhelden (vermutlich) in dieser Realität leben wollen würden.

Bendis, Brian Michael; Coipel, Olivier: House of M, übers. von Schrittmatter, Michael, Panini Comics, Nettetal-Kaldenkirchen 2007. Die Abbildung zeigt das Cover der deutschen PaperbackAusgabe (vgl. https://paninishop.de/house-of-m-superhelden-comics/house-of-m-dmapb004, Stand: 15.11.2020).

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 Vergleiche das Gedankenexperiment im Comic mit Robert Nozicks »Die Erlebnismaschine«. Nenne dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Erörtere abschließend die zentrale philosophische Frage (vgl. Aufgabe 2). Du kannst da bei mögliche Argumente nennen, die sich aus deinen eigenen Überlegungen, dem Comic oder Nozicks Text ergeben haben. Ist es erstrebenswert, dass sich alle Wünsche erfüllen? Beantworte diese Frage zunächst  selbst. Vergleiche anschließend, wie die Superhelden im Comic diese Frage beantworten könnten.

2  

  M ÖGLICHKEITEN FÜR DEN EINSATZ VON COMICS UND GR APHIC NOVELS IN DER SEKUNDARSTUFE I

Die Graphic Novel Sprechende Hände als ­(philosophischer) Zugang zur Welt Regina Uhtes Helen Kellers Weg aus dem Bewusstseinsdunkel in die   Welt der Begrifflichkeit Die mit dem Eisner Award for »Best Reality-Based Work« ausgezeichnete Graphic Novel Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller1 von Joseph Lambert erzählt die Geschichte von Helen Keller (1880–1968), die im Alter von 19 Monaten so schwer erkrankte, dass sie blind und taub wurde; auch sprach sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Da sich das Mädchen nicht verständigen konnte, wuchsen seine Frustration, Wut und Ungeduld. Helen bezeichnete sich später selbst als »Phantom«, ein plumpes und rücksichtsloses Wesen, »das lediglich von tierischen Impulsen (und nur selten von den Impulsen eines zahmen Tieres) beherrscht wurde« und das »leider keinen Sinn für ›natürliche‹ menschliche Bande« hatte. 2 Die Eltern standen den Gefühlsausbrüchen ihrer Tochter hilflos gegenüber, bis Helens Mutter Kate zufällig beim Lesen von Charles Dickens’ American Notes erfuhr, dass die taubblinde Laura Bridgman im »Perkins-Institut für Blinde« unter anderem von Dr. Howe unterrichtet wurde und gelernt hatte, sich mithilfe eines Fingeralphabets zu verständigen. Obwohl seitdem fast 50 Jahre vergangen waren, schöpfte Kate Hoffnung und nahm im Sommer 1886 Kontakt zu dem Institut auf, das nun von



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Die deutsche Ausgabe der Graphic Novel ist unter folgendem Titel erschienen: Lambert, Joseph: Sprechende Hände, übers. von Wals, Johanna, Egmont Graphic Novel, Egmont Verlag, Köln 2015. Vgl. auch Frahm, Ole: »Die Geschichte meines Lebens. Comicversionen von Helen Kellers berühmter Autobiographie«, in: Trabert, Florian; Stuhlfauth-Trabert, Mara; Waßmer, Johannes (Hrsg.): Graphisches Erzählen. Neue Perspektiven auf Literaturcomics, transcript Verlag, Bielefeld 2015, S. 65–88. Vgl. Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, Verlag Freies Geistleben, Stuttgart 2018, S. 32 und S. 33. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1955. Helen war ihr kindliches Ich später so fremd, dass sie von sich in der dritten Person schrieb und sich »Phantom« nannte. Vgl. auch Katja Behrens: Alles Sehen kommt von der Seele. Die außergewöhnliche Lebensgeschichte der Helen Keller, Gulliver, Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 2014, S. 7.

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Howes Schwiegersohn, Michael Anagnos, geleitet wurde. Ein paar Wochen später kam die Antwort, dass jemand gefunden worden sei, der Helen unterrichten könnte: Annie Sullivan. Helens Eltern engagierten Annie als Lehrerin, die nach und nach das Vertrauen des Kindes gewann und es mit liebevoller Strenge unterrichtete. Helen selbst schreibt später, dass es Jahre dauerte, »bis sie erfuhr, wie viele aufreibende Stunden Annie damit verbracht hatte, sie Gehorsam zu lehren, ohne ihren Willen zu brechen«. 3 Annie Sullivan erzog Helen und forderte konsequent Gehorsam ein, ohne das Kind zu demütigen oder zu unterwerfen. Sie spielte mit dem Mädchen und zeigte ihm, wie es sich mit dem Fingeralphabet verständigen konnte. Dabei werden die Buchstaben des Alphabets mit einzelnen Handzeichen dargestellt und zu Wörtern kombiniert. Annie buchstabierte Helen Wörter in die Hand, die ihre Schülerin zwar lernte, indem sie einen bestimmten Gegenstand mit einem Zeichen des Fingeralphabets in Verbindung brachte, aber die Bedeutung der Wörter erfasste sie nicht. Helen erkannte nicht, dass »alles einen Namen hat – dass sich die Symbolfunktion nicht auf bestimmte Fälle beschränkt, sondern ein universell anwendbares Prinzip ist und das gesamte Feld menschlichen Denkens umspannt«. 4 Am 5. April 1887 geschah es dann endlich, sie begriff die Bedeutung von Wörtern. Helen beschreibt diesen entscheidenden Moment im Rückblick wie folgt: »Phantom hatte einen Becher in der Hand, und während sie ihn unter das Rohr hielt, pumpte Annie Wasser hinein. Als es über die Hand floss, buchstabierte sie unaufhörlich w-a-t-e-r in die andere Hand. Plötzlich begriff Phantom die Bedeutung des Wortes, und ihr Geist begann in winzigen Flämmchen zu flackern. Zum ersten Mal seit ihrer Krankheit wurde sie von Freude erfasst, und begierig griff sie nach Annies stets bereiter Hand und bettelte um neue Wörter, um alle Gegenstände, die sie berührte, benennen zu können. Immer neue Bedeutungsfunken leuchteten in ihrem Bewusstsein auf, bis ihr Herz warm wurde und Zuneigung entstanden war. Vom Pumpenhäuschen gingen zwei begeisterte Wesen davon, die sich gegenseitig ›Helen‹ und ›Teacher‹ nannten.« 5

 Thematischer Bezug und didaktische Einbettung Das Beispiel von Helen Keller ist aus mehreren Gründen interessant für den Philosophie- und Ethikunterricht. Zum einen kann die Rolle der Wahrnehmung für die Erkenntnis und die Leistungen der Sinnesorgane als »Tor zur Welt« thematisiert werden, zum anderen wird die Bedeutung der Sprache für die Selbst- und Welterkenntnis deutlich.6

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Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 35. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. von Kaiser, Reinhard, PhB 488, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1996, S. 62. Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 35–36. Denkbar wäre eine Verortung in der Einführungsphase unter erkenntnistheoretischen und/oder anthropologischen Gesichtspunkten.

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Die Graphic Novel Sprechende Hände veranschaulicht und verdichtet das Leben Helen Kellers in einer Weise, wie es nur ein hybrides Medium wie der Comic vermag, und spricht dadurch die Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße sowohl kognitiv als auch affektiv an.7 Sicherlich könnte man Auszüge aus Helen Kellers Biografie heranziehen, um nachzuvollziehen, wie das Mädchen den Verlust zweier Sinne mit Hilfe seiner Lehrerin meisterte und warum der Erwerb einer Sprache der Durchbruch zu einem neuen Leben war. 8 Das didaktische Potential autobiografischer Texte ist immens, da der persönliche Zugriff auf eine philosophische Fragestellung den Einstieg ins Philosophieren erleichtert und in der Auseinandersetzung mit der fremden Biografie ein Verhältnis zur eigenen hergestellt wird.9 Im Comic aber ergänzen sich Wörter und Zeichnungen zu einem harmonischen Ganzen und ermöglichen leseschwächeren Lernenden einen Zugang zum philosophischen Thema. Gleichwohl werden lesestärkere Lernende nicht unterfordert. Je tiefer in das Buch eingetaucht wird, die Einzelbilder (Panels) sowie die Bildkomposition (Sequenzen und Seitenarchitektur) untersucht werden, desto fundiertere literarisch-­ visuelle sowie comicspezifische Kompetenzen sind gefragt. Man kann sich dem Comic vom Thema her nähern (Was wird erzählt?), man kann seine comicspezifische Erzähltechnik und For­mensprache analysieren (Wie wird erzählt?), aber vor allem die Bilder bzw. die Bildkomposition eröffnen den literarisch­-philosophischen Dis­ kurs. Im Übergang von Bild zu Bild muss eine Leerstelle gefüllt werden – da, wo das eine Bild endet und das nächste beginnt. Die Lernenden müssen Bedeutung konstruieren und dabei auf ihr Fachwissen (z. B. sprachliches Wissen, comicspezifisches Wissen, philosophisches Wissen und Medienwissen) und ihr Weltwissen zurückgreifen. Alle Kompetenzbereiche des Philosophieunterrichts können so­wohl von der analytischen als auch von der produktiven Arbeit mit Graphic Novels profitieren:



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Der Ausdruck Graphic Novel hat sich mittlerweile als Bezeichnung für eine Vielzahl unterschiedlicher Werke etabliert, die ihre Geschichten mit Mitteln des Comics erzählen. Eine eindeutige wissenschaftliche Definition des Begriffs gibt es bislang jedoch noch nicht. Die Begriffsbildung wird häufig Will Eisner zugeschrieben. Richtig ist, dass Eisners im Jahre 1978 fertig gestellte Kurzge­s chichtensammlung A Contract with God der erste Fall ist, in dem das Konzept einer Comicerzählung in Buchform und der Begriff Graphic Novel auf dem Cover zusammenkommen. Vgl. Blank, Juliane: Vom Sinn und Unsinn des Begriffs Graphic Novel, Ch. A. Bachmann Verlag, Berlin 2014, S. 9. Vgl. Draken, Klaus; Flohr, Peter; Hübner, Jörg; Maeger, Stefan; Reuber, Rudolf; Schalk, Helge; Sieberg, Harald: Philosophieren, 2 Bde., Band 1: Einführung – Anthropologie – Erkenntnistheorie, C. C. Buchner, Bamberg 2005, S. 206–207. Hier wird ein Textauszug aus Helen Kellers autobio­ grafischen Schrift Die Geschichte meines Lebens ergänzt um einen Auszug aus dem Buch von MacDonald, Fiona: Helen Keller. Die blinde und gehörlose Frau, die zum ›Engel der Blinden‹ wurde, Arena Verlag, Würzburg 1992, S. 22–24. Vgl. dazu Ethik & Unterricht 24, 2013, Heft 1: Lernen an Biographien.

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▶ Sachkompetenz

zum Beispiel Erfassen und Darstellen philosophischer Prob­lemstellungen in Graphic Novels, Klärung und Erläuterung philosophischer Begriffe

▶ Methodenkompetenz

zum Beispiel Erschließen von philoso­phischen Texten zur Vertiefung der Arbeit, philosophische Gesprä­che in der Anschlusskommunikation

▶ Urteilskompetenz

zum Beispiel Reflektieren und Beurteilen von Wirklich­keitsinszenierungen in der Graphic Novel, Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Positionen

▶ Handlungskompetenz

zum Beispiel Kontextualisierung der Graphic Novel, Diskussion allgemein­ gesellschaft­licher Fragen aus philosophischer Perspektive. Damit ist angedeutet, dass es nicht nur darum geht, die Graphic Novel mit Blick auf die philosophische Fragestellung zu erarbeiten. Leitendes Ziel sollte es sein, Lernende als schöpferische Rezipienten ernst zu nehmen, indem z. B. Lücken gefüllt, alternative Handlungsstränge entwickelt oder Bildsequenzen weiterge­dacht werden. Es geht um die Ausbildung einer Comic-Literacy, die – in Anlehnung an den Begriff der Film-Literacy10 – bestimmt ist durch die symbolsprachlichen Kompetenzen des Textverstehens und durch die sprachlich-­diskursiven Kompetenzen der kulturellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den vermittels des Comics erzeugten Bedeutungen. So bietet sich die echte Lernchance, dass die Lernenden einer­seits ihre eigene Bedeutung im Hinblick auf Weltkonstitution und andererseits die Bedeutung der Philosophie für ihr eigenes Welt­- und Selbstverständnis erkennen. Die Arbeit mit dem Comic ist dann philosophische Bildung im besten Sinne.

 Die Graphic Novel Sprechende Hände im Unterricht Erste Unterrichtseinheit Um eine tragfähige gemeinsame Erfahrungsgrundlage zu schaffen, bei der erste Verstehenskategorien gebildet werden, erhalten die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, ihre eigenen Sinneswahrnehmungen differenziert zu beobachten und zu beschreiben. Gerade weil ihre Erfahrungswelt überwiegend von optischen und akustischen Reizen sowie einem Mangel an Bewegungserfahrungen geprägt ist,

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Hallet, Wolfgang: »Was heißt film literacy?«, in: Blell, Gabriele; Grünewald, Andreas; Kepser, Mat­ this; Surkamp, Carola (Hrsg.): Film in den Fächern der sprachlichen Bildung, Film – Bildung – Schule, Bd. 2, Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2016, S. 177–193: S. 184.

Die Graphic Novel Sprechende Hände als ­(philosophischer) Zugang zur Welt



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sollten alle Sinnesbereiche angesprochen werden. Dazu durchlaufen die Lernenden einen Wahrnehmungsparcours mit unterschiedlichen Stationen zur auditiven, taktilen, gustatorischen, visuellen, olfaktorischen, vestibulären und propriozeptiven Wahrnehmung. Zum Beispiel können die Schülerinnen und Schüler verschiedene Lebensmittel »erriechen« und »erschmecken«. Im Anschluss gilt es, einem Lernpartner oder einer Lernpartnerin die Geruchs- und Geschmacksunterschiede genau zu beschreiben, so dass dieser oder diese bestimmen kann, welches Lebensmittel gemeint ist. Die Schülerinnen und Schüler werden dabei erfahren, wie schwer es ist, Wahrnehmungsqualitäten differenziert zu erfassen und zu versprachlichen.11 Darüber hinaus sollen die Schülerinnen und Schüler durch den Parcours in die Lage versetzt werden, die Auswirkungen von Wahrnehmungsstörungen oder Sinneseinschränkungen nachzuempfinden.12 Die Schülerinnen und Schüler werden am eigenen Leib erfahren, dass der Mensch im Falle einer eingeschränkten bzw. fehlenden Wahrnehmungsmöglichkeit versucht, verstärkt auf andere Wahrnehmungsmodalitäten zurückzugreifen, die unbeeinträchtigt sind, wie das Hören oder Tasten. Vor allem aber werden sie erleben, dass ihre Teilhabe am Geschehen behindert ist, sie fühlen sich unsicher und merken, dass sie auf Hilfsmittel bzw. auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Im Auswertungsgespräch werden die anschaulichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler verglichen und vertiefend im Hinblick auf die Bedeutung der (eingeschränkten) sinnlichen Wahrnehmung für die Erkenntnis erörtert.

Zweite Unterrichtseinheit Daran anknüpfend werden den Schülerinnen und Schülern die ersten drei Seiten (S. 3–5) der Graphic Novel »Sprechende Hände« präsentiert (M1), der Titel wird jedoch vorerst nicht genannt. Zunächst werden die Lernenden aufgefordert, ihre Ersteindrücke zu äußern (z. B. Das Kind soll mit dem Löffel und nicht mit den Händen essen, es wehrt sich, man sieht die Hände und Arme einer Person, vielleicht von der Mutter, das Kind isst schließlich mit dem Löffel, spuckt das Essen aber wieder aus). Folgende Aufgaben strukturieren die weitere genauere Analyse der Seiten:



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Anregungen zum Sinnen-Parcours zum Beispiel in: Zimmer, Renate: Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 222012 (zweite Ausgabe der überarbeiteten Neuausgabe). Anregungen lassen sich finden bei: Hagestedt, Birte; Schülting, Mira: Meine Realität oder deine Realität? - Wie nehmen Menschen mit Wahrnehmungsstörungen ihre Umwelt wahr? Annäherungen: ein »Wahrnehmungsparcours« für Schülerinnen und Schüler, auf: https://www.rpi-loccum.de/­ material/pelikan/pel1–14/ku_hagestedt_schuelting (Stand: 10. März 2020) oder Drost, Stefanie; Hähner, Anna-Maria: »Körper mit Hindernissen – und wie man sie überwindet«, in: Zeitschrift Ethik & Unterricht 25, 2014, Heft 1: Körper, Material extra, S. 2 und Oehme, Willy: »Die fünf Sinne und ihre Leistungsfähigkeit«, in: Ebenda, S. 3

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 Betrachtet den Ausschnitt (S. 3–5) aus der Graphic Novel. Was fällt euch an den Bildern auf? Wie wirken die Zeichnungen?

 Sucht Elemente in den Bildern, in denen Emotionen ausgedrückt werden, und beantwortet die Frage, wie der Comiczeichner es schafft, die Gefühle des Kindes ohne Worte auszudrücken.

 Wähle einige textlose Panels aus und ergänze Gedanken- oder Sprechblasen. Ergänze ggf. Erzählerkommentare. Tausche dich mit einem Partner oder einer Partnerin über eure Ergebnisse aus: Begründet eure Panelauswahl und überlegt, welche Texte ihr am passendsten findet. Es sollte klar werden, dass es sich um eine emotional stark aufgeladene Situation handelt, die durch die minimalistische Gestaltung, die textlosen Panels sowie durch die reduzierte – wenngleich kontrastreiche – Farbgestaltung sowie durch den Zeichenduktus13 ausgedrückt wird. Die produktionsorientierte Aufgabe, eigene Sprech- und Gedankenblasen zu ergänzen, bringt die Schülerinnen und Schüler dazu, die im Bild angedeuteten Emotionen zu versprachlichen, indem sie z. B. den Frust, die Wut und Hilflosigkeit beider beteiligten Figuren artikulieren. Nachdem die Deutungsansätze geäußert wurden, erfahren die Lernenden den Titel der Graphic Novel. Außerdem erhalten sie einige einleitende Hintergrundinformationen zu ­Helen Keller und Annie Sullivan, die als Gesprächsimpuls dienen sollen. Diese Informationen werden in Beziehung zu den Bildern des Comics gesetzt (z. B. Der schwarze Hintergrund symbolisiert Helens Blindheit und ihr Leben in vollkommener Finsternis; Mund, Augen, Ohren, Sprechblasen fehlen, dies symbolisiert ihre Sprach- und Hörlosigkeit sowie die fehlende Kommunikation; die blauen Arme gehören Annie Sullivan, die das Kind disziplinieren will). Im vertiefenden Gespräch sollte insbesondere deutlich werden, dass Helen einen sehr eingeschränkten Zugang zur Welt hat. Ihre Welt besteht aus dem, was sie schmecken, fühlen und riechen kann. Wenn sie z. B. von jemandem angefasst und festgehalten wird, geschieht dies für sie unvorhergesehen. Isoliert und fremdbestimmt lebt Helen als Phantom, das mitunter von seinen Gefühlen überwältigt wütend um sich schlägt und tritt.14 Diese Fremderfahrung können die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Selbsterfahrung aus dem Wahrnehmungsparcours vergleichen.

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Comiczeichner bedienen sich ganz unterschiedlicher Zeichenstile, die u. a. von bestimmten Traditionen, Genres, Verlagsstilen, technischen Vervielfältigungsmöglichkeiten und natürlich von den jeweils verwendeten Zeichengeräten beeinflusst werden. Darüber hinaus kann man den sogenannten Duktus des Strichs beschreiben, mit dessen Expressivität sich Scott McCloud befasst und der zeigt, wie sich die Analyse des Duktus für die Interpretation fruchtbar machen lässt. Der Duktus der vorliegenden Seite wirkt schwach und labil, da die Strichstärke unterbrochen ist und sich verändert. Vgl. McCloud, Scott: »Auf der ganzen Linie«, in: McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Carlsen Verlag, Hamburg 2001, S. 126–145, insbesondere S. 133. Vgl. auch Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 34–35. Sie schreibt dort: »Ich nehme plötzliche Schläge, Stöße und wutschnaubende Ausbrüche wahr, die nicht von Annie kommen, sondern vom Phantom selbst, die versucht, sich den bändigenden Armen zu entwinden. Wie sehr sie einem wilden Fohlen glich, das stampft und ausschlägt!« In der Graphic

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Dritte Unterrichtseinheit In der weiteren Auseinandersetzung mit der Graphic Novel wird die Beziehung von Annie und Helen sowie ihre Schwierigkeiten, sich mit Hilfe des Fingeralphabets zu verständigen, erforscht. Dazu betrachten die Schülerinnen und Schüler die Doppelseite 10 bis 11 (M2). Die Unterschiede in der grafischen und sprachlichen Gestaltung dürften direkt auffallen. Beide Seiten sind in jeweils 16 Panels eingeteilt, so dass Helen und ihre Lehrerin Schritt für Schritt begleitet werden können. Als Betrachter der Panels ist man auf Augenhöhe mit den Figuren, der Fokus liegt auf Helen und Annie sowie ihrer Interaktion. Helens Perspektive auf der linken Seite ist – so wie die ersten drei Seiten des Bandes – komplett schwarz gehalten, man sieht die grauen, verwischten Umrisse des augen-, ohren- und mundlosen Kindes, eine pinkfarbene Puppe und blaue Hände, deren Finger einzelne Zeichen formen. Das Kind ertastet die Zeichen und versucht diese nachzuahmen. Erst dann erhält es die Puppe. Annies Perspektive auf der rechten Seite in Parallelmontage hingegen ist farbig. Sie spricht mit Helen in kurzen Sätzen, mitunter nur in kurzen Ausrufen, deren Fettdruck (»WARTE!«) zeigt, dass sie energisch auf Helens Unwillen, mit ihr zu arbeiten, reagiert. Das elfte und das siebzehnte Panel fallen durch die abweichende Farbgestaltung auf: hier wird wieder Helens Sicht eingenommen. Grafisch wird dies durch den Farbwechsel und den Action-to-Action-Übergang15 vom sechszehnten zum siebzehnten Panel deutlich. Die Speedlines im Panel 17, die die Bewegung Helens nachzeichnen, korrespondieren mit ihrer Gefühlslage. In die Panels von Seite 11 wurden zudem in Schreibschrift typografierte Texte eingefügt. Dabei handelt es sich um leicht bearbeitete Originalzitate aus Annies Tagebüchern und Briefen, die den Leser und die Leserin an Annies Gedanken teilhaben lassen und erklärende (Hintergrund-)Informationen liefern. Der Satz: »Nachzuahmen fällt ihr leicht, aber sie versteht noch nicht, dass alles einen Namen hat« (Panel 8), sollte im Unterricht aufgegriffen werden. Zunächst sollen die Schülerinnen und Schüler in Erfahrung bringen, wie sie selbst »zur Sprache gekommen« sind. Dafür befragen sie ihre Eltern und Verwandten und sammeln Informationen über ihre Kommunikation im ersten Lebensjahr, ihre ersten Worte neben »Mama« und »Papa« sowie Anekdoten aus ihrer Sprachentwicklung. Ihre »Forschungsergebnisse« können sich die Lernenden gegenseitig vorstellen und vergleichen, indem sie Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihrer Sprachentwicklung benennen. Es dürften zum einen bestimmte Phasen des Spracherwerbs und zum anderen die Rolle



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Novel werden entsprechende Soundwords (»STAMPF«, »KNALL«) verwendet. Sie ahmen die Geräusche Helens lautmalerisch nach und sind unmittelbar ins Bild montiert. Die Versalschrift veranschaulicht die Lautstärke ihrer Schritte. Vgl. Lambert, Joseph: Sprechende Hände, a. a. O., S. 6, Panel 14 sowie S. 7, Panels 2 und 3. McCloud identifiziert sechs verschiedene Möglichkeiten der Verknüpfung einzelner Panels: ­moment-to-moment, action-to-action, subject-to-subject, scene-to-scene, aspect-to-aspect und nonsequitur. Vgl. McCloud, Scott: »Blut im Rinnstein«, in: McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, a. a. O., S. 68–101, vor allem S. 78–80. Beim Aspect-to-Aspect-Übergang werden unterschiedliche Ansichten bzw. Aspekte eines Ortes bzw. einer Stimmung gezeigt.

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der Eltern beim Spracherwerb (z. B. Vorbildfunktion, Lernen am Modell) angesprochen werden. Vertiefend sollen die Schülerinnen und Schüler überlegen, warum Kleinkinder fortwährend die Namen der Dinge wissen wollen und offenbar ein großes Vergnügen darin finden, Dinge zu benennen (z. B. kindliche Neugierde, Verstehenwollen). Ihre eigenen Vorschläge werden sodann mit Cassirers Erklärung des kindlichen »Namenshungers«16 verglichen, der für ihn mehr als intellektuelle Neugierde darstellt. Seiner Position zufolge setzt sich der Mensch durch die namentliche Benennung von den Dingen mit seiner Umwelt auseinander und gewinnt eine Vorstellung von ihnen. Cassirers These über die Leistung der Sprache für Vorstellung und Denken kann sodann am Beispiel eines an Aphasie leidenden Menschen erörtert und auf das Beispiel Helen Kellers übertragen werden (M3).17 Dabei ist anzusprechen, dass die vorstellungsbildende Kraft der Sprache sich nicht auf die menschliche Lautsprache beschränkt, sondern sich auch auf die Gebärdensprache übertragen lässt. Neueren Untersuchungen zufolge wird diese im selben Teil des Sprachzentrums verarbeitet wie die Lautsprache und ist mit dieser hinsichtlich ihrer Bedeutungs- und Kommunikationsleistung vergleichbar.18

Vierte Unterrichtseinheit In diesem Zusammenhang erhalten die Schülerinnen und Schüler erneut einen Textauszug aus der Graphic Novel. Auf den Seiten 32 bis 34 wird das Erlebnis am Pumpenhäuschen erzählt (M4). Es bietet sich an, den Schülerinnen und Schülern zunächst nur S. 32 sowie die ersten beiden Panels von S. 33 zu geben. Die Methode des verzögerten Lesens bietet die Lernchance, dass sich die Schülerinnen und Schüler den Erkenntnisweg Helens vergegenwärtigen (z. B. Helen hat vorher schon Zeichen gelernt, wie z. B. für »Puppe«. Jetzt lernt sie die Zeichen für »Pumpe« und »Schwengel«. Sie fasst in den Krug und macht die Zeichen für »Wasser« (S. 32, Panel 10). Sie fühlt das fließende Wasser und Annie zeigt ihr die Zeichen für »Wasser« (S. 32, Panels 14–15). Zudem können sie ihre Vermutungen äußern, wie sich der Ver

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Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 - 1933, hrsg. von Orth, Ernst Wolfgang; Krois, John Michael unter Mitwirkung von Werle, Josef M., PhB 372, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 121–160: S. 128. Vgl. Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 126–130. Die Textstellen sind auch in folgenden Schulbüchern zu finden: Aßmann, Lothar et al. (Hrsg.): Zugänge zur Philosophie. Neue Ausgabe, Band 1, Cornelsen Verlag, Berlin 2006, S. 157 f. sowie stärker gekürzt in Rolf, Bernd; Peters, Jörg (Hrsg.): Philo. Qualifikationsphase, C. C. Buchner, Bamberg 2015, S. 29. Anzumerken ist, dass sich Cassirer explizit mit den Fällen von Laura Bridgman und Helen Keller auseinandergesetzt hat. Vgl. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, a. a. O., S. 60–66. Vgl. Klann, Juliane: »Psycholinguistik und Neurolinguistik: Verarbeitung und Repräsentation von Gebärdensprache im Gehirn«, in: Eichmann, Hanna, Hansen, Martje; Heßmann, Jens (Hrsg.): Handbuch Deutsche Gebärdensprache. Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven, Signum Verlag, Seedorf 2012, S. 271–292.



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lauf der Geschichte ihrer Meinung nach weiterentwickeln könnte (Nun lernt Helen schnell neue Wörter. Sie wird Wörter zu Sätzen verbinden und mit anderen kommunizieren.). Die Schülerinnen und Schüler diskutieren ihre Erwartungen im Plenum und halten die Möglichkeiten fest, die ihnen am zutreffendsten erscheinen. Entscheidend ist dabei, dass die Lernenden in dieser Phase die geäußerten Vermutungen aus der Erzähllogik der Geschichte heraus begründen und nicht nur eine bloße Meinungsbekundungen abgeben. Dies widerspräche der klaren Struktur der gewählten Methode des verzögerten Lesens, d. i. Rezeption, Diskussion möglicher Fortsetzungen der Handlungen und begründete Entscheidung für eine Möglichkeit. Im Anschluss werden die nächsten Bilder präsentiert (S. 33, Panels 5–10). Zunächst sollen diese beschrieben werden (z. B. Helen fühlt das fließende Wasser, das aus der Pumpe läuft und bezeichnet es mit den Zeichen für »Wasser«. Dann fühlt sie das Wasser, das im Krug abgefüllt wurde, und bezeichnet es mit »Wasser«. Das letzte Bild zeigt ihre Perspektive; man sieht einen schwarzen Hintergrund und die Umrisse des Kindes. Über dem Kopf ist fließendes Wasser, das eine Lache bildet. In der Wasseransammlung steht das Wort »Wasser«.). Sodann sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit auf Panel 2 und Panel 10 richten. Methodisch bietet es sich an, dass die Lernenden zunächst Denkblasen mit der Gedankenrede Helens ergänzen. In der sich anschließenden Auswertungsphase sollte reflektiert werden, welche Erkenntnis Helen gewinnt und was durch die Kombination von Bild­ element (Wasserlache) und Textelement (Wort »Wasser«) des zehnten Panels ausgedrückt werden soll (z. B. Helen erkennt, dass die unterschiedlichen »Formen« des Wassers mit den gleichen Symbolen verbunden sind. Die Zeichen für Wasser sind nun nicht mehr die mit einer bestimmten, konkreten Situation verbundene, spezifische Äußerung. Die Zeichen für Wasser werden zu einem Symbol, das sich nicht auf bestimmte Fälle, auf eine bestimmte Form des Wassers beschränkt.).19 Insbesondere sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass es hier um einen entscheidenden, lebensverändernden Augenblick handelt. Es sollte – im Rückgriff auf Cassirer – deutlich werden, dass sich durch Helenes Erkenntnis, »wie mit einem Schlag, der gesamte Lebenshorizont« 20 des Mädchens ändert. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, einen fiktiven Brief aus Sicht Helens zu dem Erlebnis am Pumpenhäuschen schreiben zu lassen. Ein möglicher Arbeitsauftrag lautet:

 Helen erinnert sich später noch gut an dieses Erlebnis am Brunnen. Sie schreibt einer Freundin, wie sie diese Situation erlebt hat und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat. Verfasse diesen Brief aus Sicht Helens und achte darauf, dass ihre Gedanken und Gefühle deutlich werden. Die kreativen Produkte der Schülerinnen und Schüler werden anschließend mit einem Originaltext Helens im Hinblick auf Gemeinsamkeiten (z. B. Bedeutsamkeit und Emotionalität des Moments) und Unterschiede (z. B. Bildhaftigkeit und Licht Zum »Symbolbegriff« im Comic vgl. McCloud, Scott: »Die Sprache des Comics«, in: McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, a. a. O., S. S. 32–67. 20 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 128. 19

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metaphorik in den Originaltexten als Ausdruck von Helens »Erleuchtung«) verglichen (M5). 21

Fünfte Unterrichtseinheit Die angesprochene Bedeutsamkeit dieser Erkenntnis für Helen leitet über zur Problemfrage, welche Bedeutung die Sprache generell für die Selbst- und Welterkenntnis hat. Dazu wird den Schülerinnen und Schülern das fünfte und das zwölfte Panel von S. 34 der Graphic Novel gezeigt. Die Schülerinnen und Schüler artikulieren ihre Ersteindrücke und greifen auf ihre Vermutungen, wie die Geschichte weitergehen könnte, zurück (z. B. Helen hat jetzt einen Begriff von den Dingen, sie kann nun mit Annie kommunizieren. Das letzte Bild zeigt die innige Umarmung beider. Dies wird aus Helens Sicht gezeigt. Das drückt aus, dass Annie einen Zugang zu Helens Welt gefunden hat.). Sie formulieren eine erste These (z. B. Mit Hilfe der Sprache gewinnt Helen nicht nur eine Vorstellung von den Dingen und der Welt, sondern sie nimmt auch Kontakt zu anderen auf.). Im Weiteren sollte herausgearbeitet werden, dass Helen sich durch die Herausbildung einer symbolischen Sprache aber nicht nur eine Beziehung zum Du, sondern auch zum eigenen Ich eröffnet. Erarbeitet wird in diesem Zusammenhang erneut ein Textausschnitt von Cassirer (M6). 22 Seiner Position zufolge gewinnt der Mensch durch die Sprache sowohl Macht über die Dinge als auch über sich selbst und seine Affekte, so heißt es bei Cassirer: »Der Affekt verliert sich in dem Maße, als er es lernt, sich selbst zu äußern und sich in dieser Äußerung zu erblicken, die unmittelbare-bezwingende, die alles-beherrschende und alles-umstürzende Kraft, die er über das Ich ausübt. Indem er sich in der sprachlichen Äußerung auf sich selbst ›besinnt‹, wirkt eben diese Besinnung nun auch auf das Ganze des Bewusstseins zurück.« 23 Das heißt, der Mensch wird sich Cassirer zufolge erst seiner selbst bewusst, wenn er seine Gefühle und Vorstellungen wahrnimmt und reflektiert. Im Spiegel seiner Äußerung kann der Mensch sich selbst erfassen. Als veranschaulichendes Beispiel kann in diesem Zusammenhang das Tagebuchschreiben oder das vertrauliche Gespräch mit Freunden dienen. Erst wenn ich meine überwältigenden Gefühle dem eigenen Tagebuch oder einem Freund bzw. einer Freundin anvertraue, schaffe

Denkbar wäre z. B. der oben zitierte Ausschnitt aus Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 35–36. Ergänzend könnte in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des »Lichts« in erkenntnistheoretischen Positionen, wie z. B. bei Descartes eingegangen werden. Siehe auch Schildknecht, Christiane: »Intuition und Illumination. Die Funken des Wissens«, in: Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg, Metzler Verlag, Stuttgart 1990, S. 70–74. 22 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 134; S. 136–137; S. 140; S. 141–142. Vgl. auch Aßmann, Lothar; Bergmann, Reiner; Henke, Roland W.; Schulze, Mat­ thias; Sewing, Eva-Maria: Zugänge zur Philosophie, Neue Ausgabe, 2 Bde., Bd. 1, Cornelsen Verlag, Berlin 2004, S. 158–159. 23 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 137. 21



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ich Distanz und lerne durch die »Versprachlichung« meine Gefühle – und damit mich selbst – besser kennen. 24 Erst wenn die Wirklichkeit auf Distanz gebracht wird, kann man sich von ihr unterscheiden, sie als Wirklichkeit wahrnehmen und das eigene Ich bilden, da »[d]as Ich [ ] sich selbst nur dann gleichsam in den ›Blickpunkt‹ [bekommt], wenn es ihm gelingt, sich in dieser Art, im Spiegel der eigenen Äußerung, zu erfassen«. 25 Diese Ausführungen können auf Helens Situation übertragen werden. Dafür werden den Lernenden die Panels 6 bis 11 der Seite 34 gezeigt. Die Schülerinnen und Schüler sollen erkennen, dass es dem Mädchen durch die Sprache gelingt, sein durch Affekte bestimmtes Leben als Phantom hinter sich zu lassen und sich auf sein eigenes Ich als Helen (»H-E-L-E-N«, Panel 6) zu besinnen. Zugleich tritt Helen in »die Welt des ›Du‹« 26 ein, sie fragt Annie nach ihrem Namen (»L-E-H-R-E-R-I-N«, Panel 8). 27 Der Schritt in die soziale Welt vom Ich zum Du ist – so Cassirer – mit dem »Willen zur Verständigung, und damit dem Willen zur Allgemeinheit« 28 verknüpft. Das Erlernen von Sprachnormen beinhaltet für ihn das Verständnis von Normen. Dies kann im Rückgriff auf die Phasen des Spracherwerbs veranschaulicht werden. 29 Kinder lernen im Alter von sechs Monaten, der sogenannten »zweiten Lallphase«, erste Silbenketten wie »dadada«, die im Rhythmus und dem Tonfall der Muttersprache ähneln. Im Alter von etwa einem Jahr werden Protowörter wie »wauwau« kontextbezogen verwendet und einfache Zwei-Wortkombinationen formuliert. Ab dem zweiten Lebensjahr können Kinder einfache vollständige Sätze sprechen. Mit etwa vier Jahren beherrschen die meisten Kinder die grammatikalischen Grundlagen. Sprechen lernen beinhaltet also das Erlernen eines Regelsystems mit bestimmten sprachlichen Normen, die wiederum laut Cassirer die »wichtigsten und frühesten Beispiele für den Sinn der Norm überhaupt sind« 30 . Die Schülerinnen und Schüler sollen erörtern, ob und inwiefern Kinder über Sprachnormen den Grundcharakter des Normativen als solchen erfahren können (z. B. Sprachnormen als Gesetzmäßigkeiten, mit deren Hilfe die mündliche und schriftliche Sprache geregelt wird, um Kommunikationsmöglichkeiten zu sichern; Normen als Handlungsregeln, um unser Vgl. Cassirer, Ernst: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hrsg. von Orth, Ernst Wolfgang, RB 1463, Reclam Verlag, Leipzig 1993, S. 51. Bezogen auf Helen Keller ist hervorzuheben, dass in ihrem vorsprachlichen Leben diese Distanzsetzung nicht gegeben ist. Als »Phantom« lebt sie im Chaos, im Hier und Jetzt, ohne Vergangenheit und Zukunft. Vgl. Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 35 und S. 37. 25 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 136. 26 Ebd., S. 140. 27 Es fällt auf, dass Annie Sullivan in diesem Moment »Lehrerin« statt »Annie« antwortet. Die Schülerinnen und Schüler können Vermutungen anstellen, warum dies so ist (z. B. Betonung ihrer Rolle als Lehrerin, Distanznahme). 28 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 141, Z. 21 f. 29 Den Schülerinnen und Schülern könnte beispielsweise eine Tabelle mit den Phasen der Sprachentwicklung gegeben werden. 30 Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, a. a. O., S. 141. 24

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Zusammenleben zu ordnen; Gesprächsregeln). Im Transfer werden erneut die ersten drei Seiten der Graphic Novel betrachtet und dazu ein Ausschnitt aus Helen Kellers Buch Teacher gelesen. Im Rückblick schreibt sie: »Sie weigerte sich, geführt zu werden, als sie ihre erste Unterrichtsstunde bekommen sollte. Ein anderes Mal war es nötig, dass man ihre Tischsitten korrigierte. Phantom hatte die Angewohnheit, sich das Essen vom eigenen Teller und den Tellern der anderen mit den Fingern herauszupicken. Annie Sullivan wollte sich mit solchem Benehmen nicht abfinden […].« 31 Die Schülerinnen und Schüler sollen Helens Verhalten in dieser Situation bewerten und dabei den von Cassirer hergestellten Zusammenhang von Sprache, Sprachnormen und Normen überhaupt berücksichtigen. Herauszuarbeiten ist, dass Helen zu diesem Zeitpunkt die Normen und Regeln des Zusammenlebens nicht lernen konnte, und zwar nicht, weil sie die Anweisungen der Erziehenden nicht sehen und hören konnte, sondern weil sich ihr ohne Sprache nicht der Sinn des Normativen überhaupt erschließen konnte.

Sechste Unterrichtseinheit Zum Abschluss wird den Schülerinnen und Schülern Panel 12 der S. 34 gezeigt und folgendes Zitat vorgelesen: »Vom Pumpenhäuschen gingen zwei begeisterte Wesen davon, die sich gegenseitig ›Helen‹ und ›Teacher‹ nannten. Solche Augenblicke der Wonne bergen mit Sicherheit ein erfüllteres Leben in sich als eine Ewigkeit im Dunkeln.« 32 Die Schülerinnen und Schüler sollen – im Rückgriff auf das bisher Erarbeitete – erklären, worin das erfülltere Leben Helens besteht, das sich ihr in diesem Moment eröffnet (z. B. Das Erlebnis am Pumpenhäuschen markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben. Durch die Sprache hat Helen eine Vorstellung von den Dingen. Sie kann sich die Welt erschließen. Sie erkennt sich zum einen als Ich/Helen, zum anderen kann sie eine Beziehung zu einem Du, zu anderen Menschen aufbauen und mit ihnen kommunizieren. Das Erlernen der Sprache eröffnet ihr den Zugang zu Normen überhaupt). Je nach thematischer Schwerpunktsetzung könnte im Weiteren der Schwerpunkt von der Analyse der Sprache von Wirklichkeit und Welt in die Analyse der Sprache, die über diese Welt spricht, verlagert werden. Angesprochen sind hier die wirkmächtigen Positionen der Sprachanalytischen Philosophie. Eine Reflexion der Frage, ob die Sprache uns beschränkt oder uns zur Freiheit führt, rundet die Unterrichtsreihe ab. Auch eine Vertiefung der Frage nach einem sinnerfüllten Leben böte sich an.



31

32

Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, a. a. O., S. 33. Ebd., S. 36.

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Initiierung von Bildungsprozessen   Der amerikanische Comic-Künstler und -Theoretiker Scott McCloud soll einmal gesagt haben, es sei nicht schwierig, einen Comic zu lesen; es sei schwierig, einen Comic nicht zu lesen. Er hebt darauf ab, dass Comics eine große Faszination auf den Leser ausüben. Für die Schule bedeutet dies, dass sie motivieren und Schülerinnen und Schüler ansprechen. Zudem eröffnet die Spezifik des Text-Bild-Verbundes Lernchancen, die in einem zeitgemäßen Philosophieunterricht nicht ausgespart werden sollten. Dafür bedarf es comicspezifischen Fachwissens und etwas Übung, denn die Lektüre eines Comics ist nicht »automatisch ›einfach‹, nur weil sie weniger Text umfasst« 33 . Wenn den Schülerinnen und Schülern dabei bewusst wird, dass Comics nicht nur die Bedeutung eines philosophischen Themas inhaltlich illustrieren, sondern auch, dass sie die Themen in comicspezifischer Weise artikulieren, wird mediumadäquat gearbeitet und medium- und fachspezifische Bildungsprozesse initiiert. 34



33



34

Vgl. Wrobel, Dieter: »Graphic Novels«, in: Praxis Deutsch, 2015, Heft 252, S. 4–12: S. 4. Auch Scott McCloud betont, »den Comic zu verstehen ist keine ganz leichte Sache«. Vgl. McCloud, Scott: »Zusammenfassung«, in: McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, a. a. O., S. 201–223: S. 205, Panel 1. Dies ist eine analoge Herangehensweise zu Josts Methodik des Philosophierens mit Filmen. Vgl. Jost, Leif Marvin: »Filmspezifische Darstellungsmöglichkeiten der Differenz zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit – Die Methodik des Philosophierens mit Filmen, angewandt auf Matrix, Die Truman Show und Inception«, in: Peters, Martina und Jörg (Hrsg.): Philosophieren mit Filmen im Unterricht, Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht, Band 1, S. 51–68: S. 65. Zur Reflexion mit den Schülerinnen und Schülern über den Mehrwert von Comics bietet sich an: McCloud, Scott: Comics richtig lesen, a. a. O., S. 120–121.

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 M 1  Bewusstseinsdunkel35



35

Lambert, Joseph: Sprechende Hände, übers. von Wals, Johanna, Egmont Graphic Novel, Egmont Verlag, Köln 2015, S. 3–5.



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 M 2  Verständigung36



36

Lambert, Joseph: Sprechende Hände, übers. von Wals, Johanna, Egmont Graphic Novel, Egmont Verlag, Köln 2015, S. 10–11.

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 M 3   Ernst Cassirer: Die Vorstellungswelt des Menschen basiert auf Sprache37

»Gegenständliches« Vorstellen – so will ich darzulegen suchen – ist nicht der Anfang, von dem der Prozess der Sprachbildung ausgeht, sondern das Ziel, zu dem dieser Prozess hinführt; ist nicht sein terminus a quo, sondern sein terminus ad quem. Die Sprache tritt nicht in eine Welt der fertigen gegenständlichen Anschauung ein, um hier zu den gegebenen und klar gegeneinander abgegrenzten Einzeldingen nur noch ihre »Namen« als rein äußerliche und willkürliche Zeichen hinzuzufügen – sondern sie ist selbst ein Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen »Gegenstandswelt«. […] Der tierische Raum bleibt auf der Stufe des Aktions- und Wirkraumes stehen; er erhebt sich nicht zum Vorstellungs- oder Darstellungsraum. Hieraus resultiert die charakteristische Geschlossenheit, wie die charakteristische Enge der tierischen Welt. Uexküll sagt einmal, dass insbesondere die niederen Tiere so sicher in ihrer Umwelt ruhen, wie ein Kind in seiner Wiege. »Die Reize der Umwelt bilden … eine feste Scheidewand, die das Tier wie die Mauern eines selbstgebauten Hauses umschließen und die ganze fremde Welt von ihm abhalten. Aber diese schützende Mauer, die das Tier umgibt, ist zugleich das Gefängnis, in das es ein für alle Mal gebannt bleibt. Die Durchbrechung dieser Mauer und der Ausgang aus diesem Gefängnis wird erst auf einer Stufe des Lebens erreicht, in der es nicht mehr in der bloßen Sphäre des Wirkens, der »Aktion« und »Reaktion« verharrt, sondern in der es in die Form der Darstellung, und damit in die primäre Form des Wissens, übergeht. Jetzt verändert sich, wie mit einem Schlag, der gesamte Lebenshorizont. Der bloße Handlungsraum wird zum Blickraum; der Aktionskreis wird zum Gesichtskreis. Und eben dieser Übergang […] ist es, an dem die Sprache wesentlich beteiligt ist. Es scheint eine Entwicklungsphase der Sprache zu geben, in der dieser Durchbruch sich noch unmittelbar erfassen – in der er sich sozusagen mit Händen greifen lässt. Alle Beobachter und Darsteller der Kindersprache haben bei diesem Punkte verweilt, haben die entscheidende Revolution der Denkart« hervorgehoben, die für das Kind in dem Augenblick einsetzt, in dem zuerst das sprachliche Symbolbewusstsein in ihm erwacht. »Das Kind« – so beschreibt Stern dieses Erwachen – »braucht nicht nur die Worte als Symbole, sondern merkt, dass die Worte Symbole sind, und ist unausgesetzt auf der Suche nach ihnen. Es hat hier eine der wichtigsten Entdeckungen seines ganzen Lebens gemacht: dass zu dem Gegenstand dauernd ein ihn symbolisierender, zur Bezeichnung und Mitteilung dienender Lautkomplex gehöre, d. i. dass jedes Ding einen Namen habe«. Jetzt erwacht

37

Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hrsg. von Orth, Ernst Wolfgang; Krois, John Michael unter Mitwirkung von Werle, Josef M., PhB 372, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 121–160: S. 126, S. 126–130 und S. 130.

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im Kinde ein fast unstillbarer Trieb, die Namen der Dinge zu wissen - ein eigentlicher »Namenshunger«, der sich in ständigem Fragen ausdrückt. Es entsteht, wie ein Forscher betont, im Kinde geradezu eine Manie des Benennens. Aber dieser Drang wird, wie mir scheint, psychologisch nicht ausreichend und nicht ganz zutreffend beschrieben, wenn man in ihm lediglich eine Art von intellektueller Neugier sieht. Die Wissbegier des Kindes ist nicht auf die Namen als solche, sondern sie ist auf das gerichtet, wozu es jetzt den Namen braucht – und es braucht ihn zu nichts anderem, als zur Gewinnung und Fixierung bestimmter gegenständlicher Vorstellungen. Einzelne Psychologen haben darauf hingewiesen, dass das Sprachstadium, in dem wir uns hier befinden, in geistiger Hinsicht einen ähnlichen gewaltigen Fortschritt bedeutet, wie ihn das Gehen lernen auf dem Gebiete der körperlichen Entwicklung bezeichnet: denn wie das laufende Kind nicht mehr zu warten braucht, bis die Dinge der Außenwelt zu ihm kommen, so besitze das fragende ein ganz neues Mittel, selbständig in die Welt einzugreifen und sie sich selbständig aufzubauen. Führt man diese Analogie weiter durch, so lässt sich sagen, dass der Name und das Wissen um ihn für das Kind hier dieselbe Rolle spielt, wie sie beim Gehen der leitenden und führenden Hand oder dem Stab, an dem es sich hält, zukommt. An der Hand des Namens tastet es sich gleichsam zu der Vorstellung der Gegenstände hin. Denn es ist ja nicht so, dass diese Vorstellung für das Kind schon irgendwie feststeht: sie soll erst gewonnen und gesichert werden. Und für diese Sicherung ist der Name unentbehrlich. Es scheint mir charakteristisch, dass die Form der Namensfrage beim Kinde, soviel ich sehe, nirgends darin besteht, dass gefragt wird, wie ein Ding »heiße«, sondern vielmehr, was ein Ding »sei«. Das Interesse des Kindes haftet nicht am Akt des Bezeichnens, den es als isolierten Akt überhaupt noch nicht kennt. Selbst für die Naturvölker ist es ja charakteristisch, dass eine eigentliche Trennung von »Wort« und »Sache« für ihr Bewusstsein noch gar nicht besteht, dass das Wort vielmehr ein objektiver Bestand des Dinges ist, ja sein eigentliches Wesen ausmacht. So fragt auch das Kind nach dem Namen, um mit ihm den Gegenstand selbst gewissermaßen in Besitz zu nehmen. Zwischen Ding und Namen findet eine völlige »Konkreszenz« statt: sie wachsen aneinander und sie wachsen ineinander. Der psychologische Vorgang dieser Konkreszenz lässt sich nicht unmittelbar beobachten; aber man kann ihn sich begreiflieh machen, wenn man das Ziel ins Auge fasst, dem alle gegenständliche Vorstellung zustrebt und auf das sie gerichtet ist. […] Ein Haus von vorn, von hinten, von der Seite gesehen – ein Gegenstand von verschiedenen Standorten aus und in verschiedenen Beleuchtungen betrachtet, sind zweifellos anschaulich durchaus verschiedene Erlebnisse. Aber indem nun jedem dieser Erlebnisse in der Sprachentwicklung, in der Erlernung des »Namens«, ein Zeichen beigegeben und zugeordnet wird, gehen sie damit zugleich untereinander eine neue Bindung ein und treten in ein neu es Verhältnis. Die Einheit des Namens dient zum Kristallisationspunkt für die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen.

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 M 4  Sprache38



38

Lambert, Joseph: Sprechende Hände, übers. von Wals, Johanna, Egmont Graphic Novel, Egmont Verlag, Köln 2015, S. 32–34.

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 M 5   Helen Keller: Wasser39

Phantom hatte keine Vorstellung von Zeit, und es dauerte Jahre, bis sie erfuhr, wie viele aufreibende Stunden Annie damit zugebracht hatte, sie Gehorsam zu lehren, ohne ihren Willen zu brechen. Selbst das war nur zum Teil gelungen, als die beiden nach Hause zurückkehrten. In der Zeit danach wurde Phantom ärgerlich über Annies wiederholte Versuche, ihr den Unterschied zwischen »Wasser« und »Becher« klarzumachen. Mit meinem Tastsinn rufe ich mir schnelle Schritte in einem Raum in die Erinnerung, eine Hand – die meiner Mutter – packt Phantom, zerrt sie fort, und versohlt sie gehörig. Danach begann Phantom sich zu bessern, aber ihr fehlte noch immer das normale Verlangen eines Kindes nach Anerkennung. Sie war sich nicht bewusst, dass sie bestraft worden war, weil sie nicht zwischen richtigem und falschem Handeln unterscheiden konnte. Ihr Körper wuchs, doch ihr Geist war eingeschlossen in der Dunkelheit wie der Geist des Feuers im Feuerstein. Endlich aber, am 5. April 1887, fast genau einen Monat nach ihrer Ankunft in Tuscumbia, erreichte Annie Phantoms Bewusstsein mit dem Wort »Wasser«. Dies geschah am Pumpenhäuschen. Phantom hatte einen Becher in der Hand, und während sie ihn unter das Rohr hielt, pumpte Annie Wasser hinein. Als es über die Hand floss, die den Becher hielt, buchstabierte sie unaufhörlich w-a-t-e-r in die andere Hand. Plötzlich begriff Phantom die Bedeutung des Wortes, und ihr Geist begann in winzigen Flämmchen zu flackern. Zum ersten Mal seit ihrer Krankheit wurde sie von Freude erfasst, und begierig griff sie nach Annies stets bereiter Hand und bettelte um neue Wörter, um alle Gegenstände, die sie berührte, benennen zu können. Immer neue Bedeutungsfunken leuchteten in ihrem Bewusstsein auf, bis ihr Herz warm wurde und Zuneigung entstanden war. Vom Pumpenhäuschen gingen zwei begeisterte Wesen davon, die sich gegenseitig »Helen« und »Teacher« nannten. Solche Augenblicke der Wonne bergen mit Sicherheit ein erfüllteres Leben in sich als eine Ewigkeit im Dunkeln.



39

Keller, Helen: Teacher. Meine Lehrerin Anne Sullivan Macy, Verlag Freies Geistleben, Stuttgart 2018, S. 35–36.

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 M 6  Ernst Cassirer: Sprache als Mittel für den Aufbau von Gefühls- und Willensregungen40

Und noch in einer anderen Grundrichtung lässt sich diese der Sprache innewohnende Kraft zur Vergegenständlichung, zur »objektiven« Bestimmung und Abhebung verfolgen. Sie dient nicht nur dem Aufbau des rein-theoretischen Weltbildes; sondern sie erweist sich nicht minder stark in praktisch-ethischer Hinsicht, in der Gestaltung der Willenswelt. Auch das fühlende und wollende Ich wird ein anderes, sobald es in den Zauberkreis der Sprache eintritt. Wir beobachten auch hier das gleiche Verhältnis: die Sprache dient nicht nur sekundär dem Ausdruck und der Mitteilung von Gefühlen und Willensregungen, sondern sie ist eine der wesentlichen Funktionen, kraft derer das Gefühls- und Willensleben sich gestaltet und kraft derer es sich erst zu seiner spezifisch-menschlichen Form erhebt. Wie die Welt der »Vorstellung«, so ist auch die Welt des Willens in nicht geringem Maße ein Werk der Sprache. Diese bildet nicht nur das Medium, in dem aller Gefühls« und Willensaustausch, wie aller Gedankenaustausch sich bewegt; sondern sie ist aktiv und konstitutiv an der Bildung des Willensbewusstseins beteiligt. […] Das Ich bekommt sich selbst nur dann gleichsam in den »Blickpunkt«, wenn es ihm gelingt, sich in dieser Art, im Spiegel der eigenen Äußerung, zu erfassen. Denn jeder Äußerung der bloßen Zuständlichkeiten des Ich geht jetzt auch eine neue Art des Hörens, eine bestimmte Weise des Gewahrwerdens derselben und des »Horchens« auf sie zur Seite. Und dieser Modus des Hörens führt allmählich zu einer Form des »Gehorsams«, die von der bloßen Unterwerfung, von der unbedingten Botmäßigkeit unter den Affekt weit entfernt ist. Der Affekt verliert in dem Maße, als er es lernt, sich selbst zu äußern und sich in dieser Äußerung zu erblicken, die unmittelbar-­bezwingende, die alles-beherrschende und alles-umstürzende Kraft, die er über das Ich ausübt. Indem er sich in der sprachlichen Äußerung auf sich selbst »besinnt«, wirkt eben diese Besinnung nun auch auf das Ganze des Bewusstseins zurück. Jetzt entsteht –nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch – jene Wendung zur »Reflexion«, die Herder in seiner Schrift über den »Ursprung der Sprache« als das wesentliche und als das geistig-entscheidende Moment in aller Sprachbildung ansieht. Die lautlich-sprachliche Gestaltung des Affekts wehrt seinem vorzeitigen, rein motorischen Ausbruch und der schranken- und hemmungslosen Hingabe an ihn.›! Die Entwicklung der Sprache bringt diese ihre fundamentale Leistung fortschreitend ans Licht. […] Neben der Welt der »äußeren« Gegenstände und neben der Welt des eigenen Ich aber ist es die soziale Welt, die durch die Sprache erst eigentlich aufgeschlossen und

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Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 - 1933, hrsg. von Orth, Ernst Wolfgang; Krois, John Michael unter Mitwirkung von Werle, Josef M., PhB 372, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 121–160: S. 134, S. 136–137, S. 140 und S. 141.

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die durch sie erst fortschreitend erobert wird. Der erste Schritt, den das Ich auf seinem Wege zur Objektivität vollzieht, führt es ja nicht in eine Welt der Gegenstände, der bloßen »Dinge« hinaus; sondern früher als diese Dingwelt, als die Welt des »Es«, tritt die Welt des »Du« in seinen Blickpunkt ein. Die Richtung auf das »Du« ist die primäre und ursprüngliche – und sie erweist sich als so stark und als so übermächtig, dass noch auf lange Zeit hinaus auch alles Bewusstsein von bloßen »Sachen« noch irgendwie in die Form des »Du« gekleidet werden muss, um überhaupt als solches zu erscheinen und zur Abhebung zu gelangen. Diese Art des Mit-Lebens und Mit-­ einander-Lebens aber wird durch die Sprache erst eigentlich erschaffen und ermöglicht. Sie ist die erste Morgenröte jedes Gemeinschaftsbewusstseins überhaupt – und noch bis in seine höchsten und feinsten Gestaltungen hinein erscheint dieses Bewusstsein gleichsam in ihr Licht getaucht. […] Menschliche Sprache wird niemals durch bloße Nachahmung erworben, sondern sie muß in jedem einzelnen Fall neu gewonnen und neugestaltet werden. Es gibt keine »Kindersprache« schlechthin, – sondern jedes Kind spricht seine Sprache, die es auf lange Zeit eigenwillig und eigensinnig festhält. Aber in eben diesem scheinbaren Eigen-Sinn lebt und wirkt zugleich der Sinn des Ganzen. Die egozentrische Tätigkeit des Sprechens, als eines bloßen Sich-Aussprechens, weicht mehr und mehr dem Willen zur Verständigung, und damit dem Willen zur Allgemeinheit. Je mehr das Kind in seiner sprachlichen Entwicklung fortschreitet, umso mehr erwacht und festigt sich in ihm das Bewusstsein, dass es einen allgemeingültigen, einen objektivrichtigen Sprachgebrauch gibt. Es scheint, dass das Bewusstsein dieser Richtigkeit, das in der Sprachnorm waltet, für das erwachende geistige Leben eines der wichtigsten und frühesten Beispiele für den Sinn der Norm überhaupt ist. An der sprachlichen Bindung, an der Hingabe an den allgemeinen Sinn des Wortes, erfährt das Kind vielleicht am ehesten und am unmittelbarsten den Grundcharakter der sozialen Bindung, des Normativen als solchen. Es selbst webt und wirkt beständig an dem Gespinst der Sprache – und doch vermag es dieses Gespinst nicht lediglich aus sich herauszuspinnen, sondern es ist hierfür auf die stetige und ständige Arbeit des Ganzen angewiesen. Das Werk der Sprache ersteht erst in dieser gleichmäßigen Mitwirkung aller -– und es wird damit zugleich zum stärksten Band zwischen denen, die es gemeinsam erschaffen und die es sich mit einander und für einander erarbeiten.

Glück für 10 Cent Philosophieren mit Bill Wattersons Calvin und Hobbes Sven Dallmann

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er amerikanische Comicstrip Calvin und Hobbes handelt von dem sechsjährigen Calvin und seinem Stofftiger Hobbes. Dieser ist im Leben des Jungen ein zentraler Gesprächspartner, der ihm als lebendiger Tiger erscheint, wenn beide allein sind. Regelmäßig führen beide Gespräche über grundlegende Fragen und setzen sich mit Phantasie und Verstand gegenüber den Erwachsenen und ihren Anforderungen zur Wehr. Der Comicstrip erschien in den Jahren 1985 bis 1995 mit insgesamt 3.160 Folgen in weltweit 2.300 Zeitungen.1 Um Calvin und Hobbes von Bill Watterson zu beschreiben, wird oftmals der Superlativ verwendet. So kann man lesen, dass die Reihe zu dem »Klügsten und Witzigsten zählt, das je über Kinder, Eltern, Schule und Freundschaft erzählt wurde«. 2 Sie wird auch als die tiefgründigste amerikanische Comicserie bezeichnet. 3 So ist es nicht verwunderlich, dass Calvin und Hobbes seit einigen Jahren in verschiedenen Unterrichtsfächern eingesetzt werden. 4 Ihren Weg in den Philosophie- und Ethik

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Vgl. Mader, Barbara: »Calvin und Hobbes: Das Doppelleben des Stofftigers. Eine Biografie über das Leben Bill Wattersons, den ›J.D. Salinger des amerikanischen Comics‹«, in: Kurier, Ausgabe vom 15. Juli 2013, auf: https://kurier.at/kultur/calvin-und-hobbes-das-doppelleben-des-stoff­ tigers/19.143.559 (Stand: 24.09.2020). Kaube, Jürgen: »Die Notwehr des begabten Kindes«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, in der aktualisierten Fassung vom 31. Dezember 2015, auf: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-notwehr-des-begabten-kindes-vor-20-jahren-endete-calvin-und-hobbes-13991144.html (Stand: 24.09.2020). Vgl. https://www.wsj.com/articles/calvin-and-hobbes-americas-most-profound-comic-strip-1425656199 (Stand: 12.10.2020) Folgende Beispiele seien an dieser Stelle genannt: Im Deutschunterricht können die spezifischen Erzählmöglichkeiten des Zeitungscomics analysiert werden (Vgl. Schwahl, Markus: »Und täglich grüßt das Kuscheltier. Zirkuläre Narration und regressive Rhetorik in Bill Wattersons Comic-Serie Calvin und Hobbes«, in: Anders, Petra; Staiger, Michael (Hrsg.): Serialität in Literatur und Medien, 2 Bde, Bd. 2: Modelle für den Deutschunterricht, Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2016, S. 98–107). Im Englischunterricht kann der Comic für kreative Schreibanlässe eingesetzt werden (Vgl. Engel, Julia: »›I’ll Nail ’Em With My Dart Gun!‹. Dialoge zu einem Comic schreiben, den Comic fortsetzen«, In: Englisch 5 bis 10 13, 2011, Heft 1: Creative Writing, S. 22–27). Im Reli­gions­ unterricht können unter anderem Parallelen zu Reformator Johannes Calvin aufgezeigt werden (Hillebold, Lars: »Wenn ein Comic Theologie treibt ... Ein skizzenartiger Unterrichtsentwurf zu einem Reformator und seiner Theologie«, In: Reli. Zeitschrift für Religionsunterricht 38, 2009, Heft 2: Trotz allen: Calvin!, S. 11–15).

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unterricht haben die beiden Protagonisten in erster Linie durch die Schulbücher des Buchner-Verlags gefunden. 5 Doch was genau macht die attestierte Tiefgründigkeit aus? Und gehen damit philosophische Wesenszüge des Comics einher? Zunächst werden für ein besseres Verständnis von Wattersons Bildgeschichten die besonderen Merkmale von Calvin und Hobbes herausgearbeitet. Hierfür wird der Comicstrip mit allgemeinen Merkmalen von amerikanischen Zeitungscomics verglichen. Auf dieser Grundlage sollen anschließend das philosophische Potential des Comicstrips aufgezeigt und Anregungen für den Einsatz im Philosophieunterricht exemplarisch dargestellt werden.

  Calvin und Hobbes als Zeitungsstrip Es erscheint aus mehreren Gründen sinnvoll, den Comic zunächst vergleichend in das Genre der Zeitungscomics einzuordnen. So wird nicht nur eine erste Verstehensgrundlage von Calvin und Hobbes gebildet, sondern auch für das Medium Comic an sich. Die Anfänge des Comics können auf amerikanische Zeitungen am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden, in denen bewährte Stilmittel der Karikatur und der Bildgeschichten zu einer neuen Gestaltungsform verbunden wurden. 6 Der Comicstrip verdankt sein Dasein ursprünglich dem Zeitungsmarkt, dessen drucktechnische Möglichkeiten und Begrenzungen seine Formensprache prägten.7 Die Auseinandersetzung mit einem konkreten Comicgenre oder dem historischen Wandel des Mediums kann daher dazu beitragen, im Unterricht die Fähigkeit zu vermitteln, sich kritisch mit Comics auseinanderzusetzen. 8 Zeitungs­ comics können dabei von besonderer Relevanz für den Philosophieunterricht sein. Bill Watterson selbst äußert die Überzeugung, dass solche Comicstrips durch das Beleuchten verschiedener sozialer, künstlerischer oder politischer Themen Einsichten vermitteln können.9

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So werden im Schulbuch Philosophieren 1 die Comics als Beispiel eines philosophischen Diskurses und konkreter Argumente sowie als Beispiel für die Arbeit an Begriffen verwendet. Vgl. Draken, Klaus; Flohr, Peter; Hübner, Jörg; Maeger, Stefan; Reuber, Rudolf; Schalk, Helge; Sieberg, Harald (Hrsg.): Philosophieren, 2 Bde., Bd. 1: Einführung in die Philosophie – Anthropologie – Erkenntnistheorie, Bamberg, Buchner 2005, S. 42–43, S. 46, S. 51, S. 55 und S. 59. Vgl. Knigge, Andreas C.: »Geschichte und kulturspezifische Entwicklungen des Comics«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 3–37: S. 3. Der Erfolg von Richard F. Outcaults Yellow Kid führte zu zahlreichen weiteren Comicveröffentlichungen und sollte auf diese Weise auch den Zeitungsmarkt nachhaltig verändern. Vgl. Weixler, Antonius: »Vom Comicstrip zum comic book«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 143–155: S. 143. Anregungen dazu vgl. Dallmann, Sven: »Es geht um Geld – ich habe nicht genug!«, in Praxis Philosophie und Ethik 6, 2020, Heft 5; Hägar der Schreckliche – eine schrecklich philosophische ­Comicfigur (Einzelstunden), S. 14–17. Zitiert nach Katzmarzik, Joy: Comic Art and Avant-Garde. Bill Watterson’s Calvin and Hobbes and the Art of American Newspaper Comic Strips, American Studies. A Monograph Serie, Vol. 295, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019, S. 51.

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Wie kann das Genre charakterisiert werden? Comicstrips können als kurze, meist humorvolle Comicerzählungen definiert werden, welche zunächst eine ganze Zeitungsseite einnahmen. Später bestanden sie aus mehreren Panels, die in Streifenform (»strips«) nebeneinander oder übereinander gedruckt wurden. Man unterscheidet zwischen Daily Strips (kurz »dailys«), die oft nur aus einem Panelstreifen bestehen und meist schwarz-weiß gedruckt in den Werktagsausgaben der Tageszeitungen erscheinen, und Sunday Strips, die in der Regel eine ganze Zeitungsseite einnehmen und farbig in Sonntagszeitungen gedruckt werden.10 Für Watterson war der Unterschied zwischen beiden Formaten zentral. Die Tagesstrips nutzte er für kleinere Gags oder längere Geschichten, die aus mehreren Strips an aufeinanderfolgenden Tagen erschienen. In den Sonntagsstrips setzte er dagegen komplexere Pointen und Zeichnungen um.11 Verschiedene Merkmale können als typisch für Zeitungscomics angesehen werden: So stehen oftmals Außenseiterfiguren im Mittelpunkt, meist gibt es bekannte Handlungselemente, die sich variierend wiederholen (inhaltliche Schematisierung), und in der Regel ist die verwendete Bild- und Zeichensprache mehr oder weniger stark vereinfacht (graphische Schematisierung).12 Diese drei Merkmale der Zeitungsstrips sollen nachfolgend vergleichend mit Calvin und Hobbes dargelegt ­werden. Inwiefern können die zentralen Figuren in Comicstrips als Außenseiterfiguren bezeichnet werden? Die Protagonisten der Bildgeschichten kämpfen meist mit typischen Alltagserfahrungen der Leserinnen und Leser und werden dabei nicht immer von ihrer vorteilhaften Seite gezeigt. Die Fehler und Missgeschicke der Figuren sollen den Alltag der Leserinnen und Leser spiegeln, was wiederum Sympathie erzeugen und eine Identifikation mit den zentralen Protagonisten begünstigen soll.13 Dieses Merkmal lässt sich auch bei Calvin und Hobbes finden: In seiner Rolle als Kind und Schüler sieht sich Calvin stets mit Regeln und Aufforderungen der Erwachsenen konfrontiert, wodurch er die Rolle des Außenseiters einnimmt. Durch einige Besonderheiten hebt sich Bill Wattersons Werk jedoch von anderen Zeitungscomics ab. Auffallend ist zunächst das »äußerst schmal gehaltene Personal des Strips«.14 Die wenigen Figuren werden genutzt, um die Vielseitigkeit der Figuren bzw. ihrer Gedanken oder ihrer Beziehung untereinander darzustellen. So kann Calvin beispielsweise als »ein Kind mit dem Reflexionsvermögen eines Erwachse

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Vgl. Weixler, Antonius: »Vom Comicstrip zum comic book«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 143–144. Vgl. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Buch, übers. von Wieland, Matthias, Carlsen Verlag, Hamburg 2015, S. 33–34. Vgl. Weixler, Antonius: »Vom Comicstrip zum comic book«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 145–146. Vgl. Katzmarzik, Joy: Comic Art and Avant-Garde. Bill Watterson’s Calvin and Hobbes and the Art of American Newspaper Comic Strips, a. a. O., S. 51. Platthaus, Andreas: »Funnies«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 181–193: S. 192.

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nen und ein Erwachsener mit der Phantasie eines Kindes« bezeichnet werden.15 Er ist oft hinterhältig, egoistisch und steckt voller Ansprüche. Er genießt es, seine Eltern und seine Lehrerin Frau Wurmholz in den Wahnsinn zu treiben. Gelegentlich offenbart er aber auch eine verletzliche und gute Seite.16 Allerdings fällt es schwer, Calvin als eine durchweg sympathische Figur zu bezeichnen. Regelmäßig stellt er seiner Mitschülerin Susie Derkins Fallen und spielt ihr Streiche, indem er ihr beispielsweise ausgedachte unappetitliche Dinge über sein mitgebrachtes Essen in der Schule erzählt. Eine Besonderheit der Bildgeschichten ist es, dass ausschließlich Calvin seinen Stofftiger als lebendigen und sprechenden Tiger sieht. Für alle anderen erscheint Hobbes lediglich als bewegungsunfähiges Stofftier. Nicht nur Hobbes wird in Calvins Phantasie lebendig, sondern auch andere Objekte17 wie Calvins Fahrrad, sein Baseball oder sein Mittagessen, welches ihn angreift oder auch schon einmal Shakespeare zitiert. Calvins Vorstellungskraft kann als ein allgemeines Merkmal von Kindern verstanden werden, mit dem sich die Leserinnen und Leser weltweit identifizieren können.18 James Curtis argumentiert, dass Calvin – indem er einen Teil seines egozentrischen Selbst auf ein anderes Objekt überträgt – eine typische kindliche Entwicklungsphase durchläuft. Nach Curtis stellt diese Übertragung von Calvins Persönlichkeit einen Perspektivwechsel dar, der dazu beiträgt, unterschiedliche Machtverhältnisse zu bewältigen sowie altruistische Denkweisen zu entwickeln.19 Da die Anthropomorphisierung von Hobbes und anderen Gegenständen in der Regel stattfindet, wenn Calvin allein ist, kann als weiteres zentrales Thema für Calvin und Hobbes das Alleinsein benannt werden. Dies wird keineswegs negativ verstanden, sondern erlaubt es Calvin, die Natur zu erkunden, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, sich Fragen zu stellen oder auch einfach Spaß zu haben. 20 Ein weiteres Merkmal von Zeitungscomics ist die Schematisierung bzw. die Wiederholung bestimmter Inhalte. Aufgrund ihrer Kürze haben viele dieser Comics ein festes Handlungsgerüst, mit dem sich die Leserinnen und Leser schnell vertraut machen können. Die Pointe steckt oftmals in der variierenden Wiederholung des Engelmann, Jonas: »Die Schrecken der Kindheit – ›Calvin und Hobbes‹«, in: Comic – Das Magazin für Comic-Kultur, auf: https://www.comic.de/2018/04/die-schrecken-der-kindheit-calvin-undhobbes/ (Stand: 23.09.2020). 16 Vgl. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Bucha. a. a. O., S. 67. 17 Vgl. Curtis, James: »›Let’s go exploring!‹ Illustrating Childhood Development in Calvin and ­Hobbes«, in: Abate, Michelle Ann; Sanders, Joe Suttliff (Eds.): Good Grief! Children and Comics. A Collection of Companion Essays, Ohio State University, Columbus, OH 2016, S. 29–46: S. 36. 18 Vgl. ebd., S. 30–31. 19 Dies gilt auch für die verschiedenen Alter Egos von Calvin, wenn sich dieser beispielsweise in einen Raumfahrer, Superhelden oder einen klassischen Privatdetektiv hineinversetzt (vgl. ebd., S. 37 und S. 43). 20 Michelle Ann Abate interpretiert Wattersons Comics als Kommentar auf soziale Veränderung in den USA. So hätten mehr Eltern ihre Kinder zuhause gelassen, um sie vor Gefahren zu schützen. Calvin dagegen wird mit seinem Stofftiger regelmäßig von seinen Eltern vor die Tür gesetzt. Vgl. Abate, Michelle Ann: »›A Gorgeous waste‹. Solitude in Calvin and Hobbes«, in: Journal of Graphic Novels and Comics 10, 2018, Issues 5–6, S. 488–504: S. 501.

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bereits Bekannten (Running Gags). 21 Hierzu gehören in Wattersons Comicsstrips vor allem familiäre oder schulische Konflikte, z.B. wenn Calvin nicht baden will, im Unterricht nicht aufpasst oder regelmäßig vor der Klasse ein Schulprojekt vorstellen muss. Jonas Engelmann stellt fest, dass sich diese Wiederholung des Gleichen für Calvin als Albtraum entpuppt, da sie für ihn das »ewige Warten auf das Ende der Unfreiheit in der Kindheit«22 bedeute. In den Comics wird diese Wiederholung ebenfalls ironisch und selbstreflexiv aufgegriffen, indem sich Calvin zu jedem Jahreswechsel vornimmt, die gleiche Person zu bleiben und sich nicht zu verändern. Ungewöhnlich ist, dass Bill Watterson seine Comicstrips nicht nur auf vier Panels beschränkt. In regelmäßigen Abständen bilden einzelne Tagesstrips eine fortlaufende Geschichte, die sich über mehrere Tage erstrecken kann. Dieses Vorgehen war für Watterson ein zentrales Element des Strips und bot seiner Ansicht nach mehrere Vorteile: So bringen einzelne Ereignisse innerhalb der Geschichte Konsequenzen mit sich. Gleichzeitig kann auf diese Weise die Persönlichkeit der Figuren entfaltet werden, indem diese sich mit einem Konflikt oder einem Dilemma aus­ einandersetzen, sich selbst oder die Beziehung zu anderen Figuren reflektieren. 23 Neben dem Inhalt wird auch die graphische Darstellung in Zeitungscomics mehr oder weniger stark schematisiert und vereinfacht. Dieser Punkt trifft auf Calvin und Hobbes nur bedingt zu. Einerseits werden Calvin und die anderen Figuren auf cartoonhafte Art gezeichnet, die Gesichter etwa bestehen meist aus reduzierten Elementen wie schwarze Augenpunkte. 24 Andererseits können nur die Tagesstrips als vergleichsweise homogene Einheit bezeichnet werden. In den Sonntagsstrips lassen sich hinsichtlich der Themen, der Zeichnungen und Stilmittel unzählige Varia­ tionsmöglichkeiten finden. 25 Die Zeichnungen für die Sonntagsausgaben variieren mitunter stark und können Strichmännchen, kubistische Formen oder realistische Abbildungen aufgreifen. Gerade die Fantasiewelten, in die sich Calvin regelmäßig begibt, sind stets realistischer und detailreicher gezeichnet als seine eigene Realität. Watterson selbst versuchte, die Zeichnungen so anspruchsvoll wie möglich zu gestalten und immer neue Maßstäbe für seinen Strip zu setzen. 26 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die angeführten typischen Merkmale von Zeitungscomics bei Calvin und Hobbes finden lassen. Somit eignen sich die Strips von Bill Watterson dafür, sich exemplarisch mit Zeitungs­ comics oder dem Medium Comic im Allgemeinen im Unterricht zu befassen. Aufgrund der familiären und schulischen Konflikte, die in den Comics regelmäßig auf

Vgl. Weixler, Antonius: »Vom Comicstrip zum comic book«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, a. a. O., S. 145. 22 Engelmann, Jonas: »Die Schrecken der Kindheit – ›Calvin und Hobbes‹«, in: Comic – Das Magazin für Comic-Kultur, a. a. O. 23 Vgl. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Buch, a. a. O., S. 40–41. 24 Vgl. Krichel, Marianne: Erzählerische Vermittlung im Comic am Beispiel des amerikanischen Zeitungscomics »Calvin und Hobbes«, Studien zur anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 26, Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2006, S. 103. 25 Vgl. ebd., S. 89. 26 Vgl. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Buch, a. a. O., S. 20. 21

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gegriffen werden, kann das Interesse der Schülerinnen und Schüler geweckt und ein Lebensweltbezug hergestellt werden. Der Zugang zum Comicstrip wird durch den kleinen Figurenstamm und die Wiederholung zentraler Inhalte erleichtert. Aufgrund der vielseitigen Formate – von kurzen Strips über zusammenhängende Geschichten bis hin zu experimentellen Sonntagsstrips – bieten sich für den Unterricht vielseitige Einsatzmöglichkeiten an. Die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der beiden Hauptfiguren sowie die graphische Komplexität der Sonntagsstrips fordern die Jugendlichen und ermöglichen eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit den Inhalten des Comics.

  Philosophisches Potential von Calvin und Hobbes Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Calvin und Hobbes als besonders tiefgründiger und philosophischer Comicstrip angesehen wird. Doch ist diese Zuschreibung gerechtfertigt? Bei der Betrachtung des Comicstrips sind bisher einige philosophische Aspekte hervorgetreten. So vermögen Zeitungscomics im Allgemeinen einerseits soziale Wirklichkeiten abzubilden, zuzuspitzen, zu hinterfragen. Andererseits können in ihnen auch fantastische, kontrafaktische Welten erschaffen werden. 27 Beides kann genutzt werden, um verschiedenste Reflexionsprozesse der Schülerinnen und Schüler im Philosophie- und Ethikunterricht anzuregen. Nachfolgend soll darlegt werden, dass Calvin und Hobbes deswegen als philosophisch betrachtet werden kann, weil die Bildgeschichten 1. konkrete philosophische Fragen bzw. Grundsätze sowie gesellschaftskritische Überlegungen verhandeln und sich dabei 2. philosophischer Verfahrensweisen wie Gedankenexperimenten bedienen.

Calvin und Hobbes verhandeln konkrete philosophische Fragen Bill Watterson selbst hat den philosophischen Gehalt seines Werkes eher relativiert, indem er beispielsweise seine Geschichten zum Medium Comic in Bezug setzte: »Sobald man irgendwas Subtileres zeichnet als jemanden, der eine Torte ins Gesicht bekommt, wird man gleich für einen Philosophen gehalten. Man kann von Zeit zu Zeit eine ehrliche Erkenntnis unterbringen, weil die Leser für gewöhnlich nicht damit rechnen.« 28 Aus zwei Gründen hat Watterson sich in seinem Comicstrip oft allgemeingültigen Themen zugewandt: Zum einen empfand er Verweise auf aktuelle Ereignisse oder Personen als uninteressant und verzichtbar29 und zum anderen arbeitete er meist einige Monate im Voraus, um ausreichend Vorlaufzeit zu haben und pünktlich ab

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In Bezug auf Calvin und Hobbes wurde dies an den Ausführungen von James Curtis und Michelle Ann Abate gezeigt. Siehe Fußnoten 17 und 18. In Hinblick auf die Geschichte des Zeitungscomics kann hier außerdem Winsor McCays Little Nemo angeführt werden. Der Zeitungscomic thematisiert die Träume des kleinen Nemo, welche meist von seiner Wirklichkeit beeinflusst werden. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Buch, a. a. O., S. 42–43. Vgl. ebd., S. 32.

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geben zu können. 30 Es sind ebendiese allgemeinen Betrachtungen und weniger die bloßen philosophischen Namensgeber31, die Calvin und Hobbes zu einem scharfsinnigen Comic machen. Martin Blay und Michael Winklmann zeigen mit Blick auf den Religionsunterricht auf, dass in den Comicstrips verschiedene klassische Fragen der Philosophie aufgegriffen werden wie beispielsweise Fragen nach dem Wesen des Menschen, dem richtigen Handeln oder der Existenz Gottes. 32 Dies soll hier präzisiert werden. Durch das von Bill Watterson entworfene Szenario – vor allem hinsichtlich der Figuren und der Running Gags – sind philosophische Bezüge im Kern der Geschichten verankert. Die Figuren sind philosophisch angelegt und können am besten durch ihre inhärenten Widersprüche bestimmt werden. Calvins Figur verkörpert den Widerspruch, dass er zwar über ein breites philosophisches und moralisches Wissen verfügt, dieses jedoch in erster Linie nutzt, um seine kindlichen und selbstbezogenen Interessen zu verwirklichen. Auf seine eigenen Vorteile bedacht hinterfragt Calvin die schulischen Abläufe und das Bildungssystem an sich. So stellt Calvin im Unterricht seiner Lehrerin die Frage nach dem Sinn des Lebens und resümiert, dass er lieber diese Frage geklärt haben möchte, bevor er seine Energie der weiteren Schullektüre widmet. 33 An anderer Stelle diskutiert Calvin mit Hobbes, ob er gerade bei einer Ethikarbeit mogeln sollte. 34 Einmal besteht der Sechsjährige darauf, seinen Geist zur Schule zu schicken, damit sein Körper im Bett bleiben kann. 35 Fester Bestandteil des Comicstrips ist die Vorweihnachtszeit, in der Calvin seinen Wunschzettel erstellt, hinterfragt, was es bedeutet, brav zu sein, und somit versucht, den Weihnachtsmann zu manipulieren. Auch hier zeigt sich die Komplexität von Calvins Figur. Sein Wunschzettel ist in der Regel unverhältnismäßig lang und enthält Produktwünsche, die kaum als kinderfreundlich bezeichnet werden können. Doch am Ende freut sich Calvin am meisten über die schlichten Geschenke seines Stofftigers. So wünscht sich Calvin in einem Jahr zunächst thermonukleare Langstreckenraketen, nur um Vgl. ebd., S. 23. So passt es zwar, dass die Hauptfigur nach dem Schöpfer der calvinistischen Prädestinationslehre benannt ist. In einer zusammenhängenden Reihe von Strips (ab dem 19.03.92) fordert Calvin seine Umgebung beispielsweise auf, ihn als »Kind der Vorsehung« anzusprechen. Calvin bezeichnet sich als Fatalisten und ist sich sicher, dass er zu Großem bestimmt ist. Andererseits befindet er sich in einem Leben voller Bestimmungen wieder und versucht, sich seine Freiheit zu erkämpfen. Dies allein reicht aber nicht aus, um den Comic als philosophisch zu charakterisieren. Vgl. Engelmann, Jonas: »Die Schrecken der Kindheit – ›Calvin und Hobbes‹«, in: Comic – Das Magazin für Comic-Kultur, a. a. O. 32 Vgl. Blay, Martin; Winklmann, Michael: »Über Thunfischsandwiches, skeptische Tiger und grantige Reformatoren – Eine Einführung in die Welt von Calvin und Hobbes«, in: Blay, Martin; Winklmann, Michael (Hrsg.): Philosophieren über Gott und die Welt mit Calvin und Hobbes, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2018, S. 9–17: S. 15. 33 Vgl. Comic vom 03.03.92. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, Carlsen Verlag, Hamburg 2013, S. 456. 34 Vgl. Comic vom 12.09.93. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, Carlsen Verlag, Hamburg 2013, S. 233. 35 Vgl. Comic vom 28.01.91 und die nachfolgenden Geschichten. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, a. a. O., S. 401.

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anschließend die Arbeits- und Umweltschutzmaßnahmen des Weihnachtsmanns an den Pranger zu stellen und diesen danach mit umgekehrter Psychologie dazu zu bringen, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Letztlich ist das beste Geschenk jedoch der Gutschein von Hobbes für einen Attacken-freien Tag. 36 Auch die Figur des Stofftigers ist von Widersprüchen geprägt. In seiner lebendigen Form repräsentiert er die Fantasie und Vorstellungskraft des Sechsjährigen. Überwiegend ist Hobbes im Comic als lebendiger Tiger zu sehen. Dadurch wird er für die Leserinnen und Leser zu einer zentralen Figur, die genauso real erscheint wie Calvin selbst. Bill Watterson nutzt die Figur des Tigers wiederholt als Stellvertreter für die Natur und das Tierreich. In mehreren Bildgeschichten vergleichen Calvin und Hobbes ihre jeweiligen Fähigkeiten. Während Calvin die menschliche Intelligenz und ihre Erfindungen betont, prahlt Hobbes damit, dass es Tiere gibt, die in der Dunkelheit sechsmal besser sehen können als Menschen, und bringt Calvin so zum Schweigen. 37 An einer anderen Stelle erklärt Calvin ihm, dass er einen Schmetterling gefangen habe. Daraufhin wirft Hobbes den Menschen vor, dass sie wohl auch Regenbögen in Zoos gefangen halten würden, wenn sie es könnten. 38 Parallel dazu agiert Hobbes als der vergleichsweise vernünftige oder erwachsene Part des Duos, wie später noch dargelegt wird. Weiterhin haben mehrere Running Gags einen philosophischen Bezug, da sie klassische Themen oder Begriffe der Philosophie behandeln. So nimmt das Thematisieren und Hinterfragen von Machtverhältnissen eine zentrale Rolle in Calvin und Hobbes ein. Dies lässt sich anhand mehrerer Running Gags zeigen. So informiert Calvin seinen Vater regelmäßig über dessen Wählergunst als Vater bei den weißen Sechsjährigen. Auf diese Weise wird die gesellschaftliche Institution der Vaterschaft humorvoll in Frage gestellt, indem sich Calvin unter anderem nach der Länge der Amtsperiode erkundigt oder danach, ob sein Vater die familiäre Verfassung selbst geschrieben habe. 39 Calvins Auseinandersetzungen mit seiner Lehrerin, Frau Wurmholz, enden mehrmals damit, dass Calvin zum Rektor geschickt wird und sich dort rechtfertigen muss. Ein weiterer Running Gag ist, dass Calvin regelmäßig in Konflikt mit dem Schulschläger Moe gerät. Nachdem er die Auseinandersetzung verloren hat, kommt er meist zu einer Einsicht. So resümiert er, dass Regeln wohl nur für die Kleinen und Netten gelten würden40 oder dass es schwer ist, fromm zu bleiben, wenn Schlägertypen wie Moe nicht vom Blitz getroffen würden. 41

Der Gutschein spielt darauf an, dass Hobbes entsprechend seiner tierischen Natur Calvin regelmäßig anfällt, wenn dieser von der Schule nach Hause kommt. Vgl. Comic vom 08.12.1992 bis zum 25.12.1992. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 111–119. 37 Vgl. Comic vom 07.03.91. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, a. a. O., S. 417. 38 Vgl. Comic vom 15.06.95. Ebd., S. 394. 39 Vgl. Comic vom 01.03.1986. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 1: 1985 –1988, Carlsen Verlag, Hamburg 2013, S. 65. 40 Vgl. Comic vom 11.11.88. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, a. a. O., S. 27. 41 Vgl. Comic vom 08.11.90. Ebd., S. 364. 36

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Ein weiterer sich wiederholender Witz ist, dass Calvin sich mit einem selbstgebastelten Stand an die Straße stellt und versucht, mit bescheidenem Erfolg unveräußerliche Dinge zu verkaufen. Dabei handelt es sich meist um abstrakte Begriffe oder menschliche Erfahrungen – wie ehrliche Meinungen, 42 Leben 43 oder Glück 44 . In Bezug auf die Behandlung der philosophischen Themen sollen noch zwei Aspekte hervorgehoben werden. Erstens gelingt es Bill Watterson meisterhaft, die philosophischen Fragen mit dem Alltag und der Lebenswelt des Sechsjährigen zu verknüpfen. So schaut sich Calvin ein Foto von sich als Zweijährigem an und äußert den Eindruck, er würde das Bild eines anderen betrachten. 45 Im Anschluss an Calvins Ausführungen ließen sich nahtlos Fragen nach der personalen Identität erörtern. Zweitens tauschen die Figuren sich stets auf einem hohen sprachlichen Niveau aus. Dabei werden korrekte und vollständige Sätze formuliert und auch die Fachsprache verwendet. Die einzige Ausnahme bildet hier Schulschläger Moe, was als Teil seiner Charakterisierung betrachtet werden kann. 46

Calvin und Hobbes thematisieren gesellschaftskritische Überlegungen Nach seiner eigenen Aussage hat Watterson Calvin als Figur genutzt, um seine Empörung hinsichtlich gesellschaftlicher Themen zu äußern. 47 Als Beispiel sind bereits die Konsumkritik, hierarchische Strukturen in der Familie und die Reflexion des Bildungswesens genannt worden, die sich regelmäßig in den Strips finden lassen. Darüber hinaus werden in Calvin und Hobbes vor allem die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt und der Einfluss der Medien auf den Menschen problematisiert. Oft werden die verschiedenen Themen miteinander bzw. mit einem philosophischen Aspekt verbunden. So bezeichnet Calvin es als sein Lieblingsritual, drei Schüsseln Schokobomben mit Zuckerguss zu essen und sich dann völlig überreizt vor den Fernseher zu setzen. Gemeinsam mit Hobbes wird dies als ein transzendentales Erlebnis bezeichnet, um eine niedrigere Bewusstseinsebene zu erlangen. 48 An einer anderen Stelle huldigt Calvin dem Fernseher als größtes aller Massenmedien und dankt ihm dafür, dass sein Denken reduziert, seine Fantasie abgetötet und er zum Zwecke des Konsums manipuliert würde. Dabei würde ihm

Diese werden von Calvin umsonst angeboten. Vgl. Comic vom 26.05.93. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 186. 43 Vgl. Comic vom 25.08.93. Ebd., S. 225. 44 In der deutschen Übersetzung werden die Preise in einigen Strips in Cent, in anderen in Pfennigen angeben. Für Glück veranschlagt Calvin in der deutschen Variante 10 Cent. Vgl. Comic vom 08.07.95. Ebd., S. 403. 45 Vgl. Comics vom 17.11.95 und 18.11.95. Ebd., S. 461. 46 Vgl. Krichel, Marianne: Erzählerische Vermittlung im Comic am Beispiel des amerikanischen Zeitungscomics »Calvin und Hobbes«, a. a. O., S. 107. 47 Vgl. Watterson, Bill: Calvin und Hobbes entdecken. Das große Bill-Watterson-Buch, a. a. O., S. 42. 48 Vgl. Comic vom 03.09.88. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 1: 1985 –1988, a. a. O., S. 480.

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das Fernsehprogramm leichte Problemlösungen vorgaukeln. 49 In einer längeren Geschichte fliehen Calvin und Hobbes zum Mars, nachdem Calvin festgestellt hat, dass die Erwachsenen die Erde vergiftet haben. Da sie keine Steckdose finden und ihr Bonbonpapier auf dem fremden Planeten liegen lassen, entschließen sie sich zur Rückkehr. 50 Da Watterson es mit seiner Konsumkritik ernst meinte, ließ er Calvin und Hobbes nicht für andere Produkte lizenzieren. Während man Garfield und Snoopy auf Tassen, Schlüsselanhängern und Sonnenbrillen findet, erscheinen Calvin und Hobbes nur in Buchform. Nach Auffassung des Künstlers hätte eine Kommerzialisierung die Figuren aus dem Zusammenhang der Geschichten gerissen und die Qualitäten des Strips zunichte gemacht. 51 Beispielsweise wäre es schwer gewesen, auf den Produkten zwischen Calvins Fantasie und seiner Realität zu unterscheiden. Dieser Punkt betrifft sowohl seine unzähligen gedanklichen Eskapaden wie auch die Darstellungsweise von Hobbes als Tiger oder Stofftier. Dass Watterson die Rechte seiner Figuren nicht an größere Firmen verkauft hat, lässt seine Gesellschaftskritik auch heute noch authentisch wirken.

In Calvin und Hobbes werden philosophische Verfahrensweisen eingesetzt Die Bildgeschichten von Calvin und seinem Tiger enthalten auf vielfache Art philosophische Methoden. In einigen Bildgeschichten werden Dilemmasituationen 52 besprochen und argumentative Fähigkeiten 53 eingeübt. In anderen werden philosophische Begriffe expliziert. Als typisches Beispiel hierfür wurde bereits Calvins jährliche Reflexion in der Vorweihnachtszeit benannt. Aufgrund der ständigen Realitätsflucht und der vielfachen philosophischen Ausführungen können in Calvin und Hobbes unzählige Gedankenexperimente gefunden werden. Bereits die zentrale Prämisse des Comics, dass man sich Hobbes als lebendigen Tiger vorstellen kann, ist selbst kontrafaktisch und impliziert die philosophische Frage nach der Wahrhaftigkeit unserer Vorstellungen. 54 Als Beispiele für Gedankenexperimente in den Vgl. Comic vom 07.08.92. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 51. 50 Vgl. Comics vom 12.09.88 bis zum 01.10.88. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 1: 1985 –1988, a. a. O., S. 485–490. 51 Vgl. Katzmarzik, Joy: Comic Art and Avant-Garde. Bill Watterson’s Calvin and Hobbes and the Art of American Newspaper Comic Strips, a. a. O., S. 81. 52 Hierfür kann das bereits genannte Beispiel angeführt werden, dass Calvin überlegt, in einer Ethikarbeit zu mogeln. Vgl. Fußnote 34. An anderer Stelle fragt sich Calvin, woher er wissen kann, ob unsichtbare Kleinstlebewesen existieren, und bezeichnet dies als ontologisches Dilemma. Vgl. Comic vom 09.08.95. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 418. 53 In diesem Sinne werden die Comicstrips mehrfach im Schulbuch Philosophieren eingesetzt (vgl. Fußnote 5). Vgl. Draken, Klaus; Flohr, Peter; Hübner, Jörg; Maeger, Stefan; Reuber, Rudolf; Schalk, Helge; Sieberg, Harald (Hrsg.): Philosophieren, 2 Bde., Bd. 1: Einführung in die Philosophie – ­A nthropologie - Erkenntnistheorie, Bamberg, a. a. O., S. 42–43, S. 46 und S. 59. 54 Helmut Engels‘ Ausführungen, dass literarische Texte und Filme als Gedankenexperimente auf49



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längeren Geschichten lassen sich exemplarisch folgende nennen: Weil Calvin kein Kind mehr sein möchte, beschließt er, als Tiger zu leben. 55 Sein Wunsch findet ein Ende, als er herausfindet, dass Tiger eine bedrohte Tierart sind. Ein Running Gag des Strips ist, dass Calvin aus einer leeren Kiste eine fantastische Erfindung macht, indem er einfach den Namen der Erfindung auf diese schreibt. Meistens steht der alte Name der vorherigen Funktion noch immer auf der Kiste, was von Hobbes ironisch kommentiert wird. Die erste Erfindung dieser Art ist der Zell­umwandler, mit dem man sich in eine beliebige Lebensform verwandeln kann. Auch hier wird Calvin zum Tiger und erscheint daraufhin sogar als kleineres Ebenbild von Hobbes. 56 Später entwirft der Sechsjährige den »Moralisator« und erschafft so einen vollständigen Doppelgänger seiner guten Seite. Als dieser sich später mit Calvin prügeln will, löscht er sich aufgrund seines bösen Gedankens selbst aus. 57 Betrachtet man den Comicstrip auf einer allgemeineren Ebene, stellt man fest, dass Calvin scheinbar ewig die gleichen Situationen durchläuft. 58 Auch auf diese Weise kann Wattersons Comic als Gedankenexperiment verstanden werden.

Der Einsatz von Calvin und Hobbes im Philosophie- und   Ethikunterricht Im Hinblick auf das dargelegte philosophische Potential des Comicstrips ergeben sich bereits mehrere Verwendungsmöglichkeiten von Calvin und Hobbes für den Philosophie- und Ethikunterricht. Da im Zusammenspiel mit Beobachtungen oder Alltagssituationen der Figuren klassische philosophische Fragen verhandelt werden, können im Unterricht ebendiese eingesetzt werden, um zu philosophischen Themen hinzuführen. Dabei können auch gesellschaftliche Probleme aufgezeigt werden, die sich auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler übertragen lassen. Mithilfe des Comics können darüber hinaus die enthaltenen philosophischen Methoden eingeübt und reflektiert werden. gefasst werden können, lassen sich auf Comics übertragen. Nach Engels ist es notwendig, dass die Comics eine Versuchsanordnung in Form von Annahmen bzw. Prämissen enthalten, die meist kontrafaktisch sind. Eine Versuchsanweisung ist ebenfalls notwendig und sollte von der Lehrkraft ergänzt werden. Vgl. Engels, Helmut: »Gedankenexperimente«, in: Nida-Rümelin, ­Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch der Philosophie und Ethik., 2 Bde., Bd. 1: Didaktik und Methodik, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017, S. 188 –189. 55 Vgl. Comics vom 07.03. bis zum 24.03.88. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 1: 1985 –1988, a. a. O., S. 403–408. 56 Vgl. Comics vom 23.03.87 bis zum 03.04.87. Vgl. ebd., S. 248–251. 57 Vgl. Comics vom 18.03.91 bis 03.04.91. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, a. a. O., S. 422–426. 58 Jonas Engelmann argumentiert, dass der Comic ebenfalls als Utopie verstanden werden kann, indem Calvin und sein Tiger fortlaufend bemüht sind, aus eben jenen Routinen und Zwängen mithilfe ihrer Fantasie auszubrechen. Vgl. Engelmann, Jonas: »Die Schrecken der Kindheit – ›Calvin und Hobbes‹«, in: Comic – Das Magazin für Comic-Kultur, a. a. O.

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Weiterhin veranschaulichen einzelne Geschichten philosophische Textpassagen und können entsprechend im Unterricht aufgegriffen werden. 59 Beispielsweise können Calvins Überlegungen, ob es dem Christkind reicht, wenn er nur brav tut, oder ob er wirklich brav handeln müsse, 60 direkt auf Kants klassische Ausführungen zum guten Willen übertragen werden. Zudem lassen sich Calvins Dialoge mit Hobbes über die vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens in Bezug zum Existenzialismus setzen. So stellt der Sechsjährige einmal fest, dass unsere Sonne irgendwann explodieren und das Universum kollabieren werde. Da alles dem Untergang geweiht sei, spiele nichts mehr eine Rolle.61 An anderer Stelle stellt Calvin fest, dass der Mensch nach einem Sinn strebt, und fragt sich, was schlimmer wäre: wenn alles oder wenn nichts eine Rolle spielen würde.62 Auch hier können wieder Beispiele aus dem Lehrwerk Philosophieren angeführt werden (siehe Fußnote 5). 60 Vgl. Comic vom 11.12.88. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe., 3 Bde., Bd. 2: 1988 –1992, a. a. O., S. 40. 61 Vgl. Comics vom 01.06.93 und 02.06.93. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 189. 62 Vgl. Comic vom 30.07.95. Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 414.

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Eine weitere Einsatzmöglichkeit der Comics ergibt sich durch die Nähe des Dargestellten zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Dadurch können diese sich leichter in die gezeigten Situationen hineinversetzen und ihre Gedanken beispielsweise in verschiedenen Formen des kreativen Schreibens festhalten. Aufgrund der aufgezeigten philosophischen Elemente kann Calvin und Hobbes auch die Grundlage für ein theatrales Philosophieren bilden. Der folgende Unterrichtsvorschlag soll beispielhaft vorstellen, wie die Comicstrips Bill Wattersons im Unterricht eingesetzt werden können. Anhand des von Calvin erfundenen Duplikators sollen sich die Schülerinnen und Schüler mit philosophischen und moralischen Fragen auseinandersetzen. Dazu müssen sie sowohl das Gedankenexperiment durchführen, analysieren und sich argumentativ mit den sich aus dem Gedankenexperiment ergebenden Fragestellungen befassen (z.B. inwiefern sich die Duplikate nach einer Woche aufgrund ihrer verschiedenartigen Erfahrungen unterscheiden oder wie man nachweisen könnte, dass am Ende der Geschichte der ursprüngliche Calvin weiterexistiert). In M1 erläutern die Schülerinnen und Schüler zunächst die Erfindung des Duplikators, bevor sie sich in Calvins Situation hineinversetzen und das Gedankenexperiment selbst durchführen. Eine mögliche Zusatzaufgabe könnte es sein, dass die Lernenden eine Technik-Folge-Abschätzung vornehmen, indem sie Vor- und Nachteile des Duplikators antizipieren. In M2 setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit den im Comic gezeigten Konsequenzen der Erfindung auseinander. Auf der Grundlage einer Charakterisierung von Calvin sollen die Konsequenzen des Duplikators anschließend bewertet werden. In Bezug auf M3 werden die moralischen und philosophischen Implikationen der Erfindung genauer betrachtet. Hierzu erläutern die Lernenden selbstständig die Frage nach der personalen Identität von Calvin und seinen Duplikaten bzw. Klonen. Dies wird in M4 vertieft, indem die Schülerinnen und Schüler überlegen, ob Calvin und seine Duplikate nach einer Woche voller ähnlicher, aber unterschiedlicher Erfahrungen noch miteinander identisch sind. Zumindest mit den Gesetzmäßigkeiten des Comics, nach denen Calvin jedes Jahr dieselbe Person bliebe, lässt sich die Frage einfach beantworten ...

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 M 1   Der Duplikator63

 Arbeitsanregungen  Fasst den Inhalt des Comics zusammen.  Nennt Besonderheiten, die euch in Hinsicht auf den Text oder die Bilder auffallen.  Erklärt, wie der Duplikator funktioniert, den Calvin erfunden hat.  Überlege dir, was du verdoppeln würdest. Schreibe dazu eine kurze Geschichte. Weiterführende Arbeitsanregung

 Stellt stichpunktartige gegenüber, welchen Nutzen ein Duplikator hätte und welche Gefahren oder Nachteile von ihm ausgehen könnten. Nehmt Stellung zu der Frage, ob die Menschen an einem solchen Duplikator forschen sollten.



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Watterson, Bill: Die Calvin und Hobbes Gesamtausgabe, 3 Bde., Bd. 3: 1992 –1995, a. a. O., S. 225.

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 M 2   Das Duplikat64

 Arbeitsanregungen  Fasst den weiteren Inhalt des Comics zusammen.  Beschreibt mithilfe des Comics, was Calvin für ein Junge ist.  Begründet, ob es eine gute Idee ist, Calvin zu verdoppeln.



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Ebd., S. 225–226.

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 M 3   Der Duplikator brennt durch65

 Arbeitsanregungen  Fasst die vier Panels zusammen.  Erklärt, warum sich Calvin und Hobbes im dritten Bild erschrecken.  Begründet, ob Calvin die Schuld dafür trägt, was seine Duplikate tun.  Erläutert, ob Calvin und eines seiner Duplikate dieselbe Person sind. Weiterführende Arbeitsanregung

 Stell dir vor, es würde ein exaktes Duplikat von dir selbst geben und du hättest die Möglichkeit, dich mit deinem Duplikat ausführlich zu unterhalten. Schreibe dazu eine Geschichte, in der du darstellst, in welchen Punkten sich eure jeweiligen Sichtweisen in Bezug auf das Leben gleichen bzw. unterscheiden.



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Ebd., S. 227.

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 M 4   Die Duplikate und ihre Schandtaten66

 Arbeitsanregungen  Fasst mit eigenen Worten zusammen, warum Calvin seine Duplikate loswerden möchte.  Calvins Duplikate waren eine Woche für ihn in der Schule, jeder an einem anderen Tag. Sind die Duplikate nach einer Woche noch identisch miteinander bzw. mit Calvin? Begründet eure Aussage.  Erläutert, ob man an Dingen Spaß haben kann, bei denen man selbst nicht dabei ist.  Später verwandelt Calvin seine Duplikate mithilfe einer seiner Erfindungen in Würmer. Begründet, ob er das als der Erschaffer seiner Duplikate tun darf oder nicht.

Weiterführende Arbeitsanregung

 Die Dinge, die Calvin erlebt, spielen oft in seiner Fantasie. Lies dir die Comics zum Duplikator noch einmal durch. Erkläre, inwiefern es möglich wäre, dass Calvin sich seine Erfindung und die Folgen nur ausdenkt und sie eine Woche lang seinen Eltern, Lehrern und Mitschülern vorspielt. Begründe, ob Calvin etwas dabei lernt und gegebenenfalls was.



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Ebd., S. 230.

The Golden Rule goes Comic Zwei Unterrichtsskizzen für die Sekundarstufen I und II Antje Knopf

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ie Goldene Regel ist in ihrer positiven wie negativen Formulierung wiederkehrender Gegenstand des Ethikunterrichts. Da sie epochenübergreifend in verschiedensten Kulturen und Konfessionen auffindbar ist, weckt sie zum einen die Hoffnung auf »eine fundamentale Übereinstimmung der Menschen über das sittlich Richtige«1, die dem moralischen Relativismus Einhalt zu gebieten vermag. Zum anderen ist die Goldene Regel fester Bestandteil der Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler. Die Jugendlichen wissen, dass, wer auf die Scheinfrage: »Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand das mit dir macht?«, zerknirscht mit: »Schlecht!«, antwortet, mit Hilfe der Goldenen Regel dazu verpflichtet werden kann, in Zukunft zu unterlassen, was immer er mit dem oder der anderen »gemacht« hat. Die gestellte Frage lässt sich jedoch aus voller Überzeugung auch ganz anders beantworten: »Also MIR würde das nichts ausmachen!«, und der zuweilen folgende Streit kann als Indiz dafür gelesen werden, dass beide Seiten die Forderungen, welche die Goldene Regel an sie stellt, verschieden interpretieren, aber nicht bemerken, dass sie von unterschiedlichen Gegenständen sprechen. Im Rahmen des Philosophieund Ethikunterrichts dienen solche Situationen als Anlass, die voneinander abweichenden Deutungen zu explizieren und anschließend kritisch auf ihre Brauchbarkeit als moralisches Handlungsprinzip zu befragen. Der vorliegende Beitrag verfolgt dementsprechend zwei Anliegen: 1. Verschiedene Deutungen der Goldenen Regel und die aus diesen Deutungen resultierenden Anwendungsprobleme sollen übersichtlich dargestellt werden. 2. Unter Bezugnahme auf zwei kurze Comic-Ausschnitte werden anschließend Vorschläge zur kritischen Reflexion der Goldenen Regel in der Sekundarstufe I und II unterbreitet.

  Zum Gegenstand – Deutungsmöglichkeiten der Goldenen Regel Eine Lehrkraft, die problemorientierten Unterricht gestalten und Diskussionen strukturiert leiten möchte, benötigt Unterscheidungswissen bzgl. der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten ihres Unterrichtsgegenstandes. Die folgende Über

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Höffe, Otfried: »Die Goldene Regel«, in: Höffe, Otfried; Forschner, Maximilian: Lexikon der Ethik, München, C. H. Beck, München 2008 (neubearbeitete und erweiterte Auflage), S. 118–119.

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sicht soll jenes Unterscheidungswissen bereitstellen, indem sie das der Goldenen Regel zugrunde liegende Prinzip aufdeckt, die verschiedenen Absichten hinter einer Befolgung der Goldenen Regel differenziert und schließlich näher bestimmt, wie das »Wollen« der Goldenen Regel interpretierbar ist. 2 Der Goldenen Regel liegt in all ihren Formulierungen das Prinzip der Wechselseitigkeit (Reziprozität) zugrunde: Das, was Person P von anderen Menschen erwartet, müssen diese auch von P erwarten können. In diesem noch sehr allgemeinen Sinn fordert die Goldene Regel dazu auf, die eigenen Handlungen stets nach demselben Maßstab zu beurteilen wie die Handlungen anderer. Probleme in der Anwendung entstehen, sobald kein geteiltes Verständnis des Beurteilungsmaßstabs existiert. So würde das Urteilen und Handeln eines Mitgliedes der Mafia, welches sich stets nach dem »moralischen Code« der Mafia richtet und auch das Handeln seiner Clanmitglieder nach demselben Code beurteilt, zwar der Forderung nach Reziprozität genügen, jedoch von Menschen, die nicht der Mafia angehörten, allenfalls als konsequent, nicht aber als »moralisch« beurteilt werden. In einem ersten Schritt ist zu klären, weshalb dieser Forderung nach Wechselseitigkeit entsprochen werden sollte (man könnte ebenso fragen, aus welchen Gründen Menschen ihr Handeln an der Goldenen Regel ausrichten). Die Befolgung der Goldenen Regel kann zwei verschiedenen Zwecken dienen: 1.  moralisch zu handeln (»Gutes tun«), oder 2.  egoistische Ziele zu erreichen (»Gutes für mich tun«). In letzterem Verständnis empfiehlt die Goldene Regel die Berücksichtigung des Prinzips der Wechselseitigkeit als Mittel zum eigennützigen Zweck (»Wenn du möchtest, dass andere dir helfen (Zweck), dann zeige dich ihnen gegenüber ebenfalls hilfsbereit (Mittel).«) und ist damit als Klugheitsregel zu verstehen, welche auf die Beförderung des eigenen Glücks zielt. 3

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Eine systematische Übersicht verschiedener Deutungsmöglichkeiten der Goldenen Regel liegt in der fachdidaktischen Literatur m. E. bisher nicht vor; Rolf 2005 hat in seinem Artikel jedoch bereits zwei wichtige Unterschiede festgehalten: jenen zwischen positiver wie negativer Formulierung sowie jenen zwischen altruistischer und egoistischer Rechtfertigung der Goldenen Regel (vgl. Rolf, Bernd: »Die Goldene Regel – Was ist das eigentlich? Ein Unterrichtsmodell für die Sekundarstufe I«, in: Ethik und Unterricht 16, 2005, Heft 3: Altruismus und Eigennutz, S. 17–21). Zur Erstellung der Übersicht hat die Lektüre folgender Texte maßgeblich beigetragen: Reiner, Hans: »Die ›Goldene Regel‹«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 3, 1948, Heft 1, S. 74–105; Singer, Marcus George: Verallgemeinerungen in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens, übers. von Langer, Claudia und Wimmer, Brigitte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975; Hoche, Hans-Ulrich: »Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 32, 1978, Heft 3, S. 355–375; Brülisauer, Bruno: »Die Goldene Regel. Analyse einer dem Kategorischen Imperativ verwandten Grundnorm«, in: Kant-Studien 71, 1980, Heft 3, S. 325–345 und Bojanowski, Jochen: »Rationales Wollen – Über das Verhältnis von Kategorischem Imperativ und Goldener Regel«, in: Egger, Mario (Hrsg.): Philosophie nach Kant. Neue Wege zum Verständnis von Kants Transzendental- und Moralphilosophie, Walter de Gruyter, Berlin 2014, S. 211–222. Ohne den Bezug auf einen konkreten Kontext, wie dies in Kants Hilfe-Beispiel der Fall ist (Vgl. M6), ließe sich freilich fragen, ob bzw. unter welchen Umständen ein Mensch wirklich wollen kann, dass ihm in keiner Notsituation geholfen werde.

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In einem zweiten Schritt ist nun für 1. wie 2. näher zu bestimmen, was genau getan werden muss, um der Forderung der Goldenen Regel zu entsprechen. Hier lassen sich mindestens vier verschiedene Deutungen (im Folgenden (a) bis (d)) unterscheiden: 1.  Die Goldene Regel fordert dazu auf, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen 4 und (a) die eigenen kontingenten Wünsche und Neigungen oder (b) die eigenen subjektiven Interessen5 in dieser Situation zum Handlungsmaßstab zu erheben. Deutung (a) nimmt die Goldene Regel wörtlich. Der Charme dieser Deutung besteht in ihrer Klarheit: Jeder Mensch kann über seine Wünsche Auskunft geben. Da Wünsche sich jedoch von Mensch zu Mensch unterscheiden, stößt (a) schnell auf erhebliche Anwendungsprobleme, wie etwa Marcus G. Singers Beispiel vom Masochisten zeigt, der in Befolgung von (a) gegenüber seinen Mitmenschen zum Sadisten werden müsste.6 Auch die im einleitenden Text gegebene Antwort: »Also MIR würde das nichts ausmachen!«, impliziert Deutung (a). (b) führt ob der Kontingenz subjektiver Interessen letztlich zu denselben Anwendungsproblemen wie (a), zumal bereits mehrere Interessen derselben Person in Konflikt miteinander stehen können. 2.  Die Goldene Regel fordert dazu auf, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen und (c) die eigenen Lust- und Unlustgefühle in der jeweiligen Situation oder (d) die eigenen objektiven Interessen im Sinne von wohlverstandenen Grundbedürfnissen (z. B. Autonomie, physisches Wohlergehen, Rücksichtnahme anderer auf die eigenen Bedürfnisse, subjektiven Interessen und Wünsche, …) zum Ausgangspunkt der Beurteilung von Handlungen zu machen.



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Bereits an der Interpretation dessen, was es heißt, sich in die Lage eines konkreten Anderen zu versetzen (Deutung a und b), scheiden sich die Geister: Soll der Regelanwender seine eigenen Eigenschaften, Vorlieben und subjektiven Interessen während der Perspektivwechsels behalten und nur die Situation wechseln? Dies führt zu den für (a) und (b) benannten Problemen. Versucht der Regelanwender hingegen, beim Perspektivwechsel die Eigenschaften des konkreten Anderen zu übernehmen, setzt dies nicht nur voraus, dass die Eigenschaften und Vorlieben des Anderen hinlänglich bekannt sind. Das zu tun, was der Andere sich – vermutlich – wünscht, führt ebenfalls zu größeren Schwierigkeiten (was, wenn der Andere sich wünscht, dass ich ihm all mein Geld gebe oder jemanden für ihn töte?). Gebietet die Goldene Regel hingegen, ich solle die Interessen meines Gegenübers ebenso achten wie die meinen, dann ist unklar, wie eine Vermittlung zwischen den Interessen gelingen soll. Unter dem Terminus der subjektiven Interessen fasse ich im Folgenden sowohl Interessen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bzw. Position (als Krankenpfleger, als Linksliberaler, als Managerin des Konzerns B, als Adlige …), als auch längerfristige Interessen eines Individuums: also Interessen, welche anders als bloße Wünsche über verschiedene Situationen hinweg relativ stabil sind und einen Teil der Persönlichkeit des Individuums ausmachen, aber nicht für alle Menschen gleichermaßen gelten – etwa das Interesse daran, einen bestimmten Beruf auszuüben oder später Kinder zu haben. In grober Anlehnung an Schuck, Hartwig: »Wie objektiv sind Interessen? Facetten und Funktionen des Interessenbegriffs in kritischen Analysen sozialer Verhältnisse«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 41(1), 2014, Heft 1, S. 298–324. Singer, Marcus George: Verallgemeinerungen in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens, a. a. O., S. 37

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Die Deutungen (c) und (d) implizieren – anders als dies bei Wünschen, Neigungen und subjektiven Interessen, also (a) und (b), der Fall ist –, dass die objektiven Interessen und Lust- bzw. Unlustgefühle eines jeden Menschen nicht bloß kontingent, sondern verallgemeinerungsfähig (universalisierbar) sind. (c) führt wie bereits (a) zu Anwendungsproblemen; Menschen können Unlust verspüren bei Handlungen, die jedoch moralisch geboten sind. Dies zeigt das bereits aus den Schriften der Frühaufklärer bekannte 7 Beispiel des Strafgefangenen, der für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden soll, aber seinen Richter ermahnt: »Sie würden an meiner Stelle doch auch nicht ins Gefängnis gehen wollen!« 8 (d) hingegen setzt Wissen darüber voraus, wie sich wohlverstandene verallgemeinerbare Interessen eines jeden Menschen von bloß kontingenten Wünschen und subjektiven Interessen einzelner Individuen unterscheiden – das sechste Eis an einem Tag liegt wohl ebenso wenig im wohlverstandenen Interesse eines Kindes wie der eigene Tod im wohlverstandenen Interesse eines Fanatikers liegt, der für seine Ideale zu sterben bereit wäre – und wie sich konfligierende Interessen fair miteinander vereinbaren lassen. Diese Deutung muss also ein geteiltes Verständnis davon annehmen, was vernünftigerweise von allen Menschen gewollt werden kann. Dadurch verliert (d) den Status einer intuitiv zugänglichen Handlungshilfe: Das, was durch die Anwendung der goldenen Regel auf eine konkrete Situation erst herausgefunden werden soll (»Wie soll ich handeln?«), wird in dieser Deutung bereits als bekannt vorausgesetzt.

  Zur Kritik der Goldenen Regel in der Sekundarstufe I »Die Goldene Regel kennt buchstäblich jedes Kind, und tatsächlich scheint sie mir eine gute Anleitung für moralisches Handeln zu sein«, äußert Kolumnist Rainer Erlinger9 . Die hier vorgestellte kurze Unterrichtsequenz für die Sekundarstufe I unterstellt, ¬ dass Kinder und Jugendliche die Goldene Regel meist als moralischen Grundsatz begreifen, der im Umgang mit anderen zur Orientierung an eigenen Wünschen auffordert (1a), ¬ dass die Schwächen dieser Deutung ihnen ebenso wenig bewusst sind wie alternative Deutungsmöglichkeiten und ¬ dass sie Erlingers Aussage dementsprechend intuitiv zustimmen würden.

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Zur Geschichte der Goldenen Regel in der Aufklärung vgl. Hruschka, Joachim: »Die Goldene Regel in der Aufklärung – Die Geschichte einer Idee«, in: Sharon, Byrd, B.; Hruschka, Joachim; Joerden, Jan C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Band 12, Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 157–172. Vgl. auch Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 4, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1911, S. 430, Fußnote. Vgl. auch M6. ­A llerdings ließe sich bezweifeln, dass wirklich alle Menschen in der Lage des Strafgefangenen nicht verurteilt werden wollten. Erlinger, Rainer: Moral – Wie man richtig gut lebt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, S. 279.

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Die intuitiven Urteile der Schülerinnen und Schüler bzgl. der Goldenen Regel gilt es in einer kurzen Stundensequenz fraglich werden zu lassen, um so das Stellen eines Problems allererst zu ermöglichen: »Die Goldene Regel – Eine gute Anleitung für moralisches Handeln?« Wenn Robert Pfaller recht hat und es zur Gewinnung neuer Erkenntnisse notwendig ist, sich literarischer Formen, sprachlicher Bilder, Witzen und Vergleichen zu bedienen, da diese sich am wirksamsten »der beharrenden Kraft des scheinbar Selbstverständlichen« entgegenzustellen vermögen10 , dann bietet ein Comic von Nadja Hermann (vgl. M1) eine ausgezeichnete Grundlage für den Stundeneinstieg, denn er exemplifiziert humorvoll die Schwächen einer wörtlichen Deutung der Goldenen Regel: Zwei Figuren – nennen wir sie der Einfachheit halber Lisa und Tim11 – führen ein Gespräch, welches die Wahl der richtigen Mittel zum Gegenstand hat. Da Lisa darüber klagt, ständig ungewollt ihr soziales Umfeld zu verärgern, fühlt Tim sich zu einem Rat berufen und empfiehlt ihr, sie solle ganz einfach die Goldene Regel beherzigen. Zum Entsetzen Tims unterzieht ihn Lisa daraufhin einer MettwurstGanzkörperbehandlung, die sie sich selbst sehnlichst wünscht. Die Schülerinnen und Schüler werden anhand von Hermanns Comic (M1) auf die Schwierigkeiten aufmerksam, welche eine wörtliche Deutung der Goldenen Regel mit sich bringt. Die anschließende Suche nach einem tauglicheren Verständnis der Goldenen Regel12 erfüllt zwei Funktionen: Sie dient zum einen dazu, die erste Intuition bzgl. der Brauchbarkeit der Goldenen Regel nicht einfach fallen zu lassen (»Dann ist sie halt keine gute Anleitung zum moralischen Handeln«), sondern durch die Suche nach angemesseneren Interpretationen dessen, was die Goldene Regel gebietet, zu verteidigen (»Aber Tim wollte Lisa doch gar nicht sagen, dass sie andere gemäß ihrer eigenen Vorlieben behandeln soll. Der wollte ihr doch sagen, dass …«). Zum anderen können in der Suche nach alternativen Formulierungen Missdeutungen der Goldenen Regel besprochen werden: Sollten die Schülerinnen und Schüler beispielsweise vorschlagen, dass einfach nach den Wünschen der anderen Person gehandelt werden solle, um Lisas Probleme zu lösen, wäre dies eine Umkehrung der Goldenen Regel und würde zudem zu ähnlich unhaltbaren Ergebnissen führen wie Lisas Interpretation (etwa zu völliger Selbstaufgabe). Im Anschluss an ihre eigenen

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Pfaller, Robert: Die blitzenden Waffen: Über die Macht der Form, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, S. 34. Für den Unterrichtseinsatz bietet es sich an, die Figuren einzufärben oder anderweitig zu kennzeichnen, damit die Schülerinnen und Schüler sich im Gespräch leichter auf sie beziehen können. Tims Entsetzen über Lisas Vorliebe kann meines Erachtens zwei Ursachen haben: Entweder, Tim hat angenommen, dass alle Menschen dieselben Wünsche teilen (Deutung a); dann wird ihm durch Lisas Verhalten schlagartig vor Augen geführt, dass diese Annahme falsch ist und die Goldene Regel somit schwerlich als ein allgemeiner Grundsatz moralischen Handelns gelten kann. Oder Tim wollte Lisa den Ratschlag geben, sie solle die objektiven Interessen anderer berücksichtigen (Deutung d) und sich dementsprechend freundlich und respektvoll verhalten – dann besteht seine Erkenntnis darin, dass die Formulierung der Goldenen Regel mehrere Deutungen zulässt und er ihre Anwendung beim nächsten Mal vorsichtshalber erklären sollte.

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Versuche, die Goldene Regel zu verteidigen, erarbeiten die Schülerinnen und Schüler eine zweite Lesart (M2), welche das vernünftige (und damit tendenziell universalisierbare) Wollen, nicht das faktische Wollen eines Individuums in den Mittelpunkt stellt. Die Schülerinnen und Schüler sollen diese zweite Lesart erfassen und deren Brauchbarkeit als sittliches Prinzip anhand der Bearbeitung von Beispielen reflektieren.13 Gerade in der Besprechung der Beispiele dürfte deutlich werden, dass die zweite Lesart der Goldenen Regel die Fallstricke der ersten Lesart zwar vermeidet, aber wiederum eigene Probleme birgt: Insbesondere die Anwendung der Goldenen Regel auf das dritte Beispiel, welches Hares Fanatismus-Problem14 aufgreift, dürfte zu Diskussionen führen, denn der Fanatiker erkennt nicht, was »vernünftig zu wollen ist«. Die Goldene Regel gibt als formales Verfahren keinen Hinweis darauf, wie das »Wollen« inhaltlich zu füllen wäre, und so muss letztlich jeder Anwender (nicht nur der Fanatiker!) seine eigenen Werte und damit sein eigenes Wollen als »vernünftig« annehmen. Durch die Lektüre eines kurzen Textausschnittes von Hans Reiner (M3) und unter erneutem Rückgriff auf Hermanns Comic sollte schließlich sichtbar werden, dass zur Befolgung der Goldenen Regel erstens nicht nur moralisch-altruistische Gründe, sondern zweitens auch Gründe der Klugheit motivieren können, diese Gründe jedoch, so sie nicht geäußert werden, allenfalls in den Handlungen anderer erahnbar sind. Zudem erfolgt eine Abgrenzung vom Vergeltungsprinzip, dessen Befolgung voraussetzt, dass andere vor dem Regelbefolger handeln, damit dieser das Verhalten spiegeln kann. Den Abschluss der Sequenz bildet ein informiertes Schreibgespräch über das in der Hinführung aufgeworfene Problem: Ist die Goldene Regel eine gute Anleitung für moralisches Handeln?

  Zum Verhältnis von Goldener Regel und Kategorischem Imperativ Der Kategorische Imperativ – eine komplizierte Variante der Goldenen Regel? Kant hat sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gegen eine solche Gleichsetzung gewehrt: Die Goldene Regel tauge nicht zum allgemeinen moralischen Gesetz, denn sie könne gegenseitige Pflichten ebenso wenig begründen wie Pflichten gegen andere oder sich selbst.15 Um zu zeigen, weshalb die Goldene Regel nicht mit dem Kategorischen Imperativ (genauer: der Selbstzweckformel) identisch ist, arbeitet Kant anhand zweier kanonischer Beispiele der Frühaufklärer (vgl. M5), dem Hilfe- und dem Richter-Beispiel. Er scheint die Unlustempfindungen des Angeklag-



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Hier kann es sich lohnen, die Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass wir zwischen unserer Perspektive und der Perspektive »der anderen Menschen« (Achtung: Nicht eines anderen Menschen!) pendeln müssen. Siehe Hare, Richard M.: Freiheit und Vernunft; übers. von Meggle, Georg, stw 412, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1983, S. 180–181. Vgl. Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., S. 430, Fußnote.

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ten wegen der bevorstehenden Verurteilung nicht für verallgemeinerbar zu halten (c), sondern für kontingent. Kant will zeigen, dass die Goldene Regel ein hypothetischer, also bloß bedingter Imperativ ist, der nicht auf Sittlichkeit, sondern Glück­ seligkeit zielt und deshalb nicht zum obersten moralischen Gesetz taugt.16 Zudem prüft die Goldene Regel – mindestens in den einschlägigen Formulierungen – konkret-situative Handlungen gegenüber anderen Menschen (nicht aber gegenüber der eigenen Person). Demgegenüber ist der Kategorische Imperativ als Anfangsgrund aller Moral ein unbedingter, das heißt a priori gebietender Sollenssatz, der keine konkreten Handlungen, sondern Handlungsmaximen daraufhin prüft, ob sie universalisierbar (d. h. widerspruchsfrei denk- und wollbar) sind, und sowohl Pflichten gegen andere als auch Pflichten gegen sich selbst (etwa das Gebot, die eigenen Talente zu entfalten) einschließt. Da der oben beschriebene Unterschied zwischen Kategorischem Imperativ und Goldener Regel nicht nur von Schülern leicht übersehen wird – immerhin sind beide formale Sollenssätze –, bietet es sich an, diesen in der Sekundarstufe II zu thematisieren. Damit Kants Deutung der Goldenen Regel nachvollzogen werden kann, erarbeiten die Schülerinnen und Schülern zunächst den Begriff des Imperativs sowie den Unterschied zwischen hypothetisch und kategorisch gebietenden Imperativen (M4). Der Begriff der Maxime, welcher in der Bestimmung des Kategorischen Imperativs auftaucht, sollte von der Lehrkraft anhand weniger Beispiele verständlich gemacht werden. Dabei liegt es nahe, kurz den Unterschied zwischen Maximen, bloßen Vorsätzen (»Ich will jeden Tag 15 Minuten spazieren gehen«) und Lebensformen (»Ich will ein ethisches Leben führen«) zu erläutern.17 Auf dieser Grundlage lässt sich Kants Deutung der Goldenen Regel erarbeiten und mit der Universalisierungsformel des Kategorischen Imperativs vergleichen (M5). Kants berühmte Kritik der Goldenen Regel wird anschließend unter Einbezug einer alternativen Deutung auf ihre Plausibilität befragt (M6). Dieser Schritt wird in den mir bekannten Entwürfen18 zum Verhältnis von Goldener Regel und Kategorischem Imperativ nicht vollzogen, ermöglicht aber das Verlassen der kantischen Perspektive und beugt so dem Eindruck vor, mehr gäbe es zur Goldenen Regel nicht zu sagen.



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Daraus folgt freilich nicht, dass Kant der Goldenen Regel jegliche Bedeutung für pflichtmäßiges Handeln abspricht. Dies setzt voraus, Maximen – etwa mit Otfried Höffe – nicht als bloße Vorsätze, sondern als Lebensregeln verstanden werden. Dazu Höffe, Otfried: Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 31 (3), 1977, S. 354–384. Vgl. z. B. Düfel, Stefan: »Die Goldene Regel und ihre Grenzen. Zur Kritik eines ethischen Prinzips«, in: Praxis Philosophie und Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – eine schrecklich philosophische Comicfigur, S. 35–37; Goldbeck, Steffen; Laschet, Oliver: »Das Kernphasen-Konzept in der Unterrichtsplanung. Am Beispiel einer Sequenz zur deontologischen Ethik Kants«, in: Ethik und Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 25–33 oder Kellermann, Ralf: »Kant in der Mittelstufe!? Eine Hinführung an Idee und Funktion des Kategorischen Imperativs«, in: ebd., S. 14–19.

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Schließlich kann das gewonnene Unterscheidungswissen anhand einer kurzen Comicsequenz aus Martin Rathschecks Serie Ferkel & der Golem19 wiederholt und vertieft werden (M7). Die Rezeption des Comics bietet an dieser Stelle keine Gelegenheit, Fertigkeiten zur inhaltlich-formalen Erschließung von Comics einzuüben, und auch keine besonderen Motivationspotenziale, sondern dient lediglich als Anlass, über ein Missverständnis zu sprechen: nämlich über die Vorstellung, der Kate­gorische Imperativ arbeite einfach explizit heraus, was in der Goldenen Regel eh schon gefordert ist 20 bzw. die »wahre Bedeutung« der Goldenen Regel müsse durch Präzisierungen oder Ergänzungen nur deutlicher herausgestellt werden, dann würde die Identität mit dem Kategorischen Imperativ sichtbar. Protagonist Ferkel nimmt an, dass der Zusatz: »Jede Handlung eines jeden Menschen sollte dem Grundsatz folgen: …«, aus der Goldenen Regel den Kategorischen Imperativ werden lässt. Um zu beurteilen, ob das tatsächlich der Fall ist, müssen die Schülerinnen und Schüler zunächst herausfinden, welcher Aspekt des Kategorischen Imperativs mit Hilfe des Zusatzes ergänzt werden soll: die Universalisierbarkeit des Wollens. Allerdings gebietet der Kategorische Imperativ, nur jenen Maximen (Grundsätzen) zu folgen, welche sich verallgemeinern, d. h. widerspruchsfrei denken und wollen lassen; er ist ein Prüfverfahren für alle Maximen. Ferkels Version hingegen gebietet, dass alle Menschen nach genau einem Grundsatz – der Goldenen Regel – zu handeln hätten. Ob die Goldene Regel tatsächlich als Maxime im obigen Sinn einer Lebensregel gelten kann und das Prüfverfahren des Kategorischen Imperativs überstehen würde (an dieser Stelle sei auf die Mehrdeutigkeit des »Wollens« in der Regel sowie auf ihre Bezugnahme auf andere, nicht aber die eigene Person verwiesen), ist zudem fraglich und ließe sich im Unterrichtsgespräch diskutieren.



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Vgl. Rathschek, Martin: comic colab: »moral”, Comicstrip vom 17. August 2017, online auf: http:// www.crabcards.de/?p=3332 (Stand: 25.11.2020). Exemplarisch bei Nunner-Winkler, Gertrud: »Generalisierter oder konkreter Anderer?«, in: Belle­ baum, Alfred; Niederschlag, Heribert (Hrsg.): Was du nicht willst, daß man dir tu’ … Die Goldene Regel – Ein Weg zum Glück?, UVK, Konstanz 1999, S. 113–139, S. 115–116.

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 M 1  Nadia Hermann: Gar nicht so einfach – die Anwendung der Goldenen Regel21

Irgendwie ist das schwierig mit dem sozialen Kram. Ich weiß nie, wie ich mit Leuten umgehen soll. Ich mache immer das Falsche und verärgere Leute. Es ist ganz leicht. Halte dich einfach an den Grundsatz: Behandle andere Leute so, wie du selbst gerne behandelt werden willst und …

… was zur Hölle tust du da?!

Ich wünsche mir schon lange, zärtlich am ganzen Körper mit Mettwurst eingerieben zu werden.

erzaehlmirnix

Sozialer Kram ist schwierig.

 Arbeitsanregungen  Erklärt, wie Lisas Handeln gegenüber Tim mit Hilfe der Goldenen Regel zu rechtfertigen ist.

 Nennt Beispiele aus eurem Alltag, die verdeutlichen, wann die Orientierung an eigenen Vorlieben im Umgang mit anderen zu Problemen führen kann.

 Macht Vorschläge, wie die Goldene Regel so präzisiert werden kann, dass Probleme wie im Comic nicht mehr auftreten.



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Hermann, Nadja: Sonntag. Zeit für einen Klassiker, Comicstrip vom 25. August 2019, auf: https:// twitter.com/erzaehlmirnix/status/1165619898762039296 (Stand: 25.11.2020).

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 M 2  Julian Baggini: Wie das »Wollen« in der Goldenen Regel verstanden werden muss22 Fordert die Goldene Regel wirklich dazu auf, dem Umgang mit anderen Menschen die eigenen Vorlieben zu Grunde zu legen? Der Philosoph Julian Baggini bestreitet das. Er unterbreitet einen anderen Vorschlag.

Wir können nicht einfach vom eigenen Wollen [also unseren persönlichen Vorlieben] unmittelbar auf das der anderen schließen. Vielmehr müssen wir uns zwischen den Perspektiven hin und her bewegen, zwischen der eigenen Sichtweise und der der anderen Menschen. […] [B]etrachten wir folgendes Beispiel: Wenn ich als Wohlstandsmensch arm wäre, würde ich wollen, dass ein Reicher die Hälfte seines Reichtums an mich abgibt. So jedenfalls scheint es auf den ersten Blick zu sein. Doch die bloße Tatsache, dass ich etwas will, macht die Goldene Regel nicht zu einem moralischen [Gebot], dem alle anderen zu gehorchen haben. Dann nämlich könnte es sein, dass viele immer nur das Beste für sich selbst wollen – ob fair oder nicht. Als Armer will ich dann vielleicht alles Geld des Reichen, nicht nur die Hälfte davon. Es muss also darum gehen, herauszufinden, was zu wollen vernünftig ist. Für unser Beispiel heißt dies, dass ich mich auch aus der Perspektive des Armen fragen muss, was ich für mich […] selbst wollen würde, wenn ich reich wäre. Und vielleicht müsste ich mir dann eingestehen, dass ich nicht die Hälfte meines Reichtums mit Menschen teilen wollte, die ich nicht kenne und die sich diesen Reichtum nicht erworben haben. Indem wir also beide Perspektiven einbeziehen, führt uns das Prinzip der [Wechselseitigkeit] zu dem Ergebnis, dass es wohl angemessen ist, dem Reichen wenigstens bescheidene Opfer abzuverlangen, um die Not des Armen wesentlich zu lindern; nicht aber, dass der Reiche mit seinem persönlichen Vermögen so verfährt, als wäre es Gemeingut, das es unter allen gleichmäßig aufzuteilen gilt.

 Arbeitsanregungen  Erklärt, was Baggini meint, wenn er sagt: »Es muss darum gehen, herauszufinden, was zu wollen vernünftig ist.«  Erläutert den Unterschied zwischen dem Perspektivwechsel, den Lisa im Comic vollzieht (M1), und dem von Baggini vorgeschlagenen Perspektivwechsel.  Erläutert, inwieweit die nachfolgend geschilderten Handlungen mit Hilfe von Bagginis Deutung der Goldenen Regel gerechtfertigt werden können: ▷  Susanna hat heute keine Lust, nach Hause zu laufen. Lieber will sie mit der Straßenbahn fahren. Am Fahrkartenautomaten stellt sie fest, dass sie ihr Geld zu Hause vergessen hat. Die Straßenbahn nutzt sie dennoch.

22

Baggini, Julian: Die großen Fragen – Ethik, übers. von Schneider, Regina, Springer Spektrum, Berlin 2014, S. 10–11.

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▷  Umuts fünfjährige Schwester Elif ist krank und muss Antibiotika einnehmen. Damit dieses Medikament wirken kann, muss sie vorerst auf sämtliche Milchprodukte verzichten. Auf dem Weg vom Arzt nach Hause kommen die Geschwister an ihrem Lieblingseisstand vorbei – dort wird ausschließlich Milchspeiseeis verkauft. Elif verlangt nach einer Kugel Eis und lässt sich von ihrem Wunsch auch nicht abbringen. Umut hat selbst Lust auf ein Eis und kauft sich und Elif daraufhin eine Kugel. ▷  Hans liebt seinen Sohn Sven über alles. Zugleich ist er der festen Überzeugung, dass Homosexualität eine Krankheit ist, welche die Gesellschaft gefährdet und unter allen Umständen kuriert werden muss. Diese Vorstellung vertritt er fanatisch. Als er Sven eines Tages dabei beobachtet, wie dieser einen jungen Mann küsst, bricht er den Kontakt zu seinem Sohn ab.

 M 3   Hans Reiner: Die Goldene Regel als Gebot der Klugheit23 Im Allgemeinen gehen wir davon aus, dass die Goldene Regel eine moralische Regel ist – sie soll befolgt werden, um das Wohl unserer Mitmenschen zu sichern. Der Philosoph Hans Reiner macht darauf aufmerksam, dass die Befolgung der Goldenen Regel jedoch auch ganz andere Gründe haben kann.

Außerdem kann […] diese Regel nun auch […] verstanden werden […] als [eine] auf bloßer egoistischer Berechnung beruhende Klugheitsregel, die mahnt, beim eigenen Verhalten zu andern an eine zu erwartende Vergeltung (im Bösen oder im Guten) zu denken. Sofern die […] G. R. [Goldene Regel] diese Bedeutung hat (was, wenn überhaupt, meist nur aus dem Zusammenhang ihres Gebrauchs festzustellen ist), können wir sie als Klugheitsregel des sozialen Verhaltens bezeichnen.

 Arbeitsanregungen  Erläutert anhand von Beispielen, inwiefern die Goldene Regel als »Klugheitsregel des sozialen Verhaltens« verstanden werden kann.

 Erklärt, wie sich die Goldene Regel als Klugheitsprinzip unterscheidet von dem Ausspruch: »Wie du mir, so ich dir.«

 Seht euch den Comic von Nadja Hermann (M1) an. Benennt mögliche Beweggründe, weshalb Lisa die Goldene Regel befolgen könnte. Prüft anschließend, welche der von euch angeführten Beweggründe auf ein Verständnis der Goldenen Regel als »Klugheitsregel« hinweisen.



23

Reiner, Hans: »Die Goldene Regel und das Naturrecht: Zugleich Antwort auf die Frage: Gibt es ein Naturrecht?«, in: Studia Leibnitiana 9, 1977, Heft 2, S. 231–254, S. 241.

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 M 4  Immanuel Kant: Imperative als objektiv geltende Handlungsnormen24 (Sek II)

Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft. […] Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt [und der Wille eines göttlichen und heiligen Wesens ist völlig der Vernunft gemäß]. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjectiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objectiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objectiv als nothwendig erkannt werden, subjectiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens objectiven Gesetzen gemäß ist Nöthigung […]. Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ. Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt […]. Sie sagen, daß etwas zu thun oder zu unterlassen gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sei. Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjectiven Ursachen, sondern objectiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt. […] Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. [Kant unterscheidet noch einmal zwei Arten Hypothetischer Imperative: solche der Geschicklichkeit, die auf mögliche Absichten zielen (»Wenn ich x wollte, so müsste ich y tun), und solche der Klugheit, welche auf die wirkliche Absicht der eigenen Glückseligkeit zielen (»Wenn ich x will, muss ich y tun«)]. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte. […] Wenn nun die Handlung bloß wozu anders als Mittel gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als [sittliches] Princip desselben, so ist er kategorisch. […]



24

Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 4, a. a. O., Auszüge der Seiten 412, 413, 414 und 421.

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Der kategorische Imperativ ist […] nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime*, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde [also: für alle Menschen gilt]. * Maximen

sind die frei gewählten, subjektiven Handlungsgrundsätze eines Menschen (im Gegensatz zum Gesetz als objektivem Prinzip, nach welchem alle Menschen handeln sollten).

 Arbeitsanregungen  Der Philosoph Dieter Schönecker schreibt im Kant-Lexikon: »Ein Imperativ ist [laut Kant] eine objektiv geltende Handlungsnorm, die sich an endliche, auch sinnlich motivierte Vernunftwesen wendet.«25 Belegen Sie Schöneckers Zusammenfassung mit Hilfe des Textes M4.  Nennen Sie für die zwei verschiedenen Arten Hypothetischer Imperative je ein Beispiel.  Erklären Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einem Hypothetischen Imperativ und dem Kategorischem Imperativ.

 M 5  Immanuel Kant: Die Goldene Regel kann kein allgemeines Gesetz sein26 (Sek II)

[D]as triviale: quod tibi non vis fieri [Was du nicht angetan haben willst, tu keinem anderen] etc. […] kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u. s. w.

 Arbeitsanregungen  Erklären Sie, wie ein Verbrecher unter Berufung auf die Goldene Regel gegen seinen Richter argumentieren kann und weshalb die Goldene Regel Pflichten gegen sich selbst nicht begründet.  Erläutern Sie, aus welchen Gründen Kant der Goldenen Regel den Status des »allgemeinen Gesetzes« nicht zuerkennt. Beziehen Sie dabei Ihr Wissen zum Hypothetischen und Kategorischen Imperativ mit ein.

25



26

Schönecker, Dieter: »Imperativ«, in: Willaschek, Marcus; Stolzenberg, Jürgen; Mohr, Georg; ­Bacin, Stefano (Hrsg): Kant-Lexikon, 3 Bde., Bd. 2, Walter De Gruyter, Berlin/ Boston 2015, S. 1146– 1147. Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., 430 Fußnote.

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 M 6  Hans-Ulrich Hoche: Die verallgemeinerte Form der Goldenen Regel27 (Sek II) Der Philosoph Hans-Ulrich Hoche ist mit Kants Kritik an der Goldenen Regel nicht einverstanden. Er schlägt eine andere Deutung der Goldenen Regel vor.

Ich möchte diesen Gedanken jetzt ein wenig ausführlicher entwickeln, und zwar im Ausgang von dem Beispiel eines angetrunkenen Autofahrers, den sein Gastgeber daran hindern möchte, noch am eigenen Steuer nach Hause zu fahren. […] Wenn wir nun herausfinden wollen, wie wir uns selber als Gastgeber zu verhalten haben, wenn einer unserer autofahrenden Gäste sich gründlich hat volllaufen lassen, dann müssen wir uns gemäß der Goldenen Regel fragen, wie wir selber in einer solchen Situation behandelt zu werden wünschten. Diese Frage ist aber offenbar noch nicht eindeutig; sie lässt sich nämlich ganz unterschiedlich entfalten. In der ersten möglichen Ausarbeitung könnte die Frage lauten: »Angenommen, ich würde selber betrunken in meinen Wagen einzusteigen versuchen, um am eigenen Steuer nach Hause zu fahren: Wie möchte ich da behandelt werden? Würde ich in einer solchen Situation wirklich wollen, dass mir jemand den Schlüssel abnimmt, ein Taxi bestellt und mich solcherart zwingt, mein Auto am nächsten Tag irgendwo wieder abzuholen?« – »Ganz bestimmt nicht!«, kann hierauf die Antwort nur heißen […]. Wenn dies die richtige Frage wäre – und wenn man aus Gründen der Einfachheit einmal annimmt, dass nur der motorisierte Zecher selber und niemand von den übrigen Verkehrsteilnehmern durch meine Handlung betroffen ist –, dann müsste ich […] aus der Goldenen Regel schließen, dass es mir […] nicht einmal freistünde, einen noch so betrunkenen Menschen am Autofahren zu hindern. […] [Wir] sollten […] überlegen, ob die zweite mögliche Ausarbeitung der entscheidenden Frage nicht vielleicht doch zu einem überzeugenderen Ergebnis führt. Fragen wir also jetzt so: »Angenommen, ich würde selber betrunken in meinen Wagen zu steigen versuchen, um am eigenen Steuer nach Hause zu fahren: Wie möchte ich jetzt, da ich mir diese Frage nüchtern und klaren Kopfs stelle, dass mich andere in einer solchen hypothetischen Situation behandeln?« - Und hierauf wird man wohl ohne zu zögern antworten: »Ich kann nur hoffen, dass jemand den Mut dazu aufbringen würde, mich notfalls gewaltsam aus meinem Auto zu zerren, und wenn ich noch so herumtoben sollte!« [Hoche überträgt das Beispiel des betrunkenen Autofahrers nun auf das von Kant angeführte Richter-Beispiel:] Man [darf] die entscheidende Frage niemals so formulieren […]: »Was würdest du sagen, fühlen oder denken, oder wie hättest du es gerne, wenn du er wärest?«, son

27

Hoche, Hans-Ulrich: »Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips«, a. a. O., S. 362–364.

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dern immer nur so: »Was sagst du […] über einen hypothetischen Fall, in dem du in der Lage des Betroffenen bist?« Wenn der Angeklagte vor Gericht also sagen würde: »Sie würden doch auch nicht gern in den Knast gehen wollen, wenn Sie Autos geknackt und endlich mal Mäuse hätten!« – dann könnte ihm […] der Richter ohne weiteres [zustimmen] und sagen: »Sie haben ganz recht: In Ihrer Lage würde ich sicher dasselbe wollen, was Sie jetzt wollen, nämlich mein Geld in Freiheit unter die Leute bringen. Aber darauf kommt es doch gar nicht an. Es kommt vielmehr darauf an, wie ich jetzt in einem solchen hypothetischen Fall [mit dem Philosophen Bruno Brülisauer ließe sich ergänzen: als beliebiges Mitglied der Rechtsgemeinschaft28] behandelt zu werden wünsche, und da kann ich nur sagen: gerecht und gemäß den Gesetzen!«

 Arbeitsanregungen  Erläutern Sie, weshalb die Frage, wie wir selbst in der Situation des Autofahrers behandelt zu werden wünschten, laut Hoche nicht eindeutig ist.29  Machen Sie anhand des Richter-Beispiels den Unterschied zwischen Kants und Hoches Verständnis der Goldenen Regel deutlich.  Erörtern Sie die Plausibilität der Auslegung der Goldenen Regel nach Hoche und Kant.



28



29

Brülisauer, Bruno: »Die Goldene Regel. Analyse einer dem Kategorischen Imperativ verwandten Grundnorm«, a. a. O., S. 330–331. Um den Schwierigkeitsgrad zu senken, ließe sich mit den Schülerinnen und Schülern zunächst auf Basis ihres Sprachgefühls der Unterschied zwischen Wünschen und objektiven Interessen erarbeiten, um anschließend einzuordnen, welche der zwei »möglichen Ausarbeitungen der entscheidenden Frage« auf einen Wunsch und welche auf ein Interesse abzielt.

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 M 7  Rathschek: Wird die Goldene Regel dank einer Ergänzung zum Kategorischen Imperativ? 30

 Arbeitsanregungen  Erklären Sie, weshalb der Zeichner Martin Rathschek die Goldene Regel um den Zusatz erweitert: »Jede Handlung eines jeden Menschen sollte dem Grundsatz folgen: …«.

 Beurteilen Sie, ob die Goldene Regel dank dieser Ergänzung dem Kategorischen Imperativ entspricht.



30

Rathschek, Martin: comic colab: »moral«, Comicstrip vom 17. August 2017, a. a. O., Ausschnitt.

 3

  M ÖGLICHKEITEN FÜR DEN EINSATZ VON COMICS UND GR APHIC NOVELS IN DER SEKUNDARSTUFE II

Realität versus Illusion Über Merkmale, die zu einem gelingenden Leben beitragen – Philosophieren mit der Graphic Novel The Sandman Carsten Roeger, Martina Peters und Jörg Peters

 A

ls einen »Comic für Intellektuelle«1 bezeichnete der Pulitzerpreisträger Norman Mailer Neil Gaimans The Sandman und drückte damit seine Wertschätzung gegenüber einem der komplexesten und vielschichtigsten Werke moderner Comickunst aus. Wie recht Mailer mit seinem Statement hat und dass The Sandman durchaus einen Platz im Philosophie- bzw. Ethikunterricht beanspruchen darf, soll im Folgenden an der Geschichte Drei September und ein Januar aus der Sandman-Saga verdeutlicht werden. Zunächst wird dafür ein Blick auf die Figur des Sandman geworfen.

  The Sandman – einst und jetzt Der kultivierte Millionär und Biochemie-Experte Wesley Dodds verkörperte den ursprünglichen Sandman, der von Gardner Fox (Autor) und Bert Christman (Zeichner) erschaffen wurde. Von 1939–1953 ging ihr Held entweder in Adventure Comics oder All Star Comics von National Publications (dem Vorläufer von DC Comics) als Selbstjustiz verübender Vergelter unter dem Decknamen »The Sandman« auf Verbrecherjagd. Er kam nicht nur in einem Anzug und einem breitkrempigen Hut daher, sondern war darüber hinaus in jedem Abenteuer mit einer Spezialpistole und vielen unterschiedlichen, von ihm selbst entwickelten Betäubungsmitteln bewaffnet. Außerdem trug er eine Gasmaske, die er benötigte, um einerseits seine wahre Identität zu verbergen und andererseits die von ihm entwickelten Betäubungsmittel nicht selbst einzuatmen, mit denen er seine Gegner außer Gefecht setzte und ins Reich der Träume schickte.

1

Clark, Nick: »Comic strip for intellectuals: Gaiman announces surprise Sandman prequel«, in: Independent, Issue from 13 July 2012, auf: https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/ books/news/comic-strip-intellectuals-gaiman-announces-surprise-sandman-prequel-7941885. html (Stand: 18.01.2021).

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Gaimans Sandman hat weder etwas mit der Figuren-Vorlage aus der Ära des Golden Age of Comic Books (1938–1956) gemein noch mit der von Joe Simon und Jack Kirby kreierten Version der 1970er Jahre. 2 Obwohl die äußere Erscheinung ihres Sandman an eine Superheldenfigur erinnert, verkörpert er tatsächlich den populären Mythos des ewigen und unsterblichen Traumbringers. Er trägt immer einen Beutel mit Traumstaub bei sich, mit dem er jeden sowohl zum Schlafen als auch zum Träumen bringen kann. Seine zentrale Aufgabe besteht darin, Menschen – vor allem aber Kinder – vor gefährlichen Alpträumen, die schlimmstenfalls zum Tode führen können, zu bewahren. Aus diesem Grund kann er in ihre Träume reisen und verhindern, dass die dort waltenden Schreckgespenster Wirklichkeit werden. Der Protagonist der dritten DC Sandman-Saga ist kein Superheld, er wird in keine kriminalistischen Abenteuer verstrickt und hat auch keine Ambitionen, Kinder vor Alpträumen zu bewahren. 3 Dream, der manchmal auch Morpheus, Oneiros, Dreamweaver oder Lord Shaper heißt, erinnert mit seiner Frisur und seinem langen schwarzen Mantel mehr an einen melancholischen Leader einer Gothic-Punk-Band als an einen Superhelden. Hinzu kommt, dass es Dream schon immer gegeben hat »und es […] ihn ewig geben [wird]; er ist der mächtige Hüter der Träume«. 4 Wenn man so will, ist er »ein einsamer Sonderling, der als Herrscher über das Traumreich zwar gottgleiche Macht besitzt, sich aber ähnlich den griechischen Göttern mit sehr menschlichen Problemen herumschlagen muss. Vor allem macht ihm die Familie Ärger. Sandman taucht mal als Akteur, mal nur als sehr nachdenklicher, manchmal fast passiver Beobachter auf – ein Held, der mit sich hadert«. 5 Gaiman erzählt in seiner weit mehr als 2000 Seiten umfassenden Graphic Novel die Geschichte von Dream: Direkt zu Beginn des im englischen Original auf 75 Einzelhefte angelegten Comics 6 wird der Herr der Träume von einer okkulten Sekte gefangengenommen. Da Dream aber die Personifizierung des Träumens ist, breitet

2



3



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5



6

The Sandman war von Joe Simon und Jack Kirby ursprünglich als One Shot, als Einzelheft angelegt. Insgesamt sind dann aber doch sechs Hefte im Zeitraum von 1974–1976 erschienen. Die letzte Geschichte wurde nicht als The Sandman #7, sondern in The Best of DC #22 veröffentlicht. Damit erfüllte Neil Gaiman die von DCs Chef-Redakteurin Karen Berger vorgegebenen Kriterien. Als sie Gaiman anbot, das Projekt The Sandman wieder aufleben zu lassen, war er zunächst verwundert und suchte nach dem Haken: »I [Gaiman] said, ›Um … yes. Yes, definitely. What’s the catch?‹ [Berger said,] ›There’s only one. We’d like a new Sandman. Keep the name. But the rest is up to you.‹« »We’d like a new Sandman. Keep the name. But the rest is up to you.« (Gaiman, Neil: »The Origin of the Comic You Are Now Holding (What It Is and How It Came to Be)«, in: The Sandman #4: A Hope in Hell, DC Comics, New York, NY, 1989). Haas, Carola: »Herr der Träume«, in: Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 19. Juli 2010, auf: https:// w w w.sueddeutsche.de/kultur/comic-sandman-serie-herr-der-traeume-1.976786 (Stand: 13.02.2021). Gern, David: »Held der Träume, Held der Schäume«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 22. Juni 2010, auf: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/themen/comic-klassiker-herr-dertraeume-held-der-schaeume-1995592.html (Stand: 13.02.2021). Die 75 Heft-Ausgaben von The Sandman erschienen ursprünglich von 1988–1996 in monatlicher Abfolge bei DC bzw. dem DC Imprint Vertigo (ab Heft 47). Heute werden die Einzelhefte auf Englisch in Form von zwölf Trade Paperbacks oder als Hardcover-, Omnibus- oder annotierte Ausgabe vertrieben. Die einzige vollständige Übersetzung aller Sandman-Ausgaben in deutscher



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sich infolge seiner Gefangenschaft eine Schlafkrankheit unter den Menschen aus, was dazu führt, dass das »Reich des Träumens« zerfällt und personifizierte Albträume sowie schreckliche Traumwesen fortan Unheil in der Welt der Menschen anrichten. Erst nach siebzig Jahren kann Dream endlich der Gefangenschaft entkommen und beginnt umgehend damit, sein Reich wieder aufzubauen und den angerichteten Schaden zu beheben. Da Dream 1916 gefangengenommen wird und siebzig Jahre in Gefangenschaft verharren muss, spielt die eigentliche Handlung von The Sandman in der Gegenwart. Der erste Erzählzyklus setzt also genau mit der Publikation des ersten Heftes im Jahre 1988 ein. Obwohl die Geschichte des Sandman viele Twists and Turns als auch zahlreiche historische Rückblenden von der Antike bis zur Neuzeit und zudem viele Rückbezüge zur antiken und nordischen Mythologie aufweist, beleuchtet Gaiman stringent die Folgen, vor allem aber die Veränderungen, die sich sowohl aus Dreams Gefangenschaft als auch aus seiner Befreiung ergeben.7 Damit ist schon angedeutet, dass Dream sich mit einem ständigen Wandel, mit zahlreichen Umgestaltungen, mit jeglichen Modifikationen in seiner wie in unserer Welt auseinandersetzen muss. Dies betont auch Gaiman, wenn er sagt: »Der Herr der Träume lernt, dass man sterben muss, wenn man sich nicht ändert, und er trifft eine Entscheidung.« 8 Ein Hauptstrang der Graphic Novel ist also Veränderung.9 Dass dies der Fall ist, kann unter anderem an den unterschiedlichen Zeichenstilen belegt werden, die für jeden Story-Arc gewählt wurde. Gaiman hat nämlich mit diversen Künstlern zusammengearbeitet, die mit ihrem jeweils eigenen Stil einer über mehrere Hefte hinweg erzählten Story oder einer Sammlung von kürzeren Geschichten nicht nur eine für diese angemessene Stimmung erzeugen, sondern auch die ständigen Veränderungen dokumentieren sollten: »Diese Pflicht zur Veränderung«, notiert David Gern, »ist auf jeder einzelnen Seite spürbar, auch ästhetisch, […]. Zeichenstil, Farbgebung und das Aussehen der Protagonisten wechseln dadurch ständig. Beim Lesen entsteht deshalb eine traumartige Unschärfe.«10 Auf einen typischen Wiedererkennungswert – wie er etwa in der Welt der Superhelden-Comics üblich ist – wird in The Sandman verzichtet, so dass sich auch Dreams Äußeres mit jedem Erzählzyklus ändert. Gleich bleibt lediglich sein Gothic-Look, der

Sprache liegt bei Panini Comics in Form einer zehn-bändigen Trade Paperback- bzw. einer siebenbändigen Deluxe-Edition vor. 7 Vgl. ebd. Haas stellt heraus: »Bewundern muss man aber auch, wie überaus präzise die »Sand­ man«-Saga strukturiert ist. Die Haupthandlung, die in der Gegenwart spielt, wird durch Exkurse in die Vergangenheit ergänzt, die Bedeutung vieler Details erschließt sich nur bei wiederholter Lektüre.« 8 Gaiman, Neil: »Einleitung«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 12: Ewige Nächte, Panini Comics, Stuttgart, 2009,.S. 8–9: S. 8. 9 Weitere Themen, die in The Sandman ausgiebig behandelt werden, sind beispielsweise Einsamkeit, Macht oder Endlichkeit/Vergänglichkeit. 10 Gern, David: »Held der Träume, Held der Schäume«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 22. Juni 2010, a. a. O.

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an den Kleidungsstil und die Frisur von Robert Smith, den Sänger von The Cure, erinnert.11 Dreams Geschichte ist eine Heldenreise, die eng verzahnt ist mit Elementen aus der Phantastik und Horrorliteratur, wobei Neil Gaiman immer wieder auf historische Personen – man denke beispielsweise an Shakespeare, Mark Twain oder ­Joshua Norton – sowie mythologische Figuren und Orte, etwa Luzifer und die Hölle, die der christlichen Mythologie entliehen sind, bzw. Odin, Loki, die Nornen oder Asgard, die der nordischen Mythologie entstammen, zurückgreift. Diese kulturelle Tiefendimension mag den von Mailer attestieren intellektuellen Charakter hervorheben – für den Schulunterricht kann dies Hindernis und Chance zugleich bedeuten: Einzelne Hefte oder ganze Story-Arcs lassen sich in ihrer Tiefe nur erschließen, wenn die Leserin bzw. der Leser über Kenntnisse der klassischen Sagen verfügt. Liegen diese Kenntnisse nicht vor, so eröffnet The Sandman aber immerhin in einer schülernahen Form einen Zugang zur klassischen Literatur. Der unterrichtliche Einsatz von The Sandman eröffnet somit nicht nur für den Philosophie- bzw. Ethik-, sondern z. B. auch für den Deutsch- oder Englischunterricht neue Transfermöglichkeiten.

  Die Ewigen – Dream und seine Geschwister Spannungsreich und handlungsleitend ist Dreams Beziehung zu seinen Geschwistern Destiny, Death, Destruction, Despair, Desire und Delight/Delirium. Die sieben Geschwister werden die Ewigen genannt, weil sie mit dem Universum entstanden sind und nicht wie die Götter Anhänger oder Gläubige benötigen, um existieren zu können: »Falls dies Ihre erste Begegnung mit der Welt des Sandman ist, sollten Sie wissen, dass die Ewigen keine Götter sind. Wenn niemand mehr an einen bestimmten Gott glaubt, hört er auf zu existieren. Aber solange Menschen leben, solange sie träumen und zerstören, begehren, verzweifeln, sich freuen, öde, wahnsinnig werden, ihr Leben leben und an anderen Leben teilhaben, solange wird es die Ewigen geben, die ihre Pflicht tun. Und es kümmert sie wenig, ob die Menschen an sie glauben oder nicht.«12 Die Ewigen mögen vielleicht keine Götter sein, dafür sind sie aber Personifikationen jener Begriffe, auf die sie sich beziehen: So verkörpert »Destiny« das Schicksal, »Death« den Tod, »Dream« den Traum bzw. das Träumen, »Destruction« die Zerstörung, »Despair« die Verzweiflung, »Desire« die Begierde und »Delight/Delirium« das Verzücken/die Verwirrtheit bzw. den Wahn.13



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Curiel, Jonathan: »›The Sandman‹ Speaks: Neil Gaiman and Mike Dringenberg on the Glories of Their Graphic Novel«, in: SFWeekly, Issue from 18 April 2014, auf: https://archives.sfweekly.com/ exhibitionist/2014/04/18/the-sandman-speaks-neil-gaiman-and-mike-dringenberg-on-theglories-of-their-graphic-novel (Stand: 26.02.2021). Gaiman, Neil: »Einleitung«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 12: Ewige Nächte, a. a. O., S. 9. Vgl. Gaiman, Neil: »Das Erwachen, Drittes Kapitel: In dem wir erwachen«, in: Gaiman, Neil Sandman, 12 Bde. Bd. 10: Das Erwachen, Panini Comics, Stuttgart, 2019, S. 67–94 (Gaiman, Neil: The Sandman #70: The Wake, Chapter Three: In which we wake, DC Comics, New York, NY 1995).



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Die Ewigen können immer nur einen Aspekt von sich selbst verkörpern, aus diesem Grund kann man auch immer nur eine Seite von ihnen wahrnehmen. Solange es das Universum gibt, können sie nicht sterben, aber das, was sie aktuell verkörpern, kann durchaus vernichtet werden, wodurch etwas Neues entsteht. So wird beispielsweise aus der kindlich heiteren »Delight« die verwirrt entrückte »Delirium«. Dass die Ewigen Einfluss auf die Menschen nehmen, liegt auf der Hand: Sie scheinen Momente menschlichen Lebens zu bezeichnen, die jeder Mensch auf die ein oder andere Weise erfährt und zu denen er sich ins Verhältnis setzen muss. Auf diese Weise wird der Comic-Zyklus The Sandman zu einer Geschichte über Geschichten, in denen ein gelungenes Verhältnis zu den Ewigen zentral ist. Die persönliche Auseinandersetzung mit den Ewigen ist keine rein theoretische, vielmehr entsteht durch sie in praktischer Hinsicht eine sinnkonstituierende Narration des eigenen Lebens. So schreibt Gaiman – vielleicht auch an die Leserschaft gerichtet – über Destiny und seine Geschwister: »Du wirst eine Weile in jedem der Reiche seiner Verwandtschaft verbringen – du wirst träumen, verzweifeln, begehren, zerstören, entzückt sein, und irgendwann auch sterben –, aber du gehörst ihm [Destiny, dem Schicksal] von der ersten Seite an, und nur er wird den Sinn deiner Geschichte erkennen, irgendwann in ferner Zukunft.«14 Gaimans Destiny versteht den Sinn eines jeden Lebens erst, nachdem es gelebt worden ist. Deswegen bleibt das Zukünftige seines Lebens jedem Menschen erst einmal verschlossen. Interessanterweise kann aber auch Destiny nicht in seinem Buch, in dem alle Biographien und alle Ereignisse aufgeschrieben sind, einfach weiterblättern, um zu erfahren, was als nächstes geschieht, bevor es tatsächlich eingetreten ist. Diese Vorstellung beschreibt Søren Kierkegaard folgendermaßen: »Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den anderen Satz, daß vorwärts gelebt werden muß. Welcher Satz, je mehr er durchgedacht wird, eben damit endet, daß das Leben in der Zeitlichkeit niemals recht verständlich wird.«15

  Illusion als Lebensglück Zwar werden in Neil Gaimans The Sandman philosophische Probleme weder explizit noch ausführlich diskutiert, aber dennoch weisen zahlreiche Geschichten Inhalte oder Fragen auf, die sich für eine philosophische Beschäftigung anbieten.16 Manchmal geschieht dies über einzelne Panels, manchmal über Bildfolgen, manchmal Gaiman, Neil. »Destiny«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde., Bd. 12: Ewige Nächte, Kapitel 7, a. a. O., S. 142–151, S. 145. 15 Kierkegaard, Sören, Die Tagebücher 1834–1855, ausgewählt und übers. von Haecker, Theodor, Hegner Bücherei im Kösl Verlag, München 1953, S. 174 16 Vgl. Richards, T. Bradley: »Living in the Dreamworld«, in: Bealer, Tracey L., Luria, Rachel; Yuen, Wayne (Eds.): Neil Gaiman and Philosophy – Gods Gone Wild!, Open Court, Chicago/LaSalle, IL 2012, pp. 61–7 und vgl. Al-Tabaa, Najwa: »Hell can be good for you«; in: ebd., pp. 127–134. 14

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über eine Geschichte und manchmal über einen Erzählzyklus hinweg. Philosophisch interessante Fragen und Probleme, die dort aufgegriffen werden, lauten z. B.: Was ist eigentlich Macht?, Was ist das Wesen von Einsamkeit?, Worin besteht der metaphysische Status von Träumen?, Ist Unsterblichkeit wünschenswert?, Was ist ein gelungenes Verhältnis von Vergebung und Bestrafung? oder Was ist unter einem gelungenen Leben zu verstehen? Im Folgenden soll anhand der Geschichte Drei September und ein Januar17 (M1) exemplarisch dargestellt werden, wie sich The Sandman nutzbringend in den Philosophie- bzw. Ethikunterricht der gymnasialen Oberstufe integrieren lässt18 . Konkret soll gezeigt werden, wie man durch die Geschichte zu Epikurs Position eines gelingenden Lebens hinführt19: In der auf ein Heft angelegten Geschichte ist der gescheiterte Geschäftsmann Joshua Norton20 gänzlich dem Einfluss Despairs ausgesetzt und steht kurz davor, sich umzubringen. Despair sitzt zu Beginn nackt auf einem Bett und ritzt sich selbst oberhalb ihrer Brüste mit einem Haken, um auf diese Weise ihren Bruder Dream zu sich zu rufen. Joshua Norton wird hier nicht von einem übernatürlichen Wesen gelenkt, sondern macht sehr menschliche Erfahrungen: Er befindet sich nicht nur in einer äußerst existentiellen Krise, sondern am Rande der Verzweiflung. Seine Rettung wird er letztlich in einem Traum finden. Despair, die sich sicher ist, dass Norton mit seiner Lebenssituation nicht zurechtkommt und an ihr zugrunde gehen wird, will wissen, ob ihr Bruder Dream den erfolglosen Geschäftsmann retten kann. Die Folge ist eine Wette zwischen den Geschwistern: Dream soll Joshua mit Hilfe eines Traums erlösen und ihn somit von Despair, Desire und Delirium fernhalten. Dream schickt den bereits ein Rasiermesser in der Hand haltenden und zum letzten Schnitt ansetzenden Joshua in den Schlaf, um ihn in einem Traum zu begleiten und ihn so besser verstehen zu lernen. Norton vertraut Dream an, dass er als Unternehmer finanziell gescheitert sei und nun kein Ziel und damit keinen Traum mehr habe. Dream schenkt Norton daraufhin eine Illusion, in der diesem vorgegaukelt wird, er sei der Kaiser von Amerika. Mit dieser Illusion geht auch eine Vision einher, die darin besteht, dass Norton als Kai

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Gaiman, Neil: »Drei September und ein Januar«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 6: Fabeln & Reflexionen, Panini Comics, Stuttgart, 2013, S. 20–45 (Gaiman, Neil: The Sandman #31: Three Septembers and a January, DC Comics, New York, NY 1991). The Sandman eignet sich als Unterrichtsmaterial ausschließlich für die Oberstufe. Aber auch hier sollte wegen der Darstellung von Nacktheit, Horrorelementen und Selbstverletzung mit einem sensiblen Blick auf die Lerngruppe agiert werden. Grundsätze eines gelingenden Lebens ist ein inhaltlicher Schwerpunkt innerhalb des Inhaltsfelds 4: Werte und Normen des Handelns des Kernlehrplans Philosophie NRW für die gymnasiale Oberstufe ( vgl. Kernlehrplan Philosophie für die Gymnasiale Oberstufe, auf: www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-ii/gymnasiale-oberstufe/philosophie/philosophie-klp/ index.html (Stand: 20.01.2021). Die Faszination des Sandman ergibt sich auch daraus, dass Gaiman an verschiedenen Stellen Fiktion und Realität, modernen Comic und klassische Mythen miteinander verwebt. So verweist auch die hier dargestellte Figur auf den realen Joshua Norton, vgl. Artikel: Joshua Norton, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Joshua_Norton (Stand: 19.10.2020).



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ser für seine Untergebenen zu sorgen und da zu sein habe, also kaiserlich agieren müsse. Es fügt sich, dass er trotz seines offensichtlichen Wahns bei seinen Mitbürgern sehr beliebt ist und sogar zu einer Touristenattraktion wird. Norton ist mit dieser Illusion so glücklich, dass weder Delirium noch Despair von ihm Besitz ergreifen können, bis er schließlich an einem Herzinfarkt stirbt und freudestrahlend Death ins Reich des Todes begleitet. Drei September und ein Januar kann im Philosophie- bzw. Ethikunterricht zur Auseinandersetzung mit folgenden Fragen herangezogen werden: 1. Kann ein gutes Leben aus einer Illusion bestehen? und 2. Von welcher Haltung hängt Lebensglück eigentlich ab? Selbst wenn man die erste Frage mit Ja« beantworten würde, bleibt die Frage nach der Qualität der Illusion: Warum genau ermöglicht eine Illusion ein gutes Leben? Ob das höchste Ziel eines guten Lebens die Lust sein kann, die auf einer Illusion basiert, ist ein Problem, das Robert Nozick mit seinem Gedankenexperiment »Die Erfahrungsmaschine« (M2) problematisiert 21. In Nozicks Gedankenexperiment ist es mittels dieser Maschine möglich, eine perfekte Illusion zu erleben, die man zuvor genau konfigurieren konnte. Es ist auch nach einigen Jahren möglich, die Maschine anzuhalten und die vorgenommenen Einstellungen nachzubessern. Somit wäre ein lustvolles Leben im Sinne des positiven Hedonismus – wie er von Aristipp vertreten wird – möglich, allerdings würde es sich dabei nicht um ein reales Leben handeln. Überträgt man Nozicks Gedankenexperiment auf die Sandman-Geschichte, so lässt sich hier eine auffällige Parallele feststellen. So wie die Erfahrungsmaschine der­ jenigen bzw. demjenigen, die bzw. der sich an ihr anschließen lässt, eine nicht existierende Welt, eine Täuschung, eine Phantasie, kurz: eine Illusion projiziert, so wird auch durch Dream (der sozusagen eine Personifikation der Erfahrungsmaschine ist) in Norton ein Wunschbild erzeugt, nämlich die von ihm für wahr gehaltene Überzeugung, Kaiser von Amerika zu sein. Die Geschichte Nortons stellt somit eine Variation von Nozicks Erfahrungsmaschine dar. Während man sich z. B. gegen ein Leben in der Erfahrungsmaschine entscheiden könnte, weil die dort gemachten Erfahrungen nicht real wären, kann dies im Falle Nortons so nicht konstatiert werden. Zwar kann kritisch gesehen werden, dass ein relevanter Bestandteil von Nortons Leben – seine Identität als amerikanischer Kaiser – illusionär ist, man könnte aber auch argumentieren, dass die Erfahrungen, die er aufgrund dieser Illusion macht, real seien. Kann also eine Illusion oder eine Lebenslüge als Bestandteil für ein gelingendes Leben betrachtet werden? Von welcher Haltung hängt Lebensglück ab? Selbst wenn man nicht in einem Täuschungsszenario wie Norton lebt, muss man sich mit den existenziellen Bedrohungen, die von den Ewigen ausgehen können, auseinandersetzten: Desire schickt Norton einen Geist, den sogenannten »König der Schmerzen«, der in ihrem Auftrag versucht, Nortons Begierden zu wecken (M3). Er ver-

Nozick, Robert: »Glück«, in: Nozick, Robert.: Vom richtigen, guten und glücklichen Leben, übers. Von Pfeiffer, Martin, Carl Hanser Verlag, München 1991, S. 109–129: S. 114–117.

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spricht Norton eine adlige Braut, ein stattliches Anwesen, Macht und Geld. 22 Schließlich versucht er ihn mit dessen Illusion zu konfrontieren: »Aber Du könntest ein richtiger Kaiser werden, verdammt!« 23 Norton jedoch bezieht sich auf einen Richter, der ihn freisprach, nachdem man ihn wegen Geisteskrankheit verhaftet hatte. Der Richter sagte: »Mister Norton hat kein Blut vergossen, niemanden bestohlen, kein Land geplündert, und das ist mehr, als man von den meisten seiner gekrönten Kollegen sagen kann.« 24 Aufgrund dieser Anerkennung folgert Norton: »Ich bin der Kaiser von Amerika. Ich bin zufrieden mit dem, was ich bin. Was kann man mehr wollen?« 25 Nortons Glück ist auch deswegen robust, weil seine Illusion von seinen Mitmenschen wertgeschätzt wird. Auch wenn einige über ihn lachen, so berührt ihn das nicht. Es gelingt Norton nämlich immer wieder, sich so ins Verhältnis zur Realität zu setzten, dass seine sinnstiftende Illusion erhalten bleibt. Ist es überzeugend, dass Norton Desires Angebot ablehnt? Ist Nortons Position rational? Gaiman führt mit dieser Geschichte zu einem Problem hin, das schon der griechische Philosoph Epikur in seinem Brief an Menoikeus (M4) diskutiert. Epikur stellt Überlegungen darüber an, was der Mensch tun bzw. unterlassen sollte, um ein glückseliges Leben zu führen. Als oberstes Ziel für ein solches Leben sieht Epikur die Lust im Sinne einer Beruhigung der Seele (ataraxia), welche durch die rechte Einsicht mittels Philosophieren verwirklicht werden kann. Zu dieser rechten Einsicht gehört ein angemessenes Verhältnis zu den Göttern, zum Tod, zu den Begierden, zur Selbstgenügsamkeit, zu Zufall und zum Schicksal. 26 Insbesondere Epikurs Argumente zur Begierde und zur Selbstgenügsamkeit knüpfen nahtlos an die im Comic gemachten Ausführungen an. In seiner Analyse der Begierden legt Epikur dar, dass diese nichts zu einem glückseligen Leben beitragen würden. So teilt Epikur Begierden ein in natürliche und nichtige, die natürlichen Begierden wiederum in notwendige und bloß natürliche, die notwendigen in erstens notwendig zur Glückseligkeit, zweitens notwendig zur Ungestörtheit des Leibes und drittens notwendig zum Leben überhaupt. 27 Bezüglich der Glückseligkeit führt Epikur aus: »Eine unverwirrte Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Leibes und die Beruhigtheit [Ataraxie] der Seele; denn dies ist die Erfüllung des seligen Lebens. Um dessentwillen tun wir nämlich alles: damit wir weder Schmerz noch Verwirrung empfinden. Sobald einmal dies an uns geschickt, legt sich der Sturm der Seele. Das Lebewesen braucht sich dann nicht mehr aufzumachen nach etwas, was ihm noch

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Gaiman, Neil: »Drei September und ein Januar«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 6: Fabeln & Reflexionen, a. a. O., S. 38 (Gaiman, Neil: The Sandman #31: Three Septembers and a January, a. a. O., p. 17). Ebd., S. 39, Panel 5 (bzw. p. 18, Panel 5). Ebd., S. 39, Panel 8 (bzw. p. 18, Panel 8). Ebd., S. 39, Panel 9 (bzw. p. 18, Panel 9). Vgl. Epikur: »Brief an Menoikeus«, in: Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus – Lehrbriefe – Spruchsammlung – Fragmente, übers. und eingel. von Gigon, Olof, dtv Bibliothek, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1983, S. 100–105. Ebd., S. 102.



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fehlte, und nach etwas anderem zu suchen, durch das das Wohlbefinden von Seele und Leib erfüllt würde. Dann nämlich bedürfen wir der Lust, wenn uns die Abwesenheit der Lust schmerzt. Wenn uns aber nichts schmerzt, dann bedürfen wir der Lust nicht mehr.« 28 Sobald die Schülerinnen und Schüler Epikurs Glücksvorstellung erarbeitet haben, können sie ihre Ergebnisse auf Nortons Situation übertragen. Aufgrund der Illusion, die diesem von Dream geschenkt worden ist, gibt es für ihn keinen Grund mehr, die von Desire angebotene Befriedigung als mögliche Option in Betracht zu ziehen. Die vom König der Schmerzen angesprochenen Begierden sind weder für Nortons Gesundheit des Leibes noch für seine Beruhigtheit der Seele notwendig. Entsprechend findet Norton in Epikurs Argumentation Unterstützung für seine Zurückweisung von Desires Angebot. Er gibt sich mit seiner Situation insofern zufrieden, als er sich nach dem Wert der Selbstgenügsamkeit als Mittel zur Lust richtet, den auch Epikur für ein gelingendes Leben präferiert: »Wir halten auch die Selbstgenügsamkeit für ein großes Gut, nicht um uns in jedem Falle mit Wenigem zu begnügen, sondern damit wir, wenn wir das Viele nicht haben, mit dem Wenigen auskommen, in der echten Überzeugung, daß jene den Überfluss am süßesten genießen, die seiner am wenigsten bedürfen.«29 Dieser Wert jedoch lässt sich auch kritisch auf Norton beziehen. Norton gelingt es nur dank Dreams Hilfe, selbstgenügsam und dadurch glücklich zu leben. Ohne die Illusion wäre der gescheiterte Unternehmer in den Klauen Despairs verzweifelt und hätte sich selbst getötet. An dieser Stelle bietet sich für die Schülerinnen und Schüler abschließend die Gelegenheit, noch einmal zu reflektieren, welche Bedeutung Illusionen für ein gelingendes Leben haben: Genügt es, Illusionen über ihre guten Konsequenzen zu rechtfertigen? Oder gilt auch hier, dass Realität einen relevanten Wert darstellt und es besser wäre, ohne eine Illusion selbstgenügsam zu sein? Über eine Kreuzklassifikation von Illusion und Selbstgenügsamkeit können sie die Bedeutung für ein gelingendes Leben beurteilen und Stellung dazu nehmen: Selbstgenügsamkeit

Illusion

vorhanden

vorhanden

vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden

vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden



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Ebd., S. 102–103. Ebd., S. 103.

Wert für ein gelingendes Leben

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  Resümee Neil Gaimans The Sandman ist sowohl eine Geschichte über Geschichten als auch die Geschichte über die Ewigen, zu denen der Mensch in irgendeiner Weise immer in Beziehung steht. Aufgrund der Komplexität des Comics war es hier nur möglich, seinen philosophischen Gehalt ansatzweise darzustellen. Anhand eines Beispiels sollte verdeutlicht werden, wie sich Auszüge aus The Sandman im Philosophie- und Ethikunterricht etwa in einer Unterrichtsreihe zum gelingenden Leben einsetzen lassen. Tatsächlich schlummern in dem Comic-Epos noch viele weitere Aspekte und Themen (z. B. Was ist Vernunft? Was ist Zeit?), die sich für einen Einsatz im Philosophie- bzw. Ethikunterricht eignen. Aber diese Ausführungen müssen an anderer Stelle erfolgen.



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 M 1   Sandman: Der Kaiser von Amerika Quellenverweis zum Bild- und Arbeitsmaterial: Gaiman, Neil: »Drei September und ein Januar«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 6: Fabeln & Reflexionen, a. a. O., S. 21–25 (Gaiman, Neil: The Sandman #31: Three Septembers and a January, a. a. O. pp. 1–5).

 Arbeitsanregungen  Stellen Sie dar, welches Problem am Anfang der Geschichte Drei September und ein Januar aufgeworfen wird.

 Dream versetzt Joshua in einen Traum, der diesem helfen soll, wieder Freude an seinem Leben zu gewinnen. Sammeln Sie Beispiele dafür, inwiefern »Träume«, »Illusionen« oder vielleicht sogar »Lebenslügen« wichtig sein könnten, um (das eigene) Lebensglück zu erreichen. Nehmen Sie Stellung zu der Frage, welches Leben »besser« ist: eines mit »Träumen«, »Illusionen« und »Lebenslügen« oder eines ohne.

 Überlegen Sie, welchen »Traum« Dream Joshua Norton geben und wie sich daraufhin das Leben des Amerikaners gestalten könnte.

 M 2   Robert Nozick: Die Erfahrungsmaschine30

Wir interessieren uns für Dinge über die Frage hinaus, wie sich unser Leben von innen anfühlt. Das lässt sich durch das folgende Gedankenexperiment zeigen. Stellen Sie sich eine Maschine vor, die Ihnen jede beliebige Erfahrung (oder Folge von Erfahrungen) vermitteln könnte, die Sie sich wünschen würden. Wenn Sie an diese Erfahrungsmaschine angeschlossen sind, können Sie die Erfahrung haben, ein großes Gedicht zu schreiben oder den Weltfrieden herbeizuführen oder jemanden zu lieben und wiedergeliebt zu werden. Sie können die Empfindungsfreuden dieser Dinge erfahren, wie sie sich »von innen« anfühlen. Sie können Ihre Erfahrungen für den nächsten Tag oder die kommende Woche oder das kommende Jahr oder gar für den Rest Ihres Lebens programmieren. Wenn Ihre Phantasie verarmt ist, können Sie die Bibliothek der Vorschläge benutzen, die aus Biographien ausgezogen und von Romanciers und Psychologen ergänzt worden sind. Sie können Ihre kühnsten Träume »von innen heraus« leben. Würden Sie sich dafür entscheiden, dies für den Rest Ihres Lebens zu tun? Wenn nicht, warum nicht? (Andere Menschen haben auch dieselbe Möglichkeit zum Gebrauch dieser Maschinen, die, wie wir annehmen wollen, durch freundliche und zuverlässige Wesen von einer anderen Galaxie zur Verfügung ge-

Nozick, Robert: »Glück«, in: Nozick, Robert.: Vom richtigen, guten und glücklichen Leben, a. a. O., S. 114–115, S. 115 und S. 115–117.

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stellt werden, so dass Sie eine Anschließung nicht deshalb abzulehnen brauchen, weil Sie anderen helfen möchten.) Die Frage ist nicht, ob man die Maschine vorübergehend ausprobieren sollte, sondern ob man sich für den Rest seines Lebens hineinsetzen sollte. Wenn man sie betreten hat, wird man sich nicht daran erinnern, dass man dies getan hat; so werden keine Freuden dadurch zerstört werden, dass man sie als maschinell produziert durchschaut. Auch Ungewissheit ließe sich programmieren, indem man die fakultative Zufallsvorrichtung der Maschine benutzt (von der verschiedene vorgewählte Alternativen abhängen können). […] Man beachte, dass es sich hier um ein Gedankenexperiment handelt, das dazu entworfen ist, eine bestimmte Frage zu isolieren: Kommt es uns nur auf unsere inneren Gefühle an? […]

Wenige von uns glauben wirklich, dass es nur auf die Erfahrungen eines Menschen ankommt. Wir würden uns für unsere Kinder kein Leben mit großen Befriedigungen wünschen, das ganz auf Täuschungen beruhte, die sie nie entdecken würden; sie sind zwar stolz auf künstlerische Leistungen, aber die Kritiker und auch ihre Freunde tun nur so, als bewunderten sie ihre Arbeit, kichern aber hinter ihrem Rücken; der scheinbar treue Partner hat heimliche Liebesaffären; ihre scheinbar liebevollen Kinder verabscheuen sie in Wirklichkeit; und so fort. Wenige von uns würden ausrufen, wenn sie diese Beschreibung hören: »Was für ein wundervolles Leben! Es fühlt sich von innen so glücklich und lustvoll an.« Ein solcher Mensch lebt in einer Traumwelt, er erfreut sich an Dingen, die so nicht existieren. Was er will, ist aber nicht nur, sich an ihnen zu erfreuen; er will, dass sie so sind. Er bewertet ihr Sosein, und er erfreut sich an ihnen, weil er glaubt, dass sie so sind. Er erfreut sich nicht lediglich daran, dass er dies denkt. Uns ist an mehr gelegen als nur daran, wie sich Dinge für uns von innen anfühlen; es gibt mehr im Leben als sich glücklich fühlen. Uns liegt an dem, was tatsächlich der Fall ist. Wir wollen, dass bestimmte Situationen, die wir achten, schätzen und für wichtig halten, tatsächlich zutreffen und so sind. Wir wollen, dass unsere Annahmen, oder einige von ihnen, wahr und zutreffend sind; wir wollen, dass unsere Emotionen oder ein gewisser Teil von ihnen, der wichtig ist, auf Tatsachen beruhen, die gelten, und dass sie passend sind. Wir wollen in gewichtiger Weise mit der Wirklichkeit verbunden sein und nicht in einem Wahn leben. Wir streben danach nicht einfach, um verbürgterweise mehr Arten der Lust oder andere Erfahrungen erlangen zu können, wie es Freuds Realitätsprinzip diktiert. Wir wollen auch nicht nur das zusätzliche lustvolle Gefühl, dass wir mit der Wirklichkeit verbunden sind. Ein derartiges inneres Gefühl, ein illusorisches, kann die Erfahrungsmaschine ebenfalls bieten. Was wir wollen und schätzen, ist eine tatsächliche Verbindung zur Wirklichkeit […]; sich mit seinen Annahmen, Bewertungen und Emotionen auf die äußere Wirklichkeit auszurichten ist wertvoll an sich, nicht nur als Mittel zu mehr Lust oder Glück. Und diese Verbindung ist es, die wertvoll ist, nicht einfach der Umstand, dass



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wir in uns wahre Annahmen haben. Eine Bevorzugung der Wahrheit führt unterschwellig sowieso den Wert der Verbindung ein – weshalb sonst wären wahre Annahmen (intrinsisch) wertvoller in uns als falsche? Und wenn wir eine Verbindung mit der Wirklichkeit eingehen wollen, indem wir sie erkennen, und nicht einfach wahre Annahmen haben wollen, dann gehört, wenn Wissen ein Nachvollziehen der Tatsachen bedeutet – eine Ansicht, die ich an anderer Stelle entwickelt habe –, eine direkte und explizite Verbindung zur Außenwelt dazu. Wir wollen natürlich nicht nur Kontakte zur Wirklichkeit; wir wollen Kontakte gewisser Art: wir wollen die Wirklichkeit erkunden und antwortend auf sie eingehen, sie verändern und selbst neue Tatsachen schaffen. Man beachte, dass ich damit nicht einfach sage, dass die Erfahrungsmaschine wegen ihrer Unfähigkeit, unseren Wunsch nach Verbindung zur Wirklichkeit zu erfüllen, unzulänglich ist, – auch wenn das Beispiel nützlich ist, um zu zeigen, dass wir uns tatsächlich einige Dinge zusätzlich zu Erfahrungen wünschen –, denn das würde die »Erlangung aller Dinge, die man sich wünscht«, zum primären Maßstab machen. Ich sage vielmehr, dass die Verbindung zur Wirklichkeit wichtig ist, ob wir sie uns wünschen oder nicht – das ist der Grund, weshalb wir sie uns wünschen –, und dass die Erfahrungsmaschine unzulänglich ist, weil sie uns das nicht gibt.

 Arbeitsanregungen  Diskutieren Sie, welche Gründe dafür bzw. dagegen sprechen, sich an die Erfahrungsmaschine anschließen zu lassen. Halten Sie die Ergebnisse in einer Pro- und ContraTabelle fest und werten Sie sie aus.

 Beschreiben Sie das Leben, das Norton nach Dreams Eingreifen führen könnte.  Erläutern Sie, inwiefern Dream als Personifikation der Erfahrungsmaschine angesehen werden kann.

 Beurteilen Sie auf der Basis Ihrer bisherigen Ergebnisse, ob eine Lebensführung, wie sie durch die Erfahrungsmaschine bzw. durch Dream eingeführt wird, wünschenswert ist.

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 M 3   Der König der Schmerzen Quellenverweis zum Bild- und Arbeitsmaterial: Gaiman, Neil: »Drei September und ein Januar«, in: Gaiman, Neil: Sandman, 12 Bde. Bd. 6: Fabeln & Reflexionen, a. a. O., S. 37–39 (Gaiman, Neil: The Sandman #31: Three Septembers and a January, a. a. O., pp.17–19).

 Arbeitsanregungen  Benennen Sie die Angebote, die der König der Schmerzen Norton macht, und erläutern Sie, welche Gründe für letzteren ausschlaggebend sind, sie abzulehnen.

 Versetzen Sie sich Nortons Situation. Warum hätten Sie das Angebot des Königs der Schmerzen angenommen bzw. nicht angenommen? Schreiben Sie dazu eine Erörterung in Form eines inneren Monologs, in dem Sie zu einer begründeten Entscheidung kommen.

 M 4   Epikur: Brief an Menoikeus31

Darum nennen wir auch die Lust Anfang und Ende des seligen Lebens. Denn sie haben wir als das erste und angeborene Gut erkannt, von ihr aus beginnen wir mit allem Wählen und Meiden, und auf sie greifen wir zurück, indem wir mit der Empfindung als Maßstab jedes Gut beurteilen. Und eben weil sie das erste und angeborene Gut ist, darum wählen wir auch nicht jede Lust, sondern es kommt vor, dass wir über viele Lustempfindungen hinweggehen, wenn sich aus ihnen ein Übermaß an Lästigem ergibt. Wir ziehen auch viele Schmerzen Lust-empfindungen vor, wenn uns aus dem lange dauernden Ertragen der Schmerzen eine größere Lust begleitet. Jede Lust also, da sie eine uns angemessene Natur hat, ist ein Gut, aber nicht jede ist zu wählen; wie auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder muss natürlicherweise immer zu fliehen sein. Durch wechselseitiges Abmessen und durch die Beachtung des Zuträglichen und Abträglichen vermag man dies Alles zu beurteilen. Denn zu gewissen Zeiten gehen wir mit dem Gut um wie mit einem Übel und mit dem Übel wiederum wie mit einem Gute. Wir halten auch die Selbstgenügsamkeit für ein großes Gut, nicht um uns in jedem Falle mit Wenigem zu begnügen, sondern damit wir, wenn wir das Viele nicht haben, mit dem Wenigen auskommen, in der echten Überzeugung, dass jene den Überfluss am süßesten genießen, die seiner am wenigsten bedürfen, und dass alles Naturgemäße leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist, und dass bescheidene Suppen Epikur: »Brief an Menoikeus«, in: Epikur. Von der Überwindung der Furcht. Katechismus – Lehrbriefe – Spruchsammlung – Fragmente, a. a. O., S. 103–104 und S. 102–103.

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ebenso viel Lust erzeugen wie ein üppiges Mahl, sowie einmal aller schmerzende Mangel beseitigt ist, und dass Wasser und Brot die höchste Lust zu verschaffen vermögen, wenn einer sie aus Bedürfnis zu sich nimmt. Sich also zu gewöhnen an einfaches und nicht kostspieliges Essen verschafft nicht nur volle Gesundheit, sondern macht den Menschen auch unbeschwert gegenüber den notwendigen Verrichtungen des Lebens, bringt uns in eine zufriedenere Verfassung, wenn wir in Abständen uns einmal an eine kostbare Tafel begeben, und erzeugt Furchtlosigkeit vor den Wechselfällen des Zufalls. Wenn wir also sagen, dass die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Schlemmer und das bloße Genießen, wie einige aus Unkenntnis und weil sie mit uns nicht übereinstimmen oder weil sie uns missverstehen, meinen, sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden. Denn nicht Trinkgelage und ununterbrochenes Schwärmen und nicht Genuss von Knaben und Frauen und Fischen und allem anderen, was ein reichbesetzter Tisch bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne Überlegung, die die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele entsteht. Für all dies ist der Anfang und das größte Gut die Einsicht. Darum ist auch die Einsicht noch kostbarer als die Philosophie. Aus ihr entspringen alle übrigen Tugenden, und sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben ohne verständig, schön und gerecht zu leben, noch auch verständig, schön und gut ohne lustvoll zu leben. Denn die Tugenden sind von Natur verbunden mit dem lustvollen Leben, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar. Ferner ist zu beachten, dass die Begierden teils natürliche, teils nichtige sind. Von den natürlichen wiederum sind die einen notwendig, die anderen bloß natürlich. Von den notwendigen endlich sind die einen notwendig zur Glückseligkeit, die anderen zur Ungestörtheit des Leibes, die dritten zum Leben überhaupt. Eine unverwirrte Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Leibes und die Beruhigtheit der Seele; denn dies ist die Erfüllung des seligen Lebens. Um dessentwillen tun wir nämlich alles: damit wir weder Schmerz noch Verwirrung empfinden. Sobald einmal dies an uns geschieht, legt sich der ganze Sturm der Seele. Das Lebewesen braucht sich dann nicht mehr umzusuchen nach etwas, was ihm noch mangelte, und nach etwas anderem zu suchen, durch das das Wohlbefinden von Seele und Leib erfüllt würde. Dann nämlich bedürfen wir der Lust, wenn uns die Abwesenheit der Lust schmerzt. Wenn uns aber nichts schmerzt, dann bedürfen wir der Lust nicht mehr.

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 Arbeitsanregungen  Erklären Sie, wieso Epikur zufolge die Lust das menschliche Leben beherrscht.  Stellen Sie die Ratschläge dar, die Epikur in Bezug auf ein gelingendes Leben gibt, und erläutern Sie sie anhand von Beispielen.

 Führen Sie das folgende Gedankenexperiment in Kleingruppen durch: Stellen Sie sich vor, Robert Nozick und Epikur säßen bei dem Gespräch zwischen Joshua Norton und dem König der Schmerzen mit am Tisch, und erörtern Sie, welche Ratschläge Nozick und Epikur Norton aus welchen Gründen geben würden. Zu welchem Ergebnis käme »Ihr« Norton nach Abwägung aller vorgetragener Argumente? Diskutieren sie anschließend im Plenum die unterschiedlichen Resultate der Kleingruppen.

Aus lizenzrechtlichen Gründen kann das Bildmaterial der Comics von DC in diesem Beitrag nicht wiedergegeben werden.

V wie Vendetta Ist anarchistische Gewalt als Widerstand gegen Tyrannei ­gerechtfertigt? Jens Schäfer

 V

    wie Vendetta ist vielen Menschen nicht zuletzt durch die gleichnamige Verfilmung unter Regie von James McTeigue aus dem Jahr 2005 ein Begriff. Der Film mit Hugo Weaving, Nathalie Portman und John Hurt war ein kommerzieller Erfolg und machte V wie Vendetta auch über die Grenzen der Comic-Liebhaber hinaus bekannt. Viele Leser der Comics dürften jedoch mit dem Film die eine oder andere Enttäuschung verbinden. Wie so oft, wenn Verfilmungen von (Comic-)Literatur sich mehr oder weniger deutlich von der Vorlage unterscheiden, wird diese von Fans und Kritikern mit entsprechend kontroversen Blicken gewürdigt. So auch bei V wie Vendetta, wie Susanne Klein in ihrem Buch Terror, Terrorismus und Religion. Populäre Kinofilme nach 9/11 aufzeigt.1 Mit dem Facettenreichtum des Comics kann die Hollywoodproduktion unstrittig nicht mithalten, worüber auch das Star-Aufgebot nicht hinwegtäuscht. Dies lässt sich nicht nur auf die kreativen Änderungen der Drehbuchautoren zurückführen, sondern auch die nötigen Kürzungen und Auslassungen, welche eine Spielfilmadaption naturgemäß verlangt. Neben dem intrinsischen Wert, den die Comic-Literatur selbst mit sich bringt, soll nicht zuletzt wegen der hier aufgezeigten Diskrepanz zwischen Vorlage und Verfilmung dafür plädiert werden, nicht die in Hollywood bearbeitete Fassung zu konsumieren, sondern zum originalen Kunstwerk zu greifen, welches V wie Vendetta unzweifelhaft darstellt. Das rasante Popkornkino wird der schrittweisen Entwicklung, die der Comic in seiner Bildgewalt entfaltet, nicht gerecht. So kann der Leser die Comic-Panels in eigenem Tempo betrachten, Details und Nuancen wahrnehmen. Diese Chance hat der Kinozuschauer nicht. Er ist dem Tempo des Films ausgeliefert, so dass der präzise Blick auf die tiefgründigen kulturellen und literarischen Anspielungen unmöglich wird. Das Tempo des Aktion-Films lässt keine Spielräume zum Verharren, Genießen und selbst Entdecken. Anders sieht es bei dem Comic aus. Die im Folgenden zugrunde gelegten Beispiele werden dies verdeutlichen. Die Comic-Serie V wie Vendetta birgt eine Ernsthaftigkeit und Düsternis, auf die man sich einlassen muss, wie David Lloyd, der Zeichner von V wie Vendetta, selbst in seinem 1990 verfassten anekdotenhaften Vorwort der zu einer Graphic Novel zusammengefassten Einzelhefte betont: »[I]n V wie Vendetta gibt es nicht viele

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Klein, Susanne: Terror, Terrorismus und Religion. Populäre Kinofilme nach 9/11, Popkult, Bd. 6, Edition Treskeia, Garamond – Der Wissenschaftsverlag, Jena 2009, S. 128–170.

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forsche, fröhliche Typen, und dieses Buch ist für Leute, die die Nachrichten nicht ausschalten.« 2 Alan Moore, der Autor des Comics, wird noch deutlicher, wenn er klarstellt, dass V wie Vendetta – und dies ist mit dem zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten umso wichtiger zu bedenken – auch die Zeitumstände seiner Entstehung wiedergibt. Prophetische Voraussagen der Comic-Macher lagen z. T. vollkommen falsch, waren in dem einen oder anderen Fall jedoch beängstigend zutreffend. Die politische Unruhe Englands in den 1980er unter der Regierung Margaret Thatchers ist in Moores düsterem Blick auf Gegenwart und Zukunft im März 1988 zu spüren: »Die Polizisten der neuen Einheiten, die bei Krawallen eingesetzt werden, tragen schwarze Helmvisiere, genau wie ihre Pferde, und auf ihren Einsatzfahrzeugen sind rotierende Videokameras angebracht. [...] [Man] kann nur vermuten, gegen welche Minderheit die Legislative demnächst vorgehen wird. [...] Es ist kalt, und hier herrscht eine üble Stimmung, und mir gefällt es hier nicht mehr.« 3 Die düster-dystopische Grundstimmung, welche den Comic prägt, ist somit die unmittelbare Wirklichkeit seines Schöpfers, der seine Sicht auf die eigenen Zeitumstände nun in die Kunstform des Comics transformiert. Dabei ist von erheblicher Bedeutung, dass der Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, wie es in Moores Kommentar anklingt, als zentrales Thema von V wie Vendetta zu betrachten ist.

  Worum geht es in V wie Vendetta? Die düstere Zukunftsutopie beginnt am 5. November 1997. Die sechzehnjährige Evey Hammond möchte sich als Prostituierte verdingen, da sie in der Rüstungsfa­ brik zu wenig Geld zum Leben verdient. Ihr erster vermeintlicher Freier entpuppt sich jedoch als »Fingermann«, eine Art Polizist. Als er und seine Kollegen Evey – scheinbar rechtmäßig – willkürlich bestrafen, d. h. töten möchten, erscheint ein maskierter Mann, der es mit den »Fingermännern« aufnimmt und das Mädchen rettet. Der Mann, der sich Evey später als »V« vorstellen wird, ist dafür verantwortlich, dass an diesem Abend das Parlamentsgebäude gesprengt wird. V trägt eine Maske, die das Gesicht der historischen Person Guy Fawkes darstellt. Fawkes war einer der Attentäter, die im Jahr 1605 versuchten, mit dem Gunpowder-Plot einen Anschlag auf König Jakob I. und das englische Parlament zu verüben. Evey wird von V in sein geheimes Versteck, die sogenannte Schattengalerie, gebracht. Dieses ist gleichsam eine Lagerstätte für Kulturgüter, die V vor den Säuberungen des faschistischen Regimes gerettet hat. Der oftmals klassische Werke der Literaturgeschichte zitierende Antiheld V erscheint als Bewahrer alter moralischer Werte und materieller Kulturgüter, jedoch auch als maskierter Rächer, der vor Gewalt nicht zurückschreckt. Bereits ein Blick

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Moore, Alan; Lloyd, David: V wie Vendetta, übers. von Anton, Uwe, Panini Verlag, Nettetal-Kaldenkirchen 2009. Ebd.

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in sein Bücherregal verrät seinen geistigen Horizont. Hier finden sich neben den Werken Shakespeares unter anderem Goethes Faust, Mary Shelleys Frankenstein, Cervantes Don Quijote, Swifts Gullivers Reisen, Homers Ilias, Walter Scotts Ivanhoe, Dantes Göttliche Komödie, Dickens’ Hard Times und nicht zuletzt Thomas Pynchons V.4 Im Fortgang der Geschichte erfährt man immer wieder Details über Evey, V und den großen Krieg, der im Jahr 1988 5 als eine Eskalation des Kalten Krieges begonnen hatte. Dieser war ursächlich für die dystopische Gegenwart des Jahres 1997 im Comic. So wird schrittweise ein immer genaueres Bild der beiden Charaktere und der Welt gezeichnet, in der sie leben. Der Krieg hatte zur Folge, dass England, Europa und Afrika zerstört wurden.6 Regierungen gab es nicht mehr, weshalb sich die Menschen zunächst in kleinen Gruppen organisierten, um zu überleben. Dann, nach einiger Zeit, wurde die Macht, die quasi auf der Straße lag, von einem Zusammenschluss aus Faschisten und Kapitalisten ergriffen. Sie verloren keine Zeit, um Sozia­listen, Homosexuelle und dunkelhäutige Menschen zu verfolgen, womit eine unverhohlene Parallele zu den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes hergestellt wird. V selbst formuliert seine Ziele gegenüber Evey vor diesem Hintergrund7:

V: »Du und ich Evey. Du und ich gegen den Rest der Welt! [...] Ein Melodram. Evey! Ist es nicht seltsam, wie sich das Leben in ein Melodram verwandelt?« Evey: »Das ist sehr wichtig für dich, oder? Dieses ganze Theaterzeug?« V: »Das ist alles, Evey. Der perfekte Zugang. Die große Illusion. […] Es ist alles. […] Und ich werde das Haus zum Einsturz bringen. […] Verstehst du, sie haben vergessen, wie dramatisch das alles ist. Sie haben ihre Drehbücher aufgegeben, als die Welt im Flackern des nuklearen Rampenlichts verwelkte. […] Ich werde sie daran erinnern. An die Melodramen. An die Groschen- und Schauer-Romane. Verstehst du, Evey, die ganze Welt ist eine Bühne.«



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Ebd., Kapitel 2: Die Vorsehung (Da das Comicbuch über keine Seitennummerierung verfügt, werden zum Nachweis die jeweiligen Kapitel genannt.) Hier ist es nötig darauf hinzuweisen, dass hier die historische Gegenwart von Moore und Lloyd angesprochen wird. V wie Vendetta entstand in den Jahren 1981 bis 1988. Dass der Kalte Krieg tatsächlich ein Jahr nach der Beendigung der Comics enden würde, war für die Comicmacher ebenso unvorhersehbar, wie für ihre Zeitgenossen. Im Gegenteil, gerade die zunehmende Dynamik des Kalten Krieges in den frühen 1980er Jahren und die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in England, erklären die dystopische Perspektive des Comics. An diesem Beispiel kann man erkennen, dass auch Comic-Literatur sich in bestimmten Fällen mit den herrschenden Verhältnissen ihrer Zeit kritisch auseinandersetzt, jedoch damit auch als Produkt ihrer Zeit betrachtet werden muss. Weitere Belege hierfür sind z. B. Propaganda-Comics und Zeichentrickfilme aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder die Biographien einzelner Superhelden, deren Kampf gegen das Dritte Reich immer wieder Einzug in populäre Comicreihen gefunden hat. Der nukleare Krieg und seine Folgen werden in einer gedanklichen Rückblende Eveys in Kapitel 3: Die Verlorenen geschildert. Vgl. Kapitel 4: Vaudeville.

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  Warum V wie Vendetta im Philosophieunterricht? Fragt man sich, ob V wie Vendetta im Philosophieunterricht eingesetzt werden kann, so ist dies eindeutig zu bejahen. Dies liegt zunächst einmal in den Themen begründet, die sich in der Comic-Reihe finden. Die bereits angedeuteten historischen Bezüge der Rahmenhandlung sorgen für eine intellektuelle Vielschichtigkeit, die es zunächst zu entschlüsseln gilt. Diese sind: (1) die zeitgeschichtlichen Umstände der 1980er Jahre, (2) die offensichtliche Verarbeitung der faschistischen und nationalsozialistischen Regime in den 1930er und 1940er Jahren und (3) die Geschichte Guy Fawkes und des Gunpowder-Plots. Das Verständnis dieser historischen Bezüge – die zumindest teilweise im Schulunterricht vermittelt werden – ist eine nicht unwichtige Voraussetzung zum Verständnis der Comics. Nicht nur aus diesem Grund empfiehlt sich ein Einsatz des Comics in der Sekundarstufe II. Auch das hohe sprachliche Niveau, die komplexe Handlung und die düstere Atmosphäre sprechen dafür. V wie Vendetta bietet reichhaltige Anknüpfungsmöglichkeiten für den Ethik- und Philosophieunterricht. Diese sind vor allem in den Bereichen der politischen Philosophie und Ethik zu suchen. Widerstandsrecht, Tyrannenmord, Gewalt als Mittel des politischen Handelns und Herrschaftstheorien wie Faschismus, Totalitarismus oder Anarchismus stechen dabei klar hervor. Aber auch ethische relevante Themen wie Rache und Folter lassen sich anhand einzelner Kapitel erarbeiten. Als Beispiel für die zuletzt genannten Themen sei insbesondere Kapitel 4: »Vaude­ ville« angeführt. Bereits der Titel »Vaudeville« ist erklärungsbedürftig. Das Wort ist mehrdeutig und kann sowohl eine aus dem 15. Jahrhundert stammende frühe Form französischer Schlagermusik, ein Pariser Theatergenre der 1840er Jahre oder ein von diesem zu unterscheidendes, im späten 19. und frühen 20 Jahrhundert in den USA verbreitetes revueartiges Theatergenre bezeichnen. Die Benennung des Kapitels erscheint sodann auch konstitutiv für seinen Inhalt: Nachdem V im vorangegangenen Kapitel den Radiosprecher Mr. Prothero alias »Die Stimme der Vorsehung« 8 entführ hat 9 , wacht dieser in Kapitel 4 in eine Uniform gekleidet in der Kulisse des »Larkhill Resettlement Camps« auf. Prothero stellt V zur Rede, warum er ihn entführt habe. V weist Prothero auf das Unrecht hin, welches sich in den Umerziehungslagern abgespielt habe, die vom Regime errichtet worden waren. Eine scheinbare freudsche Fehlleistung, die als sichtliche Provokation Protheros gelesen werden kann, begeht V, wenn er zunächst den Begriff »Konzentrations­ lager« verwendet und sich dann selbst mit »Umerziehungslager« verbessert. Auch Prothero geschieht diese Fehlleistung, als er seine Beteiligung an diesen Lagern leugnet. V wird daraufhin konkret und erinnert ihn an dessen Zeit als Lagerauf­seher und den Sadismus, welchen er dabei an den Tag gelegt hatte. V selbst gibt sich als ehemaliger Lagergefangener Nr. 5 (was seinen Namen V erklärt) zu erkennen,



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Diese Radioübertragungen sind das wichtigste Propagandainstrument des faschistischen Regimes. Vgl. Kapitel 3: Die Verlorenen.

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der besonders von Prothero gequält wurde.10 V hat Protheros Puppensammlung in Häftlingsuniformen gekleidet. Prothero will seine Puppen retten, doch sie werden von V in einem Ofen verbrannt, der eine offensichtliche Anspielung auf die Krematorien in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern darstellt. Entlarvend und besonders diskussionswürdig ist Vs Kommentar, als er die Puppen verbrennt: »Eine bewundernswerte Besorgnis, Commander. Doch sie dünkt mich seltsam. Wieso zeigen Sie soviel Besorgnis um Porzellan und Plastik […] und so wenig um Fleisch und Blut?«11 Besonders eindringlich wir hier gezeigt, wie faschistische Systeme ihre Opfer entmenschlichen und oftmals sogar in ihrem Wert unter materielle Besitztümer degradieren. Hier sieht man, dass V wie Vendetta gespickt ist mit einer Vielzahl von literarischen und kulturellen Anspielungen, die von jüngeren Schülerinnen und Schülern noch nicht unbedingt verstanden werden. Auch ältere Schülerinnen und Schüler werden bestenfalls einige der Anspielungen verstehen, wenn nicht historische Umstände, literarische Bezüge, Begriffe usw. durch die Lehrenden erläutert werden. Bereits das erste Kapitel gewährt – wie erwähnt – einen Blick in Vs Bücherregal, welches ein interessantes Spektrum der abendländischen Literaturgeschichte offenbart. Annalise Di Liddo kommentiert: »Apart from Shakespeare, V. overflows with other quotations, also in visual form; an example is the protagonist’s hiding place, which is crammed with books, playbill posters, and records – all of which have been strictly forbidden by the regime. Its shelves are crowded with books by ever-present Shakespeare, Thomas More’s Utopia, Karl Marx’s Capital, Thomas Pynchon’s V; then the Odyssey, the Divine Comedy, Gulliver’s Travels, Don Quixote and Dickens’s Hard Times. Much in the same way, the walls are covered in posters from motives such as The Son of Frankenstein, Murder in the Rue Morgue featuring Bela Lugosi, and White Heat featuring James Cagney, which can be seen as alluding to V’s vicissitudes as they include monsters and outsiders, gangsters and murderers.«12 Eine weitere nicht zu unterschätzenden Referenz, die von Di Liddo jedoch nicht genannt wird, ist bereits auf der ersten Seite des Comics zu finden. Im Bücherregal steht neben Marx’ Kapital und Morus’ Utopia auch Hitlers Mein Kampf. Lange bevor Vs Aufenthalt im englischen Umerziehungslager thematisiert wird, erhält der aufmerksame Leser den Hinweis, dass V ein fundiertes Wissen über faschistische und nationalsozialistische Ideen und ihre Auswirkungen hat. Geht man davon aus, dass V die Bücher, die sich in seinem Besitz befinden, gelesen hat – hierfür sprechen nicht zuletzt die oft vorkommenden Zitate bekannter Werke –, dann erscheint V keinesfalls nur als ein Terrorist, der Unheil stiften möchte. Er ist eben nicht nur ein Opfer, welches sich für das ihm angetane Leid rächen möchte. Sein Widerstand gegen das herrschende

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Hier wird eine Analogie zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gezogen, in denen die Gefangenen ihrer Namen beraubt und stattdessen nur noch als Nummer angesehen wurden. Den Gefangenen der Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz und Birkenau wurden die Nummern auf die Arme tätowiert. Vgl. Kapitel 4: Vaudeville. Di Liddo, Annalisa: Alan Moore. Comics as Performance, Fiction as Scalpel, University Press of Mississippi, Jackson, MS 2009, S. 39–40.

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Regime ist auch das Ergebnis einer theoretischen Auseinandersetzung mit Tyrannei und Diktatur im Allgemeinen und der Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus im Besonderen. Vor diesem Hintergrund lassen sich durch V wie Vendetta verschiedene Fragen aufwerfen, die z. B. in Unterrichtsvorhaben zum Widerstandsrecht bzw. zu einer eventuellen Widerstandspflicht der Menschen gegen einen Staat oder zur Rolle des Menschen in der Gemeinschaft betrachtet werden können. Folgende Fragen können mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden: ¬ Lässt sich Widerstand gegen den Staat in bestimmten Fällen rechtfertigen oder ist er sogar moralisch geboten? ¬ Kann man Zerstörungen von Gebäuden und Gewalt gegen Menschen unter bestimmten Umständen gutheißen? ¬ Ist Tyrannenmord moralisch legitimierbar? ¬ Welche Rolle darf persönliche Rache als Handlungsmotivation spielen? ¬ Was ist Anarchismus? Besonders eindrucksvoll lassen sich die hier gestellten Fragen anhand von Kapitel 5: »Versionen« besprechen.

 Anwendungsbeispiel: Faschismus und Anarchismus als konträre Versionen Im fünften Kapitel (M1) sind zwei Versionen gegenübergestellt. Die erste Version ist die von Adam Susan, dem »Führer« der Nation. Seine Version ist der Faschismus. Er ist von dem Drang geprägt, um jeden Preis zu überleben, auch wenn dies die Aufgabe von Freiheit bedeutet. Die Fasces13 , d. h. die Rutenbündel der Faschisten, sind für ihn das ideale Symbol, da sie die Kraft der Gemeinschaft verkörpern. So stellt er fest: »Einen Zweig kann man brechen, ein Bündel nicht so leicht. Faschismus ... Stärke durch Einheit.« Diese Einheit verlangt wiederum die »Uniformität der Gedanken, Worte und Taten« und eine Absage an das »Gerede von Freiheit [und] [...] der Selbstbestimmung des Einzelnen«14 . Die einzig verbliebene Freiheit sieht Adam Susan in der Freiheit, zu sterben und in einer Welt des Chaos zu leben. Allerdings will er auch diese Freiheit dem Volk nicht zugestehen.15 Bemerkenswert ist die Lobrede des »Führers« auf seine »Geliebte«, die »Vorsehung«. Er charakterisiert und vergöttlicht diese als rein, unbefleckt und frei von Sehnsucht und Gefühlen.

Fasces waren im antiken Rom bereits ein Symbol für Leben und Tod. Die Rutenbündel selbst waren ein Symbol für das Leben, während die Axt, die von den Ruten umgeben ist, für den Tod steht. 14 Vgl. Kapitel 5: Versionen. 15 Vgl. ebd. 13

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Die zweite Version ist die von V: Er verdeutlicht diese in einem Monolog bzw. fingierten Dialog zwischen ihm und der Justitia-Statue auf Old Bailey, dem Gebäude des zentralen Strafgerichtshofs in London. V bekennt sich zu seiner Version. Seine Ausführungen zur »Gerechtigkeit« scheinen zunächst Gemeinsamkeiten mit der »Vorsehung« des »Führers« aufzuweisen. Er richtet freundliche Worte an die von ihm bislang nur aus der Ferne bewunderte Justitia. Seine Bewunderung wandelt sich jedoch schnell in einen wechselseitigen Vorwurf der Untreue. V setzt sich dem Vorwurf Justitias aus: »Schande über Euch! Ihr habt mich mit einer Dirne betrogen. Einer eitlen, schmollenden Hure mit bemalten Lippen und einem wissenden Lächeln.« Doch V lässt sich diesen Vorwurf nicht gefallen, da ihn Justitia zuerst betrogen habe: »Ich bitte Euch! Es war Eure Treulosigkeit, die mich in ihre Arme getrieben hat.« Und mit Anspielung auf die Faschisten: »Ehrlich gesagt war ich nicht überrascht, als ich es herausfand. Ihr hattet schon immer ein Auge auf Männer in Uniformen geworfen.« Und im Besonderen auf Adam Susan bezogen: »Streitet Ihr ab, dass Ihr Euch mit ihm eingelassen habt, mit ihm, mit seinen Armbinden und Kanonenstiefeln?« So zieht V Konsequenzen: »Ihr seid nicht mehr meine Gerechtigkeit. Nun seid Ihr seine Gerechtigkeit.« In der Folge bekennt sich V nun zu seiner »neuen Geliebten«: »Sie heißt Anarchie und als Geliebte hat sie mich mehr gelehrt, als Ihr je konntet. […] Sie hat mich gelehrt, dass Gerechtigkeit ohne Freiheit bedeutungslos ist. Sie ist ehrlich. Sie macht keine Versprechungen und bricht sie wieder, wie Ihr es tut.« Daraufhin verabschiedet sich V von der Gerechtigkeit durch ein »Abschiedsgeschenk« in Form einer Bombe. Mit ihr sprengt er, wie bereits zuvor das Parlamentsgebäude, nun auch noch das altehrwürdige Gerichtsgebäude.

Welche Möglichkeiten bieten sich bei der Erschließung   dieses Kapitels im Philosophieunterricht? Zunächst erscheint eine Rekonstruktion der Inhalte beider Versionen sinnvoll. Leitfragen und Aufgaben, welche die Schülerinnen und Schüler auf bestimmt Aspekte hinweisen, liegen der Erarbeitung der Inhalte zugrunde:

 Welche Gemeinsamkeiten weisen die Versionen von Adam Susan und V auf?  Worin unterscheiden sich beide Versionen? Besondere Aufmerksamkeit verdienen die zentralen Begriffe:

 Erläutern Sie auf Grundlage des Comics die zentralen Begriffe »Vorsehung«, »Gerechtigkeit« und »Anarchie«!

 Überprüfen Sie die vorläufigen Begriffsbestimmungen anhand von Definitionen aus verschiedenen (Philosophie-)Lexika! Auch die ästhetische Gestaltung des Comics verdient einen genaueren Blick:

 Erarbeiten Sie die unterschiedliche Darstellung beider Versionen, indem sie im Besonderen die Charakteristika (a) der Szenerie und (b) der imaginierten »Geliebten« Vorsehung, Gerechtigkeit (bzw. Justitia mit ihren Symbolen) und Anarchie erläutern!

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Die Version Vs bietet zwei Anknüpfungspunkte, die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen. Zunächst wird der Versuch einer Begriffsbestimmung unternommen, was Anarchie ist. Daran knüpft sich die Frage nach der Legitimation des Einsatzes von Gewalt gegen einen tyrannischen oder totalitären Staat an. Eine Auseinandersetzung mit dem, was Anarchismus ist, erscheint zunächst nicht einfach. Es gibt nämlich nicht »die« anarchistische Theorie, sondern eine Vielzahl von Theorien, welche sich zum Teil erheblich unterscheiden und bei denen sich zentrale Aspekte sogar ausschließen. Unterscheiden lassen sich beispielsweise kommunistisch-anarchistische, syndikalistische, libertäre und individualanarchistische Theorien. Deshalb empfiehlt sich zunächst eine etymologische Annäherung, der zufolge Anarchie in einfacher Übersetzung den Zustand der »Herrschaftslosigkeit« bezeichnet.16 Ein bedeutender Teil der anarchistischen Literatur ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Aufgrund von meist vorhandenen historischen Bezügen, sprachlicher Komplexität und einer – für ungeübte Leser – oft eigentümlichen Diktion der Texte ist von »klassischen« Theoretikern wie Proudhon, Bakunin, Stirner, Kropotkin usw. als erster Zugang zum Thema Anarchismus eher abzuraten. Ihre Theorien könnten jedoch thematisiert werden, wenn ein grundlegendes Verständnis für das Thema geschaffen wurde. Für eine erste Auseinandersetzung mit dem Anarchismus bietet sich der Aufsatz des einflussreichen Historikers und bedeutenden britischen Intellektuellen Eric J. Hobsbawm17 (1917–2012) mit dem Titel »Was kann man noch vom Anarchismus lernen?« an (M2). Hobsbawms Text stellt deutlich die Schwächen heraus, die Vs Handeln aufweist. Der sprunghaft erscheinende Aktionismus und der überbordende Idealismus, der sich in Vs Version offenbart, tritt hierbei deutlich zu Tage. Hobsbawms differenzierte Analyse des Anarchismus kann in ihren Überlegungen auch heute noch Gültigkeit beanspruchen, weshalb sie sich hervorragend eignet, um Vs Handeln zu beurteilen. Dies könnte auf der Grundlage der folgenden drei Arbeitsschritte geschehen: 1. Erarbeitung des Argumentationsganges Hobsbawms unter besonderer Berücksichtigung der Schwächen anarchistischer Bewegungen. 2. Identifikation der von Hobsbawm genannten Charakteristika anarchistischen Handelns in Vs Argumenten und Taten. 3. Klärung, welche Aspekte des Anarchismus – wenn möglich – auch heute noch als positiv gelten könnten, wobei auch Vs Motive in den Blick genommen werden.

Zur vertiefenden Lektüre sei auf folgenden Aufsatz verwiesen: Landauer, Gustav: »Zur Geschichte des Wortes ‚Anarchie’«, in: Landauer, Gustav: Ausgewählte Schriften, 15 Bde., Band 2: Anarchismus, hrsg., kommentiert, mit einer Einleitung sowie einem Register versehen von Wolf, Siegbert, illustr. von Rauch, Uwe, Verlag Edition AV, Bodenburg 2009, S. 68–82. 17 Über das vorrangige sachlogische Argument zum Einsatz von Hobsbawms Text hinaus, spricht auch die Tatsache, dass hier nicht nur eine etwa zeitgenössische Perspektive beisteuert wird, sondern es sich zugleich um eine Perspektive eines Briten handelt, wie es auch die Perspektive der beiden Comic-Künstler Moore und Lloyd ist. 16

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Das zweite große Thema, welches anhand des fünften Kapitels von V wie Vendetta thematisiert werden kann, ist die Legitimität von Gewalt als Maßnahme gegen einen tyrannischen oder totalitären Staat. Freilich böte es sich hier an, auf die Theorie des zivilen Ungehorsams nach Henry David Thoreau einzugehen. Dies wird jedoch aus zwei Gründen unterlassen. Einerseits finden sich einschlägige Passagen von Thoreaus Essay Civil Disobedience bereits in einschlägigen Unterrichtswerken18 und sind damit leicht erreichbar.19 Andererseits soll hier gerade die von V offensichtlich präferierte Option eines gewaltsamen Widerstands in den Blick genommen werden, nämlich die Rechtfertigung eines Tyrannenmords. Hierzu soll einer der bekanntesten deutschen Anarchisten zu Wort kommen: Johann Most (1846–1906), Autor eines Buches über Revolutionäre Kriegswissenschaften, einer Anleitung zur Herstellung von Sprengstoffen und zahlreicher Veröffentlichungen über Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus. Er lobt in seinem Aufsatz »Es lebe der Tyrannenmord!« (1881) die Ermordung des russischen Zaren Alexander II. vom 13. März 1881. Seiner Meinung nach müssten auf diesen Tyrannenmord noch viele weitere folgen, weil nur so Regime abgeschafft werden und Menschen frei leben könnten. Es sei »sicher eine Genugtuung für jeden gerecht denkenden Menschen, wenn so ein Kapitalverbrecher20 abgetan, d. h. entsprechend seinen Untaten gezüchtigt wird«. Anknüpfend an Mosts Lob des Tyrannenmords (M3) ließe sich die moralische Rechtfertigung diskutieren, auf der eine solche Tat beruhen könnte.

Fazit   Moores und Lloyds V wie Vendetta darf zurecht als eines der Meisterwerke der Comic-Kultur angesehen werden. Es ist vielschichtig und voll mit Anspielungen auf Literatur, Kunst und Theater. Diese Anspielungen zu verstehen setzt bei den Lesern bereits einen gewissen Bildungsstand voraus. Nicht zuletzt das hohe Niveau der zu entschlüsselnden Anspielungen machen das Buch zu einer lohnenden Lektüre, welche sich deutlich von einer oft infantil anmutenden Massenware in dieser Kunstform absetzt. Die Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl von Themen der politischen Philosophie und Ethik liegen dabei offen zu Tage, weshalb V wie Vendetta in Auszügen mit großem Gewinn im Philosophie- oder Ethikunterricht eingesetzt werden kann.



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Vgl. etwa Peters, Jörg Peters; Rolf, Bernd (Hrsg.): Philo Einführungsphase, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2014, S. 112. An dieser Stelle sei angemerkt, dass, so eindringlich Thoreaus Eintreten für einen zivilen Ungehorsam war und er selbst wohl nie zu gewalttätigen Mitteln griff, er durchaus dazu bereit war, für gewalttätig agierende Freunde Partei zu ergreifen und deren Handeln zu verteidigen. Gemeint ist Zar Alexander.

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 M 1   V wie Vendetta – Kapitel 5: Versionen21 Quellenverweis zum Bild- und Arbeitsmaterial: Moore, Alan; Lloyd, David: V wie Vendetta, übers. von Anton, Uwe, Panini Verlag, Nettetal-Kaldenkirchen 2009, Kapitel 5: Versionen, S.

 M 2   Eric J. Hobsbawm: Was kann man noch vom Anarchismus lernen?22 Der britische Historiker Eric J. Hobsbawm (1917–2012) zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Obwohl er für seine Orientierung am Marxismus kritisiert wurde, fanden seine Theorien eine breite Anerkennung, so dass einige seiner Ideen heute als Konsens in der Geschichtswissenschaft angesehen werden. In Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung des Jahres 1968 befasste er sich mit der Frage nach der Aktualität des Anarchismus:

Kurz gesagt: Die Hauptanziehung des Anarchismus war emotionaler und nicht intellektueller Art. Diese Anziehung ist nicht gering zu schätzen. Jeder, der sich einmal mit der echten anarchistischen Bewegung befasst oder irgendetwas mit ihr zu tun hatte, war tief bewegt durch den so oft von ihr erzeugten Idealismus, den Heldenmut oder die Opferbereitschaft [...]. Gerade der Extremismus der anarchistischen Ablehnung von Staat und Organisation, ihre unbedingte Entschlossenheit, den Sturz der gegenwärtigen Gesellschaft herbeizuführen, musste Bewunderung erregen – außer vielleicht bei jenen, die an der Seite der Anarchisten politisch aktiv sein mussten und es nahezu unmöglich fanden, mit ihnen zu arbeiten. [...] Die Wirkungslosigkeit anarchistischer revolutionärer Handlungen konnte ausführlich belegt werden, und zwar für alle Länder, in denen diese Ideologie eine wichtige Rolle in der Politik gespielt hat. [...] Ebenso wie vor 1914 scheint der Anarchismus auch heute wieder eine passende Antwort bereitzuhalten. Gerade die Primitivität seiner Theorie erwies sich als Gewinn. Die Revolution würde kommen, weil die Revolutionäre sie mit solcher Leidenschaft ersehnten und fortwährend aufrührerische Handlungen beginnen, von denen eine sich früher oder später als der Funke erweisen würde, der die Welt in Brand setzt. [...] Die Stärke des anarchistischen Glaubens lag in der Tatsache, dass es keine andere Alternative zu geben schien, als die Hoffnung auf die Revolution fahrenzulassen. [...] Es lohnt sich [...], erneut die Frage zu stellen: welchen Wert hat die anarchistische Tradition heute?

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Moore, Alan; Lloyd, David: V wie Vendetta, a. a. O., Kapitel 5: Versionen. Hobsbawm, Eric J.: »Was kann man noch vom Anarchismus lernen?«, in: Hobsbawm, Eric J.: Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert, übers. von Rütters, Irmela; Wirtz, Rainer, der Aufsatz »Was kann man noch vom Anarchismus lernen?« wurde übers. von Weller, Hilde, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1977, S. 121–133: S. 122– 123, S. 124, S. 126–127, S. 128–129, S. 130 und S. 131–132.



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Hinsichtlich Ideologie, Theorie und Programm ist dieser Wert geringfügig. Anarchismus ist eine Kritik der Gefahren von Autoritarismus und Bürokratie in Staaten, Parteien und politischen Bewegungen, aber dies ist in erster Linie ein Anzeichen dafür, dass diese Gefahren weiterhin erkannt werden. Wenn alle Anarchisten vom Erdboden verschwunden wären, würde die Diskussion über diese Probleme nicht viel anders weitergehen als bisher. Der Anarchismus legt auch eine Lösung in Gestalt einer unmittelbaren Demokratie und kleiner, sich selbst regierender Gruppen nahe, aber ich glaube nicht, dass seine Vorschläge für die Zukunft bisher sehr wertvoll oder wirklich durchdacht waren. [...] Um genauer zu sein: Wenn Anarchisten einen wichtigen Beitrag zu leisten wünschen, werden sie weit ernsthafter nachdenken müssen, als viele von ihnen es in neueren Zeiten getan haben. [...] [D]ie meisten großen Revolutionen, die stattgefunden haben und erfolgreich waren, begannen eher wie »Happenings« und nicht wie geplante Veranstaltungen. Manchmal haben sie sich rasch und unerwartet aus dem entwickelt, was wie eine gewöhnliche Massendemonstration aussah, manchmal aus dem Widerstand gegen Aktionen ihrer Feinde, manchmal auf andere Art – aber selten, wenn jemals, nehmen sie die Gewalt an, die von organisierten revolutionären Bewegungen erwartet worden war, selbst wenn diese den bevorstehenden Ausbruch der Revolution vorhergesagt hatten. [...] Der Anarchismus kann uns manche wertvolle Lehre erteilen, weil er – in der Praxis stärker als in der Theorie – ein ungewöhnliches Feingefühl für die spontanen Elemente von Massenbewegungen hatte. [...] Gerade die organisatorische Schwäche anarchistischer und anarchisierender Bewegungen hat sie gezwungen, die Methoden zu erforschen, mit denen die spontane Übereinstimmung von militanten Kämpfern und den Massen, die zur Aktion führt, entdeckt und sichergestellt werden kann. [...] Das sind die Lehren, die nicht so sehr durch die wirklichen Anarchisten von heute vermittelt werden, deren Praxis selten eindrucksvoll ist, als durch das Studium historischer Erfahrungen anarchistischer Bewegungen.

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 M 3   Johann Most: Es lebe der Tyrannenmord (1881)23 Der deutsche Agitator und anarchistische Schriftsteller Johann Most (1846–1906) lobt die Ermordung des russischen Zaren Alexander II. als Tyrannenmord:

Freilich wird es wieder einmal passieren, dass da und dort sogar Sozialisten auftauchen, die, ohne dass sie jemand befragt, versichern, sie für ihren Teil verabscheuten schon deshalb den Königsmord, weil ein solcher ja doch nichts nütze und weil sie nicht Personen, sondern Einrichtungen bekämpften. Diese Sophistik ist so plump, dass sie mit einem solchen Satz zu Schanden gemacht werden kann. Es liegt nämlich selbst für einen politischen ABC-Schützen auf der Hand, dass Staats- und Gesellschaftseinrichtungen nicht eher beseitigt werden können, als bis man die Personen besiegt hat, welche dieselben aufrechterhalten wollen. Mit bloßer Philosophie verjagt man nicht einmal einen Spatzen vom Kirschbaum, so wenig wie die Bienen ihre Drohnen durch einfaches Summen loswerden. […] Was man allenfalls beklagen könnte, das ist nur die Seltenheit des sogenannten Tyrannenmordes. Würde nur alle paar Monate ein einziger Kronenschuft abgetan: In kurzer Zeit sollte es keinem mehr behagen, noch fernerhin einen Monarchen zu spielen. Ferner ist es sicher eine Genugtuung für jeden gerecht denkenden Menschen, wenn so ein Kapitalverbrecher abgetan, d. h. entsprechend seiner Untaten gezüchtigt wird. [...] Möge die kühne Tat, die […] unsere volle Sympathie hat, die Revolutionäre weit und breit mit neuem Mut beseelen. Gedenke jeder der Worte Herweghs24: Und wo es noch Tyrannen gibt, Die lasst uns keck erfassen; Wir haben lange genug geliebt, Und wollen endlich hassen!

Aus lizenzrechtlichen Gründen kann das Bildmaterial der Comics von DC in diesem Beitrag nicht wiedergegeben werden.



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Most, Johann: »Es lebe der Tyrannenmord! (1881)«, in: Wemheuer, Felix (Hrsg.): Linke und Gewalt. Pazifismus, Tyrannenmord, Befreiungskampf, Linke Klassiker Edition, Promedia Verlag, Wien, S. 68– 72, S. 70–71. Georg Herwegh (1817–1875) gehört mit seinen aktivierenden Gedichten zu den Wegbereitern der Revolution von 1848.

Kendalls Gewissen – ein Anwendungsfall der Ethik Kants? Michael Segets   Vorüberlegungen Mit dem Phänomen des Gewissens hat wohl jeder Mensch – so auch Schülerinnen und Schüler – bereits Erfahrungen gesammelt. Kants Ausführungen zum Gewissen eröffnen über das anschauliche Bild des inneren Gerichtshofes eine Zugänglichkeit zu diesem philosophisch umstrittenen Begriff. Um die Vorstellungen vom Gewissen, die Kant an verschiedenen Stellen seines Werks entwickelt, angemessen nachvollziehen und einordnen zu können, sind grundlegende Kenntnisse zur Konzeption der kantischen Ethik erforderlich, die – ergänzend zu den im Rahmen des Unterrichtsvorhabens vorgesehenen Texten – vorausgesetzt werden. Der vorliegende Unterrichtsvorschlag bietet sich daher für eine Transferphase an, die sich an eine vorherige Behandlung der Ethik Kants anschließt. Er kann als Überleitung zu konsequentialistischen beziehungsweise utilitaristischen Ethikansätzen oder als Anstoß zum systematischen Vergleich von deontologischen und konsequentialistischen Ethiken eingesetzt werden. Die Frage nach dem Gewissen wird mit dem Comic Zwei Brüder von Arturo del Castillo in einen Anwendungsbezug gesetzt und an diesem konkretisiert. Wie ­McGinn ausführt, fördern Geschichten eine andere Art der ethischen Auseinandersetzung als Theorien.1 Gerade fiktive Erzählungen bieten die Möglichkeit, Transparenz über die Innensicht von Charakteren herzustellen. Durch die künstlerisch gestalteten und dramatischen Handlungen fällt es den Rezipienten leichter, die ethischen Dimensionen der Geschichten zu erfassen. Dieser motivationale Vorteil von bildhaften Erzählungen, deren Anschaulichkeit und Spannung, soll hier genutzt werden, um die abstrakten Differenzierungen der kantischen Systematik an einem Beispiel anzuwenden. Die Lektüre von Kants Texten stellt den Leser vor Herausforderungen. Besonders für die Schule gibt es daher Vorschläge, auf Texttransformationen wie fiktive Gespräche zurückzugreifen. 2 In diesem Unterrichtsvorhaben kommt Kant im Ori-



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Vgl. McGinn, Colin: Das Gute, das Böse und das Schöne. Über moderne Ethik. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2001. Vgl. Peters, Jörg und Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorie, UB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009.

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ginal zu Wort, wobei textstrukturierende Hilfen die Erschließung der Primärtexte erleichtern sollen. Die leitende Problemfrage der Unterrichtsreihe lautet: Ist das Gewissen ein sicherer Leitfaden für moralische Entscheidungen? Das für die Sekundarstufe II konzipierte Unterrichtsvorhaben lässt sich im Inhaltsfeld »Werte und Normen des Handelns« 3 verorten. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Möglichkeit, ihre Sach- und Urteilskompetenz zu erweitern, indem sie grundlegende Elemente der deontologischen Pflichtethik Kants in wesentlichen gedanklichen Schritten nachvollziehen und deren Tragfähigkeit zur Orientierung in Fragen moralischen Handelns bewerten.

  Zum Unterrichtsgegenstand Das Gewissen ist in der philosophischen Diskussion kein eindeutig bestimmter Begriff. Es wird in der Regel als moralische Instanz verstanden, vor der das Individuum seine Handlungen und Entscheidungen beurteilt. In diese Bewertung, bei der der Einzelne sich in Distanz zu sich selbst setzt, fließen situative Bedingungen, subjektive Motivationen sowie übergreifende Normen beziehungsweise Maßstäbe ein und werden miteinander abgewogen. Umstritten ist, ob das Gewissen rational oder intuitiv vorgeht und ob es fehlen kann. 4 Kant vergleicht das Gewissen mit einem inneren Gerichtshof im Bewusstsein eines Menschen. Gegenstand der Verhandlung beziehungsweise des Prozesses sind alle freien Handlungen. Einerseits steht die Person als mit Vernunft begabter Sinnenmensch als Angeklagte vor dem Gericht, andererseits ist sie zugleich Ankläger und Richter. Der Richter ist die Manifestation der reinen praktischen Vernunft und verkörpert das umfassende Sittengesetz. Dieses moralische Gesetz gründet ausschließlich in der Vernunft ohne sinnliche Antriebe oder die Berücksichtigung empirischer Faktoren. Da es sich gemäß Kant nicht auf Neigungen oder Interessen bezieht, gebietet es allgemein und unbedingt. Als Teilhaber an der intelligiblen Welt versteht sich der Mensch als autonom und gibt sich selbst das moralische Gesetz. Als intellektuelle und moralische Anlage gehört das Gewissen laut Kant wesenhaft zum Menschen. Das Gewissen weiß um das moralisch Gebotene und meldet sich unwillkürlich. Es konfrontiert den Menschen mit den Forderungen des Sittengesetzes und veranlasst ihn, sich Rechenschaft über sein Handeln und Urteilen abzulegen.



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Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Heft 4716: Philosophie, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2013, S. 29. Vgl. Burkard, Franz-Peter: »Gewissen«, in: Prechtl, Peter und Burkard, Franz-Peter (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon: Begriffe und Definitionen, Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 1996, S. 194– 195.



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Bezogen auf vergangene Handlungen mündet die Gewissensprüfung, sofern die Handlungen nicht im Einklang mit dem Sittengesetz standen, bei Personen, die über eine moralische Gesinnung verfügen, in der Empfindung von Reue. Auf zukünftige Entscheidungen und Handlungen bezogen dient das Gewissen als moralische Richtschnur. Hier weicht Kant in seiner Bestimmung des Gewissens von dem Alltagsverständnis des Begriffs ab, denn das Gewissen prüft nicht die jeweilige Einzelhandlung, sondern die Sorgfältigkeit des Urteilsfindungsprozesses. Das Gewissen fordert dazu auf, die eigene Gesinnung zu prüfen, d. h. die Grundsätze und Motive des eigenen Handelns dahingehend zu ergründen, ob diese von einem guten Willen geleitet sind. Das Vorhandensein des guten Willens als allgemeine Grundlage der Entscheidungen erweist sich gemäß Kant als Kriterium für die Beurteilung der Moralität einer Handlung. Nur durch die Prüfung, ob der Entscheidungsprozess sorgfältig und vernunftgemäß erfolgte, kann Gewissheit erlangt werden, dass die geplante oder bereits vollzogene Einzelhandlung mit dem allgemeinen moralischen Gesetz in Einklang steht. Anhand der Erzählung Zwei Brüder5 erfolgt die anwendungsbezogene Erarbeitung von Kants Konzeption des Gewissens. Der Protagonist der Geschichte ist der Sheriff John Kendall, der einen Überfall auf eine Postkutsche aufzuklären hat. Indizien weisen darauf hin, dass Bart Sullivan der Täter ist. Kendall konfrontiert ihn mit der Anschuldigung und greift ihn tätlich an. Bart zieht daraufhin seine Waffe und wird von Kendall in Notwehr erschossen. Als neue Indizien auftauchen, glaubt Kendall, einen Unschuldigen getötet zu haben. Kendalls Gewissen macht ihm in mehrfacher Hinsicht Vorwürfe. Er bereut zum einen, dass er Bart beschuldigte sowie in seiner Wut provozierte, zum anderen, dass er zum Mörder eines vermeintlich Unschuldigen geworden ist. Er stellt sich dem Urteilsspruch eines Richters, der ihn juristisch von dem Mordvorwurf freispricht. Zudem beauftragt der Richter den Sheriff, den Postkutschenüberfall weiterhin aufzuklären und Tommy Sullivan zu suchen, auf den neue Verdachtsmomente hindeuten. Als Kendall Tommy stellt, attackiert er ihn ebenfalls zornig. Tommy reagiert auf diesen Angriff allerdings anders als sein Bruder und beruft sich auf sein Recht, dass der Fall sorgsam untersucht wird. Nach Prüfung der Beweislage stellt sich heraus, dass doch Bart der Täter war und sein Bruder ihn lediglich deckte. Kendalls Gewissen ist damit beruhigt, dass er keinen unschuldigen Mann tötete. Der Comic rekonstruiert nicht genau Kants Vorstellungen des Gewissens oder folgt stringent einer philosophischen Theorie. Dennoch verdeutlicht die Erzählung das Bild des inneren Gerichtshofes sowie den Begriff der Reue, so wie ihn Kant beschreibt. Auch die Aspekte, bei denen keine Übereinstimmung mit Kants Konzeption vorliegt, wie die Prüfung des Urteilsfindungsprozesses durch das Gewissen, führen durch die Kontrastierung zu einer Konkretisierung der Position Kants und bieten Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser. Durch die schrittweise Analyse des Handlungsganges der Erzählung zeigen sich auch Brüche in der Hand

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del Castillo, Arturo: »John Kendall – Zwei Brüder«, in: del Castillo, Arturo: John Kendall, 3 Bde., Bd. 3: Die Entführung, übers. von Tschernegg, Markus, Comicothek, Wien 1986, S. 20–34.

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lungsweise und dem Charakter Kendalls. Diese verdeutlichen, dass Personen – auch wenn es sich in dem Beispiel um eine fiktive Figur handelt – nur dann auf ihr Gewissen als moralischen Leitfaden vertrauen können, wenn sie sich über sich selbst – ihre Motive und ihre Taten – sorgsam Rechenschaft ablegen sowie bereit sind, ihr Handeln an den Maßgaben der reinen praktischen Vernunft auszurichten. Entgegen der Position Kants bleibt der Stellenwert der Handlungsfolgen für die moralische Beurteilung durch das Gewissen fraglich.

  Zu den unterrichtlichen Voraussetzungen Kants Ausführungen zum Gewissen sind nicht ohne Grundkenntnisse seiner Ethik angemessen zu verstehen. Er greift bei ihnen auf Differenzierungen zurück, die im Kontext seiner Darstellung des Gewissens nicht näher erläutert werden. Für das vorliegende Unterrichtsvorhaben wird vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, dass Kant eine Gesinnungsethik entworfen hat, die den guten Willen als zentralen Bezugspunkt für die Moralität von Handlungen ansieht. Das moralisch Richtige tun zu wollen, bedeutet für Kant, ausschließlich der Vernunft zu folgen. Das strenge und formale Kriterium der Vernunft stellt die Allgemeingültigkeit dar. Die Unterscheidung von reiner praktischer Vernunft und empirischer beziehungsweise hypothetischer praktischer Vernunft sollte den Schülerinnen und Schülern bekannt sein. Die Differenzierung von objektiver und subjektiv-praktischer Vernunft wird meist nicht in der gymnasialen Oberstufe thematisiert und mag die Schülerinnen und Schüler beim Nachvollzug der Grundzüge der kantischen Ethik eher verwirren. Im Sinne einer didaktischen Reduktion wird auf diese nicht zurückgegriffen und die Texte – insbesondere M4 – wurden so bearbeitet, dass sie ohne Kenntnis dieser Begriffe verständlich sind. Während für die Moralität das Handlungsmotiv und nicht die Handlungsfolgen entscheidend ist, spielen die Handlungsfolgen und -wirkungen nur in den empirischen, konkreten Situationen bei der praktischen Beurteilung der Tauglichkeit der gewählten Mittel für die gewählten Zwecke eine pragmatische Rolle. Das Sittengesetz verpflichtet gemäß Kant dazu, seine Handlungen an dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auszurichten. Hilfreich für das Unterrichtsvorhaben ist, wenn die Schülerinnen und Schüler zwischen pflichtgemäßen Handlungen, die entweder rein aus Pflicht oder aus beziehungsweise mit Neigung erfolgen, sowie pflichtwidrigen Handlungen unterscheiden können.

  Zum Unterrichtsverlauf Zum Einstieg lesen die Schülerinnen und Schüler den ersten Teil des Comics Zwei Brüder von Arturo del Castillo (M1). Nach der Klärung des Handlungsverlaufs und des Inhalts wird ein philosophischer Fragehorizont eröffnet, indem sich die Schü-



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lerinnen und Schüler darüber austauschen, wie sie die Handlungen Kendalls intuitiv einschätzen, und Vermutungen anstellen, wie der herbeigerufene Richter die Handlungsweise des Protagonisten beurteilt. Die Schülerinnen und Schüler stellen dabei voraussichtlich einen Bezug zu der moralischen Eigenbewertung Kendalls her. Da er davon ausgeht, einen Unschuldigen einer Tat bezichtigt, ihn provoziert und getötet zu haben, meldet sich sein Gewissen, obwohl sein Ansinnen, als Sheriff ein Verbrechen aufzuklären, als legitim gilt und er juristisch freigesprochen wird (M2). Der Begriff des Gewissens wird nun aufgegriffen und zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen. Das Vorverständnis des Phänomens des Gewissens wird durch eine Einzelarbeit aktiviert, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Erfahrungen mit ihrem Gewissen reflektieren. Die Auswertung erfolgt auf struktureller Ebene hinsichtlich der Funktionsweise des Gewissens. Es wird von den Schülerinnen und Schülern wahrscheinlich als innere Stimme beschrieben, die sich meldet, wenn man eine Handlung begangen hat, die moralisch fragwürdig oder gar unmoralisch war. Vermutlich differenzieren die Schülerinnen und Schüler auch das gute von dem schlechten Gewissen, je nachdem, ob die innere Abwägung zu dem Ergebnis führt, dass die Handlung moralisch legitimiert ist oder nicht. Meist beziehen sich Gewissensbisse auf Vergangenes, bei Gewissenskonflikten aber auch auf zukünftige Entscheidungen. Gerade bei der Kollision von Pflichten oder Normen stellt sich die Gewissensfrage, welche den Vorrang haben sollen. Möglicherweise wird auch der Aspekt der Gewissenlosigkeit von der Lerngruppe angesprochen. Bei der Auswertung wird deutlich, dass das Gewissen alltagssprachlich in mehreren Begriffskomposita auftritt – wie Gewissensgründe oder Gewissensentscheidung – sowie in verschiedene Zustände (reines, ruhiges, gutes, schlechtes Gewissen) gegliedert wird. Darüber hinaus tritt der Begriff in unterschiedlichen Kontexten auf, beispielsweise bei der gewissenhaften Ausführung einer Aufgabe, wenn etwas auf dem Gewissen lastet oder wenn jemand eine Tat auf dem Gewissen hat. Eine genauere Analyse unter moralphilosophischem Blick wird deshalb erforderlich. In dem nächsten Unterrichtsschritt vergleichen die Schülerinnen und Schüler daher ihr Verständnis des Gewissens mit dem von Kant, indem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellen. Dafür erschließen sie zunächst den Text M3 selbstständig, erhalten aber durch hervorgehobene Schlüsselbegriffe eine Orientierungshilfe. Als Differenzierungsangebot kann die Abbildung herangezogen werden. Diese verbindet die Darlegungen aus M3 mit dem Begriff des Sittengesetzes, der aus der vorausgegangenen Beschäftigung mit Kants Ethik bekannt sein sollte. Die Gegenüberstellung von rein vernünftiger, idealischer Person des inneren Richters und dem mit Vernunft begabten Sinnenmenschen bietet eine Strukturierungshilfe für die Erfassung der Konstruktion des Gewissens durch Kant.

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doppeltes Selbst

Angeklagter/ Verteidiger

Ankläger/Richter

vernunftbegabter Sinnenmensch

idealische Person

Repräsentant des allgemeingültigen Sittengesetzes

von der Vernunft selbst geschaffen

Zur Struktur des Gewissens nach Kant

Kant geht von einem moralischen Gesetz aus, das durch die Vernunft begründet ist. Dem rein vernünftigen und damit allgemeinen Sittengesetz folgt die idealische Person, weil es vernünftig ist. Der Sinnenmensch wendet seine empirische beziehungsweise hypothetische Vernunft an, um bestimmte subjektive Ziele oder Zwecke zu erreichen. In diesem Fall ist die Vernunft instrumentell auf die Umsetzung der gewählten Ziele bezogen. Die gewählten Mittel sind daher entweder geeignet oder ungeeignet zur Erreichung der individuellen Ziele oder Zwecke. Über die Moralität der Mittel und Ziele ist damit jedoch noch nichts ausgesagt. Demgegenüber urteilt die reine praktische Vernunft unabhängig von subjektiven Zwecksetzungen und führt so zu einem allgemeinen Gesetz, das gemäß Kant eine unbedingte, allverpflichtende Moralität darstellt, die keine weiteren, über sie hinausweisenden Zwecke verfolgt. Begriffliche Schwierigkeiten bereitet womöglich die Erfassung des inneren Richters als »Herzenskündiger«, da dieser im ausgewählten Textauszug M3 nicht erläutert wird. Im vorliegenden Kontext kann der Begriff des Herzens mit Gesinnung, die in M4 explizit Erwähnung findet, gleichgesetzt werden. Eine moralische Gesinnung liegt dann vor, wenn die Sittlichkeit selbst der Beweggrund der Handlung ist, d. h., wenn die moralische Norm zum individuellen Motiv wird. Als »Herzenskündiger« erkennt der innere Richter die wahren Antriebe und grundlegenden Motive des eigenen Handelns.



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Nachdem die Schülerinnen und Schüler M3 bearbeitet haben, werden sie wahrscheinlich feststellen, dass sich ihre Vorstellungen vom Gewissen mit Kants Bild des inneren Gerichtshofes in Übereinstimmung bringen lassen. Möglicherweise als vertiefende und weiterführende Hausaufgabe wird M4 herangezogen, indem die Schülerinnen und Schüler den Begriff der Reue und deren Voraussetzungen gemäß Kant erklären. Durch Kürzungen und ein textstrukturierendes Layout soll es ihnen erleichtert werden, die Vorstellung des Gewissens als inneres Gericht sowie freie Handlungen als Gegenstand der Verhandlung zu rekapitulieren. Darüber hinaus bestimmen sie die Reue als Selbstvorwurf, d. h. als schmerzhafte Empfindung, die sich auf vergangene, nicht mehr änderbare Handlungen bezieht. Voraussetzungen der Reue sind zum einen, dass die Handlung anders hätte ausgeführt werden können, also frei war, zum anderen, dass ihr eine moralische Gesinnung zugrunde liegt. Durch den Rückbezug zum Comic erfolgen eine anschauliche Festigung sowie ein anwendungsbezogener Transfer der kantischen Position. Kendall zeigt Reue, nachdem neue Indizien Zweifel an Bart Sullivans Schuld begründen. Seine Reue bezieht sich auf drei Aspekte: die Beschuldigung, die Provokation und die Tötung von Bart Sullivan (M1, S. 8, Panels 6 und 8). Die genaue Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Kendall und Bart Sullivan führt zu folgenden Feststellungen: Kendalls Reue über die Beschuldigungen ist berechtigt, da Zweifel über die Schuld des Beschuldigten bestanden (ebd., S. 6, Panels 7 und 8). Der Antrieb für die Provokationen, d. h. für die Beschimpfung (ebd., S. 5, Panel 10), die Tätlichkeit (ebd., Panel 9) und die Körperverletzung (ebd., S. 6, Panel 2) waren Wut und Zorn (ebd., S. 5, Panels 5 und 11), die ihn an einer rein vernünftigen Überlegung hinderten. In Bezug auf diese Faktoren hätte Kendall sorgfältiger, auch über seine konkreten Motivationen beziehungsweise Motive, urteilen müssen. Die Umsetzung seiner ursprünglichen, zumindest pflichtgemäßen Absicht, das Verbrechen aufzuklären, scheitert scheinbar an seinen voreiligen Schlüssen sowie an seinen unkontrollierten Emotionen. Die Notwehrsituation wurde zwar durch die vorangegangenen Handlungen Kendalls herbeigeführt, aber der Entschluss, zur Waffe zu greifen, lag bei Bart (ebd., S. 6, Panel 3). Kendall reagierte daraufhin instinktiv, um sein Leben zu schützen, wodurch die Tötung von Bart eher keine freie Handlung Kendalls darstellt. Zudem bezieht sich nach der Konzeption Kants die Moralität auf das Motiv für die Handlungen und nicht auf deren Folgen. Sein Leben zu verteidigen, kann als moralisch zulässiges Motiv angesehen werden, für das sich der Sheriff keinen Selbstvorwurf machen muss. Sofern Kendall also Bart lediglich verhaften und nicht vorsätzlich umbringen wollte, ist er dafür moralisch nicht zu verurteilen. Hier äußert sich in der Lerngruppe möglicherweise Widerspruch, insofern eine Verantwortlichkeit Kendalls für den Tod von Bart gesehen wird, zumal Kendall sich selbst deswegen ja auch einen Vorwurf macht. Gewissensbisse und Reue beziehen sich auf vergangene Taten. Dabei können, wie das Beispiel zeigt, Folgen bei der nachträglichen Beurteilung der eigenen Handlungen einbezogen werden. An dieser Stelle kann die Frage an Kant festgehalten werden, welchen Stellenwert er den Folgen der eigenen Handlungen bei deren moralischer Beurteilung zuschreibt. Dies

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führt zu der Frage, inwiefern das Gewissen zukünftige Handlungsentscheidungen leiten kann, da die Folgen ja noch unbekannt sind. An dieser Stelle wird die zentrale Problemfrage der Unterrichtseinheit explizit formuliert: Ist das Gewissen ein sicherer Leitfaden für moralische Entscheidungen? Um dieser Frage nachzugehen, erhalten die Schülerinnen und Schüler M5 mit der Aufgabe, den Text erneut mithilfe von Schlüsselbegriffen zu erfassen. Dabei rekonstruieren sie Kants Gedanken insofern, als nicht die inhaltliche Beurteilung einer einzelnen Handlung Aufgabe des Gewissens ist, sondern dieses prüft quasi als Verfahrensnorm den Prozess der Entscheidungsfindung, der zu der Handlung führte. Sofern die rein vernünftige Bewertung des Urteilsfindungsprozesses sorgsam erfolgte, ergibt sich die Gewissheit, dass die geplante Handlung nicht unrecht ist. Die gewissenhafte Prüfung bezieht sich nach Kant also auf das Verfahren und nicht auf den speziellen Inhalt oder die situativen Faktoren der Entscheidung. Mit dem Blick auf den Problemüberhang aus M4 ergibt sich für den Stellenwert der Folgen bei der Beurteilung der Handlungen, dass unbeabsichtigte Folgen möglicherweise darauf schließen lassen, dass ungeeignete Mittel zum Erreichen der Zwecke gewählt wurden, was nach Kant auf ein Defizit im Bereich der empirischen, hypothetischen Vernunft hindeutet. Moralisch bedeutsam ist für Kant jedoch letztlich der Beweggrund der Handlungen, nicht deren Ergebnis. Sofern nach bestem Wissen, d. h. in sorgsamer Beachtung der bekannten kontextgebundenen Faktoren, und Gewissen, also entsprechend dem allgemeinen moralischen Gesetz, gehandelt wird, wäre auch beim Eintreten nicht abgesehener Folgen, beispielsweise durch das Zutun anderer, dem Handelnden kein moralischer Vorwurf zu machen. Die Konzeption Kants wird nun erneut in den Anwendungskontext des Comics gestellt. In Bezug auf die Beispielsituation müsste Kendall Konsequenzen aus seiner Reue ziehen, wenn das Gewissen als Leitfaden für zukünftige Handlungen dient. Als vernünftige und allgemeine Schlüsse – beziehungsweise Maximen – aus der Gewissensprüfung wäre abzuleiten, vorschnelle Beschuldigungen immer zu vermeiden, niemanden aufgrund eigener emotionaler Befindlichkeiten – also hier aus Wut oder Zorn – zu provozieren und daher niemals einen unschuldigen Menschen zu töten. Die Geschichte von del Castillo wird anschließend bis zu Tommys Verhaftung weitergelesen (M6) und daraufhin untersucht, ob Kendall den Geboten des Gewissens folgt. Aufgrund der Vorarbeiten sowie der Parallelität der Situationen erkennen die Schülerinnen und Schüler, dass Kendall erneut voreilig Beschuldigungen trifft (ebd., S. 1, Panels 10 und S. 2, Panel 3), weiterhin von seiner Wut gesteuert ist (ebd., S. 1, Panels 9 und 11) und so tätlich beziehungsweise gewalttätig (ebd., Panel 7 und S. 2, Panel 4) wird. Anders als sein Bruder reagiert Tommy besonnener auf die Provokation und bestreitet Kendalls Recht, auf diese Weise behandelt zu werden (ebd., S. 2, Panels 1 und 5). So verhindert Tommy, dass ihm das gleiche Schicksal widerfährt wie seinem Bruder. Es zeigt sich also, dass Kendall sich nicht von seinem Gewissen leiten lässt, da er die gleichen Handlungsweisen an den Tag legt, die er zuvor bereute. Der Textauszug aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (M7), in dem der gute Wille als grundlegender Bezugspunkt der kantischen Ethik wiederholt wird, dient der Verdeutlichung des zentralen Stellenwerts der Gesinnung und ermöglicht



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durch die weitere Unterscheidung von Geistesgaben und Temperament, Kendall und seine Handlungen differenziert zu bewerten. Inwieweit der gute Wille und die moralische Gesinnung den handlungsleitenden Beweggrund Kendalls darstellen, bleibt uneindeutig, da dieser allenfalls aus der Innenperspektive beurteilt werden kann, über die der Text nur begrenzt Auskunft gibt. Da Kendall die Niederlegung seines Amtes über die Allgemeingültigkeit und die Pflicht begründet (M1, S. 8, Panel 10 und S. 9, Panel 2), könnte dies für seine gute Gesinnung sprechen. Sobald er hingegen mit der Außenwirkung und den Folgen argumentiert, wenn er sich nicht der Gerichtsbarkeit unterwerfen würde, oder sein Stolz (M8, S. 3, Panel 8) ein Motiv darstellt, wird diese fragwürdig. Ob die Aufklärung von Verbrechen bei Kendall im Sinne Kants aus Pflicht erfolgt, bleibt also offen. Er handelt dahingehend aber zumindest pflichtgemäß. Bei der Beurteilung seiner Naturgaben fällt die Beurteilung anders aus. Die Schülerinnen und Schüler werden bei deren Prüfung sowohl – durch seine vorschnellen Beschuldigungen – in Bezug auf seine Urteilskraft (als Talent des Geistes) als auch in Bezug auf sein zorniges Temperament Defizite des Sheriffs feststellen. Hinsichtlich der konkreten Einzelhandlungen bleibt einerseits im Bereich des Urteilsfindungsprozesses, andererseits im Hinblick auf die eigenen – emotionalen – Antriebe eine sorgfältige Selbstprüfung bei Kendall aus. Um Sicherheit hinsichtlich der Moralität seines Handelns zu erlangen, hätte Kendall sowohl den Urteilsfindungsprozess als auch seine eigenen Beweggründe sorgsamer reflektieren müssen. Diese Selbst­ reflexion ist gemäß Kant die Grundlage dafür, dass das Gewissen zukünftige Handlungen sicher leiten kann. Die Erzählung wird nun bis zum Ende gelesen (M8) und der Fokus auf die abschließende Selbsteinschätzung Kendalls (ebd., S. 3, Panel 4) gelegt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Gelegenheit, diese zu beurteilen. Kendall bewertet seine Handlungen nun ausschließlich nach deren Endergebnis, sodass sein Gewissen ihn freispricht, da er letztlich das Verbrechen aufgeklärt und keinen Unschuldigen getötet hat. Sein situatives Fehlverhalten, das zu Gewissensbissen und Reue führte, berücksichtigt er nicht mehr. Ebenso wenig sieht Kendall, dass die Folgen seiner Handlungen zwar zur Bestrafung des Schuldigen führten, diese Folgen aber nicht durch ihn, sondern eher zufällig durch die Handlungsweisen anderer, nämlich durch die unterschiedlichen Reaktionen von Bart und Tommy auf die Beschuldigungen beziehungsweise Provokationen, eintraten. Die Lerngruppe nimmt anschließend Stellung zu Kants Konzeption des Gewissens. Teilen die Schülerinnen und Schüler die Einschätzung Kants, kommen sie zu dem Schluss, dass nicht die Folgen, die möglicherweise nicht in der Macht des Handelnden stehen, sondern die Absicht beziehungsweise die Motive des Handelns der ausschlaggebende Punkt für die moralische Beurteilung sind. Mit Blick auf die Problemstellung des Unterrichtsvorhabens, ob das Gewissen ein sicherer Orientierungspunkt ist, folgt daraus, dass die sorgsame, vernünftige Prüfung der eigenen Absichten und Motive Handlungssicherheit beim Auftreten moralischer Probleme geben kann. Dieser Auffassung kann entgegengehalten werden, dass die Folgen beziehungsweise (antizipierten) situativen Handlungsergebnisse sowohl in der Pla-

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nung als auch in der Nachbetrachtung das entscheidende Kriterium für die moralische Bewertung von Handlungen durch das Gewissen sind. Zudem erscheint fraglich, ob das Gewissen rein intellektuell und frei von Gefühlen urteilt, denn selbst wenn die Handlungen mit gutem Willen und nach sorgfältiger vernünftiger Prüfung erfolgt sind, bleiben beim Eintreten schlechter Folgen doch möglicherweise ein Zweifel und ein Anflug von Reue zurück, dass man hätte anders handeln sollen. Abschließend findet eine Übertragung der Arbeitsergebnisse in einen neuen Anwendungsbezug statt, indem die Schülerinnen und Schüler die Handlungen von Tommy Sullivan untersuchen. Dieser versucht Barts Verbrechen zunächst zu verhindern (ebd., S. 1, Panels 1 und 2) und dann zu decken beziehungsweise so weit wie möglich ungeschehen zu machen (ebd., S. 2, Panels 1–4). Tommys Handlungsmotive sind die Sorge um die Familienehre (M1, S. 3, Panel 9) sowie Bruderliebe (M8, S. 3, Panel 2). Vor allem die letztgenannte führt Tommy als mildernden Umstand an. Obwohl er weiß, dass seine Handlungen moralisch falsch waren, bereut er sie nicht (ebd., Panel 6). Seine Erleichterung (ebd.), dass die Geschichte so endete, mag auf einen Gewissenskonflikt hindeuten, dieser wird aber in dem Text nicht eindeutig dargelegt. Sowohl von Tommy als auch von Kendall werden die Handlungen letztlich von ihrem Resultat her und nicht auf der Basis der Beweggründe bewertet. Auch bei Tommy zeigt sich, dass das als moralisch richtig Erkannte nicht zwangsläufig zu entsprechenden Handlungen führt. Wenn der Wille vorhanden ist, das moralisch Richtige zu tun, dann kann das Gewissen zwar als Leitfaden für zukünftige Handlungen dienen, in der Nachbetrachtung werden allerdings nicht allein die eigenen Beweggründe, sondern auch die tatsächlichen Folgen und Resultate der Handlungen in die Beurteilung des eigenen Tuns einbezogen.



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 M 1   Arturo del Castillo: Zwei Schuldige?6



6

del Castillo, Arturo: »John Kendall – Zwei Brüder«, in: del Castillo, Arturo: John Kendall, 3 Bde., Bd. 3: Die Entführung, a. a. O., S. 20–28.

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 Arbeitsanregungen  Fassen Sie den Handlungsgang des Comics Zwei Brüder zusammen.  Diskutieren Sie, wie der Richter die Selbstbeschuldigung Kendalls behandeln sollte.

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 M 2   Arturo del Castillo: Der Richter7



7

Ebd., S. 29.



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 Arbeitsanregungen  Vergleichen Sie das Ergebnis Ihrer Diskussion um die Selbstbeschuldigung Kendalls mit dem Urteil des Richters.

 Beschreiben Sie Ihre Erfahrungen mit dem Gewissen und stellen Sie die Anwendung des Begriffs im alltagssprachlichen Gebrauch dar.

 M 3   Immanuel Kant: Das Gewissen als innerer Gerichtshof8

Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (»vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen«) ist das Gewissen. Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. […] Diese ursprüngliche intellektuelle und (weil sie Pflichtvorstellung ist) moralische Anlage, Gewissen genannt, hat nun das Besondere in sich, daß […] dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Mensch mit sich selbst ist […]. Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. – Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen anderen (als den Menschen überhaupt), d. i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Diese andere mag nun eine wirkliche, oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft.* Eine solche idealische Person (der autorisierte Gewissensrichter) muß ein Herzenskündiger sein; denn der Gerichtshof ist im Inneren des Menschen aufgeschlagen – zugleich muß er aber auch allverpflichtend, d. i. eine solche Person sein, oder als solche gedacht werden, in Verhältnis auf welche alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzusehen sind; weil das Gewissen über alle freien Handlungen der innere Richter ist. * Die zweifache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits von den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben,

8

Kant, Immanuel: »Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre«, in: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, überprüfter, reprograf. Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1956, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 51998, A 99–101 (S. 573–574).

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bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerate. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber, als Subjekt der moralischen, von dem Begriff der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus) […]. Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten (Sachverwalter desselben) bewilligt ist.

 Arbeitsanregungen  Erklären Sie die Struktur des Gewissens mit Hilfe der kursiv gedruckten Schlüsselbegriffe.  Untersuchen Sie die Ausführungen Kants hinsichtlich Übereinstimmungen und Unterschieden zu dem erarbeiteten Vorverständnis des Gewissens.

 M 4   Immanuel Kant: Zur Reue9 Hiermit stimmen auch die Richtersprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen, vollkommen überein.

Ein Mensch mag künsteln, soviel als er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen […] vorzumalen und sich darüber schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, nur […] im Gebrauche seiner Freiheit war, und gleichwohl erklärt er sich sein Vergehen aus gewisser übeln […] Gewohnheit […], ohne daß dieses ihn gleichwohl wider den Selbsttadel und den Verweis sichern kann, den er sich selbst macht. Darauf gründet sich denn auch die Reue über eine längst begangene Tat; eine schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung, die so fern praktisch leer ist, als sie nicht dazu dienen kann, das Geschehene ungeschehen zu machen […].

 Arbeitsanregungen  Erklären Sie die Reue sowie deren Voraussetzungen gemäß Kant.  Erläutern Sie die Aspekte seines Verhaltens, auf die sich die Reue von Kendall (M1, S. 8) genau bezieht, und setzen Sie diese dabei mit den dazugehörigen Handlungen (M1, S. 5 f.) in Beziehung.



9

Kant, Immanuel: »Kritik der praktischen Vernunft. Erster Teil. Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft«, in: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Schriften zur Ethik und Reli­ gionsphilosophie, a. a. O., A 175–176 (S. 223–224).



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 Beurteilen Sie, inwiefern Kendalls Reue nach Kant gerechtfertigt ist. Beachten Sie dabei besonders die inneren Antriebe von Kendall sowie die Frage, welche seiner Handlungen als freie zu bezeichnen sind. Prüfen Sie den Stellenwert der Handlungsfolgen für die moralische Bewertung der  Handlungen bei Kendall und bei Kant. Beachten Sie dabei vor allem die Verantwortlichkeit Kendalls für die Tötung von Bart Sullivan. Begründen Sie Ihre Vermutung, ob Kant das Gewissen als sicheren Leitfaden für zu künftige Entscheidungen und Handlungen ansieht.

 M 5   Immanuel Kant: Das Gewissen als Leitfaden10

Es ist hier nicht die Frage: wie das Gewissen geleitet werden solle? (denn das will keinen Leiter; es ist genug, eines zu haben), sondern wie dieses selbst zum Leitfaden in den bedenklichen moralischen Entschließungen dienen könne. […] Es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf Gefahr wagen, daß es unrecht sei […]. Das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. […] [V]on der [Handlung], die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen, und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens […]. Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Kasus […]: sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf, daß dieses geschehen, oder nicht geschehen sei.

 Arbeitsanregungen  Erklären Sie, inwiefern das Gewissen laut Kant als sicherer Leitfaden für Handlungsentscheidungen dienen kann, indem Sie die hervorgehobenen Schlüsselbegriffe verwenden.

 Setzen Sie die Aussage, dass »nach bestem Wissen und Gewissen« gehandelt wurde, in Beziehung zu Kants Konzeption des Gewissens.



10

Kant, Immanuel: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, in: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O., A 270–272 (S. 859–860).

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 M 6   Arturo del Castillo: Die Verhaftung11



11

del Castillo, Arturo: »John Kendall – Zwei Brüder«, in: del Castillo, Arturo: John Kendall, 3 Bde., Bd. 3: Die Entführung, a. a. O., S. 30–31.



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 Arbeitsanregung  Untersuchen Sie, welche Konsequenzen Kendall aus seiner Reue für sein zukünftiges Handeln ziehen müsste, und überprüfen Sie, inwieweit er dem Leitfaden des Gewissens gefolgt ist.

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 M 7   Immanuel Kant: Der gute Wille12

Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit Charakter heißt, nicht gut ist.

 Arbeitsanregung  Überprüfen Sie, wie Kant den Charakter und die Naturgaben Kendalls beurteilen würde.

Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden. Bd. 4, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, a. a. O., BA 1 (S. 18).

12



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 M 8   Arturo del Castillo: Die Auflösung13



13

del Castillo, Arturo: »John Kendall – Zwei Brüder«, in: del Castillo, Arturo: John Kendall, 3 Bde., Bd. 3: Die Entführung, a. a. O., S. 32–34.

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 Arbeitsanregungen  Prüfen Sie die moralische Selbstbeurteilung durch Kendall am Ende der Erzählung vor dem Hintergrund der Konzeption Kants.

 Diskutieren Sie die Tragfähigkeit von Kants Vorstellungen zum Gewissen und nehmen Stellung zu der Frage, ob das Gewissen ein sicherer moralischer Leitfaden ist.

 Überprüfen Sie die Moralität der Handlungen von Bart Sullivan in der Geschichte (M1, M6, M8), indem Sie seine Beweggründe und seine Bewertung der Geschehnisse erläutern.

Wem gehört die Natur? Ethische und rechtliche Reformen als Wege aus der ökologischen Krise Michael Segets   Vorüberlegungen

 N

icht zuletzt durch »Fridays for Future« sind die ökologischen Probleme wieder vermehrt in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Vor allem jüngere Menschen ergreifen die Initiative, um Änderungen in der Politik anzustoßen, die auf eine langfristige Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zielen. Die gesellschaftliche Brisanz des Umweltschutzes sowie der deutliche Lebensweltbezug lassen eine erhöhte Motivation seitens der Schülerinnen und Schüler erwarten, wenn ökologieethische Themen im Unterricht aufgegriffen werden. Die ökologie-ethische Diskussion wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Zum einen steht das grundsätzliche Selbstverständnis des Menschen, die Begründung seiner Verantwortlichkeit gegenüber der Natur und zukünftigen Generationen zur Debatte. Zum anderen erscheinen angesichts der absehbaren Auswirkungen der aktuellen Lebensweise auf einer umsetzungsbezogenen, gesellschaftlich-politischen Ebene Maßnahmen notwendig, mit denen der ökologischen Krise begegnet werden kann, und dies trotz der Pluralität weltanschaulicher Positionen und deren Grundlagendisputen. Entsprechend der beiden unterschiedenen Ebenen wird in einer ersten Sequenz des Unterrichtsvorhabens eine mythologisch-holistische Naturanschauung einem aufgeklärten Weltbild gegenübergestellt. Die zweite Sequenz berücksichtigt vor dem Hintergrund des paradigmatischen Anspruchs der Moderne auf einen rationalen Diskurs rechtliche und moralische Ansatzpunkte, um die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zu schützen. Das Unterrichtsvorhaben geht daher der Problemfrage nach, inwiefern die aktuellen Umweltprobleme ethische und rechtliche Reformen erfordern. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Gelegenheit, ökologie-ethische Positionen in ihren wesentlichen gedanklichen Schritten zu analysieren und zu rekonstru­ ieren. Außerdem sollen sie die Verantwortung im Anwendungskontext der Umweltkrise beispielhaft erläutern können. Über diesen Schwerpunkt im Inhaltsfeld »Werte und Normen des Handelns« ist das Unterrichtsvorhaben durch den nordrheinwestfälischen Kernlehrplan legitimiert.1 Die erste Sequenz ermöglicht zudem



1

Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Heft 4716: Phi-

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eine Verknüpfung zum Inhaltsfeld »Erkenntnis und ihre Grenzen«, die zweite Sequenz zum Inhaltsfeld »Zusammenleben in Staat und Gesellschaft«. 2

  Zum Unterrichtsgegenstand Eine Ursache für die Zerstörung der Natur und die Umweltbelastungen wird der anthropozentrischen Sicht- beziehungsweise Handlungsweise zugeschrieben. Die besondere Stellung, die dem Menschen gemäß der philosophischen Anthropologie zukommt, erhält eine ökologie-ethische Brisanz, wenn sich mit ihr eine anthropozentrische Moral verbindet, die die Natur lediglich als Eigentum des Menschen oder als bloße Ressource für die Erfüllung seiner Bedürfnisse ansieht. Innerhalb der ökologischen Ethik begründen hingegen verschiedene Positionen mit unterschiedlichen Argumentationsstrategien die Schutzwürdigkeit der Natur. Die enorme Spannweite der Ansätze reicht von einem auf den Menschen fokussierten aufgeklärten Selbstinteresse bis hin zu Konzepten, die der Natur – oder Teilen davon – einen Eigenwert zubilligen. Am weitesten von der Anthropozentrik entfernen sich holistische Weltverständnisse, die den Menschen als einen Teil eines übergeordneten Ganzen verstehen. Ihre Ideen speisen sich teilweise aus den Mythen der nordamerikanischen Ureinwohner oder fernöstlicher Religionen. Metaphysisch oder religiös begründete holistische Ethiken genügen nicht dem Kriterium der Universalität und scheiden damit als allgemein verbindliche Konzeption einer ökologischen Ethik aus. Sie können als Orientierungspunkt der individuellen Lebensführung dienen, aber nicht als Basis für umfassende gesellschaftlichpolitische Reformen, wie sie zur Begegnung der ökologischen Herausforderungen notwendig erscheinen. Der Anthropozentrismus ist moraltheoretisch und erkenntnislogisch nicht hintergehbar, da letztlich der Mensch sein Handeln gegenüber der Natur rechtfertigen muss. Durch den Paradigmenwechsel, der sich mit der Aufklärung und deren vernunftbetonter Weltsicht vollzogen hat, erscheint eine Rückkehr zu mythologischen Weltdeutungen früherer Kulturen nicht mehr möglich. Wenn der Anspruch auf (wissenschaftliche) Rationalität als kulturelles und gesellschaftliches Leitkriterium gilt, dann muss auch der Diskurs um die Umweltprobleme rational geführt werden. Gerade hinsichtlich des Klimawandels werden wissenschaftlich fundierte Prognosen – selbst von manchen politischen Entscheidungsträgern – ignoriert oder nicht ernst genommen. Hier entstehen neue Mythen in dem Sinne, dass persönliche Glaubenssätze entgegen wissenschaftlich-rationalen Erkenntnissen zur Wahrheit erhoben werden. Die ökologische Diskussion wird daher in Teilen weder von den Befürwortern eines umfassenden Naturschutzes noch von dessen Gegnern ausschließlich vernünftig mit argumentativen Mitteln ausgetragen.



2

losophie, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2013, S. 29. Ebd., S. 23, 30.



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Vor allem die Beantwortung der Streitfrage, inwieweit die Erde in der Verfügungsgewalt des Menschen stehen soll, weist nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Dimension auf. Die Reform des Eigentumsrechts bietet einen Ansatzpunkt für die Umsetzung eines nachhaltigen Naturschutzes. Sofern die Natur als Eigentum des Menschen angesehen wird, bleibt zu klären, inwieweit sie als privates oder allgemeines Gut zu verstehen ist. Héctor Zagal und José Galindo sehen die Notwendigkeit eigentumsrechtlicher Veränderungen. Sie plädieren dafür, die Natur aus der privatrechtlichen Verfügungsgewalt auszunehmen und appellieren dabei an eine ethisch motivierte Solidarität der Gattung Mensch, die eben auch zukünftige Generationen einschließt. 3 Ebenso stellt eine Reform des Rechts für Otfried Höffe die zentrale Stellschraube dar, um der ökologischen Krise zu begegnen. Dabei erläutert er, dass es im aufgeklärten Selbstinteresse des Menschen steht, reziproke – in (internationale) Rechtsordnungen überführte – Verträge zum Schutz der Umwelt zu schließen. Dieser am Selbstinteresse orientierte Prozess rechtlicher Absprachen hat eine psychologisch entlastende Funktion, da keine neue, anspruchsvolle Individualmoral von den Personen gefordert wird. 4 Dieter Birnbacher sieht hingegen die Notwendigkeit, den Lebensstil nicht nur auf institutioneller, sondern auch auf individueller Ebene zu ändern und diesen über moralische Prinzipien zu begründen.5 Da die Folgen der Umweltbelastungen für den Einzelnen – zumindest in den westlichen Industrienationen – derzeit noch wenig spürbar sind und beispielsweise hinsichtlich des Klimawandels auch erst zukünftige Generationen in vollem Umfang treffen, besteht laut Birnbacher eine »Motivationslücke«6, solche wie von Höffe vorgeschlagenen Übereinkünfte zu ­treffen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Verweisungszusammenhang von Recht und Moral besteht und ein Umdenken in beiden Bereichen erforderlich erscheint, wenn es darum geht, die natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch zu erhalten.

  Zum Unterrichtsverlauf Als ersten Schritt der Hinführung lesen die Schülerinnen und Schüler den Abschluss des Comiczyklus Der Weg des Schamanen von Derib (M1), der die mythologische Vorstellungen der nordamerikanischen Ureinwohner veranschaulicht. Auf inhaltlicher Ebene dürfte die Handlung keine Schwierigkeiten bereiten: Goldsucher erschießen einen Indianer, der sich ihnen in friedlicher Absicht nähert. Der Geist des Indianers verlässt den Körper und fließt in ein umfassendes, überzeitliches Bewusstsein ein.

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Vgl. Zagal, Héctor; Galindo, José: Ethik für junge Menschen, übers. von Goebel, Bernd, UB 18093, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2000, S. 213–214. Höffe, Otfried: Moral als Preis der Moderne, stw 1046, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt: 1993, S. 167–171. Birnbacher, Dieter: »Der Klimawandel – eine Herausforderung für Moral und Ethik«, in: Praxis Philosophie & Ethik 5, 2019, Heft 6: Klimaethik, S. 4–6. Ebd., S. 4.

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In dem Bild des Lebensbaums können die Schülerinnen und Schüler ein mythologisches Weltprinzip erkennen und vollziehen die Vorstellung eines unendlichen Weltgeistes nach, der sich in allen Dingen wiederfindet, diese verbindet und sie gleichsam beseelt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten nun die Möglichkeit, ihre Ansicht zu einem solchen umfassenden Seinsprinzip zu äußern. Die Lerngruppe wird sicherlich nicht die Vorstellung eines Lebensbaums teilen, aber die Annahme, dass es eine Form eines umfassenden Prinzips beziehungsweise Geistes gibt, die in der Welt gegenwärtig ist, oder die Idee eines ewigen Kreislaufs – möglicherweise mit dem Reinkarnationsgedanken verbunden – können durchaus vertreten werden. Wahrscheinlich führen manche Schülerinnen und Schüler ihren Glauben an eine göttliche Instanz an. Demgegenüber wird ein Teil der Lerngruppe wahrscheinlich die Position einnehmen, dass keine solche Entität existiert. Festzuhalten bleibt, dass bereits in der Lerngruppe keine Einigkeit über metaphysische – mythologische oder religiöse – Grundannahmen erzielt werden kann. Der zweite Teil der Hinführung knüpft über den Auszug aus der Rede von Häuptling Seattle 7 (M2) an den Comic an, indem er die mythologische Weltsicht der indianischen Kultur im Hinblick auf das Naturverhältnis des Menschen konkretisiert. Der Mensch ist dort eingebunden in ein heiliges Naturganzes. Demgegenüber kritisiert die Rede die Auffassung, die Natur als Eigentum des Menschen anzusehen, sowie den instrumentellen, zerstörerischen Umgang mit ihr, dessen Auswirkungen letztlich auf den Menschen zurückfallen. Während beim anthropozentrischen Weltbild der Mensch eine Umwelt hat und diese als in seiner Verfügungsgewalt stehendes Eigentum betrachtet, geht die holistische Sichtweise von einem Naturganzen aus, von dem der Mensch und die natürliche Mitwelt Teile sind. 8 Häuptling Seattle begründet den sorgsamen Umgang mit der natürlichen Mitwelt über die Heiligkeit des Naturganzen, führt darüber hinaus jedoch ein anthropozentrisches Argument an, indem er auf die langfristige Selbstschädigung des Menschen durch die Umweltzerstörung hinweist. Zur Verdeutlichung der gegenübergestellten Weltsichten werden die Abbildungen aus M3 herangezogen. Anhand dieser Darstellungen führt die Lehrkraft die begriffliche Unterscheidung zwischen Holismus und Anthropozentrismus ein und strukturiert damit den weiteren Unterrichtsverlauf. Aus der Kritik an der westlichen Anthropozentrik ergibt sich die leitende Problemfrage des Unterrichtsvorhabens, inwiefern wir eine neue ethische Orientierung gegenüber der Natur und eine eigentumsrechtliche Reform vor dem Hintergrund der aktuellen öko

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Häuptling Seattles Rede ist nur bruchstückhaft überliefert. Zudem liegen mehrere Versionen des Textes vor, die die Rede nicht authentisch wiedergeben. Da die für die ökologie-ethische Diskussion relevanten Passagen nicht zu den historisch verbürgten zählen, wurde für das Unterrichtsvorhaben eine nachgedichtete Fassung verwendet. Zur Rezeptionslage siehe Gruhl, Herbert: Häuptling Seattle hat gesprochen. Der authentische Text seiner Rede mit einer Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit, Erb Verlag, Düsseldorf: 31985. Den Begriff der »natürlichen Mitwelt« prägte Meyer-Abich. Vgl. u. a. Meyer-Abich, Klaus Michael: »Naturphilosophische Begründung einer holistischen Ethik«, in: Nida-Rümelin, Julian & von der Pfordten, Dietmar (Hrsg.): Ökologische Ethik und Rechtstheorie, Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bd. 10, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden: 1995, S. 159–178: S. 161.



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logischen Herausforderung benötigen. Zur Bearbeitung dieser Fragestellung prüfen die Schülerinnen und Schüler zunächst die Möglichkeit einer radikalen Neuorientierung gegenüber der Natur im Sinne einer Umkehr zu einer mythologischholistischen Weltsicht. In der darauffolgenden Sequenz wenden sie sich der Untersuchung eigentumsrechtlicher Veränderungsmöglichkeiten im Naturverhältnis zu, die einer anthropozentrischen Argumentation folgen. In einem arbeitsteiligen Vorgehen – beispielsweise durch ein Gruppenpuzzle – unterziehen die Schülerinnen und Schüler nun die Konzeption einer mythologisch-holistischen Weltsicht der Kritik, indem sie unterschiedliche Argumente zusammentragen, die gegen einen mythologischen Holismus als Grundlage einer ökologischen Ethik sprechen. Zum einen lässt sich eine theorie-immanente Schwierigkeit dahingehend anführen, dass aus einer ganzheitlichen Vorstellung nicht zwangsläufig ein Schutz der Natur folgt (M4). Des Weiteren sind die mythologischen bzw. die metaphysischen Grundannahmen nicht rational vermittelbar, sondern müssen geglaubt werden (M5). Dieser Anspruch auf Rationalität äußert sich in der modernen Gesellschaft ebenso in den naturwissenschaftlich-technischen Erklärungsmodellen von Phänomenen (M6). Als Ergebnis dieser Erarbeitungsphase lässt sich festhalten, dass eine Wiederbelebung holistisch-mythologischen Denkens keine universal gültige Ethik begründen kann und damit unter dem Vernunftparadigma der Moderne keine verbindliche, intersubjektive Orientierung bietet. Stattdessen besteht der Anspruch der Philosophie, rational mit den ökologischen Herausforderungen umzugehen. Zur aufgeklärten Diskussion der Umweltproblematik gehört, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Prognosen – beispielsweise die der Klimaforscher – zur Kenntnis zu nehmen und Schlussfolgerungen für das Handeln gegenüber der Natur zu ziehen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten daher die Rechercheaufgabe, sich über den Klimawandel zu informieren, und dabei auch die Argumente derjenigen einzuordnen, die den Klimawandel abstreiten.9 Erkenntnisse einer ersten Information sind zum einen, dass nicht nur von den Befürwortern eines vermehrten Naturschutzes, die eine metaphysische Naturkonzeption vertreten, sondern auch von deren Gegnern, die letztlich keine Notwendigkeit zur Verhaltensänderung sehen, der Diskurs nicht durchgehend rational geführt wird. Zum anderen wird ersichtlich, dass wissenschaftlich begründete Prognosen darauf hinweisen, dass ein akuter Handlungsbedarf besteht, wenn die Lebensgrundlagen des Menschen langfristig erhalten bleiben sollen. Zum Abschluss der ersten Sequenz wird der Text von Eckhard Meinberg (M7) herangezogen, mit dem die Schülerinnen und Schüler nachvollziehen können, dass der Anthropozentrismus moraltheoretisch nicht zu hintergehen ist, aber nicht zwangsläufig eine Moral bedingt, die den Naturschutz unberücksichtigt lässt. Der Mensch steht vor der Aufgabe, sich in ein moralisches Verhältnis zur Natur zu setzen, wobei die ökologischen Herausforderungen dazu auffordern, diese Verhältnisbestimmung neu zu ordnen.

9

Als Anregung für die Recherche kann folgende Internetseite dienen: https://www.spektrum.de/ wissen/die-gaengigsten-mythen-zum-klimawandel/1674472 (Stand: 24.07.2020).

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Häuptling Seattle gibt mit seiner Kritik an den Eigentumsvorstellungen der »zivilisierten« Gesellschaft – die auch die Goldsucher in Deribs Comic repräsentieren – einen Anstoß, über deren Veränderung zum Schutz der Natur nachzudenken. Mit diesem Rückbezug zur Hinführung wird zur zweiten Sequenz des Unterrichtsvorhabens übergeleitet, die mit einem Textauszug aus Jean-Jacques Rousseaus Schrift Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (M8) beginnt. Die Entstehung des Eigentums markiert für ihn den Übergang von der ursprünglichen zur bürgerlichen Gesellschaft. Dabei kritisiert Rousseau das überkommene Konzept des Eigentums, weist aber darauf hin, dass das Eigentumsrecht durch Menschen aufgestellt wurde und damit prinzipiell veränderbar ist. Darüber hinaus verknüpft er mit dem Begriff des Eigentums die vollständige Nutzungsgewalt des Eigentümers über seinen Besitz. Gerade diese uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Einzelnen beziehungsweise des einzelnen Staates wollen Héctor Zagal und José Galindo (M9) durch eine Reform des Eigentumsrechts einschränken. Weil die natürlichen Rohstoffe nach ihrer Ansicht der gesamten Menschheit gehören und mit deren Nutzung ökologische Folgen verbunden sind, die den räumlichen und zeitlichen Nahbereich überschreiten, fordern sie eine Solidarität der Menschen in dem Bewusstsein einer materiellen sowie moralischen Verbundenheit. Mit dem Text von Zagal und Galindo lassen sich zwei Ebenen unterscheiden, durch die sich die Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die ökologischen Herausforderungen strukturieren lassen. Erstens ist auf einer moralischen Ebene die Solidarität mit allen Menschen gefordert. Dies bedeutet, dass nicht nur die eigenen Interessen, sondern auch die Interessen anderer – eben auch zukünftiger Generationen – im Handeln berücksichtigt werden sollen. Das Recht bildet eine zweite Ebene, auf der hinsichtlich des Status der Natur ein Spannungsfeld zwischen privatem und öffentlichem beziehungsweise gemeinsamem Gut besteht. Aufgrund der umfassenden, staatenübergreifenden Umweltproblematik kommt zudem dem internationalen Recht ein besonderer Stellenwert zu. Methodisch wird an dieser Stelle ein Lerntempo-Duett vorgeschlagen, mit dem die beiden Ebenen der Texte von Otfried Höffe (M10) und Dieter Birnbacher (M11) arbeitsteilig weiterverfolgt werden. Mit diesem bietet sich die Möglichkeit, leistungsdifferenziert vorzugehen, da der Text M10 für die Schülerinnen und Schüler anspruchsvoller erscheint als M11. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten so parallel einen am Selbstinteresse orientierten Ansatz zum Umweltschutz sowie einen moralisch motivierten, der auf die Änderung des Lebensstils und gesellschaftlicher Normen zielt. Ausgehend von der Differenzierung privater und öffentlicher Güter zeigt Höffe (M10), dass die Individuen ein Interesse daran haben müssten, rechtliche Vereinbarungen zur Reduktion von Umweltbelastungen zu treffen. Vorausgesetzt wird dabei einerseits, dass die Nachteile umweltschädlichen Verhaltens für das Individuum die Vorteile, die es daraus zieht, überwiegen. Andererseits wird unterstellt, dass die Auswirkungen der Umweltbelastungen bereits deutlich für das Individuum spürbar sind. Dadurch erlangt der Einzelne die Motivation, rechtlich bindende Vereinbarungen mit anderen zu schließen. Birnbacher hält einen grundlegenden Wandel des



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Lebensstils und gesellschaftlicher Normen für erforderlich, um einen wirksamen Umweltschutz umzusetzen (M11). Vor allem im Hinblick auf den Klimaschutz stellt er allerdings eine fehlende Motivation zur Verhaltensänderung fest, da der Leidensdruck noch nicht groß genug ist, um klimaschädliche Gewohnheiten aufzugeben. Für eine wirksame Förderung des Umweltschutzes ist daher nicht der Rekurs auf das Selbstinteresse, sondern eine veränderte moralische Orientierung des Einzelnen und der Allgemeinheit notwendig. In einer plenaren Phase erfolgt die Gegenüberstellung der beiden Positionen. Übereinstimmung besteht dahingehend, dass sie anthropozentrisch für Maßnahmen des Umweltschutzes argumentieren, die im gemeinsamen Interesse der Menschen liegen. Ein Unterschied liegt in der Einschätzung der vorhandenen Motivation, um Änderungen im Verhalten gegenüber der Umwelt vorzunehmen. Während Höffe eine moralische Überforderung der Individuen dadurch vermieden sieht, dass sie sich auf der Basis des aufgeklärten Selbstinteresses für die rechtliche Regelung des Verhaltens gegenüber der Umwelt aussprechen, hält Birnbacher die Stärkung des moralischen Bewusstseins für vordringlich. Beide sind sich wiederum einig, dass sowohl im Verhalten der Individuen als auch auf institutioneller Ebene ein Wandel notwendig ist. Diese Reformen gehen allerdings sowohl im Bereich der Moral als auch des Rechts nur langsam und nicht ohne Widerstände voran, da die ökologischen Herausforderungen global sind und eine umfassende, internationale Einigkeit hergestellt werden muss. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln und diskutieren im Anschluss an die beiden Positionen mögliche konkrete Maßnahmen zum Umweltschutz in den Bereichen der individuellen Lebensführung und des Rechts. Zum Abschluss des Unterrichtsvorhabens informieren sich die Schülerinnen und Schüler über das Klimaabkommen von Paris aus dem Jahr 2015 und beurteilen den Stand des Prozesses auf dem Weg zu einem nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen.10 Dabei können die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage der erarbeiteten Positionen diskutieren, welche Veränderungen sie zum Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen für wirksam und umsetzbar halten. Im Rückbezug auf die erste Sequenz erkennen sie, dass auch holistische Vorstellungen im Bereich der privaten Individualmoral handlungsleitend sein, aber nicht als universell gültiger Bezugspunkt für die Entwicklung verbindlicher Rechtsnormen dienen können. Zudem werden sie zu dem Urteil gelangen, dass ein weltweit abgestimmtes Vorgehen zur Bewältigung der ökologischen Herausforderungen sinnvoll ist, bei dem staatliche Einzelinteressen hinter den allgemeinen Interessen der Menschheit zurückstehen sollten. Revolutionäre Veränderungen sind in diesem Prozess weder in der Moral noch im Recht zu erwarten, aber der Weg über Reformen und neue Verhältnisbestimmungen muss eingeschlagen werden, um der ökologischen Krise wirkungsvoll zu begegnen.

10

Als Ausgangspunkt der Recherche kann der Text des Klimaabkommens herangezogen werden: https://www.bmu.de/gesetz/uebereinkommen-von-paris/ (Stand: 24.07.2020). – Eine Diskussion zum Klimaabkommen findet sich unter: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2016–03-weimannetal-pariser-klimaabkommen-2016–02–11.pdf (Stand: 24.07.2020)

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 M 1   Einheit mit der Natur11



11

Derib: Der Weg des Schamanen, Bd. 3: Der Lebensbaum, EDITION comicArt, Carlsen Verlag, Hamburg 1991, S. 48–54.



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 Arbeitsanregungen  Beschreiben Sie unter Berücksichtigung der bildlichen Darstellung die mythologischen Vorstellungen, die im Comic Der Weg des Schamanen zum Ausdruck kommen.

 Diskutieren Sie, inwieweit Sie diese Vorstellungen teilen können.



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 M 2   Häuptling Seattle: Wir sind ein Teil der Natur12

Der große Häuptling in Washington13 sendet Nachricht, dass er unser Land zu kaufen wünscht. […] Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen – oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd. Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen? […] Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig in den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäumen steigt, trägt die Erinnerung des roten Mannes. […] Unsere Toten vergessen die wunderbare Erde nie, denn sie ist des roten Mannes Mutter. Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern, die Rehe, das Pferd, der große Adler – sind unsere Brüder. Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys und des Menschen – sie alle gehören zu der gleichen Familie. […] Glänzendes Wasser, das sich in Bächen und Flüssen bewegt, ist nicht nur Wasser – sondern das Blut unserer Vorfahren. […] Wir wissen, dass der weiße Mann unsere Art nicht versteht. Ein Teil des Landes ist ihm gleich jedem anderen, denn er ist ein Fremder, der kommt in der Nacht und nimmt von der Erde, was immer er braucht. Die Erde ist sein Bruder nicht, sondern Feind, und wenn er sie erobert hat, schreitet er weiter. […] Er behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen. Sein Hunger wird die Erde verschlingen und nichts zurücklassen als die Wüste. […] Denn das wissen wir – die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das eine Familie vereint. Alles ist verbunden. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist darin nur eine Faser. Was immer ihr dem Gewebe antut, das tut ihr euch selber an. […] Wir werden euer Angebot bedenken. Wir wissen, wenn wir nicht verkaufen, kommt wahrscheinlich der weiße Mann mit Waffen und nimmt sich unser Land. […] Aber warum soll ich trauern um den Untergang meines Volkes. Völker bestehen aus Menschen – nichts anderem. Menschen kommen und gehen wie die Wellen im Meer. […] Auch die Weißen werden vergehen, eher vielleicht als alle anderen Stämme. Fahret fort, euer Bett zu verseuchen, und eines Nachts werdet ihr im eigenen Abfall ersticken.



12



13

Erzählung nach einer Rede des Häuptlings Seattle vor dem Präsidenten der USA im Jahre 1855: Wir sind ein Teil der Erde, auf: http://www.humanistische-aktion.de/seattle.htm (Stand: 24.07.2020) »Großer Häuptling in Washington«: Gemeint ist der US-amerikanische Präsident; 1854 hatte Franklin Pierce dieses Amt inne.

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 Arbeitsanregungen  Stellen Sie das Verhältnis der Indianer und der Weißen zur Natur nach Häuptling Seattle in tabellarischer Form gegenüber. Erarbeiten Sie die von Häuptling Seattle angeführten Gründe, warum die Natur ge schützt werden sollte, und erörtern Sie diese hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft.

 M 3   Holistisches und anthropozentrisches Weltbild

Natur

Mensch

natürliche Mitwelt

Umwelt

Mensch

Eigentum

Holistisches Weltbild

Anthropozentrisches Weltbild

 Arbeitsanregungen  Beschreiben Sie das holistische und das anthropozentrische Weltbild anhand der Abbildungen.

 Diskutieren Sie, inwieweit eine neue ethische Orientierung gegenüber der Natur und eine neue Ordnung des Eigentumsrechts zum Schutz der Umwelt erforderlich erscheint.



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 M 4   John Passmore: Der Mensch kann die Natur nicht zerstören14

Der Glaube, die Natur sei heilig, kann Versuche, sie zu retten, sogar behindern. Man könnte sagen, dass die Göttlichkeit der Natur dafür einstehe, dass sie sich um sich selbst kümmert. […] [E]ine göttliche Natur kann der Mensch nicht zerstören. Unsere ökologischen Krisen ernst nehmen heißt erkennen erstens, dass der Mensch von der Natur vollkommen abhängig ist, aber zweitens auch, dass die Natur verwundbar ist gegenüber der Ausbeutung des Menschen. Beide, Mensch und Natur, sind von zerbrechlicher Konstitution, obwohl ihre Erneuerungskräfte bemerkenswert sind. Und dies bedeutet, dass weder Mensch noch Natur heilig oder gottähnlich sind.

 Arbeitsanregungen finden sich unter M6.

 M 5   Dietmar von der Pfordten: Glaube und Rationalität15

Für alle pantheistischen bzw. religiös-holistischen Rechtfertigungen gilt: Die interne Theoriestruktur mag vielfach plausibel sein und die Anthropozentrik […] überwinden. Die religiös-metaphysischen Annahmen entziehen sich jedoch einer rationalen Rekonstruktion und bleiben Glaubenssache. Dem kann nicht entgegengehalten werden, auch jede andere Ethik mache ähnliche religiös-metaphysische Annahmen. Richtig ist, dass jede Ethik auch Deskriptionen über die Welt einschließt. Der zentrale Unterschied besteht aber darin, ob diesen Annahmen ein ausschlaggebender Stellenwert eingeräumt und sie über das auch dem Alltagsverständnis ohne weiteres Einleuchtende ausgedehnt werden, ob also eine religiös-metaphysische Annahme zum Zentralpunkt des ethischen Systems gemacht wird. […] Nur schwer zu rechtfertigende religiös-metaphysische Annahmen sollten nicht ohne Notwendigkeit eingeführt werden. Und wer meint, die drohende ökologische Katastrophe impliziere eine solche Notwendigkeit, der irrt in der Annahme, die Wünschbarkeit eines Mittels garantiere dessen Existenz.

 Arbeitsanregungen finden sich unter M6.



14



15

Passmore, John: »Den Unrat beseitigen. Überlegungen zur ökologischen Mode«, übers. von Klose, Dietrich in: Birnbacher, Dieter (Hrsg.): Ökologie und Ethik, UB 9983, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1991, S. 207–246: S. 212. Von der Pfordten, Dietmar: Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, re 567, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, S. 108–109.

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 M 6   Friedrich Rapp: Versachlichung der Welt16

Der im Sinne der Völkerkunde verstandene Mythos, d. h. die distanzlose Identifikation des einzelnen und der Gruppe mit einer heiligen Erzählung, die allen Lebensund Naturvorgängen erst ihre Sinndeutung verleiht, gehört in der ›zivilisierten‹ Welt der Vergangenheit an. An die Stelle magischer Naturkräfte und des Wirkens der Götter ist für den modernen Menschen die nüchterne Erkenntnis der Naturphänomene und des historischen Geschehens getreten. Solche Aufklärungsprozesse sind irreversibel. Ob man den Verlust einer vermeintlich heilen, geschlossenen Welt als die Austreibung aus dem Paradies bedauert oder ob man darin den Aufbruch zur selbstbestimmten Mündigkeit und zur vernunftorientierten Lebensführung sieht, das Vergangene ist unwiederbringlich dahingegangen. […] Die Entzauberung und Versachlichung der Welt durch die mathematischen Naturwissenschaften und die Erfolge der industriellen Technik haben den Mythos als Naturerklärung endgültig abgelöst.

 Arbeitsanregungen  Erarbeiten Sie in einem Gruppenpuzzle die in den Texten M4 bis M6 vertretenen Positionen.

 Stellen Sie die Kriterien dar, die sich für eine zeitgemäße ökologische Ethik aus den in M4 bis M6 geäußerten Kritikpunkten an mythologisch-holistischen Naturanschauungen ergeben. Informieren Sie sich über den Klimawandel und die neuen Mythen, die um ihn bestehen.  Prüfen Sie, inwieweit die Mythen um den Klimawandel den aus M4 bis M6 entwickelten  Kriterien zur Begegnung der ökologischen Herausforderungen genügen.



16

Rapp, Friedrich: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1992, S. 116.



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 M 7   Eckhard Meinberg: Anthropozentrismus17

Um der Gefahr einer terminologischen Irritation zu entgehen, muss […] der Begriff Anthropozentrismus geklärt werden. Was hat es mit ihm auf sich? Wörtlich gelesen, bescheinigt er dem Menschen ein Zentrum, ja, eine zentrale Stellung in der Welt […]. Anthropozentrismus ist, sofern man auf die philosophische Anthropologie rekurriert, ein deskriptiver Begriff, mit dem der Ort des Menschen in der Welt definiert werden soll. In der Ökologiediskussion hat dieser Begriff indes seine ›Harmlosigkeit‹ verloren, glaubt man, dass der Mensch seine einzigartige Stellung immer mehr missbraucht habe, indem er sich zum Alleinherrscher über den Kosmos aufgeschwungen hat, indem er rücksichtlos und unbarmherzig gegenüber allem anderen, was sich in und auf der Weltbühne befindet, seine Interessen ausnutze. Ein solches Verhalten wird als anthropozentrisch interpretiert. […] Sofern, wie hier, unter Anthropozentrismus die ursprünglich wertneutrale Ansicht verstanden wird, dass dem Menschen im Kosmos ein besonderer Status zukomme, ist Anthropozentrismus auch heute, selbst bei Physiozentrikern in Kraft […]. Wie wenig eine ökologische Ethik um diesen […] Anthropozentrismus herumkommt, wie sehr in alledem der Mensch privilegiert ist, zeigt sich u. a. darin, dass nur der Mensch über das Ganze der Welt nachdenkt, inmitten der Welt seinen Standort festlegen und sein Verhältnis zum Nicht-Menschlichen bestimmen kann. […] Der Mensch muss sich geradezu chronisch anthropozentrisch auf die Natur einlassen, weil einzig er sein Verhalten zur außermenschlichen Natur interpretieren und moralisch ordnen kann. […] Immer ist es der Mensch, der die Verhältnisse zur Natur auch menschlich bestimmt, und er tut dies letztlich immer für Menschen, sie sind die Gesprächspartner und Adressaten seiner Ethiken und Moralrezepturen. Was es dagegen abzuwehren gilt, ist jener ›bösartige‹ Anthropozentrismus, der den Menschen ›zum Maß aller Dinge‹ macht und ohne Rücksicht auf Naturverluste eben diese natürliche Umwelt in einen Selbstbedienungsladen umfunktioniert.

 Arbeitsanregung  Erklären Sie die beiden von Meinberg vorgenommenen Unterscheidungen des Begriffs Anthropozentrismus und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Umweltethik.



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Meinberg, Eckhard: Die Moral im Sport. Bausteine einer neuen Sportethik, Meyer & Meyer Verlag, Aachen, 1991, S. 142, 146–147.

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 M 8   Jean-Jacques Rousseau: Zur Entstehung des Eigentums18

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: »Das ist mein« und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: »Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde keinem!« […] Auf den Anbau der Felder folgte notwendigerweise ihre Teilung und auf das nun mehr anerkannte Eigentum dann die ersten Gesetzesvorschriften […]. [Da] das Eigentumsrecht nur auf Übereinkunft und menschlicher Satzung beruht, kann jeder Mensch über das, was er besitzt, nach seinem eigenen Gutdünken verfügen.

 Arbeitsanregung  Beschreiben Sie die Entstehung des Eigentums nach Rousseau und dessen gesellschaftliche Konsequenzen.

 M 9  Héctor Zagal/José Galindo: Ökologie und die Grenzen des Privateigentums19

Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat die Idee verbreitet, dass das Recht auf Privateigentum uneingeschränkt gelte, dass es ein Recht zum Gebrauch, Genuss und Missbrauch unseres Besitzes sei. Ein Eigentümer, so dachte man, könne mit seinem Besitz anfangen, was er wolle. Diese Einstellung war für die Umwelt verhängnisvoll. Die Ökologie hat deutlich gemacht, wie sehr eine Erneuerung der Eigentumsethik notwendig ist. Der einzelne Mensch ist kein uneingeschränkter Herr über den Teil der Erde, der ihm »gehört«, und über ihre Rohstoffe. In irgendeinem Sinne gehören die Rohstoffe der ganzen Menschheit. Auch auf materieller Ebene gibt es so etwas wie eine Einheit und Solidarität der Gattung Mensch. Wenn ein Land alle seine Wälder rodet, dann ändert sich in einem anderen Land das Klima. So geht man zum Beispiel davon aus, dass die Klimaveränderungen in Kalifornien durch die Zerstörung des tropischen Regenwaldes am Amazonas verursacht wurden. […]



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19

Rousseau, Jean-Jacques: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«, in: Weigend, Kurt (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau. Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übers. von Weigend, Kurt, Philosophische Bibliothek Band 243, Felix Meiner Verlag, Hamburg: 51995, S. 62–269: S. 191–193, 217, 243. Zagal, Héctor; Galindo, José: Ethik für junge Menschen, a. a. O., S. 213–214.



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Die Ursache – die Gase fossiler Brennstoffe – und ihre Auswirkungen – der saure Regen – können Tausende von Kilometern auseinander liegen. Wenn unsere Generation die CO2-Emissionen nicht drastisch reduziert, werden unsere Enkel mit den katastrophalen Auswirkungen einer Erwärmung der Erdatmosphäre zu kämpfen haben. […] Es gibt eine Verbundenheit der Menschheit untereinander, die über die Grenzen der Länder hinausreicht (was am Amazonas geschieht, wirkt sich in Kalifornien aus) und auch über das jeweilige Zeitalter, in dem wir leben (ich lebe in der Welt, die mir von meinen Eltern überlassen wurde). Deswegen muss die ökologische Ethik von Neuem über die Grenzen des Rechtes an Privateigentum nachdenken. Ein Mensch, der auf seinem Grundstück alle Bäume abholzt, beeinträchtigt das Klima der umliegenden Gebiete. Die ökologische Ethik stellt die Moral des Cowboys in Frage. Das Einzige, was für den Cowboy zählte, waren seine Ranch und seine Kühe; was jenseits seines Geländes passierte, war ihm egal. Der Cowboy arbeitete für einen privaten Grundbesitzer. Die Grenzen seiner Ländereien waren die Grenzen der Welt des Cowboys. Die ökologische Ethik dagegen erinnert uns daran, dass wir alle in einem Boot sitzen: im wankenden Boot der natürlichen Welt.

 Arbeitsanregung  Stellen Sie die Gründe dar, die nach Zagal und Galindo eine Änderung des Eigentumsrechts erforderlich machen.

 M10   Otfried Höffe: Selbstinteresse und Selbstschädigung20

Wer die ökologische Krise lediglich als »Eigentor« versteht, sieht bloß einen Teil […] der Wahrheit: die Umwelt als ein der Menschheit gemeinsames Gut. Ein gemeinsames Gut – die politische Ökonomie sagt: öffentliches Gut – ist aber etwas grundsätzlich anderes als ein individuelles Gut, nur auf eine größere Handlungseinheit übertragen. Weil Gruppen im Gegensatz zu Individuen sich als nur partiell homogene Handlungseinheiten darstellen, liegt die Beförderung eines Gruppeninteresses selbst dann, wenn ein allgemeines Interesse gegeben ist, nicht umstandslos im Selbstinteresse jedes einzelnen. Die strukturellen Schwierigkeiten, die sich aus diesem Sachverhalt ergeben, schlagen auf die ökologische Ethik durch […]. Tritt in der Überbeanspruchung der Natur, weil sie jeden einzelnen schlechter stellt, dann nicht doch bloße Dummheit zutage? Aus dem einfachen Grund, dass der Vorteil der Mehrbeanspruchung individuell, der Nachteil aber kollektiv zu Buche schlägt, trifft es nicht zu. […] [D]ie Privatpersonen bereichern sich auf Kosten der

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Höffe, Otfried: Moral als Preis der Moderne, a. a. O., S. 167–171.

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Allgemeinheit. Weil dem einzelnen der Nutzen voll zugute kommt, der Schaden dagegen großzügig mit den anderen geteilt wird, fällt für den einzelnen die NutzenSchaden-Bilanz positiv aus. Wenn zum Beispiel jemand, der sich bisher auf den öffentlichen Verkehr verlassen hat, aus Zeitgründen das Auto benützt, so fällt die Umweltbelastung, die auf ihn zurückfällt, geringer aus als der persönliche Vorteil. […] Nicht wer die Mehrbeanspruchung vornimmt, widerspricht dem Selbstinteresse, sondern paradoxerweise derjenige, der freiwillig auf sie verzichtet; töricht ist, wer sich in der möglichst extensiven Nutzung öffentlicher Güter zurückhält. […] [V]om individuellen Selbstinteresse her ist die kollektive Selbstschädigung nicht schlechthin geboten, sondern nur unter der Bedingung, dass der Vorteil dem Betreffenden voll zugute kommt, nicht aber der Nachteil. Sobald die Bedingung entfällt und man entweder den Vorteil ebenfalls nur zu einem Bruchteil erhält oder aber den Nachteil voll zu tragen hat, wandelt sich die »Selbstschädigung aus Selbstinteresse« in eine Selbstschädigung, die dem Selbstinteresse widerspricht. […] Mittlerweile dürfte die Situation gegeben sein; jeder partizipiert so stark an der Umweltbelastung der anderen, dass er ein Interesse an Absprachen hat, mit deren Hilfe man die Gesamtbelastung reduziert. […] Wie auch immer die Absprachen lauten – sie müssen so wirksam durchgesetzt werden, dass sich ein Verstoß nicht lohnt. […] Zuständig für wirksame Absprachen ist die Rechts- und Staatsordnung. […] Tatsächlich richten sich die Forderungen eines ökologischen Weltethos21 unmittelbar an eine Rechts- und Staatsordnung und nur mittelbar, über das Medium dieser Ordnung, an die Individuen. Darin liegt denn auch eine Erleichterung der Aufgabe: verlangt ist nicht, womit man sich in der Regel nur überfordert, ein neuer Mensch, sondern lediglich ein neues Recht. […] Die Reaktion der Menschheit auf die ökologische Krise erfolgt nun so schnell, wie in der Regel internationale Verträge zustande kommen: signifikant langsamer als innerstaatliche Absprachen.

 Arbeitsanregungen  Erarbeiten Sie die von Höffe dargestellten Verhältnisse von Selbstinteresse und Selbstschädigung hinsichtlich der Naturbeanspruchung.

 Erklären Sie die Bedingungen, unter denen Menschen bereit sein können, rechtliche Vereinbarungen zum Umweltschutz zu treffen.



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Weltethos: Ethos bezeichnet die sittliche Haltung Einzelner und Gruppen beziehungsweise Institutionen. Im Hinblick auf die Welt umfasst das Ethos verbindende und verbindliche Werte, Normen und Ziele aller Menschen.



Wem gehört die Natur?

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 M11  Dieter Birnbacher: Der Klimawandel – eine Herausforderung für Moral und Ethik22

Der Klimawandel erzeugt weniger Leidensdruck als die Umweltverschmutzung. Das Problem wird leichter verdrängt, vor allem, weil es erst mittelfristig, in der nächsten und übernächsten Generation in voller Schärfe spürbar sein wird. Außerdem werden sich seine schädlichsten Folgen nicht in den von den Hauptverursachern der Treibhausgasemissionen bewohnten Regionen, sondern in Regionen wie Afrika und Südasien bemerkbar machen, die wirtschaftlich über weniger Anpassungspotenzial und weltpolitisch über weniger Einfluss verfügen. Hinzu kommt, dass zur Bekämpfung des Klimawandels technische Lösungen keine ernsthafte Option sind oder den Gesamtprozess allenfalls verzögern. Erforderlich erscheinen vielmehr grundlegende Änderungen des Lebensstils, an den wir uns in den letzten 30 Jahren gewöhnt haben, und der ihn tragenden gesellschaftlichen Normen. Änderungen der gesellschaftlichen Normen vollziehen sich im Allgemeinen nicht von heute auf morgen, sondern brauchen Zeit und Geduld und bringen Reibungsverluste mit sich. Was uns nicht auf den Nägeln brennt, motiviert uns nur sehr schwer zum Handeln, vor allem dann, wenn es bedeutet, eingefleischte Gewohnheiten aufzugeben. Das erklärt die auffällige »Motivationslücke«, die auch die noch so lebhafte Darstellung der Folgen des Klimawandels in den Medien nicht schließt. Während die große Mehrheit der Menschen die Folgen des Klimawandels für außerordentlich beunruhigend hält, wirkt sich diese Beunruhigung nur wenig auf das tatsächliche Verhalten aus. So wird von Jahr zu Jahr nicht etwa weniger Auto gefahren, werden nicht weniger Flugreisen unternommen und wird nicht weniger geheizt, sondern ganz im Gegenteil von allem mehr. Insofern ist es durchaus verständlich, dass Greta Thunberg und die Bewegung Fridays For Future weltweit zwar auf viel Zustimmung stoßen (und nicht nur bei den Jüngeren), aber in der Gesellschaft insgesamt auch auf viel Ablehnung. Ein wirksamer Klimaschutz ist schwer vorstellbar unter Beibehaltung unbegrenzten Autofahrens, billiger Flugreisen und täglichen Fleischkonsums. Vielmehr macht eine Anpassung an die Klimavorgaben im Großen wie im Kleinen weitreichende Umstrukturierungen und Verhaltensänderungen notwendig, und diese lassen sich nicht immer vermitteln, ohne ausdrücklich auf moralische Prinzipien Bezug zu nehmen. Diese stoßen jedoch statt auf Akzeptanz häufig auf Widerstand. […] Klimaethik ist der Versuch, moralische Erwägungen und Überlegungen von übergreifender Reichweite, für die Diskussion um Klimastrategien fruchtbar zu machen. Moralische Überlegungen sind bereits vom Begriff her universalistisch und berücksichtigen neben dem Hier und Jetzt das in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht Entferntere und Fremde gleichberechtigt mit dem Naheliegenden und Vertrauten. Birnbacher, Dieter: »Der Klimawandel – eine Herausforderung für Moral und Ethik«, a. a. O., S. 4–5.

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 Arbeitsanregungen  Erläutern Sie die von Birnbacher genannten Schwierigkeiten, vor denen ein nachhaltiger Klimaschutz steht.  Vergleichen Sie die in M10 und M11 vorgenommenen Diagnosen hinsichtlich der Motivation zum Umweltschutz und die jeweils vorgeschlagenen Lösungswege aus der ökologischen Krise. Entwickeln Sie mögliche konkrete Maßnahmen im Bereich der individuellen Lebens führung und des institutionalisierten Rechts, die aus den beiden Positionen (M10 und M11) folgen, und diskutieren Sie deren Realisierbarkeit.  Informieren Sie sich über das Klimaabkommen von Paris aus dem Jahr 2015 und setzen Sie dieses in Beziehung zu den Aussagen der Materialien M10 und M11.  Diskutieren Sie, welcher Stellenwert rechtlichen und moralischen Reformen bei der Begegnung der ökologischen Herausforderungen zukommt.

Bilder von der Welt Erkenntnistheoretische Überlegungen mit der Graphic Novel Ganz allein von Chabouté Sven Dallmann

 D

ie Graphic Novel Ganz allein von Chabouté zeich­net den Alltag eines Mannes im mittleren Alter nach. Er hat sein gesamtes Leben zurückgezogen auf einem ab­gelegenen Leuchtturm verbracht. Zwei Seemänner, vor denen er sich jedoch versteckt, bringen ihm jede Woche Kisten mit Lebensmitteln vorbei. Seine Zeit vertreibt sich der Mann vor allem damit, dass er zufällig ausgewählte Lexikonartikel liest, die seine Vorstellungskraft beflügeln.

  Die gesellschaftliche Wirklichkeit Ist ein Leben in Einsamkeit lebenswert? Vermitteln Ein­träge in Lexika und Enzyklopädien ein adäquates Bild der Wirklichkeit? Diese zentralen Fragen in Chaboutés Ge­schichte lassen sich auf das aktuelle Leben der Jugend­lichen übertragen. Für den Ethik- und Philosophieun­terricht eröffnet sich hier die Möglichkeit, die im Comic aufgezeigten gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu inter­pretieren und diese zu erörtern. Bildgeschichten können als Lebensweltbezug1 dienen, der die Grundlage für wei­tere philosophische Auseinandersetzungen bildet.

  Comics »lesen« als aktiver ganzheitlicher Prozess Ganz allein wird fast ausschließlich aus der Sicht des gleichnamigen Pro­t agonisten erzählt. Über viele Seiten hinweg kann aus dessen Blickwinkel das Meer, der Flug der Möwen und das Innere des Leuchtturms beobachtet werden. Chabouté nutzt seine Zeichnungen, um die Emotionen (durch das Abbilden von Mimik und Gestik) und auch die menta­len Vorstellungen des Protagonisten sichtbar zu machen.



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Vor allem kurze Comicstrips in Tageszeitungen spiegeln aktuelle Lebensverhältnisse wider. So zeigen die amerikanischen Zeitungen die politische und sozialen Verhältnisse der Einwanderungsmetropole New York im 19. Jahrhundert (vgl. dazu Knigge, Andreas C.: »Geschichte und kulturspezifische Entwicklungen des Comics«, in: Abel, Julia; Klein, Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 3–37: S. 6–7.

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Sven Dallmann

Um einen Comic zu verstehen, ist eine selbstständige komplexe Lese- und Denkleistung erforderlich. Durch das Betrachten der Körpersprache und der Mimik wer­den beispielsweise äußere und innere Geschehnisse in­terpretiert und die Atmosphäre der Geschichte emotional erfasst. 2 Text- und Bildsprache werden zueinander in Be­ziehung gebracht sowie Nicht-Gezeigtes aus der Fantasie ergänzt. Um den Handlungszusammenhang zu erschlie­ßen, ist es notwendig, die Beziehung der verschiedenen Panels zueinander zu betrachten. Dies ist ein anspruchs­ volles Vorgehen, das Schülerinnen und Schüler auf ratio­nale und affektive Art anspricht und motiviert. Erst wenn das Verständnis der Bildgeschichte gewährleistet ist, kön­nen philosophische Fragestellungen entdeckt und frucht­bar gemacht werden.

  Umgang mit Medien einüben Da Ganz allein nur wenige gesprochene Wörter enthält, wird die Aufmerksamkeit beim Lesen gezielt auf die Bil­der gelenkt. Wie in einem »Papierschauspiel« 3 kommt der Mimik, Gestik und anderen Symbole so eine größere Bedeutung zu. Comics, die selbst als Hybriden aus Bild- und Schriftsprache verstanden werden können, weisen eine Nähe zu verschiedenen anderen Medien auf. Durch die Auseinandersetzung mit graphischen Gestaltungsmitteln können im Ethik- und Philosophieunterricht Fähigkeiten eingeübt werden, die beim Verständnis von Medien wie Bild und Film helfen. Beispielsweise bedienen sich viele Bildgeschichten Motiven aus der Literatur oder Kunst und übernehmen Kameraperspektiven aus Filmproduktionen. Chaboutés Graphic Novel rückt die Medien Lexika und Fotographien in den Mittelpunkt und thematisiert deren erkenntnistheoretischen Gehalt.

  Philosophische Relevanz und Stereotype Mehrfach wurde die Komplexität von Comicbildern betont. Für den Unterricht ergibt sich daher die Konsequenz, dass die Fähigkeit, Bildgeschichten zu »lesen«, über einen längeren Zeitraum eingeübt werden muss. 4 Eine zusätz­liche Herausforderung ist die Anbindung an den philoso­phischen Kontext. Bildgeschichten passen nie in ihrer Vollständigkeit zu einem philosophischen Thema und die Schülerinnen



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4

Vgl. Grünewald, Dietrich: »Die Kraft der narrativen Bilder«, in: Hochreiter, Susanne; Klingenböck, Ursula (Hrsg.): Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel, Transcript, Bielefeld 2014, S. 39–42. Groensteen, Thierry: »Zwischen Literatur und Kunst. Erzählen im Comic«, übers. von TempferNaar, Doris, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, Heft 33–34 (Ausgabe vom 11. August 2014): ­Comics, S. 35–48: S. 35. Vgl. Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, Basiswissen Philosophie, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 116.



Bilder von der Welt

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und Schüler müssen erst lernen, die philosophisch rele­vanten Gedanken zu erkennen und zu verstehen. 5 Um Ideen und Begebenheiten leicht erkennbar dar­zustellen, bedienen sich Comics notwendigerweise Ste­reotypen. 6 Bildgeschichten wurden schon früh so gestal­tet, dass sie eine erzieherische Absicht verfolgten oder einer bestimmten politischen Weltanschauung ent­sprachen. Ziel eines kritischen und reflexiven Umgangs mit dem Medium sollte es daher sein, entsprechende Manipulationsmechanismen zu hinterfragen und in Be­zug zur Lebenswelt zu setzen. In Ganz allein bedienen die beiden Seemänner das Ste­reotyp des »einsamen Wolfes« und der Protagonist das des von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Bereits das Titelbild greift diese Assoziation auf. Auch wenn die Geschichte keinen belehrenden Tonfall hat, so lassen sich aus dem Verlauf der Narration dennoch Handlungsemp­ fehlungen ableiten. So kann das Ende der Geschichte als Antwort auf die Frage interpretiert werden, inwiefern der Protagonist seine Einsamkeit hinter sich lassen sollte. Im Unterricht könnten hier alternative Handlungsverläufe be­sprochen und miteinander verglichen werden.

  Ganz allein im Unterricht Die Unterrichtseinheit konzentriert sich auf erkenntnis­theoretische Fragestellungen und ist für die Sekundar­s tufe I geplant. Für die Oberstufe kann das Material um zusätzliche erkenntnistheoretische Texte entsprechend des Lehrplans erweitert werden (z. B. Hume und Kant). Die vorliegenden Materialien ermöglichen es durch das fiktive Szenario, die Schülerinnen und Schüler im hypo­thetischen Denken zu schulen. Weiterhin führt die Er­schließung der Bildgeschichte dazu, dass die Komple­ xität und Perspektivität der Erkenntnis erörtert werden können. Die Graphic Novel dient im Unterricht zunächst als Hinführung und Problemeröffnung. Der Protagonist lebt praktisch isoliert und erfährt nur mittelbar von der Welt jenseits des Leuchtturms. Dieses Szenario birgt die skeptische Frage, ob bzw. wie er gesichertes Wissen über das Festland erwerben kann (M1). Hierfür sollen verschie­dene Informationsquellen dahingehend bewertet werden, inwiefern sie zuverlässige Aussagen über die Welt auf dem Fest­land liefern. Das Erstellen eines eigenen Lexikonartikels bereitet die Auseinandersetzung mit den Inhalten des nächsten Arbeitsblattes vor und soll einem späteren Ver­gleich mit dem Lexikoneintrag des Comics dienen. Die vier Panels auf dem zweiten Arbeitsblatt (M2) stellen einen Wahr­neh­mungs­ pro­zess dar, welcher zu falschen Vorstellungsbildern führt. Das oberste Panel zeigt zunächst den Protagonisten, der an seinen Fehlbildungen im Gesicht zu erkennen ist, als Informationsempfänger. Es folgt ein Ausschnitt aus des­sen Vorstellung über

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McLaughlin, Jeff: »Deep thinking in graphic novels«, in: The Philosophers‘ Magazine 60, 2013, ­I ssue 1: No Language Games, p. 44–50: p. 47. Vgl. Eisner, Will: Graphisches Erzählen – Graphic Storytelling, übers. von Guhde, Joachim, überarbeitet von Granacher, René; Zimmer, Miriam, Comic Press Verlag, Wimmelbach 1998, S. 23–24.

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Sven Dallmann

Konfetti, in der die Größe der Konfettischeiben noch nicht eindeutig einzuschätzen ist. Das dritte Panel zeigt das eigentliche Objekt der Wahrneh­mung, den Lexikonartikel. Im letzten Panel werden die Vorstellungen nun aus anderer Perspektive gezeigt und die falschen Proportionen des Konfettis sind erkennbar. Die Panels auf dem dritten Arbeitsblatt (M3) erweitern das Gedankenexperiment: Ist es möglich, gesicherte Aus­sagen über die Welt zu treffen – lediglich auf der Grund­lage eines Lexikons, zahlreicher Fotos sowie der eigenen beschränkten Erfahrung? Bei der gemeinsamen Auswer­tung können fehlende Sinneseindrücke (z. B. Gerüche oder Klänge) sowie systematische Unterscheidungen des Gegenstandes (wie verschiedene Froscharten) zur Spra­che kommen. Die Erkenntnisse werden anschließend auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und den Umgang mit digitalen Medien übertragen. Den Abschluss der Einheit bildet die Frage, ob man ein glückliches Leben führen kann, obwohl man hinsichtlich seiner Erkenntnismöglichkeiten stark eingeschränkt ist. Dies kann mithilfe des Verweises auf die menschliche Natur, das Streben nach Wahrheit oder den Wunsch nach Sicherheit geschehen. Als Anregung zur Diskussion kann der Vor­schlag Pyrrhons von Elis dienen, durch eine Urteilsent­haltung zum Gleichmut der Seele (ataraxia) zu finden. Auf diesen Zusammenhang verweist die letzte Frage (M4).



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Bilder von der Welt

  Weitere Passagen für den Unterrichtseinsatz Seiten 96–98

116–120, 147–150

Inhalt Es werden nacheinander Ausschnitte eines Pferdes und eines antiken griechischen Reiters gezeigt. Erst am Ende wird das ­Gesamtbild gezeigt – ein Kentaur.

Wie setzen sich unsere Vorstellungen zusammen?

»Ganz allein« stellt sich zum Lexikonartikel des Begriffes Podologie vor, wie unter­ schiedliche Füße untersucht werden. Dabei werden nicht nur Menschen vermessen, sondern auch die »Füße« von Lampen und Stühlen.

Inwiefern kann Sprache die Wirklichkeit korrekt wiedergeben?

Später werden die Begriffe »Pilze« und »Oboe« nachgeschlagen. 142–145, 334–340

Fragen im Unterricht

Den Protagonisten plagen Gewissens­bisse, als er vor seinem Aquarium einen aus dem Meer gefangenen Fisch zubereitet und isst. Er entschuldigt sich bei seinem Fisch.

Welche wahren Vorstellungen können in zusammengesetzten falschen Vorstellungen enthalten sein?

Was macht eine gute bzw. nützliche Definition aus? Können wir Phänomene verstehen, indem wir nur über sie lesen bzw. mittelbar von ihnen erfahren? Ist es gerechtfertigt, Tiere zu essen oder als Haustier zu halten?

Der Lexikonartikel zu »Gefangenschaft« wird aufgeschlagen und führt dazu, dass »Ganz allein« seinen Fisch freilässt. 218–223

Vor dem Leuchtturm wird von einer Touristin eine Boulevard-Zeitschrift liegen gelassen. Sie enthält »Promi-News«, Werbeanzeigen und Horoskope.

Verschiedene Fragen zur Medienethik und -kritik sind möglich.

165–166, 266–2727

»Ganz allein« liest den Lexikoneintrag zu »Monster« und bezieht diesen auf sein ­Äußeres.

Was ist Schönheit?

Eine imaginäre Fee erfüllt »Ganz allein« einen Wunsch und zaubert seine Fehl­ bil­dungen weg, sodass er sein »neues« ­Spiegelbild betrachten kann.

Wie geht die Gesellschaft mit Menschen um, die von der Norm abweichen? Wie wird festgelegt, was »normal« oder »schön« ist?

308–318

Ausführlich werden viele Fotos von der Welt gezeigt, die der jüngere Seemann vor dem Leuchtturm abgestellt hat.

Ergänzung zum Unterrichtsvorschlag

344–351, 360–365

Der Protagonist wirft sein Lexikon ins Meer. Anschließend sitzt er auf seinem Bett mit einem Strick in den Händen.

Was braucht der Mensch für ein glück­ liches Leben?

Anstatt sich umzubringen, packt er jedoch seinen Koffer und wird von den zwei See­ fahrern abgeholt.



7

Diese Anregung für den Utnerricht verdanke ich Jens Schäfer.

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 M 1   Der Leuchtturm und das Festland8 Ein Mann lebt seit seiner Geburt in einem Leuchtturm auf einem Felsen vor der Küste. Er ist mit jeder Ecke und jedem Gegenstand in dem Turm vertraut. Er kann von dem Felsen aus das Meer, den Himmel und die Möwen beobachten. Jede Woche bringen ihm Seemänner frisches Wasser und Essen. Sie anzusprechen, traut er sich nicht. Als Kind hat ihm sein Vater viel über die Welt erzählt. Jetzt lebt er allein, aber sein Vater hat ihm sein Lexikon dagelassen.

Von links nach rechts: ein Hochzeitsfoto, zwei Bälle, ein Holzpferd, ein Ast und ein Blatt, eine Plastikschaufel, zwei Spielfi­guren von Kämpfern aus dem antiken Griechenland, ein Puzzle mit einer Zeichnung eines Hahns, ein Feuerzeug, ein Tan­nenzapfen, ein Spielzeugauto und ein Federball.

 Arbeitsanregungen  Versetzt euch in die Situation des Mannes, der in dem Leuchtturm lebt. Erläutert, welche sicheren Informationen er über die Welt jenseits des Felsen besitzt.

 Auf dem Bild sind einige Habseligkeiten dargestellt. Klärt dazu folgende Fragen: Welche Gegenstände geben zuverlässige Informationen über die Welt auf dem Festland? Und welche weniger oder gar keine?  Begründet, inwiefern die Erzählungen des Vaters zuverlässige Informationen über das Leben auf dem Festland geben.  Erklärt in Form eines kurzen Lexikoneintrages, was »Konfetti« ist.



8

Chabouté, Christophe: Ganz allein, übersetzt von Wilksen, Kai, Carlsen Verlag, Hamburg 2011, S. 82.



Bilder von der Welt

203

 M 2   Der Lexikonartikel9 In der Graphic Novel Ganz allein liest der Bewohner des Leuchtturms zum Zeitvertreib zufällig ausgewählte Artikel aus dem von seinem Vater hinterlassenen Lexikon und stellt sich den jeweiligen Begriff anschließend vor. Der folgende Ausschnitt zeigt eine solche Situation.

 Arbeitsanregungen  Betrachtet die drei Panels. Erklärt, wie der Text und die Bilder zusammenpassen.  Erklärt, welche Panels sich in der Vorstellung des Mannes abspielen und woran man dies erkennen kann.

 Überlegt, wie die Vorstellungen entstanden sein könnten.  Entscheidet, ob der Bewohner des Leuchtturms nach dem Lesen des Lexikonartikels weiß, was »Konfetti« ist. Begründet eure Aussagen.

9

Ebd., S. 162.

204

Sven Dallmann

 M 3   Fotos von der Welt10 Von einem Seemann bekommt der Mann im Leuchtturm Fotos von der Welt geschenkt, die er betrachtet.

 Arbeitsanregungen  Betrachtet die einzelnen Panels und beschreibt, was ihr seht.  Erklärt, ob der Mann nach dem Betrachten der Fotos weiß, was ein Frosch usw. ist. Begründet eure Auffassungen.

 Stellt euch vor, der Mann könnte sich im Internet Bilder, Videos und Lexikoneinträge von der Welt anschauen. Wie würdest du sein Wissen von der Welt dann beurteilen?

10

Ebd., S. 310.



Bilder von der Welt

205

 M 4   Die Seemänner11

 Arbeitsanregungen  Fasst zusammen, worüber sich die beiden Seemänner unterhalten.  Erläutert, wie die Erwiderung des rauchenden Seemanns gemeint sein könnte  Philosophen wie die griechischen Pyrrhoneer beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Glück und Erkenntnis. Erörtert, ob der Mann im Leuchtturm (nur) im Hinblick auf seine begrenzten Erkenntnismöglichkeiten als glücklich bezeichnet werden kann. Quelle: Dallmann, Sven: »Erkenntnisse über die Welt - Erkenntnistheoretische Überlegungen mit der Graphic Novel Ganz allein von Chabouté«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 37–42.

11

Ebd., S. 70.

 4

  W EITERE MÖGLICHKEITEN IM UMGANG MIT COMICS IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERR ICHT

Der Blick des Anderen Anregungen zum unterrichtlichen Einsatz von Comic-Creator-Apps Anna Klara Jatzkowski

 D

ie nachstehenden Ausführungen thematisieren die Einsatzmöglichkeiten und Potenziale von Comic-Creator-Apps im Unterricht. Anhand von Jean-Paul Sartres Ausführungen über den Blick des Anderen werden im weiteren Verlauf drei konkrete Unterrichtsideen erläutert. Dazu werden zunächst die Grundgedanken der philosophischen Theorie dargelegt, die Vorgehensweise didaktisch sowie methodisch legitimiert und anschließend die Einsatzmöglichkeiten von Comic-CreatorApps exemplarisch vorgestellt.

  Der Blick des Anderen Innerhalb der Frage nach der menschlichen Freiheit bietet Sartres atheistische Position ein Gegenmodell zum Determinismus des menschlichen Handelns. Für Schülerinnen und Schüler hat Sartres Position das Potenzial, die eigene Person nicht als Resultat von Umwelteinflüssen, sondern als einen Entwurf des Selbst wahrzunehmen. Ziel der Auseinandersetzung ist es, dass die Lernenden die Begegnung mit dem Blick des Anderen als zentrale Komponente der Subjekterfahrung erfassen, wobei unterschiedliche Herangehensweisen möglich sind. Innerhalb des zum Teil abstrakten Themenfeldes der Willensfreiheit ist die Beurteilung durch Mitmenschen ein Zustand, den die Lernenden sehr wohl kennen. Dass der Blick und das Urteil der Mitmenschen das Handeln beeinflussen oder sogar bestimmen können, ist für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar. Insbesondere in der Adoleszenz ist das Fremdbild, also die Wahrnehmung der Mitmenschen, von besonderem Stellenwert. Im schulischen Kontext wird immer wieder deutlich, wie sehr das Selbstund Fremdbild der Heranwachsenden voneinander abhängig ist. Diese Abhängigkeit stellt Sartre unter anderem in seinem Werk Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie in den Fokus seiner Untersuchungen über das We-

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Anna Klara Jatzkowski

sen des Menschen.1 Im Zuge dessen betrachtet Sartre die Strukturmomente des menschlichen Miteinanders und stellt dieses als unverzichtbar heraus. Dem Blick des Anderen ordnet Sartre eine Doppelstruktur zu: Durch das Erblicktwerden wird das Ich sich seiner Existenz und der Existenz des Anderen bewusst. Das Ich erblickt und definiert sich selbst, wodurch ein reflexives Bewusstsein entsteht. Sartre verdeutlicht seine Ausführungen mit dem folgenden Beispiel: Eine Person lauscht an einer Tür und späht durch ein Schlüsselloch. Dieser Vorgang geschieht ohne eine bewusste Reflexion der Tat und befindet sich nach Sartre auf der Ebene des nichtthetischen. 2 Die Situation wird durch das Hinzutreten einer Person erweitert, wodurch die spähende Person die Situation durch den Blick des Anderen erfasst. Das Erblicktwerden macht aus dem Voyeur ein Objekt der Betrachtung der hinzugetretenen Person. Im Gefühl der Scham, wie auch im Stolz, sieht sich der Erblickte mit den Augen des Anderen. Mit der Inszenierung dieser exemplarischen Situation verdeutlicht Sartre das Gefühl des Ertapptwerdens und unterstreicht die Rolle des Anderen. Folglich knüpft Jean-Paul Sartre die Bedingung der Beurteilung des Anderen an das Ich-Bewusstsein. Es wird ein unauflöslicher Konflikt konstituiert: Der Blick des Anderen löst beim Ich eine Entwicklung aus, wodurch diesem das Bewusstsein gegenwärtig wird. Es wird zum Objekt und erfährt sich selbst durch den Blick des Anderen. Signifikant ist nicht das bloße Phänomen des Blicks, vielmehr bedeutsam ist das mit dem Blick verbundene Urteil, dass das Ich zum Objekt macht. Mithin wird das Ich in seiner Freiheit determiniert, da es durch den Moment des Erblicktwerdens festgelegt wird und die Weltsicht des Anderen nicht zugänglich ist. Nach Jean-Paul Sartre ist das zentrale Moment der Blick des Anderen, da das Ich seinen Seinszustand, insbesondere im Gefühl der Scham oder des Stolzes, reflektiert und sich infolgedessen zum Subjekt heranbildet. Um Sartres Vorstellung des reflexiven Selbstbezugs für Schülerinnen und Schüler nachhaltig erfahrbar zu machen und sie in die Grundlagen seines Existenzialismus einzuführen, bietet die Nutzung von Comic-Creator-Apps bemerkenswerte Potenziale, die im Folgenden näher betrachtet werden.

  Legitimation des Einsatzes von Bildbearbeitungs-Apps Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Medienwissenschaft und Hirnforschung hebt Jörg Peters hervor, dass die Gegenwart von Jugendlichen aufgrund der Vielzahl an visuellen Medien stark durch Bilder geprägt ist. Entsprechend haben sich die Sehgewohnheiten von Schülerinnen und Schülern modifiziert, wodurch es Ihnen



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2

Vgl. Biemel, Walter: Jean-Paul Sartre, rm 87, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 43. Vgl. Sartre, Jean- Paul: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Wroblewsky, Vincent von, Philosophische Schriften, Bd. 3: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übersetzt von Schöneberg, Hans; König, Traugott, rororo 13316, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 459 und S. 467–475.



Der Blick des Anderen

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leichter fällt, Bilder zu dekodieren und zu analysieren. 3 Die dargestellten Erkenntnisse sind Comics ebenso zuzuschreiben, wobei Comics zusätzlich Inhalte über das Mittel der Sprache transportieren. 4 Darüber hinaus wird Comics eine eminente Beliebtheit zugeschrieben, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass der Einsatz Schülerinnen und Schüler motiviert, sich mit einem philosophischen Problem auseinanderzusetzen. Eine wesentliche Komponente ist zudem der Habitus der heranwachsenden Generation, die als sogenannte Digital Natives aufwachsen und für die die Nutzung digitaler Medien zum Alltag gehört. 5 Online sein gehört zur Realität und ist für Jugendliche nicht mehr wegzudenken: Das eigene Leben wird dokumentiert und geteilt, wobei die Verbreitung von bearbeiteten Fotos mithilfe von Filtern, Smileys und vieles mehr unantastbar ist. Es gibt eine Fülle an Auswahlmöglichkeiten von Bildbearbeitungs-Apps, die nicht nur als Unterhaltungsmöglichkeiten, sondern vielmehr als Kommunikationsform dienen. Befragungen von Jugendlichen veranschaulichen unmissverständlich, welche Potenziale der Nutzung digitaler Medien inhärent sind. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler empfinden die Verwendung von digitalen Programmen für kreative Arbeit als motivierend. Darüber hinaus besteht der Wunsch nach Neuem und Vielfalt, insbesondere im Hinblick auf die medienbasierte Erarbeitung von Unterrichtsinhalten. 6 Während Lehrerinnen und Lehrer eine mangelnde technische Ausstattung in Schulen als Hindernis für digitales Lernen angeben, zeigt der Gerätebesitz von Jugendlichen, dass nahezu jede bzw. jeder 12- bis 17-Jährige ein Smartphone besitzt.7 Die Nutzerzahlen sind einschlägig und trotzdem werden soziale und digitale Medien mit negativen Aspekten konnotiert und deren Verwendung im schulischen Kontext teilweise als Herausforderung wahrgenommen. Die im späteren Verlauf dargelegten Erläuterungen zum unterrichtlichen Einsatz, sollen als Beispiel für einen praktikablen und gewinnbringenden Einsatz von Medien im Philosophieunterricht fungieren, bei dem die Lernenden zusätzlich im Umgang mit digitalen Medien gefördert werden.



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7

Vgl. Peters, Jörg: »Bilder und Comics«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 277–293: S. 280. Der Begriff des Bildes wird im weiten Sinne verwendet und schließt die Visualisierungsform des Comics ein. Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2020, S. 14, auf: https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2019/ (Stand: 06.04.2021). Laut der Studie Schule im digitalen Zeitalter der Bertelsmann Stiftung empfehlen 82% der Schülerinnen und Schüler ihren Lehrern, »häufiger etwas Neues mit digitalen Medien auszuprobieren« (vgl. Abbildung 19). Besonders Schülerinnen und Schüler an Gymnasien wünschen sich dies von ihren Lehrern (87 %), an den Sekundarschulen sind es 82% und an den Gesamtschulen 80% (vgl. Schmid, Ulrich / Goertz, Lutz / Behrens, Julia: Monitor Digitale Bildung. Die Schule im digitalen Zeitalter, Studie der Bertelsmann Stiftung, September 2017 auf: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/BSt_MDB3_Schulen_web.pdf (Stand: 06.04.2021). Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchungen zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, a. a. O., S. 5.

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Anna Klara Jatzkowski

Im Hinblick auf Förderung der Medienkompetenz werden im Umgang mit ComicCreator-Apps verschiedene Kompetenzbereiche geschult. Jedoch ist anzumerken, dass die folgenden Ausführungen sich auf die eigenständige Gestaltung eines Comics seitens der Schülerinnen und Schüler beziehen. Dabei werden Bildbearbeitungs-Apps als digitale Werkzeuge genutzt. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich bei der Gestaltung eines Comics nicht nur mit dem Funktionsumfang der App auseinandersetzen, sondern die jeweiligen Funktionen zielgerichtet einsetzen, wodurch eine Förderung im Bereich des Bedienens und Anwendens von digitalen Medien stattfindet. 8 Im Bereich »Produzieren und Präsentieren« werden die Lernenden angeleitet, die Kernaussagen von philosophischen Texten zu bündeln und neu zu organisieren.9 Anknüpfend daran lernen die Schülerinnen und Schüler, Gestaltungsmittel hinsichtlich ihrer Wirkung einzusetzen. Die Lernenden müssen Fotos zielgerichtet auswählen, die Wirkungsweise von unterschiedlichen Foto- bzw. Comicfiltern reflektieren und die Kernaussagen des philosophischen Textes in stark reduzierter Form in Sprechblasen oder Captions einfügen.10 Demnach stellen Comic-Creator-Apps ein einfaches Werkzeug dar, mit dem passende visuelle Zugänge selbst kreiert werden können. Darüber hinaus wird ein Bezug zur Lebenswelt der Heranwachsenden geschaffen. Die Unterrichtsinhalte werden unter Rückbezug der Apps medienbasiert bearbeitet, wodurch ein veränderter Lernprozess stattfindet, der einerseits eine Variation der Unterrichtsmethoden erzeugt und andererseits eine Förderung der Medienkompetenz der Lernenden mit sich bringt. Daneben begründen sowohl der hohe Beliebtheitsgrad von Bildbearbeitungsprogrammen als auch die positiven Auswirkungen auf die Motivation durch den Einsatz von digitalen Medien die Entscheidung, Comic-Creator-Apps in das Unterrichtsgeschehen aufzunehmen. Auf didaktischer Ebene legitimiert sich die Vorgehensweise durch das 4K-Modell des Lernens, das sich aus den Komponenten der Kreativität, des kritischen Denkens, der Kommunikation sowie der Kollaboration zusammensetzt und damit die Kompetenzen beschreibt, die für Lernende im 21. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sind. In Bezug auf die Gestaltung von Comics wird die Ebene der Kreativität durch die Darstellungsmöglichkeiten der Schülerprodukte erreicht. Eine besondere Rolle spielt die Komponente des kritischen Denkens, die nach dem Ansatz des 4K-Modells zum eigenständigen Arbeiten anleiten soll. Folglich sollen die Schülerinnen und Schüler zur selbständigen Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten, im vorliegenden Fall philosophischen Theorien, befähigt werden. Ausgehend von der Prämisse, dass die erstellten Comics der Lernenden im anschließenden Unterrichtsgeschehen öffentlich präsentiert sowie besprochen und reflektiert werden, wird Innerhalb der folgenden Ausführungen werden die Oberbegriffe und Einteilungen des Medienkompetenzrahmens NRW verwendet, wodurch exemplarisch gezeigt wird, in welchen Bereichen Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer Medienkompetenz gefördert werden. Der Medienkompetenzrahmen NRW ist als PDF verfügbar unter: https://medienkompetenzrahmen.nrw/fileadmin/pdf/LVR_ZMB_MKR_Rahmen_A4_2020_03_Final.pdf (Stand: 06.04.2021). 9 Vgl. ebd. 10 Captions sind Kästchen, die im klassischen Comic Zusatzinformationen enthalten.

8



Der Blick des Anderen

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zudem die Ebene der Kommunikation eingeübt, da die Lernenden ihren Lern- und Arbeitsprozess (mit-)teilen können.11 Zusätzlich kann die Vorgehensweise dem produktionsorientierten Unterricht zugeordnet werden. Wie der Philosophie- bzw. Ethikunterricht die digitale Medien- und Bildaffinität von Schülerinnen und Schülern adäquat nutzen kann und welchen didaktischen Mehrwert Comic-Creator-Apps dabei bieten, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

  Die Einsatzmöglichkeiten von Comic Creator Apps Zunächst stellt sich die Frage nach den Funktionen von Comic-Creator-Apps. Für Android und Apple steht eine Vielzahl solcher Apps zur Verfügung, die kostenfrei genutzt werden können.12 Aufgenommene Fotos werden mithilfe verschiedener Filter, Sprechblasen, Soundwörter und Captions zu einzelnen Comicbildern bzw. Panels generiert. Nutzerinnen und Nutzer können per Klick unterschiedliche Bildeffekte einfügen, Farben sowie Kontraste einstellen und unter Rückgriff auf Sticker verschiedene Wirkungsweisen gestalten. Die Verwendung der Apps bietet im Vergleich zur herkömmlichen Gestaltung von Comics einen zeitökonomischen Vorteil. Im Hinblick auf die Einsatzmöglichkeiten ist anzumerken, dass Comic-Creator-Apps nicht nur für das Unterrichtsgeschehen geeignet sind, sondern auch für die Unterrichtsvorbereitung von Lehrkräften genutzt werden können. Erstellte Comics können beispielsweise als Hinführung zu philosophischen Problemstellungen fungieren oder als Medium für eine inhaltliche Überprüfung oder zur Entlastung philosophischer Theorien eingesetzt werden. Im Folgenden werden drei Unterrichtsanregungen im Hinblick auf Jean-Paul Sartres Blick des Anderen konkretisiert.

  Hinführung und Fokussierung der Problemstellung: Die abgebildete vierteilige Bilderabfolge (vgl. M1) kann als Hinführung zu der Frage nach der Bedeutung des Mitmenschen für das eigene Selbstbild genutzt werden. Die Bilderabfolge, die mithilfe der APP Comica gestaltet wurde, soll die Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, sich auf das philosophische Problem einzulassen, und zugleich den Konflikt der Relation von Fremd- und Selbstwahrnehmung eröffnen. Der Comic fungiert sowohl als Entlastung der komplexen Ausführungen von Jean-Paul Sartre als auch als Medium der Problemfindung. Comics sind dienlich für die Erzeugung von Emotionen und die Anregung der Fantasie.13 Um die Wirkung

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Vgl. Muuss-Merholz, Jöran: »Die 4K-Skills: Was meint Kreativität, Kritisches Denken, Kollaboration, Kommunikation?« auf: https://www.joeran.de/die-4k-skills-was-meint-kreativitaet-kritisches-denken-kollaboration-kommunikation/ (Stand: 06.04.2020). Innerhalb der App- bzw. Playstores sind eine Vielzahl von Apps zu finden, die aus Fotos Comics erzeugen. Die Bezeichnung variiert zwischen Comic Maker, Creator oder Generator. Exemplarisch ist die Comica App für Android Geräte und der Comic Strip- Comic Maker für Apple zu nennen. Vgl. Peters, Jörg: »Mit Wort und Bild philosophieren. Gehören Bilderbücher und Comics in den

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des Comics zu beschreiben, ist die Benennung von Emotionen unabdingbar. Die Schülerinnen und Schüler begründen nahezu automatisch, warum die abgebildete Situation peinliche, beschämende oder unangenehme Gefühle auslöst. Durch diese Vorgehensweise können sich die Lernenden fiktiv mit dem Gefühl der Scham auseinandersetzen, ohne dass sie dazu gedrängt werden, über persönliche Erfahrungen zu sprechen und unangenehme Erlebnisse zu offenbaren. Alternative Zugänge, wie beispielsweise Gedankenexperimente oder das Anknüpfen an Vorerfahrungen, bergen die Gefahr, die Lernenden bloßzustellen. Insbesondere der Moment der Scham wird vermutlich als blamable Situation empfunden, die die Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt öffentlich teilen wollen. Durch die fiktive Abstraktion soll das Gefühl des Genierens umgangen werden. Mithilfe der Sprechblasen können die Lernenden Gefühle sowie Gedanken der abgebildeten Personen verbalisieren und die lückenhafte Bildbeschreibung in Auseinandersetzung mit dem Bild ergänzen.14 Folglich fungiert die Bildabfolge als »Hilfe zur Perzeptbildung«, wie Stefan Maeger es in seinen Ausarbeitungen formuliert.15 Das Gefühl der Scham sowie die Situation des Erblicktwerdens werden reflexiv erarbeitet, ohne konkrete Erfahrungen oder Gefühlszustände der Lernenden in den Fokus zu stellen. Darüber hinaus ist der Einsatz des Comics nicht nur eine mediale Variation, sondern integriert leistungsschwache Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen. Diese können den Comic zunächst detailliert beschreiben, Assoziationen nennen und dadurch einen Zugang zu Sartres Grundgedanken erlangen. Aufgrund des hier zugrunde gelegten Verwendungszwecks des Problemaufrisses wird auf eine umfassende Bildanalyse, wie sie z.B. Maeger postuliert, verzichtet. Das von Stefan Maeger publizierte Fünf-Schritt-Schema zur Bildanalyse ist an dieser Stelle nicht zielführend, da die Schülerinnen und Schüler lediglich zum Problemgehalt hingeführt werden sollen.16 Im Sinne eines problemorientierten Philosophieunterrichts intendiert die abgebildete Situation des Comics einen Aufforderungscharakter, der in die Phase der intuitiven Problemlösung überleitet. Es gilt zu diskutieren, welchen Stellenwert der Blick des Anderen für das eigene Selbst einnimmt, wobei davon auszugehen ist, dass der exemplarische Augenblick des Ertapptwerdens von den Schülerinnen und Schülern abstrahiert wird. Die Diskussion, ob Mitmenschen eine bedeutende Komponente für das Selbstbild des Menschen sind und welcher Stellenwert dieser zugeordnet werden kann, bereitet auf die Textanalyse von Sartres Darlegungen vor (vgl. M2). Der Einsatz von Bildern impliziert neben einer Vielzahl an Chancen auch etwaige Schwierigkeiten. Beispielsweise besteht die Problematik, die individuellen Eindrücke aus der Bildsprache in Worte zu codieren sowie zu artikulieren. Des Weiteren Philosophie- und Ethikunterricht?«, in: Ethik und Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbücher und Comic, S. 8–13: S. 11. 14 Vgl. Maeger, Stefan: »Drei Köpfe, vier Ohren, fünf Sinne. Bildverstehen im Philosophie- und Ethikunterricht der Klasse 9«, in: Ethik und Unterricht 13, 2002, Heft 2: Medium Bild, S. 24–31: S. 31. 15 Vgl. Maeger, Stefan: »Der Reiz der Bilder. Einsatzmöglichkeiten von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht«, Ethik und Unterricht 11, 2000, Heft 3: Methoden, S. 35–41: S. 38 16 Vgl. ebd.



Der Blick des Anderen

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impliziert die Eigentümlichkeit des Comics die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler die Gedankenblasen oberflächlich ergänzen und den Problemgehalt nicht vollständig durchdringen. In diesem Fall muss die Lehrkraft gezielt Impulse einsetzen, um das Gefühl der Scham, die Bedeutung der hinzutretenden Person sowie die daraus resultierende Festlegung herauszuarbeiten. Bei leistungsschwachen Lerngruppen oder aus zeitökonomischen Gründen können Sartres Überlegungen in kurze Textpassagen aufgegliedert werden. Im ersten Schritt können die Lernenden sich kritisch mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern der Blick des Anderen in Relation zum Ich-Bewusstsein nach Jean-Paul Sartre steht, um anschließend zu beurteilen, inwiefern die Mitmenschen die Existenz des Ich-Bewusstseins beeinflussen. Je nach Textgrundlage und Reihenplanung kann zusätzlich über mögliche Auswege aus der Beurteilung des Anderen und dem Rückgewinn des reflexiven Selbst diskutiert werden.

  Produktionsorientierter Umgang mit der Comic-Creator-App Erfahrungsgemäß fällt es den Lernenden oft schwer, komplexe philosophische Texte zu erschließen, obgleich die Textarbeit eine elementare Rolle für den philosophischen Erkenntnisgewinn spielt. Innerhalb der Philosophiedidaktik ist eine Vielzahl von Texterschließungsmethoden publiziert, die sich vordergründig auf analytische Verfahren beschränken. Innerhalb der Deutschdidaktik ist neben der klassischen Textanalyse der Einsatz von produktionsorientierten Verfahren seit den 1980er Jahren gängig, die sich ebenfalls auf den Philosophieunterricht übertragen lassen. Mit produktionsorientierten Verfahren wird die Eigentätigkeit der Lernenden in den Vordergrund gestellt mit dem Ziel, ein Produkt zum Ursprungstext zu erstellen, wie beispielsweise die Erstellung von Comics. Begründbar ist die Auswahl von produktiven Verfahren u. a. damit, dass »für die Herausbildung des Bewusstseins die aktive, praktische Tätigkeit von großer Bedeutung ist.«17 Im Unterschied zum freien, kreativen Arbeiten bildet die kognitiv-analytische Tätigkeit die Grundlage für das produktionsorientierte Arbeiten. Das heißt, dass die von den Schülerinnen und Schülern kreierten Produkte einen Rückbezug zur Textgrundlage aufweisen müssen. In der Diskussion um produktionsorientierten Unterricht wird immer wieder kritisiert, dass sich vorschnell mit den Produkten der Lernenden begnügt wird, ohne die Grundlage einer didaktischen Zielsetzung oder die Überprüfung der ursprünglichen Textaussage zu berücksichtigen. Produktionsorientierte Verfahren können gewinnbringend für ein ganzheitliches Verständnis sein, wenn ein Vergleich mit dem authentischen Text sowie die Begründung durchgeführter Operationen stattfinden, wie der Fachdidaktiker Günther Einecke betont.18 In der UnterrichtspraVgl. Hochstadt, Christiane; Krafft, Andreas; Olsen, Ralph: Deutschdidaktik. Deutschdidaktik: Konzeptionen für die Praxis, UTB 4023, Narr Francke Attempto Verlag, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 2015, S. 154. 18 Vgl. Einecke, Günther: »Produktionsorientierung – Vorsicht vor den leichten Lösungen!«, auf:

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xis bietet es sich daher an, die Aufgabenstellung so anzulegen, dass die Produkte auf den Text zurückführbar sind. Beispielsweise kann ein analytisch-vergleichender Rückbezug über die Angabe von Zeilenangaben erfolgen. Eine weitere praktikable und gleichzeitig zielführende Möglichkeit besteht darin, die Schülerinnen und Schülern in der Aufgabenstellung aufzufordern, die Worte des jeweiligen Philosophen bzw. der jeweiligen Philosophin zu wählen. Mithilfe dessen wird ein kreativer und zugleich objektivierender Umgang mit Leerstellen und den Grundgedanken von tradiertem philosophischem Gedankengut gefördert. Zu beachten ist dabei, dass den Lernenden bewusst gemacht werden muss, dass ihr Produkt das Ergebnis ihrer Auslegung ist und somit als etwas Verändertes verstanden werden muss.19 Um philosophische Texte in ihrer Beschaffenheit und Eigenart zu verstehen, sind produktionsorientierte Verfahren keineswegs der einfachere Weg, sondern vielmehr eine kreative Erweiterung, die einen differenzierten Zugang erschafft. Entsprechend soll der produktive Umgang mit philosophischen Texten die Möglichkeit bieten, »wechselnde Perspektiven einzunehmen, Vorstellung[en] auszubilden und das gegenübertretende Andere und Fremde besser zu verstehen« 20 . Aus lernpsychologischer Perspektive kann Lernen nur dann nachhaltig sein, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst aktiv sind, wobei anzumerken ist, dass analytische Texterschließungsmethoden die Eigenaktivität nicht ausschließen. Trotzdem unterstützen produktionsorientierte Verfahren die Selbstständigkeit, die Schüleraktivierung und ermöglichen einen individualisierten Zugang zu dem Lerngegenstand. Mithilfe von Comic-Creator-Apps können Sartres Darlegungen über den Blick und der Mehrwert von produktionsorientierten Methoden effizient erfahrbar gemacht werden. Im Folgenden werden dazu eine Kurzanleitung und mögliche Arbeitsanregungen dargestellt: Als erster Schritt ist die Sicherung eines grundlegenden Textverständnisses essenziell und sollte durch die Kurslehrerin bzw. den Kurslehrer sichergestellt werden. Andernfalls besteht das Risiko, dass die Lernenden sich vorschnell mit der Anfertigung eines Produkts beschäftigen, das nicht den zentralen Gedanken gerecht werden kann. Daran anknüpfend können sich die Lernenden selbständig mit dem Text als Gesprächspartner auseinandersetzen. Dies geschieht, indem sie die wesentlichen Begriffe und im Text verwendeten Bilder mithilfe von Comic-CreatorApps visuell darstellen. Die Schülerinnen und Schüler werden angeleitet, Korrespondenzen zwischen der Textgrundlage und dem Comic herzustellen, indem sie das dominante Motiv des Blicks und die damit einhergehenden Gefühle paraphrasieren bzw. akzentuieren. Die Bildeindrücke, die Sartre mit seinem Beispiel des Voyeurs gibt, sollen die Lernenden aktivieren, sich auf den Gedankengang einzulassen, und helfen, diesen nachzuempfinden. Bei der Umsetzung gibt es differenzierte Varian-



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http://www.fachdidaktik-einecke.de/4_Literaturdidaktik/produktionsorientierung_vorsicht. htm (Stand: 06.04.2021). Vgl. Hochstadt, Christiane; Krafft, Andreas; Olsen, Ralph: Deutschdidaktik. Deutschdidaktik: Konzeptionen für die Praxis, a. a. O., S. 152–155. Einecke, Günther: »Produktionsorientierung - Vorsicht vor den leichten Lösungen!«, a. a. O.



Der Blick des Anderen

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ten, wobei es naheliegend ist, dass die Lernenden die Schlüssellochsituation textnah illustrieren. Je nach Kursgröße und Niveau besteht die Möglichkeit, die Textgrundlage stark zu reduzieren. Die Reduktion auf einzelne Textpassagen wird der Gesamtheit der Ausführungen Sartres nicht gerecht, ermöglicht aus didaktischer Perspektive jedoch die Zugänglichkeit zur weiteren Textarbeit. Ausgehend von den erstellten Comics werden sich bei den Lernenden weitere Fragen ergeben, die für den folgenden Unterrichtsverlauf nützlich sind: Wie erlange ich meine Freiheit zurück? In welchen Situationen erfahre ich ein reflexives Bewusstsein? Wie entziehe ich mich dem Urteil des Anderen? Anzumerken ist, dass Jean-Paul Sartres Überlegungen mittels der Anfertigung eines Comics auf inhaltlicher Ebene durchdrungen werden, jedoch nicht explizit die Struktur analysiert wird, wie Georg Brun es in seinen Erläuterungen zur philosophischen Textarbeit expliziert. 21 Volker Haase weist in seinen Darlegungen zur kreativen Texterschließung daraufhin, dass es im Sinne eines progressiven Unterrichtens vermieden werden sollte, Erkenntnisse, die mittels produktiver Verfahren erarbeitet worden sind, ohne zusätzlichen Gewinn mithilfe von rezeptionsorientierter Textarbeit zu sichern. 22 Es handelt sich dabei um zwei differenzierte Herangehensweisen der Texterschließung, bei denen die Lehrkraft vorab je nach Zielsetzung entscheiden muss, welche sich zur Durchdringung des philosophischen Gegenstandes eignet. Sinnvoll ist nach Haase beispielsweise der parallele Einsatz hinsichtlich der Differenzierung nach Lerntypen. 23

  Der Einsatz von Comic-Creator-Apps als Überprüfungswerkzeug Neben einer inhaltlich vertiefenden Texterschließung kann die Produktion von Comics zudem als Überprüfungswerkzeug eingesetzt werden. Mithilfe der Erstellung des Comics lässt sich nicht nur die Textkenntnis zeigen, sondern sie ist auch ideal, um zu überprüfen, ob die Schülerinnen und Schüler Sartres Gedankengänge tatsächlich durchdrungen und verstanden haben. Beispielsweise kann im Anschluss der Satz-für-Satz-Analyse der Arbeitsauftrag gestellt werden, Sartres Ausführungen mithilfe der Comic-Creator-Apps zu visualisieren. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, dass die Lernenden die Inhalte abermals vertiefen, indem sie eine Transferleistung erbringen und die philosophische Theorie mittels des Comics darstellen.



Vgl. Brun, Georg: »Textstrukturanalyse und Argumentrekonstruktion«, in: Pfister, Jonas, Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophieunterrichts, UTB 4514, Haupt, Bern 2016, S. 247–274. 22 Vgl. Haase, Volker: »Kreatives Schreiben«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, a. a. O., S. 230–240: S. 235–236. 23 Vgl. ebd. 21

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Anna Klara Jatzkowski

 M 1   Anna Klara Jatzkowski: Der Blick des Anderen24



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Jatzkowski, Anna Klara: Der Blick des Anderen, Comic, erstellt mit der Comica App.



Der Blick des Anderen

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 M 2   Jean-Paul Sartre: Der Blick25

Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen oder durch ein Schlüsselloch zu gucken. Ich bin allein und befinde mich auf der Eben des nicht-thetischen Bewusstseins (von) mir. Das bedeutet zunächst, dass es kein Ich gibt, dass mein Bewusstsein bewohnt. […] Das bedeutet, daß hinter dieser Tür ein Schauspiel »zu sehen«, eine Unterhaltung »zu hören« ist. Die Tür, das Schlüsselloch sind zugleich Instrumente und Hindernisse: sie stellen sich als »mit Vorsicht zu handhaben« dar; das Schlüsselloch bietet sich dar »aus der Nähe und ein wenig von der Seite zu sehen« usw. Nun »tue ich, was ich zu tun habe«; keine transzendente Sicht verleiht meinen Handlungen den Charakter von etwas Gegebenem, über das ein Urteil gefällt werden könnte: mein Bewusstsein klebt an meinen Handlungen, es ist meine Handlungen, sie werden nur durch die zu erreichenden Zwecke und durch die zu verwendenden Instrumente geleitet. […] Jetzt habe ich Schritte im Flur gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? […] Zunächst existiere ich nun als Ich für mein unreflektiertes Bewusstsein. Gerade diesen Einbruch des Ich hat man am häufigsten beschrieben: ich sehe mich, weil man mich sieht […]. In dieser Form ist das nicht ganz richtig. Aber sehen wir genauer hin: solange wir das Für-sich in seinem Alleinsein betrachteten, konnten wir behaupten, daß das unreflektierte Bewusstsein nicht durch ein Ich bewohnt sein könnte: das Ich bot sich als Objekt nur dem reflexiven Bewusstsein dar. Aber jetzt ist das Ich dabei, das unreflektierte Bewusstsein heimzusuchen. […] Die Person ist dem Bewusstsein gegenwärtig, insofern sie Objekt für Andere ist. Das bedeutet, daß ich mit einem Schlag Bewusstsein von mir habe. […] [D]ie Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. Die Scham ist, […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt. […] Es ist genaugenommen nicht so, daß ich spüre, daß ich meine Freiheit verliere und ein Ding werde, sondern sie ist dort, außerhalb meiner gelebten Freiheit, wie ein gegebenes Attribut jenes Seins, das ich für den andern bin. Ich erfasse den Blick des andern gerade innerhalb meiner Handlung als Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten.



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Vgl. Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Wroblewsky, Vincent von, Philosophische Schriften, Bd. 3: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, a. a. O., S. 467, S. 468, S. 469, S. 469–470, S. 470, S. 471 und S. 474.

Mit Snoopy und Co. ins Abitur Zum Einsatz von Comicstrips im Fach Philosophie Mandy Haupt

 D

ie Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) der Kultusministerkonferenz für das Fach Philosophie sehen vor, dass neben philosophisch-argumentativen Texten auch präsentatives Material für die Abiturprüfungen gewählt werden kann. Dabei wird unter präsentativem Material »ein künstlerisch gestaltetes Produkt« verstanden, »dessen philosophische Implikationen diskursiv erst erschlossen werden müssen«1. Als Beispiele dafür werden literarische Texte, Fotos, Kunstwerke, Gedichte und Theaterszenen genannt, die für eine philosophische Problemreflexion geeignet sind.

Comicstrips im Abitur des Faches Philosophie   Vor dem geschilderten Hintergrund drängt sich die Verwendung von Daily-ComicStrips 2 oder Sunday-Comic-Strips 3 im mündlichen Abitur des Faches Philosophie geradezu auf. Daily-Comic-Strips bestehen in der Regel aus vier Bildern, haben nur einen geringen Wortanteil und weisen meistens eindeutige bildhafte Symbole auf, so dass das Material von Prüflingen in kurzer Zeit und ohne viel Mühe erfasst werden kann. Aufgrund der für einen Daily-Comic-Strip gebotenen Kürze und Einfachheit muss die in ihm enthaltene Handlung stringent entwickelt sein, so dass das Problem am Ende pointiert zutage tritt. Für Nebenschauplätze, die ablenken könnten, steht kein Raum zur Verfügung. Daneben ist es nicht zwangsläufig nötig, dass Schülerinnen und Schüler Namen und Eigenschaften der Comichelden kennen und sonstiges Vorwissen über sie haben. Dass beispielsweise Hobbes das von Calvin geliebte Kuscheltier ist und immer

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2



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Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Philo­ sophie, Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i. d. F. vom 16.11.2006, S. 6, auf: ­https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/beschluesse-und-veroeffentlichungen/bildungschule/allgemeine-bildung.html#c1284 (Stand: 06.03.2020). Daily-Comic-Strips sind Comics, die in Tageszeitungen erscheinen. In der Regel bestehen sie aus vier Panels (Bildern), weshalb sie auch als Four-Panel-Comics bezeichnet werden. Manchmal bestehen die Daily-Comic-Strips auch nur aus drei oder zwei Panels, sehr selten nur einem Panel. Sunday-Comic-Strips erscheinen primär in englischsprachigen Sonntagszeitungen und sind deutlich länger als die Daily-Comic-Strips.

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nur dann lebendig wird, wenn sich keine weitere Person in unmittelbarer Nähe der beiden aufhält, ist völlig unerheblich für das Verständnis des Comicstrips. So begegnen einem Prüfling in M1 beispielsweise auf vier Panels ein Tiger und ein aufgeweckter Junge, der dem Tier folgenden Plan eröffnet: Der Junge möchte sich die Fingernägel wachsen lassen und anschließend die Spitzen wie Krallen feilen, damit er seinem Freund, dem Tiger, ähnelt. Mit einem einzigen kurzen Satz zerstört Hobbes die Hoffnungen Calvins, indem er darauf verweist, dass Tiger ihre Krallen einziehen können. Am Ende sieht Calvin betrübt ein, dass Tiger Menschen einiges voraushaben. Der Einsatz von Comicstrips birgt darüber hinaus auch die Chance, philosophische Fragestellungen auf eine recht schülernahe Weise zu eröffnen, denn Schülerinnen und Schüler sind in der Regel seit ihrer frühen Kindheit mit Comics vertraut. So zeigen sie im Allgemeinen Freude und Erleichterung, wenn sie in ihrer münd­ lichen Abiturprüfung auf (eventuell bekannte) Comichelden treffen. Im mündlichen Abitur des Faches Philosophie besteht lediglich die Möglichkeit, Comicstrips als Gesprächsimpuls zu nutzen. In diesem Fall beschreibt der Prüfling kurz die Bilderfolge und formuliert das Problem, das im Strip enthalten ist. Im weiteren Prüfungsverlauf wird auf den Comicstrip nicht erneut eingegangen, sondern es erfolgt, wie in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen gefordert, zum einen die Bearbeitung des Problems, indem auf Positionen zurückgegriffen wird, die im Unterricht thematisiert worden sind, und zum anderen eine Stellungnahme des Prüflings zur Fragestellung. Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen der Kultusministerkonferenz für das Fach Philosophie eröffnen aber auch die Möglichkeit, den Comicstrip in den weiteren Verlauf der Problemreflexion einzubeziehen, denn die Kultusministerinnen und -minister haben festgelegt: »In diesem Sinne kann auch eine ›präsentative Bearbeitung›, d. h. ein künstlerisch-kreativer Gestaltungsprozess, Bestandteil einer Aufgabenstellung im Fach Philosophie sein, wenn sie durch diskursiv-argumentative Formulierungen ergänzt bzw. kommentiert wird.« 4 Zur Umsetzung dieser Forderung bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: 1.  Ergänzung eines zusätzlichen Panels:  Bei der Problembearbeitung kann es sich anbieten, einen Prüfling ein weiteres Panel zeichnen zu lassen. Dieses Panel soll beispielsweise eine aus dem Unterricht bekannte philosophische Position aufgreifen, die – selbstredend – zum ausgewählten Prüfungsthema passen muss. Zu M1 zeichnete ein Prüfling ein Bild, das Calvin zeigt, der eine Weltkugel bzw. die gesamte Erde in den Händen hält. Ergänzend dazu erläuterte der Schüler die Ansicht Gehlens, wonach der Mensch rein biologisch dem Tier zwar unterlegen, aber durch die Kompensation seiner Mängel nicht nur lebensfähig sei, sondern jedwede Natur – also die gesamte Erde – auf intelligente Weise verändere, sich passend mache und für seine Zwecke nutze. Der Prüfling hat mit seiner Idee, eine Weltkugel zu zeichnen,

4

Ebd.



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gezeigt, dass er die Position Gehlens verstanden hatte und in der Lage war, diese in einem Bild und einem ergänzenden Vortrag komprimiert darzustellen. 2.  Ausfüllen von Sprechblasen:  In der Phase der Problembearbeitung kann eine Prüfungsaufgabe auch so gestaltet sein, dass den Comicfiguren die Worte in den Mund gelegt werden sollen. In M3 deutet bereits das erste Panel auf Platons Höhlengleichnis: Krock, das grimmige Stoff-Krokodil, ist gefesselt und starrt auf eine Wand vor sich, die aufgrund eines Lagerfeuers einen Schatten seiner selbst wirft. Im dritten Panel hat der Besitzer des Stoff-Krokodils, Rafael, weitere Stofftiere dieser Versuchsanordnung hinzugefügt. Außerdem erklärt er seinem Onkel Strizz sein Tun. Ein Prüfling wäre bei diesem Beispiel angehalten, die Erklärungen Rafaels so zu ergänzen, dass er Platons Theorie der Ideenlehre in ihren einzelnen Schritten darstellt und erläutert. 3.  Anwenden der Positionen auf die im Comicstrip vorliegende Situation:  Nachdem ein Problem durch einen Comicstrip akzentuiert worden ist, soll ein Prüfling in der Problembearbeitung auf bekannte philosophische Positionen aus dem Unterricht zurückgreifen und diese auf den ihm vorliegenden Comicstrip anwenden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Aussagen oder Handlungen der Comic­ figuren begründet einer Position aus der Tradition zugeordnet werden oder der Prüfling aus dem Unterricht bekannte philosophische oder ethische Position mit Aussagen oder Taten der Comicfiguren vergleicht und sie anschließend bewertet. In M2 gelangt Linus van Pelt zu der Erkenntnis, dass das Leben voller Entscheidungen sei, man aber eigentlich nie eine Wahl habe. Diese Einschätzung sollte der Prüfling aus der Sicht von Sartre und Schopenhauer in je einem schriftlich festgehaltenen Satz kommentieren. Während Sartre der Erfahrung von Linus widerspricht, wenn er sagt: »Mein Kind, du bist zur Freiheit verdammt. Eine Wahl hast du jedoch immer«, bestätigt Schopenhauer als Vertreter des Determinismus die Ansicht des Jungen: »Nein, du hast keine Wahl. Deine Wahl hängt von einem Motiv ab, auf dessen Auftauchen oder Ausbleiben du keinen Einfluss hast.«

Vorschläge für Abituraufgaben   Im Folgenden finden sich zu jeder der vier kantischen Fragen jeweils eine vollständig ausgearbeitete Abituraufgabe. Diese besteht aus dem Comicstrip, der dazu ­gehörigen Aufgabenstellung samt Erwartungshorizont und dem Material, das im ­Unterricht eingesetzt worden ist und auf das in den Aufgaben Bezug genommen werden muss. Beim Einsatz von Comics in mündlichen Abiturprüfungen ist darauf zu achten, dass

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¬ vom Prüfling – je nach den im Unterricht gelegten Schwerpunkten – auch andere als die hier dargestellten Positionen und Gedanken eingebracht werden können und ¬ der Bereich der Problemverortung nur Möglichkeiten, Optionen und Richtungen andeutet und daher auch andere als die skizzierten Gedanken zulässig sind. ¬ Es gilt zu überprüfen, ob und inwiefern der Prüfling in der Lage ist, das zu diskutierende philosophische Problem inhaltlich und methodisch selbstständig zu reflektieren. Die nachfolgenden Beispiele sind alle bereits im Abitur verwendet worden. Sie sollen zeigen, dass der Einsatz von Comicstrips in der mündlichen Abiturprüfung im Fach Philosophie eine Möglichkeit darstellt, Schülerinnen und Schüler zu einer philosophischen Problemreflexion anzuregen.



Zum Einsatz von Comicstrips im Fach Philosophie

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 M 1   Was ist der Mensch? – Anthropologie5

 Aufgaben 1. Stellen Sie das Problem dar, das in dem Comicstrip angesprochen wird. 2. Erläutern Sie die Position Arnold Gehlens und zeigen Sie, wodurch sich der Mensch sei­ ner Ansicht nach auszeichnet, indem Sie den Comicstrip um ein fünftes Bild erweitern. 3. Nehmen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse aus Aufgabe 1 begründet Stellung zu dem in dem Comic dargestellten Problem.

Erwartungshorizont

▷ AUFGABE 1:  Im ersten Panel verkündet Calvin seinen Entschluss, sich die Finger-

nägel wachsen zu lassen. Er möchte offenbar seinem Freund Hobbes, der ein Tiger ist, entweder nacheifern oder ihm Konkurrenz machen. Er eröffnet ihm nämlich, dass er seine langgewachsenen Fingernägel spitz feilen möchte, damit seine Nägel den Klauen des Tigers ähneln. Hobbes zeigt sich ausgesprochen ungerührt und erklärt Calvin, dass Tiger nicht nur spitze Krallen haben, sondern diese auch einziehen können. Daraufhin zeigt sich Calvin ob seiner körperlichen Ausstattung sehr unzufrieden, denn er listet im letzten Bild auf, worin die Vorzüge eines Tigers bzw. eines Tieres gegenüber einem Menschen bestehen. Damit wirft der Comicstrip die Frage auf, inwiefern der Mensch als Naturwesen bezeichnet werden kann.

▷ AUFGABE 2:  Nach Gehlen ist der Mensch im Vergleich zum Tier ein Mängelwesen,

das wenige bis gar keine Instinkte besitzt, keine Spezialisierung aufweist und kaum an seine Umwelt angepasst ist, sich dafür aber durch Weltoffenheit auszeichnet. Hinzu kommt, dass der Mensch einer Reizüberflutung ausgesetzt ist, die ihn zunächst belastet. Um sich zu entlasten und letztlich damit auch sein Überleben zu sichern, ist der Mensch gezwungen, die Welt zu verändern: Er erschafft sich han

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Watterson, Bill: Calvin und Hobbes, 11 Bde., Bd. 9: Psycho-Killer-Dschungelkatze, übers. von Götting, Waltraud, Carlsen Verlag, Hamburg 1994, S. 15.

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delnd eine Kulturwelt, indem er beispielsweise Häuser baut und Kleidung herstellt, um sich so vor Witterungseinflüssen zu schützen. Der Mensch entwickelt ferner Institutionen wie Recht und Familie, um lebenswichtige Aufgaben zu bewältigen. Das anzufertigende Bild sollte dementsprechend eine kulturelle Errungenschaft bzw. eine Institution im Sinne von »Kultur als zweite Natur« darstellen. Denkbar wäre beispielsweise der Verweis darauf, dass Tiger das benötigte »Werkzeug«, hier: Krallen, von Natur aus besitzen, um Tiere zur Nahrungsaufnahme zu erbeuten. Dem Menschen dagegen fehlt eine solche natürliche Ausstattung, sodass er gezwungen ist, Werkzeuge herstellen, um für seine Lebensgrundlage sorgen zu können. Damit kann der Mensch nicht als reines Naturwesen betrachtet werden; vielmehr musste er sich aufgrund seiner mangelhaften Ausstattung zu einem Kulturwesen entwickeln.

▷ AUFGABE 3:  Zur Lösung dieser Aufgabe sollte die Frage erörtert werden, inwiefern

der Mensch nur ein mit Vernunft ausgestattetes Tier ist oder ob es Gründe gibt, die die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Lebewesen rechtfertigt. Es könnte also darauf verwiesen werden, dass der Mensch wie jedes andere Tier ein Produkt der Evolution ist und es lediglich graduelle Unterschiede zwischen ihnen gibt. Denkbar wären aber auch begründete Überlegungen, wonach der Mensch als Krone der Schöpfung anzusehen ist, er somit automatisch eine Sonderstellung unter allen Lebewesen innehätte und sich damit absolut vom Tier unterscheiden würde.

TE X TE

■ Arnold Gehlen: Mängelwesen Mensch 6

Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein. Die Tendenz der Naturentwicklung geht nämlich dahin, organisch hochspezialisierte Formen in ihre je ganz bestimmten Umwelten einzupassen, also die unüberseh

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Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, AULA-Verlag, Wiesbaden 1986, S. 33–34 und S. 35.



Zum Einsatz von Comicstrips im Fach Philosophie

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bar mannigfaltigen in der Natur zustande kommenden »Milieus« als Lebensräume für darin eingepaßte Lebewesen auszunutzen. Die flachen Ränder tropischer Gewässer wie die ozeanische Tiefsee, die kahlen Abhänge nördlicher Alpengebirge wie das Unterholz lichter Mischwälder sind ebenso spezifische Umwelten für spezialisierte, nur darin lebensfähige Tiere, wie die Haut der Warmblüter für die Parasiten, und so in unzähligen, je besonderen Fällen. Der Mensch dagegen hat, morphologisch gesehen, so gut wie keine Spezialisierungen. Er besteht aus einer Reihe von Unspezialisiertheiten, die unter entwicklungsbiologischem Gesichtspunkt als Primitivismen erscheinen: sein Gebiß z. B. hat eine primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit der Struktur, die es weder zu einem Pflanzenfresser- noch zu einem Fleischfressergebiß, d. h. Raubtiergebiß machen. Gegenüber den Großaffen, die hochspezialisierte Baumtiere mit überentwickelten Armen für Hangelkletterei sind, die Kletterfuß, Haarkleid und gewaltigen Eckzahn haben, ist der Mensch als Naturwesen gesehen hoffnungslos unangepaßt. Er ist von einer einzigartigen […] biologischen Mittellosigkeit. Spezialisierter Organbau und Umwelt sind also Begriffe, die sich gegenseitig voraussetzen. Wenn nun der Mensch Welt hat, […] so bedeutet auch dies zunächst eine negative Tatsache. Der Mensch ist weltoffen, heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu. Die ungemeine Reiz- oder Eindrucksoffenheit gegenüber Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben, stellt zweifellos eine erhebliche Belastung dar, die in sehr besonderen Akten bewältigt werden muß.

■ Arnold Gehlen: Der Mensch – ein Kulturwesen7

Wie ist dieses mit jedem Tier wesentlich unvergleichbare Wesen Mensch lebensfähig? Denn schon die Weltoffenheit ist […] grundsätzlich eine Belastung. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der »unzweckmäßigen« Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv […] gegenüber, sondern eine Welt – richtig negativ ausgedrückt: ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur, das erst in »Vorsicht« und »Vorsehung« durchgearbeitet, d. h. erfahren werden muß. Schon hier liegt eine Aufgabe physischer und lebenswichtiger Dringlichkeit: aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten. […] Infolge seiner organischen Primitivität ist der Mensch in jeder wirklich natürlichen und urwüchsigen Natursphäre lebensunfähig. Er hat also den Ausfall der ihm organisch versagten Mittel selbst einzuholen, und dies geschieht, indem er die Welt tätig ins Lebensdienliche umarbeitet. Er muß die ihm organisch versagten Schutzund Angriffswaffen ebenso wie seine in keiner Weise natürlich zu Gebote stehende

7

Ebd., S. 36 und S. 37–38.

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Nahrung sich selbst »präparieren«, muß zu diesem Zweck Sacherfahrungen machen und Techniken der objektiven, sachentsprechenden Behandlung entwickeln. Er muß für Witterungsschutz sorgen, seine abnorm lange unentwickelten Kinder ernähren und großziehen und bedarf schon aus dieser elementaren Nötigung heraus der Zusammenarbeit, also der Verständigung. Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur hin gebaut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin: er ist handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist, und also der natürlich angepaßten Umwelt entbehrt. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt. Es gibt für ihn keine Existenzmöglichkeit in der unveränderten, in der nicht »entgifteten« Natur, und es gibt keinen »Naturmenschen« im strengen Sinne: d. h. keine menschliche Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation. Die Kultur ist also die »zweite Natur« – will sagen: die menschliche, die selbsttätig bearbeitete, innerhalb deren er allein leben kann – und die »unnatürliche« Kultur ist die Auswirkung eines einmaligen, selbst »unnatürlichen«, d. h. im Gegensatz zum Tier konstruierten Wesens in der Welt. An genau der Stelle, wo beim Tier die »Umwelt« steht, steht daher beim Menschen die Kulturwelt, d. h. der Ausschnitt der von ihm bewältigten und zu Lebenshilfen umgeschaffenen Natur. Schon deswegen ist es grundfalsch, von einer Umwelt des Menschen – im biologisch definierten Sinne – zu reden. Beim Menschen entspricht der Unspezialisiertheit seines Baues die Weltoffenheit, und der Mittellosigkeit seiner Physis die von ihm selbst geschaffene »zweite Natur«. Hierin liegt übrigens der Grund, warum der Mensch im Gegensatz zu fast allen Tierarten nicht geographisch natürliche und unüberschreitbare Daseinsbereiche hat. Fast jede Tierart ist eingepaßt in ihr klimatisch, ökologisch usw. konstantes »Milieu«, der Mensch allein überall auf der Erde lebensfähig, unter dem Pol und dem Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe. Er ist dann lebensfähig, wenn er dort Möglichkeiten erzeugen kann, sich eine zweite Natur zurechtzumachen, in der er dann statt in der »Natur« existiert. ■ Arnold Gehlen: Die Bedeutung der Institutionen für den Menschen8

Die Instinkte bestimmen beim Menschen nicht, wie beim Tier, einzelne festgelegte Verhaltensabläufe. Stattdessen nimmt jede Kultur aus der Vielheit der möglichen menschlichen Verhaltensweisen bestimmte Varianten heraus und erhebt sie zu gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensmustern, die für alle Glieder der Gruppe verbindlich sind. Solche kulturellen Verhaltensmuster oder Institutionen bedeuten für

8

Gehlen, Arnold: »Mensch und Institution«, in: ders.: Anthropologische Forschung, rde 138, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 70–72.



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das Individuum eine Entlastung von allzu vielen Entscheidungen, einen Wegweiser durch die Fülle von Eindrücken und Reizen, von denen der weltoffene Mensch überflutet wird. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die Institutionen einmal als die Formen der Bewältigung lebenswichtiger Aufgaben oder Umstände, so wie die Fortpflanzung oder die Verteidigung oder die Ernährung ein geregeltes und dauerndes Zusammenwirken erfordern; sie erscheinen von der anderen Seite als die stabilisierenden Gewalten: Sie sind die Formen, die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und um sich selbst zu ertragen, etwas, worauf man in sich und den anderen zählen und sich verlassen kann. Der Einzelne erlebt […] eine Institution wie das Eigentum oder die Ehe als ein überpersönliches vorgefundenes Muster, dem er sich einordnet; oder in anderen Fällen tritt er in eine Institution seines Berufes, eine Behörde, eine Fabrik ein, in dem Bewußtsein, daß sie als dieselbe seit langem bestand und bestehen wird, im Wechsel der Menschen, die in sie ein- oder wieder austreten. Diese Thematik führt in sehr interessante und schwierige Überlegungen, wenn man sich im Einzelnen klar machen will, wie eigentlich die Handlungen der Menschen zu so etwas wie einer Eigennorm umschlagen und sich nun wie eine objektive Ordnung über ihnen verfestigen, die der Einzelne als etwas Geltendes vorfindet. Um mit wenigen Worten zusammenzufassen: Die Formen, in denen die Menschen miteinander leben oder arbeiten, in denen sich die Herrschaft ausgestaltet oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen – sie alle gerinnen zu Gestalten eines eigenen Gewichts, den Institutionen, die schließlich dem Individuen gegenüber etwas wie eine Selbstmacht gewinnen, so daß man das Verhalten des Einzelnen in der Regel ziemlich sicher voraussagen kann, wenn man seine Stellung in dem System der Gesellschaft kennt, wenn man weiß, von welchen Institutionen er eingefaßt ist. Die Forderungen des Berufs und der Familie, des Staates oder irgendwelcher Verbände, denen man angehört, regeln uns nicht nur in unserem Verhalten ein, sie greifen bis in unsere Wertgefühle und Willensentschlüsse durch, und diese verlaufen dann ohne Bremsung und Zweifel wie von selbst, d. h. selbstverständlich, ohne daß eine andere Möglichkeit vorstellbar wäre, also schließlich mit der Überzeugungskraft des Natürlichen. Vom Inneren der Einzelperson her gesehen bedeutet das […] eine lebenswichtige Entlastung.

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 M 2   Was soll ich tun? – Moralphilosophie9

 Aufgaben 1. Stellen Sie das Problem dar, das in dem Comicstrip angesprochen wird. 2. Erläutern Sie, welche Position einerseits Sartre und andererseits Schopenhauer zu dem im Comicstrip dargestellten Problem einnehmen würden, indem Sie aus deren Per­ spektive jeweils eine prägnante Antwort auf Linus’ letzten Satz formulieren. 3. Nehmen Sie begründet Stellung zu dem Problem, das in dem Comicstrip aufgeworfen wird.

Erwartungshorizont

▷ AUFGABE 1: In einer winterlichen Landschaft belehrt Lucy ihren Bruder Linus, der

sich bereits im Vorfeld einen Schneeball gebaut hat, über die Möglichkeiten der freien Entscheidung. Zunächst eröffnet sie ihm anhand des Schneeballs zwei Möglichkeiten: Linus hat die Wahl zwischen »den Schneeball zu werfen« und »den Schneeball nicht zu werfen«. Anschließend zeigt sie ihm die Folgen beider Handlungen auf. Wirft Linus den Schneeball, wird Lucy ihren Bruder quälen. Wirft er ihn nicht, so wird sie ihn in Ruhe lassen. Linus lässt deprimiert seinen Schneeball fallen und nimmt eine deterministische Position ein, denn offensichtlich hat er nach den Worten seiner Schwester keine Wahl mehr. Der Comicstrip wirft die Frage auf, wie frei der Mensch eigentlich ist.

9

Charles M. Schulz, Snoopy & die Peanuts, 46 Bde., Band 14: Mal ganz anders, übers. von Herbst, Gabriele, Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1989, o. S.



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▷ AUFGABE 2: Nach Sartre muss jeder Mensch seiner Existenz einen Sinn geben. Er

geht davon aus, dass die Existenz des Menschen als radikal Freier beginnt, dem nichts, keine Werte und Normen, kein Lebensweg, vorgegeben ist. Niemand sagt ihm, was er tun solle. Er muss immerzu aktiv sein und sein Wesen selbst bestimmen. Aufgrund dieser Beobachtungen gelangt Sartre zu der Auffassung, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei. Vor diesem Hintergrund müsste Sartre Linus entgegnen, dass dieser vollkommen frei ist; allerdings muss ihm klar sein, dass er für sein Handeln Verantwortung übernehmen muss. Wenn sich Linus entschließen sollte, den Schneeball nicht nach seiner Schwester zu werfen, dann nur, weil er sich dazu entschlossen hat, und nicht, weil seine Schwester ihn durch die Androhung von Gewalt dazu genötigt hat. Nach Schopenhauer ist der Mensch ebenso wie die Dinge der Natur in seinem Tun und Lassen von Ursachen bestimmt, über die er keine Entscheidungsgewalt hat. Er wird vielmehr von Motiven geleitet, deren Auftauchen und Ausbleiben er willentlich nicht steuern kann. Deswegen ist der Mensch in seinem Wollen und Handeln unfrei. Vor diesem Hintergrund müsste Schopenhauer eine ähnliche Haltung einnehmen wie die, die von Linus bereits angedeutet wird: Scheinbar hat man die Wahl, aber die Motive für die Handlungsoption, »den Schneeball nicht zu werfen«, sind deutlich stärker. Deswegen würde Schopenhauer Linus in seinem Entschluss wahrscheinlich bestärken.

▷ AUFGABE 3: Zur Lösung dieser Aufgabe sollen noch einmal die wichtigsten Krite-

rien des Indeterminismus und des Determinismus dargestellt werden. Eine Beurteilung der beiden Positionen kann dazu führen, dass entweder eine der beiden Theorien vehement vertreten wird oder aber ein Abwägen der beiden Extreme zum Kompatibilismus führt.

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TE X TE

■ Hermann Nink: Die Freiheit der Wahl10

»Wenn ich in einen Krieg einberufen werde, ist dieser Krieg mein Krieg, weil ich jederzeit mich ihm hätte entziehen können, durch Selbstmord oder Fahnenflucht: Diese äußersten Möglichkeiten sind diejenigen, die uns immer gegenwärtig sein müssen, wenn es darum geht, eine Situation ins Auge zu fassen. Da ich mich ihm nicht entzogen habe, habe ich ihn gewählt […], und ich habe entschieden, dass er existiert.« Wie sind diese Behauptungen zu verstehen, wie zu rechtfertigen? Der Mensch ist wie alle und alles andere zunächst Sein, das mit sich selbst völlig eins und ausgefüllt ist: Sein-an-sich (Existenz an sich). Dieses Sein ist sinnlos und zufällig, keinem Plan oder keiner höheren Bestimmung unterworfen, auch keiner Rangordnung verpflichtet. Die Existenz des Menschen ist nicht von vornherein wertvoller oder sinnvoller als die eines Felsens oder Wurmes. Die Erfahrung, reines Dasein an sich zu sein, wie alles um ihn herum, löst im Menschen einen hilflosen Ekel aus, so der Titel von Sartres erstem Roman (»La nausée«). Die Besonderheit des Menschen aber besteht gegenüber allem anderen Sein darin, dass er auch noch Bewusstsein hat. Der Mensch ist das Wesen, das sich seiner eigenen Existenz bewusst ist, er ist also auch Für-Sich. Der Mensch kann darüber hinaus die Existenz alles und aller anderen in seinem Bewusstsein spiegeln, zum Gegenstand seines Erkennens machen. Zusammengefasst: Der Mensch kann sich vom reinen Sein losreißen und sich ihm erkennend gegenüberstellen durch sein Bewusstsein. Dieses Bewusstsein, das Für-sich-Sein, definiert Sartre im Bezug auf das reine Sein als das Nichts, als die Lücke, den Abstand zum Sein, der es dem Menschen ermöglicht, sich vom reinen Vegetieren zu trennen und zu erkennen, was ist, was sein könnte; was geschehen ist, was geschehen könnte; was er ist, was er sein könnte. Dieses Nichts, dieser Riss im Dasein macht den Menschen frei. In der äußersten Form kann dieses Sich-losreißen sogar Freitod bedeuten. Die menschliche Freiheit, die sich aus dem Nichts in ihm ergibt, bedeutet zugleich den Zwang, sich zu entwerfen, sich zu entscheiden, eine Wahl zu treffen. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Da er nicht reines An-sich-Sein ist, sondern durch sein Bewusstsein in seine Vergangenheit und Zukunft sehen kann, wird jeder Lebensakt, jede Handlung zu einer Entscheidung. Selbst wenn er nur noch schweigen und im Nichtstun erstarren würde, wäre das die Entscheidung, eben gerade zu schweigen.



10

Nink, Hermann: »Die Freiheit der Wahl – Grundgedanken der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres«, in: ders. (Hrsg.): Standpunkte der Ethik. Lehr- und Arbeitsbuch für die Sekundar­ stufe II, Schöningh Verlag, Paderborn 2005, S. 116–117.



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Das wiederum hat zur Folge, dass der Mensch für sich und sein Leben verantwortlich ist, ausschließlich und allein. Sartre verneint damit nicht etwa die Realität der gegebenen Bedingungen. Natürlich erfährt sich jeder Mensch, in die Welt geworfen ohne seine Entscheidung, zunächst in bestimmten begrenzten Konditionen: »Viel mehr als er ›sich zu machen‹ scheint, wird der Mensch scheinbar gemacht vom Klima und der Erde, von der Rasse und der Klasse, der Sprache, der Geschichte des Kollektivs, dem er angehört, von der Erbmasse, den individuellen Umständen seiner Kindheit, den angenommenen Gewohnheiten, den großen und kleinen Ereignissen seines Lebens.« Er wird also geboren in einer Villa oder einer Wellblechhütte. Und doch kann er sich nicht des Zwanges entledigen, seine faktische Realität, die sogenannte Faktizität, wahrzunehmen und sie zu bejahen oder zu verneinen, sie anzunehmen oder sie zu bekämpfen. Die so verstandene Freiheit des Menschen heißt also nicht Beliebigkeit oder Willkür, sondern Selbstbestimmung durch Wahl. Und zu dieser Wahl gehören die vorgegebenen Lebensbedingungen, die sich dem Menschen entgegenstellen. Denn wie könnte er Freiheit erfahren ohne diesen Widerstand? Es steht natürlich nicht im Belieben des Menschen, durch einen Plan, einen freien Entwurf die faktische Realität aufzuheben, also etwa aus einem steinigen, trockenen Wüstenboden ein feuchtes Regenwald-Biotop zu zaubern, nur weil er beschlossen hat, dort Orchideen zu züchten. Allerdings könnte er dort ein Gewächshaus bauen und lange Wasserleitungen für seine Orchideenzucht legen lassen, wobei der Wüstenboden immer noch der gleiche ist. Die Faktizität, das Gegebene muss in den Entwurf aufgenommen werden. Das Zusammenwirken von Gegebenheit und freiem Entwurf erzeugt eine Situation. Oder anders gesagt: Nur in Situationen erfahren wir unsere Freiheit, nämlich dann, wenn uns die Fakten entgegenstehen. Entgegenstehen können sie uns nur, wenn wir einen Plan fassen, in dem diese Fakten als zu überwindende Gegenspieler auftauchen.

■ Arthur Schopenhauer: Von Motiven geleitet11

[Wir wollen] uns einen Menschen denken, der, auf der Gasse stehend, zu sich sagte: »Es ist 6 Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehn zu sehen; ich kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Tor hinauslaufen, in die Schopenhauer, Arthur: »Über die Freiheit des menschlichen Willens« (S. 521–627), in: ders.: Sämtliche Werke, 5 Bde., Bd. 3: Kleinere Schriften, hrsg. von Löhneysen, Wolfgang von, Suhr­ kamp, Stuttgart / Frankfurt am Main 1989, S. 561–563.

11

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weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.« Das ist gerade so, als wenn das Wasser spräche: »Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei 80° Wärme); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.« Wie das Wasser jenes alles nur dann kann, wann die bestimmenden Ursachen zum einen oder zum andern eintreten; ebenso kann jener Mensch, was er zu können wähnt, nicht anders als unter derselben Bedingung. Bis die Ursachen eintreten, ist es ihm unmöglich: dann aber muß er es sogar wie das Wasser, sobald es in die entsprechenden Umstände versetzt ist. […] Kehren wir zu jenem aufgestellten um 6 Uhr deliberierenden Menschen zurück und denken uns, er bemerke jetzt, daß ich hinter ihm stehe, über ihn philosophiere und seine Freiheit zu allen jenen ihm möglichen Handlungen abstreite; so könnte es leicht geschehn, daß er, um mich zu widerlegen, eine davon ausführte: dann wäre aber gerade mein Leugnen und dessen Wirkung auf seinen Widerspruchsgeist das ihn dazu nötigende Motiv gewesen. Jedoch würde dasselbe ihn nur zu einer oder der andern von den leichteren unter den oben angeführten Handlungen bewegen können, z. B. ins Theater zu gehn; aber keineswegs zur zuletzt genannten, nämlich in die weite Welt zu laufen: dazu wäre das Motiv viel zu schwach. – Ebenso irrig meint mancher, indem er ein geladenes Pistol in der Hand hält, er könne sich damit erschießen. Dazu ist das wenigste jenes mechanische Ausführungsmittel, die Hauptsache aber ein überaus starkes und daher seltenes Motiv, welches die ungeheure Kraft hat, die nötig ist, um die Lust zum Leben, oder richtiger die Furcht vor dem Tode, zu überwiegen: erst nachdem ein solches eingetreten, kann er sich wirklich erschießen; und muß es; es sei denn, daß ein noch stärkeres Gegenmotiv, wenn überhaupt ein solches möglich ist, die Tat verhindere. Ich kann tun, was ich will: ich kann, wenn ich will, alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden – wenn ich will! – Aber ich vermag es nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte. Hingegen, wenn ich einen andern Charakter hätte, und zwar in dem Maße, daß ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können; dann aber würde ich es auch nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun müssen.



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 M 3   Was kann ich wissen? – Erkenntnistheorie12

 Aufgaben 1. Skizzieren Sie kurz die Situation in Platons Höhlengleichnis, indem Sie die Sprechblasen des Comics ausfüllen. 2. Vergleichen Sie die Schritte, in denen Descartes seine Zweifel entfaltet, mit dem Weg des Befreiten in Platons Höhlengleichnis. 3. Ein Einwand gegen Platons Ideenlehre lautet, er entwerte zu Unrecht die sinnliche Wahrnehmung und überbewerte die Vernunft. Diskutieren Sie die Berechtigung dieses Vorwurfs.



12

Reiche, Volker: Strizz. Das erste Jahr, BsR 1573, Verlag C.H. Beck, München 2003, S. 143. Der Comic liegt in einer bearbeiteten Version vor, da Texte aus Sprechblasen entfernt wurden.

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Erwartungshorizont

▷ AUFGABE 1:  Am Beispiel des Höhlengleichnisses verläuft nach Platon Erkenntnis

als Prozess stufenweiser Überwindung von Täuschungen und vermeintlichen Wahrheiten. Dieser Prozess vollzieht sich in vier Stufen. Die unterste Stufe zeigt uns Spiegelbilder oder Schatten; dies ist die Stufe der Einbildung, die Stufe des Vermutens. Sie ist ein Abbild der zweiten Stufe, auf der wir mit sinnlichen Wahrnehmungen reale Gegenstände erfassen; dies ist die Stufe des Glaubens und Meinens. Zusammen mit der untersten Stufe umfasst sie das körperlich Wahrgenommene, das »Reich des Sichtbaren«. In die dritte Stufe gelangen wir durch Nachdenken und logisches Kombinieren zu höherer Wahrheit. Aber auch diese sind nur ein Abbild der höchsten Stufe, dem Erkennen der reinen Ideen. Erst die Ideenschau führt zur vollständig wahren Erkenntnis und Erkenntnis des wahren Wesens der Wirklichkeit. Der Comicstrip bezieht sich nur auf den Bereich des Sichtbaren, also auf die Situation in der Höhle. In Panel 3, bei dem die Gefangenen gefesselt sind und ihren Kopf nicht mehr bewegen können, steht im Original: »Beachten Sie, dass Sie nunmehr gezwungen sind, die gegenüberliegende Wand zu betrachten.« In Panel 6 steht im Original: »Platon lässt da keinen Zweifel! Hinter den Probanden wird ein Feuer entfacht. Dann tragen wir irgendwelche Sachen zwischen Feuer und Gefesselten hin und her. Die können davon nur die Schatten an der Wand sehen! Und halten sie für real.« Panel 7: »Die Scheinhaftigkeit des Seins! Die falsche Vertrautheit mit der Welt! Praktisch alles!«

▷ AUFGABE 2:  Descartes war auf der Suche nach einer Grundlage für menschliches

Wissen, das nicht weiter bezweifelt werden kann. Ähnlich wie Platon wollte er keinen Täuschungen und Irrtümern aufsitzen. Deswegen reichte ihm der geringste Zweifel aus, um eine Meinung zu verwerfen. Wie Platon bezieht er sich dabei zunächst auf Gegenstände der Außenwelt. Wie allseits bekannt, gibt es Sinnestäuschungen. Außerdem gibt es keine Möglichkeit, zweifelsfrei festzustellen, ob die Existenz der Außenwelt geträumt oder halluziniert wird. Aber auch die Dinge, die das reine Denken betreffen, könnten durch Eingebungen eines Betrügergottes getäuscht sein, so dass auch bei Schlussfolgerungen des Verstandes Irrtümer nicht ausgeschlossen werden können. Eine Ausnahme findet Descartes mit seinem berühmten »Cogito ergo sum«. Das Denken verlangt ein Subjekt, dessen Existenz nicht bezweifelt werden kann. Durch das Denken kann man sich sicher sein, dass man existiert. Auch bei Platon verliert das sinnlich Erfahrbare seine Bedeutung, je weiter der Befreite aus der Höhle gelangt. Zunächst verharrt er auf der Stufe des Vermutens und Meinens. Erst nach und nach erkennt er, dass er das, was er bisher mit seinen Sinnen wahrgenommen hat, eine Täuschung ist. Zunächst nimmt er die an die Wand projizierten Schattenbilder als Täuschung wahr, anschließend die Gegenstände, die zwischen dem Feuer und den Gefesselten transportiert werden. Erst durch geistige Einsicht gelangt der Mensch zur Erkenntnis der Ideen.



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▷ AUFGABE 3:  Zur Lösung dieser Aufgabe bedarf es der Auseinandersetzung mit

dem Vorwurf, Platon entwerte zu Unrecht die sinnliche Wahrnehmung und überbewerte die Vernunft. Dazu könnten folgende Aspekte genannt werden: Der Vorwurf ist berechtigt, denn Platon wertet alles Körperliche massiv ab und wertet das Geistig-Denkbare auf. Nur dem Philosophen gelingt es, den Weg aus der Höhle hinaus zu beschreiten und die Idee des Guten zu sehen. Als Beweis könnte der Philosophenherrscher genannt werden, der einer fünfzig Jahre langen Ausbildung unterliegt, bevor er in sein Amt eingeführt wird (Betonung des Geistigen); er darf keine Familie haben (Abwertung des Körperlichen). Andererseits könnte man einwenden, dass es bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit auch der Sinne und damit des Körpers bedarf. Problematisiert werden könnte in diesem Zusammenhang auch, ob es menschliches Wissen gibt, das nicht aus sinnlichen Wahrnehmungen gewonnen wird, sondern auf reinem Nachdenken beruht.

TE X TE

■ Platon: Das Höhlengleichnis13 Im folgenden Gesprächsausschnitt unterhält sich Sokrates mit Platons älterem Bruder Glaukon. Sokrates redet als Erster.

Sokrates: Und nun vergleiche Bildung und Unbildung in unserer Natur mit folgendem Zustand. Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnstätte mit lang nach aufwärts gestrecktem Eingang, entsprechend der Ausdehnung der Höhle. Von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt mit Fesseln an Schenkeln und Hals; sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, denn durch die Fesseln werden sie gehindert, ihren Kopf herumzubewegen. Von oben her aber aus der Ferne leuchtet hinter ihnen das Licht eines Feuers. Zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, dem entlang eine niedrige Mauer errichtet ist ähnlich der Schranke, die die Puppenspieler vor den Zuschauern errichten, um über sie weg ihre Kunststücke zu zeigen. Glaukon: Das steht mir alles vor Augen. Sokrates: Längs dieser Mauer – so mußt du es dir nun weiter vorstellen – tragen Menschen allerlei Geräte vorbei, die über die Mauer hinausragen, Statuen verschiedenster Art aus Stein und Holz von Menschen und anderen Lebewesen, wobei, wie begreiflich, die Vorübertragenden teils reden, teils schweigen.

Platon: Der Staat. Über das Gerechte, 10 Bücher, 7. Buch, übersetzt und erläutert von Apelt, Otto, Fekix Meiner, Hamburg 1989, S. 268–272 (514a – 517a).

13

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Glaukon: Ein sonderbares Bild, das du da vorführst, und sonderbare Gefangene. Sokrates: Sie gleichen uns. Können denn zunächst solche Gefesselte von sich selbst und voneinander etwas anderes gesehen haben als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle geworfen werden? Glaukon: Wie wäre das möglich, wenn sie ihr Leben lang den Kopf unbeweglich halten müssen? Sokrates: Und ferner: gilt von den vorübergetragenen Gegenständen nicht dasselbe? Glaukon: Was denn sonst? Sokrates: Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie der Meinung wären, die Benennungen, die sie dabei verwenden, kämen den Dingen zu, die sie unmittelbar vor sich sehen? Glaukon: Notwendig. Sokrates: Ferner, wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegenüberliegenden Wand ermöglichte, meinst du da, wenn einer der Vorübergehenden gerade etwas sagte, sie würden dann die gehörten Worte einem anderen zulegen als dem jeweils vorüberziehenden Schatten? Glaukon: Nein, beim Zeus. Sokrates: Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr halten als die Schatten der künstlichen Gegenstände. Glaukon: Notwendig. Sokrates: Nun betrachte den Hergang ihrer Lösung von den Banden und ihrer Heilung von dem Unverstand, wie er sich gestalten würde, wenn sich Folgendes naturgemäß mit ihnen zutrüge: wenn einer von ihnen aus den Fesseln befreit und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, sich in Bewegung zu setzen und nach dem Licht emporzublicken und alles dies nur unter Schmerzen verrichten könnte und geblendet von dem Glanz nicht imstande wäre, jene Dinge zu erkennen, deren Schatten er vorher sah, was, glaubst du wohl, würde der sagen, wenn man ihn versicherte, er hätte damals lauter Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden näher gerückt und auf Dinge hingewandt, denen mehr Sein zukäme, und sehe deshalb richtiger? Wenn man zudem noch ihn auf jedes der vorüberziehenden Dinge hinwiese und ihn nötigte, auf die Frage zu antworten, was es sei? Meinst du da nicht, er werde weder aus noch ein wissen und glauben, das vordem Geschaute sei wirklicher als das, was man ihm jetzt zeige? Glaukon: Weitaus. Sokrates: Und wenn man ihn nun zwänge, seinen Blick auf das Licht selbst zu richten, so würden ihn doch seine Augen schmerzen, er würde sich abwenden und wieder jenen Dingen zustreben, die er anschauen kann, und diese würde er doch für tatsächlich gewisser halten als die, die man ihm zeigte? Glaukon: Ja.



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Sokrates: Wenn man ihn nun aber von dort gewaltsam durch den holprigen und steilen Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhte, bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben? Und wenn er an das Licht käme, dann würde er, völlig geblendet von dem Glanz, von alledem, was ihm jetzt als das Wahre angegeben wird, überhaupt nichts zu erkennen vermögen? Glaukon: Nein, wenigstens für den Augenblick nicht. Sokrates: Er würde sich also erst daran gewöhnen müssen, wenn es ihm gelingen soll, die Dinge da oben zu schauen. Zuerst würde er wohl am leichtesten die Schatten erkennen, darauf die Abbilder der Menschen und der übrigen Dinge im Wasser, später dann die Gegenstände selbst; in der Folge würde er dann zunächst bei Nacht die Erscheinungen am Himmel selbst betrachten und das Licht der Sterne und des Mondes anschauen. Das wird ihm leichter fallen, als wenn er bei Tage die Sonne und das Sonnenlicht ansehen sollte. Glaukon: Gewiß. Sokrates: Zuletzt dann, denke ich, wird er imstande sein, die Sonne, nicht etwa bloß ihre Spiegelbilder im Wasser oder sonst irgendwo, sondern sie selbst in voller Wirklichkeit an ihrer eigenen Stelle zu schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten. Glaukon: Notwendig. Sokrates: Und dann würde er schlußfolgernd erkennen, daß sie es ist, der wir die Jahreszeiten und die Jahresumläufe verdanken, und daß sie über allem waltet, was in der sichtbaren Welt sich befindet, und in gewissem Sinne auch die Urheberin all jener Erscheinungen ist, die sie vordem schauten. Glaukon: Offenbar würde er in solcher Reihenfolge zu dieser Einsicht gelangen. Sokrates: Wie nun? Meinst du nicht, er würde in der Erinnerung an seine erste Wohnstätte, an seine dortige Weisheit und an seine damaligen Mitgefangenen sich nun glücklich preisen wegen dieser Veränderung, jene dagegen bemitleiden? Glaukon: Sicherlich. Sokrates: Wenn es damals aber unter ihnen gewisse Ehrungen, Lobpreisungen und Auszeichnungen gab für den, der die vorüberziehenden Schatten am schärfsten wahrnahm und sich am besten zu erinnern wußte, welche von ihnen gewöhnlich eher, welche später und welche gleichzeitig vorüberwandelten, und auf Grund dessen am sichersten zu erraten verstand, was danach sich einstellen werde, glaubst du etwa, daß er sich danach zurücksehnen und die bei ihnen durch Ehren und Macht Ausgezeichneten beneiden werde? Oder wird er nicht vielmehr nach Homer das harte Los wählen, viel lieber ›einem anderen, einem unbegüterten Manne um Lohn dienen zu wollen‹, und lieber alles andere über sich ergehen lassen, als im Banne jener Trugmeinungen zu stehen und ein Leben jener Art zu führen?

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Glaukon: Ja, ich denke, er würde lieber alles andere über sich ergehen lassen als auf jene Weise leben. Sokrates: Und nun bedenke auch noch Folgendes: Wenn ein solcher wieder hinabstiege in die Höhle und dort wieder seinen alten Platz einnähme, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht werden in Finsternis, wenn er plötzlich aus der Sonne dort anlangte? Glaukon: Gewiß. Sokrates: Wenn er nun wieder, bei noch anhaltender Trübung des Blicks, mit jenen ewig Gefesselten wetteifern müßte in der Deutung jener Schattenbilder, ehe noch seine Augen sich der jetzigen Lage wieder völlig angepaßt haben – und die Gewöhnung daran dürfte eine ziemlich erhebliche Zeit fordern –, würde er sich da nicht lächerlich machen? Würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran, daß er mit verdorbenen Augen wiedergekehrt sei, und schon der bloße Versuch, nach oben zu gelangen, sei verwerflich? Und wenn sie den, der es etwa versuchte, sie zu entfesseln und hinauszuführen, irgendwie in ihre Hand bekommen und umbringen könnten, so würden sie ihn doch auch umbringen? Glaukon: Sicherlich.

■ René Descartes: Der methodische Zweifel14

1. Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend haben gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, daß ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte. Indessen schien mir dies ein gewaltiges Unternehmen zu sein, und ich wartete daher dasjenige reifere Alter ab, dem keines mehr folgen würde, das geeigneter wäre, sich der Wissenschaften gründlich anzunehmen. […] So habe ich denn heute zur rechten Zeit meine Gedanken aller Sorgen entledigt, mir ungestörte Muße in einsamer Zurückgezogenheit verschafft und werde endlich ernsthaft und unbeschwert zu diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen schreiten. 2. Dazu wird es indessen nicht nötig sein zu zeigen, daß sie alle falsch sind, denn das würde ich wohl niemals erreichen können; da es jedoch nur vernünftig ist, bei dem nicht ganz Gewissen und Unzweifelhaften ebenso sorgsam seine Zustimmung zurückzuhalten wie bei offenbar Falschem, so wird es, sie alle zurückzuweisen, genügen, wenn ich in einer jeden irgendeinen Grund zu zweifeln antreffe. Auch brauche ich sie deswegen nicht alle einzeln durchzugehen, was eine endlose Arbeit wäre; ich

14

Descartes, René: Meditationes de prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Gäbe, Lüder, Felix Meiner, Hamburg 1992, S. 31–41.



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werde vielmehr, da bei untergrabenen Fundamenten alles darauf Gebaute von selbst zusammenstürzt, den Angriff sogleich auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine früheren Meinungen stützten. 3. Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahintergekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben. 4. Indessen – mögen uns auch die Sinne mit Bezug auf zu kleine und entfernte Gegenstände bisweilen täuschen, so gibt es doch am Ende sehr vieles andere, woran man gar nicht zweifeln kann, wenngleich es aus denselben Quellen geschöpft ist; so z. B. daß ich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, daß ich dieses Papier mit den Händen betaste und ähnliches; vollends daß diese Hände selbst, daß überhaupt mein ganzer Körper da ist, wie könnte man mir das abstreiten? Ich müßte mich denn mit ich weiß nicht welchen Wahnsinnigen vergleichen, deren ohnehin kleines Gehirn durch widerliche Dünste aus ihrer schwarzen Galle so geschwächt ist, daß sie hartnäckig behaupten, sie seien Könige, während sie bettelarm sind, oder in Purpur gekleidet, während sie nackt sind, oder sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien gar Kürbisse oder aus Glas; – aber das sind eben Wahnsinnige, und ich würde ebenso wie sie von Sinnen zu sein scheinen, wenn ich mir sie zum Beispiel nehmen wollte. 5. Vortrefflich! – Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der des Nachts zu schlafen pflegt, und dem dann genau dieselben, ja bisweilen noch weniger wahrscheinliche Dinge im Traume begegnen, als jenen im Wachen! Wie oft doch kommt es vor, daß ich mir all diese gewöhnlichen Umstände während der Nachtruhe einbilde, etwa daß ich hier bin, daß ich, mit meinem Rocke bekleidet, am Kamin sitze, während ich doch entkleidet im Bette liege! Jetzt aber schaue ich doch sicher mit wachen Augen auf dieses Papier, dies Haupt, das ich hin und her bewege, schläft doch nicht, mit Vorbedacht und Bewußtsein strecke ich meine Hand aus und fühle sie. So deutlich geschieht mir dies doch nicht im Schlaf. – Als wenn ich mich nicht entsänne, daß ich sonst auch schon im Traume durch ähnliche Gedankengänge genarrt worden bin! Denke ich einmal aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können, – so daß ich ganz betroffen bin und gerade diese Betroffenheit mich beinahe in der Meinung bestärkt, ich träumte. 6. Meinetwegen: wir träumen. Mögen wirklich alle jene Einzelheiten nicht wahr sein, daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken; ja, mögen wir vielleicht gar keine solchen Hände, noch überhaupt solch einen Körper haben. […] 8. Man darf wohl mit Recht hieraus schließen, daß zwar die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der

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zusammengesetzten Dinge ausgehen, zweifelhaft sind, daß dagegen die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art, die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenständen handeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht, etwas von zweifelloser Gewißheit enthalten. Denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2 + 3 = 5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten können. 9. Es ist indessen in meinem Denken eine alte Überzeugung verwurzelt, daß es einen Gott gebe, der alles vermag, und von dem ich so, wie ich bin, geschaffen wurde. Woher weiß ich aber, ob er nicht bewirkt hat, daß es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt und daß dennoch dies alles genau so, wie es mir jetzt vorkommt, bloß da zu sein scheint; ja sogar auch, so wie ich überzeugt bin, daß andere sich bisweilen in dem irren, was sie vollkommen zu wissen meinen, ebenso könnte auch ich mich täuschen, sooft ich 2 und 3 addiere oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch leichteres denken mag. […] 12. So will ich denn annehmen, nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern glaubte nur fälschlich das alles zu besitzen. Und ich werde hartnäckig an diesem Gedanken festhalten und werde so – wenn ich auch nicht imstande sein sollte, irgendetwas Wahres zu erkennen, – mich doch entschlossenen Sinnes in acht nehmen, soviel an mir liegt, nichts Falschem zuzustimmen, noch von jenem B ­ etrüger mich hintergehen zu lassen, so mächtig und so verschlagen er auch sein mag.



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■ René Descartes: Cogito, sum15

1. Die gestrige Meditation hat mich in so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessen kann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen sind; sondern ich bin wie bei einem unvorhergesehenen Sturz in einem tiefen Strudel so verwirrt, daß ich weder auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen kann. Dennoch will ich mich herausarbeiten und von neuem ebenden Weg versuchen, den ich gestern eingeschlagen hatte: nämlich alles von mir fernhalten, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt, genau so, als hätte ich sicher in Erfahrung gebracht, daß es durchaus falsch sei. Und ich will so lange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder, wenn nichts anderes, so doch wenigstens das für gewiß erkenne, daß es nicht Gewisses gibt. Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlanget Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist. 2. Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt: ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären. Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur dies eine, daß nichts gewiß ist? 3. Aber woher weiß ich denn, daß es nichts anderes als alles bereits Aufgezählte gibt, an dem zu zweifeln auch nicht der geringste Anlaß vorliegt? Gibt es etwa einen Gott, oder wie ich den sonst nennen mag, der mir diese Vorstellungen einflößt? – Weshalb aber sollte ich das annehmen, da ich doch am Ende selbst ihr Urheber sein könnte? Also wäre doch wenigstens ich irgend etwas? Aber – ich habe bereits geleugnet, daß ich irgendeinen Sinn, irgendeinen Körper habe. Doch hier stutze ich: Was soll daraus folgen? Bin ich etwa so an den Körper und die Sinne gefesselt, daß ich ohne sie nicht sein kann? Indessen, ich habe mir eingeredet, daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht? Keineswegs; sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe. – Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. – Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: »Ich bin, ich existiere«, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist. 6. […] Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. Wie lange aber? Nun, solange ich denke. Denn vielleicht könnte es sogar geschehen, daß ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald aufhörte zu sein.

15

Descartes, René: Meditationes de prima Philosophia, a. a. O., S. 41–47.

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 M 4   Was darf ich hoffen? – Metaphysik16

 Aufgaben 1. Stellen Sie das Problem dar, das in dem Comicstrip angesprochen wird. 2. Erklären Sie, welche Antwort Camus auf die Frage Snoopys gegeben hätte! 3. Begründen Sie ein eigenes Urteil in Hinblick auf die Bedeutung der Frage nach dem Sinn des Lebens und des Daseins für den Menschen.

Erwartungshorizont

▷ AUFGABE 1:  Snoopy findet gelegentlich nachts keinen Schlaf und setzt sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens auseinander. Allerdings findet er auf die Frage, was er eigentlich auf der Erde macht, keine Antwort. Anhand seiner Mimik kann man erkennen, dass er darüber nicht sonderlich erfreut scheint.



16

Schulz, Charles M.: Ob du’s glaubst oder nicht, Charlie Brown, übers. von Tibusek, Ralf, Brunnen Verlag, Gießen 1992, S. 59.



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▷ AUFGABE 2:  Mithilfe des Mythos des Sisyphos zeigt Camus, wie sich der Mensch

die Sinnlosigkeit des Lebens zunutze machen kann. Ihm zufolge sehnt sich der Mensch nach Sinn(erfüllung). In Extremsituationen erfährt er die Absurdität des Lebens (Welt ohne Sinn). Wenn ihm das bewusst wird und er bereit ist, das zu akzeptieren, kann er sich im Leben einrichten und das Gegebene ausschöpfen: mehr Lebensintensität und Erkenntnis menschlicher Werte wie Freundschaft, Liebe und Freiheit. Der Sinn des Lebens ist, trotz der zu akzeptierenden letztlichen Sinnlosigkeit des Lebens dagegen zu protestieren und sich verantwortungsvoll für Solidarität unter den Menschen einzusetzen.

▷ AUFGABE 3:  Dem Menschen ist es als einziges Lebewesen vorbehalten, bewusst über die Frage nach dem Leben nachzudenken. Offenbar gehört diese Frage wesentlich zu seinem Menschsein. Dies deutet darauf hin, dass es einen Sinn des Lebens geben könnte. Zumindest aber scheint die Frage nach dem Sinn keine überflüssige zu sein. Der Mensch ist geprägt von unstillbarer Sehnsucht danach, Antwort auf diese Frage zu finden. Andererseits kann man auch argumentieren, dass die Frage nach dem Sinn keine Bedeutung für den Menschen hat, da er ins Leben geworfen und eines Tages sterben wird.

TE X T

■ Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos17

Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter. Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kräfte gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter den gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen sich der Arbeiter bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und

17

Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos.«, in: ders.: Der Mythos von Sisyphos, Ein Versuch über das Absurde, übers. von Brenner, Hans Georg; Rasch, Wolfdietrich, mit einem kommentierenden Essay von Richter, Liselotte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 99 und S. 100–101.

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rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das eigentlich eine Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann. […] Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß. Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder, nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenleben auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Auswahlbibliographie Philosophieren mit Comics und Graphic Novels

Bolz, Martin: »Von dem Wandern zwischen den Welten und der Macht der kleinen Bilder: Comics«, in: ders. (Hrsg.): Philosophieren in schwieriger Zeit, Philosophie in der Schule, Bd. 4, LIT Verlag, Münster/Hamburg/London 2003, S. 211–229. Dallmann, Sven: »›Probier’s doch mal …‹ Mittelalterliche (Gedanken-) Experimente im Comic«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 25–28. – : »Erkenntnisse über die Welt – Erkenntnistheoretische Überlegungen mit der Graphic Novel Ganz allein von Chabouté«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 37–42. – : »Es geht um Geld – ich habe nicht genug! Moralische Überlegungen in einem Comic untersuchen«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 14–17. Düfel, Stefan: »Die Goldene Regel und ihre Grenzen. Zur Kritik eines ethischen Prinzips«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 35–37. Engels, Helmut: »Wie du mir, so ich dir … oder: Darf Vergeltung ein Handlungsmotiv sein?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 7–9. Heil, Benjamin: »‚Muss man etwas sein?‘ Die Frage nach der menschlichen Existenz bei Hägar und Sartre«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreck­ liche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 45–47. Hempel, Brita: »Nur Denker existieren? Sven Glückspilz und Descartes«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 38–40. Kapetanovic, Pit: »Muss man es jedem recht machen? Hägar und das Plündern«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 22–24. Klager, Christian: »Alle Wikinger lügen … – Das Lügnerparadoxon«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 10–13. Kles, Eva: »Brunhilde und die Care-Arbeit. Erziehungsarbeit als Aufgabe, gesellschaftliche Strukturen und Geschlechterrollen zu befragen«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S.18–21. – : »Hägars Gespräch mit Gott. Die Bedeutung von Gebeten«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 41–44.

246 Auswahlbibliographie

Mayer, Simon: »Ich und mein Super-Ich«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 30–36. Mayer, Simon: Formensprache und Gewalt im Comic, Material Extra (Mittelteil), in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 1–12. Möller, Cordula: »Unser Zugang zur Wirklichkeit. Von Missverständnissen und falschen Deutungen«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 29–31. Peters, Jörg: »Bilder und Comics«, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik, 2 Bde. Bd. 1: Didaktik und Methodik, UTB 8617, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, S. 277–293. – : »Mit Wort und Bild philosophieren«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 8–13. Pörschke, Tim: »Emotionen, Korrelation, Kausalität und Prognosen. oder: Gibt es sichere Voraussagen?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 48–50. – : »Glück, Zufriedenheit und der Umgang mit irdischen Gütern oder: Schaffe ich es, mir genug zu besorgen?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 32–34. Schulz, Kim-André: »Verliebt in einen Roboter«, in: Ethik & Unterricht 30, 2019, Heft 4: Bilderbuch und Comic, S. 43–47. Seele, Katrin: »Interkulturelles Philosophieren mit Comics und goanimate.com. Buddhismus. Sekundarstufe I«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 34, 2012, Heft 1: Woran glaubst du?, S. 29–31. Siekmann, Andreas: »Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 4–6. – : »Hägar und die Sinnfrage oder: Warum sind wir hier?«, in: Praxis Philosophie & Ethik 6, 2020, Heft 5: Hägar der Schreckliche – Eine schrecklich philosophische Comicfigur (Einzelstunden), S. 51–54. Wiesinger, Kai: »Die schwierige Liebe zur Wahrheit – Blick mit einem Comic auf das Höhlengleichnis«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 4: Liebe, S. 304–309.