Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert 9783787319756, 9783787319749

Seit dem Beginn der Publikation der "Nachgelassenen Manuskripte und Texte" Cassirers (ECN) sowie der "Ges

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Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert
 9783787319756, 9783787319749

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CASSIRER-FORSCHUNGEN

CASSIRER-FORSCHUNGEN Band 15

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Birgit Recki (Hg.)

Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN print 978-3-7873-1974-9 ISBN E-Book 978-3-7873-1975-6

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work : at : BOOK / Martin Eberhardt, Berlin. Druck: xPrint, Pribram. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Einleitung der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSTER TEIL: ZEITLOSIGKEIT UND ZEITGENOSSENSCHAFT: NACHLEBEN UND AKTUALITÄT DER GESCHICHTE IM DIALOG Dorothea Frede: Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Meyer: Spinoza in Weimar. Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Mehring: Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann in ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Michael Krois: Cassirer’s Revision of the Enlightenment Project . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 41 67 89

ZWEITER TEIL: ERKENNTNISPROBLEME UND DIE K ULTUR DER W ISSENSCHAFTEN Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer und die zwei Kulturen . . . . . . . . . Reto Luzius Fetz: »Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln«. Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Möckel: Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Ernst Cassirer über methodologische Analogien . . . Martina Plümacher: Menschliches Wissen in Repräsentationen . . . . . . Hans Jörg Sandkühler: Kritik der Gewißheit. Zeitgenossenschaft – Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Gaston Bachelards Épistémologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Pätzold: Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit Herbert Kopp-Oberstebrink: Konstellationen und Kontexte. Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Ernst Cassirers Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

131 155 181

203 233

255

6

Inhalt

Riccardo De Biase: Morphological Historicism and Ethical Destination. Ernst Cassirer’s Conception of the History of Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sebastian Ullrich: Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹ . . . . . . . . . . . . . . 297

DRITTER TEIL: ZU GRUNDLEGUNGSFRAGEN: KULTURPHILOSOPHIE UND ANTHROPOLOGIE Ernst Wolfgang Orth: Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Massimo Ferrari: Das Faktum der Wissenschaft, die transzendentale Methode und die Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer . . . . . . . . . . Gerald Hartung: Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie . . . . . . . . . Ursula Renz: Rationalität und Symbolizität: Alternative oder ergänzende Bestimmungen des Humanum? . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Stoellger: Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen. Zum Imaginären als Figur des Dritten zwischen Symbolischem und Realem . . . . . . . Ralf Becker: Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323 337 359 377

393 421

VIERTER TEIL: DIE VIELFALT DER SYMBOLISCHEN FORMEN: SPRACHE, MYTHOS, RELIGION, KUNST, TECHNIK, RECHT Esther Oluffa Pedersen: Cassirers Philosophie des Mythos – eine Erweiterung der Sphäre der kritischen Philosophie . . . . . . . . . Michael Bongardt: Wider die Sprachlosigkeit. Zur Bedeutung der Religion in Ernst Cassirers Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . Edward Skidelsky: Cassirer on Science and Religion . . . . . . . . . . . . . . . Marion Lauschke: Scheitern des Synthesevermögens oder Kontinuum des Formbegehrens? Das Erhabene bei Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . Fabien Capeillères: Filling a Gap. Cassirer’s Interpretation of Wölfflin and Art as a Symbolic Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Naumann: Versteckte Korrespondenzen. Ernst Cassirer als Leser der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Mattenklott: Cassirer und die künstlerische Moderne . . . . . . . . . Brigitte Falkenburg: Wissenschaft und Technik als symbolische Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 457 483 491 511 529 543 567

7

Inhalt

Christian Bermes: Technik als Provokation zur Freiheit. Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik . . . . . . . . . . 583 Volker Gerhardt: Menschwerdung durch Technik. Ernst Cassirers Theorie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Michael Moxter: Recht als symbolische Form? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

FÜNFTER TEIL: FRAGEN

DES

STILS?

Roger H. Stephenson: Ernst Cassirers Stilbegriff zwischen Philosophie und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Oliver Müller: Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675

Einleitung der Herausgeberin

Bei dem hier vorgelegten Band handelt es sich um die Dokumentation jener internationalen Konferenz, mit der die Cassirerforschung vom 4. bis 6. Oktober 2007 den Abschluß der Hamburger Ausgabe feiern konnte: Ein gutes Jahrzehnt hatte seit der Gründung der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle im Mai 1997 die Arbeit an dem größten geisteswissenschaftlichen Projekt gewährt, das an der Universität Hamburg jemals realisiert worden ist: die vollständige Edition des zu Lebzeiten veröffentlichten Werkes in 25 Bänden.1 Durch die besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen des Exils seit 1933 – nach einigen Stationen zunächst seit 1937 als Professor an der Universität Göteborg, nach seiner dortigen Emeritierung als Gastprofessor in Yale und New York bis zu seinem Tode 1945 – hatte Ernst Cassirer, der von 1919 bis 1933 im Amt eines Ordinarius für Philosophie an der Hamburgischen Universität wirkte, keine Ausgabe letzter Hand seines umfangreichen Werkes besorgen können. Die Hamburger Ausgabe sollte diesen Mangel beheben, so der gemeinsame Plan der Herausgeberin und des Verlags, der im Oktober 1997 glücklich erfüllt war. Seitdem liegen allererst sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften des Philosophen in einer einheitlichen, durchgängig recherchierten, den zeitgenössischen Textstandards genügenden Gesamtausgabe vor.2 Das Werk Ernst Cassirers durfte damit editorisch als erschlossen gelten.3 Unter einem Titel, der es nahelegen sollte, die im engeren Sinne historischen Beiträge des Philosophen ebenso umfänglich zum Thema zu machen wie sein selbständiges systematisches Werk und in dem sich die Erinnerung an eine in Teilen prekäre Vorgeschichte der Rezeption mit der begründeten Erwartung an eine nunmehr realisierbare Aktualität dieses Gesamtwerkes verbindet, kamen die 33 Autoren dieses Bandes

1

Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. [ECW]. – Für den Druckkostenzuschuß zu diesem Band wie auch schon für die großzügige Finanzierung der Konferenz, aus der er hervorgegangen ist, danke ich der ZEITStiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg. 2 Siehe für die Prinzipien der Arbeit im Ganzen und die Fallentscheidungen im Besonderen jeweils den Editorischen Bericht, der in jedem einzelnen Band der Ausgabe enthalten ist. 3 Inzwischen liegt auch vor Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Band 26: Register, erstellt von Ralf Becker, Hamburg 2009.

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Birgit Recki

aus Deutschland, der Schweiz, Italien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und den USA im Oktober 2007 in Hamburg zusammen: Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Der Gewinn, den die Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke Ernst Cassirers nach zehn Jahren sukzessiver Vervollständigung schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung für die Kultur der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dessen reichem Werk und schließlich für die Kultur des Philosophierens bedeutete, wird dabei unübersehbar: In zahlreichen der Beiträge, die nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind, ist schon erkennbar geworden, wie sich aus der Verfügung über den Zusammenhang des Werkes, etwa durch Rekurs auf zuvor in entlegenen Periodika und Sammelbänden veröffentlichte Aufsätze, neue Befunde für die Cassirer-Forschung gewinnen lassen.

1. Philosophie der Kultur Unangefochten freilich geht auch aus aller Vertiefung in bisher unerschlossene Dimensionen seines Denkens hervor: Der systematisch bemerkenswerte Beitrag Ernst Cassirers zur Philosophie der Moderne ist die Theorie der Kultur, die er in der Philosophie der symbolischen Formen entfaltet.4 Durch die symboltheoretische Grundlegung der Kultur, zu deren wichtigster Leistung die Analyse der wesentlichen Formen und Funktionen von Symbolisierung in den verschiedenen kulturellen Systemen gehört, hat Cassirer in seiner Philosophie der Kultur gezeigt, wie es zu denken ist, daß der Mensch von Natur aus Kultur hat. Die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum findet sich in Cassirers Werk zwar erst spät, im Essay on Man 1944. Doch das heißt nicht, daß der mit ihr artikulierte Gedanke erst spät aufträte. Wie man generell mit Cassirer Begriffsgeschichte als Problemgeschichte und nicht als Wortgeschichte aufzufassen hat, so hat man auch hier in dem von ihm geprägten Begriff den anthropologischen Gedanken zu sehen, der bereits seiner Philosophie der symbolischen Formen zugrunde liegt. Absichtsvoll in der Schwebe zwischen hermeneutischem und pragmatischem Verständnis besagt dieser Gedanke: Der Mensch ist das symbolerzeugende und das symbolverstehende Wesen. Die Begriffe von Symbol,

Siehe in diesem Band die Beiträge unter den Rubriken Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie und Die Vielfalt der symbolischen Formen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Recht. – Ich schreibe entsprechend einer inzwischen verbreiteten Übereinkunft kursiv Philosophie der symbolischen Formen, wenn das dreiteilige Reihenwerk unter diesem Titel, und recte Philosophie der symbolischen Formen, wenn die nicht allein dort, sondern zudem in einem guten Dutzend sachlich wie methodisch grundlegender Abhandlungen ausgebreitete Theorie gemeint ist. 4

Einleitung

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Symbolisierung, symbolischer Form stehen damit in der Dimension der Grundlegung einer Philosophie der Kultur als der humanen Welt. In diesem Gedanken schießen wie in einem Kristall die Ansprüche zusammen, denen nach der Einsicht dieses Autors eine angemessen reflektierte Theorie zu genügen hat. Cassirer realisiert mit diesem Begriff vom Menschen das eigene schon früh geltend gemachte Postulat vom Primat der Funktionsbegriffe vor den Substanzbegriffen, indem er damit den Menschen rein funktionell bestimmt durch das, was in menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt. Indem er durch die Konzeption der symbolischen Aktivität Poiesis, die selbsttätige Produktivität, als den Nukleus der menschlichen Welt und diese als nichts anderes denn das Produkt der hier in ihrem Inbegriff kondensierten Leistungen begreift, bahnt er dem Verständnis des menschlichen Wesens als produktive geistige Aktion im Wandel den Weg und gehört damit zu den Kronzeugen einer Einsicht, die man nicht wenigen Theoretikern der Gesellschaft, kritischen wie unkritischen, noch heute nahebringen muß, als handelte es sich um etwas ganz Neues: Anthropologisches und historisches Denken, Anthropologie und Geschichtlichkeit stehen nicht im Verhältnis systematischer Unvereinbarkeit zueinander. In der materialen Ausprägung, die Cassirer seinen Grundlegungsgedanken mitteilt, ist zugleich ein Konzept der Einheit und der Vielfalt der Kultur entwickelt, an dem heute mehr denn je ein vitales Interesse besteht. Bemerkenswert ist daran, daß Cassirer sein Hauptwerk, mit dem er ausdrücklich den Anspruch erhebt, eine Grundlegung der Geisteswissenschaften zu leisten, zugleich als eine neue Grundlegung der Naturwissenschaften anlegt.

2. Kultur des Philosophierens Philosophieren besteht nicht allein in der methodischen Konstellation aus ursprünglichen Einsichten, diskursiv entwickelten Argumenten und nachvollziehbaren Explikationen. Es hängt auch an der sachgemäßen Einbettung des Gedankens in den Horizont empirischer Erkenntnisse5 und an der historischen wie zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den Gedanken Anderer. Ernst Cassirer darf in jeder der damit beanspruchten Hinsichten als Vorbild für eine Kultur des Philosophierens gelten. Als Cassirer, der neben Philosophie auch Jura, Germanistik, Mathematik, Biologie, Chemie und Physik studiert hatte, zu Beginn der 1920er Jahre mit seinem eigenen in historischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten gut vorbereiteten

Siehe in diesem Band die Beiträge vor allem unter den Rubriken Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften und Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog. 5

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Birgit Recki

philosophischen Systementwurf auch programmatisch auftrat, hatte er sich seinen Namen bereits als Ideenhistoriker der Philosophie, der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, als Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftstheoretiker gemacht. Über Galilei, Descartes, Newton und Einstein hat er ebenso kenntnisreich geschrieben wie über Nikolaus von Kues, Leibniz, Kant und Goethe. An wenigen Denkern des 20. Jahrhunderts läßt sich der mit dem Programm und Wirken Wilhelm von Humboldts verbundene Anspruch auf Einheit von historischem und systematischem Forschen so überzeugend exemplifizieren wie an Ernst Cassirer. Aufgrund seiner gediegenen Kenntnisse in den Geisteswissenschaften wie in den Naturwissenschaften vermochte er über diese fruchtbare Verschränkung von historischem und systematischem Erkenntnisinteresse hinaus mit seiner Theorie der Kultur auch ein Beispiel interdisziplinären Arbeitens zu geben. Diese Interdisziplinarität beschränkt sich keineswegs nur auf die Personalunion eines in den grundlegenden Bereichen philosophischen Denkens und wissenschaftlichen Forschens bewanderten Autors. Schon für seine Hamburger Zeit ist sie nicht allein durch die Zeugnisse eigenen wissenschaftlichen Arbeitens, sondern auch durch eine Reihe fruchtbarer Kontakte zu den anderen Wissenschaften belegt:6 So hatte Cassirer die Kulturhistorische Bibliothek Warburg bereits 1921, im Jahr des ersten Erscheinens seiner so gediegenen wie richtungweisenden Einstein-Studie, für seine Fragestellungen zu nutzen gelernt;7 eine Reihe von wichtigen Abhandlungen im Kontext seiner eigenen Philosophie ist aus Vorträgen in der KBW hervorgegangen und zuerst in den Studien und den Vorträgen der Bibliothek Warburg veröffentlicht worden. Die produktive Freundschaft mit Aby Warburg begann 1924. Für seine Philosophie der Sprache erwies sich sein Austausch mit William und Clara Stern, für die grundlegende Dimension seiner Kulturphilosophie die gute Verbindung zum Institut für Umweltforschung und dessen Leiter Johann Jakob von Uexküll als fruchtbar.8 An der Breite,

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Außer den Hamburger Verbindungen, auf die ich mich aus gegebenem Anlaß hier beschränke, siehe die Dokumentation fruchtbaren wissenschaftlichen Austausches in Ernst Cassirer: Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel. In: Nachgelassene Manuskripte und Texte [ECN] Bd. 18, hg. von John Michael Krois unter Mitarbeit von Marion Lauschke, Claus Rosenkranz, Marcel Simon-Gadhof, Hamburg 2009. – Die Edition dieses Bandes mit ausgewählten Briefen konnte nach dem Abschluß der Hamburger Ausgabe noch in der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle im Warburg-Haus geleistet werden. Dem Hausherrn Professor Dr. Uwe Fleckner sei dafür an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. 7 Siehe Martin Warnke: Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm. In: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London, hg. von Michael Diers, Hamburg 1993. 8 Siehe John Michael Krois: Ernst Cassirer, in: John Michael Krois / Gerhard Lohse / Rainer Nicolaysen: Die Wissenschaftler. Ernst Cassirer – Bruno Snell – Siegfried Landshut (Hamburgische Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen) Hamburg 1994.

Einleitung

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der Gründlichkeit und der Präzision seiner Studien liegt es, daß Cassirer die heute kanonisch gewordene resignative Rede von den »zwei Kulturen« nicht nur programmatisch bestreiten, sondern auch praktisch widerlegen konnte. In seiner methodischen Bemühung um die Einheit der Wissenschaften, die im Horizont seiner Philosophie der symbolischen Formen als einer bedeutungstheoretischen Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen steht, darf sein Denken als beispielhaft und richtungweisend gelten.

3. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert Wie ist es möglich, daß ein Autor, dem solches Lob auszusprechen ist, am Ende des vergangenen Jahrhunderts nach mehreren Jahrzehnten eines Schattendaseins erst wiederentdeckt werden mußte? Das Schicksal nicht weniger großer Werke: daß sie mehr zitiert als gelesen werden, hat besonders schwer die Philosophie der symbolischen Formen betroffen. In vielen geisteswissenschaftlichen Theorien mit zeichen- oder symboltheoretischem Ansatz fällt die zumeist konventionelle, nicht mit der geringsten Auseinandersetzung einhergehende Bezugnahme auf die Philosophie der symbolischen Formen auf. Das spricht zwar für das hohe Prestige, das dem Werk anhaftet, doch während die ideengeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Arbeiten seines Autors sich – neben dem Bereich der historischen Erforschung der Renaissance und der Aufklärung insbesondere in der Kantforschung und in der Geschichte der mathematischen Naturwissenschaften – ununterbrochener diskursiver Anerkennung erfreuten, hat in der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Cassirers eigener theoretischer Beitrag lange Zeit im Schatten der dominierenden Schulen (der an Heidegger anknüpfenden hermeneutischen Schule, der Phänomenologie, der Frankfurter und der Erlanger Schule, der von Wittgenstein ausgehenden analytischen Richtungen u.a.) gestanden. Neben der Tatsache, daß Cassirer nach seinem Tode 1945 an Aufbruch und Neuanfang der Nachkriegsphilosophie keinen Anteil mehr hatte, dürfte auch das nachhaltige, zuletzt von Heidegger in Davos geschürte Vorurteil gegen Cassirers vermeintlichen Neukantianismus als einer überlebten rein akademischen Richtung des Denkens daran ursächlich mitgewirkt haben.9 Es kommt erschwerend hinzu, daß es für seinen Beitrag lange Zeit keinen Sachwalter gab. Selbst in Werk und Wirken seines letzten

Siehe dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C; siehe auch Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer / Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002. 9

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Birgit Recki

Hamburger Assistenten Joachim Ritter, bei dem man sie erwarten dürfte, sucht man nach markanten Hinweisen auf seinen gelehrten und produktiven, dabei stets vorbildlich loyalen Lehrer vergebens. Ritter hatte sich zwar noch im Wintersemester 1932/33 gegen Widerstand in der Fakultät mit nachdrücklicher Unterstützung Cassirers in Hamburg habilitieren können; 10 doch in der im November 1933 gehaltenen Antrittsvorlesung »Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen«,11 die ihren Autor als klarsichtig genug ausweist, in Martin Heideggers Sein und Zeit vor allem einen Beitrag zur philosophischen Anthropologie zu erkennen, fehlt ein Hinweis auf die in der Philosophie der symbolischen Formen enthaltene Anthropologie seines Mentors ebenso wie in den später vorgelegten Schriften jeglicher Hinweis auf dessen philosophisches Werk.12 So kam es, daß die fällige Wiederentdeckung von Cassirers Werk sich zu einem guten Teil dem transatlantischen Reimport unter dem Einfluß seiner ehemaligen Kollegen in Yale verdankt, wo auch große Teile des Nachlasses verwahrt waren. Nachdem der Präsident der Universität Hamburg im Jahr 1974 zum 100. Geburtstag Cassirers in einer Rede an die Verdienste und das Schicksal des Philosophen erinnert und damit den ersten Schritt zu einer überfälligen Wiederentdeckung getan hatte, sollte es noch zwei Jahrzehnte dauern, bis diese Wiederentdeckung sich auch in bemerkenswerten Formen Geltung verschaffte.13 1995 zum 50. Todestag veranstaltete Dorothea Frede am Philosophischen Seminar eine Ringvorlesung,14 in deren Kontext die Idee zu einer Ausgabe der Gesammelten Werke zum Projekt wurde: Mit der Einrichtung der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle in den Räumen des Warburg-Hauses am 1. Mai 1997 konnte die Arbeit an der Hamburger Ausgabe aufgenommen werden. Am 11. Mai 1999 wurde auf Initiative des Präsidenten Jürgen Lüthje zum 80. Jahrestag der Gründung der Hamburgischen Universität der Hörsaal A im Hauptgebäude in Ernst-CassirerHörsaal benannt.15 Auf Cassirers symboltheoretisch fundierte Philosophie der Kultur hatten sich seit den 1920er Jahren nicht allein die Kunsthistoriker der

Vgl. Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer (1948), Hamburg 2003, 205; Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974. 12 Siehe Hans Jörg Sandkühler: „Eine lange Odyssee“ – Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im `Dritten Reich´, in: Dialektik 2006/1. 13 Peter Fischer-Appelt: Zur Erinnerung an Ernst Cassirer, Hamburg 1974. 14 Siehe Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997. 15 Siehe Zum Gedenken an Ernst Cassirer (1874-1945). Ansprachen auf der Akademischen Gedenkfeier am 11. Mai 1999, Hamburger Universitätsreden (Neue Folge 1), hg. von der Pressestelle der Universität Hamburg, Hamburg 1999. 10 11

Einleitung

15

Warburgschule, insbesondere Erwin Panofsky, konstruktiv bezogen. Bis in die jüngste Zeit haben so unterschiedliche Denker wie Edgar Wind, Raymund Klibansky, Eric Weil, Susanne K. Langer, Nelson Goodman, Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu, Clifford Geertz, Seymour Itzkoff, Oswald Schwemmer und Hans Blumenberg Cassirers Ansatz in systematischer (methodologischer, anthropologischer, kulturtheoretischer, soziologischer) Absicht aufgenommen. Unterdessen hat sich auch die Situation der theoretischen Kontroversen verändert: Das Interesse am Paradigma der Repräsentation in der philosophy of mind wie in der Politischen Wissenschaft ist neu erstarkt, der cultural turn und die kulturwissenschaftliche Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften begünstigt die Zuwendung zu den Theorien der Kultur,16 und nicht zuletzt ist nach der Überwindung der ideologiekritischen Vorbehalte, die sich seit den 1960er Jahren gegen die vermeintliche Gefahr des weltanschaulichen Konservatismus auf das Denken in ›anthropologischen Konstanten‹ gerichtet hatten, ein mählich entspannteres Verhältnis zur philosophischen Anthropologie zu verzeichnen.17 Schließlich kann nicht häufig genug darauf hingewiesen werden, in welch hohem Maße die Präsenz eines Autors in Forschung und Diskurs an der Verfügbarkeit seines Werkes hängt, wie sehr insbesondere dessen Zugänglichkeit in einer methodisch einheitlichen Edition wissenschaftliche Forschung und diskursive Auseinandersetzung als Faktoren der Wirkungsgeschichte begünstigen. Für das Werk Ernst Cassirers ist diese generelle Einsicht bereits bestätigt: Seit dem Beginn der Publikation des Nachlasses 1995 durch die Berliner und Leipziger Herausgeber um John Michael Krois (†) und der Hamburger Ausgabe seiner Gesammelten Werke seit 1998 ist über die Jahre ein zunächst stetiges, dann exponentielles Ansteigen der Forschungsliteratur zu Cassirer zu verzeichnen. In welchem Maße die Erwartung an eine nachholende Rezeption berechtigt ist, die aufgrund der unverbrauchten Aktualität dieses Werkes nichts Verspätetes hat, davon vermitteln die im hier vorgelegten Band versammelten Beiträge einen imponierenden Eindruck.

Siehe als besonders markantes Beispiel unter vielen Michael Tomasello: Die Anlage des Menschen zur Kultur; vgl. ders.: »Was ist der Mensch(enaffe)?«, in: Was ist der Mensch? hg. von Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian NidaRümelin, Berlin 2008. 17 Für den Beginn einer Wende siehe beispielhaft Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52. Jg. Heft 5, Berlin 2004. – Mit den Bedenken kritischer Theoretiker und anderer Neomarxisten gegen philosophische Anthropologie setzt sich mit exemplarischem Anspruch auseinander Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, Frankfurt/Main 2006. 16

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Birgit Recki

Am 3. Oktober 2009 starb der Germanist und Komparatist Gert Mattenklott, zu dessen breitgefächerten Forschungsgebieten in Literaturwissenschaften und Philosophie auch das Werk Ernst Cassirers gehörte. Am 30. Oktober 2010 starb John Michael Krois, der Cassirerforscher und Herausgeber, dem die Erforschung des Nachlasses von Ernst Cassirer entscheidende Impuls verdankt. Die Kollegen und Freunde in der Cassirerforschung beklagen den Verlust der beiden bedeutenden Gelehrten. Ich bin froh, unter den Beiträgen zum vorliegenden Band auch deren jüngste Erkenntnisse zum Werk Ernst Cassirers präsentieren zu dürfen. Hamburg, im Dezember 2010

Birgit Recki

Erster Teil Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

Dorothea Frede Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers

Vorbemerkungen: Cassirer und die Philosophiegeschichte Wie allgemein bekannt, gibt es einen Zankapfel innerhalb der philosophischen Zunft. Dieser Zankapfel besteht in der Unterscheidung zwischen Philosophen und Philosophiehistorikern. Letztere hören diesen Titel nicht gern, wenn sie sich damit zu bloßen Pflegern der Ideen großer Philosophen aus der Vergangenheit degradiert und in Gegensatz zu den Philosophen der Gegenwart gestellt sehen, die an der vordersten Front das Neuste vom Neuen ersinnen und sich um das Alte nicht weiter kümmern.1 Über die Berechtigung dieser Zweiteilung ist hier nicht zu reden, sondern sie soll nur als Aufhänger zu einer weiteren Zweiteilung dienen. Unter den Philosophen, die sich überhaupt mit der Geschichte befassen, tun das manche nur zur Ausschmückung der eigenen Werke: Man will nicht als historisch naiv oder ungebildet erscheinen, sondern womöglich auf Parallelen oder Vorwegnahmen verweisen. Andere kümmern sich um die Vergangenheit, weil sie sich selbst in der einen oder anderen Weise als ein Produkt der Philosophiegeschichte verstehen. Dabei mögen sie sich gegen alles Vergangene abzuheben versuchen, wie etwa Descartes, oder für eine dramatische Wendung plädieren, wie Kant. Sie mögen sich gar als die Vollendung der geschichtlichen Entwicklung sehen, wie Hegel, oder auch als Totengräber der Philosophie, wie Nietzsche und manche seiner postmodernen Jünger. Cassirer, so kann man mit Fug und Recht sagen, gehört zu keiner dieser Parteien. Für ihn ist die Philosophiegeschichte deswegen unverzichtbar, weil die großen Fragen der Menschheit im Wesentlichen immer die gleichen bleiben. Nur tauchen sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Gewand und unter verschiedener Begrifflichkeit auf, sie werden

1

Der Streit ist nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern kennzeichnet eigentlich die gesamte Philosophie(geschichte) der Neuzeit. Daß dies ein Phänomen der Neuzeit ist, beruht darauf, daß Historisches zuvor nicht als solches, sondern wenn überhaupt, dann als (noch) lebendige Philosophie behandelt wurde. Einen kurzen Überblick über unterschiedliche Auffassungen im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jh. gibt Rainer A. Bast: Problem, Geschichte, Form: Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000, 9–23.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

besser oder weniger gut verstanden – und die Antworten fallen tiefer oder flacher aus. Da auch Cassirer selbst sich mit diesen Fragen befaßt sieht, ist es für ihn von Interesse, wie die großen Geister der Vergangenheit mit ihnen umgegangen sind. Denn wenn man das Rad nicht stets neu erfinden will, kann man aus den verschlungenen Pfaden der Philosophiegeschichte viel lernen, weil sich dabei auch erstaunliche Verwandtschaften zum eigenen Denken entdecken lassen.2 Daß es Cassirer weder an einer philosophiehistorischen Blütenlese gelegen war noch an der Überwindung der Philosophiegeschichte oder gar deren Vollendung, versteht sich auch deswegen von selbst, weil sein eigenes Bemühen, die verschiedenen Deutungsweisen der Welt möglichst klar zu erfassen, eine lange Tradition hat. Und da für ihn jede Form des Weltverstehens ihr eigenes Recht hat, ist auch jede eines Studiums wert. Eben dies ist der Sinn von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, deren Anliegen das Erfassen der unterschiedlichen Weisen ist, wie die Menschheit all den Dingen, mit denen sie umgeht, eine Bedeutung verleiht. Der so gern zitierte Weg ›vom Mythos zum Logos‹ bei den Griechen hatte für Cassirer nun eine ganz besondere Faszination, denn in der frühgriechischen Kultur kann man sozusagen alle symbolischen Formen auseinandertreten sehen: Mythos, Sprache, Kunst und Wissenschaft. Leider hat Cassirer seine Vorlesungen zur antiken Philosophie nicht in Manuskriptform hinterlassen. So wissen wir, daß er von seiner Berliner Zeit an immer wieder Vorlesungen, Übungen und Seminare zu Themen der griechischen Philosophie abgehalten hat.3 Diese galten teils der historischen Einführung in die Philosophie als solche, teils Platon und teils der Geschichte des Platonismus.4 Aristoteles und den Vorsokratikern scheint Cassirer zwar keine speziellen Veranstaltungen gewidmet, sie aber ständig mit einbezogen zu haben. So kann man von Cassirer in Abwandlung von Ciceros Diktum über den Stoiker Poseidonios sagen: »Er führte stets Anaximander, Heraklit, Parmenides, Demokrit, Platon und Aristoteles im

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So schließt Cassirer einmal seine Betrachtungen über die Wirrsalen in der Philosophiegeschichte und ihre scheinbare Unfruchtbarkeit mit einer positiven Bilanz: »Wer die Gesamtentwicklung des Denkens verfolgt, dem muß deutlich werden, daß es sich in ihm um einen langsamen stetigen Fortschritt derselben großen Probleme handelt. Die Lösungen wechseln, aber die Grundfragen behaupten ihren Bestand. Alles, was gegen sie eingewandt wird, dient nur dazu, sie schärfer und klarer zu formulieren und damit ihre immer erneute Lebenskraft zu beweisen.« (Ernst Cassirer: »Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes« (1906), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Hamburg 2001, 3–36. 3 Ein Verzeichnis von Cassirers Lehrveranstaltungen liegt noch nicht vor; die Informationen verdanke ich John Michael Krois. 4 Später, im Exil, hat Cassirer zwar seine Unterrichtsvorbereitungen auch schriftlich niedergelegt, bisher ist davon aber nichts greifbar.

Frede · Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers

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Munde.«5 Davon zeugen auch diejenigen seiner Schriften, die nicht oder nicht ausschließlich der Philosophiegeschichte gewidmet sind. Dazu kann hier nur einiges besonders Signifikante aufgegriffen werden, denn ein Eilgang durch eine Galerie mag zwar auch seine Reize haben, von den vielen Bildern, die man im Vorbeilaufen sieht, bleibt aber letztlich nichts als der Eindruck einer bunten Vielfalt im Gedächtnis. Daher beschränkt sich diese Darstellung auf vier Punkte: auf eine kurze Charakterisierung von Cassirers Zugang zur griechischen Philosophie überhaupt, auf die Gründe für seine Hochschätzung von Platon und seine Kritik an Aristoteles, sowie auf eine kurze Kennzeichnung seiner leicht veränderten Einstellung zum Platonismus und Aristotelismus der Renaissance. 6 Diese ›Beschränkung‹ ist immer noch ziemlich anmaßend, denn mehr als kurze Skizzen würden umfangreiche Analysen von Cassirers Texten, seinen Auseinandersetzungen mit seinen Zeitgenossen und mit der Sekundärliteratur voraussetzen, die den Rahmen dieses Essays sprengen müßten. 7

I) Cassirer und die Anfänge der griechischen Philosophie In welcher Weise die griechische Philosophie für Cassirer die Einführung in die Philosophie schlechthin darstellt, zeigt etwa seine längere Abhandlung: ›Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon‹.8 Dort bringt Cassirer auf den Punkt, was bis heute den Reiz der Beschäftigung mit der frühgriechischen Philosophie ausmacht: daß hier Inhalt und Form der Welterkenntnis einander wechselseitig hervorbringen. Hier gibt es noch keine traditionellen Probleme, die so oder auch anders behandelt werden können, mit Hilfe dieser oder jener Begrifflichkeit. Was Philosophie ist, wie und worüber sie spricht, wird vielmehr zugleich mit und durch das Denken über die Welt selbst bestimmt. In dieser privilegierten Situation war kein späterer Philosoph mehr, wie sehr er sich auch als Neuerer verstehen und von der Tradition distanzieren mochte. Dies gilt, wie Cassirer

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»Semper habuit in ore Platonem, Aristotelem, Xenocratem, Theophrastum, Dicaearchum […].« Cicero: De finibus 4.79. M. Tulli Ciceronis: De finibus bonorum et malorum libri quique (1998), L. D. Reynolds (Hg.), Oxford 1998. 6 Diese Diskussion beschränkt sich zudem auf ontologische und epistemologische Fragen, unter Ausklammerung der Beurteilung der politisch-anthropologischen Vorstellungen von Platon und Aristoteles, die Cassirer vor allem in seiner späten Schrift The Myth of the State entfaltet. Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25. 7 Besonders lohnend wäre eine vergleichende Studie über Cassirers Rezeption der Antike mit der von Hermann Cohen und Paul Natorp. 8 Ernst Cassirer: »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16, 313–467. Es handelt sich um Cassirers Beitrag zu Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925.

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versichert, auch für die Entdecker des Naturbegriffs in der Renaissance, ob sie nun Galilei oder Kepler heißen; sie alle spinnen doch an den Grundformen griechischer Philosophie und Wissenschaft weiter. Während aber in der Frühmoderne die Naturwissenschaft sich bald von der Metaphysik löste, war das im frühen Griechentum anders. Wie Cassirer es ausdrückt: »[Es] ist ein und derselbe gedankliche Prozeß, in welchem sich der Umriß der ›äußeren‹ und der ›inneren‹ Welt feststellt, in welchem sich die Entdeckung der ›objektiven‹ wie der ›subjektiven‹ Wirklichkeit vollzieht.«9 Daß es bei den Griechen zunächst keinen Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität gab, führt Cassirer wohl zu Recht darauf zurück, daß anfangs gar kein Begriff eines ›objektiven Seins‹ vorlag, sondern ein solcher erst erarbeitet werden mußte. Wie Cassirer es formuliert: »An der Struktur des Seins enthüllt sich ihm [sc. dem Denken] die Struktur des Gedankens – die Begriffe des Kosmos und des Logos werden zu Wechselbegriffen, die sich gegenseitig bestimmen und erleuchten.«10 Und diese wechselseitige Angewiesenheit von Denken und Sein macht Cassirer als die gemeinsame Basis der griechischen Philosophen aus, so unterschiedlich auch ihre Vorstellungen über die Welt im Einzelnen sein mochten. Die ›Begreiflichkeit der Welt‹ wie auch die des menschlichen Lebens ist, bei aller Verschiedenheit, doch immer das gemeinsame Anliegen nicht nur der verschiedenen Philosophen, sondern auch ihrer Gebiete: »So wächst die Physik, die Ethik und die Logik, so wächst das Wissen von der Natur, das Wissen von der Sittlichkeit und das Wissen vom Wissen selbst bei den Griechen aus einer gemeinsamen Wurzel hervor – so stellt es die dreifache Bewährung ein und desselben Grundgedankens dar, in dem sich die bleibende Form des griechischen Geistes ausdrückt.«11 Cassirer meint nun nicht, daß es den griechischen Philosophen gelungen ist, ihre Ansprüche auf solches Wissen voll einzulösen. Es sind aber eben diese Ansprüche, die ihren bedeutendsten Vertretern eine überpersönliche und überzeitliche Bedeutung verliehen haben, so daß wir uns zu Recht heute noch diesen Anspruch zum Maßstab machen, ob wir es wissen oder nicht. Und es ist auch dieser Anspruch, welcher laut Cassirer die Philosophie bereits in ihren Anfängen vom Mythos trennt. Denn hier werden keine mehr oder weniger anthropomorphen ›Geschichten‹ mehr erzählt, sondern Form und Begriff der Natur selbst werden hinterfragt. Denn daß es bei aller Vielfalt, Veränderung und Gegensätzlichkeit der Dinge jeweils eine Ordnung und Einheit geben muß, dies ist für Cassirer der Grundgedanke, dem sich die frühen griechischen Philosophen gestellt haben.

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Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 315. A. a. O., 318. Ebd.

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Daher zeichnet er diesen Grundgedanken und seine Entwicklung in den wesentlichen Zügen nach. Dazu sei angemerkt, daß Cassirers Behandlung der Vorsokratiker zwar bewußt auf Detailfragen wie auch auf eine Beteiligung an gelehrten Kontroversen verzichtet, aber dennoch erkennen läßt, daß beides ihm wohlvertraut ist und er sich jeweils sein eigenes, sorgfältig abgewogenes Urteil gebildet hat. Daher würde sich diese Abhandlung auch heute noch als Einführung eignen, selbst wenn man manches anders ausdrücken würde. Angesichts der Schwierigkeit, ein Prinzip der Einheit in der Vielfalt der Natur zu finden, sieht Cassirer in der Entdeckung der ›Zahlhaftigkeit‹ natürlicher Verhältnisse durch die Pythagoreer eine, wenn nicht gar die entscheidende Neuerung in der Philosophie vor Platon. Denn wenn etwa Heraklit von einem einheitstiftenden Prinzip, dem ›logos‹ spricht, der für Ausgleich sorgt, so bleibt doch das ›Wie?‹ eine offene Frage. Gerade darin haben die Pythagoreer einen wesentlichen Schritt nach vorn getan: Einheit wird auf Zahlenverhältnisse zurückgeführt; dabei dient die Entdeckung bestimmter harmonischer Verhältnisse in der Natur als Bestätigung, vor allem die der Zahlenproportionen natürlicher Intervalle in der Musik. Die Details von Cassirers Nachzeichnung der Entwicklung der griechischen Philosophie bis Platon sind hier zu übergehen. Erwähnt sei lediglich, daß für ihn die Spannung zwischen Natur und Geist ein entscheidendes Moment ausmacht, eine Spannung, welche die Sophisten sich zunutze machten, um die Fragwürdigkeit der Übereinstimmung von Subjektivität und Objektivität als große Herausforderung zu präsentieren. Es war eben diese Herausforderung, die zunächst Sokrates und dann Platon auf den Plan gerufen hat. Die später von Kant so prägnant formulierte Forderung, daß der Mensch doch schließlich ›in die Welt passen muß‹, wird in der Frage nach dem ›Wie?‹ der Zusammengehörigkeit von Denken und Sein problematisiert. Dabei stellt zunächst Sokrates die Begründbarkeit des Wissens in Frage, obwohl er auf ihrer Notwendigkeit beharrt, während Platon sich der Frage nach den Objekten zuwendet, die einer solchen Begründung fähig sind. Bei dieser Problemstellung treten zwangsläufig die Dinge und die Gedanken über sie auseinander und Platon wendet sich, wie Cassirer darlegt, den Begriffen und ihren Bedeutungen als dem Schlüssel zum Verständnis der Welt zu; dieser Schlüssel liegt für ihn in der Ideenlehre.

II) Cassirer und Platon Platon ist Cassirer deswegen wie ein wahres Wunder erschienen, weil er nicht nur eine Einheit und Harmonie in der Natur im Allgemeinen suchte, sondern dabei auch die Einzeldinge mit einbezog. Das Mittel, dessen Platon sich dazu bediente, ist denkbar einfach: Er orientierte sich an der

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Sprache. Nach Cassirers Darstellung war sich Platon dessen bewußt, daß in jedem Urteil über ein Einzelding das Subjekt und das Prädikat gewissermaßen zwei verschiedenen Welten angehören. Denn während das Subjekt ein sinnlich erfahrbares Einzelding benennt, hat das Prädikat eine unveränderliche, allgemeine Bedeutung. Prädikate sind, wie Cassirer sich ausdrückt, »die bedeutungsgebenden Momente, durch die eine konstante Norm und ein Bezugspunkt des Urteils gegeben ist«.12 Was meint Cassirer mit dieser reichlich komplexen Beschreibung der Funktion von Prädikaten? Er meint damit, daß unser Reden und Denken nur dann einen Sinn hat, wenn wir mit jedem Prädikat eine feste Bedeutung verbinden, die nur mit dem Geist und nicht mit den Sinnen zu erfassen ist. Wenn wir z. B. Sokrates als einen Menschen, als weise oder als fünf Fuß groß bezeichnen, so mag zwar Sokrates selbst für jeden von uns anders aussehen, Begriffe wie ›Mensch‹ oder ›fünf Fuß groß‹ oder ›weise‹ müssen aber für uns alle dieselbe Bedeutung haben, wenn unser Reden überhaupt einen Sinn haben soll. Wie Cassirer sich ausdrückt: »Die sinnliche Existenz zur geistigen Bedeutung umzuprägen und ihr damit erst das echte Siegel des Seins aufzudrücken: Das ist die universelle Aufgabe, die Platons Philosophie sich stellt, der alles, was Platon im Denken und im Tun, was er als Methodiker der wissenschaftlichen Erkenntnis und was er als sittlicher, als politischer, als religiöser Reformator erstrebt und geleistet hat, sich gleichmäßig einfügt und unterordnet.«13 So hehre Worte für die schlichte Annahme, daß Prädikate eine feste, allgemeine Bedeutung haben? Darin liegt für Cassirer in der Tat der Kernpunkt der platonischen Ideenlehre: »Die Idee als Gestalt, als Form – sie ist das objektive Weltprinzip, das Platon aufstellt und in dem sich doch zugleich das Ganze seines individuellen Wesens, die Einheit seines Denkens, seines Schauens und seines Wirkens mit unvergleichlicher Klarheit ausspricht.«14 Daß allgemeine Bedeutungen nicht nur sprachliche Phänomene sind, sondern ihnen etwas in der Natur der Dinge entsprechen muß, diesen Gedanken hat vor Platon niemand explizit gemacht, aber viele haben es Platon nachgetan. Darin liegt auch der Ursprung des später sogenannten Universalienstreits, eines Streites, von dem nicht anzunehmen ist, daß er je ein Ende finden wird. Denn über die Frage, ob mit Begriffen etwas Allgemeingültiges ausgesagt wird, was es in der Welt gibt, oder ob sie nur Konstrukte menschlichen Denkens sind, wird bis heute mit guten Gründen von vielen Seiten eifrig gestritten.

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A. a. O., 422 f. Ebd. 14 Ebd. Mit der Redeweise vom ›aufgeprägten Siegel‹ nimmt Cassirer die Metaphorik aus Platons Phaidon auf, wenn er die Ideen als die eigentlichen Gegenstände des Wissens auszeichnet. (Platon: Phaidon, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 2000, 131, 75d). 13

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Für Cassirer lag nun in der Allgemeinheit des Wesens der Dinge Platons große Entdeckung, die es ihm gestattete, die Philosophie mit der Wissenschaft zu verknüpfen. Was aber garantiert für Cassirer, daß hier nicht nur subjektiv eine Norm gesetzt wird, d. h., daß die Allgemeinheit der Bedeutung nicht das Ergebnis bloßer Abstraktionen des menschlichen Geistes ist? Und was garantiert andererseits, daß die Bedeutungen nicht auf transzendenten Wesenheiten beruhen, welche dem Menschen gar nicht wirklich zugänglich sind, wie es doch die ›Jenseitigkeit‹ gewisser Züge der Platonischen Metaphysik nahe legt? Eben darin besteht die Zweiweltenlehre der traditionellen Platon-Deutung, mit ihrer Unterscheidung einer Welt der vollkommenen Urbilder und einer Welt unvollkommener Abbilder, durch deren Anblick die menschliche Seele an das im Jenseits Geschaute wieder erinnert wird. Eine solche Trennung kann aber gar nicht im Sinne Cassirers sein, da für ihn Bedeutungen doch jeweils Leistungen des menschlichen Bewußteins sind. Daß idea und eidos, ursprünglich – und manchmal auch noch bei Platon – im Sinne von ›Aussehen‹ oder von ›Anschauung‹ verwendet wurden, kann Cassirer kaum als hinreichendes Anzeichen für eine Geistesverwandtschaft mit seiner Philosophie der symbolischen Formen gedeutet haben. Bei diesem traditionellen Platonbild setzt Cassirer in der Tat gar nicht an. Er stellt vielmehr zwei Aspekte in den Mittelpunkt seiner Platon-Interpretation, die zwar im traditionellen Platonbild weniger Beachtung gefunden, seit der Mitte des 20. Jh. aber vermehrte Aufmerksamkeit erfahren haben. (1) Sein Augenmerk gilt einerseits den formalen Begriffen, auf die Platon vor allem in seinem Spätwerk eingeht. (2) Andererseits konzentriert Cassirer sich auf Platons Bemühung um die Aufdeckung mathematischer Verhältnisse, die gleichfalls in seinem Spätwerk kulminieren. Cassirer stützt sich dabei allerdings nicht auf detaillierte Textexegesen, sondern begnügt sich mit einer allgemeinen Erklärung, wie die Einheit von Subjektivem und Objektivem bei Platon zu verstehen ist: Er schreibt der Seele Einsichten normativ-allgemeinen Charakters zu, die weder bloße Produkte des menschlichen Geistes, noch rein transzendente Wesenheiten sind. (1) In dieser Hinsicht unterstellt Cassirer Platon eine Art Gratwanderung: Der Geist entdeckt Begriffe wie Sein, Identität, Differenz, Einheit, Vielheit – also das, was man als ›Ordnungsbegriffe‹ bezeichnen kann. Diese Begriffe werden im Theaitetos erstmals mit dem gemeinsamen Namen ›koina‹ ausgezeichnet und somit als Gruppe dargestellt15; ihre wechselseitigen Beziehun-

Platon: Theaitetos, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 211–215, 184d-186e. 15

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gen sind Gegenstand des zentralen Teils von Platons Sophistes. Dort werden sie auch als Ideen (eidos, idea, physis) bezeichnet.16 Laut Cassirer sind diese Begriffe nun weder Produkte unseres Geistes, noch sind sie in einer vom Geist und den Sinnen ganz getrennten Welt anzusiedeln. Cassirer will Platon aber auch nicht zu einem Proto-Kantianer machen, der die Ideen als die transzendentalen Bedingungen aller Erkenntnis faßt. Wenn Cassirer ihnen zugleich Objektivität zuspricht, so deswegen, weil er Platon keine Trennung unterstellen will; vielmehr sind die allgemeinen Ordnungsbegriffe des Geistes zugleich auch die notwendigen Strukturen alles Stabilen in der Welt. Er kann sich dafür auf den Timaios berufen, in dessen Kosmologie Sein, Identität und Verschiedenheit sowohl die Struktur der Weltseele als auch die der menschlichen Seele konstituieren. Für Cassirer stehen somit nicht die Ideen als die paradigmatischen Urbilder aus den mittleren Dialogen Platons im Zentrum, sondern vielmehr als formale oder ›gegenstandsneutrale‹ Begriffe, die später in der Hoch-Zeit der analytischen Philosophie ins Zentrum der Platon-Forschung geraten sollten und das Interesse erklären, das Platon bis heute für diese Richtung hat.17 (2) Mit den Ordnungsbegriffen allein ist es für Cassirer aber nicht getan, sondern er sieht überdies in Platons Spätdialog Timaios ein Zeugnis für die Ordnung und Einheit an, die der Welt wie auch dem Geist zugehören: Platon stellt die Welt selbst als ein mathematisch strukturiertes System dar. Er tut das im Großen, in der Himmelsordnung, die auf den gleichen Proportionen wie die Musik beruht, und im Kleinen, in der geometrischen Konfigurierung der Materie.18 Wenn Platon die kosmische Ordnung auf einer harmonischen Struktur der Weltseele beruhen läßt, so sollte man ihm keinen romantisierenden Panpsychismus oder Pantheismus unterstellen. Vielmehr geht es ihm um die Sicherstellung der Kontinuität und Koordination der Bewegungen der Himmelskörper; Platons Weltseele symbolisiert daher die Struktur der Welt als eines räumlich und zeitlich geschlossen Systems. Indem er der menschlichen Seele eine analoge Struktur zuschreibt, kann er für die Gesamtnatur eine Übereinstimmung mit den Zügen annehmen, auf

Platon: Sophistes, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 305–322, 249b-260a. 17 John L. Ackrill: »Symplokê Eidôn«, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies, London 19552, 31 ff.; Gwilym Ellis Lane Owen: »Plato on Not-Being«, in: Gregory Vlastos (Hg.): Plato, A Collection of Critical Essays, Bd. I, New York 1972, 223–267; Charles Kahn: »Some Philosophical Uses of ›to be‹ in Plato«, in: Phronesis 26, 1981, 105–134. 18 Cassirer sah in Platon also nicht den ›Erzmetaphysiker‹ transzendenter Wesenheiten, sondern den Vater der Mathematisierung der Natur. Daher hielt er ihn für einen Vorreiter der modernen mathematischen Naturwissenschaft, deren Ausarbeitung und Strukturierung Cassirer auch als das eigentliche Ziel der Neukantianer der Marburger Schule ansah. Vgl. dazu Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000, bes. 87–110. 16

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denen das vernünftige, logische, sittliche und technische Tun des Menschen beruht: Ordnung und Ebenmaß, taxis und symmetria, sind folglich für die Natur wie für den Menschen charakteristisch.19 Angesichts von soviel Einheit und Ordnung stellt sich nun doch die Frage nach dem Ei und der Henne. Ist es nun der Geist, der die Mathematik und die Dinge mathematisch erfaßt, oder gibt es Geist und Geistiges, weil die Welt mathematisch strukturiert ist? Cassirers Einlassungen dazu sind ambivalent: Im Zusammenhang mit der Weltseele und der mathematischen Natur der materiellen Dingen spricht er nicht nur von einem »Primat des Ideellen gegenüber dem Empirischen«, sondern auch von einem ›Vorrang der logoi vor den pragmata‹. Andererseits stellt er die geometrische Natur der Dinge in Beziehung zu methodischen Grundgedanken der modernen Physik, in der »gleichfalls alle dynamischen Bestimmungen sich letztlich auf rein metrische zurückführen lassen.«20 Diese Strukturen gibt es, der menschliche Geist entdeckt sie nur. Tatsächlich setzt Cassirer jedoch voraus, daß Platon keine wirkliche Trennung von Intelligiblem und Sensiblem vornimmt: »Auch die Kosmologie des Timaios ist nicht vom Kosmos zum Logos, sondern von diesem zu jenem gegangen: sie geht von der Gewissheit eines höchsten Vernunftgesetzes aus, das sie sodann im Weltall gleichsam verkörpert sieht.« Wenn in der Welt rationale, d. h. auf Proportionen beruhende, Gesetze herrschen, die zugleich Vernunftgesetze sind, dann kann hier von ›Idealismus‹ allenfalls in einem ganz speziellen Sinn die Rede sein. Denn von modernen Idealisten unterscheidet sich Platon für Cassirer in einer wesentlichen Hinsicht: Platon ist äußerst zurückhaltend, was die Erkennbarkeit der rationalen Weltordnung angeht. Ob er dem menschlichen Geist überhaupt die Fähigkeit zur Entzifferung der (mathematischen) Vernunftgesetze zutraut, bleibt letztlich offen. Eben dies bezeugt die Tatsache, daß der Timaios, Platons einzige Schrift zur Naturphilosophie, nur eine ›wahrscheinliche Geschichte‹ erzählen will, an die man ausdrücklich nicht die Maßstäbe strenger Kohärenz legen darf.

Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 443. Außer im Timaios setzt Platon auch im Philebos eine Parallelität von Makrokosmos und Mikrokosmos voraus, mit einer Ordnung, die in Maß und Zahl durch die göttliche Vernunft festgelegt ist (Platon: Philebos, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 447–450, 28c-30e). 20 Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 449 f. 19

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III) Cassirer und Aristoteles Cassirers Betonung des mathematischen Hintergrundes von Platons Ideenlehre erklärt etwas, was zunächst verwundern muß, solange man Cassirer nur als Kulturphilosophen versteht und die Anregungen verkennt, die seine Philosophie der Auseinandersetzung mit der Mathematik und ihrer Anwendung in den neuzeitlichen Naturwissenschaften verdankt: daß er nämlich Aristoteles gegenüber Platon eher als einen Rückschritt ansah. Der Titel der Schrift von 1910: Substanzbegriff und Funktionsbegriff21 würde zunächst eher eine Verwandtschaft zu Aristoteles nahe legen, da für Aristoteles die Substantialität einer Sache im Wesentlichen in ihrer Funktion besteht. Erst die Feststellung, daß Cassirer in diesem Werk im Ausgang von Leibniz von mathematischen Funktionen und Gesetzlichkeiten spricht, macht begreiflich, warum ihm Platon weit näher stehen mußte als Aristoteles: Es geht Cassirer nicht um Substanzen als den Trägern essentieller Funktionen, sondern um funktionelle Gesetze anstelle von feststehenden Substanzen.22 Von einer solchen ›Flexibilisierung‹ des Funktionsbegriffs kann bei Aristoteles in der Tat nicht die Rede sein. Für Platons Zahlensymbolik und seine Spekulationen über eine mathematische Verfaßtheit der Dinge hatte er nicht viel übrig;23 an Quantifizierungen der Vorgänge in der Natur, mit Ausnahme der Himmelsbewegungen, hat Aristoteles nie gedacht. Die Vorgänge in der sublunaren Sphäre müssen ihm dafür allzu komplex und ungeordnet erschienen sein. Aus diesem Grund erwies sich DER PHILOSOPH später als ein wesentlicher Hemmschuh bei der Entwicklung einer mathematischen Physik und blieb es für beinah zwei Jahrtausende.24

Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6. 22 Vgl. dazu Andreas Graeser: Ernst Cassirer, Kap. V: Die Theorie des Begriffs, München 1994, 129–141; Enno Rudolph: »Von der Substanz zur Funktion: Leibnizrezeption als Kantkritik bei Ernst Cassirer«, in: ders. (Hg.): Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 85–95. 23 Vgl. dazu Aristoteles: Metaphysik A, Kap. 6 und 9, sowie die ausführlichere Erörterung in den Büchern M und N. Aristoteles’ Metaphysik, hrsg. v. Ursula Wolf, übers. von Hermann Bonitz, Reinbek 1994. 24 Vgl. dazu: »Die Einheit der teleologischen und mathematischen Betrachtungsweise, die noch in Platons Natursystem bestand, ist aufgehoben […]. Jetzt erst gewinnt der Kampf zwischen empirischer und spekulativer Naturbetrachtung seine ganze Schärfe. Die mathematische Physik der neueren Zeit versucht zunächst ihr Recht und ihre Selbständigkeit dadurch zu erweisen, daß sie in der philosophischen Grundlegung von Aristoteles wieder auf Platon zurückgeht. Es ist vor allem Kepler, für den diese Wendung charakteristisch ist.« (Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 144–147, bes. 146) Cassirers Ansatz beim späten Platon ist deutlich durch Leibniz geprägt, der seinerseits von Kepler beeinflußt war. Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Leibniz« (1911), in: ECW 9, 515–617, bes. 602– 611, dazu Rudolf Haase: Johannes Keplers Weltharmonik: der Mensch im Geflecht von Musik, Mathematik und Astronomie, München 1998. 21

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Was Cassirer veranlaßte, in der aristotelischen Philosophie ein Denken zu sehen, welches die neuzeitliche Wissenschaft zu überwinden hatte, ist aber nicht so sehr die Vernachlässigung der Mathematik als vielmehr dasjenige, wodurch er in Cassirers Augen Platons mathematisch begründete Ordnung ersetzte, nämlich seine auf den Begriff der Substanz zentrierte Metaphysik mit dem dazugehörigen Kategoriensystem. Denn diese Metaphysik hatte zum einen ihre Auswirkung auf seine Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre, zum anderen auf die Logik. In beiden Hinsichten sollte die aristotelische Grundkonzeption entscheidende Auswirkungen auf die Nachwelt haben. (1) Statt von mathematisch strukturierten Verhältnissen geht Aristoteles vom Primat der sinnlich erfahrbaren Substanz aus und ordnet ihr alle anderen Dinge unter. Die Kategorien ihrerseits sind lediglich durch Abstraktion gewonnene Begriffe, welche die Vielheit der Erfahrungen zu einer Einheit zusammenfassen, wobei der Substanz die zentrale Rolle zukommt. Alle weiteren Bestimmungen wie Quantität, Qualität, Relation, Raum, Zeit sind sekundäre Eigenschaften, die in ihrer Existenz auf die Substanz angewiesen sind. Diese Substanzzentriertheit der dominierenden aristotelischen Metaphysik hat für Jahrhunderte verhindert, daß diese ›sekundären Entitäten‹ ins Zentrum eigenständiger Theorien gestellt, also etwa Relationen als Bezüge eigenen Rechtes betrachten wurden.25 Auch die aristotelische Auffassung von Mathematik und ihrer Gegenstände entspricht dieser Substanzmetaphysik: Sie sind lediglich durch Abstraktion gewonnene Größen und Größenverhältnisse. Entsprechend eng ist in Cassirers Augen auch die Erkenntnistheorie des Aristoteles. Zwar erkennt Cassirer an, daß Aristoteles mit seiner Erklärung der Wahrnehmung als der Rezeption der Form der wahrgenommenen Qualitäten durch die Seele gegenüber den Vorsokratikern einen deutlichen Fortschritt gemacht hat. Gleichwohl ist Aristoteles mit der Typisierung von Wahrnehmungsgehalten nicht so weit gekommen, daß er und die von ihm bestimmte Tradition zu einer völligen Überwindung der Abbildtheorie gelangt wären, d. h., daß Wahrnehmungen Abbilder des Wahrgenommenen sind: »Sosehr man hier und in der mittelalterlichen Philosophie bestrebt ist, zu einer Intellektualisierung und Sublimierung der Abbildtheorie vorzudringen, und sosehr insbesondere die Scholastik sich um die Unterscheidung der ›species intelligibilis‹ von der ›species sensibilis‹ bemühte, – so lebte doch in dem abstrakten Begriff der ›Species‹ [Anblick]

Vgl. dazu Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, Kap. 1: Zur Theorie der Begriffsbildung, ECW 6, bes. 1–10. Besonders in der Begriffsbildung mit Über- und Unterordnung von Genus und Spezies sah Cassirer eine sterile abstrahierende Vorgehensweise, wobei er davon ausgeht, daß die Erkenntnis in einem ›Abbild‹ dieser metaphysischen Ordnung besteht. 25

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selbst die alte sinnliche Grundbedeutung des Bildes fort. Es bedurfte der neuen Denkform des modernen Idealismus, um den aristotelisch-scholastischen Speziesbegriff und die an ihn geknüpfte Erkenntnislehre endgültig zu überwinden.«26 Platons Ideenlehre, vor allem in ihrer letzten, ungegenständlich-mathematisierenden Form, scheint für Cassirer demgegenüber keine Eierschalen der Abbildlichkeit mehr an sich zu haben. Ob Platon diese ungleich besseren Noten wirklich verdient und ob seine Ontologie, welche nicht nur die Dinge und deren Eigenschaften auf Teilhabe an den Ideen zurückführt, sondern auch Ideen von Gattungsbegriffen annimmt, nicht entscheidende Züge der aristotelischen Metaphysik teilt, muß hier dahingestellt bleiben. Cassirer scheint Fragen wie etwa, ob das dihäretische Verfahren mit seiner Hierarchisierung der Ideen die aristotelische Einteilung in Genus und Spezies vorwegnimmt, nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. (2) Zur Logik: Wie Cassirer es sieht, hat Platon mit seinen Reflexionen über die allgemeinen Beziehungen zwischen den Ideen in seinen Spätschriften den Grund für die dialektische Methode gelegt. In den Händen des Aristoteles hingegen wurde die Dialektik zur formalen Logik, in deren Zentrum wiederum der Substanzbegriff steht, so daß sich Aristoteles auf eine Prädikatenlogik beschränkt. Zudem hat die Verselbständigung der Logik und ihres Formalismus in Cassirers Augen den Nachteil, daß dabei Form und Gehalt von einander getrennt werden. Aus diesem Grund hat die der aristotelischen Logik zugrunde liegende Ontologie auch die wissenschaftliche Begriffsbildung weiter beeinflußt, ohne daß die Vertreter der einzelnen Wissenschaften sich dieser Tatsache bewußt waren. Da Cassirer in der aristotelischen Logik in dieser Hinsicht ein wesentliches Hindernis sah, gilt dasselbe in seinen Augen auch für die dieser Logik zugrunde liegende Auffassung von Sprache. Aristoteles beschränkt die Logik auf die verschiedenen Arten von Prädikaten gemäß seiner Kategorieneinteilung, die sich wiederum an der Struktur der Sätze der Umgangssprache orientiert. Als eine ›Systematik des Geistes‹ ist diese Orientierung in Cassirers Augen viel zu eng, weil sie die Sprache der modernen Mathematik nicht mit umfassen kann. Der Dialektik Platons traut er diesbezüglich mehr zu, weil Platon »eine scharfe Grenze zwischen den beiden Bedeutungen des logos, zwischen dem Begriff an sich und seinen sprachlichen Repräsentationen gezogen hat« – eine Grenze, die sich bei Aristoteles wieder zu verwischen drohte.27 Aus diesen Gründen war Cassirer an

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Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 88. 27 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), Kap. I.I: Das Sprachproblem in der Geschichte des philosophischen Idealismus (›Platon, Descartes, Leibniz‹), in: ECW 11, 62 f.

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den Bemühungen um die Entwicklung einer neuen Logik am Ende des 19. Jahrhunderts sehr interessiert. Freilich wollte er dieser Disziplin nur eine Hilfsfunktion zubilligen, insbesondere, was das Verhältnis der Logik zur Mathematik betrifft. Es müßte einer eingehenden Untersuchung vorbehalten bleiben, ob Cassirer mit seiner Entgegensetzung von Platon und Aristoteles den beiden auch in dieser Hinsicht gerecht wird. So wäre zu fragen, ob sich Platons Vorstellungen über die Relationen zwischen den Ideen wirklich als Basis einer Theorie der Funktionalität eignen, die Cassirers Vorstellung über die nötige Flexibilität von Relationen Rechnung tragen könnten. Ebenso wäre zu fragen, ob Cassirer die Flexibilität von Aristoteles’ Funktionsbegriff nicht unterschätzt, wenn er sich an dessen Kategoriensystem orientiert, die Vielseitigkeit seiner Anwendungen in den verschiedenen Wissenschaften dagegen ignoriert. Dies sind jedoch Fragen, die hier zwar angesprochen, aber nicht beantwortet werden können. Vielmehr sollte nun eine Frage allgemeinerer Art gestellt werden: In welcher Weise stellt Cassirers Interpretation der griechischen Philosophen eine Antwort auf unsere eigentliche Frage dar: nämlich nach dem Nachleben der Antike? Dazu ist zunächst daran zu erinnern: Jede Interpretation ist eine Form des ›Nachlebens‹. Denn der Interpret spricht ja nicht bloß die ipsissima verba des Interpretierten nach, sondern er wählt aus, und er wählt das aus, was er nicht nur für sich genommen als sinnvoll ansieht, sondern von dem er meint, daß es für die Nachwelt von besonderer Bedeutung war – oder doch hätte sein können oder sollen. Eben dieser Gesichtspunkt verhindert, daß die großen Philosophen der Vergangenheit nur wie Wachsfiguren in einem Museum betrachtet werden. Wie Cassirer außerdem hervorhebt, darf die geschichtliche Entwicklung nicht nur als eine Reihe von Ereignissen gefaßt werden, denn diese könnten ja auch rein zufällig aufeinanderfolgen; vielmehr muß sich dabei etwas Bleibendes zeigen, was in sich Gestalt und Dauer hat. 28 Dieses Bleibende aus der Antike manifestiert sich für Cassirer nun ganz besonders in der Renaissance.

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Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form«, ECW 16, 76.

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IV) Cassirer zum Platonismus und Aristotelismus in der Renaissance Wenn man unter der Renaissance mit Cassirer eine Zeit versteht, in der sich Kunst, Kultur und Wissenschaft von der Vormundschaft der Religiosität und Theologie zu befreien suchten, so erwies sich diese Befreiung im Fall der Philosophie als schwierig. Denn die Philosophie war in ganz besonderer Weise durch die christliche Theologie vereinnahmt worden. Daher konnte die Befreiung auch nicht durch einen einfachen Rollenwechsel bewirkt werden, wie man sich das oft in Anknüpfung an Kants Aperçu über die Philosophie als ›Magd der Theologie‹ vorstellt: »(…) wobei doch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt.«29 Daß die ›Magd‹ nicht einfach von einer Schleppenträgerin zur Vorleuchterin mutieren konnte, liegt nun nicht nur an der tiefen Einbindung in die Theologie, die bestimmten griechischen Philosophemen das Überleben durch das Mittelalter hindurch gesichert hatte. Es liegt auch daran, daß Philosophen und Wissenschaftler ja weiterhin Christen blieben, so daß ihnen an einer Übereinstimmung ihrer Prinzipien mit der christlichen Lehre durchaus gelegen war. Wenn es ihnen um die Autonomie des Geistes ging, so ging es ihnen doch auch um die unsterbliche Seele und wenn sie um die Erfassung der Natur und ihrer Gesetzlichkeiten bemüht waren, so war es doch eine von Gott geschaffene Natur. Eben dies erklärt, wie Cassirer hervorhebt, daß uns die Wiederbelebung der Platonischen Philosophie in der Renaissance zunächst als »dürftig und kümmerlich« erscheinen muß.30 Die Renaissance war ja kein völliger Neubeginn und hat nicht etwa mit dem Fanal einer Verbrennung mittelalterlicher Codizes angefangen, sondern die Renaissance bestand in einer allmählichen Loslösung von der Autorität von Theologie und Kirche, die in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich schnell vonstatten ging. So ist es nicht verwunderlich, wenn Marsilio Ficino’s Akademie in Florenz im Wesentlichen auf den Neuplatonismus zurückgriff und daher gewissermaßen in Platon Gottvater und in Plotin den Sohn sah.31 Wenn sich dabei doch etwas Entscheidendes tat, so liegt es in der Konzentration auf die menschliche Seele, auf ihr Verhältnis zur Welt und nicht mehr allein auf ihre Hinwendung zu Gott.

Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: ders.: Kants Werke, AkademieTextausgabe, Band VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 19835, 291. 30 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), Zweites Kapitel: Der Humanismus und der Kampf der Platonischen und Aristotelischen Philosophie, in: ECW 2, 60–142, bes. 66. 31 Zur Thematik vgl. Enno Rudolph: »Die Krise des Platonismus in der RenaissancePhilosophie«, in: ders. (Hg.): Polis und Kosmos, Darmstadt 1996, 108–122. 29

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Die Einzelheiten von Cassirers Rekonstruktion der Entwicklung von Ficino bis zu Kepler, zu Descartes und Leibniz sind hier nicht nachzuzeichnen, eine Entwicklung, die 200 Jahre in Anspruch genommen hat und die Cassirer von vielen Seiten her untersucht hat. 32 Vielmehr sei nur auf einige Besonderheiten hingewiesen, die für Cassirer die wichtigsten Stationen in der Entwicklung des neuzeitlichen Begriffs des Bewußtseins aus dem Geiste der Antike markieren. Zu den grundlegenden Voraussetzungen Ficinos gehört die Annahme, mit der er Platons Erklärung von Wissen als Wiedererinnerung verbindet, daß zwischen dem Geist und seinen Gegenständen eine Gleichheit bestehen muß, weil andernfalls ein Erfassen gar nicht möglich wäre. Das menschliche Bewußtsein ist jedoch kein bloß passiver Rezipient von Eindrücken äußerer Dinge, sondern die Erkenntnisse sind gewissermaßen Erzeugnisse seines Vermögens, die Dinge zu erfassen – und nur so kann aus einer Vielzahl unterschiedlicher Eindrücke eine Einheit werden. 33 Alles Denken ist daher ein Auf- und Ausbauen, das bereits im Besitz derjenigen Regeln sein muß, auf denen diese Konstruktion beruht. Eben deswegen können wir unsere Freude an sinnlicher Schönheit haben, weil unsere Seele die Mittel hat, die reinen Zahlverhältnisse, die allen harmonischen Dingen zugrunde liegen, durch alle konkreten Hüllen und Umkleidungen hindurch wahrzunehmen: Wir tragen also diese Kriterien an die Dinge heran, nicht umgekehrt. Und so ist auch Ficinos positive Einstellung zur Sinnenwelt zu erklären: die Erde ist für ihn kein ›verächtlicher Wohnsitz‹. Laut Cassirer bleiben diese Einsichten bei Ficino allerdings noch an die Psychologie Augustins gebunden; sie sind vom göttlichen Bewußtsein bestimmt und geformt, so daß eine Loslösung von diesem transzendenten Fundament ihm noch nicht möglich ist. Freilich steht Ficino mit dieser Schwierigkeit nicht allein. Sie stellt eine Schranke dar, auf die man in der Philosophie der Renaissance immer wieder trifft und die für eine gewisse Widersprüchlichkeit innerhalb dieser Epoche sorgt. Erst die Philosophen der späteren Renaissance, zu denen Cassirer nicht nur Descartes, sondern auch noch

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Dazu wäre eine eingehende Beschäftigung nicht nur mit Cassirers Hauptwerk zur Renaissance Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance zu führen, sondern auch mit den Autoritäten, mit denen Cassirer sich dort, ausgehend von Jacob Burckhardts Die Cultur der Renaissance in Italien (1860), auseinandergesetzt hat, vgl. dazu Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14, 1–7; 41 ff. – Ferner wären seine Zeitgenossen zu berücksichtigen, die mit ihm kooperiert oder auf seine Darlegungen reagiert haben, vgl. dazu Ernst Cassirer/Paul Oscar Kristeller/John H. Randall et al. (Hg.): The Renaissance Philosophy of Man: Petrarca, Valla, Pico, Pomponazzi, Vives, Chicago 1948. – Vgl. auch Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1939, erw. und ergänzt München 1989; Paul Oscar Kristeller: Renaissance Thought: The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains, New York 1961. 33 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 76–77.

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Leibniz und die Schule des Platonismus von Cambridge zählt, haben nicht nur erfolgreich für die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Theologie, sondern auch für die Autonomie des eigenverantwortlichen Selbst plädiert. 34 Eben das war für Cassirer ein wesentliches Anliegen Platons. Aus diesem Grund hat Cassirer in der Renaissance nicht nur eine ›erste Aufklärung‹ gesehen, sondern zugleich eine Aufklärung, in der das individuelle Selbst mehr im Zentrum stand als in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, da diese den Menschen weitgehend als Gattungswesen behandeln sollte. Während die Äußerungen Cassirers über Aristoteles, auf die oben bereits hingewiesen wurde, im Vergleich zu Platon wenig günstig ausfallen, so sieht das für die Renaissance anders aus. Denn für die Richtung, die Philosophen wie Leonardo Bruni bei der Wiederbelebung des echten Aristoteles – gegen dessen scholastische Ausleger – einschlugen, hat Cassirer durchaus Sympathien, weil es sich dabei um eine freie, undogmatische Aneignung handelt, in der zudem statt der Metaphysik und Physik die aristotelische Psychologie und Erkenntnislehre im Zentrum stehen.35 Aristoteles analysiert nun in seiner Schrift Über die Seele und in seinen Kleinen Naturwissenschaftlichen Schriften die psycho-physiologischen Vorgänge sehr detailliert, die von den Einzelwahrnehmungen zu Gesamteindrücken und von dort zur Erfahrung und zum Denken führen. Eben deswegen erfreuten sich diese Werke in der Renaissance besonderer Aufmerksamkeit, da sie sich eingehend mit der Erklärung der sinnlichen Erfahrung des Individuums befassen. Dies erkennt auch Cassirer an, obwohl er meint, daß bei Aristoteles ein unüberbrückbarer Dualismus zwischen Sensiblem und Intelligiblem bestehen bleibt; denn Aristoteles läßt das Verhältnis des aktiven Intellekts zu den der Sinnlichkeit entnommenen Objekten des passiven Intellektes im Unklaren. Daher war es für diese Aristoteliker auch schwierig, an der Einheit des Bewußtseins festzuhalten, da es nicht nur die Wahrnehmung, sondern zwei verschiedenartige intellektuelle Vermögen umfaßt. Dies ist Aristoteles’ Auslegern in der Renaissance in unterschiedlicher Weise gelungen, wie Cassirer minutiös nachzuzeichnen bemüht ist,

Eine Ergänzung zu der Erörterung dieser Thematik in Individuum und Kosmos enthält auch die Monographie Ernst Cassirer: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14. 35 Dies gilt vor allem für die Aristoteliker der Schule von Padua, die wie Pomponazzi und Zabarella durch genaue Textexegese von Aristoteles’ De anima nachwiesen, daß der Philosoph keineswegs einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele liefern wollte. Es war daher schwierig, an der persönlichen Unsterblichkeit der Seele festzuhalten, denn der aktive Intellekt, was immer darunter zu verstehen ist, kann als rein intelligibles Prinzip keine persönlichen Züge an sich haben; vgl. dazu Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 87–94. 34

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was die verschiedenen Erklärungen des Verhältnisses zwischen Einzelfall und allgemeinem Begriff angeht. 36 Erst mit der Aufgabe des Glaubens an eine persönliche Unsterblichkeit der Seele gewannen die Aristoteliker etwas wieder, was Cassirer mit Beifall begrüßt, nämlich die Autonomie der handelnden Person, die den Kernpunkt der aristotelischen Ethik ausmacht. Aristoteles verficht ja in seiner Ethik ein reines Diesseitsevangelium: Jetzt und hier soll das mündige Individuum die Vollendung seines Lebens finden. Zugleich findet Cassirer auch zu einer positiven Beurteilung der Vereinigung des Sinnlichen und des Intelligiblen bei Aristoteles: daß auch der abstrakteste Gedanke von sinnlichen Bildern und Vorstellungen begleitet sein muß,37 ist ein Gedanke, an den auch Leibniz anknüpfen wird. Bewertet Cassirer also die Psychologie des Aristoteles positiv, so beschreibt er doch die Demontage der aristotelischen Logik durch die Humanisten – von Valla bis Ramus – mit unverhohlenem Beifall.38 Um zu beurteilen, ob Cassirer in der aristotelischen Logik zu Recht für die Renaissance ein Hindernis für den menschlichen Geist sah, bedürfte es sehr viel genauerer Kenntnisse über die Logik der Scholastik und ihre Aristoteles-Rezeption, als sie hier vermittelt werden könnten.39 Dazu sei nur angemerkt: Noch im 20. Jh. hat sich auch unter Fachleuten der Gedanke erst allmählich durchgesetzt, daß Aristoteles deswegen von seiner Syllogistik in seiner Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken so wenig Gebrauch macht, weil die Logik für ihn nicht etwa ein Instrument zum Auffinden von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist, sondern vielmehr ein Instrument zur Darstellung und Rechtfertigung des auf andere Weise Gefundenen.40 Diese Einsicht, die Zabarella in der Renaissance bereits vorweggenommen hatte, war über viele Jahrhunderte vernachlässigt worden, so daß die aristotelische Logik schließlich wie spanische Stiefel des Geistes erscheinen mußten. Aristoteles hat aber nicht gemeint, daß sich Erkenntnisse mit Hilfe von Syllogismen finden, geschweige denn, daß sich damit geometrische Konstruktionen durchführen lassen. Die Logik eignet sich, wie gesagt, lediglich zur Organisation und Demonstration von bereits gefundenem

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A. a. O., 84–94. Vgl. Aristoteles: De anima III, 7 431a14–19; b2–8; 8 432a7–12. Aristoteles: Über die Seele: greichisch – deutsch, Übers. (nach W. Theiler) und Kommentar von Horst Seidel (Hg.), Hamburg 1995. 38 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 100–126. 39 Vgl. dazu Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Kap. V: Logic in the high middle ages, Cambridge 1982 und Charles B. Schmitt/Quentin Skinner (Hg.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Kap. V: Logic and Language, Cambridge 1988. 40 Jonathan Barnes: Aristotle’s Posterior Analytics, trans. with commentary, Oxford 1993², xii–xv; xviii–xx. 37

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Wissen; und was in der Syllogistik jeweils als Subjekt und Prädikat fungiert, bestimmt sich nach der formalen Struktur der Beweisführung. Cassirer, der Aristoteles trotz gewisser Differenzierungen doch weitgehend mit dem Aristotelismus identifiziert, sieht oft als verzweifelte Verbesserungsversuche, was kenntnisreiche Aristoteliker der Renaissance, wie Zabarella, als begründete Klärungen ansehen wollten. Cassirers Unterstellung, bei Zabarella trete immer mehr das Bemühen hervor, die Logik von ontologischen Beimischungen zu befreien und in eine Methodenlehre der Erkenntnis und der Wissenschaften zu überführen, trifft vielmehr durchaus die Intention von Aristoteles selbst.41 Wir müssen hier freilich offenlassen, wie gut Aristoteles diese Trennung von Ontologie und Logik gelungen ist und wo seine Nachfolger mehr als nur geschönt haben. Das dürfte auch nicht immer eindeutig zu entscheiden sein; denn wo die wohlwollende Interpretation aufhört und eine mehr oder weniger gewaltsame Schönheitsoperation anfängt, das können nur Feinuntersuchungen erweisen. Wie lassen sich nun Cassirers Absichten, die seiner Beschäftigung mit der Antike-Rezeption in der Renaissance zugrunde liegen, zusammenfassend kennzeichnen? Der Kürze halber sind hier weder allzu komplexe noch auch allzu simplifizierende Überlegungen über Cassirers Motive anzustellen, zumal diese in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich ausfallen. Man kann jedoch feststellen, daß Cassirer etwas sehr Wichtiges in seiner Zusammenfassung dessen konstatiert, was er als charakteristisch für die Auseinandersetzung der Renaissance mit der Geschichte ansieht: »Je reicher ihr die geschichtlichen Quellen fließen, umso mehr entfernt sie sich damit vom Historismus, von der unbedingten Hingabe an die Tradition. Nur in ihren ersten Phasen erscheint ihr die Antike noch wie ein geistiger Urstand, den es einfach zu wiederholen und in seinen einzelnen Zügen nachzuahmen gilt, während sie ihr später zur Trägerin und Hüterin der allgemeinen geistigen Werte wird, die wir in uns selbst zu ergreifen und wiederherzustellen haben.«42 Was Cassirer selbst angeht, sollten wir sicher zum ›Ergreifen und Wiederherstellen‹ noch ›und nach Kräften weiterzuentwickeln haben‹ hinzufügen. Denn daß er in der Nachwirkung der Antike nicht nur eine Chance sieht, Vergessenes und Vernachlässigtes aufzugreifen und wiederherzustellen, dürfte auf der Hand liegen. Es geht auch darum, die geistigen Einsichten und Werte weiterzuentwickeln. Dazu muß man aber nicht nur die Einsichten, sondern auch ihre Genealogie in der Vergangenheit kennen, weil man sonst gar nicht weiß, womit man es zu tun hat und was es daran weiterzuentwickeln gibt.

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Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 113–119. A. a. O., 138 f.

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Epilog Wie Cassirer immer wieder durchblicken läßt, war für ihn Platon der Philosoph schlechthin. In seinen Augen war die Welt der Philosophie nach Platon nicht mehr das, was sie vor ihm gewesen war, was den Anspruch auf Weite, Tiefe und Komplexität des Denkens angeht. Dieses Urteil beruhte nicht nur auf dem Vergleich mit dem Denken, das Platon voranging, dem Cassirer noch eine ›gewisse Simplizität‹, eine ›archaische Einfalt‹, bescheinigt.43 Vielmehr hatte Platons Denken für Cassirer ein Niveau erreicht, hinter das die Menschheit schlechtweg nicht mehr zurückfallen konnte und durfte. Und dies war einer der wesentlichen Gründe dafür, daß er in der platonischen Philosophie nicht nur eine Sternstunde in der Philosophiegeschichte gesehen hat, sondern auch eine treibende Kraft in der weiteren Entwicklung der Menschheitsgeschichte, der er sich selbst verpflichtet sah. So meinte Cassirer, daß niemand so wie Platon Goethes Prinzip erfüllt habe, wonach »alles, was der Mensch zu leisten unternehme, […] aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen müsse.« Dieses Prinzip der ›Kräftevereinigung‹ hat Cassirer auch als Forderung an sich selbst gestellt. Das Nachleben einer großen Epoche ist also in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Es dient nicht nur dem Verständnis dessen, woher das eigene Denken kommt, sondern es zeichnet auch die Richtung mit vor, in die es gehen soll. Um nun aber mit der Kritik nicht ganz hinter dem Berg zu halten: In dieser ›Kräftevereinigung‹ kann man auch eine gemeinsame Schwäche von Platon und Cassirer sehen. Denn bei aller Bewunderung für ›Philosophen des großen Wurfes‹ hat doch auch die Detailverliebtheit ihren Sinn. Daß Aristoteles z. B. die Mühe nicht gescheut hat, sein syllogistisches System in bewundernswerter Raffinesse und Klarheit auszuarbeiten, obwohl in seiner Wissenschaftstheorie eigentlich nur die beiden ersten Schlußformen gebraucht werden, das hat seine eigene Größe. Denn nicht nur der Teufel steckt manchmal im Detail, auch Gott ist dort zu finden. So stehen in den physikalischen Schriften des Aristoteles nicht die Substanzen und deren Eigenschaften im Mittelpunkt, sondern die unterschiedlichen Arten von Veränderungen und deren Bedingungen. Auch ist Aristoteles mit unendlicher Geduld den ›Phänomenen‹ in der Biologie nachgegangen und hat dabei zwar die große Ordnung nie aus den Augen verloren, die Detailbeobachtungen aber keineswegs der Ordnung seines Kategoriensystems unterworfen; vielmehr hob er bei der Erklärung der verschiedenartigen Organismen gerade die Analogie der unterschiedlichen Funktionen

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Ernst Cassirer: »Eidos und Eidolon – Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen« (1924), in: ECW 16, 134–163. – Vgl. dazu Enno Rudolph: Ernst Cassirer im Kontext. Kap. Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus, Tübingen 2003, 243–255.

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hervor. Das sollte man nicht vergessen, wenn man in seiner Logik und Metaphysik einen Hemmschuh der modernen Naturwissenschaft und einer ihr gemäßen Philosophie sieht. Und es sind manchmal gerade diese Details, die große Geister, denen es vor allem auf die sympatheia tou holou – auf den großen Zusammenhang aller Dinge – ankommt, nicht sehen und daher auch in ihrer Tragweite nicht richtig einschätzen. Die Philosophiegeschichte lebt vom Antagonismus beider – der Visionäre wie auch der Arbeiter am Detail. Und das dürfte auch weiterhin so bleiben.

Literaturverzeichnis John L. Ackrill: »Symplokê Eidôn«, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies, London 19552 Aristoteles: De anima. Aristoteles: Über die Seele: greichisch–deutsch, Übers. (nach W. Theiler) und Kommentar von Horst Seidel (Hg.), Hamburg 1995. – Aristoteles’ Metaphysik, hrsg. v. Ursula Wolf, übers. von Hermann Bonitz, Reinbek 1994. Jonathan Barnes: Aristotle’s Posterior Analytics, trans. with commentary, Oxford 1993² Rainer A. Bast: Problem, Geschichte, Form: Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997ff. (ECW), Bd. 2 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – »Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes« (1906), in: ECW 9 – »Leibniz« (1911), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14 – Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16 – »Eidos und Eidolon – Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen« (1924), in: ECW 16 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 Ernst Cassirer/Paul Oscar Kristeller/John H. Randall ) et al. (Hg.: The Renaissance Philosophy of Man: Petrarca, Valla, Pico, Pomponazzi, Vives, Chicago 1948

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Cicero: De finibus bonorum et malorum libri quique. L. D. Reynolds (Hg.), Oxford 1998. Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925 Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000 Andreas Graeser: Ernst Cassirer, München 1994 Rudolf Haase: Johannes Keplers Weltharmonik: der Mensch im Geflecht von Musik, Mathematik und Astronomie, München 1998 Charles Kahn: »Some Philosophical Uses of ›to be‹ in Plato«, in: Phronesis 26, 1981 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Band VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 19835 Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1939, erw. und ergänzt München 1989 Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982 Paul Oscar Kristeller: Renaissance Thought: The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains, New York 1961 Gwilym Ellis Lane Owen: »Plato on Not-Being«, in: Gregory Vlastos (Hg.): Plato, A Collection of Critical Essays, Bd. I, New York 1972 – Theaitetos, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 – Sophistes, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 – Philebos, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 – Phaidon. in: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 2000 Enno Rudolph: »Von der Substanz zur Funktion: Leibnizrezeption als Kantkritik bei Ernst Cassirer«, in: ders. (Hg.): Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, Hamburg 1995 – »Die Krise des Platonismus in der Renaissance-Philosophie«, in: ders. (Hg.): Polis und Kosmos, Darmstadt 1996 – Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003 Charles B. Schmitt/Quentin Skinner (Hg.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988

Thomas Meyer

Spinoza in Weimar Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss*

In diesem Aufsatz möchte ich zwei Spinoza-Deutungen einander gegenüberstellen, die gewöhnlich nicht in einem Atemzug genannt werden. Die Voraussetzungen zu einem Vergleich sind zudem denkbar ungünstig: Während Leo Strauss’ Interpretationen seit Jahren ein erhöhtes Interesse erfahren1, gibt es trotz der weltweiten Cassirer-Renaissance kaum Bezüge auf dessen Texte zu Spinoza. Beginnen wir mit dem Älteren. Ernst Cassirer hatte im Dezember 1932 in der zweimonatlichen erscheinenden Zeitschrift des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, dem »Morgen«, eine leicht

* Der Aufsatz ist dem 1917 in Hamburg geborenen und 2009 in Jerusalem verstorbenen rabbinischen Gelehrten Zev Walter Gotthold, sA, und dem neben Heinrich Levy wichtigsten Vermittler Marburger neukantianischen Gedankenguts, dem am 19. Juni 1885 in Berlin geborenen und im September 1942 in Auschwitz-Birkenau ermordeten Kurt Sternberg, sA, gewidmet. 1 Ich bin Prof. Dr. Heinrich Meier, München, für vielfältige Informationen zu Leo Strauss und die selbstlose Zurverfügungstellung von Materialien sehr dankbar. Ohne die Hinweise und Dokumente hätten viele Details des Aufsatzes nicht so mitgeteilt werden können. Leo Strauss’ Werke werden nach den bislang vorliegenden drei Bänden zitiert, die Heinrich Meier herausgab: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart/Weimar 1996ff: Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, dritte erw. Auflage 2008; Bd. 2: Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften, 1997; Bd. 3: Hobbes politische Wissenschaften und zugehörige Schriften – Briefe (Klein, Krüger, Löwith, Scholem), zweite erw. Auflage 2008. – Wichtig zur Spinoza-Interpretation von Strauss ist neuerdings Pierre Bouretz: Témoins du futur. Philosophie et messianisme, Paris 2003, 642–665. Auf die systematische Verbindung zwischen Strauss und Spinoza weist jüngst Steven B. Smith: Reading Leo Strauss: Philosophy, Politics, Judaism, Chicago 2006 hin. – Außerdem: Steven B. Smith: Spinoza’s book of life: freedom and redemption in the ethics, New Haven u. a. 2003. Auf eine bloße Wiedergabe von Strauss’ zu Spinoza Ausführungen beschränkt sich das ansonsten eigenständige Buch von Markus Kartheininger: Heterogenität. Politische Philosophie im Frühwerk von Leo Strauss, Paderborn 2006, 299–314. Grundlegend für die Beschäftigung mit dem frühen Strauss sind Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation, Cambridge 2006, 42–45, 80–85, 99– 104 u. ö.; Eugene Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile. The Making of Political Philosopher, Waltham (Mass.) 2006; Leo Strauss: The Early Writings (1921–1932), trans. and ed. by Michael Zank, Albany 2002. – Besonders bedeutsam ist die kritische Einleitung von Zank mit weiterer Literatur. Unverzichtbar für die Kontextualisierung des jungen Strauss sind darüber hinaus die ausführlichen Einleitungen von Heinrich Meier. – Zur neueren Strauss-Literatur siehe: Thomas Meyer: »Neue Literatur zu Leo Strauss«, in: Philosophische Rundschau 55, 2008, 168–186.

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veränderte Fassung seines am 17. März des gleichen Jahres vor dem »Verein für jüdische Geschichte und Literatur an der Universität Berlin«2 gehaltenen Vortrages abdrucken lassen.3 Dabei ging es ihm über den Anlaß des 300. Geburtstages Baruch de Spinozas hinaus darum, so die These im dritten Teil meiner Ausführungen, auf die zeitgenössischen Debatten um den Jubilar eine Gegenposition zu dem 1930 publizierten Buch über die »Religionskritik Spinozas« von Leo Strauss zu beziehen. Damit nicht genug: Die Auseinandersetzung wird nur verständlich, wenn noch weitere Gelehrte einbezogen werden, die für Cassirer und Strauss, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sehr bedeutsam waren: Hermann Cohen, Julius Guttmann und Richard Hönigswald. Doch zunächst werde ich eine knappe Faktenübersicht zu dem Verhältnis von Cassirer und Strauss bis zum Jahre 1934 geben, die einige Archivfunde enthält. Etwas umfangreicher fällt dann der zweite Teil aus, der, gleichwohl sehr skizzenhaft, Grundzüge jener Auseinandersetzungen aufzeigt, in deren Mittelpunkt Spinoza stand.

I) Die Beziehungen zwischen Ernst Cassirer und Leo Strauss Die Beziehungen zwischen Ernst Cassirer und Leo Strauss sind bisher weder systematisch noch ideengeschichtlich untersucht.4 Hingegen tauchen immer wieder die gleichen Fakten auf, ohne daß sie weiter gedeutet worden wären. So fehlt in keiner biographischen Skizze über Strauss, daß er 1921 bei Cassirer in Hamburg mit der Arbeit »Das Erkenntnisproblem in der philosophischen Lehre Fr. H. Jacobis« promovierte5, nachdem der im hessischen Kirchhain Geborene in Marburg nach dem Tode Hermann Cohens 1918 nur ein Jahr danach lediglich einen »Witwenmusensitz« (Heinrich Heine) vorfand.

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Noch am 6. Februar 1933 schreibt der Vorsitzende des »Vereins«, Dr. Walter Elden, Cassirer zusammen mit dem Philosophen David Baumgardt, dem Historiker Simon Dubnow und dem Orientalisten Eugen Mittwoch an, um ihnen mitzuteilen, daß sie der Vorstand als »Ehrenmitglieder« auszeichnen möchte. Dazu kam es indes nicht mehr. Siehe hierzu: David Baumgardt Papers, MF 553, File Dr. Walter Elden, Leo Baeck Institute New York. 3 Ernst Cassirer: »Spinozas Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte« (1932), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), 177–202. 4 Siehe etwa Daniel Tanguay: Leo Strauss. Une biographie intellectuelle, Paris 2005. 5 Ich danke Eckart Krause und Professor Dr. Rainer Nicolaysen sehr herzlich für ihre Bemühungen, die Promotionsakte von Strauss im Hamburger Staatsarchiv ausfindig zu machen. Leider war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Es stellte sich heraus, daß keinerlei Akten aus Promotionsverfahren bis einschließlich 1921 archiviert wurden.

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Aber auch mit Cassirer kam es, so Strauss, zu keiner guten Zusammenarbeit. So hat er in einem 1970 aufgezeichneten Gespräch bezüglich der Zusammenarbeit von einer »disgraceful performance« gesprochen. 6 Die Arbeit über Jacobi ist die eines 22jährigen, und man sollte sich hüten, darin die Anlagen späterer Gedankengröße herauslesen zu wollen. Es wird jedoch deutlich, gleichwohl mit den Begriffen der ›Erkenntnisproblem‹-Bände Cassirers operierend, wie wenig sich Strauss mit dem Thema und der Fragestellung wohlfühlt. Gleichzeitig finden sich erste Elemente dessen, was man ebenso berechtigt wie inhaltlich verkürzend die »theologisch-politische Fragestellung« nennt. Weitaus seltener als dieses Faktum ist bekannt, daß Strauss 1924 in Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude« im Rahmen einer Sammelbesprechung unter dem Titel »Religionsphilosophie: Zur Auseinandersetzung mit der europäischen Wissenschaft« Cassirers Abhandlung »Die Begriffsform im mythischen Denken«7 von 1922 und den anläßlich von Paul Natorps 70. Geburtstag veröffentlichten Festschriftenbeitrag »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« 8 kritisiert, indem er ihm einen willentlichen »Abbau« des sich durch den zentralen Gedanken einer »Ethik« auszeichnenden »Systems« Cohens vorwirft.9 Danach spielt Cassirer lange Zeit keinerlei Rolle in den Schriften von Strauss. Mit dem Zivilisationsbruch 1933 ändert sich das erneut. Cassirer, der auf Strauss’ Schriften nicht öffentlich reagierte, aber die beiden Monographien zur Religionskritik Spinozas10 und Philosophie und Gesetz11 von 1935 nachweislich vom Autor erhielt, wird von Strauss wegen möglicher Hilfestellungen angeschrieben.12 Cassirer sichert ihm Unterstützung zu. Das ist nicht direkt aus Dokumenten ersichtlich, denn nach archivoffiziellen

Leo Strauss: »A Giving of Accounts«, in: The College 22, Annapolis 1970, 1–5, hier: 2. Ernst Cassirer: »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16, 3–73. 8 Ernst Cassirer: »Zur›`Philosophie der Mythologie‹« (1924), in: ECW 16, 165–195. 9 Leo Strauss: »Religionsphilosophie: Zur Auseinandersetzung mit der europäischen Wissenschaft«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 341–349, hier: 349. – Wie so häufig in den zwanziger und dreißiger Jahren ist der Artikel mit »Leo Strauß« gezeichnet. Da sein Name amtlich jedoch Leo Strauss war und er selbst seinen Namen nie anders schrieb, ist hier die Schreibung vereinheitlicht. 10 Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 55–361. Wie aus dem nur teilweise überlieferten Briefwechsel Cassirers mit Julius Guttmann ersichtlich ist, war auch Ersterer mit in die Frage nach dem Publizieren oder Nichtpublizieren der Studie über Spinoza beschäftigt. Siehe Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2007, 204. – Archivnachweis: CJA Berlin Gesamtarchiv der deutschen Juden, 1 75 C Organisationen: Bestand »Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums«. 11 Leo Strauss: Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 3–123. 12 In beiden Exemplaren, die sich bis heute im öffentlichen Leihverkehr in Chicago befinden, gibt es keinerlei Annotationen. 6 7

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Angaben liegt in Chicago kein Brief Cassirers, wie auch kein Brief von Strauss an ihn überliefert ist. Gleichwohl existieren mehrere Schreiben von Strauss, in denen er Cassirer als Referenz nennt. So etwa in einem handschriftlichen Brief vom 24. September 1933 an den berühmten Historiker Fritz Yitzhak Baer (1888–1980) in Jerusalem, der in der Strauss-Ausgabe von Heinrich Meier zwar erwähnt, aber nicht vollständig zitiert wird. Die in unserem Kontext wichtige Passage lautet: »[…] Doch nun auf die Frage meiner sachlichen Eignung betreffend zurückzukommen – nach meiner wissenschaftlichen Meinung glaube ich über genügende Vorkenntnisse zu verfügen, um als Assistent a) für Geschichte der mittelalterlichen und antiken Philosophie, b) für Geschichte der politischen Theorien fungieren zu können. Was den zweiten Punkt angeht, so bin ich, glaube ich, rein äusserlich durch das Rockefeller-Stipendium qualifiziert, das hauptsächlich an angesehene und wirkliche Privatdozenten für ›politische Wissenschaften‹ vergeben wird, und insbesondere mir für Untersuchungen zur Geschichte der politischen Theorien [a) die politische Wissenschaft des Hobbes, b) die politischen Theorien der islamischen Philosophen] zugesprochen worden ist. (Das ausschlaggebende Gutachten hat nicht etwa ein Philosoph, sondern ein Staatsrechtler erstattet). Bezüglich des ersten Punktes verweise ich ergebenst auf ein Exposé, das Ihnen ebenfalls durch Scholem gegeben werden wird, und aus dem Sie jedenfalls die Richtung meiner einschlägigen Arbeiten ersehen können. Übrigens sind jedenfalls Guttmann und Cassirer in der Lage, sich über meine Qualifikation zu äussern. Gojische deutsche Professoren wage ich nach den gegenwärtigen Zeiten nicht zu nennen. Wären Empfehlungen seitens Lévy-Bruhl, Brunschicq und Koyré von Wert?«13

1933 und ’34 versuchten sich Strauss und Cassirer in England zu treffen, wie aus Briefen des Ersteren hervorgeht. Manche von ihm gewünschte Verabredung kam nicht zustande, da Strauss’ Nachrichten falsche Empfängerangaben enthielten und die Briefe wieder zurückkamen. Schließlich stellte Raymond Klibansky den Kontakt her, in dem er Cassirer auf Strauss’ Gesprächswunsch ausdrücklich hinwies.14 Der wiederum hatte Strauss für einen Beitrag zur sogenannten »Schüler«-Festschrift gewinnen können. Der Text von Strauss ist im Nachlaß nicht gefunden worden. Nach aufwendi-

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Zu diesem Brief wären natürlich eine Vielzahl von Anmerkungen zu machen, doch sie würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Bekannt ist, daß der angesprochene Staatsrechtler Carl Schmitt war. Siehe dazu jetzt die Einträge in Carl Schmitts Tagebüchern: Carl Schmitt, Tagebücher. 1930 bis 1934. Hg. v. Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010, S. 149, 159, 170f., 181, 195, 200. Einen früheren Hinweis auf Schmitts Einträge verdanke ich Prof. Reinhard Mehring, Heidelberg. Am 29. Januar 1932 erhält Schmitt die Bestätigung für das eingereichte ausführliche Gutachten zu Strauss, am 11. März 1932 wird ihm mitgeteilt, daß die deutsche Kommission das Stipendium für Strauss befürwortet. Die Rezension von Schmitts »Begriff des Politischen« ist abgedruckt in: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 217–238. 14 Siehe den Raymond Klibansky-Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv, Marbach am Neckar.

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gen Recherchen, die zahlreiche Briefwechsel anderer Personen einschloß, kann ich davon ausgehen, daß Strauss einen der Texte abdrucken ließ, die später in Philosophie und Gesetz erschienen. Bemerkenswert ist, daß Strauss keinem seiner Duzfreunde – also weder Jacob Klein, noch Ernst Simon – ein Wort über die Mitarbeit sagte. So bleibt ein kleiner Rest Spekulation, doch möglicherweise wollte er sich den Vorwurf der Doppelzüngigkeit nicht machen lassen, denn in privaten Kontakten hatte er sich seit Jahren mehrfach despektierlich über Cassirer geäußert. Aber auch Strauss erhielt einen maschinenschriftlichen Dankesbrief Cassirers für die Teilnahme an der Festschrift. Ursprünglich wurde der Brief von Cassirer handschriftlich verfaßt und an Klibansky mit der Bitte weitergeleitet, doch allen Beiträgern eine lesbare Kopie zukommen zu lassen.15 Danach bricht der Kontakt ab. Strauss ist über ein weiteres RockefellerStipendium versorgt und wird 1938 in die USA gehen. Lediglich an zwei Stellen seiner Studie über »Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis« zitiert er zustimmend aus Cassirers »Philosophie der Aufklärung«.16 Im amerikanischen Exil kam es noch zu zwei bemerkenswerten Ereignissen, die Strauss und Cassirer verbanden. So war Strauss der zuständige Redakteur für Cassirers Beitrag anläßlich von Hermann Cohens 100. Geburtstag. Der 1943 publizierte Text wurde, und das erstmals in der Geschichte der Zeitschrift ›Social Research‹, auch als Sonderdruck herausgegeben. Und zwei Jahre nach Cassirers Tod publizierte Strauss einen scharfen Verriß von »Myth of the State«, der eine Art Urteil über Cassirers Denken darstellte. Nicht ganz ohne Grund ließ Strauss den Text in einer Sammlung von Aufsätzen und Besprechungen wiederabdrucken, die 1959 unter dem Titel ›What is Political Philosophy?‹ erschien.17

II) Spinoza in Weimar Beginnen wir den Abschnitt mit zwei Stellungnahmen, die gegensätzlicher nicht sein könnten, obwohl die beiden Autoren, nämlich Max Wiener und Julius Guttmann, gemeinhin dem liberalen Judentum zugeordnet werden. Beide Texte wurden im Oktober 1933 veröffentlicht. Sie sollen illustrativ die sehr weit auseinanderliegenden Einschätzungen über Spinoza und seine Rolle für die jüdische Identitätsbildung am Ende der Weimarer Republik

Siehe Meyer: Ernst Cassirer, 215 f. Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 14 u. 173. 17 Siehe Ernst Cassirer: »Hermann Cohen 1842–1918«, in: ECW 24, 161–173. – Leo Strauss’ Rezension wurde wiederabgedruckt in: Leo Strauss: What is Political Philosophy? And other Studies, Glencoe 1959, 292–296. 15 16

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anreißen. Zunächst Max Wiener in seinem Buch Die jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation: »Wichtig aber bleibt für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen dem Judentum und dem Denken überhaupt, daß Spinoza als die reifste Frucht autochthon jüdischer Spekulation gewürdigt und zugleich der allgemeinen Verkettung des Geisteslebens eingegliedert wird. […] Sondern der den Lehrern überlegene Jünger eines Maimuni und Kreskas wird hier gefeiert.«18

Sodann Julius Guttmann in seinem Standardwerk Die Philosophie des Judentums: »Das System Spinozas hat seinen eigentlichen Platz nicht in der Geschichte der jüdischen Philosophie, sondern in der Entwicklung des modernen europäischen Denkens. Die Aufgabe aller bisherigen jüdischen Philosophie, die Religion des Judentums philosophisch zu deuten und zu rechtfertigen, hat für Spinoza vom Beginn seines selbständigen Philosophierens an ihren Sinn verloren. Seine Philosophie steht zu der jüdischen Religion, nicht nur in ihrer überlieferten dogmatischen Form, sondern ihren letzten Grundüberzeugungen nach, in tiefstem Gegensatz.«19

Die Geschichte der Spinoza-Rezeption in der Weimarer Republik ist noch nicht geschrieben.20 Die erste Frage, die sie in zahlreichen Zusammenhängen zu beantworten hätte: »Warum Spinoza?«

Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, 190. Im weiteren Verlauf seiner Studie kommt Wiener noch mehrfach auf den Einfluß Spinozas auf moderne jüdische Strömungen zu sprechen. So sieht er sowohl die streng rationalistische Richtung der liberalen Bewegung als auch den frühsozialistischen Philosophen und Schriftsteller Moses Hess durch Spinoza wesentlich geprägt. (A. a. O., 194, 210 u. 263 f.). 19 Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums, Berlin 1933, 278. – Guttmann hat sich immer wieder mit Spinoza auseinandergesetzt. Siehe etwa ders.: »Spinozas Zusammenhang mit dem Aristotelismus«, in: Ismar Elbogen/Benzion Kellermann/ Eugen Mittwoch (Hg.): JUDAICA. Festschrift zu Hermann Cohens siebzigstem Geburtstag, Berlin 1912, 515–534. Wichtig für Guttmanns Kontroverse mit Leo Strauss ist: ders.: »Mendelssohns Jerusalem und Spinozas Theologisch-politischer Traktat«, in: 48. Bericht der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1931, 31–67. 20 Trotz erster Ansätze bei Carsten Schapkow: »Die Freiheit zu philosophieren«. Jüdische Identität in der Moderne im Spiegel der Rezeption Baruch de Spinozas in der deutschsprachigen Literatur, Bielefeld 2001. Siehe das rein referierende Werk von Ze’ev Levy: Baruch Spinoza. Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland, Stuttgart 2001. Nichts verdeutlicht die Einschätzung besser als der Sammelband von Olivier Bloch (Hg.): Spinoza au XXe siècle, Paris 1993. Der aus einer 1990 veranstalteten Konferenz hervorgegangene Band versteht sich als Überblicksdarstellung. Doch es ist erstaunlich, daß er sich für die deutsche Sektion zum wiederholten Male nur mit Heidegger, der »Frankfurter Schule«, Carl Schmitt und Hannah Arendt auseinandersetzt. Strauss kommt nur als »politischer Exeget« vor, Cassirer und viele andere gar nicht. Das gilt auch für den Band Hanna Delf/ Julius H. Schoeps/Manfred Walther (Hg.): Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994. 18

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Eine mögliche generelle, nicht nur philologische Antwort wäre der Hinweis auf den immensen Aufschwung, den die Spinoza-Forschung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts genommen hatte. Die Namen Jakob Freudenthal (1839–1907) 21, Stanislaus von Dunin-Borkowksi SJ (1864–1934) und Carl Gebhardt (1881–1934) stehen in Deutschland für die biographische und philologische Erschließung von Spinozas Oeuvre. Es ist Freudenthal gewesen, der für nicht wenige späterhin berühmte jüdische Intellektuelle der Türöffner in die Welt Spinozas war. So trifft dies bei dem späterhin berühmten Rabbiner und liberalen Theologen Leo Baeck zu, der bei dem Freund und Mitwidmungsträger von Freudenthals großer Spinoza-Biographie Wilhelm Dilthey 1895 mit einer Arbeit über »Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland« promovierte. 22 Gebhardts schnell Referenzcharakter annehmende historisch-kritische Spinoza-Ausgabe wurde von 1921 bis 1927 vom »Chronicon Spinozanum« begleitet, einer Zeitschrift, die wesentliche Beiträge zu Spinozas Leben und Werk veröffentlichte, die nicht zuletzt Dunin-Borkowski und Gebhardt beisteuerten. In erster Linie dokumentiert sie aber vor allem das zunehmende internationale Interesse an der Spinoza-Forschung. So schreibt dort in der ersten Ausgabe niemand geringerer als Harry Austryn Wolfson (1887–1974) 23 , der 1934 seine große zweibändige Spinoza-Studie vorlegte, später kam etwa der mit Cassirer befreundete Philosophiehistoriker Léon Brunschvicg (1869–1944) hinzu. 24 Wer über diesen Fachkreis hinaus einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit der Spinoza-Interpretationen zur Zeit der Weimarer Republik erhalten will, der kann zu der Zusammenstellung von Texten greifen, die Norbert Altwicker 1971 unter dem Titel »Texte zur Geschichte des Spinozismus« herausgab. 25 Unter den Beiträgen finden sich etwa Teile von Richard Hönigswalds großem Spinoza-Aufsatz sowie der entsprechende Abschnitt aus Cassirers Geschichte des Erkenntnisproblems, sowie ein Text eines Schülers von Cassirers engem Freund Ernst Hoffman, nämlich

Matthias Wolfes: »Freudenthal, Jakob«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. v. Traugott Bautz, Bd. XVIII, Herzberg 2001, 470–475. 22 Leo Bäck: Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland, Berlin 1895. 23 Harry A. Wolfson: »Spinoza’s definition of substancce and mode«, in: Chronicon spinozanum 1, 1921, 101–112. Harry A. Wolfson: The Philosophy of Spinoza: Unfolding the Latent Process of His Reasoning. 2 vols., Cambridge (Mass.) 1934. Siehe jüngst dazu Carlos Fraenkel: »Maimonides‹ God and Spinoza’s ›Deus sive Natura‹«, in: Journal of the History of Philosophy 44, 2006, 169–215. 24 Von 1921 bis 1927 erschienen insgesamt fünf Bände. 25 Norbert Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, Darmstadt 1971. – Für die Rezeption außerdem von großer Bedeutung: Norbert Altwicker: »Spinozas ›Tractatus theologico-politicus‹ und ›Tractatus politicus‹ in der philosophischen Forschung der letzten 50 Jahre«, in: Spinoza Opera 5: Supplementum, Heidelberg 1987, 265–446. Altwicker wird es dann auch sein, der 1981 Leo Strauss’ Spinoza-Studie von 1930 in einem reprographischen Nachdruck herausgibt und ein »Vorwort« beisteuert. 21

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Heinz Pflaum (1900–1962), der sich nach der Emigration nach Palästina Hiram Peri [Pri=Obst] nannte. 26 Verweilen wir kurz bei dieser Konstellation. Denn bei der genaueren Lektüre von Hönigswalds 1928 erschienenem Essay stellt sich heraus, daß er unter anderem eine Reaktion auf die Deutung Cassirers im zweiten Band des Erkenntnisproblems war, die 1922 in der dritten Auflage – Cassirer hatte für die zweite Auflage nach ebenso heftiger wie berechtigter Kritik vor allem aus Frankreich von Brunschvicg und Emile Meyerson eine umfassende Revision des Bandes vorgenommen, die aber nur marginal den Spinoza-Beitrag betraf27 – publiziert wurde. Darin setzte sich unter anderem jene Debatte fort, die 1909 bzw. 1912 über den Status von Metaphysik und Erkenntniskritik anhand der für beide Denker zentralen Begriffe »Methode« und »Funktion« geführt worden war. 28 Cassirers Sicht auf Spinoza wird von der Frage nach »Substanz« und »Funktion« beherrscht. Ganz der Dramaturgie des Gesamtprojektes verpflichtet wird zunächst eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive angelegt: auf den Kurzen Traktat folgt die Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, deren Rekonstruktion über die Art der Aufnahme von Descartes’ an der

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Richard Hönigswald: »Spinoza. Ein Beitrag zur Frage seiner problemgeschichtlichen Stellung«, in: DVjs 6, 1928, 447–491. Bei Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, kommen die Abschnitte I-VI (447–485) zum Abdruck. Siehe a. a. O., 75–109 bzw. Cassirers Text aus der dritten Auflage von 1922: Cassirer: »Die Begriffsform im mythischen Denken«, ECW 16, 172–215; Heinz Pflaum: »Rationalismus und Mystik in der Philosophie Spinozas«, in: DVjs 4, 1926, 127–143. 27 Siehe dazu die folgenden Bemerkungen Cassirers aus einem Brief an Meyerson vom 21. Februar 1911: »Von allen Besprechungen, die mein Buch erhalten hat – Sie kennen sie ja zum grossen Teil – ist die Ihre mir in jeder Hinsicht die anregendste und förderndste. Denn Sie fassen das Ganze durchaus von der systematischen Grundabsicht aus, in der es geschrieben ist – und so treffen Ihre Bemerkungen stets diejenigen Punkte, die für mich selber die wichtigste und eigentlich entscheidenden waren. Daß ich Ihnen nicht in allem zuzustimmen vermag, wissen Sie ja – aber Ihre Kritik enthält eine so scharfe und praegnante Formulierung des Gegensatzes zwischen uns, daß schon damit für eine gegenseitige Verständigung viel gewonnen ist. Das Einzige, was ich bedaure ist, daß Ihr Aufsatz zu spät kommt, um für die 2te Auflage, deren erster Band soeben erschienen ist, in vollem Maße benutzt zu werden. Immerhin freut es mich, daß Einiges, woran Sie Anstoß genommen haben, so vor allem die Abweichungen von der chronologischen Ordnung, in dieser Auflage bereits beseitigt waren: so ist jetzt Bruno vor Kepler und Galilei, Bacon u. Hobbes vor Spinoza, Mose vor Newton behandelt, während Galilei im Anschluß an Berkeley, Reid im Anschluß an Hume besprochen wird. Für Leonardo sind die Schriften Duhems benutzt und Copernicus ist etwas genauer dargestellt. Ihre sonstigen Bemerkungen hoffe ich noch für den 2ten Band, mit dessen letztem Teil ich eben beschäftigt bin, nutzen zu können.« Der Brief findet sich im Nachlaß Emile Meyerson, A 408, File Cassirer, im Central Zionist Archives, Jerusalem. 28 Ernst Cassirer: »Rez. Richard Hönigswald, Beitraege zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre« (1906), in: ECW 9, 447–459. Und: Richard Hönigswald: »Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirers gleichnamigen Werk«, in: Deutsche Literaturzeitung XXXIII, 1912, Nr. 45 v. 9.11.1912, 2821–2843 u. Nr. 46 v. 16.11.1912, 2885–2902.

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mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientierten Methode erfolgt. Manche Passagen scheinen direkt aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff übernommen.29 Der dritte Teil des Beitrages ist nicht mehr einem einzelnen Werk, sondern einer Spannung gewidmet, die Cassirer überall zwischen dem Verständnis von »Substanz« und deren metaphysischer, das heißt über die Attributenlehre gesteuerter Begrifflichkeit, wirken sieht. Cassirer sieht diesen Widerspruch bereits von dem Briefpartner Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708) herausgearbeitet. Deshalb steht am Ende für Cassirer ein Scheitern Spinozas, denn die Harmonisierung seiner Erkenntnisinteressen hätte »eine Umformung des Begriffs des Seins, wie der Begriff der Erkenntnis erfordert.«30 Ohne daß der Autor Nachweise anführt, läßt sich bei Hönigswald ein direkter Bezug auf Cassirers Spinoza-Beitrag belegen. Das beginnt bei der Zitation der gleichen Stellen und endet in der Aufnahme der Begriffe. Natürlich teilen sie darüber hinaus Gemeinsamkeiten: Auch Hönigswald sieht Spinoza nur dann adäquat analysiert, wenn man ihn »sachlich und nicht geschichtlich« analysiert, er benutzt ebenfalls die Begrifflichkeit Hermann Cohens, spricht etwa von Spinozas »Metaphysik« als einer »Logik der Erkenntnis«31, es geht um das Verhältnis von »Denken und Sein«32 . Doch die Unterschiede sind markanter, sie seien ebenfalls nur aufgezählt, da sich im Rahmen dieses Aufsatzes mehr nicht leisten läßt: Anders als Cassirer kennt Hönigswald auch einen »irrationalen«33 Gehalt in Spinozas System, sieht in der Aufnahme von Descartes’ Programm der Selbstgewißheit des Denkens nicht den Akzent bei der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode, sondern darin, daß er die Philosophie des Franzosen »zugleich metaphysisch vertieft und methodisch geklärt, vor allem aber dialektisch aktiviert werde.«34 Ich muß an dieser Stelle den grundsätzlich ergiebigen Vergleich zwischen Cassirer und Hönigswald abbrechen. Es bleibt festzuhalten: Eine erste Sichtung von Cassirers mit Hönigswalds Spinoza-Zugang zeigt bereits ein Muster, das beide prima facie vom jüdischen Spinoza-Kontext der Weimarer Zeit zu unterscheiden scheint.

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Siehe dazu die Passage über den »Funktionsbegriff« (188) oder über die »Definitionen« (186), später dann wiederum im dritten Teil, wo die Frage nach der Ganzheit der Substanz als eine in sich differenzierte bezeichnet wird – doch ohne den Übergang zum Funktionsdenken wirklich zu machen: Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, 186 ff. und Teil 3. 30 A. a. O., 215. 31 Siehe Richard Hönigswald: »Spinoza. Ein Beitrag zur Frage seiner problemgeschichtlichen Stellung«, in: DVjs 6, 448 und 459. Die von mir seinerzeit entdeckten Briefe sind inzwischen auf der CD wiedergegeben, die den ausgewählten Briefen beiliegt, die John Michael Krois im Meiner-Verlag 2009 herausgab. 32 A. a. O., 454. 33 A. a. O., 450 f. 34 A. a. O., 467.

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Ihre Fixierung auf die Einpassung Spinozas in die Ideengeschichte wertet die politische Dimension etwa des »Traktats« zu einer methodischen ab. Die Frage nach der innerphilosophischen Kohärenz macht die nach der Rolle Spinozas im Streit um Emanzipation versus Häresie – schlagwortartig: die »Freiheit zu philosophieren« steht gegen den großen Bann der Amsterdamer Gemeinde – damals wie für die Weimarer Zeit obsolet. Bemerkenswert ist die Konsequenz, die beide daraus zu ziehen scheinen: Weder für Cassirer, noch für Hönigswald gehört Spinoza der Aufklärung an. Er wird behandelt wie ein exquisiter Führer in eine philosophische Sackgasse, der die Wende von Cusanus und Descartes hin zu einer fortschrittlichen Moderne nicht mitmachen wollte. Wie sehr nahe aber kommen diese Auseinandersetzungen einem Kampf um den »wahren« Spinoza, die mit Hermann Cohens Thesen von 1915 einen ersten, lange nachschwelenden Höhepunkt erreichten? Mit dieser Frage nähern wir uns wiederum dem eigentlichen Zielpunkt. Die Schriften Cohens zu Spinonza bilden eine paradigmatische Folie, die für alle wesentlichen Publikationen der Jahre zwischen 1918 und 1933 den Hintergrund bildet. 35 Vor allem seine vollständige Verwerfung von Spinozas Denken und Tun wurde als Herausforderung begriffen.36 An der innerjüdischen, von Cohen scharf zugespitzten Debatte um Spinoza beteiligten sich zahllose Gelehrte aus ganz unterschiedlichen religiösen und philosophischen Richtungen. Allein wenn man die in jüdischen Bildungseinrichtungen lehrenden Wissenschaftler aufzählt, bekommt man ein Spektrum geboten, das von der Orthodoxie, Neo-Orthodoxie bis hin zum Liberalen Judentum, aber auch Atheisten, Akkulturierte und Säkulare umfaßt: Leo Baeck, Fritz Bamberger, David, Baumgardt, Martin Buber, Hermann Cohen, Ismar Elbogen, Abraham Geiger, Max Grunwald, Julius Guttmann, Moses Krakauer, Albert und Julius Lewkowitz, Nathan Porges, Leo Strauss und Max Wiener. 37 Daneben gab es noch eine ganze

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Ernst Simon hat bereits 1935 den Entwicklungsgang von Cohens SpinozaAuffassung analysiert. Siehe Ernst Simon: »Zu Hermann Cohens Spinoza-Auffassung«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 79, 1935, 181–194. Bei diesem zweiten Heft des 79. Jahrganges handelt es sich um die Sondernummer anläßlich von Maimonides’ 800. Geburtstag. 36 Hermann Cohen: »Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum«, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 18, 1915, 56–150. Wiederabgedruckt in: Hermann Cohen: Jüdische Schriften, hg. von Bruno Strauß, mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig, III Bände, Bd. III, Berlin 1924, 290–372. 37 Zu den Publikationen der genannten Personen siehe Manfred Walther: »Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie«, in: Werner Stegmaier (Hg.): Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000, 281–330. In der Anlage listet Walther verdienstvoll die Spinoza-Arbeiten von deutschen Juden auf, die in jüdischen Bildungseinrichtungen arbeiteten (327–330). Es fehlen aber etwa Angaben über Julius Lewkowitz, der 1902 in Breslau über Spinoza promovierte und später am Berliner Seminar lehrte.

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Reihe weiterer wichtiger Spinozisten oder Anti-Spinozisten, die aber alle in einem geeint waren: nämlich in der Anerkenntnis, daß es über Spinoza möglich ist, Judesein, jüdische Philosophie sowie das Verhältnis zur jüdischen Religion und zur Moderne zu bestimmen. Die These, daß die philosophisch-jüdische Identitätsfrage dieser Zeit über die Spinoza-Rezeption näher bestimmen zu sei, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. So kommentiert der Spinoza-Spezialist Manfred Walther David Baumgardts Statement aus dem Jahre 1932 – »So bleibt dieses Ergebnis zunächst überraschend und bedrückend für uns, daß es bisher nirgends gelang, Spinoza für ein eigentlich neues Weltbild des Judentums lebendig zu werten«38 – mit den Worten: »So ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Philosophie Spinozas das Schiboleth der authentischen Gestalt jüdischer Identität in der modernen Welt gewesen, soweit erkennbar, bis heute geblieben.«39 Warum ist das so? Auf der Suche nach denjenigen Personen und intellektuellen Entwicklungen, die für das glaubenstreue Judentum schon immer ambivalente Aufklärungsgeschehen verantwortlich zu machen sind, gehörte Spinoza noch mehr als Moses Mendelssohn zu den ersten Genannten. Seine Kritik an der Halacha, dem Schriftprinzip und seiner scheinbaren Bevorzugung des Christentums ging einher mit einem Plädoyer für Liberalismus und Demokratie. Die Kombination erweckte Argwohn, zumal diese vermeintliche Widerlegung der Orthodoxie durch Spinoza vielfach von Aufklärern aufgegriffen wurde. Die Weimarer Republik beschleunigte nun die seit dem Zusammenbruch der »Kehilla«-Struktur andauernde Säkularisierung, die ein Vakuum hinterließ, das gefüllt werden mußte. An Spinoza ließen sich dabei die Gefahren und Möglichkeiten des Judeseins paradigmatisch aufzeigen. Sein erneuter Ausschluß findet sich daher ebenso wie geradezu emphatische Verehrung. Die Schleuse, Identität über Spinoza zu generieren, war jedenfalls geöffnet.

David Baumgardt: »Spinozas Bild im deutschen und jüdischen Denken«, in: Der Morgen VIII, 1932, 357–370, hier: 370. Der zweite Teil des Textes wird abgedruckt unter David Baumgardt: »Spinozas jüdische Sendung«, in: Jüdische Rundschau XXXVII, 1932, Nr. 93 v. 22.11.1932, 451 f. 39 Walther: »Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie«, 326. 38

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III) Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss Worum geht es Leo Strauss in seinem Aufsatz, vor allem aber in der Spinoza-Monographie?40 1924 hat er vor allem einen Einwand, der sich an Cohens Lektüreweise von Spinozas Schriften entzündet. Cohen habe den Titel Theologisch-politischer Traktat Spinozas zum Anlaß genommen, Spinoza eine von Beginn fehlende philosophische Analyse seiner Situation nach dem »Großen Bann« vorzuwerfen. Der im Titel fehlende Bezug zur Philosophie werde zum entscheidenden Moment in dem Rachefeldzug Spinozas gegen die jüdische Tradition und die jüdische Religion. Strauss dazu: »Eine vielleicht aus der theologischen Wissenschaft der Apologetik herstammende Methode der Geschichtsschreibung kommt hier zur Anwendung«.41 Strauss wird auf den folgenden Seiten seiner Auseinandersetzung mit der »historisch-kritischen« Methode nachgehen, wonach er ganz und gar den Text Spinozas in den Mittelpunkt stellt. Dies im Gegensatz zu Cohen, der eine zunehmende Konzentration auf die Person versuchte, um das Werk so diskreditieren zu können. Natürlich handelt es sich schon am Beginn des Aufsatzes um einen Affront. Der jüdische Philosoph Hermann Cohen wird der christlichen Apologetik zugeordnet, während Strauss vorgibt, der wahre jüdische Kritiker zu sein. Mehrere Punkte kann dieser im Traktat ausfindig machen, die, so seine Ansicht, dafür sprechen, daß Spinoza sehr wohl Vernunftgründe für seine Sicht der Bibel, der Christusverehrung oder der Zurückweisung der Bedeutung der Propheten angeben kann. Nicht nur die im Traktat vorgenommene Verbindung von »Staatstheorie und Bibelkritik«42 sei vertretbar oder die »politisierende Auslegung der Bibel«43, auch die »Identifikation von Religion und Schrift, und damit die Leugnung des Erkenntniswertes der Religion«44, habe historisch legitimierte Gründe vorzuweisen, die sich nicht durch Spinozas Haß auf das Judentum erklären ließen. Die Motivation für die Kritik liege in zwei Punkten begründet: »erstens um der Wahrung der Autonomie der Vernunft willen« – durch die Kantische Formulierung soll der »Neukantianer« Cohen getroffen werden: er habe den »Vorläufer Kants« in Spinozas überlesen! – »zweitens, um die

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Zwischen der Cohen-Kritik (1924) und der Monographie (1930) erschien außerdem: Leo Strauss: »Zur Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer«, in: Korrespondenzblatt des Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums 7, 1926, 1–22, der jetzt auch in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 389–414 wieder greifbar ist. Der Aufsatz gibt einen Aufriß der geplanten Monographie. 41 Der Aufsatz findet sich in der von Heinrich Meier herausgegebenen Ausgabe: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 363–386, hier: 363. 42 A. a. O., 366. 43 A. a. O., 369. 44 A. a. O., 370.

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Bindung der Seligkeit an den Glauben an alle in der Bibel überlieferten Ansichten und Ereignisse aufzuheben.«45 Der Kritiker sieht in Spinoza zudem einen frühen Künder der Bibelkritik aus dem Geiste der Philologie. Aber Cohen sei nicht nur für diese beiden Hauptanliegen blind, er übersehe völlig, daß sie den Traktat im Sinne von Über- und Unterordnung strukturieren.46 Nur wenn man Cohens Lektüre als fundamentale und willkürliche Fehlinterpretation der Anliegen und des Aufbaus des Traktats mitlese, lasse sich erklären, warum er Spinoza unterstellt, er habe eine »Ethik« nur angekündigt (in der Ethica), aber keine geschrieben, weil er nicht Philosophie betreibe, sondern Haß streue. Schließlich sei Spinoza folgerichtig, nach den von ihm in Anschlag gebrachten Argumenten, zum Christentum »philosophisch« übergetreten, weil er hier das Vernunftprimat und die ethische Ausrichtung vorgefunden habe, die er im Judentum vermissen mußte. Bei all dem Vorgetragenen – fast möchte man schreiben, daß Strauss seine kursiv gehaltenen Thesen wie Refrains in den Text einwirft, so daß der Eindruck einer Litanei entsteht – wird stets darauf hingewiesen, wie unbedeutend und falsch es ist, das Festgestellte auf das Judentum zu übertragen, daß vielmehr zu fordern sei man müsse der historischen Rekonstruktion gerecht werden, was schließlich zur Anerkennung von Spinozas Position führe. Am Ende seines Textes wird Strauss eminent zeitgenössisch und politisch. »Was nun die Bibel als solche, ohne Rücksicht auf das Neue Testament betrifft, so betont die Bibelwissenschaft Spinozas gerade diejenigen Motive, die zum Teil bereits von der Tradition, vor allem aber vom Liberalismus gerne bedeckt werden.«47 Die Untersuchung Strauss’ wird so über historische Argumente hinaus, zum Lehrstück über die Ansichten des »führenden« jüdischen »Liberalismus« gemacht. Fünf Punkte trägt Strauss zusammen, die schlagend gegen Cohen gerichtet sind: Er neige dazu »das Primitiv-Numinose gegenüber dem Rationalen« durch die Rede vom »Monotheismus«48 zu minimalisieren, entwerte das »Kultische gegenüber dem Humanitären«49, übersehe das »Naiv-Egoistische« gegenüber dem Moralischen«, vernachlässige »das Nationale gegenüber dem Menschheitlichen« und schließlich verkenne er völlig die Notwendigkeit »das Politische gegenüber dem Religiösen« aufzuwerten. 50 Strauss ging es also darum zu zeigen, wie sehr Cohens Lesart von Spinozas Texten durch die von diesem selbst nicht mehr reflektierten Voraussetzungen des »Marburger Neukantianismus« und des »ethischen

45 46 47 48 49 50

A. a. O., 372. Siehe a. a. O., 373. A. a. O., 380. Ebd. A. a. O., 381. A. a. O., 382 f.

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Sozialismus« verzeichnet ist. Wie sehr es dem »Liberalismus« nicht gelingt, seine Ideologie in den Dienst einer historisch-kritischen Lesart zu stellen, die in Spinoza mehr zu erkennen vermag als ein Objekt des Hasses, zeige Cohens Darstellung überdeutlich. Strauss’ Strategie ist sehr klug gewählt, hat er doch mit Spinoza eine jüdische Reizfigur in aller Schärfe gegen die Neigung zur Harmonie bei Cohen gestellt bzw. gegen dessen reflexartige Abweisung aller philosophischen Texte und Denkfiguren, die seinem »Schema« nicht entsprechen. Gerade in der Schärfe der Ablehnung und Verdammung, so suggeriert Strauss, erkenne man die Schwächen des »Liberalismus« besonders gut. In der Monographie von 1930 werden die philologischen und philosophischen Argumente weiter ausgebaut. Dazu stellt Strauss die Beschäftigung Spinozas mit Maimonides und Calvin in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, macht einen Kontext aus, in dem die Kritik an Spinoza zu lesen sei (Uriël da Costa, Isaac de Peyrère und Thomas Hobbes), und geht von dort dazu über, die zusammengetragenen Thesen der Religionskritik Spinozas und seiner Vorgänger an den zentralen Glaubensinhalten des Judentums (Offenbarungsreligion und das Verhältnis der sozialen Funktionen der Religion zum Staat) zu prüfen. Anders in der Monographie zu Spinoza Religionskritik, die zu recht noch immer als Klassiker gilt. 51 Wie läßt sich die Arbeit knapp für unsere Zwecke zusammenfassen? Zwei Hauptpunkte im Bezug auf die jüdischen Debatten der Weimarer Republik aber lassen sich herausstellen. Da ist zum einen seine Kritik an der Aufklärungsphilosophie, für die stellvertretend Spinozas Umgang mit dem Wunderglauben genommen wird. Von hier aus weist dann ein direkter Weg zu der Aufsatzsammlung Philosophie und Gesetz von 1935. Der zweite Punkt hängt mit dem ersten aufs engste zusammen: Strauss geht es um die argumentative Wirkungslosigkeit von Spinozas Einlassungen, die er einerseits als zeitgenössische Positionierungen entlarvt und gleichzeitig an den klassischen Bemerkungen Maimonides’ im More Newuchim zum Verhältnis Philosophie/Judentum spiegelt.52 Bislang von der Strauss-Forschung ignorierte zeitgenössische Stimmen spiegeln die Möglichkeit eigener Schwerpunktsetzung gegenüber dem Buch sehr gut wieder. So schreibt der Breslauer Philosoph Albert Lewkowitz in der »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums«:

So die Einschätzung etwa in Wolfgang Röd: Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002, 397. 52 Auf diese Punkte verdichtet Ludwig Feuchtwanger seine Lektüre, die bislang vollständig übersehen wurde. Siehe Ludwig Feuchtwanger: »Nachbemerkung der Schriftleitung zu Leo Strauss, Das Testament Spinozas«, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8, 1932, Nr. 21 v. 1. 11. 1932, 326. 51

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»Besonders in die Tiefe geht die Untersuchung über das Verhältnis Spinozas zu Maimonides. Hier wird die Differenz in der Stellung zur Offenbarung auf die prinzipielle Entscheidung über die Tragweite der menschlichen Erkenntnis zurückgeführt. Die spinozistische Entscheidung für die Suffizienz der Vernunft zur Erkenntnis Gottes macht den Glauben an Offenbarung entbehrlich und die Tatsache von Wundern unmöglich. Für Maimonides hingegen ist die Realität der Offenbarung durch die Insuffizienz der Vernunft zur Erkenntnis Gottes, durch die philosophische Möglichkeit des Wunders und die Glaubwürdigkeit der Tradition begründet. Der Maimonideischen Orientierung am Judentum als Grundlage seiner Synthese von Vernunft und Offenbarung tritt die spinozistische Distanz vom Judentum, tritt der freie Geist gegenüber.«

Wichtig ist der Einwand, den Lewkowitz knapp formuliert: »Leider unterläßt es Strauß (sic!), in einer systematischen Untersuchung die philosophische Berechtigung des spinozistischen Rationalismus und seiner Ueberwindung der Offenbarungsreligion durch Metaphysik zu prüfen.«53 Für den »Marburger« der neuen, ganz anders ausgerichteten dritten Generation, Gerhard Krüger, steht zweifelsfrei fest, daß Strauss es auf eine »prinzipielle, philosophische Erörterung des Problems der Aufklärung« angelegt habe. 54 Es ist die Kategorie des »Vorurteils«, dessen sich die Aufklärung bedient und die es gleichzeitig nutzt, um die Offenbarungsreligion zu bekämpfen. Die Gleichzeitigkeit macht nicht nur den Doppelcharakter der Aufklärung selbst aus, sondern erweist sich seit Descartes – dem Spinoza in seinen begrifflichen und methodischen Ordnungsvorstellungen folge – als ihr selbst nicht bewußter Geburtsfehler. Den Finger auf diesen dritten Hauptpunkt, nämlich einer radikalen Aufklärungskritik, gelegt zu haben, sei das Hauptverdienst von Strauss. Ganz anders sieht dies der Autor der ausführlichsten Kritik, nämlich der Phänomenologe und spätere CassirerÜbersetzer Aron Gurwitsch. 55 Auf 25 Seiten weist er nach, daß die »Radikalisierungen« von Spinozas Position – so etwa die Auftrennungen von sogenannter »positiver« und »wörtlicher« und wie Gurwitsch sie nennt »konkreter Schriftauslegung«56 – willkürliche, weil in Spinozas Schriften vorkommende und reflektierte Absetzbewegungen zu orthodox-jüdischer sowie christlicher Dogmatik seien.

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Zitate siehe Albert Lewkowitz: »Neuerscheinungen zur Geschichte der Philosophie der Neuzeit«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 74, 1930, 1– 10, hier: 6 f. Schreibweisen und Hervorhebungen sind dem Original entnommen. 54 Gerhard Krüger: Rez. »Leo Strauß [Dr. phil., Berlin], Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft«, in: Deutsche Literaturzeitung, LII, 1931, Nr. 51 vom 20. 12. 1931, 2407–2412. 55 Aron Gurwitsch: Rez. »Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft«, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 195, 1933, 124–149. 56 A. a. O., 128.

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Und Ernst Cassirer? Die von ihm vorgelegte Spinoza-Interpretation hatte nicht nur Richard Hönigswald herausgefordert. Benzion Kellermann, der enge Mitarbeiter Hermann Cohens, so in der scharfen Kontroverse um das »Ethos der hebräischen Propheten« mit Ernst Troeltsch, hatte Cassirers kantianisierende Lesart in seinem heute nicht einmal in Bibliographien geführten Kommentar zur »Ethik« Spinozas einer genauen Prüfung unterzogen. 57 Ebenso wie im Falle Kellermanns, der bekanntlich die Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen von Cassirers Kant-Ausgabe ediert hatte, war es nach 1945 ein zu Unrecht vergessenes Werk, das die Spinoza-Deutung aus dem »Erkenntnisproblem« ernst nahm. Heinrich Rombachs zweibändiger Kommentar zu Cassirers »Erkenntnisproblem«-Geschichte und vor allem zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1965 und 1966 unter dem Titel Substanz, System, Struktur publiziert, traf exakt die Schwächen von Cassirers Deutung im Erkenntnisproblem. 58 In den Grundzügen der Interpretation Cassirers ändert sich auf den ersten Blick zwischen 1907 bzw. 191159 und 1932 wenig. »Natur«, »Gott«, »Intuition« und »Seele« heißen hier wie dort die behandelten Grundbegriffe. Natürlich ist Cassirers erste Darstellung wissenschaftlicher aufbereitet, während der Aufsatz »populärer« gehalten ist, aber dafür durch die Beschäftigung mit dem Naturrecht eine Verknüpfung mit neuen Fragestellungen aufweist. 60 Blickt man auf die Spinoza-Rezeption der Weimarer Republik, dann ergibt sich ein möglicherweise neues Bild des Spinoza-Aufsatzes. Cassirer eröffnet seinen umfangreichen Beitrag im Gedenkjahr mit einer klaren Stellungnahme: »Von allen großen philosophischen Systemen scheint die Lehre Spinozas am wenigsten einer rein-historischen Interpretation zu bedürfen, noch scheint sie einer solchen Interpretation im strengen Sinne zugänglich zu sein. Denn schon ihr Inhalt und ihre gedankliche Methodik rückt sie aber in den Kreis des bloßGeschichtlichen hinaus. Dieser »Inhalt« spricht für sich selbst und steht auf

Benzion Kellermann: Die Ethik Spinozas, Bd. 1: Über Gott und Geist, Berlin 1922. Kellermann starb bereits ein Jahr nach dem Erscheinen. Weitere Bände sind nicht veröffentlicht worden. Zum Streit mit Troeltsch schrieb er: Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917. 58 Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bände, Freiburg/München 1965 u. 1966, hier: Bd. 2: 44 f., 48 u.ö. 59 Ernst Cassirer Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 57–100. 60 Ernst Cassirer: »Spinozas Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte« (1932), in: ECW 18, 187 f. 57

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sich selbst; er erhebt den Anspruch, aus seinem reinen Sein heraus verständlich und kraft desselben völlig begründbar zu sein.«61

Nun könnte man sagen, daß Cassirer sein Einlassung mit »scheint« beginnt und daß er im Gegensatz zu Strauss’ »historisch-kritisch« ausgerichteter Lektüre von »rein-historisch« spricht, doch dagegen läßt sich die Entschiedenheit festmachen, mit der Cassirer hier dessen Lektüreanweisung karikiert. Denn obwohl es nur notwendig »scheint«, trifft er doch genau den Ansatz von Strauss, Spinozas Denken über die historische Kontextualisierung zeitgenössisch funktionalisieren zu wollen. Nochmals Cassirer: »Halten wir diese Voraussetzungen des Spinozismus fest, so scheint die eigentliche Sünde gegen seinen Geist zu sein, wenn wir ihn selber unter historische Perspektiven rücken, wenn wir nach der Stellung fragen, die er im Ganzen der neueren Philosophiegeschichte und der allgemeinen europäischen Geistesgeschichte einnimmt.«62 Um dann daran anschließend gleich das Gegenteil zu betonen: »Denn wenn der gedankliche Gehalt von Spinozas Lehre einer rein-historischen Betrachtung zu widerstreiten scheint, so fordert andererseits ihr Schicksal um so gebieterisch eine derartige Betrachtung heraus.«63 Die Angelegenheit wird komplizierter. Cassirer nimmt nicht nur seine beiden zuvor ausführlich zitierten Einlassungen zurück und betont das genau Entgegengesetzte, er geht damit auch über die Position von Strauss hinaus. Doch diese Lesart, die letztlich wieder in den Hafen der These von der Zeitenthobenheit von Cassirers Analysen einzulaufen droht, ist durchaus ambivalent. Denn Cassirer imitiert bloß die Zustimmung zu Strauss bzw. den Vertretern historischer Kontextualisierung, er nimmt vielmehr den Fehdehandschuh auf. Cassirer »spannt« Spinoza nicht in die Spezialgeschichte der jüdischen und protestantischen Religionskritik oder in den Rahmen einer Gegenlektüre zu Maimonides ein, sondern er verlegt ihn in den »Marburger« Kreis von Platon, Descartes, Leibniz und Lessing, wobei er bei dem – Strauss’ Dissertation! – nicht vergißt, an die mit Jacobi geführten folgenreiche Gespräche zu erinnern, die Hegel und Schelling beeinflußten.64 Cassirer verschränkt mit der »Marburger Methode« den Ansatz, daß gewisse Fakten anzuerkennen sind: auch er konzediert bei Spinoza das Strukturmerkmal einer Stufung der vorgetragenen Argumente, und auch er leugnet nicht, daß die Lektüre Spinozas sich ihrer Vorgeschichte und der Folgewirkung eingedenk bleiben muß.

61

Ebd. A. a. O., 178. In Freiheit und Form von 1916, Cassirers deutsch-europäischer Geistesgeschichte, finden sich nur illustrative Bemerkungen zu Spinoza. Vgl. hierzu Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7. 63 Ebd. ECW 18. 64 A. a. O., 178 f. 62

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Doch habe die massive Rezeptionsgeschichte zahllose »Verschiebungen« mit sich gebracht, die nur dadurch entschärft werden können, wenn man anerkennt, daß Spinoza »weit stärker, als es ihm selbst zum Bewußtsein gekommen ist und als es in der Darstellung des Systems unmittelbar zutage tritt, von den allgemeinen Tendenzen, die die geistige Entwicklung des siebzehnten Jahrhunderts bestimmen, beherrscht« 65 werde. »Tabula rasa« also macht Cassirer, um den Blick auf »seinen Spinoza« frei zu haben. Nur wer die zu Beginn angerissenen Debatten um Spinoza wegdenkt, kann zu dem Ergebnis kommen, hier finde lediglich ein weiteres Mal statt, was Cassirer immer betrieben habe: eine Geste der Historisierung, die dazu diene, Spinoza in den »kritischen Idealismus« einzugemeinden. Selbst wenn es so wäre, läge darin noch immer eine klare Stellungnahme gegen die Ideologisierungsversuche und die Übertragung von Spinozas Denken für etwaige Identitätskonzepte. Der Leser von Cassirers Studie wird sich nicht darüber wundern, daß tatsächlich Zeile über Zeile hinlänglich bekannte Schemata genutzt werden – kaum ist Spinoza in die Einflußsphäre des siebzehnten Jahrhunderts versetzt, liest man eine Seite später über den »Platoniker« Spinoza bzw. seine Absetzungen gegenüber Platon66 – doch das ist wiederum aus dem spezifischen Blickwinkel der »politischen Lesart« eine oberflächliche Betrachtung. Denn indem Cassirer auf seine Lektürepraxis vertraut, ihn Weltanschauungslesarten entzieht, wird dieser als untauglich für zeitgenössische jüdische Identitätsbildung behandelt. Etwa dann, wenn Cassirer richtig meint, für Spinoza sei »alles Partikulare […] »bloß-Negatives«. 67 Wer an dieser Stelle das Wiederauflebenlassen der Cohen/Strauss-Fehde erwartet, wird enttäuscht. Es folgt eine knappe Darstellung von Pierre Bayles Kritik an Spinoza, die sich an der Gleichung »Deus sive natura« – der Franzose übersehe, daß der »Begriff der Natur« sein »Korrelat« im »Begriff der Offenbarung« 68 habe; die gar nicht theologisch verstanden wird – entzünde, dann folgt der Übergang zu Goethes, den Alterswerken zuzurechnendem Gedicht vom Oktober 1821 »Eins und alles« und schließlich ist man in Betrachtungen gelandet, die die Tendenzen »in allen Gebieten der geistigen Kultur des siebzehnten Jahrhunderts« 69 in den Blick nehmen, um Spinoza besser verstehen zu können. »Der Anfang und Ursprung alles Wissens ruht im menschlichen Geiste selbst und muß in ihm und durch ihn zur vollständigen Entwicklung und Entfaltung gebracht werden.«70 Das ist eine vermittelnde Position,

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Ebd. Siehe a. a. O., 181. A. a. O., 182. A. a. O., 183. A. a. O., 185. Ebd.

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die sowohl das Cohensche mutmaßliche »ad hominem«-Argument in den »kritischen Idealismus« übersetzt, als auch gegen Strauss zeigt, daß vom Spinoza-Konzept des »Individuum« sehr wohl ein philosophischer Schritt zur Philosophie führt, und man nicht bei einer religiösen Emphase enden muß. Warum also, könnte man zuspitzen, das »Geschrei« ausgerechnet zu Spinoza? Andererseits wird das Zitat von Cassirer bewußt allgemein so verstanden, um anschließend einen ideengeschichtlichen Bogen schlagen zu können: Cusanus’ Schrift De mente, Kopernikus und Galilei ziehen dann konsequent vorüber, und Cassirer gelangt auf diese Weise zu Hugo Grotius. Der scheinbar ungelenke Exkurs endet in einer bestimmten Ausrichtung des »Naturrechts«, dem Cassirer die gleiche methodische Vorgehensweise unterstellt, wie der zuvor geschilderten Entwicklung der »Naturerkenntnis«. 71 Spinoza wird hier in den Zusammenhang der Selbstbefreiung des Menschen gestellt, der mittels des Begriffs der »Natur« hergestellt sei. Er weist dann folgerichtig auf seinen 1934 erschienen Aufsatz über »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« hin. 72 Die Folgerung aus all dem schließt Cassirer unmittelbar an: »In das Ganze dieser geistigen Entwicklung muß man Spinozas Grundlehre hineinstellen, wenn man sie nicht nur als abstrakte metaphysische Doktrin begreifen, sondern wenn man sie aus ihren individuellen Voraussetzungen, aus den konkreten Antrieben, die in ihr unmittelbar-lebendig und wirksam sind, verstehen will.«73 Die Formel »›Gott oder Natur‹« erscheine dann ihrer »vollen Prägnanz«, wenn man sie im Sinne Hegels »als die ›Zeit selbst in Gedanken gefaßt‹« verstehe. 74 Nach der »Naturerkenntnis« und dem »Naturrecht« folgt jetzt die »Naturphilosophie«. Ausgehend von einem Zitat aus der »Ethik« Spinozas bestimmt Cassirer, einem alten Topos seiner Philosophiegeschichtsschreibung folgend, den ausgreifenden, für alle »Gebiete der geistigen Kultur« des siebzehnten Jahrhunderts gültigen Charakter von Spinozas Theorem. Daß die »Natur sich stets gleich« bleibe, könne »vermöge der Gesetze und Regeln der allgemeinen Natur« erklärt werden: »Diese streng-einheitliche Erklärungsweise, dieses universelle ErkenntnisIdeal soll jetzt nicht nur im Gebiet der Sittlichkeit und des Rechts zur Anerkennung gebracht, sondern es soll im Zentrum der ›Glaubensgewißheit‹, im eigentlichen Mittelpunkt der Religion selbst, als Grundprinzip festgestellt werden. In dieser Forderung liegt der eigentliche Radikalismus und die eigentliche Kühnheit des Spinozistischen Systems.«75

71 72 73 74 75

A. a. O., 186. A. a. O., 188. Ebd. Zitate a. a. O., 188 f. A. a. O., 189.

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Cassirer offeriert also einen »dritten Weg«, um die Bedeutung Spinozas herauszuarbeiten. Er dient nicht der zeitgenössischen Identitätsbildung, weil er als der klassische Feind des Judentums hingestellt werden kann, wie es Cohen in Ableitung von Spinozas persönlichem Haß tat. Noch kann er als Feind des deutsch-jüdischen »Liberalismus« gedeutet werden, der dadurch die liberale Option widerlegt, so Strauss’ Sicht der Dinge. Sondern er kann für Überlegungen der Identität deshalb herangezogen werden, und hier muß nun die Behauptung von zuvor revidiert werden, weil er in der Religion selbst die Gesetze der Natur ausmachen kann, also eine universalistische, ethische Position vertritt. Damit steht Spinoza auch nicht in einer irgendwie leichtableitbaren Tradition, sondern er gibt der Religion »eine neue Form und einen anderen Wesensgrund. Es genügt nicht, innerhalb der überlieferten Glaubenslehren das Partikulare vom Universalen, das Willkürliche vom Notwendigen zu unterscheiden; sondern es gilt das Ganze der Religion so zu fassen und so zu gründen, daß es von aller Beschränkung und Einengung, von aller anthropomorphen Bindung und Entstellung frei wird.«76 Spinoza ist bei Cassirer folglich Rationalist. Das heißt konsequenterweise, den Begriff des »Wunders« aus dem »Inhalt der Religion«77 zu beseitigen, denn er stört nachhaltig die »Ordnung der Dinge«, wie sie durch Vernunft gegeben sind. Nach einem erneuten Zwischenspiel wendet sich Cassirer den Fragen nach »Gott und Mensch bei Spinoza« und dann »Spinozas Bibelkritik« zu. Er sieht bei Spinoza den Zugang zur Beziehung zwischen Gott und Mensch über den »Logos« gegeben. Alle »mythischen« Vorstellungen, die Gott nach dem Bild des Menschen schaffen wollten, würden scharf zurückgewiesen. Aber auch eine andere Verfehlung, die letztlich auf anthropomorphe Fehlschlüsse zurückgehe, wird von Spinoza korrigiert: Gott ist kein Gott des Leidens, sondern einer des »Tuns«. Das »Tun« – Cassirer grenzt seinen Begriff gegen den »actus purus«, die »reine Tätigkeit« ab – ist niemals Affektgeladen, sondern kommt als ganz und gar vom »Logos« begründet und gegenseitig aufeinander verweisend vor. Mit ungewöhnlich deutlichen, harten Worten schließt Cassirer das knappe Kapitel ab: »Der Anthropomorphismus muß mit der Wurzel ausgerottet werden; und dies geschieht nur, indem wir alles was dem Leiden, nicht dem Tun angehört, von Gott fernhalten.«78 Warum die Emphase? Gegen was gilt es hier zu »kämpfen«, und zwar unter Rückgriff auf den Begriff »Ausrottung«? Cassirer grenzt Spinoza gegen die theologische Tradition ab, die für ihn eine christliche ist. Dieser

76 77 78

A. a. O., 190. A. a. O., 191. A. a. O., 196.

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unterstellt er, daß sie zwar vorgab, die Lehre von Gott zu lehren, tatsächlich aber »Anthropologie« gewesen zu sein. 79 Hier soll nicht der Gehalt dieses Verdikts diskutiert werden, sondern darauf insistiert werden, daß Cassirer eine immense Fallhöhe konstruiert, um Spinozas Gedankengang weiterhin den zugeschriebenen »Radikalismus« unterstellen zu können. Cassirer entkleidet dazu die Theorie Spinozas von aller »abstrakten« wie naiv »praktischen« Gottesvorstellung. Er macht ihn zum »Juden«. Doch gerade in dem Nichtaussprechen dieser Zuordnung ist es »sonnenklar« (Fichte), daß Spinoza bei Cassirer ein weder revanchistisches noch avantgardistisches Heimkehrrecht für Gott in die Philosophie bereithält. Konturiert wird das Gesagte im folgenden Kapitel über »Spinozas Bibelkritik«. Spinoza erfährt hier nämlich eine weitere Isolierung. Nicht nur eine dezidierte scharfe Abgrenzung gegen die (christliche) Theologie verordnet Cassirer seinem Helden, sondern auch eine wirkmächtige »Erfindung« der Bibelkritik, deren Kern in ihren bekannten Auswirkungen in der Theologie der Aufklärung – Cassirer nennt Semler und Michaelis – überraschenderweise in keinem unmittelbaren »Zusammenhang« stehe. 80 Spinozas »wesentlich weitergehende Folgerung« seiner Bibelkritik erblicke man erst, wenn man erkennt, daß er nicht bloß den »Inhalt«, sondern dezidiert den »Begriff« der »Überlieferung«81 angreife. Cassirer nimmt an dieser Stelle eine kaum merkliche Distanzierung vor. Zwar führt er im weiteren ein Referat der Argumente Spinozas gegen die Propheten an, doch er selbst versucht der Kritik noch eine Ausrichtung zu geben, die Cohen zumindest hätte verstehen können, und die von Strauss auf jeden Fall begrüßt worden wäre. Es sei Spinoza um das Primat der »›intellektuellen Liebe zu Gott‹« 82 gegangen, die sich weder im Glauben des Einzelnen, noch in deduktiv oder induktiv hergestellten Vernunftschlüssen zeigen kann. Vielmehr handle es sich hier um ein »schlechthin-Allgemeines«, daß der »Allgemeinheit der Vernunft entstammt und sich an ihr ständig von neuem entzündet.« 83 Cassirer tritt in diesem und dem Kapitel über »Spinozas Verhältnis zur Mystik. – Die ›intellektuelle Liebe Gottes‹« aus dem Problemkreis, den das Gegensatzpaar Cohen/Strauss bestimmte, heraus. In der Konsequenz der Darstellung liegt eindeutig, daß er dieses umstrittene Feld nicht ignorieren kann. Die »rationalistische« Interpretation der Bibelkritik ist dabei nur scheinbar direkt gegen Cohen, und ebenso bloß prima facie pro Strauss geschrieben. Cassirer kann deshalb die Vernünftigkeit der »intellektuellen Liebe zu Gott« so sehr in das Zentrum seiner

79 80 81 82 83

Siehe a. a. O., 195. A. a. O., 196. A. a. O., 197. A. a. O., 198. Ebd.

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Überlegungen stellen, weil für ihn die Tatsache der Vernünftigkeit emanzipatorischen, ethisch-freiheitlichen Charakter hat. Wenn also Spinoza die Kritik an der Tradition der jüdischen Religion auf der »reinen Allgemeinheit der Vernunft« aufbaut, dann ist dies zunächst ein Akt der Befreiung von der philosophisch überhöhten Theologie der Überlieferung. Spinozas Vernunftbegriff wird dazu eine Kantische Deutung untergeschoben. 84 Cassirers Darstellung der »intellektuellen Liebe zu Gott« beginnt mit der Anknüpfung an die Reflexionen Spinozas zum Verhältnis von Gott und Mensch, das die notwendige Ergänzung für die Beziehung Gott/Welt bedeutete. So entspringe die »Einheit zwischen Gott und Mensch« – die bekanntlich vor dem Anthropomorphismus geschützt sei – »aus der reinen Einsicht« in diese Beziehung. Ein intellektueller, vernunftgesteuerter Vorgang, der die Bedingungen der Möglichkeit der »Einheit«, nicht der Identität, enthält. Cassirer zitiert im Folgenden eine umfassende Passage aus dem dritten Teil (14. Buch) von Goethes autobiographischer Schrift Dichtung und Wahrheit, wo sich der Dichter versichert, daß Gott keiner »Gegenliebe« bedarf. Allerdings, so wendet Cassirer gegen Goethe ein, sei in den Reflexionen Spinozas über die Liebe zu Gott »kein ethisches, sondern ein intellektuelles Postulat«85 vorhanden. Hier sei nun der Bruch mit den »Dogmen der positiven Religionen« endgültig vollzogen, denn die Fixierung Spinozas auf die vernunftgegebene »Einheit« von Mensch und Gott lasse sich im Bezug auf die »intellektuelle zu Gott« nicht anders fassen, als daß die Liebe zu Gott »nicht« verlangen darf, »daß er ihn wiederliebe: denn dieses Verlangen würde nichts anderes bedeuten, als daß er seinem reinen Wesen entsagt, daß er in den Kreis des Endlichen eingeht und sich in ihm vernichtet.« 86 Von hier aus führt, so erklärt Cassirer zu Recht, kein Weg zu Judentum oder Christentum. Weder gibt es an dieser Stelle eine Verbindung etwa mit der negativen Affektenlehre des Maimonides, noch mit der klassischen Erlösungstheologie. Die von Spinoza eingeforderte »Einheit« hat als Konsequenz einzig aber radikal die Anerkenntnis, daß die »Wahrheit und Wesenheit der Religion eben in der Erlösung vom Ich, von der bloßen Individualität liegt.« 87 Dieses Skandalon ist für Cassirer eher Grund zu einer Fürsprache. Der »kritische Idealismus« in der Person Cassirers übersetzt die Unerhörtheit Spinozas in einen Akt von »Freiheit«, weil in ihm alle Last, alle Rechtfertigung, alle theologische Teleologie als Diktat des Einzelschicksals aufgehoben ist.

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A. a. O., 200 f. A. a. O., 200. Ebd. A. a. O., 201.

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Cassirer leistet sich dann eine Ungeheuerlichkeit ganz eigener Art, wenn er postuliert, daß Spinozas neue Doktrin eine Überlassung an das Abstrakte bedeutet, und eben keiner »Emanzipation des Selbst« das Wort rede. Das Freiheitskonzept gehe erst dann auf, wenn auf die aufklärerische Pose des selbstbestimmten Subjekts verzichtet werde. Was eben noch möglich schien, nämlich Spinoza mittels Kantischem Überbau in die Geschichte der Aufklärung einzubauen, versagt sich Cassirer an entscheidender Stelle. Dafür gewinnt er mit Spinoza etwas anderes, und zwar die Ermöglichung vernünftiger Theologie durch die »Hingabe an die Eine universelle und unverbrüchliche Ordnung des Ganzen.« 88 Erst hier offeriert Cassirer Spinozas eigentümlichste Revolution, der der Interpretation früh schon den Titel »Radikalismus« verlieh. Doch Cassirer entzieht Spinoza noch ein zweites Mal die Gefolgschaft, denn er taugt nicht nur als Vorläufer der Aufklärung nichts, er habe »in der systematischen Philosophie« auch keineswegs die Fortbildner gefunden, wie in der »Geistesgeschichte«. Eine Trennung, die man bei Cassirer nicht erwarten würde. Und gleichwohl ist die hier getroffene Unterscheidung sehr wichtig. Die systematische Philosophie bewegte sich für Cassirer in das Feld der Aufklärung. Dort ist für ihn alles vom Gestus und dem Primat der »kopernikanischen Drehung« (Cassirer) durchherrscht, ja, in der Aufklärung beginnt, nach dem Schlummer, der seit der italienischen Renaissance herrschte, die Möglichkeit, Freiheit vom emanzipierten Subjekt her zu denken. Die »Geistesgeschichte« hingegen, Cassirer führt den »Romantiker« Schleiermacher mit seinen »Reden über die Religion« an, macht aus dem »Logiker Spinoza« einen Autor, der das »Ich in der Empfindung« schwelgen lasse, und der trunken wird durch die »Anschauung des Grenzenlosen«. All das habe nichts mehr mit dem »Radikalismus«, der unerhörten Attacke gegen die anthropomorphe Theologie gemein. Die Konsequenz, die Cassirer aus dem Desinteresse der systematischen Philosophie an Spinozas Bruch mit den theologischen Axiomen auf der einen Seite, und der romantischen Vereinnahmung Spinozas auf der anderen Seite, zieht, ist einmalig in seinem Werk: er isoliert ihn völlig. »Spinozas Gotteslehre bildet daher – allen Versuchen der Angleichung und Amalgamierung zum Trotz – eine seltene, ja vielleicht einzigartige Ausprägung des religiösen Bewußtseins; aber gerade in dieser Einzigartigkeit muß man sie zu verstehen und ihr historisch gerecht zu werden suchen.«89 Was also hat Cassirer in seinem 1932 erschienenen Aufsatz über »Spinozas Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte« genau gesagt? Handelt es sich dabei um eine Teilnahme an dem zwischen Hermann Cohen und Leo

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Ebd. A. a. O., 202.

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Strauss zu vermessenden Streit, den die jüdische Spinozainterpretation etwa seit Beginn des 20. Jahrhundert als Auseinandersetzung um die moderne jüdische Identität bzw. die jüdische Identität in der Moderne führte? Die Eigenständigkeit seiner Analyse besteht darin, daß Cassirer ständig auf die Diskussionslandschaft blickt, die strittigen Theoreme Spinozas beim Namen nennt und sie in aller ihrer Konsequenz vorführt, ohne sie unmittelbar danach zu entschärfen, und der dennoch in der Lage ist, Spinoza eine Verortung in der systematischen Philosophie und in der allgemeinen Geistesgeschichte zu geben, die weder auf Cohen noch auf Strauss zuläuft. Cassirers Spinoza ist ein, es muß wiederholt werden, singuläres Ereignis. Dies insofern als der Ausgeschlossene sich lediglich einsamen Denkexperimenten hingab, die nicht anschlußfähig werden konnten und die nicht minder beachtet werden müssen, wenn man zum Verhältnis von Philosophie und Theologie – Stichworte: Anthropomorphismus/Anthropologie – eine systematische Aussage machen möchte. Cassirer gelingt aber darüber hinaus ein selbständiger Beitrag zur Identitätsproblematik. Spinoza rage zwar durch seinen »Radikalismus« und durch seine vielgestaltige, nicht unproblematische Rezeptionsgeschichte in das Heute, doch nicht so, daß die 300 Jahre zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert mit methodischem und methodologischem Raffinement überwindbar wären. Die im letzten Satz erteilte Absage Cassirers an die Kontextualisierung und Modernisierung von Spinozas Religionsphilosophie gibt einen Hinweis darauf, daß eine Beschäftigung mit Spinozas Denken lediglich zu dessen Historisierung führen kann. Den Spinoza Cassirers kann man, anders als jener von Leo Strauss, für Identitätsfindungen nicht in Anspruch nehmen.

Literaturverzeichnis Norbert Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, Darmstadt 1971 – »Spinozas »Tractatus theologico-politicus« und »Tractatus politicus« in der philosophischen Forschung der letzten 50 Jahre«, in: Spinoza Opera 5: Supplementum, Heidelberg 1987 Harry Austryn Wolfson: The Philosophy of Spinoza: Unfolding the Latent Process of His Reasoning. 2 vols., Cambridge (Mass.) 1934 Leo Bäck: Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland, Berlin 1895 Leo Baeck Institute New York, David Baumgardt Papers, MF 553, File Dr. Walter Elden Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation, Cambridge 2006 David Baumgardt: »Spinozas Bild im deutschen und jüdischen Denken«, in: Der Morgen VIII, 1932

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Gerhard Krüger: »Rez. Leo Strauß [Dr. phil., Berlin], Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft«, in: Deutsche Literaturzeitung, LII, 1931, Nr. 51vom 20. 12. 1931 Ze’ev Levy: Baruch Spinoza. Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland, Stuttgart 2001 Olivier Bloch (Hg.): Spinoza au XXe siècle, Paris 1993 Albert Lewkowitz: »Neuerscheinungen zur Geschichte der Philosophie der Neuzeit«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 74, 1930 Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2007 – »Politik für Eingeweihte. Neues über Leo Strauss (Ein Literaturbericht)« in: FAZ vom 10. Januar 2007 Heinz Pflaum: »Rationalismus und Mystik in der Philosophie Spinozas«, in: DVjs 4, 1926 Wolfgang Röd: Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002 Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bände, Freiburg/München 1965 u. 1966 Carsten Schapkow: »Die Freiheit zu philosophieren«. Jüdische Identität in der Moderne im Spiegel der Rezeption Baruch de Spinozas in der deutschsprachigen Literatur, Bielefeld 2001 Eugene Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile. The Making of Political Philosopher, Waltham (Mass.) 2006 Ernst Simon: »Zu Hermann Cohens Spinoza-Auffassung«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 79, 1935 Steven B. Smith: Reading Leo Strauss: Philosophy, Politics, Judaism, Chicago 2006 – Spinoza’s book of life: freedom and redemption in the ethics, New Haven u. a. 2003 Leo Strauss: »Zur Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer«, in: Korrespondenzblatt des Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums 7, 1926 – »A Giving of Accounts«, in: The College 22, Annapolis 1970 – Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, dritte erw. Auflage 2008, Stuttgart/Weimar 1996 ff. – Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Bd. 2: Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften, 1997, Stuttgart/Weimar 1996 ff. – Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Bd. 3: Hobbes politische Wissenschaften und zugehörige Schriften – Briefe (Klein, Krüger, Löwith, Scholem), zweite erw. Auflage 2008, Stuttgart/Weimar 1996 ff. – The Early Writings (1921–1932), trans. and ed. by Michael Zank, Albany 2002 Daniel Tanguay: Leo Strauss. Une biographie intellectuelle, Paris 2005 Manfred Walther: »Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie«, in: Werner Stegmaier (Hg.): Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000 Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933 Matthias Wolfes: »Freudenthal, Jakob«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVIII, Herzberg 2001

Reinhard Mehring

Antwort mit Goethe Ernst Cassirer und Thomas Mann in ihrer Zeit

I) Cassirer als Repräsentant des liberalen Judentums Stellt man Ernst Cassirer in den Kontext der Weimarer Zeit, so kommt häufig die Kontroverse mit Martin Heidegger in Davos zur Sprache. »Davos« ist ein hermetischer Spiegel Weimars. In der Intellektualgeschichte der Zwischenkriegszeit1 ist es nicht nur mit den Hochschulwochen2 und der dortigen Kontroverse zwischen Cassirer und Heidegger eng verbunden, sondern auch mit Thomas Manns Zauberberg. Durch diesen Roman wurde Davos zum mythischen Spiegel der europäischen Problematik nach 1900: der »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs und der »Zwischenkriegszeit« nach 1918. Manns Verdichtung der Problematik im Romangeschehen wirkte sogleich stark. Auch Heidegger las sie. Hannah Arendt lieh ihm ihr Exemplar 1925 bald nach Beginn ihres Liebesverhältnisses; Heidegger spiegelte seine Rolle dann in zwei langen Briefen über den Roman.3

Siehe die Übersicht bei Frank-Lothar Kroll: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003. 2 Bei den ersten Davoser Hochschulwochen vom Frühjahr 1928 trug übrigens Carl Schmitt über »moderne Verfassungslehre« vor. 3 Heideggers Bemerkungen in den Briefen vom 9. und 17. Juli sowie vom 23. August 1925 an Arendt (Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hg. von Ursula Ludz, Frankfurt/M. 1998) sind ein Reflex der Beziehung. Seit einiger Zeit plagt ihn, den »das Dämonische« getroffen hat (27.2.1925), eine »rätselhafte Erkältung« (20.5.). Da ihn die »Infektion« (9.7.) im Juli noch quält, liest er den Roman, dem »ärztlichen« Sinn des Romans getreu, zur Erholung von der Krankheit. Gegenüber Arendt hebt er vor allem zwei Aspekte hervor. Zunächst bemerkt er das experimentalpädagogische Motiv der Prägung einer Lebensform durch die Lebenswelt: »Aber daß das Phänomen wie das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt, das ist mit einer Meisterschaft angesetzt, daß ich vorläufig einzig darauf konzentriert bleibe.« (9.7.) Dann liest er den Roman – gegenüber Arendt – vor allem als Liebesroman. Nach Abschluß der Lektüre meint er (23.8.): »Den Zauberberg habe ich zu Ende gelesen. Eigentlich ist mir der Anfang des II. Bandes etwas schwach und unsicher – der Schluß entsprechend aufgemacht. Solche Szenen wie das nächtliche Gelage, das Peeperkorn veranstaltet, vermag nicht jeder zu gestalten. Diese Figur hat wirklich ›Rasse‹, und die Geschichte der Madame Chauchat ist glänzend geführt – weil es ein Ende ohne Ende ist, und so denke ich mir, daß Hans Castorp, wenn er später im Felde im nassen Graben mit seinem Gewehr lag, an sie ›denken‹ mußte, und daß irgendwo – sie an ihn ›dachte‹, und daß sie das heute noch tun. Was so unausgesprochen im Ganzen steht, ist wirklich das Positivste. Das Kriterium für das Werk liegt für mich darin, daß ich es bald wieder lesen werde – wenn auch nur in einzelnen Partien. Und diese muß man studieren. Die ›Zeit‹ 1

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

So war ihm »Davos« schon vor der Tagung ein Ort intellektueller Begegnung. Freilich stellt er sogleich die »Skihochtouren« heraus: »Ich werde zusagen, schon allein der Skihochtouren wegen«, schreibt er Karl Jaspers am 21. Dezember 1928 über seine Einladung nach Davos.4 Im März 1929 berichtet er dann seiner Frau Elfride5 ausführlicher von den Vorlesungen und der Disputation. »Davos selbst ist furchtbar«, schreibt er. »Skitechnisch« sei es nicht sehr anspruchsvoll. Und Cassirer sei erkrankt. Die »›Arbeitsgemeinschaft‹« müsse verschoben werden. Immerhin: »Ich bin – wenngleich im Wesentlichen für mich nichts zu lernen ist, doch sehr froh, daß ich dgl. Mal mitmache«. Am 26. März kann Heidegger vermelden: »Eben habe ich eine zweistündige öffentliche Auseinandersetzung mit Cassirer hinter mir, die sehr schön verlief u. auf die Studenten vom inhaltlichen abgesehen – einen großen Eindruck machte«. 6 Elisabeth Blochmann gegenüber äußert er sich dann ausführlich. Sein Brief vom 12. April 1929 macht erneut deutlich, wie sehr er sich damals als philosophischer Sprecher des jugendbewegten Angriffs auf das akademische Establishment versteht, wie sehr er auch den 15 Jahre älteren Cassirer als einen Repräsentanten des akademischen Mandarinentums ansieht. »Cassirer war in der Diskussion äußerst vornehm u. fast zu verbindlich«, schreibt Heidegger. »So fand ich zu wenig Widerstand, was verhinderte, den Problemen die nötige Schärfe der Formulierung zu geben. Im Grunde waren die Fragen für eine öffentliche Erörterung viel zu schwierig. Wesentlich blieb nur, daß die Form u. Führung der Diskussion durch das bloße Beispiel wirken konnte. Meine Hoffnung auf die neuen Kräfte der ganz Jungen ist sicherer geworden.« Und er schließt: »Diese unmittelbare Einheit von sach[lich] forschender Arbeit u. völlig gelockertem u. freudigem Skilauf war für die meisten der Dozenten u. Hörer etwas Unerhörtes.«7

wird man nicht allzu hoch in Rechnung stellen. Aber vielleicht ist Kritik hier überhaupt sinnlos.« Damit ist einiges auch über die Beziehung zu Arendt gesagt. Heidegger sieht sich damals schon nicht mehr in der Lage des Genesenden, sondern des Soldaten, dem nur die Erinnerung bleibt. Dem Krankenbett entstiegen, entsagt er (als Familienvater) der Liebeskrankheit um des Werkes willen (10.1.1926). Die gegenseitige Versicherung der Liebe bleibt. Und diese Liebe ist für das Werk wichtig. »Zerrissenheit und Verzweiflung vermag nie so etwas zu zeitigen wie Deine dienende Liebe in meiner Arbeit«, schreibt Heidegger schon wenige Wochen nach Beginn des Verhältnisses (24.4.1925). 4 Martin Heidegger/Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963, hg. von Wilhelm Biemel und Hans Saner, Frankfurt/M. 1990, Brief Nr. 80, 118. 5 Martin Heidegger: ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, hg. von Gertrud Heidegger, München 2005, 169 ff. – Zur Kontroverse vgl. Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002. 6 Heidegger: ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 162. 7 Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969, hg. von Joachim Storck, Marbach 1990, 30.

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Es gibt zahlreiche Anekdoten über die legendäre Tagung. Eine hat Jacob Taubes ausgestreut. Sie ist historisch nicht ganz verläßlich, schon weil sie die Tagung auf das Jahr 1931 datiert, was die symbolische Aussagekraft einer guten Anekdote jedoch kaum schmälert. Mit Taubes spricht kein Zeuge, sondern ein Nachhall der damaligen Debatten und Atmosphäre: »Es war ein Fest, das die Studenten bestritten, und Herr Emmanuel Lévinas, der sehr dickes, schwarzes Haar hatte, was man aber weiß pudern konnte, trat auf als Cassirer. Sein Deutsch war ja ziemlich schwach, und er ging über die Bühne und sagte nur zwei Worte, immer wiederholend: ›Humboldt-Kultur‹. Und ein Gejohle ging los, das schon göringsche Züge hatte (›wenn ich ›Kultur‹ höre, entsichere ich meinen Revolver‹).8 Das war Emmanuel Lévinas. Das ist die Atmosphäre von ›31‹ so hat das ausgesehen.«9 Es ist keine schöne Anekdote. Lévinas zieht hier Cassirers Verhältnis zum Neuhumanismus auf die Ebene der Schulmeisterei herab und begegnet ihm auf dem Niveau eines Pennälerstreiches. Die Anekdote macht aber deutlich, wie selbstverständlich Cassirers Philosophie und Habitus damals schon mit einer Epoche und Bildungswelt verbunden wurde, die nach 1918 vergangen schien.10 Lévinas inszenierte einen Aufstand der Jugend gegen einen akademischen »Mandarin« und orientierte sich dabei an Heidegger, der sich damals noch als philosophischer Stoßtruppführer gerierte und den »Bonzen« des wilhelminischen Betriebs die »Hölle heiß« machen wollte. Vielleicht klingt außer dem jugendbewegten und antibürgerlichen Aufstand noch etwas anderes an: Distanz zum liberalen, assimilierten Judentum. Ulrich Sieg11 hat eingehend gezeigt, wie sehr der Erste Weltkrieg dem deutschen intellektuellen Judentum ein Ende seiner Assimilierungshoffnungen markierte. 1914 war es begeistert in den Krieg gezogen. Aus der Fülle der Zeugnisse sei dafür aus Briefen Friedrich Gundolfs an Stefan George zitiert. Gundolf schreibt am 14. August 1914: »Ich erwarte jetzt stündlich meine Einziehung in den Landsturm, und freue mich endlich am rechten Platz in diesen Tagen zu stehen. […] Meine sämtlichen Heidelberger Freunde sind oder kommen vor den Feind und ich beneide sie darum. Mehr als je fühl ich, daß Deutschland das ›heilig Herz der Völker‹ und wie-

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Das Zitat stammt korrekt aus dem nationalsozialistischen Heldendrama von Hanns Johst: »Wenn ich Kultur höre […] entsichere ich meinen Browning.« (Hanns Johst: Schlageter. Schauspiel, München 1933, 26 (I. Akt, 1. Szene). 9 Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1993, 141; eingehender Karlfried Gründer: »Cassirer und Heidegger in Davos 1929«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Hozhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 290–302; zu Cassirer in Davos vgl. Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2006, 165 ff., 180 ff. 10 Zur Pointierung der Klassizität trotz wirkungsgeschichtlichem Abstand vgl. Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel, Frankfurt/M. 1999. 11 Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001.

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der schöner als man je hoffen durfte, wenigstens jetzt, ein Volk ist«.12 »Ich lebe und webe in der Grösse der deutschen Taten, die ihresgleichen nicht in der Welt haben und ein neues Weltalter heraufführen müssen«, heißt es bald darauf am 30. August. »Aber was auch FOLGEN mag (selbst wenn‹s Barbarei wäre), schon dieser Augustmonat selbst ist eine Erfüllung«13 . Als George zur Besonnenheit mahnt, verteidigt Gundolf seinen »Enthusiasmus«14 und formuliert als geistesgeschichtliches Programm: »Meister, mir kam dieser Nacht ein Gedanke, den du nachprüfen magst: alle echt profetischen DEUTSCHEN seit hundert Jahren Goethe, Hölderlin, Nietzsche, George verkünden, einerlei wie sie zu Zeit und Volk stehen, Welterneuerung, Weltverjüngung, trotz aller Klagen und Flüche. Die paar seherischen FRANZOSEN, Baudelaire vor allem, auch Flaubert, verkündigen mit gleicher Inbrunst Weltuntergang und Weltzersetzung. Liegt da nicht ein Wahrzeichen für den Ausgang dieses Krieges?«15 Mit den Todesnachrichten folgt bald die Ernüchterung. Im Herbst 1915 registriert Gundolf »eine gewisse Beklemmung«16 und arbeitet still an seinem Goethe-Buch.17 Begeistert zog das deutsche Judentum für Kaiser und Reich in den Krieg und versprach sich davon auch einen Abschluß seiner über 100–jährigen Assimilierungsanstrengungen: die endliche, volle Anerkennung als deutsche Patrioten und Teil der Nation. Doch selbst im Feld noch wurde es ungleich behandelt und antisemitisch diskriminiert. Sieg schildert das bis in die Praxis der Militärgeistlichkeit und die Feldpostkarten hinein. Auf Feldpostkarten schrieb Franz Rosenzweig damals seine Antwort: den Stern der Erlösung.18 Im Weltkrieg erfolgte ein Stimmungswandel: eine Abkehr vom liberalen Judentum und eine Übernahme der Deutungsmacht durch postassimilatorische Autoren wie Martin Buber und Franz Rosenzweig, Gershom Scholem19 und andere. Auch die Vertreter des liberalen Juden-

Stefan George/Friedrich Gundolf: Briefwechsel, hg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, Düsseldorf 1962, 256. – Heidegger zitierte Hölderlins Wort vom »heilig Herz der Völker« ebenfalls gern. 13 A. a. O., 258; zu Georges indifferenter bis ablehnender Haltung gegenüber dem Krieg vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München 2007, 463 ff. 14 George/Gundolf: Briefwechsel, 265. 15 A. a. O., 271; Brief vom 15. Oktober 1914. 16 A. a. O., 279; Brief vom Anfang Oktober 1915. 17 Friedrich Gundolf: Goethe, Berlin 1916; zu Gundolfs Werk vgl. Ernst Osterkamp: »Friedrich Gundolf (1880–1931)«, in: Christoph König/Hans-Harald Müller/Werner Röcke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Portraits, Berlin 2000, 162–175; vgl. auch Gert Mattenklott: »Cassirers Goethe-Lektüre im Kontext der deutsch-jüdischen Goethe-Rezeption«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002, 59–73. 18 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988. 19 Dazu Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt/M. 1982. 12

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tums und Befürworter der Assimilierung revidierten ihre Anschauungen. Hermann Cohen schrieb sein Spätwerk. Auch Cassirer war kein unkritischer Verfechter der Assimilierung. Niemals legte er sein Judentum ab. 20 Näher betrachtet steht sein Gesamtwerk in philosophischer Distanz zum Christentum, wie schon Ernst Troeltsch21 während des Ersten Weltkriegs in einer kritischen Besprechung von Freiheit und Form herausstrich und wie es besonders im Mythus des Staates deutlich ist. Dieses staatsphilosophische Vermächtnis markierte nicht nur einige Etappen der Abkehr vom Platonischen Gerechtigkeitsstaat, sondern sah den christlichen Mythos vom unmittelbaren Verhältnis des Menschen zu Gott, von der Freiheit des Christenmenschen im religiösen Glauben, dabei auch als die entscheidende Einbruchstelle in der Geschichte der Irrationalisierung des Staatsdenkens an. 22 Cassirer stand in philosophischer Opposition zum Christentum. Seine Gegner sahen deshalb auch einen jüdischen Intellektuellen in ihm. Nimmt man Hannah Arendts problematische Unterscheidung zweier Alternativen innerhalb des Judentums auf, die Unterscheidung zwischen »Paria« und »Parvenu«23 , so gehörte Cassirer

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Cassirer äußerte sich wiederholt über seinen Lehrer Cohen. Seine Texte über Cohen gehören zu den wichtigsten Stellungnahmen auch zum eigenen Verhältnis zum Judentum, wenn Cassirer sich auch nicht so deutlich wie Cohen zum ethischen Monotheismus bekannte und wohl auch in schärferer Distanz zur jüdischen Orthodoxie stand. 1912 publizierte er einen ersten Aufsatz über »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (im folgenden ECW), Bd. 9, Hamburg 2001, 119–138. Nach Cohens Tod sprach er dann »Worte« an seinem Grabe (a. a. O., 487–493) und publizierte einen kurzen Zeitungsartikel »Zur Lehre Hermann Cohens« (a. a. O., 494–497). 1920 hielt er über »Hermann Cohen« einen Vortrag in der Akademie für die Wissenschaft des Judentums (a. a. O., 498–509). 1924 betonte er die Schlüsselbedeutung Cohens für den Neukantianismus (ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 645–649). 1926 erinnerte er an den gerade verstorbenen Natorp im Zusammenhang von Hermann Cohens geistigem Erbe (ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), in: ECW 16, 480– 486). 1928 publizierte er seine Gedenkworte auch als Einleitung zu den von Cassirer und Albert Görland herausgegebenen Schriften Cohens zur Philosophie und Zeitgeschichte (ders.: »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: ECW 9, 487–509). 1933 veröffentlichte er seinen vielleicht wichtigsten kurzen Rückblick auf »Hermann Cohens Philosophie der Religion und ihr Verhältnis zum Judentum« (1933), in: ECW 18, 255–264. Die damalige Publikation im Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde zu Berlin war 1933 auch ein Bekenntnis zum eigenen Judentum und dessen philosophischer Auffassung. 1943 erinnerte Cassirer das amerikanische Publikum an Cohen (ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 161–173). 21 Ernst Troeltsch: »Rezension von Cassirer. Freiheit und Form«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Tübingen 1925, 696–698. 22 Dazu vgl. Reinhard Mehring: »Pathos der Zusammenschau. Annäherungen an Cassirers Philosophiebegriff«, in: Enno Rudolph (Hg.): Cassirers Weg zur Politik, Hamburg 1999, 63–78; bezeichnend ist hier, daß Cassirer den Zusammenhang mit der Geschichte des Antijudaismus nur in einer gesonderten Publikation angesprochen hat: Ernst Cassirer: »Judaism and the Modern Political Myths« (1944), in: ECW 24, 197–208. 23 Dazu vgl. Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/M. 1976.

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nicht zu den Parvenus. Er war kein Mandarin der wilhelminischen Gelehrtenkultur und kein ungebrochener Anhänger des liberalen Judentums der Welt vor 1914. Allerdings hielt er sich in tagespolitischen Fragen bedeckt. Den postassimilatorischen Intellektuellen nach 1918 kam es aber auf die Nuancen bald nicht mehr an. Sie sahen in Cassirer den Schüler Cohens und Vertreter des liberalen Judentums, das die »Kultursynthese« zwischen Deutschtum und Judentum bei Kant und Goethe aufsuchte und eine ethisch-universalistische Interpretation des prophetischen und messianischen Monotheismus forcierte. Das Bild vom unpolitischen Cassirer, der nur in den Höhen der Philosophiegeschichte und Goethezeit lebte, ist eine Legende. Schon Wilhelm Diltheys Geistesgeschichtsschreibung war eminent politisch. Dilthey vertiefte die nationalgeschichtliche Betrachtungsweise seines borussischen Freundes Treitschke und schrieb von seinen ersten Anfängen bei den Preussischen Jahrbüchern bis hin zu seinem unvollendeten Projekt einer Geschichte des deutschen Geistes Nationalgeschichte als politische Geistesgeschichte. 24 Cassirer popularisierte seine Geistesgeschichtsschreibung auch in politischer Absicht. Greifbar ist das schon in seiner ersten Darstellung der deutschen Geistesgeschichte: in der Studie Freiheit und Form von 191625 , die das »deutsche Volk« mitten im Krieg an seine »weltgeschichtliche Bestimmung« erinnern wollte und diese im weltbürgerlichen Neuhumanismus der Goethezeit26 fand. Schon diese Darstellung endete mit dem Zusammenhang von »Freiheitsidee und Staatsidee«. Cassirer geriet damals über den Nationsbegriff in eine Kontroverse mit dem radikalen Nationalisten Bruno Bauch. Seitdem war er als politischer Autor in die Debatten involviert. Er zeigte in Hamburg republikanische Flagge und hielt auch im Rahmen universitärer Ämter programmatische Reden. 27 Cassirer argumentierte geistesgeschichtlich gegen nationalistische Vereinnahmungen. Immer wieder stellte er das liberale und weltbürgerliche Profil der »klassischen« deutschen Nationalkultur und Traditionen heraus.

Dazu vgl. nur Band XII der Gesammelten Schriften Diltheys sowie die posthum erschienene Edition von Wilhelm Dilthey, Von deutscher Dichtung und Musik (Leipzig 1933). 25 Dazu vgl. nur Cassirers Vorwort zur ersten Auflage von: Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916, 1918, 1922), in: ECW 7, 388–394. Das Vorwort ist heute im Anhang abgedruckt. Ab der dritten Auflage 1922 entfiel das Vorwort, vielleicht wegen seiner Zeitgebundenheit. 26 Dazu war damals wegweisend Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats, München 1907. 27 Einschlägig sind hier u. a. folgende kleinere Publikationen: Ernst Cassirer: »Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928« (1928), in: ECW 17, 291–307; ders.: »Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte« (1931), in: ECW 17, 207–219; ders.: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18, 203–227; ders.: Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 313 ff. 24

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Er wollte zeigen, »daß die Idee der republikanischen Verfassung keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, daß sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist.«28 Dafür bezog er sich auch auf die völkerrechtlichen Traditionen des »profanen« Naturrechts der frühen Neuzeit29 und ergriff in den – von Georg Jellinek angestoßenen – Debatten um die philosophischen oder christlichen Wurzeln der Menschenrechtserklärungen, des modernen »Naturrechts« und der »Grundrechte« vehement für die Stoa und die »Autonomie« der menschlichen »Vernunft« Partei. Die Stellung der Grundrechte im Weimarer Staatsrecht war damals noch heftig umstritten. Die Grundrechte waren dem Staatsorganisationsrecht nicht vorgelagert, sondern nachgestellt.30 Der Vorrang des Menschen vor dem Staat und der naturrechtliche Ansatz bei der »Autonomie« und »Würde« des Menschen waren juristisch nicht etabliert. Die Philosophie konnte hier zu den staats- und völkerrechtlichen Debatten beitragen. Cassirer sprach von einer Wiederentdeckung des Naturrechts gegenüber dem Rechtspositivismus31 und vertrat die »Autonomie« der Vernunft. Auch deshalb bezog er sich argumentationsstrategisch auf die neuzeitliche Tradition des Natur- und Vernunftrechts: auf Hugo Grotius, Leibniz, Kant, Fichte und andere. Dabei verschärfte er zunehmend seine Kritik an Hegels »Machtstaatsgedanken«32 . Der Rückgang auf Platon, den er im Mythus des Staates dann vornahm, wäre in den Weimarer Debatten weniger geeignet gewesen, der nationalistischen Auslegung ihre Berufung auf deutsche Traditionen zu bestreiten.

Cassirer: Die Idee der republikanischen Verfassung, ECW 17, 307. Dazu vgl. Erik Wolf: Grotius, Pufendorf, Thomasius, Heidelberg 1927; dazu vgl. Hans Welzel: Naturrecht und menschliche Würde, Göttingen 1951. 30 Siehe den knappen Überblick bei Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, München 1999, 109–114; selbst bei Rudolf Smend dienten sie primär der »Stärkung der Staatsgewalt«: so jüngst Horst Dreier: »Integration durch Verfassung. Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie«, in: Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, 70–96, hier: 87. 31 Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts«, ECW 18, 221 ff. 32 Dazu vgl. Hermann Heller: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Stuttgart 1921. 28 29

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II) Ernst Cassirer und Thomas Mann Ähnlich wie Cassirer sondierte Thomas Mann33 damals die deutsche Geistesgeschichte in der politischen Absicht, den Nationalismus im »Rückschlag gegen den Rückschlag«34 zu bekämpfen und an die »klassischen« Traditionen des Weimarer Neuhumanismus zu erinnern. Nach dem Zauberberg begann er die Arbeit an seinem Joseph-Roman. Seine aufklärerischen Motive formulierte er beispielsweise 1929 in seiner Rede über Lessing. Cassirers 1930 in der Neuen Rundschau erschienene Abhandlung über ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart las er aufmerksam. Für die religionsphilosophische Anlage seines Romans berief er sich aber mehr auf Max Scheler. Die Humanitätsvision des Romans formulierte er im »Jakobssegen« als »stille Hoffnung Gottes« auf ein »Eingehen des Geistes in die Welt der Seele«, auf die »Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe«.35 Manns Humanitätsvision war vom Weimarer Neuhumanismus intensiv durchdrungen, nicht zuletzt von Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung; philosophisch reflektierte sie originär auf die postnietzscheanische Revision des Verhältnisses von ›Geist‹ und ›Leben‹, die in Cassirer einen ihrer bedeutendsten Vertreter hatte. Auch wenn Mann keinen »Judenroman« schreiben wollte, richtete er sich doch von Anfang an gegen den nationalistischen und antisemitischen Zug der Zeit. Als der erste Band Ende 1933 dann erschien, war der Roman eine deutliche Stellungnahme für eine liberale, universalistische Rezeption des »ethischen Monotheismus« (Max Weber). Näher betrachtet war er eine große religionsphilosophische und politisch-theologische Vision von der Einheit der Menschheit, die Mann auch in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur deutlich formulierte.36 Die Joseph-Romane sind ein bedeutendes Stück Kultur- und Religionswissenschaft. Jan Assmann liest sie heute »als eine Art ›Sachbuch‹« und nennt Mann den »bedeutendsten Pionier und Vorläufer« einer »allgemeinen Kulturwissenschaft«.37 Bei ihm findet er eine humane Vermittlung von »Mythos und Monotheismus«, »jenes Dritte neben wahr und falsch, das

Für die hier vertretenen Ausführungen eingehender Reinhard Mehring: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; ders.: Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003. 34 Thomas Mann: »Rede über Lessing« (1929), in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IX, Frankfurt/M. 1974, 244f; zur programmatischen These Manns, daß die lebensphilosophische Kritik am Neuhumanismus schon von diesem vorweggenommen und beantwortet sei, vgl. Mehring: Das »Problem der Humanität«, 75 ff. 35 Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IV, 48 f. 36 Für die Nachweise im Einzelnen Mehring: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, 126 ff. 37 So die starke These von Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006, 23 ff. 33

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Thomas Mann mit dem Begriff der Verschonung verbindet«: 38 die heute vertretbare Antwort auf die abgelebten Alternativen von altägyptischem Kosmotheismus und der harten »mosaischen« und monotheistischen Unterscheidung zwischen »wahren« und »falschen« Religionen, die oft nur als Politische Theologie der Gewalt realisiert wurden.39 Assmann sucht heute die Antwort bei Thomas Mann. Und es ließe sich fragen, ob nicht auch Cassirer, anders als Hermann Cohen, einige Härten des ethischen Monotheismus durch seine sehr platonische Philosophie der symbolischen Formen zu lösen suchte. Auch im Verhältnis zum Monotheismus scheinen mir Mann und Cassirer nicht gänzlich unverwandt. Das Lessing-Bild mag ein Vergleichsposten sein. Beide sahen jedenfalls religionsphilosophische Konsequenzen ihres neuhumanistischen Projekts. Beide gehörten zu den bedeutendsten Vertretern eines postnietzscheanischen und liberalen Neuhumanismus. Thomas Mann suchte Cassirer allerdings nicht als Verbündeten. Er sah sich als »Künstlerphilosoph« den Universitätsphilosophen seiner Zeit überlegen. Cassirer aber wußte wohl, wer Thomas Mann war und was er seiner Zeit philosophisch zu geben hatte. »Cassirer besaß die Joseph-Romane alle und hat sie auch gewiß gelesen«, schrieb mir John Krois.40 Die ersten drei Bände erschienen zwischen 1933 und 1936. Der vierte und letzte Band folgte erst 1943. Dazwischen lag Lotte in Weimar. Vom November 1936 bis Oktober 1939 schrieb Mann an dem Roman. Im Mai 1938 erreichte ihn die Einladung41, für ein Jahr als Gastdozent und Universitätsmitglied nach Princeton zu gehen. Er mußte nur vier Vorträge halten. Ab dem 15. August schrieb er in der Schweiz, auf der Überfahrt in die USA und in New York und Princeton an einem Vortrag Über Goethe’s ›Faust‹, den er am 4. Oktober beendete und am 26. April 1939 in Princeton erstmals vortrug. Nach Abschluß von Lotte in Weimar schrieb er umgehend einen Vortrag über Goethe’s Werther42 , den er am 14. November in Princeton hielt. Damals las er auch »Cassirer über Goethe«.43 So gab es eine kleine Parallelaktion: Cassirer regte Manns Vortrag wenigstens etwas an; der Lotte-Roman wurde Cassirer dann zum Thema.

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A. a. O., 216. Von Assmanns zahlreichen Schriften zur Problematik besonders Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000; ders.: Die mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003; ders.: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005; ders.: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006. 40 Freundliche briefliche Mitteilung von John Michael Krois vom 3. Januar 2002 an den Verfasser. 41 Thomas Mann: Tagebucheintrag vom 24.05.1938, in: ders.: Tagebücher, 10 Bände, Frankfurt/M. 1977–1995, Bd. IV, S. 228. 42 Mann: Tagebucheinträge vom 28.10.-17.11.1939, in: ders.: Tagebücher, Bd. IV, S. 494 ff.. 43 Mann: Tagebucheinträge vom 30.10.1939, in: ders.: Tagebücher,Bd. IV, S. 495. 39

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

Cassirer schrieb seine Studie über Thomas Manns Goethe-Bild44 direkt nach Erscheinen des Romans im ersten Kriegswinter 1939/40. Wenn man sich fragt, warum Cassirer diese Studie überhaupt schrieb, läßt sich nicht von Manns politischer Haltung vor und nach 1933, seinem Rang als Schriftsteller (Nobelpreis 1929), dem Projekt des Joseph-Romans und den vielfältigen Auseinandersetzungen mit Goethe absehen. Ausdrücklich schreibt Cassirer nur über Thomas Manns Goethe-Bild. Er zielt nicht auf eine umfassende Analyse des Lotte-Romans, sondern auf Manns Verdichtung seiner Auseinandersetzung in der literarischen Gestalt Goethes. Man könnte aber sagen, daß diese kleinere Studie geradezu an der Stelle einer größeren Auseinandersetzung mit dem Joseph-Roman steht. Dessen geschichtsphilosophisches Anliegen hat große Nähen zu Cassirers damaliger Arbeit an einer Kultur- und Geschichtsphilosophie, wie sie 1944 mit dem Essay on Man hervortrat. Man könnte zeigen, daß es gewichtige Nähen zwischen Manns Philosophie und Cassirer gibt. Der Joseph-Roman entwirft eine humanistische Geschichtsphilosophie, und darauf beruht seine Aktualität und Nähe zum heutigen Leser. Eine Schülerin und enge Vertraute Cassirers, Käte Hamburger, zeigte dies schon 1945 in einer Monographie.45 Daß Hamburger damals in Schweden in bedrängter Lage an ihrer Einführung in den Roman arbeitete und mit Cassirer Umgang hatte, dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, daß Cassirer nur über den kleineren Lotte-Roman schrieb.46 Er überließ ihr das größere Projekt. Cassirer führte philosophisch aus, was Mann damals auch bedachte: den Beitrag der »symbolischen Form« des Mythos zur »Befreiung« der Menschheit und die Bedeutung Goethes als Chiffre und »Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters« (Thomas Mann). Sein Descartes-Buch war 1939 bei

44

Ernst Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ›Lotte in Weimar‹« (1945), in: ECW 24, 267–298 45 Zu Käte Hamburgers Deutung vgl. Mehring: Das »Problem der Humanität«, 84– 88; vgl. Käte Hamburger: Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, Stockholm 1945; dies.: Thomas Manns biblisches Werk, München 1981; Thomas Mann/Käte Hamburger: Briefwechsel 1932–1955, hg. von Hubert Brunträger, Frankfurt/M. 1999. 46 In der Lotte-Abhandlung finden sich nur wenige, wenig aussagekräftige Bemerkungen über die Joseph-Dichtung. Cassirer erwähnt nur »Vergleichspunkte«: »Nur die ›Joseph‹Dichtung Thomas Manns bietet bestimmte Vergleichspunkte; aber sie ist schon durch ihren Gegenstand und durch ihre Atmosphäre so weit von dem gegenwärtigen Werk getrennt[…]«, Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild«, ECW 24, 269. – Eine weitere Erwähnung betont die Überwindung des »Naturalismus«: »Er dringt, in der ›Joseph‹Dichtung, in die Welt des Mythos ein, um sie nicht als eine entlegene und versunkene, sondern als eine noch mitten unter uns seiende und für uns nachfühlbare Welt darzustellen.« (A. a. O., 287) – In den Goethe-Vorlesungen erwähnt Cassirer Goethes frühe JosephDichtung und meint: »Auf diesem Weg ist dem Knaben Goethe erst einer der grössten modernen Erzähler, erst Thomas Mann in seiner Josef-Dichtung wieder gefolgt.« (Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 11: Goethe-Vorlesungen (1940–1941), hg. von John Michael Krois, Hamburg 2003, 54.

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Fischer erschienen. Mann las es.47 Er hatte in Princeton Umgang mit Cassirers Tochter Anne und deren Gatten, dem Pianisten Kurt Appelbaum. Das Ehepaar Appelbaum »hausmeisterte«48 bei den Manns. So kam es zu einem brieflichen Kontakt mit Cassirer. Wenige Tage nach Abschluß von Lotte in Weimar notierte Mann, wie gesagt, bei Kriegsausbruch am 30. Oktober 1939 ins Tagebuch: »Gelesen Cassirer über Goethe«. Er besaß49 dessen einschlägige Goethe-Publikationen Freiheit und Form, Idee und Gestalt und Goethe und die geschichtliche Welt. So könnten seine Ausführungen zu Goethes Idee der Metamorphose im Roman direkt von Cassirer angeregt sein. Bald nach Erscheinen von Lotte in Weimar schrieb Cassirer seine Abhandlung, schrieb auch an Mann50 und leitete ihm sein Manuskript im März 1940 über die Appelbaums zu51, worauf Mann aber nur mit mäßiger Begeisterung52 freundlich-unverbindlich53 antwortete. Appelbaums spätere briefliche Bitte um einen Festschriftbeitrag für Cassirer lehnte er schroff ab.54 Er verfaßte keine Festschriftbeiträge und sah sich in keiner Dankesschuld. Wie viele andere exilierte Wissenschaftler suchte Cassirer damals die Nähe des »Großschriftstellers« (Robert Musil) wohl auch in der Hoffnung auf Unterstützung. Daß ihn dabei viele politische und philosophische Wurzeln mit Mann verbanden, war dem »Zauberer« – so nannte ihn die Familie – leider nicht besonders wichtig. Auch andere Philosophen, so Lukács und Adorno, behandelte er mit kühler Distanz. 55 Das ist schade, weil ein engerer Kontakt zu Cassirer weitere Stellungnahmen hätte provozieren und vielleicht auch die Arbeit am Doktor Faustus hätte beeinflussen können. Die »Analyse von Goethes Weltanschauung« bildete für Cassirer 1916 schon den »ideellen Mittelpunkt« von Freiheit und Form. 56 In Goethe fand

47

Mann: Tagebucheinträge vom 31.7.-3.8.1939, in: ders.: Tagebücher, Bd. IV, S. 442–

444. 48

So die Auskunft von Monika Mann, Anmerkung zum Tagebucheintrag vom 20.12.1944, in: Thomas Mann: Tagebücher, 546. 49 Mann: Anmerkungen zum 30.10.1939, in: ders.: Tagebücher, Bd. IV, S. 844. 50 Thomas Mann: Tagebucheinträge vom 20.03.1940, in: ders.: Tagebücher, Bd. V, S. 47. 51 Thomas Mann: Tagebucheinträge vom 28.03.1940, in: ders.: Tagebücher, Bd. V, S. 51. 52 Thomas Mann: Tagebucheinträge vom 30./31.03.1940, in: ders.: Tagebücher, Bd. V, S. 51 f. 53 Manns Briefe vom 25.9.1939 und 10.1.1940 sind abgedruckt und kommentiert bei Rainer A. Bast: »Wirbel der Ereignisse. Unbekannte Briefe Thomas Manns an Ernst Cassirer über Goethe und den Krieg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.11.1996. Es gibt weitere Briefe in Cassirers Nachlaß. 54 Thomas Mann: Tagebucheinträge vom 03. und 27.06.1943, in: ders.: Tagebücher, Bd. V, S. 583 u. 593 55 Dazu eingehend Mehring: Das »Problem der Humanität«, 19 ff., 80 ff., 93 ff. 56 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916, 1918, 1922), in: ECW 7, X.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

er die gelungene Vermittlung von Freiheits- und Formdenken. Ähnlich fand Mann auch in Goethe die schöne »Mitte« zwischen den Extremen der deutschen Geistesgeschichte. 57 Immer wieder äußerte Cassirer sich zu Goethe. Doch selbst im Goethejahr 1932 trat er noch nicht mit der großen Monographie hervor, die wohl auf seinem Weg lag, und die er plante58 , sondern er publizierte im Umkreis der Philosophie der Aufklärung nur das schmale Büchlein Goethe und die geschichtliche Welt, das Goethe über das 18. Jahrhundert in die Antike zurückstellte. Cassirers Rückgang hinter den deutschen Idealismus auf Platon deutete sich hier erneut an. 59 Seit 1933 hielt Cassirer nach seiner Emigration in England und Schweden zahlreiche Goethe-Vorträge, die thematisch vor allem um Goethes Idee der »inneren Form« kreisten. 60 Die Studie über Thomas Manns Goethe-Bild steht dann in größter zeitlicher Nähe zu den Goethe-Vorlesungen, die Cassirer 1940 bis 1941 in Schweden hielt. Ein solcher »Zyklus von Goethe-Vorträgen« gehörte zu seinen lange gehegten »akademischen Lieblingsplänen«. 61 Erst die Emigration gab ihm die Gelegenheit, entfiel hier doch der Verstoß gegen die akademischen »Gebräuche« 62 , der »Übergriff« ins germanistische Fachgebiet. Was lag damals für Cassirer näher, als die Einstimmung in diesen Zyklus über die Auseinandersetzung mit Thomas Manns gerade erschienenem Goethe-Roman zu suchen? Ende März 1940 schickte er seine fertige Studie an Mann und im Oktober 1940 begann er mit seinem Goethe-Zyklus in Göteborg, wo Käte Hamburger lebte. Die Auseinandersetzung mit Thomas Mann brachte den Goethe-Zyklus mit auf den Weg. Freilich hatten beide, Cassirer wie Mann, ihr Goethe-Bild längst unabhängig voneinander ausgearbeitet. 63 Dennoch liegt die Frage nahe, ob Manns »Goethe« auch Cassirers Vorlesungen beeinflußt hat. Sie sind so etwas wie ein Vermächtnis. Nach Übersiedlung in die USA hielt Cassirer nur noch zwei weitere Goethe-Vorträge: Bemerkungen zum Faustfragment und zur Faustdichtung und Kant und Goethe.

Dazu nur Thomas Mann: »Die drei Gewaltigen«, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. X, 374–383. 58 Dazu Meyer: Ernst Cassirer, 189 f. 59 Dazu vgl. Enno Rudolph: »Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus«, in: Naumann/Recki (Hg.): Cassirer und Goethe, 99–112. 60 Detaillierte Nachweise in Cassirer: Goethe-Vorlesungen, ECN 11, 395–397; siehe zu diesen Vorlesungen meine Rezension in: Philosophischer Literaturanzeiger 57, 2004, 114–119. 61 Cassirer: Goethe-Vorlesungen, ECN 11, 5. 62 Ebd. 63 Für den Felix Krull und dann den Zauberberg reflektierte Mann schon vor 1914 auf Goethes Bildungsidee. Essayistisch formulierte er seinen Ertrag dann in »Goethe und Tolstoi« (1921/1932). 57

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Die Mann-Studie erschien im Germanic Review kurz nach Cassirers Tod. Cassirer schloß sie nicht selbst ab64 ; er wollte sie aber anläßlich von Manns 70. Geburtstag im Juni 1945 an der Columbia Universität vortragen. »Am Mittwoch vor seinem Tod« lud er deshalb im April 1945 noch die Tochter Monika Mann und Pamela Wedekind zum Probevortrag. 65 Es ist also einer der letzten Texte, mit denen Cassirer sich vor seinem Tod befaßte. Erst posthum wurde die Studie 1945 publiziert. Eine redaktionelle Bemerkung spricht davon, die Studie sei »Thomas Mann zum 65. Geburtstag« überreicht worden. Mann erhielt sie allerdings Ende März über zwei Monate vor seinem 65. Geburtstag am 6. Juni 1940. Cassirer mag zwar an den Geburtstag gedacht haben. Eng an ihn gebunden war die Studie aber nicht. Liest man sie heute erneut, so sind einige Bedenken nachvollziehbar. So gründlich Cassirer die Zielsetzung und Eigenart des Romans nämlich auch analysiert, so verwickelt sind doch die Wege, mit denen er sich dem Roman nähert. Dabei scheint er geradezu unter dem Formgesetz zu stehen, das er bei Mann feststellt: der Problematik der Erfassung der inkommensurablen Größe und Individualität. Cassirer betont die große »Aufgabe«, nicht nur einen »Umriß von Goethes Dasein«, sondern auch eine echte »Vergegenwärtigung« 66 seiner »Gestalt« zu geben. Und er entdeckt die Größe des Romans in der Kunst, diese Aufgabe mit einer eigenen Formidee zu beantworten. Cassirer meint: Man »muß sich in das Werk selbst versetzen und ihm die Normen zu entnehmen suchen, nach denen es beurteilt werden will«. 67 Hier findet er zunächst eine Erneuerung des antiken Botenberichts: eine Annäherung an die Gestalt über die »Berichte über Goethe«. 68 Dann verdeutlicht er dieses Verfahren durch einen Exkurs zu Goethes Farbenlehre, dem er die Idee der »wiederholten Spiegelung« abliest. 69 Mann überbot demnach die antike Form des Botenberichts durch Goethes Gedanken der »wiederholten Spiegelung«. Eingehender führt Cassirer aus, daß der Gedanke der »Polarität und Steigerung« nicht nur im Reigen der Gespräche über Goethe feststellbar sei, bei denen immer kompetentere Berichterstatter auftreten, sondern auch bei der Darstellung Goethes, die vom »Rahmen des Alltags«70 ausgeht und sich über die diversen Arbeits- und Pflichtenkreise und den »Verkehr mit der Natur«71 dem inneren poetischen

64 65 66 67 68 69 70 71

Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild«, ECW 24, 267. Das überliefert Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, 330. Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild«, ECW 24, 269. A. a. O., 269. A. a. O., 270. A. a. O., 274 ff. A. a. O., 276. A. a. O., 278.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

»Schaffensprozeß«72 und »Zwiegespräch«73 mit anderen Größen nähert. Diese »wiederholten Spiegelungen« bezeichnet Cassirer als »die ›innere Form‹ des Romans«. 74 Der Leser glaubt sich bereits am Ziel der Studie, da setzt Cassirer erneut an. Er rechtfertigt seinen zweiten Kursus zunächst mit einer lapidaren Feststellung: »Das Werk macht uns das Eindringen keineswegs leicht«. 75 Erneut prüft er dann die »innere Form« des Romans. Dabei legt er Goethes Unterscheidung zwischen »einfacher Nachahmung«, »Manier« und »Stil« an den Roman an76 , um Mann vom Vorwurf des »Naturalismus« einerseits und überspannter »Heroenverehrung«77 – im Stile des GeorgeKreises – andererseits freizusprechen. Cassirer findet alle drei Weisen der künstlerischen Darstellung im Roman wieder. Mann biete »Analyse und Synthese«78 , rücke Goethe menschlich-allzumenschlich in aller Genauigkeit nahe und ironisiere dies alles im »Fluidum« seiner »Manier«, ziele dabei aber doch auf die »Synthese« und echte »Erkenntnis«79 von Goethes »Wesen« in dessen »symbolischer« Bedeutung. Dieses Ziel konnte er nur durch die langjährige Auseinandersetzung und »Liebe zu Goethe« realisieren. 80 Auch für die Liebe als Erkenntnismedium beruft Cassirer sich auf Goethe. Auch damit ist er aber noch nicht am Ende. In einem dritten Ansatz konzentriert er sich auf die künstlerische Gestaltung von Goethes Verhältnis zu Lotte und beruft sich für Manns Verflechtung von Tragik und Komik auf Platon. 81 Lotte repräsentiere den verständigen Leser. In Lottes Zwiegespräch mit Goethe gestalte Mann zuletzt »das Gefühl für das Ganze von Goethes Dasein« 82 : den Künstler »in tragischer Größe und Einsamkeit«. 83 Der Künstler entrinne dem Zwang zur »Wiederholung«, zur Alltäglichkeit, weil er einen ständigen dichterischen »Gestaltenwandel« erlebe und so eine »Lebenswiederholung« im kreativen Schaffen kenne. Ein Dichter lebe nicht profan im Alltag, sondern poetisch mit seinen Ge-

72

A. a. O., 280. Ebd. 74 A. a. O., 281 f. – Zu Manns Verhältnis zu den Naturwissenschaften vgl. Henning Genz/Ernst Peter Fischer: Was Professor Kuckuck noch nicht wußte. Naturwissenschaftliches in den Romanen Thomas Manns, ausgewählt, kommentiert und auf den neuesten Stand gebracht, Reinbek 2004; dazu meine Rezension in: Philosophischer Literaturanzeiger 58, 2005, 29–32. 75 Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild«, ECW 24, 283. 76 A. a. O., 285 ff. 77 A. a. O., 288. 78 A. a. O., 286. 79 Ebd. 80 A. a. O., 289. 81 A. a. O., 292 f. 82 A. a. O., 294. 83 A. a. O., 295. 73

Mehring · Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann

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stalten. Der Preis für dieses »dichterische[] Lebens- und Zeitgefühl[]« 84 sei aber die Vereinsamung gegenüber der Mitwelt. Diese Tragik mache Mann seiner Lotte und damit auch dem Leser einsichtig. »Was uns geschildert wird, ist die große Wandlung, die seelische Peripetie, die in Lottes Geist eintritt. Wir sollen diese Peripetie nicht nur nachfühlen; wir sollen sie mit ihr vollziehen. In dem letzten Zwiegespräch, das Lotte mit Goethe führt, beginnt sie ihn zum ersten Mal zu verstehen.« 85 Am Ende klingen Cassirers Ausführungen zur Einsamkeit des Künstlers wie ein Selbstportrait, wenn er von einer »Gottesgabe« und tragischen »Notwendigkeit« spricht. Auch der Philosoph lebt in dieser allgemeinen Anschauung der Lebenserneuerung. Cassirer explizierte dieses philosophische Pathos der »Zusammenschau« und »Überschau« damals in seiner Studie über »Logos, Dike, Kosmos« besonders eindringlich. 86 Die Mann-Studie ist ein goetheanisches Bekenntnis; sie folgt dem verwickelten Formprinzip der »wiederholten Spiegelung« und entnimmt ihre Bewertungsnormen nicht vordergründig dem Lotte-Roman. Vielmehr klärt sie Manns Formprinzip mit Begriffen Goethes. Erkennbar dient dieses Vorgehen dem Bemühen, die Größe des Romans goetheanisch herauszustellen und Manns Goethe-Bild vom einseitigen Naturalismus einerseits und falschen Heroismus andererseits freizusprechen. Wenn Cassirer den Gedanken der »wiederholten Spiegelung« als Formprinzip herausstellt und die Absicht auf eine pädagogische »Goethe-Erkenntnis« betont, trifft dies zweifellos Manns Anliegen. Wenn er am Ende seine platonische Auffassung der »Lebenswiederholung« herausstreicht, erfaßt er Manns Verständnis der »Metamorphose« als »Lebenserneuerung aus dem Geist« ebenfalls eindringlich. Cassirer transponiert sie aber etwas, indem er sie in die klassischen Quellen Goethes und Platons rückübersetzt. Zwar hat Mann verwandt gedacht, er sah Goethe aber nicht so gelehrt in der platonischen Tradition, sondern hatte seine Einsichten eher aus zweiter und dritter Hand. Das mag neben dem verwickelten Aufbau der Studie ein zweiter, gewichtiger Grund dafür sein, daß Mann die Bedeutung von Cassirers Studie nicht recht zu würdigen wußte. An philosophischer Einsicht in den Aufbau und die Absichten von Lotte in Weimar dürfte sie heute noch ihresgleichen suchen. Zweifellos gibt es weitere Gründe, weshalb Mann von der Studie nicht begeistert war. Cassirer hatte sich ganz auf das »Goethe-Bild« konzentriert und die tragische Einsamkeit als das Motiv erfaßt, das nur Dichtung zu gestalten vermöge. Zügig war er über Manns dialektische Portraits der Gestalten um Goethe hinweg geschritten. Hier aber liegen noch eigene

84

A. a. O., 296. A. a. O., 295. 86 Ernst Cassirer: »Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie« (1941), in: ECW 24, 7–35. 85

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

Motive des Romans, die Cassirer nicht würdigt und die Mann wichtig waren. Mann schloss mit Lotte in Weimar seinen Familienroman vom Künstler im Kreis seiner Familie ab, den er in Weimar begann. Er gestaltete dabei neben der tragischen Größe und Einsamkeit, die Cassirer deutlich erfaßte, auch die künstlerische Egozentrik im Spiegel des Leidens der Familie. Mann bat damit seine eigene Familie um Verzeihung. Er fragte, ob sein Glück als Künstler mit dem Unglück der Mitwelt erkauft war. Diese »intellektuelle Komödie« 87 war nicht nur ein Goethe-Portrait, sondern auch ein tragisch-ironischer Roman von der Wirkung des Künstlers auf seine Mitwelt. Der Roman basiert bekanntlich auf einer historischen Anekdote: auf der Tatsache einer späten Wiederbegegnung Goethes mit Charlotte Buff, verheiratete und verwitwete Kästner, 1816 in Weimar. Im gleichen Jahr las Goethe erstmals die »Brandraketen« seines Werther wieder. Das Wiedersehen ist nur durch eine lapidare Eintragung Goethes und harsche Bemerkungen Lottes bezeugt. Franz Blei, ein Münchener Bekannter Manns und enger Freund Carl Schmitts, griff die Anekdote 1928 in einem verbreiteten Buch über Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen unter der Rubrik »Wiedersehen« auf. 88 Vielleicht wurde Mann dadurch auf die Anekdote aufmerksam. Mann macht aus der Anekdote jedenfalls eine großartige Reihe von Lebensabrechnungen. Dabei setzt er Lotte auch einigem Spott aus. Manns Lotte aspiriert letztlich auf Heirat: Ihr Wille zum Wiedersehen zielt über die Wiedergutmachung des Leides und Wiederholung gewesenen Glücks hinaus auf die Ehe. Dabei mißt sie sich nur an ihren Vorgängerinnen, nicht aber an den Nachfolgerinnen. Das »Urbild« 89 fürchtet nur, nicht als »die Eigentliche«90 erinnert zu werden. Manns Goethe dagegen weiß um eine andere Möglichkeit der Wiederholung von Glück. Erst im abschließenden »Geistergespräch« mit Lotte fällt dafür Goethes Begriff der »Metamorphose«.91 Er meint im Lotte-Roman die schöpferische Fähigkeit des Künstlers, erlebtes Glück zu reinszenieren. Manns Goethe sucht nicht das – in Königliche Hoheit schon gestaltete – »strenge Glück«92 der Ehe. Sein Konzept der Wiederholung führt zur »Ehebruchsdichtung«.93 Weil aber Goethes Wahlverwandtschaften Manns

87

Thomas Mann: Brief vom 21.1.1940 an Hermann Kesten, vom 2.2.1940 an Ernst Benedikt. 88 Franz Blei: Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen, Berlin 1928, 187– 190. 89 Der Roman wird hier zitiert nach: Thomas Mann: Lotte in Weimar, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. II, 374, 377. 90 A. a. O., 761. 91 A. a. O., 763. 92 A. a. O., 363. 93 A. a. O., 554.

Mehring · Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann

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Modell sind, bildet Adele Schopenhauers Novelle einer wahlverwandtschaftlichen Liebe die Mitte des Romans. Damit ist die tragische Gesamtaussage auch formal exponiert. Der Roman interpretiert sich selber als Wahlverwandtschafts-Novelle. Der Roman kennt nicht nur das Formprinzip der »wiederholten Spiegelung«, das Cassirer hervorhob, sondern auch der wahlverwandtschaftlichen Verstrickung; er stellt nicht nur die Einsamkeit des Philosophen heraus, die Cassirer betonte, sondern auch die erotische Verfehlung in der wahlverwandtschaftlichen Konstellation. Erzählte Mann früher vom Leiden des Meisters an seiner Größe94 , so gestaltet er nun das Leiden der Mitwelt an der Größe des »Meisters«. Die allgemeine Stimmung bezeichnet Goethes Ausspruch am Tisch: »Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.«95 Mann endet seine Künstlerspiegelungen mit einem Begriff vom Künstler als »öffentliches Unglück«. Der tragische Tenor seiner »intellektuellen Komödie« ist kaum zu überhören. Indem Manns Lotte aber versteht und verzeiht, bestätigt sie am Ende die eigene Moralität des Künstlers. Das individuelle Gesetz der Größe ist letztlich anerkannt, die »Güte« Goethes unbestritten. Auch diese ironische Selbstkritik hat Cassirer gesehen, aber hinter seine philosophische Affirmation der »Gottesgabe« zurückgestellt. Mann versteckte seine Gestaltung der philosophischen Existenz noch diskreter hinter dem Spiegel der Mitwelt. Die eingangs mit Lévinas evozierten Zweifel an Cassirers Neuhumanismus wurden oft genug auch gegen Thomas Manns Goethe-Bild vorgebracht. Die Modernität seiner Romankunst wurde bezweifelt. Auch scheint sich Manns Ironie schlecht mit Cassirers Goethe-Verehrung zu vertragen. Doch trifft das zu? Mann zweifelt nicht an Goethe. Er würdigt ihn als Ironiker, spricht gar vom »ironischen Nihilismus«96 Goethes, findet aber letztlich einen Primat des Guten.97 Die »intellektuelle Komödie« seines Goethe-Romans führt wieder diskursive und dramatische Elemente in die Epik ein und hebt so den großen Gesellschaftsroman Tolstoischen Formats in den philosophischen Roman. Analog hob Platon die antike Tragödie und Komödie in den philosophischen Kunstdialog.98 Für diese ironische Dialektik war Cassirer nicht taub. Er zitierte aus Platons Symposion, daß es »›desselben Mannes Sache‹ sei, Komödien und Tragödien zu

Dazu vgl. den Essayband Leiden und Größe der Meister von 1935. Mann: Lotte in Weimar, Bd. II, 734. 96 Thomas Mann: »Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters«, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IX, 319. 97 Dazu von Manns späten Goethe-Essays besonders ders.: »Über Goethe’s Faust« (1939); »Ansprache im Goethejahr 1949«, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IX, 581–621 und Bd. IXI, 481–497. 98 Zu dieser philosophischen Form eindrucksvoll Vittorio Hösle: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006. 94 95

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

schreiben«99 ; dieses Wort Platons habe »erst in der modernen Literatur« seine eigentliche Lösung gefunden. Erst hier sei das Leben zugleich als Tragödie und Komödie erfaßt. Cassirer begriff Lotte in Weimar als einen philosophischen Bildungsroman. Freilich ließen beide, Cassirer und Mann, der Ironie, dem Pessimismus und dem Nihilismus nicht das letzte Wort. Deshalb glaubten sie auch beide an die Bildungsmacht des Geistes. Bleibt das Verhältnis zu Cassirers Goethe-Vorlesungen: Es ist sehr eng. Das liegt nicht nur an den verwandten Absichten, sondern auch am goetheanischen Begriff der »innere[n] Form«, der beide Texte organisiert. Auch diese Vorlesungen wollen über die »Goethe-Philologie«100 hinausgehen und in »Liebe zu Goethes Werk« Goethe als »Gesamterscheinung«101 und »Gestalt« sehen und als »Befreier«102 würdigen. Dafür folgt Cassirer nicht dem dialektischen »Wandel des Goethe-Bildes«103 , sondern ausdrücklich »mit Goethes eigenen Augen«104 der Werkgeschichte des jungen Goethe, die er als Bildungsgeschichte des Autors liest, um »den Sinn dieses Lebens sichtbar [zu] machen«.105 Cassirer geht Goethes Jugenddichtung unter dem Gesichtspunkt der »Selbstbefreiung« und »Selbstgestaltung« durch.106 Er endet mit dem »Problem von Freiheit und Notwendigkeit«107 und erläutert Goethes »Begründung einer reinen Menschheitsreligion«108 dabei als dramatischen Kampf »zwischen Licht und Finsternis«.109 Die Goethe-Vorlesungen verdeutlichen, wie nah Cassirer mit seinem Goethe-Bild Thomas Mann stand. Cassirer konnte Manns Roman nur deshalb zwanglos durch seine Kategorien erhellen, weil beide Goethe als »Befreier« und erzieherisches Vorbild für die Deutschen ähnlich sahen. Das Formgesetz der »wiederholten Spiegelung« fand Cassirer in Manns Roman wie in Goethes Leben. Wie Mann betrachtete er Goethes Werk als ein Mittel exemplarischer Selbstgestaltung des eigenen »Lebens«. Auch die Goethe-Vorlesungen tragen dabei Züge eines verdeckten Selbstportraits. Verweist Cassirer in der Mann-Studie auf die tragische Einsamkeit des Künstlers und Philosophen, deutet er in seinen Vorlesungen biographische Parallelen im Verhältnis zur Politik an. Auch bei Cassirer findet sich eine »Goethe-Imitatio« und Nachfolge als Kehrseite der erzieherischen

99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 293. Cassirer: Goethe-Vorlesungen, ECN 11, 6. A. a. O., 14. A. a. O., 21. A. a. O., 41. A. a. O., 42. A. a. O., 47. A. a. O., 209. A. a. O., 224, 261. A. a. O., 226. A. a. O., 230.

Mehring · Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann

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und exemplarischen Auffassung Goethes. Auch Cassirer verleugnete dabei die dunklen Seiten und tragischen Züge Goethes nicht. Schaut man näher hin, so zeigen sich selbst hier große Übereinstimmungen. Sie führten auch zu ähnlichen politischen Konsequenzen. Diese »PersönlichkeitsEthik« war weit entfernt vom Zerrbild des Liberalismus, von dem sich der Weimarer Radikalismus distanzierte. Politisch und philosophisch hat es sich der Weimarer Extremismus mit beiden Autoren zu leicht gemacht. Schon in seinen frühen Essays aus der Weimarer Zeit konterte Mann die zeitgenössische Kritik an Goethe und dessen Rolle als »Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters« mit dem Nachweis, daß die irrationalistischen, lebensphilosophischen Argumente schon von Goethe vorweggenommen und beantwortet seien. Ähnlich betrachtete Cassirer Goethe als einen Autor, der über alle einseitige Kritik hinaus war. Beide fanden ihre Antworten auf die zeitgenössische Kritik am Neuhumanismus und dessen politisches Projekt, den modernen, bürgerlich-liberalen Verfassungsstaat, noch bei Goethe und beriefen sich deshalb auch immer wieder energisch auf ihn. Selbst Carl Schmitt, der die »Goethe-Maske« einst verspottet hatte, schreibt im Alter: Dieser »Mann [Goethe, RM] wußte wirklich alles, aber man muß alt werden, um das zu verstehen«.110 Cassirer und Thomas Mann sahen es früher. Ihre ständige Berufung auf Goethe läßt sich dabei vom Kontext der Weimarer Debatten kaum isolieren.

Literaturverzeichnis Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/M. 1976 Hannah Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hg. von Ursula Ludz, Frankfurt/M. 1998 Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000 – Die mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003 – Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005 – Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006 – Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006 Rainer A. Bast: »Wirbel der Ereignisse. Unbekannte Briefe Thomas Manns an Ernst Cassirer über Goethe und den Krieg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.11.1996

110

Carl Schmitt: Brief vom 30. April 1963 an Luís Cabral de Moncada, in: Erik Jayme (Hg.): Luís Cabral de Moncada und Carl Schmitt. Briefwechsel 1943–1973, Heidelberg 1997, 47.

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›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, hg. von Gertrud Heidegger, München 2005 Hermann Heller: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Stuttgart 1921 Vittorio Hösle: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006 Erik Jayme (Hg.): Luís Cabral de Moncada und Carl Schmitt. Briefwechsel 1943– 1973, Heidelberg 1997 Hanns Johst: Schlageter. Schauspiel, München 1933 Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München 2007 Frank-Lothar Kroll: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003 Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. II, Frankfurt/M. 1974 – Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IV, Frankfurt/M. 1974 – Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IX, Frankfurt/M. 1974 – »Die drei Gewaltigen«, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. X, Frankfurt/M. 1974 – Tagebücher, 10 Bände, Frankfurt/M. 1977–1995 – »Über Goethe‹s Faust« (1939); »Ansprache im Goethejahr 1949«, in: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. IX, 581–621 – »Leiden und Größe der Meister«, Berlin 1935 – /Käte Hamburger: Briefwechsel 1932–1955, hg. von Hubert Brunträger, Frankfurt/M. 1999 Gert Mattenklott: »Cassirers Goethe-Lektüre im Kontext der deutsch-jüdischen Goethe-Rezeption«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats, München 1907 Reinhard Mehring: »Pathos der Zusammenschau. Annäherungen an Cassirers Philosophiebegriff«, in: Enno Rudolph (Hg.): Cassirers Weg zur Politik, Hamburg 1999 Reinhard Mehring: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001 – Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003 – Rezension […] in: Philosophischer Literaturanzeiger 57, 2004, 114–119 – Rezension […] in: Philosophischer Literaturanzeiger 58, 2005, 29–32 Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2006 Ernst Osterkamp: »Friedrich Gundolf (1880–1931)«, in: Christoph König/HansHarald Müller/Werner Röcke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Portraits, Berlin 2000 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988 –

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Enno Rudolph: »Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt/M. 1982 Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001 Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, München 1999 Jacob Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1993 Ernst Troeltsch: »Rezension von Cassirer. Freiheit und Form«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Tübingen 1925 Hans Welzel: Naturrecht und menschliche Würde, Göttingen 1951 Erik Wolf: Grotius, Pufendorf, Thomasius, Heidelberg 1927

John Michael Krois †

Cassirer’s Revision of the Enlightenment Project

»Es ist die Aufgabe der systematischen Philosophie – die über diejenige der Erkenntnistheorie weit hinausgreift –, das Weltbild von Einseitigkeit zu befreien.«1 (Cassirer 1921)

I) When historians speak of the «Age of Enlightenment», they usually mean developments in 18th century Europe, a particular era when philosophical ideas exercised a previously unknown degree of overt influence upon people and politics. This influence depended in part upon the modern printing press and publishing houses: The Encyclopédie, bestsellers by Rousseau and Voltaire, and a proliferation of periodical literature exemplify this dimension of the Enlightenment. The ideas we associate with this age are still contested and continue to inspire and to outrage.2 These include the notion of universal, inalienable human rights (including the right and freedom to express ideas), the sovereignty of the people (rather than the divine right of kings), arguments against revelation and against pure reason as sources of knowledge, and – as a consequence of these criticisms – pleas for tolerance of different religious beliefs and for the separation of church and state. These are not merely theoretical conceptions – they call for action. This is why they are often spoken of not as mere ideas, but as the «Enlightenment Project.» This project did not and still does not leave people unmoved, not even a judicious thinker like Ernst Cassirer. In fact, especially not Ernst Cassirer, for his entire philosophy can be summarized as a «revision of the Enlightenment Project.»

Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff., (ECW), Bd. 10, 113. 2 To realize the continuing controversy surrounding the Enlightenment project, it is enough to consider Ayaan Hirsi Ali, who considers herself to be a follower of the 18th century Enlightenment. However, Ian Buruma: Murder in Amsterdam. The Death of Theo Van Gogh and the Limits of Tolerance, New York 2006, 27, refers to Hirsi as an «Enlightenment fundamentalist». 1

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Cassirer’s famous account of Enlightenment philosophy, Die Philosophie der Aufklärung (1932)3, is undisputedly a classic – the most cited book ever written on this epoch of the history of philosophy and his most wellknown work on the history of philosophy. Yet it is not really a historical study in the usual sense. Cassirer begins the book by stating that it neither delineates the «sum» or «total» of what leading 18th century thinkers taught nor that it recounts the development of specific doctrines that are supposed to constitute the «essence» or core of Enlightenment philosophy. The main feature of Enlightenment philosophy, Cassirer claims, was that it «breaks through the rigid barriers of system»4 and became an «intellectual force.» The chief characteristic of the Age of Enlightenment was that philosophers ceased considering thought in terms of contemplation and began attributing to it «the power and task of shaping life itself»5, «die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung». This contrasts with the frequent complaint that the Enlightenment was only an Age of criticism, tearing down, but offering nothing to replace what was rejected. If we ask how Cassirer understood «the power and task of shaping life itself», we are brought to the realization that Die Philosophie der Aufklärung is not just a study of the past but actually inseparable from Cassirer’s own philosophical outlook. Cassirer’s entire philosophy is actually premised upon the thesis that the power to shape life derives from the capacity to understand and use symbolism and that this is the definitive characteristic of human life. 6 Cassirer does not assume that freedom is a given, instead he speaks of the process of human «self-liberation» – liberation from fear, repression, and ignorance – by means of symbolic forms. This outlook married the 18th century philosophy of Enlightenment with Cassirer’s own conception of creative intelligence, but this marriage required that Enlightenment philosophy give up the purity of reason. Historians like to call the 18th century the «Age of Reason», but in Cassirer’s philosophy, reason is no longer the ultimate point of reference. The

The excellent English translation of Cassirer’s Die Philosophie der Aufklärung (Ernst Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, Princeton 1951) was prepared by Cassirer’s former student Fritz C. Koelln and by James P. Pettegrove, who worked closely with Cassirer during his stay at Oxford. 4 Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, IX and Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (1932), in: ECW 15, XIII. 5 Loc.cit., VIII and loc. cit., XII. 6 On this point, Cassirer has long been vindicated. In the empirical social and cultural sciences, symbols and sign processes now are generally taken to be crucial to culture. Influential thinkers such as Bourdieu, Eco, and Geertz all mention Cassirer’s influence. Today, even neurologists are ready to define humans as the «symbolic species». See Terrence Deacon: The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain, New York 1997. 3

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existence of reason presupposes the reality of symbolism, not the other way around. Cassirer’s replacement of the concept of ‹reason› with that of ‹symbolism› was no minor revision to the Western philosophical tradition. The problem with the philosophical tradition was not that philosophers venerated reason, but that they ignored the body and so separated reason from action and emotion. Cassirer’s originality as a philosopher can be seen in the fact that he not only adopted what later came to be known as the «linguistic turn» in philosophy – but that he did not stop with language. He maintained that symbolism is already found in non-verbal and non-propositional forms of meaning – such as facial expression, gesture, and ritual – all of which depend upon the body for their articulation. Cassirer stated as a matter of principle that for him, «the prototype and model for a symbolic relation» is provided by the relationship of «Leib und Seele». This relationship is expressive rather than referential, but it is symbolic nonetheless. 7 This symbolic relationship between «Leib und Seele», illustrated by facial expressions, gestures, and ritual behaviour, depends upon bodily movements to express meanings. These are symbolic, but they straddle the border between biology and psychology, between animal behaviour and human culture. Cassirer explicated this kind of meaning in a host of publications dealing with expressive meaning (Ausdruck) and especially with what he called «mythic thought.» For Cassirer, mythic thinking was not simply a matter of the narratives we call myths. «The narrative», Cassirer said, «offers no key to an understanding of the cult; it is rather the cult which forms the preliminary stage and objective foundation of myth.»8 Cassirer’s detailed reconstructions of mythic ways of perceiving and categorization showed that it is first and foremost a form of life, and that means of action, not a theoretical world view. Yet it is not pre-logical, for mythic thought is based upon a particular form of conceptualization. In Die Begriffsform im mythischen Denken and other texts Cassirer explicated in detail the logic of mythic thought, emphasizing that it is not simply primitive science or early religion, but a unique and irreducible way of understanding. The fact

7

«The relation of body and soul [Leib und Seele] represents the prototype and model for a purely symbolic relation, which cannot be converted into either a relationship between things or into a causal relation.» (Ernst Cassirer: The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 3: The Phenomenology of Knowledge, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1957, 100, or the same: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 113: «Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.») 8 Ernst Cassirer: Philosophy of Symbolic Forms, vol. 2: Mythical Thought, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1955, 219 f., or the same: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 258.

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that Cassirer found it necessary to deal so extensively with myth is the clearest indication of how he sought to rethink the Enlightenment. Cassirer’s rethinking has not been readily absorbed in philosophy since his death in 1945. It has not been easy for philosophers to accept or even understand Cassirer’s «symbolic turn.» Cassirer considered language to be just one symbolic form among many, rather than the basis of them all. It is common today for philosophers to assume that it is impossible to avoid thinking in language, and that language is prior to any thought that we articulate. Cassirer’s point is that language presupposes speakers, and before they learn a language they are able to understand and to communicate with one another and interact with the world – by means of facial expressions, gestures, and by mimetic forms of behaviour. Cassirer’s belief that expressive symbolism is primary led him to study mythic thought, and this emphasis on myth has disturbed many philosophers, including Nelson Goodman, who otherwise was in agreement with Cassirer’s emphasis upon symbolism. Goodman agreed that it was important for theoretical philosophy to examine art as a form of symbolism, but art, like science, is an advanced cultural form. Goodman rejected Cassirer’s emphasis on mythic thinking, which Goodman claimed leads to obscurantism and to an anti-scientific attitude. Goodman stood in the tradition of the historical Enlightenment, for which myth is simply «Reason’s Other», the irrational per se. This was the Enlightenment conception that Cassirer revised.

II) Revisions do not entail rejection. Cassirer portrayed the 18th century Enlightenment epoch with obvious admiration, in contrast to what he called the «Romantic verdict on the Enlightenment» and to adherents of this verdict, such as Klages or Heidegger. Cassirer claims in Die Philosophie der Aufklärung that the historical Enlightenment can – and ought to – serve as the model for philosophy today: «The age which venerated reason and science as man’s highest faculty cannot and must not be lost even for us.»9 But Cassirer did not identify himself with the 18th century version of Enlightenment philosophy, and his recounting of that epoch in Die Philosophie der Aufklärung recast its profile in a new way. Cassirer’s «history» diverges in many ways from widely accepted views. At the beginning of Die Philosophie der Aufklärung he states his divergence

Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, XI and the same: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, XVI. 9

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from the historical Enlightenment directly: «For us», he says, «the word ‹reason› (Vernunft) 10 has long since lost its unequivocal simplicity even if we are in essential agreement with the basic aims of the philosophy of the Enlightenment».11 The concept of reason (Vernunft), he says, is «vague» and like the word «Rationalität» it is unable to specify what is particular about human beings. Cassirer revised the classic definition of human beings as «animal rationale», for which he substituted «animal symbolicum».12 The words «Vernunft» or «Rationalität» rarely occur in Cassirer’s writings except when he was discussing other philosophers who appealed to these concepts.13 Yet he stressed that his revised definition of humanity as animal symbolicum did not entail rejecting the normative value of the concept of rationality. The appeal to reason has an ethical dimension, which can be upheld while recognizing the inadequacy of the term «reason» as a way to comprehend human beings and human culture. Rituals, gestures, poetic speech, depiction, art, religion, historical narratives, and other aspects of human culture cannot be adequately explicated as «reason» yet they exemplify different kinds of symbolism. Symbolism is not opposed to reason or science, it makes them possible. Cassirer liked to cite David Hilbert’s claim that mathematics depends upon the use of signs: «Am Anfang ist das Zeichen».14 Prior to science or literacy, mythic thought involves (non-verbal) signs and symbols. Cassirer’s theory of symbolic forms brought together formalized sign systems, language, and non-verbal meaning in a single conception. Symbolism makes «reason» and science possible, but much more as well. Cassirer’s revision of the Enlightenment Project was like Hamlet’s chastisement of his friend Horatio, who was unable to make sense out of the nightly apparitions at Elsinore. Enlightenment thinking had to confront the fact that there was more to reality than was provided for in its philosophy.15 For Cassirer, the Enlightenment Project was hampered by its inability to understand what it dismissed as «irrational.» Kant’s philosophy had stressed the autonomy of reason, but Cassirer stressed the autonomy of a plurality of symbolic forms, not all of which could be subsumed under the concept of reason.

10

Loc.cit., 5 and loc. cit., 4. Loc.cit., 6 and loc. cit., 5. 12 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 31 and the same: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer (ECN), Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung and Herbert Kopp-Oberstebrink, Hamburg 2005, 411. 13 Cassirer himself used the word ‹Geist› rather than ‹Vernunft› or ‹Rationalität›. 14 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 437. 15 »There are more things in heaven and earth, … Than are dreamt of in your philosophy« (William Shakespeare: Hamlet, Act 1, Scene V). 11

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Recognizing this was not only crucial for improving the Enlightenment Project; it is necessary in order to save it. Many philosophers have offered their own versions of the Enlightenment Project. When the thinkers of the Vienna Circle published their manifest, «Wissenschaftliche Weltanschauung», they identified their goals for a reform of the world through science with what they called the «Geist der Aufklärung». So too, the founders of the Frankfurt School, Adorno and Horkheimer, gave an idealized account of «Enlightenment», albeit in negative terms, depicting its emphasis on science and instrumental thinking as leading to subjection while promising freedom. In a voluminous study16 Nicolas Capaldi has documented how analytic philosophers consistently uphold positions taken from the historical Enlightenment. Capaldi’s definition of the Enlightenment Project, which he finds presupposed in analytic philosophy, also can describe both the Vienna Circle’s and the Frankfurt School’s notions of Enlightenment, despite their opposing assessments of this project. Capaldi says the Enlightenment Project is «the attempt to define and explain the human predicament through science as well as to achieve mastery over it through the use of social technology».17 Neurath and Adorno both could have accepted such a definition of Enlightenment, but Cassirer did not see the Enlightenment Project this way. It is undeniable that the historical Enlightenment derived its inspiration from the rise of modern science, and Cassirer often quoted Alexander Pope’s rhyme as the best expression of the Enlightenment enthusiasm for science: «Nature and Nature’s laws lay hid in Night / God said: »Let Newton Be« / and all was Light.» Historically, many Enlightenment thinkers believed that natural science promised a new world in which nature could be controlled, superstition could be eliminated from religious belief, and even art would come to follow timeless rules comparable to the laws of nature. Bacon, Voltaire and Boileau made such claims, but Cassirer argued in his Philosophie der Aufklärung that these conceptions miss what was most important in the philosophy of the Enlightenment. Cassirer rejected the method of lining up the works of writers such as Voltaire, Hume or d’Alembert as a sequence of systems from which a body of key doctrines could be abstracted as the essence of Enlightenment philosophy. Instead, he claimed that the Enlightenment broke with the esprit de système, and willingly «forfeited the prize of systematic rigour and completeness».18 Instead of beginning with or upholding basic concepts or

16

Nicolas Capaldi: The Enlightenment Project in the Analytic Conversation, Dordrecht

1998. 17

Loc.cit., 17. Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, 9 and the same: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 8. 18

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a priori principles, scholastic categories, or even mathematical certainties as Descartes did, Enlightenment philosophy, Cassirer claimed, sought to find the «logic of facts», «die Logik der Tatsachen».19 He distinguished this notion from the «mathematical spirit», which construed the role of reason to consist in unification. 20 The logic of facts explicates the order of the concrete, but without equating unity with uniformity. 21 Cassirer saw this «logic of facts» illustrated by Leibniz’ philosophy, which replaced Spinoza’s monism and Descartes’ dualism, with what Cassirer in Die Philosophie der Aufklärung called «a ‹pluralistic universe›»22 in which even elementary unitary realities are «dynamic». This dynamism meant that the fundamental motive dominating Leibniz’ philosophy is «only apparently that of identity», but actually the principle of «continuity». «Continuity», Cassirer stressed, «means unity in multiplicity, being in becoming, constancy in change». 23 This repeats a claim that Cassirer first made 30 years earlier in his book Leibniz’ System, that Leibniz’ philosophy offered a vindication of qualitative individuality. With Leibniz, the idea of rigid, fixed form was broken down and supplanted by the idea of «development» («Entwicklung»; translated as ‹evolution›).24 «Form» means «continuity in development», so that individuality and generality are no longer opposites. In all of this Cassirer is characterizing his own philosophy at least as much as he is characterizing the philosophy of Leibniz or that of the 18th century Enlightenment. As a result of this outlook Cassirer’s characterization of the historical Enlightenment diverged from many well-established opinions, even concerning the interpretation of science. Cassirer’s presentation of modern science in Die Philosophie der Aufklärung is unlike the usual accounts, because he denies that it was mechanistic. Cassirer asserts in his chapter on «Nature and Science» that the mechanistic philosophies of Holbach and Lamettrie, so often regarded as typical of the Enlightenment, had no characteristic significance at all. They exemplified retrogression to the kind of dogmatism that Enlightenment philosophy sought to overcome. Instead, Cassirer underlines D’Alembert’s renunciation of their ideas in favour of a genuine Newtonian conception. This entailed upholding the concept of mathematical analysis and rejecting any kind of philosophical foundationalism. Mathematical analysis knows no absolute end, but only relative and provisional stop-

19

Ibid. and ibid. Loc.cit., 23 and loc. cit., 23. 21 The confusion of ‹Einheit› with ‹Einerleiheit› is examined in Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17, 354–355. 22 Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, 29 and the same: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 30. 23 Ibid. and ibid. 24 Loc.cit., 34 and loc. cit., 45. 20

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ping points. Hence, even gravity, Cassirer says, although it is a universal phenomenon of nature, is not ultimate, but only where Newton stopped. 25 In Cassirer’s description of the theory of nature in Enlightenment philosophy, he gives the last word to – of all people – Diderot. Diderot not only edited the Encyclopédie with D’Alembert, he also shared D’Alembert’s emphasis upon mathematical analysis as non-mechanistic. Cassirer cites with approval Diderot’s assertion that it is wrong to believe that the world must be the way it is now. 26 He agrees with Diderot’s credo, that the most fundamental principle in the cosmos is novelty, calling attention to Diderot’s claim in his Rêve de d’Alembert that ‹the motto of the universe› is: «A new order of things is born»: Rerum novus nascitur ordo. 27 Cassirer passes over the fact that mechanistic determinism had so worried Kant that he separated the phenomenal and the noumenal in order to rescue freedom. For Cassirer, this was uncalled for. It was not necessary to wait for quantum theory, let alone self-organisation conceptions to come along in order to realize that nature is not mechanistic and determinism not a reality. One simply had to understand the mathematical methods of the new science and to stop blindly upholding the principle of sufficient reason, which Cassirer considered to be a metaphysical rather than a scientific principle.

III) Cassirer did not live to read Adorno and Horkheimer’s account of history in their Dialektik der Aufklärung.28 If he did, he would have taken it to be an example of such metaphysical thinking. The unitary grand historical narrative of the Dialektik der Aufklärung would have reminded Cassirer of a book he knew well: Spengler’s Untergang des Abendlandes29, and he would no doubt have described it the same way, as philosophy engaging in fortune telling, in Wahrsagerei. Like Spengler’s book, Adorno and Horkheimer’s ignored the fact that history, like culture, depends upon symbolic processes, so that the prediction of historical development required the predication of symbolic processes as if they were mechanistic in nature. In contrast to this, according to Cassirer’s Die Philosophie der Aufklärung – in the chapter «The conquest of the historical world» – 18th century thinkers came

25

Loc.cit., 52 and loc. cit., 52. Loc.cit., 92 and loc. cit., 95. 27 Ibid. and ibid. 28 The book appeared in Amsterdam in 1947. 29 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bände, Wien/München 1922. 26

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to realize that the study of history provided the way to understand unpredictable individuality and cultural differences. Herder is seen as offering a Leibnizian theory of history, which, Cassirer says, «breaks the spell» of the principle of identity and takes historical ages individually, not forcing them into a uniform, stereotyped pattern.30 A generation of postwar students was fascinated by Adorno and Horkheimer’s Dialektik der Aufklärung despite the fact that its authors portrayed history according to a uniform, stereotyped pattern, and that they told their story of decline in a revelatory manner with little to back it up. But the great appeal of the book – like the appeal of Spengler’s bestseller – is easy to understand. Philosophy as Wahrsagerei makes good reading because fortune telling is exciting business. It appeals to the most deeply rooted mythical conception of all: fate.31 Even though human beings learn to think rationally, they are never immune to mythical forms of thought. They remain, Cassirer said, mythical animals. Cassirer once told of how he witnessed this himself: «In the first days, shortly after Hitler’s rise to power, I heard very often from the lips of educated people, of scholars or philosophers, the ominous words «History has spoken.» They were repeated time and again. Men who had by no means [been] in favour of the national-socialistic party suddenly changed their minds. The political success was regarded by them to be the incontrovertible proof of its «truth» and «right»[,] an irrevocable judgment of history, a decree of fate.»32 Cassirer, the Enlightenment philosopher, knew that history hadn’t and does not speak, that whatever happens results from a combination of intended and unintended causes and chance factors. Voter moods are fickle, and election results depend upon many things, but not on the decree of fate. This readiness to believe that «History has spoken» showed that more is involved in politics than rational decision-making, and it underlines the limits of a narrow conception of Enlightenment. Cassirer criticized the politicians of the Weimar Republic for this kind of narrow rationality. In a previously unpublished text he wrote: «The men of the Weimar Republic were charged by their enemies with an extreme »intellectualism«. This accusation was repeated over and over again; it became a common political slogan. As for me I feel inclined to convert this blame into its very contrary. To my mind it was a certain narrowness of

Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, 230 f. and the same: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 242. 31 «There is perhaps no older, no deeper, no more general mythical concept than the concept of Fate.» (Ernst Cassirer: The Myth of the State. Its Origin and Meaning. Third Part: The Myth of the twentieth century, in: ECN 9, 217. 32 Loc.cit., 219, note B. 30

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their own doctrine, a dogmatic prejudice that made them unable to see the adversary’s point. Their failure was not due to an excess of intellectualism; it was rather due to a lack of knowledge: to an inadequate interpretation of the political situation. In the political struggle it is always of vital importance to know the adversary and, to a certain extent, to enter into his views: to understand his way of thinking and arguing.»33 The key point in this criticism is the rejection of the «dogmatic prejudice, which made them unable to see the adversary’s point.» The leaders of the Weimar Republic were dogmatic insofar as they regarded the political sphere only in objective economic terms; they were helpless in the face of appeals to fate or Vorsehung. In the Myth of the State34 Cassirer warned that mythic thinking could only be controlled when the «critical forces of culture» were sufficient to offset it, and he mentions three kinds, the intellectual, ethical, and artistic. This is a classic philosophical triad. Much has been written about the fi rst two in Cassirer. But Cassirer’s revision of the Enlightenment Project can best be seen in his understanding of the third kind of critical forces, that he called «artistic.» In Die Philosophie der Aufklärung Cassirer outlines the Enlightenment vision of a clear-headed, tolerant and intelligent society based upon contracts and rights, which he detailed in a chapter entitled, «Law, State, and Society.» Cassirer made it clear over and over that for him ethics is genuinely normative and that moral claims possess universal validity and are not merely conventional.35 But he devotes considerably more space in his book on the Enlightenment to the discussion of religion than to natural law. The only religious doctrine that he treats in the chapter on religion is original sin, which has obvious practical social effects. The main focus of the chapter is tolerance, a key practice for the Enlightenment Project. Cassirer stresses in this chapter that for religion the great enemy is not doubt, but dogmatism36 , and that the radical opposite of belief is not doubt, but superstition. He holds up Diderot again, who called superstition a «worse insult» to God than atheism and who claimed that ignorance is not as far from truth as prejudice is.37 Toleration, Cassirer declares, is not laxity or indifference, but a sign of humility, in contrast to those who tolerate

33

Loc.cit., 201. Loc.cit., 222 and the same: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 294. 35 See the discussion of this point in Jeffrey Andrew Barash: «Was ist ein Symbol? Bemerkungen über Paul Ricoeurs kritische Stellungnahme zum Symbolbegriff bei Ernst Cassirer», in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 6, 2007, esp. 272. 36 Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment, 161 f. and the same: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 168. 37 Loc.cit., 162 and loc. cit., 169. 34

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only their own opinion and disallow all others.38 Cassirer leaves no doubt where he stands, agreeing explicitly with Bayle, that it is «impossible to justify the use of force for the sake of religion», to which Cassirer adds that «every literal interpretation of the Bible must therefore be rejected which commands us to act contrary to the first principles of morality». 39 The biblical story of Abraham’s readiness to sacrifice his son Isaac at God’s bidding is often regarded as marking the dividing line between philosophy and religion. Cassirer’s assertion that there can be no religious obligation to commit crimes40 , does not result from an appeal to a rationalistic standard in contrast to a religious one, but from his understanding of religion. Religion, Cassirer claims, is what led Enlightenment philosophy to discover the importance of history.41 Religion is not a given; it arises from myth. Sacrificial practices, including the biblical tale of Abraham, do not belong to religion, but to mythic thought. The longest discussion in Cassirer’s book Mythic Thought deals with sacrificial practices. Ritual murder is transformed in religion into bloodless purely symbolic rites. The historical metamorphosis of mythic thought is never finished, however, and it can reassert itself once it has been overcome. In this regard, Cassirer broke with the notion of progress so often associated with the Enlightenment. His notion of «progressive self-liberation» did not mean a constant «march of history.» In Cassirer’s «pluralistic universe» it referred to an unending task demanding constant, individual effort, in which reversions are always possible. In Die Philosophie der Aufklärung Cassirer deals most extensively by far with the topics of aesthetics and art. This overproportionally lengthy treatment has struck many commentators as odd, given the usual emphasis upon the place of science in discussions of the 18th century Enlightenment. This emphasis on aesthetics and art derives in part from the fact that the «pluralistic universe» of culture requires philosophy to recognize them as autonomous spheres. This occurred for the first time in philosophy during the Enlightenment, when Baumgarten, Lessing, Kant, and others treated aesthetics as an independent discipline. To a greater extent it is due to Cassirer’s collaboration with Aby Warburg and other art historians at Warburg’s ‹Kulturhistorische Bibliothek›. Cassirer’s investigations of the importance of expressive symbolism drew upon the resources in Warburg’s library and were aided by his associates there. But there are systematic reasons for this emphasis on aesthetics and art as well.

38 39 40 41

Loc.cit., 164 and loc. cit., 171. Loc.cit., 167 and loc. cit., 174. Loc.cit., 168 and loc. cit., 175. Loc.cit., 195 and loc. cit., 205.

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The hero of Cassirer’s chapter on art and aesthetics in Die Philosophie der Aufklärung is Lessing, because of whom, Cassirer claims, 18th century philosophy did not fall prey to the merely negative function of criticism regarding art, and converted criticism into a way to transform past achievements into something new. For Cassirer, art in general is a region in which – as he puts it in Die Philosophie der Aufklärung – the law of sufficient reason has no jurisdiction.42 Cassirer appears to read into 18th century aesthetics and art a distinctly 20th century emphasis upon novelty and creativity. But we find this tendency throughout the book. At every turn, Cassirer seeks to show that the Enlightenment stood for the rejection of dogmatism, openness to criticism, change, a plurality of perspectives, novelty and individuality. This required him to revise the 18th century appeal to ‹Reason› and the mechanistic view of nature usually associated with the historical Enlightenment. Cassirer’s «Age of Enlightenment» does not envision nature or culture on the model of clockwork but as permeated by individual differences and emerging novelty. It is no wonder then that art assumes such an important place in his revised version of the Enlightenment Project.43

IV) Cassirer’s revision of the Enlightenment resulted in two new attitudes. One concerned the constructive powers of thought, the other was critical. The first point can be illustrated by contrasting Cassirer’s conception of mind (as «symbolic») with more rationalisitic conceptions. The latter view was recently reiterated by the linguist and cognitive scientist Steven Pinker in his book How the Mind Works. In a discussion of language he referred to music as «auditory cheesecake».44 Cheesecake is pleasant because it contains sugar and fat but it lacks nutritional value, and so too, music stimulates pleasure centers in the brain but it lacks all cognitive value. By contrast, Cassirer – like Vico, Rousseau and Herder before him – took the view that music and dance provides the basis for language, that the ability to grasp patterns and group things together begins with pre-linguistic symbolisms and that these involve affective and motor processes.45

42

Loc.cit., 345 and loc. cit., 361. Art played a much greater role in Cassirer’s philosophy than has generally been recognized. This is shown in detail in Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007. 44 Steven Pinker: How the Mind Works, New York 1997, 534. 45 See e.g. Cassirer’s explication of the biological basis of symbolism in Ernst Cassirer: «The Problem of the Symbol as the Fundamental Problem of Philosophical 43

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Cassirer’s conception of symbolism made him aware of shortcomings of rationalistic conceptions of culture. Max Weber claimed that the modern era brought about the Entzauberung der Welt, the disenchantment of the world.46 According to Weber, rationalization gave rise to the belief that there are no secret and incalculable powers that could not be controlled. Whereas early humans had to seek to assuage the demons in the world by magic, control of the world now can be accomplished by technical means. Cassirer agreed with Weber’s view that technology supplants mythic thought in many ways, yet he did not think that this process is ever complete or irreversible. Exceptional situations still occur: dangers to society still arise, and – there is always death. The chief achievement of mythic thought was that it explained death, or as Cassirer put it, death was «explained away» by myth.47 These social and personal realities naturally involve states of heightened emotion. As Cassirer once put it: «Mythical thought is emotional thought: and emotional thought is much more easier moved by impossibilities than by mere possibilities. It does not calculate empirical facts and it does not balance possible effects. It gropes for something that is far beyond the usual course of events, the trivial ways of normal life.»48 Mythic thought therefore can never be replaced by rationality. When emotions are at their peak, mythic thought can take over. Cassirer applied this to the situation in Germany after the First World War: «German life after the [first world] war had reached a critical stage. It was in a state of highest tension. The whole gammut of human passions, from the lowest to the highest notes, burst forth. And all this, love and hatred, self-exaltation and dejection, pride and despondency had their share in the origin of the «myth of the twentieth century.» Deepest despair was abruptly followed

Anthropology», in: the same: The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 4: The Metaphysics of Symbolic Forms, New Haven 1996, 34–111, or Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 32–109. 46 «Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche». (Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985, 594). 47 Cassirer: The Myth of the State. Its Origin and Meaning. Third Part, ECN 9, 49 and the same: The Myth of the State, ECW 25, 50. 48 Cassirer: The Myth of the State. Its Origin and Meaning. Third Part, ECN 9, 196.

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by the most extravagant hopes. It did no longer suffice that Germany should regain her economic welfare or her former place among the European nations. She had to conquer and dominate the whole world. That was entirely in the character and spirit of mythical thought.»49

In The Myth of the State Cassirer claimed that myth is impervious to argument. Mythic beliefs do not tolerate contradiction because they equate certain specific ways of acting and believing with the good per se. Mythic classifications are based upon emotional valuations, and you cannot refute an emotion. This makes mythic thought impenetrable to argument; any contradiction to its dogmas is not merely wrong, it is «evil.» In the unpublished conclusion to The Myth of the State Cassirer declared that the thing is not just to understand these emotions or to argue against them, but to combat them – with other emotions. As he put it: «A passion can only be overcome by a stronger passion.»50 Cassirer agreed with Spinoza that in addition to the passive emotions there are also two active ones: fortitude and generosity. It is within our power to persevere and to be generous, and these emotions, he says, can liberate us «from all sorts of prejudices and superstitions». 51 Fortitude and generosity are the opposite emotions of those pervading mythic thought. A person with a mythic belief submits to it out of the emotions of fear and hope. The strength of mythic beliefs derives from the strength of these emotions and the dedication that they demand: believers must be completely devoid of doubt and totally serious in their belief. Mythic beliefs are strong because the feelings that accompany them take possession of the believer. But mythic beliefs have a weakness: they are not free. Combining the active emotions of fortitude and generosity is liberating because it results in a version of the principle of charity. We persevere in generously attributing meaningfulness to actions even when they seem irrational and alien to us. When philosophers of language today appeal to the principle of charity, they mean the attempt to construe another person’s words in such a way that makes sense to us. 52 Cassirer would have us apply the principle of charity to ways of thinking and acting that are wholly alien to us, even when this charity cannot be reciprocated. The emotionality accompanying mythic beliefs prohibits the believer from being charitable to another way of seeing things. This can lead to the most ferocious kinds of emotion and behaviour. But in one regard, Cassirer

49

Loc.cit., 196 f. Loc.cit., 224. 51 Loc.cit., 223. 52 See Willard Van Orman Quine: Ontological Relativity, in: the same: Ontological Relativity and other Essays, New York/London 1969, 46. 50

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believes, the emotions of fortitude and generosity are «even stronger»: they exemplify a free state of mind. Unlike animals, the human species is not necessarily limited to a single unitary world. The extent to which people make use of their different capacities, the more myriad the engendered emotions are, and the less subject they will be to the monotony of fear and submission. 53 Aestheticians traditionally judged tragedy to be a higher art form than comedy because of its more sublime emotions. According to Cassirer, the combination of these art forms is higher yet. A «coincidentia oppositorum» of emotions is the strongest of all. Just as doing something forbidden is all the more exciting because it combines attraction with repulsion, so too having a simultaneous vision of different perspectives liberates us from the limits and the solemnity of a single outlook. The emotional factors involved do not simply cancel one another out, leaving only indifference or ironic detachment. Instead, we feel a heightened awareness due to the «inner movement» of simultaneously recognizing the attractions of these different perspectives. This is how Cassirer characterizes emotionality in his late essays on aesthetics (see e.g. the essay on Thomas Manns Goethebild). The coincidence of opposite emotions generated from being able to uphold different perspectives has a liberating effect. This liberation is denied to mythic thought. One of the greatest failings of so-called post-modern thought was its neglect of emotion, which was an understandable omission in a philosophy that proclaimed the death of the subject. But it is a fatal mistake for a philosophy that purports to deal with political life. To understand Cassirer’s emphasis upon aesthetics and art in Die Philosophie der Aufklärung one needs to consult The Myth of the State. Mythic thought can only be held in check, Cassirer says there, as long as superior forces subdue it, and these include the imaginative or artistic as well as the intellectual and ethical. 54 The historical Enlightenment was the first epoch in philosophy to stress the autonomy of the aesthetic sphere and art, but its rationalistic presuppositions did not permit it to recognize the extent to which imagination and emotion influence how the mind works, let alone the need to understand mythic thought. Cultural technologies have changed radically since the 18th century, but human beings have not. Cassirer recognized that modern technology could be utilized to manufacture mythic thinking, and he saw the difficulties posed to a narrow rationalism when it

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For the Renaissance philosophy behind this conception see Cassirer’s discussion of Giordano Bruno’s «Heroici furori» in his «Nachruf auf Aby Warburg»: Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17, 373 f. 54 Cassirer: The Myth of the State. Its Origin and Meaning. Third Part, ECN 9, 222 and the same: The Myth of the State, ECW 25, 298.

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is faced with an opponent against which arguments are to no avail. To understand the nature of mythic thought requires closer scrutiny of the imagination and emotion than most 18th century philosophers were capable of. In the Philosophy of Symbolic Forms he showed that imagination and emotion have cognitive functions and are not simply irrational. In The Myth of the State Cassirer recognized the need to rethink how the aesthetic and artistic spheres contribute to Enlightenment. 55 This was one of the unfinished tasks in Cassirer’s philosophy, and it remains the most important unfinished task of the Enlightenment Project.

Bibliography Jeffrey Andrew Barash: «Was ist ein Symbol? Bemerkungen über Paul Ricoeurs kritische Stellungnahme zum Symbolbegriff bei Ernst Cassirer», in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 6, 2007 Ian Buruma: Murder in Amsterdam. The Death of Theo Van Gogh and the Limits of Tolerance, New York 2006 Nicolas Capaldi: The Enlightenment Project in the Analytic Conversation, Dordrecht 1998 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, 1997 ff. (ECW), Bd. 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Die Philosophie der Aufklärung (1932), in: ECW 15 – Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 – Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6

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In «The Educational Value of Art» Cassirer points out that what we see and feel is «not only my states, but my acts». (Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture, Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945, New Haven/Londen 1979, 215.) The ability to make us feel strong emotions and gain distance from them at the same time, Cassirer concludes, is Art’s unique contribution to the «liberation of the human mind.»

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– The Myth of the State. Its Origin and Meaning. Third Part: The Myth of the twentieth century in: ECN 9 – The Philosophy of the Enlightenment, Princeton 1951 – Philosophy of Symbolic Forms, vol. 2: Mythical Thought, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1955 – The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 3: The Phenomenology of Knowledge, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1957 – The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 4: The Metaphysics of Symbolic Forms, New Haven 1996 Terrence Deacon: The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain, New York 1997 Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007 Steven Pinker: How the Mind Works, New York 1997 Willard Van Orman Quine: «Ontological Relativity», in: the same: Ontological Relativity and other Essays, New York/London 1969 William Shakespeare: Hamlet Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bände, Wien/München 1922 Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture, Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945, New Haven/Londen 1979 Max Weber: «Wissenschaft als Beruf», in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985

Zweiter Zeil Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Oswald Schwemmer

Ernst Cassirer und die zwei Kulturen

I) Die zwei Kulturen und der Formbegriff Obwohl in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Intensivierung der Cassirer-Forschung stattgefunden hat, sind einige der zentralen Konzepte in der Philosophie Cassirers noch weitgehend unthematisiert geblieben. Eines dieser Themen ist Cassirers Sicht auf die seit Charles Percy Snow1 so genannten zwei Kulturen, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Literatur bzw. zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Dabei ist es für Cassirer selbst ein zentrales Projekt, Natur- und Geisteswissenschaften – diese zumeist paradigmatisch vertreten durch die Biologie und durch die Geschichtswissenschaft – in ihrem gemeinsamen Charakter als Wissenschaften zu verstehen. Das Überraschende bei diesem Projekt ist allerdings – und dies mag auch die bisher eher zögerliche Beschäftigung mit diesem »einheitswissenschaftlichen« Projekt Cassirers erklären2 –, daß es ein eher neutraler Begriff ist, mit dem Cassirer die Brücke schlagen will, auf der ein Weg die beiden Kulturen miteinander verbindet. Es ist dies der Begriff der Form. Dabei ist allerdings einzuräumen, daß Cassirer in seinen verschiedenen Formulierungen durchaus nicht eindeutig ist und vielfach eine genauere Klärung erst gar nicht unternimmt. Dies hängt mit einer stilistischen Eigenart zusammen, die sich durchgängig in seinem Werk zeigt. Sie besteht darin, daß Cassirer eher auf bestimmte endgültige Formulierungen, auf

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Charles Percy Snow stellte die These von den zwei Kulturen 1959 in der RedeLecture auf. Siehe dazu: Charles P. Snow: Die zwei Kulturen : Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, übers. von Grete u. Karl-Eberhardt Felten, Stuttgart 1967; Charles P. Snow: The two cultures and a second look, ed. and ann. by Kurt Schrey, Frankfurt/M./ Berlin/Bonn/München 1968. 2 Verdienstvoll sind hier die Studien über Cassirers Verständnis der Naturwissenschaften: Karl-Norbert Ihmig: Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹, Hamburg 1997; Enno Rudolph/Ion O. Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997; Christiane Schmitz-Rigal: Die Kunst des offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, Hamburg 2002. – Von großer Bedeutung für Cassirers Verständnis der zwei Kulturen ist der Lebensbegriff, der neben und zusammen mit dem Formbegriff dieses Verständnis begründet. Vgl. dazu Christian Möckel: Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Formeln, aus ist als auf deren schrittweise Erläuterung und Begründung. Diese Formeln – wir werden ihnen noch begegnen – tauchen immer wieder auf und werden von Cassirer als Beglaubigungsinstanzen herangezogen, die den Wahrheitsgehalt der diskutierten These garantieren sollen. Vor allem im Wortfeld des Dynamischen sammeln sich diese Formeln, wenn es um das Verhältnis zwischen biologischem und historischem Wissen geht. Da ist die Rede von den Energien des Geistes und den Potenzen des Lebens, vom Werden – sei es zur Form oder sei es zum Sein –, vom Wandel und vom Bewegenden, vom Gestalten und Erzeugen, von den dynamischen Prozessen des Lebens und der Dynamik des geistigen Werdens, von der Metamorphose im organischen Sein und zugleich im Sein der Kultur. Seine besondere Pointe gewinnt dieses Wortfeld durch seine Kontrastierung mit den statischen Momenten des Festen und Konstanten, der Permanenz und der Einheit der Gestalt. Indem dann beide, das Dynamische und das Statische – dies allerdings im Sinne eines Statischen im Dynamischen – aufeinander bezogen werden, ergibt sich als Drittes eine übergreifende Dynamik, die über eine Semantik der gespannten Bezüge charakterisiert wird: zunächst als Verhältnis der Polaritäten, der Spannungen, des Gegensatzes oder auch des Kampfes – und dann auch hier wieder in einer pointierenden Steigerung als ein Moment des Ausgleichs und des Gleichgewichts in diesen gespannten Bezügen. Cassirer selbst bringt dieses in sich gespannte Verhältnis dynamischer Entwicklungen mit dem Formbegriff zusammen: »Nur in […] dynamischen Gleichnissen, nicht in irgendwelchen statischen Bildern läßt sich die Form als werdende Form, als γένεσιϚ εἶϚ οὖσιαν beschreiben. Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ›natura naturata‹ und der ›natura naturans‹ geprägt hat, so muß die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ›forma formans‹ und der ›forma formata‹ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ›forma formans‹, die zur ›forma formata‹ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muß, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ›forma formans‹ wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.«3

Es ist diese Rede von dem ständig sich erneuernden Wechselverhältnis zwischen der forma formans und der forma formata, von einem dynamischen

Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, 17 f. 3

Schwemmer · Ernst Cassirer und die zwei Kulturen

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Spannungsverhältnis von aufeinander bezogenen Polaritäten, die uns den Schlüssel zu Cassirers Formbegriff liefert. Dieser Formbegriff steht für ein Formgeschehen, für den ständigen Prozeß einer immer neuen Formbildung, den ständigen Wechsel von Formbefestigung und Formerneuerung. Wie bereits gesagt, sieht Cassirer dieses dynamische Verhältnis von gewordener Form und werdender Form nicht nur als kulturelle Prozeßform, sondern auch als die Charakteristik aller Lebensprozesse. Dem entspricht dann auch, daß Cassirer durchgängig in seinem Werk Geist und Leben in einen strukturellen Zusammenhang bringt. So bemerkt Cassirer in einer kritischen Bemerkung zu Linné, daß »das eigentliche Leben der Natur« im »Übergang [sc. der Arten], in ihrer Entwicklung und Umbildung« bestehe.4 Dieser Gedanke der Formung und Umformung charakterisiert – wie Christian Möckel in seiner umfassenden Studie über das Urphänomen des Lebens eingehend darstellt5 – das Leben überhaupt und nicht nur das Leben des Geistes. Und auch, was die innere Gliederung, die »innere Form« des Lebens angeht, finden sich zu biologischen Lebensphänomenen und historischen Sinnverhältnissen gleichartige Charakterisierungen. So stellt Cassirer im Anschluß an Cuvier für die Erforschung biologischer »Strukturverhältnisse« fest: »Alles Sein ist durchgängig gegliedert; es ist demgemäß nicht nur eine zufällige Verbindung von Teilen, sondern ein geschlossener Zusammenhang, dem eine eigentümliche Art von Notwendigkeit anhaftet. Ist es uns einmal gelungen, die Haupt- und Grundtypen der Lebewesen zu erkennen […], so wissen wir damit nicht nur, was tatsächlich existiert, sondern auch was miteinander bestehen kann und nicht bestehen kann. […] Denn alles Einzelne ist hier aufeinander bezogen und greift ständig ineinander ein.«6

II) Form in der Welt des Lebens Formbildung und Gerichtetheit auf Formbildung, so können wir sagen, ist ein Charakteristikum von Leben überhaupt: »›Leben‹ ist nicht blinder Drang; es ist […] ›Wille zur Form‹, Sehnsucht nach Form«.7

Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (1932), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 15, Hamburg 2003, 80. 5 Siehe Möckel: Urphänomen des Lebens. 6 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5, 150. 7 Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 214. – Vgl. auch die vorangehende 4

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Wie sollen wir diesen Anthropomorphismus verstehen? Wie sind die Formelwendungen »Wille zur Form« und »Sehnsucht nach Form« aufzulösen, ohne sie in das semantische Abseits verunglückter Metaphern abzuschieben? Hilfreich für eine Antwort scheint hier eine Unterscheidung, die Cassirer für verschiedene Wissenstypen anführt, und ein besonderes Charakteristikum der Formbildung, die den Begriff der Form oder noch deutlicher den der »inneren Form« in seiner Bedeutung für unsere Darstellung der Weltwirklichkeit erst verständlich macht. Zunächst zur Unterscheidung zwischen Ursachen- und Formwissenschaft oder auch Gesetzes- und Strukturwissenschaft. Mit großer Selbstverständlichkeit spricht Cassirer häufig davon, daß es den Naturwissenschaften um die Erforschung von Ursachen und die Erkenntnis von Gesetzen geht. Dabei sind diese Formulierungen durchaus nicht eindeutig. Denn auch eine Struktur kann als Ursache aufgefaßt werden, und Gesetze können zwar Verlaufsgesetze, aber auch Strukturgesetze sein. Was Cassirer aber, wie der jeweilige Kontext zeigt und er selbst oft auch deutlich macht, meint, ist die Gegenüberstellung von Ereignissen und Strukturen. Eine Ursache ist für ihn ein Ereignis, das einen bestimmten Ablauf auslöst, an dessen Ende dann die Wirkung steht. Ein Gesetz wäre dann erkennbar, wenn dieser Ablauf sich immer wieder ereignete und damit jeweils als Fall dieses allgemeingültigen Gesetzes verstehen ließe. Tatsächlich läßt sich ein solcher Ablauf aber nur unter genau definierbaren Bedingungen reproduzieren. Wir müssen ihn gleichsam aus der Welt heraus isolieren, damit keine unerwarteten oder unkontrollierbaren Einflüsse auf ihn einwirken können. Wir tun dies gewöhnlich durch den Bau von Laboren, von im wörtlichen Sinne abgedichteten Räumen, in denen die immer gleichen Bedingungen oder aber auch kontrollierte Abweichungen von ihnen für bestimmte Abläufe hergestellt werden können. Eben dies geschieht, wie auch Cassirer sagt, im »physikalische[n] Experiment, das die eigentliche und einzig legitime Grundlage aller Gesetzesaussagen ist.« 8 Die Erfolgsgeschichte der klassischen Mechanik verdankt sich eben Formulierung: »Das blosse Leben, das nichts anderes wäre als das Leben, gehört jedenfalls nicht zu den psychischen ›Phaenomenen‹ – es ist eine metaphysische Konstruktion. Nimmt man das Leben als reines Phaenomen, so hat man an ihm immer schon die intentionale Gerichtetheit – so hat man also an ihm die ›Idee‹, auf die es ›hinzielt‹[.] Dies ist der Sinn der Platonischen Eros-Lehre – Das Leben ist nicht blinder Wille, Trieb[,] es ist ἔρωϚ, u[nd] dieser ἔρωϚ greift über sich selbst hinaus – er begehrt nicht blind, sondern er ›sehnt sich‹ nach der Form […]« (A. a. O., 215). 8 »Der Anspruch, den das Experiment in sich schließt, besteht ja eben darin, an eine Feststellung, die an und für sich auf ein individuelles Hier und Jetzt bezogen und an dasselbe gebunden ist, eine Folgerung anknüpfen zu dürfen, die von dieser Schranke frei ist – die übertragbar ist auf andere Raum- und Zeitstellen. Ein Versuch, der nur die Vorgänge in einem bestimmten Laboratorium und im Augenblick der Ablesung bestimm-

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dieser Konstruktion und ihrer auch alltagstechnischen Realisierung. Die auf dieser Isolationsmethode beruhenden Geräte – von den Verbrennungsmotoren bis zu unseren Kühlaggregaten – sind eine Art von alltäglichen Gebrauchslaboren, die nicht mehr funktionieren, wenn ihre Abdichtung gegen die Umwelt schadhaft geworden ist. Und damit sind wir bei der Betrachtung von Strukturen. Alle Verlaufsgesetze, die wir kennen, gelten nur unter bestimmten Randbedingungen. Wenn die Temperatur, der Luftdruck usw. zu hoch oder zu niedrig sind, lassen sich bestimmte Abläufe nicht mehr herstellen. Diese Randbedingungen ergeben sich aus den Strukturen der jeweiligen Umgebungen, in denen sie stattfinden. In organischen Systemen dagegen finden wir interne Veränderungen, die aus sich heraus bzw. in sich selbst, also in ihrer inneren Gliederung Neues und vielfach Unerwartetes oder Unkontrollierbares hervorbringen. Und im strengen Sinne isolieren lassen sich Lebensprozesse auch nicht. Leben ist nur möglich im ständigen und vielfältigen Austausch mit seiner Umwelt. Leben ist nur möglich, so kann man es auch sagen, als ein System von Systemen. Und zwar von Systemen, die sich in sich selbst organisieren und wechselseitig aufeinander einwirken. Und all dies wiederum in Wechselwirkung mit ihren Umwelten. In diesen komplexen Systemzusammenhängen sind auch anorganische Strukturen integriert. Aber als Teile von Lebensprozessen sind sie ständig sich verändernden Randbedingungen ausgesetzt und so auch nicht nur in der ihnen eigenen Kausalität unter isolierten »Normalbedingungen« darstellbar, sondern – in der Sprache Cassirers – als Elemente eines umfassenden komplexen Formverhältnisses. Denn eben dies ist für Cassirer eine Form: eine sich selbst gliedernde Struktur bzw. ein solches System. Beide Termini verwendet Cassirer übrigens auch selbst.

ter Instrumente beschreiben wollte, hätte methodologisch offenbar keinerlei Wert: Er würde lediglich einen singulären Fall bezeichnen, der sich der Kette der stetigen physikalischen Beobachtung und Schlußfolgerung nicht einreihen ließe. Für diese Einreihung bedarf es der Voraussetzung, daß wir das, was im Einzelexperiment festgestellt wurde, von Ort zu Ort, von Augenblick zu Augenblick übertragen, daß wir es gewissermaßen frei verschieben können, ohne dadurch etwas an der ›Natur‹, an der Wahrheit der Feststellung zu ändern. Der fragwürdige und prekäre Schluß von ›einigen‹ Fällen auf ›viele‹, von ›vielen‹ auf ›alle‹ tritt hierbei nirgends auf: Denn in dem, was das Experiment aussagt, wird nicht sowohl von einem Hier auf ein Nicht-Hier, von einem Jetzt auf ein Nicht-Jetzt geschlossen, sondern es wird bewußt über den Gesichtspunkt des bloßen Hier und Jetzt hinausgegangen. Es findet nicht eine Erweiterung innerhalb der räumlich-zeitlichen Sphäre, sondern gewissermaßen eine Aufhebung dieser gesamten Sphäre, es findet der Fortgang in eine neue Dimension statt: Und diese Änderung der Dimension ist es, die die Gesetzesaussagen von den bloßen Maßaussagen unterscheidet.« (Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937), in: ECW 19, 52).

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Kehren wir damit zurück zu der Rätselformel vom Leben als Wille zur oder Sehnsucht nach Form. Zunächst dieses: Einen Willen zu etwas oder eine Sehnsucht nach eben diesem kann man nur haben, wenn dieses Gewollte oder Ersehnte in einer Differenz zum Wollenden oder Sehnenden steht. Es muß anders sein als er. Und tatsächlich redet Cassirer auch allgemein von der »›Andersheit‹ der Form«: »Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst verbleibt. Es muß sich selber Form geben; denn eben in dieser ›Andersheit‹ der Form gewinnt es, wenn nicht seine Wirklichkeit, so doch erst seine ›Sichtigkeit‹.«9

Leben in seiner »Sichtigkeit«, das ist Leben, das sich selbst erfaßt, das sich auf sich selbst bezieht und darin gestaltet: das darin seine Form gewinnt. Diese Form geht nicht aus der »Energie der reinen Lebensbewegung […], wo diese sich noch ganz selbst überlassen ist«, hervor, sondern entwickelt sich erst im Widerstand zu ihr: »Die Formen, in denen sich das Leben äußert und vermöge deren es seine ›objektive‹ Gestalt gewinnt, bedeuten für dasselbe ebensowohl Widerstand, wie sie seinen unentbehrlichen Widerhalt bezeichnen. […] Die scheinbare Gegenkraft wird damit selber zum Impuls der Gesamtbewegung«.10

Was Cassirer hier als ein allgemeines Verhältnis des Lebens beschreibt, kann man als die reflexive Dynamik der Selbstorganisation charakterisieren: Durch die Etablierung von – wie Arnold Gehlen formuliert – »Kreisprozessen im Umgang«,11 nämlich in Austausch- und Wechselwirkungsbeziehungen mit den jeweiligen Umgebungen, werden neue Prozeßstrukturen etabliert. Neu sind sie in dem Sinne, daß sie Eigenschaften besitzen, die keinem ihrer Elemente zukommen: neu also im Sinne der Emergenz. Aber es geht Cassirer nicht bloß um das Neue als solches. Es geht ihm vor allem darum, deutlich zu machen, daß sich die neuen Eigenschaften einer internen Eigenentwicklung verdanken: einer Entwicklung, die nicht durch eine voraussteuernde Instanz hervorgebracht und gelenkt wird, sondern die sich in der wechselseitigen Anpassung der Elemente aneinander ergibt. Cassirer spricht daher auch – und dies im ausdrücklichen Bezug

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 45. 10 A. a. O., 46. 11 So in Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1986, 131 ff. 9

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auf Jakob von Uexküll12 – von der »Autonomie des Lebens«. Leben besteht darin, sich selbst eine Form, eine innere Form, zu geben. Und diese Form besitzt wiederum ein Eigensein, das sich – sozusagen im freien Spiel der wirkenden Kräfte – aus seinem Formbildungspotential unter den gegebenen Umgebungsverhältnissen ergibt. In diesem Sinne ist Leben ein ständiger Formbildungsprozeß, ein sich selbst Beziehen auf mögliche Formen und dadurch sich selbst Formen. Eben dies wäre der Übersetzungsversuch der Cassirerschen Formel vom Leben als dem Willen zur Form und der Sehnsucht nach Form. Durch ihre innere Gliederung bewahren die Formen des Lebens ihr Eigensein und damit auch ihre unaufhebbare »Andersheit« gegenüber dem reinen Ablauf der Lebensprozesse. Leben geht daher niemals in einer einmal erreichten Form auf, sondern bleibt diese Bezugswirklichkeit, diese – wie man auch sagen könnte – relationale Realität, die sich im Vollzug ihrer Bezüge zugleich aufbaut und verändert. Eben dieses dynamische Verhältnis war es, das Cassirer als »Wechselspiel« zwischen forma formans und forma formata darstellte und dann »als Pendelschlag des geistigen Lebens selbst«, als das, »was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur« ausmacht. Lassen sich also Sinnverhältnisse, um die es in den Geisteswissenschaften geht, in ihrer Struktur wie oder sogar als Lebensprozesse darstellen?

III) Form und Sinn Tatsächlich weisen viele Formulierungen Cassirers in diese Richtung. Immer wieder stellt er die Prozeßform – die Ausbildung und Befestigung einer Form, die Umformung dieser Form zu einer neuen Form, deren Befestigung und erneute Umformung, die »Festigkeit und innere Wandlungsfähigkeit« einer Gestalt13 usw. – als solche in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Und immer wieder finden sich dann die Wendungen, die die Lebendigkeit einer Gestalt14 als Charakteristikum der geistigen Welt herausstellen, die von ei-

Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 28. – Sowohl in der englischen Originalausgabe als auch in der deutschen Übersetzung Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, 47 wird Uexküll falsch als Johannes von Uexküll zitiert. 13 Ernst Cassirer: Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte (1925–1944), in: ECN 10, 26. 14 Z. B. Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, 316; 317; ders.: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 301; ders.: Aufsätze und kleinere Schriften (1902–1921), in: ECW 9, 317; 336; ders.: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 224; 226. 12

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nem »lebendige[n] Gewebe des Geistes«15, von einer »lebendigen Wissenschaft«16 oder auch einer »lebendige[n] Heuristik«17 und ähnlichem reden. Auf der anderen Seite hebt Cassirer allerdings auch immer wieder die Besonderheit der geistigen Lebendigkeit im Unterschied zur organischen Lebendigkeit hervor. Wo es im organischen Leben um Wirkverhältnisse geht, geht es im geistigen Leben um Sinnverhältnisse. Was sind Sinnverhältnisse? Oder einfacher: Was ist Sinn? Über Cassirers eigene Formulierungen hinaus gedacht läßt sich Sinn über den Zusammenhang von Form und Sinn verstehen: Wir sehen eine Form, ein Liniengefüge oder ein Farbengeflecht, eine Wölbung oder eine Kante. Aber wir sehen nicht nur diese Form. Wir sehen sie als Verweisungsmomente auf ihr Auftreten auch in anderen Konstellationen. Die Form in einer Rockfalte und in der Kante eines Felsens, in einem Nasenrücken – den das Englische übrigens als »bridge of the nose« sieht – und im Sturzflug einer Seeschwalbe: die Form in der Vielfalt ihres Auftretens schafft ein Netz von Verweisungen, sozusagen Verwandtschaftsbeziehungen der Formen, die unsere Sehwelt zusammenhalten. Aber nicht nur das. Über diese Verweisungsverhältnisse bildet sich für uns Sinn aus: sichtbarer Sinn. Denn Sinn ist in seiner Grundform Verweisung, Zusammenhang, Ordnung. Sinn wird durch Form in die Welt gebracht, weil Form Verweisung, Zusammenhang und Ordnung ermöglicht. Sinn entsteht in der Formwahrnehmung. Dieses Verhältnis von Form und Sinn überträgt Cassirer auf das Verhältnis von Form und Leben. Wie Sinn in Verweisungsverhältnissen entsteht, so entsteht Leben in Korrelationsprozessen. Beide – Verweisungsverhältnisse und Korrelationsprozesse – sind Formen reflexiver Selbstbezüge: einmal als symbolische Verweisungen in einem Formkreis und zum anderen als reale, d. h. energetische, Prozeßkoppelungen in einem Funktionskreis. Man kann dabei das »Herauswachsen« eines Sinnverhältnisses aus einem Wirkverhältnis durch besondere formfähige und formbildende Wirkverhältnisse oder auch – mit der Gehlenschen Formulierung – durch »Kreisprozesse im Umgang« verdeutlichen. Das Ereignis des Wahrnehmens wird zu einer Form, wenn sich im Wahrnehmen korrespondierende Momente entwickeln, die aufeinander verweisen. Die Linie, die sich krümmt, der Farbtupfer, der sich ausbreitet, der Ton, der sich abschwächt – sie alle sind dynamische Spannungen, die sich für unsere Wahrnehmung als ein Gefüge von inneren Verweisungen

15 16

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 6. Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN

5, 91. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5, 272. 17

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anbieten. Diese Verweisungen, die sich im Wahrnehmen ausbilden, sind zugleich eine Art von Führungslinien für unser Wahrnehmen. In diesem Geführtwerden baut sich unser Wahrnehmen zugleich auf und erscheint ihm so als die Form eines Wahrgenommenen. Ernst Cassirer bringt diesen Zusammenhang auf die Formel: »Die ›Gestalt‹ der Welt ›ist‹ nicht praeexistent, um nachher sichtbar gemacht zu werden – sondern im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt«.18

Will man solche korrespondierenden Verweisungen in sich, in ihrer inneren Form also, darstellen, so kann man auf verschiedene Arten von Wechselverhältnissen hinweisen, auf das Verhältnis der Spiegelung oder der Resonanz, der Variation oder überhaupt des Rückbezugs. Sie – diese korrespondierenden Verweisungen – sind es, die etwas in eine Form bringen. Mit dieser Form wird ein neues Sein in die Welt gebracht, ein Sein aus eigenem Recht, das von nun an eine Identität besitzt. Man kann sich auf dieses identifizierbare Sein als dieses oder jenes beziehen. Nehmen wir als Beispiel einen Ton und einen Klang. Erst wenn die Schwingungsereignisse sich in einer periodischen Ordnung aufeinander beziehen, haben wir es nicht nur mit Geräuschen oder einem ungeordneten und nur noch in seiner Intensität identifizierbaren Rauschen zu tun. Wir hören vielmehr einen Ton, den wir in seiner Höhe und Lautstärke identifizieren können. Und wenn verschiedene periodische Schwingungsfolgen sich ihrerseits in die Wechselbeziehung von Teilschwingungen und umfassenden Grundschwingungen ordnen, hören wir einen Klang. Töne und Klänge sind identifizierbar, weil sie unser Hören in eine innere Ordnung von zueinander führenden und damit aufeinander verweisenden Hörereignissen hineinziehen. Dieses Wechselverhältnis bildet einen Formkreis, der von unserer Wahrnehmung immer wieder durchlaufen werden und in dem unsere Wahrnehmung, ihn immer wieder durchlaufend, verbleiben kann. Sowohl unser Hören als auch das Gehörte ist damit in eine Form gebracht. Wir hören etwas – nämlich Schallereignisse – als etwas – nämlich als bestimmte, d. h. in ihren Tonhöhen oder Intervallen, in ihrer Lautstärke und Klangfarbe identifizierbare, Töne oder Klänge. Wir hören in sich gegliederte Ton- und Klangformen und Klangformverhältnisse. Wir hören akustische Sinnverhältnisse. Und diese wiederum sind sich aus sich selbst in der Wahrnehmung herausbildende Formen. Noch einmal pars pro toto mit Cassirers eigener Formulierung gesagt: »im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt«.19

18 19

Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 249. Ebd.

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IV) Formen des Wollens und Wirkens Dieses Sich-Bilden der Gestalt, der Form, macht die Form zu einem Eigenen, das nicht – obzwar es aus der Welt- und Selbsterfassung hervorgeht – unter der Herrschaft des subjektiven Erfassens steht. Wenn es auch durch die Beteiligung dieses Erfassens entstehen kann, gewinnt es doch, einmal entstanden, seine eigene Dynamik, die sich in einer kollektiven Formgleichheit der einmal entstandenen Formverhältnisse auswirkt. Auf diese Weise entstehen nicht nur die Arten und ihre Merkmale im Bereich des Lebendigen, sondern es stabilisieren sich auch in den historischen Sinnverhältnissen kollektive Formen des Wollens und Wirkens. Auch in dieser historischen Welt finden wir daher kollektive Formen, die zwar in den konkreten Beziehungen der Menschen zueinander gründen, dann aber zu bestimmten sich selbst etablierenden und tradierenden Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führen. Dabei muß aber ein entscheidender Unterschied zu der Formbildung im Bereich des organischen Lebens festgehalten werden: ein Unterschied, auf den der Sache nach schon bei der Darstellung des Zusammenhang zwischen Form und Sinn hinzuweisen war. Denn Sinn im Unterschied zu Leben konnte nur durch ein Erfassen von Verweisungen und damit von Formen entstehen, das diese Verweisungen und Formen auch unabhängig vom Wechsel der Kontexte und Situationen, in denen sie auftauchen, identifiziert. Eben diese situations- und kontextübergreifende Wahrnehmung bietet ja erst die Möglichkeit zum Aufbau eines Beziehungsnetzes zwischen den Formen. Die Formen, so können wir auch sagen, müssen in sich und als sie selbst erfaßt werden, um Sinn entstehen zu lassen. Diese die Formen verselbständigende Erfassung ist ein Charakteristikum der menschlichen Wahrnehmung und wird von Cassirer in seinem Essay on Man bei seiner Nachzeichnung des Weges »From Animal Reactions to Human Responses« auch entsprechend hervorgehoben. 20 Mit dieser Verselbständigung der Form wird diese zum immer wieder identifizierbaren Ausgangs- und Endpunkt von Verweisungen von Formen auf Formen. Kurz: Formen repräsentieren und schaffen damit ein Netz von Repräsentationsbeziehungen, ein, wie Cassirer sagt, »lebendige[s] Gewebe des Geistes«. 21 Mit Cassirer können wir dann schließlich auch sagen: Sie schaffen ein Gewebe von Symbolen, von gesellschaftlich sedimentierten Repräsentationsformen. In diesem Gewebe können sich Anziehungs- und Sammlungspunkte, Gravitations- und Assoziationsfelder ausbilden, die sich zu »Ideen«, zu

20 21

Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 32–47. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 6.

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kollektiven Gedankenverknüpfungen, verfestigen und dadurch zu Faktoren der kollektiven Weltorientierung entwickeln. So stellt Cassirer denn auch fest: »Die verschiedenen Staaten, die grossen Mächte, die sich jeweilig in einer bestimmten historischen Epoche gegenüberstehen – die sich die Herrschaft streitig machen – die mit einander um den ›historischen Lebensraum‹ ringen – sie repraesentieren je eine bestimmte ›Idee‹, d. h. sie verkörpern eine bestimme Richtung des Herrschaftswillens – Diese Richtung liegt all ihren Einzelaktionen zu Grunde – und es ist die Kunst des Historikers[,] sie sichtbar zu machen – sie in den einzelnen, empirisch noch so zufälligen, Entschlüssen und Aktionen der ›großen Mächte‹ wiederzuerkennen als das eigentlich beseelende Grundmotiv, was die einzelnen Akte davor bewahrt, zu zerflattern, was sie zu einer (teleologischen) Einheit zusammenschließt«22

Er spricht in diesen Zusammenhang auch von einem »Gesamtwollen«, für das der Einzelakt »symbolisch« sei.23 Dieses »Gesamtwollen« kommt durch »Kräfte« zustande, »die in den einzelnen Taten ihren Ausdruck und Ausbruch gefunden heben«, durch »ganz bestimmte gerichtete Kraftquellen«, die er »gewissermassen als gewaltig aufgespeicherte Energien, als ›vektorielle‹ Größen« ansieht.24 Fragt man, wie dieses Verhältnis zwischen den allgemein wirkenden »Kräften« und dem Wollen der Einzelnen näherhin zu denken ist, so verweist Cassirer auf die »Einheit der Motivation«: »Das waere sodann eine neue, erst wahrhaft ›philosophische‹ Auffassung der Geschichte: philosophisch, weil sie nicht auf die Mannigfaltigkeit der Dinge, Ereignisse, Vorgänge, Taten gerichtet ist, – sondern für die Mannigfaltigkeit eine ›Einheit‹, als den ›Grund‹ des Mannigfaltigen ansetzt und voraussetzt – eine Einheit, die in nichts anderem gefunden werden kann, als in der Einheit der Motivation«.25

Zwei Seiten dieser »Einheit der Motivation« scheinen hier wesentlich und in ihrer Verschränkung wirksam zu sein. Einmal der Charakter der Motivation als solcher, daß mit ihr nämlich die »inneren Kräfte« der Motivation, die Cassirer auch als »Triebe« sieht, Vorstellungen erregen und erst über diese Vorstellungen »auf unser Handeln einwirken und den Lauf dieses Handelns wesentlich lenken«. Zum anderen ist dabei ein entscheidender Zug dieses Wirkzusammenhangs, daß sich die »Vorstellungsmassen verdichten«,26 daß sie sich zu einer Einheit zusammenschließen.

22 23 24 25 26

Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 55. A. a. O., 56. A. a. O., 57. A. a. O., 59 f. A. a. O., 62.

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V) Form- und Stilbegriffe Es ist diese Formeinheit, diese einheitliche Form verschiedener Formverhältnisse, die für Cassirer die kollektive Wirkungsweise bestimmter Motive und Vorstellungen ermöglicht. Wie aber ist die Entstehung einer solchen Formeinheit zu verstehen, und wie ist diese Einheit der Formen zu charakterisieren? Cassirer selbst erläutert sein Verständnis dieser Formeinheit noch dadurch, daß er in ihr – und dies vor allem in seinen nachgelassenen Manuskripten – im Anschluß an Max Weber einen »Idealtypus«27 oder einen »Stil-Charakter«28 sieht, der durch »Stilbegriffe«29 darzustellen ist. Vor allem in seinen Manuskripten zur Kulturphilosophie finden sich Cassirers Überlegungen zu den Stilbegriffen. So erklärt er: »Und die gesamte Kulturwissensch[aft] besteht zuletzt in der Gewinnung solcher Stilbegriffe, durch deren fortschreitende Anwendung wir ein individuelles Gebilde bestimmen – als dieser oder jener Epoche dieser oder jener Kultur[,] diesem oder jenem Künstler ›zugehörig‹ erkennen können – Diese Zugehörigkeit gibt dann die synthet[ische] Einheit des Mannigfaltigen, die wir suchen: wir ordnen die Phaenomene in Reihen – und durch diese Form der ›Reihung‹ treten sie für uns zusammen und auseinander – wir unterscheiden und verbinden und dieses Unterscheid[en] und Verbinden kann, wie die Entwickl[ung] der Wissensch[aften] zeigt, zu immer grösserer Schärfe und Deutlichkeit gebracht werden«.30

Ein »individuelles Gebilde« soll durch Stilbegriffe charakterisiert werden, wobei diese Individualität die einer Epoche, einer Kultur oder eines Künstlers sein kann. Das »Bestimmen« von Individualität wird damit zur Hauptaufgabe der Kulturwissenschaft erklärt. Es ist aber, um dies noch einmal zu wiederholen, nicht die Individualität von Ereignissen, um die es hier geht, sondern die Individualität von Formen und damit von Sinnverhältnis-

27

A. a. O., 71 f.; 93; 169. – »Man kann von Montesquieu sagen, daß er der erste Denker ist, der den Gedanken des historischen ›Idealtypus‹ gefaßt und der ihn klar und sicher ausgeprägt hat. Der »Geist der Gesetze« ist eine politische und soziologische Typenlehre. Was hier gezeigt und was streng bewiesen werden soll, ist dies, daß die politischen Gebilde, die wir mit dem Namen der Republik, der Aristokratie, der Monarchie, des Despotismus bezeichnen, keine bloßen Aggregate sind, die aus bunt zusammengewürfelten Einzelheiten bestehen, sondern daß jedes von ihnen gewissermaßen präformiert, daß es Ausdruck einer bestimmten Struktur ist.« (Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 220). 28 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 197. 29 A. a. O., 232 (»Stilbegriffe«, die sich auf »dauernde Tendenzen der Gestaltung« beziehen); 236 (»Die Begriffe, die wir brauchen, sind immer Stilbegriffe«); Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 165; ders.: Kulturphilosophie, ECN 5, 103 (»Alle Kulturbegriffe sind Stilbegriffe«); 122; 133; 166; 168 f.; 171; 222; 230; 245. 30 Cassirer: Kulturphilosophie, ECN 5, 168 f.

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sen, also kulturellen bzw. geistigen Sachverhalten. Zu begreifen oder – wie Cassirer formuliert – zu »bestimmen« ist also die individuelle Form von Sinnverhältnissen. Und dies solle am Ende »zu immer grösserer Schärfe und Deutlichkeit« des Begreifens führen. Der Weg allerdings, den Cassirer zu diesem Ziel angibt, erscheint einem eher mathematischen Denken zu entsprechen als einer Phänomenologie der Kultur. Denn in welchem Sinn eine Reihenbildung hier hilfreich sein kann, bleibt schwer bis unverständlich. Ich sehe darin ein Relikt aus der Zeit der Arbeit an »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«31, das Cassirer bis in seine Philosophie der symbolischen Formen und noch spätere Schriften hinein immer wieder aufgreift. Tatsächlich führt aber auch Cassirer selbst viel häufiger als die Reihenbildung den Idealtypus Max Webers an, um die Bildung von Stilbegriffen zu erläutern. Und der Idealtypus läßt sich als eine Konfiguration verschiedener Denk- und Handlungsformen verstehen, die als ein charakteristisches Ganzes einzelne Handlungen und Gedanken und auch einzelne Entwicklungen – und in diesem Sinne dann auch »Reihen« – von Handlungen und Gedanken zu erklären erlaubt. Daß jede solche Erklärung und damit auch die Konstruktion von idealtypischen Form- und Sinnverhältnissen provisorisch bleibt und sich in ihrem Gebrauch ständig ändert, ist für Cassirer dabei kein Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Stilbegriffe: »Alle Gestaltbegriffe, Stilbegriffe sind provisorisch, und ständig vervollkommnungsfähig – aber das ist kein Einwand gegen ihre ›Wissenschaftlichkeit‹[; im Gegenteil: dieser provisorische Charakter ist auch in der Physik nie zu überwinden. Auch die Gesetzesbegriffe sind ›offene‹ Systeme[,] keine ›geschlossenen‹ Systeme von Phaenomenen – hierin vermögen wir also keinen Mangel an Exaktheit in den kulturwiss[enschaftlichen] Gestaltbegriffe[n] zu erkennen und anzuerkennen – Und auch der ›Objektivierungsprozess‹ vollzieht sich in beiden Fällen ganz analog«.32

Interessant erscheint hier der Vergleich ausgerechnet mit der Physik und nicht, wie meist sonst, mit der Biologie. Die Gesetze allerdings, um die es hier geht, sind keine Gesetze von reibungsfreien Verläufen womöglich noch im Vakuum eines abgedichteten Laborraumes. Die Gesetze, um die es hier geht, schließen auch die Umgebungen der Verläufe ein, also deren Randbedingungen, mit deren Veränderung sich auch die Verlaufsformen ändern können. Sie formulieren damit Strukturverhältnisse und sind so in der Tat »offene Systeme« und damit Formbegriffe. Cassirer kann hier auf

Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik (1910,1923), in: ECW 6. 32 Cassirer: Kulturphilosophie, ECN 5, 169. 31

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seine Studien zu »Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik«33 zurückgreifen und sich auf einen weiteren – auch die Betrachtung der Randbedingungen umfassenden – Physikbegriff beziehen als in seinen frühen Schriften. In dieser erweiterten Perspektive kommt den Form- und Stilbegriffen sogar die fundierende Rolle zu, die Wissenschaft wie die Wissenschaftlichkeit überhaupt und darüber hinaus, wie es scheint, auch das nichtwissenschaftliche Wissen auf den Begriff zu bringen. Zwar formuliert Cassirer vorsichtiger: »Was wir bedürfen ist, wie mir scheint, eine eigene Theorie der Form- und Stilbegriffe, die sowohl der Theorie der mathematisch-physikalischen Begriffe, als auch der Theorie der historischen Begriffe auf der andern Seite, gleichberechtigt zur Seite treten kann.«34

Aber wenn sowohl die Kulturwissenschaft und damit auch die historische Forschung auf der einen Seite und die Naturwissenschaften einschließlich der Physik auf der anderen Seite Form- und Stilbegriffe benötigen, weil sie »offene Systeme« sind, wird die eingeforderte Theorie der Form- und Stilbegriffe zur Grundlagendisziplin für beide Wissenschaftszweige bzw. -kulturen. Wie sollen wir nun aber die Entstehung einer solchen Formeinheit verstehen? VI) Form als dynamisches Korrespondenzverhältnis Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, auf die Form- und damit Erkenntnisbildung in der historischen Forschung, so wie Cassirer sie sieht, einzugehen. Diesen Erkenntnisprozeß stellt Cassirer als einen Prozeß »wechselseitiger Formung« von forschendem Subjekt und erforschter Geschichte dar: »›Geschichte‹ ist ein Ergebnis aus wechselseitiger Formung, vom Subjekt und vom Objekt her – beide als noch nicht erstarrt, fest, gegeben gedacht – sondern beide an einander sich suchend und findend – in steter Beweglichkeit und Plastizität[.] Dem ›Fertigen‹ erschliesst sich keine ›Geschichte‹ – nur wer selbst noch Geschichte ›ist‹ und Geschichte ›hat‹, dem kann Geschichte sichtbar werden und etwas bedeuten«.35

Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937), in: ECW 19. Erstveröffentlichung als Band 42, Nr. 3 (1936) in der Reihe Göteborgs Högskolas Årsskrift, Stockholm 1937, erschienen. Siehe dazu den Editorischen Bericht in ECW 19, 257. – Das Manuskript, aus dem hier zitiert ist, ist wahrscheinlich 1937/38 entstanden. Siehe dazu den Editorischen Bericht in ECN 5, 260. 34 Cassirer: Kulturphilosophie, ECN 5, 245. 35 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 119 f. 33

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Cassirer sieht in diesem Verhältnis lediglich einen besonderen, auch in der historischen Forschung auftretenden Fall einer allgemeinen Beziehung, die das Verhältnis zwischen Ich und Welt charakterisiert: »Indem das ›reine Ich‹ in einem bestimmten › Schwingungszustand‹ sich befindet, teilt sich dieser Schwingungszustand allem mit, was es, in Wahrnehmung und Anschauung, an objektivem ›Inhalt‹ vor sich hat – die Welt um es umher, wie ›sie‹ durch die Anschauung geformt wird, gerät in denselben Schwingungszustand – und bleibt doch ein durchaus Eigenes, Selbständiges, Objektives – vom Ich Getrenntes u[nd] dem Ich ›Gegenüber‹-Stehendes aber die Form der ›Oszillation‹ – das Auf und Ab der Bewegung – dies ist auf beiden Seiten ›dasselbe‹ oder vielmehr es ›entspricht sich harmonisch‹ – wie es ›harmonische Wellenzüge‹ gibt[.] […] ›[…] Natur‹ u[nd] ›Ich‹ in ›harmonischem‹ Schwingungszustand […]«.36

Mit dieser Metapher verlegt Cassirer die menschliche Erkenntnis in einen Bereich der Selbstorganisation, des Sich-Einschwingens, der heute insbesondere in der neuropsychologischen Hirnforschung eine prominente Rolle spielt. So stellt etwa Wolf Singer die Vernetzung neuronaler Prozesse als eine Synchronisation von Oszillationsphasen dar.37 Und auch in der Philosophie gibt es die ähnliche Metapher der Resonanz. So schreibt Helmuth Plessner 1928 in seiner Philosophischen Anthropologie: »Geistiges Leben braucht […] Resonanz und wird nur in Resonanzphänomenen faßbar.«38

Cassirer bedient sich also keiner ungewöhnlichen Metapher, wenn er von Schwingungszuständen, harmonischen Wellenzügen und Oszillation spricht. Gleichwohl wird man hier ein gewisses Ausweichen vor einer genaueren Klärung der epistemischen Verhältnisse nicht übersehen können. Es bleibt bei Hinweisen, die auch als subjektivistisch mißverstanden

36

A. a. O., 262. Im Zusammenhang mit dem sogenannten Bindungsproblem – philosophisch könnte man auch vom Synthese-Problem reden – sagt Wolf Singer: »Das Bindungsproblem resultiert aus der distributiven Organisation des Gehirns und dem Fehlen eines singulären Koordinationszentrums. […] Wie dennoch ganzheitliche Wahrnehmung und wohlkoordinierte Bewegungen zustande kommen, ist unklar. Es muß Metarepräsentationen für die Ergebnisse dieser Teilprozesse geben […] Wir vermuten, daß die Einbindung verteilten Neuronengruppen in diese Metarepräsentationen durch die zeitliche Synchronisation neuronaler Antworten erfolgt. Die Signatur, welche die Aktivität verteilter Neuronengruppen zusammenbindet, wäre die präzise zeitliche Synchronisation der entsprechenden Aktivitätsmuster.« Vgl. dazu auch Singers Beschreibung eines Wahrnehmungsprozesses, in dem »räumlich verteilte Merkmalsdetektoren ihre rhythmischen Aktivitäten synchronisieren können und dann in Phase schwingen.” (Wolf Singer: »Hirnentwicklung und Umwelt«, in: ders. (Hg.): Gehirn und Kognition, Heidelberg 1990, 63). 38 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975, 16. – Das Manuskript des 1928 in erster Auflage publizierten Werkes war 1926 abgeschlossen. 37

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werden könnten. Gelingt doch das historische Verstehen nur dann, wenn die historischen Entwicklungsfaktoren als mögliche Momente des eigenen Sinnverstehens und damit der eigenen Entwicklung erfaßt werden. Daß Cassirer diese Verschränkung objektiver und subjektiver Form- und Sinnentwicklung nicht subjektivistisch meint, läßt sich verstehen, wenn man seine übrigen Formulierungen über diese Verschränkung hinzunimmt. So schreibt er über das »große Kunstwerk«, daß in ihm eine »neue Form der Wirklichkeit heraufsteigt«, die wir in diesem erleben. Und er fügt hinzu: »In ihm (sc. dem großen Kunstwerk] werden wir ›unserer selbst‹ gewahr – nicht desjenigen ›realen‹ Selbst, das einer einzelnen realen Seins-Stelle verhaftet ist, das ›verhaftet an dem Körper klebt‹ sondern der ganzen Schwingungsebene unseres Ich – nicht seiner ›wirklichen‹ Inhalte, Stoffe, sondern seiner (funktionellen) Möglichkeiten[.]«39

Was wir in dem Kunstwerk erfassen können, sind eigene Möglichkeiten: Möglichkeiten der Welt- und Selbstwahrnehmung. Und diese erschließen sich uns nicht in einem diskursiven Prozeß, sondern im Wahrnehmen, in dem wir uns auf das Kunstwerk oder was sonst auch immer einlassen. Dieses Sich-Einlassen auf etwas ist es wohl, was Cassirer als ein Resonanz- oder auch Korrespondenzverhältnis zu beschreiben versucht. Und dieses Verhältnis sieht Cassirer in einer ähnlichen Weise auch für verschiedene bereits etablierte, nämlich wirtschaftliche, rechtliche, religiöse und künstlerische Ordnungsformen: »Die Formen reflektieren sich in einander u[nd] werden durch einander erkannt«.40

Insgesamt nennt er diese Formbeziehungen »Korrelationen«41 und die Formenlehre eine »Korrelations-Lehre«, »eine Lehre von der wechselseitigen Entsprechung«.42 Dabei ist es so, daß diese Korrelationen in sich selbst die Formen, eine jeweils »innere Form«,43 bilden und als sie selbst in verschiedenen Bereichen sich entwickeln und wirken können. Sie sind Relationen, die nicht durch die Relata definiert sind, die sie in eine Verbindung bringen, sondern alleine durch ihre »immanente Gliederung«.44

Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 44. A. a. O., 67. 41 A. a. O., 70. 42 A. a. O., 67. 43 Für Cassirer ist der Begriff der »inneren Form« grundlegend – auch in Abwandlungen wie der Rede etwa von »inneren Gesetzen und Regeln« usw. – Vgl. dazu auch a. a. O., 250 f. 44 Es sei hier daran erinnert, daß diese Eigenexistenz der immanenten Gliederung auch zur Definition der symbolischen Prägnanz gehört: »Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ 39 40

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»Formen können ›sich entsprechen‹, können einander analog, zugeordnet[,] eben ›kon-form‹ sein, auch wenn die Inhalte gar nichts mit einander gemein haben, ganz verschiedenen Dimensionen angehören«.45

Diese »wechselseitigen Entsprechungen« sind für Cassirer gleichsam das Gewebe, das »die Welt im Innersten zusammenhält.«46 Dadurch, daß sie verschiedene Dimensionen von »Sinn-Ordnungen«47 durchziehen, beziehen sie diese auch aufeinander und schaffen sie die in sich vielfältige Einheit, die wir als unsere Welt erfahren.

VII) Die zwei Kulturen und die Einheit von Natur- und Geschichtswissenschaften Kehren wir damit zurück zu unserem Ausgangspunkt: zu den zwei Kulturen und der einheitswissenschaftlichen Perspektive. Für Cassirer ist es der Grundfehler im gängigen »kausalistischen« Wissenschaftsverständnis, daß die Wissenschaften als Ursachenforschung verstanden werden. Dabei ist zu sehen, daß Cassirer die Erforschung der Ursachen und die Aufstellung von entsprechenden Gesetzen – wohl unter dem Leitbild der klassischen Mechanik – auch in seinen Manuskripten aus der schwedischen und amerikanischen Zeit immer wieder noch als Aufgabe der Naturwissenschaften sieht. Zugleich erkennt er aber auch – wohl unter dem Eindruck der Entwicklungen in der modernen Physik, wenn auch nicht schon in der Relativitätstheorie,48 sondern erst in der Quantenphysik und dem Determinismus-

gewinnt - die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen.« (Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 231). 45 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 72. 46 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, Erster Teil: Nacht, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Band 6.1: Weimarer Klassik 1798–1806, München 1986, 545. 47 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 173. 48 Die Besonderheit der Relativitätstheorie gegenüber der klassischen Mechanik besteht für Cassirer in der Relativität der Bezugssysteme, in denen Bewegungen dargestellt und gemessen werden, nicht aber in der Abhängigkeit von physischen Randbedingungen. Die Pointe sieht er darin, daß die Bewegungsgesetze unabhängig von den verschiedenen Bezugssystemen formuliert werden können. – Vgl. dazu: »Die Gesetze, nach denen sich die Zustände der physikalischen Systeme ändern, sind unabhängig davon, auf welches von zwei relativ zueinander in gleichförmiger Translationsbewegung befindlichen Koordinatensysteme diese Zustandsänderungen bezogen werden.« (Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische

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problem –, daß alle Naturwissenschaften Strukturforschung zu sein haben, die sich auch auf die Konfiguration der Randbedingungen bezieht. Erst in diesem zweiten Verständnis, auf das er allerdings nur programmatisch und pauschal hinweist und das er nicht wirklich ausführt, hat er die Perspektive gewonnen, in der sich die Wissenschaften insgesamt – und damit auch alle Naturwissenschaften und nicht nur die Biologie – als Strukturforschung verstehen lassen. Gerade in seinen programmatischen Hinweisen steckt aber ein wissenschaftsphilosophisches Projekt, das über die weitere Ausarbeitung des Formbegriffs ein nicht reduktionistisches Verständnis der Einheit der Wissenschaften zu entwickeln hätte. Cassirer selbst jedenfalls hat dies als Aufgabe gesehen und ausdrücklich formuliert. Dabei stehen die Kulturwissenschaft und die historische Forschung im Vordergrund. So konstatiert Cassirer: »Das »Kausalproblem« – das Problem, worin das »Wirken« in der Kultur besteht – lässt sich hier niemals losgelöst vom Formproblem stellen – und es lässt sich, innerhalb der Kulturwiss[enschaft], immer nur durch Rückgang auf das Formproblem lösen«.49

Und zur Begründung fügt Cassirer hinzu: »Alles individuelle ›Wirken‹ im theoretischen wie im praktischen Sinne erfolgt ja hier schon immer innerhalb einer »vorgegebenen« Form (»in« der Sprache, »im« Staat) andererseits ist diese Form nicht in dem Sinne vorgegeben, daß sie als ein Ens per se im begriffsrealistischen Sinn vorausginge (»die« Sprache ist nur »im« Sprechen, »der« Staat nur »in« den Bürgern) es ist also hier stets eine individuelle Aktivität die eingebettet ist in eine universale Form – und es ist eine universale Form, die sich nicht anders manifestieren kann und die gar nicht anders »da ist« als in einer sich fortzeugenden Gesamtheit von Taten, von individ[uellen] theoretischen und praktischen Akten«.50

Betrachtungen (1921), in: ECW 10, 34) – Und auch, wenn er von der »Systemform der Natur und ihrer Gesetze« spricht, versteht Cassirer darunter lediglich die mathematisch formulierbare Invarianz »universeller Konstanten« und »universeller Gesetze«. – Vgl. dazu: »Auch hierin äußert sich wieder das charakteristische Verhalten der allgemeinen Relativitätstheorie: Indem sie die Dingform der endlichen und starren Bezugskörper zerschlägt, will sie eben damit nur zu einer höheren Objektform, zur echten Systemform der Natur und ihrer Gesetze vordringen. Nur dadurch, daß sie die Schwierigkeiten, die sich schon der klassischen Mechanik aus der Tatsache der Relativität aller Bewegungen ergeben hatten, steigert und überbietet, hofft sie einen prinzipiellen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten zu finden.« (a. a. O., 66 f.) – »Der Physiker rechnet jetzt weder auf die Konstanz jener Objekte, bei denen sich die naive sinnliche Weltansicht beruhigt, noch auf die Konstanz der besonderen, von einem einzelnen System aus gewonnenen räumlichen und zeitlichen Maßbestimmungen – aber dessen ungeachtet behauptet er, als Bedingung seiner Wissenschaft, den Bestand ›universeller Konstanten‹ und universeller Gesetze, die für alle Systeme der Messung den gleichen Wert behalten.« (A. a. O., 77). 49 Cassirer: Kulturphilosophie, ECN 5, 190 f. 50 A. a. O., 191.

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Zugleich betont Cassirer auch die disziplinübergreifende Bedeutung des Formproblems: »Denn jedes echte Formproblem kann nicht nur, sondern es muss sowohl natur-theoretisch als geschichts-theoretisch behandelt werden«.51

Dabei sieht Cassirer zwar Möglichkeiten zur Überwindung eines reduktionistischen Kausalismus, allerdings auch die Gefahr, Form wieder im kausalistischen Sinne zu interpretieren. »Die Unsicherheit über das Verhältnis Ursache – Form – Zweck ist für die Erkenntnislehre der Biologie wie für die Geschichte das eigentliche und schwierigste Hindernis«.52

Und auch, wenn »die Eigentümlichkeit ihres Formbegriffs« erkannt wird, hat sich doch immer wieder die Tendenz eingestellt, den Formbegriff seinerseits durch den Kausalbegriff zu interpretieren und damit die Form als »eine neue ›Art von Ursache‹ (neben der mechanischen)« einzuführen: »Dieser Weg lässt sich von Platon an bis zur Erkenntnistheorie der modernen Biologie und der modernen Historik verfolgen«.53

Indem man die Form »zu einer ›Art von Ursache‹ macht und »das Wirken der Form-Ursachen zu beschreiben und im Einzelnen zu erklären sucht«, hat man »sich schon dem ›Kausalismus‹ in die Arme geworfen«. Statt dessen hätte man »in der ›Form‹ einen ›Gesichtspunkt‹, eine regulative Maxime, eine Funktion der ›Synthesis‹ zu sehen«.54 Was man bisher noch nicht durchzuführen vermocht hat, wartet nun auf uns. Die Mittel zu diesem Unternehmen sind bereitgestellt. Mit der Cassirer Werkausgabe, die wir der professionellen und kollegialen Leitung von Frau Recki, der großzügigen und weitsichtigen Förderung durch die ZEITStiftung und dem Mut und Engagement des Meiner Verlags verdanken, können wir – und dies inzwischen schon zu einem guten Teil und bald ganz mit elektronischer Beschleunigung – das Werk Cassirers durchforsten und ihm auf seinen Denkwegen folgen. Ich bin sicher, daß sich dabei noch unerschlossene Perspektiven und Möglichkeiten auftun werden. Daß dabei auch die Cassirer Nachlaßausgabe hilfreich ist, mag mir zu erwähnen im eigenen Interesse erlaubt sein.

51 52 53 54

Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 235. A. a. O., 126. Ebd. A. a. O., 132.

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Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 5 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik (1910,1923), in: ECW 6 – Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – Aufsätze und kleinere Schriften (1902–1921), in: ECW 9 – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Die Philosophie der Aufklärung (1932), in: ECW 15 – Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937), in: ECW 19 (Erstveröffentlichung als Band 42, Nr. 3 (1936) in der Reihe Göteborgs Högskolas Årsskrift, Stockholm 1937) – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, ab Bd. 2 hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 1995 – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Geschichte. Mythos, in: ECN 3 – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5 – Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte (1925–1944), in: ECN 10 – Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1986 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, Erster Teil: Nacht, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Band 6.1: Weimarer Klassik 1798–1806, München 1986 Karl-Norbert Ihmig: Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹, Hamburg 1997 Christian Möckel: Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 Enno Rudolph/Ion O. Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997

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Christiane Schmitz-Rigal: Die Kunst des offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, Hamburg 2002 Wolf Singer: »Hirnentwicklung und Umwelt«, in: ders. (Hg.): Gehirn und Kognition, Heidelberg 1990 Charles P. Snow: Die zwei Kulturen: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, übers. von Grete u. Karl-Eberhardt Felten, Stuttgart 1967 – The two cultures and a second look, ed. and ann. by Kurt Schrey, Frankfurt/M./ Berlin/Bonn/München 1968

Reto Luzius Fetz

»Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln« Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes

Hegels »Phänomenologie des Geistes« kann auf zwei Arten gelesen werden. Die erste Leseart ist die genuin Hegelsche. Für sie präsentiert sich die Phänomenologie als die Einleitungsschrift, die in die Mitte von Hegels System führt, insofern sie die Wandlungen des Bewußtseins von der sinnlichen Gewißheit bis hin zum absoluten Wissen verfolgt und damit am Ende zugleich den Ausgangspunkt für die »Wissenschaft der Logik«, d. h. für die absolute Selbstbewegung der Vernunft abgibt. Die zweite Leseart ist die programmatische. Sie erblickt im Hegelschen Gedanken eines sich in allen individuellen und kulturellen Entwicklungsverläufen zu erfassenden Bewußtseinswandels ein Novum, das fortan über Hegel hinaus der Philosophie als Daueraufgabe gestellt bleibt. Es ist die zweite Leseart, der wir hier in ihrer Cassirerschen Version nachgehen wollen. Dabei wird uns insbesondere interessieren, wie Cassirer das Hegelsche Programm unter den veränderten wissenschaftlichen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts umgesetzt hat und welche Vorreiterrolle dabei Cassirer selbst für die weitere philosophische und wissenschaftliche Entwicklung gespielt hat.

I) Cassirers Erweiterung und Verallgemeinerung des Kantischen Ansatzes Den Weg zu Hegel geht Cassirer über Kant. Denn seine Philosophie der symbolischen Formen versteht sich zunächst als eine Erweiterung und Verallgemeinerung von Kants »Revolution der Denkart«. Der kopernikanischen Wende zufolge bleibt das Denken nicht mehr wie im naiven Realismus bei einer als gegeben angenommenen Dingwelt stehen, sondern erklärt deren Konstitution zu einer Frage unserer Erkenntnisformen. Aber Anschauung und Verstand, wie Kant sie faßt, bezeichnen nun laut Cassirer »nicht alle Objektivität schlechthin, sondern nur jene Form der objektiven Gesetzlichkeit, die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft«, insbesondere der mathematischen Physik, »fassen und darstellen läßt«.1 Doch

1

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923),

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schon für Kant erwies sich im Ganzen seiner drei Kritiken dieser einseitig an der Wissenschaft orientierte Objektivitätsbegriff als zu eng. Im moralischen Reich der Freiheit, in der Kunst und in der organischen Natur begegnet uns eine je anders zu denkende Wirklichkeit. Nehmen wir diese Andersartigkeit ernst, versuchen wir ihr wirklich gerecht zu werden, dann bekommt laut Cassirer Kants Kopernikanische Drehung »einen neuen und erweiterten Sinn«.2 Sie greift nun »auf jede Richtung und auf jedes Prinzip geistiger Gestaltung über«3, auf Sprache, Kunst und Religion ebenso wie auf die Urform des Mythos. Erst wenn für alle diese Gebiete gezeigt werden kann, daß sie einem je besonderen Formprinzip unterstehen und damit in einer »ursprünglichen Tat des Geistes«4 gründen, kann die »Grundthese des Idealismus«5 vom Primat des Geistes als vollumfänglich bewahrheitet gelten. Durch diese Erweiterung und Verallgemeinerung des Kantischen Ansatzes wird laut Cassirers berühmtem Diktum »die Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur«. 6 Von hier aus stellt Cassirer nun den Bezug zu Hegel her. Ihm wird attestiert, daß er »mit einer Schärfe, wie kein Denker vor ihm«, gefordert habe, »das Ganze des Geistes als konkretes Ganzes zu denken« und die »Gesamtheit seiner Manifestationen«7 als notwendige Gestalten seiner Selbstentwicklung zu begreifen. Damit sind wir auf die »Phänomenologie des Geistes« verwiesen, in der Hegel den Gestaltwandel des Bewußtseins von seinem sinnlichen Anfang bis zu seiner Höchstform im absoluten Wissen nachzuzeichnen versucht. Cassirer hat bekanntlich seine Etikettierung als Neukantianer nur bedingt und mit Einschränkungen gelten lassen, und noch entschiedener hätte er wohl seine Vereinnahmung als Hegelianer von sich gewiesen. Wo immer er sich auf Hegel beruft, wird bei aller Affinität auch sogleich eine prinzipielle Kritik an ihm geübt. Cassirer nimmt das Programm von Hegels Phänomenologie nur in einer gründlich modifizierten Form auf. Damit müssen wir nun mit der Hegelschen Phänomenologie zugleich die Transformation ins Auge fassen, die Cassirer an ihr vornimmt.

in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 11, 8. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 A. a. O., 9. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 A. a. O., 13.

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 133

II) Von Hegels »metaphysischer« zu Cassirers »methodischer Formel« Die Hauptpunkte dieser Transformation finden sich allgemein schon in der Einleitung zum »Erkenntnisproblem« von 1906 und in spezieller Form in der Einleitung zum ersten Band der »Philosophie der symbolischen Formen«. Der prinzipielle Duktus von Cassirers Hegeltransformation läßt sich am besten in einer Forderung zusammenfassen, die als Überschrift für diesen Beitrag gewählt wurde: »Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln«.8 Was ist nun für Cassirer das »Metaphysische« bei Hegel, wo liegen die, wie er sie nennt, »metaphysischen Irrungen«9, von denen wir Abstand nehmen müssen? In erster Linie ist damit die These des Absoluten Idealismus gemeint, wonach jede Manifestation in Natur und Kultur und der gesamte Geschichtsprozeß letztlich von der einen und selben Vernunft, vom einen Weltgeist getragen werden. »Auf jeden derartigen sachlichen Träger, der hinter der geschichtlichen Bewegung stände, müssen wir verzichten«, schreibt Cassirer.10 Damit darf allerdings nicht eo ipso die Idee eines einheitlichen Zusammenhangs der Geschichte preisgegeben werden. Aber etwas anderes als die Fundierung dieser Einheit in einem abgehobenen und absolut gesetzten Subjekt ist die Annahme eines inneren Zusammenhangs im Geschichtsprozeß selbst. So kann Cassirer sagen: »Statt eines gemeinsamen Substrats suchen und fordern wir nur die gedankliche Kontinuität in den Einzelphasen des Geschehens; sie allein ist es, die wir brauchen, um von der Einheit des Prozesses zu sprechen.«11 Somit bleibt für das Einheitsproblem der Geschichte nur eine Lösung übrig, nämlich diese Einheit gemäß einem Goethewort »in ein Postulat zu verwandeln«.12 Diese Einheit wird damit zu einem methodologischen »Leitfaden«13 , zu einer generellen »Hypothese«14 , deren »Wahrheit«15 nur in dem Maße als erwiesen gelten kann, als sie sich bei der Erschließung und Deutung der kulturellen Phänomene bewährt. Hier wird bereits ersichtlich, daß Cassirer seine Forderung, Hegels metaphysische Formel in eine methodische zu verwandeln, durchaus in einem wissenschaftlichen Sinn ernst nimmt. In der Einleitung zur »Philosophie der symbolischen Formen« richtet Cassirer an Hegel die Frage, wie er mit der »Mannigfaltigkeit« der von ihm

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, 13. 9 A. a. O., 14. 10 A. a. O., 13. 11 Ebd. 12 A. a. O., 14. 13 Ebd. 14 A. a. O., 13. 15 A. a. O., 14. 8

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in der Phänomenologie herangezogenen Phänomene umgehe. Bei Hegel enden bekanntlich alle Erscheinungsreihen des Geistes im absoluten Wissen, in dem auch Kunst und Religion im Begriff »aufgehoben« sind. In der Hegelschen Systematik liegt dies darin begründet, daß das Ende der »Phänomenologie« zugleich zur »Wissenschaft der Logik« überleitet, in der vom Standpunkt des absoluten Wissens aus die Selbstentfaltung des Begriffs vom Sein über das Nichts zum Werden und über die verschiedenen Kategorien bis zum wahren Wesen nachvollzogen wird. Was Cassirer nun an Hegel moniert, ist die Hegemoniestellung, die damit dem Denken in seiner begrifflichen Form zugedacht ist, eine Hegemonie, die alle anderen Kulturformen, insbesondere Kunst und Religion, auf den zweiten Platz verweist. Die Phänomenologie erweist sich damit trotz der Differenziertheit der von ihr einbezogenen Kulturphänomene als auf einen einzigen Focus bezogen, insofern sie »nur der Logik den Boden und den Weg« bereitet. So mannigfach auch die von ihr reflektierten Bereiche sind, alles »läuft zuletzt gleichsam in eine höchste logische Spitze aus«. Nur im »Begriff« gewinnt der Geist am Ende das »reine Element seines Daseins«, und damit sind in ihm »alle früheren Stadien, die er durchlaufen, zwar noch als Momente enthalten, aber auch zu bloßen Momenten aufgehoben«. Allein der – im Hegelschen Sinne – logischen Form des Begriffs kommt damit eine »echte und wahrhafte Autonomie« zu. Alle anderen Ausdrucksformen des Geistes werden auf sie hingeordnet und relativiert; sie werden »zuletzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert«. E contrario resultiert daraus für Cassirers eigenes Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen die Forderung, zusammen mit der Eigenart die Eigenständigkeit eines jeden einzelnen Kulturgebietes zu respektieren und theoretisch zu wahren. Besonders bedeutsam wird nun, wie Cassirer mit Hegels dialektischer Methode ins Gericht geht und die Kritik an ihr zum Anlaß nimmt, kontrastierend die Symbolanalyse als das adäquatere Mittel für eine recht verstandene Kulturphänomenologie einzuführen. Cassirer stellt zunächst den paradoxen Tatbestand heraus, daß Hegels Phänomenologie zwar »ihrem Inhalt nach« die vielfältigsten Gestalten menschlicher Kultur umgreift und einfängt, diese aber »ihrer Struktur nach einem einzigen und im gewissen Sinne einförmigen Gesetz« unterstellt – eben der Hegelschen Dialektik. Sie ist, wie Cassirer sie treffend umschreibt, der »sich gleichbleibende Rhythmus in der Selbstbewegung des Geistes«. Damit wird der Begriff nochmals zu etwas Absolutem empor stilisiert. Denn er fungiert nun nicht bloß als Darstellungsmittel für das geistige Leben, sondern macht, wie Cassirer schreibt, »das eigentliche substanzielle Element des Geistes selbst«16 aus.

Alle vorangegangenen Zitate Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 13. 16

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 135

Es ist somit gerade die dialektische Methode, mittels deren Hegels Phänomenologie ihre panlogische, alles einebnende Form gewinnt. Die entscheidende Frage ist nun, ob es eine Alternative zur Hegelschen Dialektik gibt. Das andere Extrem, das »Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode«, erblickt Cassirer in einem »rein empirischen Verfahren«17, das einfach deskriptiv die Analysen der verschiedenen Kulturbereiche aneinander reiht, so wie es die einzelnen Geisteswissenschaften tun. Aber damit läßt sich »ein in sich geschlossener Kosmos«18 der mannigfachen Gestaltungen des Geistes nicht erreichen. So stehen wir vor dem Dilemma, daß die Forderung nach logischer Einheit die Besonderheit der jeweiligen Kulturbereiche zu verwischen droht, die Herausarbeitung ihrer Besonderheiten aber umgekehrt deren Allgemeines und damit ihren Zusammenhalt nicht mehr finden läßt. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma, etwa in der Form eines Mittelweges zwischen den beiden eben skizzierten Extremen? Dazu bräuchte es laut Cassirer ein »Moment«, das »sich in jeder geistigen Grundform wieder findet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt«19. Zusammenhang und Eigenheit der einzelnen Kulturformen wären damit gleichermaßen gewahrt. Das Medium, das diese Vermittlungsfunktion erfüllen kann, ist für Cassirer das Symbol, und so schließt sich an die Kritik der Hegelschen Dialektik und ihres Gegenteils folgerichtig die Erörterung des Symbolbegriffs an. 20 Es ist hier nicht möglich und wohl auch nicht nötig, den Cassirerschen Symbolbegriff zu entfalten. Nur ein Grundaspekt des Symbols muß unbedingt hervorgehoben werden, weil Cassirer mit ihm wieder eine Brücke zurück zu Hegel schlägt. Es ist der Äußerungscharakter, der einer jeden Symbolisierung innewohnt. Für Cassirer gilt wie schon für Hegel (den er jedoch nicht nennt) »die Grundregel, die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt«21. Der Geist kommt mit Hegel gesprochen nicht in seiner Unmittelbarkeit zu sich, sondern nur vermittels der vom ihm geschaffenen und aus ihm heraus gesetzten Gestalten, und das sind nun für Cassirer die symbolischen Formen. Cassirer scheut sich nicht, auch das Pathos von Hegels Entäußerungstheorem zu übernehmen, wie der Schlußsatz seines frühen Vortrages von 1923, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, bezeugt:

17

A. a. O., 14. Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. a. a. O., 15. 21 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 231. 18

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»Erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an. Die Kraft des Geistes aber ist, nach einem Wort Hegels, ›nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut‹.«22

III) »Das Wahre ist das Ganze«: Die Absolutheit des Geistes bei Hegel und seine Relativierung bei Cassirer Indem Cassirer die verschiedenen symbolischen Formen von der Sprache, dem Mythos, über Kunst und Religion bis hin zur Wissenschaft trotz ihrer Verschiedenheit als »Glieder eines einzigen großen Problemzusammenhangs«23 auffaßt, erfüllt er auf seine Weise Hegels Forderung, die Äußerungen des Geistes in ihrer Gesamtheit als die notwendigen Schritte seiner Selbstentfaltung zu denken.24 Auch für Cassirer bilden die symbolischen Formen kein »bloßes Aggregat«, sondern eine »systematische Einheit«, ja ein »System der geistigen Ausdrucksformen«25, wie überhaupt jede echte Erkenntnis für ihn »organisch« ist und nicht einfach »aus Stücken, Elementen aufgebaut«26 werden kann (auf diesen prononciert strukturalistischen Zug im Denken Cassirers werden wir später eingehen). Hegels zentrale Äußerung, nur »das Ganze« sei »das Wahre«27, gilt mutatis mutandis auch für Cassirer. Darum ergibt sich für ihn »ein schweres Problem und eine große Gefahr«28, wenn eine einzelne symbolische Form wie die Wissenschaft zur einzig objektiven erklärt wird und die anderen zu subjektiven Illusionen degradiert werden: »Jede Negation, die die eine trifft, muß sich somit, unmittelbar oder mittelbar, auf die anderen erstrecken – jede Vernichtung eines einzelnen Gliedes bedroht das Ganze […].«29

22

Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ders.: Aufsätze und kleinere Schriften (1922–1926), in: ECW 16, 104; vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Hamburg 1980, 14. – Vgl. auch Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 36 f. 23 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 10. 24 Vgl. a. a. O., 13. 25 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XI. 26 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer Hamburg 1995 ff., (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, 199. 27 Hegel: Phänomenologie des Geistes, 19; vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, VIII. 28 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, X. 29 A. a. O., XI.

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Hegel verstand unter dem »Ganzen« »das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen«30 , und »der Geist, der sich so entwickelt als Geist weiß, ist die Wissenschaft«31 – nicht die Wissenschaft im modernen Wortsinn, sondern Hegels »Wissenschaft der Logik«, in der das am Ende der Phänomenologie erreichte »absolute Wissen« Gestalt annimmt. Auch für Cassirer ist die Wissenschaft – nun im modernen Sinn verstanden – die Endstufe der Erkenntnis, deren Werden er im dritten Teil der »Philosophie der symbolischen Formen« mit der im Hegelschen Sinn32 aufgefaßten »Phänomenologie der Erkenntnis« nachzeichnet. Von prinzipieller Bedeutung wird für Cassirer in diesem Zusammenhang Hegels Metapher von der »Leiter«, die die »Wissenschaft« dem natürlichen Bewußtsein reichen soll, damit es zu ihrem Standpunkt – dem des »absoluten Wissens« – aufsteigen kann. Cassirer hat diese Metapher geradezu als »Hegels Prinzip der Phänomenologie des Geistes«33 bezeichnet und erklärt, daß seine »Philosophie der symbolischen Formen« in diesem »Grundprinzip der Betrachtung« mit dem »Hegelschen Ansatz« übereinstimme, auch wenn sie sich »in der Begründung wie in der Durchführung desselben« von Hegel trenne. 34 Sowohl im »Vorwort« zum zweiten35 als auch in der »Vorrede« zum dritten Teil36 der »Philosophie der symbolischen Formen« hat Cassirer diesen Ansatz systematisch umgesetzt. Beidemal geht es um das Verhältnis der theoretischen Erkenntnis zu ihren Vorformen. Anders als Hegel, der vom »sinnlichen Bewußtsein« ausgeht, setzt Cassirer mit dem »mythischen Bewußtsein« »diese Leiter noch um eine Stufe tiefer«.37 Insgesamt erweisen sich für ihn »die mythische, die sprachliche, die künstlerische Formung als die wichtigsten Sprossen dieser Leiter«.38 Als Prinzip wird ausgesprochen, daß »keine Sprosse dieser Leiter, sub specie der philosophischen Betrachtung, entbehrlich«39 ist; jede muß »berücksichtigt, gewürdigt, ›gewußt‹« werden. Der Endpunkt der Theorie einschließlich der philosophischen Reflexion darf nicht vom Anfang und von der Mitte des zu ihm führenden Weges abgesondert werden; vielmehr sind »alle drei als integrierende Momente einer einheitlichen Gesamtbewegung«40 zu werten und aufzunehmen.

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Hegel: Phänomenologie des Geistes, 19. A. a. O., 22. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, VIII. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 213. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, IX. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XIII. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, VIIIf. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XIII. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 84. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, IX. Ebd.

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Bei Hegel endet der Entwicklungsgang des Geistes im »absoluten Wissen« und damit bei der Philosophie, die als die vollendete »Wahrheit« der verschiedenen Geistesgestalten zugleich deren »Aufhebung« im »Begriff« ist. Wir haben schon gesehen, wie Cassirer diese Hegemoniestellung der Philosophie kritisiert, die bei Hegel eine Zurückstufung aller anderen Kulturformen und insbesondere von Kunst und Religion zur Folge hat. Aber welchen Platz ordnet nun Cassirer selbst der Philosophie in der von ihm begründeten Form zu? Wird auch bei der Positionierung der »Philosophie der symbolischen Formen« eine Umsetzung Hegelschen Gedankengutes sichtbar, und wenn ja in welcher Form? Auf diese generelle abschließende Frage findet sich erst in der aus dem Nachlaß Cassirers herausgegebenen Schrift »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen« eine aufschlußreiche Antwort. Cassirer lehnt hier eindeutig die Auffassung der Philosophie als einer eigenen symbolischen Form neben oder über der theoretischen Erkenntnis ab. Die als »Selbsterkenntnis der Vernunft« verstandene Philosophie »schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das, was sie sind: als eigentümliche symbolische Formen«41. Unschwer kann man hier insbesondere durch den Hinweis auf die »früheren Modalitäten« bereits die Vorstellung von einem Entwicklungsgang des Bewußtseins herauslesen, wie sie Cassirer programmatisch aus Hegels Phänomenologie übernommen und in seine eigene Philosophie umgesetzt hat. Doch die entscheidende Bestimmung fällt dann in der Doppelaussage, die Philosophie sei »zugleich Kritik und Erfüllung der symbolischen Formen«.42 Mit der Bestimmung der Philosophie als »Kritik« der symbolischen Formen müssen wir uns in unserem Kontext nicht aufhalten; Cassirer expliziert selbst sein kantisches und über Kant hinausgehendes Verständnis dieses Begriffs.43 Aber was ist mit »Erfüllung« gemeint? Die nachfolgenden Ausführungen, wo Cassirer mehrfach der angeblichen »Absolutheit« des Geistes seine richtig verstandene »Relativität« entgegensetzt, machen deutlich, daß mit »Erfüllung« nur eine Bezugnahme auf Hegel gemeint sein kann. Und in der Tat ist »Erfüllung« ein Ausdruck, den Hegel gegen Ende der Phänomenologie mehrfach gebraucht44 , um den Weg zur »letzten Gestalt des Geistes« zu kennzeichnen, der »seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt«45 und damit zum »erfüllten Ganzen«46 wird.

41 42 43 44 45 46

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 264. A. a. O., 265. Vgl. ebd. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, 426. A. a. O., 427. A. a. O., 429.

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 139

Welche Bedeutung gibt nun Cassirer der »Erfüllung«? Seine Ausführungen haben einen vorwiegend negativen Charakter, der jedoch am Ende immer eine positive Bestimmung freigibt. So ist uns zwar eine Loslösung vom Symbolischen verwehrt, aber wir können den relativen Notwendigkeitscharakter einer jeden symbolischen Form einsehen. Damit befreien wir uns ideell vom Zwang, der mit jeder einzelnen symbolischen Form verbunden ist. Indem wir erkennen, wie jede Symbolisierungsform ihre Stelle im Gesamtgefüge der geistigen Manifestationen hat und durch andere begrenzt und bedingt wird, erfassen wir ihre Eigenleistung und damit auch ihren unverzichtbaren Beitrag zum Ganzen. Aber wir können grundsätzlich nicht »die Hülle der Symbolformen von uns werfen und nun das ›Absolute‹ von Angesicht zu Angesicht schauen«.47 Das ist deutlich gegen Hegel gewendet, der im reinen »Begriff« des »absoluten Wissens« die Vorstellungs- und damit Symbolisierungsformen von Kunst und Religion hinter sich lassen zu können glaubt. Damit ist aber über die im Hegelschen Sinn konzipierte Absolutheit philosophischen Begriffswissens generell das Verdikt gesprochen. An die Stelle des »Absoluten« tritt das Gesamtgefüge des »Relativen«: »Das ›Absolute‹ ist immer nur das vollständige, durchgeführte und systematisch überschaute Relative – und besonders die Absolutheit des Geistes will und kann nichts anderes sein.«48

IV) Das Ineinander von individueller und geschichtlicher Entwicklung bei Hegel und deren Differenzierung bei Cassirer Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie wird wesentlich davon bestimmt, daß er ihr Programm gemäß den neuen wissenschaftlichen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts aufnimmt und weiterführt. Nun weist Hegels Phänomenologie eine Eigenheit auf, die zwar vom Grundprinzip seines Denkens her verständlich, aber ohne seinen metaphysischen Hintergrund nicht nachvollziehbar ist, insbesondere, wenn man rein wissenschaftliche Maßstäbe anlegt. Diese Eigenheit liegt darin, daß Hegel die individuelle und die geschichtliche Entwicklung scheinbar willkürlich ineinander übergehen läßt, beide Entwicklungsreihen jedenfalls nicht säuberlich trennt, um sie dann methodologisch stringent aufeinander zu beziehen. Gerade Cassirer hat nun diesen zumindest aus wissenschaftlicher Sicht gravierenden Mangel in seinem großen Geschichtswerk von 1906 klar erkannt, präzise ausgesprochen und auf seinen Grund zurückgeführt. Er schreibt:

47 48

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265. Ebd.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

»Die tiefste Schwierigkeit für das Verständnis der ›Phänomenologie des Geistes‹ liegt darin, daß sie das psychologische und das historische Material völlig auf dieselbe Stufe stellt und beide als Glieder ein und derselben Entwicklung begreift. Bald ist es eine psychologische, bald eine geschichtliche Gestalt, die herausgehoben wird, bald eine Phase im Aufbau des individuellen Selbstbewußtseins, bald eine Phase des empirisch-geschichtlichen Werdens der Menschheit. Diese wechselseitige Reflexion, dieses beständige Ineinandergreifen und Ineinander-Schillern der beiden Reihen macht geradezu die inhaltliche und stilistische Eigenart des Werkes aus. Aber auch dieser Zug ist in den Grundvoraussetzungen von Hegels Methode gegründet. Denn Hegels Dialektik ist, trotz der abstrakten Weite ihres Grundgedankens, schon in ihrem Ursprung ebensowohl logisch wie historisch, ebensowohl in der Richtung auf den reinen Begriff wie in der Richtung auf die Wirklichkeit konzipiert.«49

Nur die Voraussetzung des einen und selben Grundprinzips der Vernunft, die sich sowohl im Individuum als auch in der Geschichte auf die gleiche dialektische Weise entwickelt, macht also das Ineinander der beiden Entwicklungsreihen verständlich. Einer rein wissenschaftlichen Betrachtung hingegen muß dieser nicht kritisch gerechtfertigte Übergang vom einen zum andern als ein Willkürakt erscheinen, mit dem sich alles und jedes beweisen läßt. Denn aus der schier unerschöpflichen Vielzahl individual- und menschheitsgeschichtlicher Phänomene kann man immer solche herausgreifen, die zueinander im Verhältnis einer scheinbar logischen Aufeinanderfolge stehen. Methodologisch sauber wird ein solches Verfahren erst dann, wenn man zuvor den Stellenwert eines Phänomens innerhalb seiner genuinen Entwicklungsreihe ermittelt hat. Das aber setzt voraus, daß man zunächst die individuelle und die geschichtliche Entwicklung getrennt untersucht, um sie erst in einem zweiten Schritt vergleichend aufeinander zu beziehen. Gerade ein solches differenziertes Vorgehen läßt aber Hegels Phänomenologie vermissen. Daß Cassirer seine Rezeption der Hegelschen Phänomenologie den neuen wissenschaftliche Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts unterstellt, zeigt nun als erstes seine Differenzierung von individueller und geschichtlicher Entwicklung, wobei er gleichzeitig für eine Aufeinanderbeziehung beider plädiert. Der ausführlichste und aufschlußreichste Text hierzu findet sich in der »Einleitung« zum »Erkenntnisproblem«, im gleichen Werk also, wo Cassirer in dem Hegel gewidmeten Abschnitt die oben wiedergegebene »Schwierigkeit« von Hegels Phänomenologie hervorhebt. In diesem Text fällt zwar der Name Hegel nicht, aber die inhaltlichen Bestimmungen weisen unzweifelhaft auf Hegels Phänomenologie zurück, deren Programm nun methodisch neu umgesetzt wird. Da der Duktus

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4, 296. 49

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 141

nicht klar wird, wenn man den Text auseinanderreißt, sei hier die wichtigste Passage als ganze zitiert: »In einem doppelten Sinne kann versucht werden, diese Analyse der gegebenen Wissenschaft, die die eigentliche Hauptaufgabe für jede Kritik der Erkenntnis bleiben muß, zu vervollständigen und mittelbar zu bewahrheiten. Wir können das eine Mal nach den psychologischen Bedingungen fragen, die in der Entwicklung des individuellen Bewußtseins den Aufbau der Wahrnehmungswelt beherrschen und leiten; wir können versuchen, die gedanklichen Kategorien und Gesichtspunkte, die hier zu dem Stoff der Empfindungen hinzutreten müssen, aufzudecken und in ihrer Leistung zu beschreiben. Aber so wertvoll diese Betrachtung ist, solange sie in den Grenzen, die ihr gesteckt sind, verweilt und nicht versucht, sich selbst an die Stelle der kritischen Zergliederung des Gehalts der wissenschaftlichen Prinzipien zu setzen: sie bliebe für sich allein unzureichend. Die Psychologie des einzelnen ›Subjekts‹ empfängt volles Licht erst durch die Beziehung, in die wir sie zur Gesamtentwicklung der Gattung setzen; sie spiegelt uns nur die Tendenzen wieder, die den Aufbau der geistigen Kultur der Menschheit beherrschen.«50

Was Cassirer in dieser Passage umreißt, ist das Idealprogramm der Analyse einer »gegebenen Wissenschaft« und generell einer bedeutsamen Kulturform. Dieses setzt sich aus drei Komponenten zusammen. Im Zentrum steht die eigentlich philosophische Aufgabe einer, wie Cassirer sagt, »kritischen Zergliederung des Gehalts« einer Wissensform; hier geht es um deren Geltungsanspruch. Flankiert aber wird diese zentrale Aufgabe durch zwei weitere Bemühungen, durch die psychologische Abklärung der Aufbaubedingungen dieser Erkenntnis einerseits und ihre historische Einordnung in den menschheitsgeschichtlichen Kulturaufbau andererseits. Signifikant ist dabei Cassirers Verwendung des Ausdrucks »Aufbau« sowohl für die individuelle als auch für die menschheitsgeschichtliche Entwicklung. Diese Rede weist bereits auf die später ausdrücklich formulierte konstruktivistische Auffassung Cassirers hin. Ihr zufolge ist die individuelle und historische Genese einer Wissensform konstitutiv für diese. Eben dies macht den Rekurs auf die Individualentwicklung einerseits, auf die Menschheitsgeschichte andererseits nicht zu einer Nebensächlichkeit, sondern zu einer notwendigen Ergänzung der kritischen Analyse. Angenommen wird weiter ein Entsprechungs-, ein Spiegelungsverhältnis zwischen Individualentwicklung und der »Gesamtentwicklung der Gattung«. Hier liegt nun ganz eindeutig Hegelsches Erbe vor, war es doch Hegel, der in einem bekannten Satz der »Phänomenologie« behauptet hat,

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, 5 f. 50

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daß »jeder einzelne auch die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes«51 durchlaufen müsse. Gemäß Cassirers Forderung, die Hegelsche »metaphysische Formel« in eine »methodische« zu verwandeln, wird man allerdings die Entsprechung zwischen Individualentwicklung und Menschheitsgeschichte mehr im Sinne eines Hypothesenangebots als im Sinne einer kategorischen Behauptung aufnehmen müssen. Dieses von Cassirer schon 1906 konzipierte Idealprogramm einer vollständigen Analyse einer Kulturform kann im Blick auf die nachfolgende Wissenschaftsgeschichte als vorbildlich gelten. Insbesondere im französischen Neukantianismus, mit dem Cassirer in enger Berührung stand, und bei dem aus ihm hervorgegangenen Begründer der genetischen Epistemologie, bei Jean Piaget, hat dieses Programm seine konkrete wissenschaftliche Umsetzung erhalten. Hier finden wir die drei von Cassirer unterschiedenen Komponenten als drei aufeinander bezogene Methodenwege wieder. Die, wie Cassirer sie nennt, »kritische Zergliederung« einer Wissensform unter gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer historischen Stellung wurde im französischen Neukantianismus von einer ganzen Gruppe von Forschern, mit Léon Brunschwicg an ihrer Spitze, als die sogenannte »historisch-kritische Methode« gepflegt. Piaget hat als deren Ergänzung die von ihm so bezeichnete »psychogenetische Methode« hinzugefügt, die parallel zum Aufbau der Erkenntnis in der Menschheitsgeschichte deren Aufbau in der Individualentwicklung und damit vornehmlich beim Kind und Jugendlichen untersuchen soll. Dabei griff er genau das von Cassirer angenommene Spiegelungsverhältnis von Menschheitsgeschichte und Individualentwicklung auf, um sich von der Menschheitsgeschichte die Hypothesen für die psychologische Entwicklung geben zu lassen. Um der Gefahr einer Historisierung einerseits, einer Psychologisierung andererseits zu entgehen und, wie es Cassirer fordert, den eigentlichen »Gehalt« und damit den Geltungsanspruch einer Wissensform prüfen zu können, fügte Piaget als dritte Komponente die sogenannte »formalisierende Methode« hinzu, mit der Logiker und Mathematiker die Validität der von den Psychologen aufgewiesenen Erkenntnisformen zu eruieren haben.52

Hegel: Phänomenologie des Geistes, 25. Vgl. Jean Piaget: Logique et connaissance scientifique. Encyclopédie de la Pléiade, Paris 1967, 105–132; dazu vom Verfasser: Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie, Bern 1988, 24–41. Die Entsprechungen zwischen menschheitsgeschichtlicher und individueller Erkenntnisentwicklung im Bereich von Logik, Mathematik und Physik hat Piaget zusammen mit Rolando Garcia noch in einem seiner letzten Werke erörtert: Jean Piaget/Rolando Garcia (Hg.): Psychogenèse et histoire des sciences, Paris 1983. Zu den Verbindungslinien zwischen Cassirer und Piaget vgl. speziell vom Verfasser: »Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/ Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 156–190. 51

52

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 143

V) Cassirers hegelsche Universalisierung von Natorps Korrelationsprinzip Doch zurück zu Cassirer. Was verdankt die von ihm begründete Philosophie der symbolischen Formen in methodischer Hinsicht über das bisher skizzierte Rahmenprogramm hinaus dem Erbe Hegels? Eine indirekte Antwort darauf kann man aus dem Vergleich herauslesen, den Cassirer im dritten Teil seiner »Philosophie der symbolischen Formen« zwischen seinem Ansatz und jenem Natorps anstellt, wobei er bei letzterem ein, wie er schreibt, »wahrhaft universelles Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins«53 vorzufinden glaubt. Da dieser dritte Teil unter dem Titel »Phänomenologie der Erkenntnis« steht, den Cassirer ausdrücklich im Hegelschen Sinn verstanden wissen will54, kann man in dem im Anschluß an Natorp konzipierten Programm einer Phänomenologie die methodologische Konkretion dessen erblicken, was dieser Titel ankündigt. Natorps »Allgemeiner Psychologie nach kritischer Methode« gesteht Cassirer insofern eine Ausnahmestellung zu, als sie, anders als die empirisch-naturwissenschaftlich orientierten Richtungen der Psychologie, erstmals wieder nach kantischem Vorbild eine echte Rückwendung auf das Bewußtsein als den bedingenden Grund aller Gegenstandserkenntnis vollzogen habe. 55 Erst mit dieser Fassung der psychologischen Problemstellung wird laut Cassirer der Boden bereitet, auf dem eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der systematischen Problematik der Philosophie der symbolischen Formen möglich ist. Natorp hat, wie Cassirer weiter ausführt, der »konstruktiven« Arbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Ethik und Ästhetik die »rekonstruktive« Arbeit an den subjektiven Bedingungen dieser verschiedenen Objektivationsformen gegenübergestellt. 56 Dabei plädiert er für eine Methode der Korrelation, bei der die Objektseite und die Subjektseite sich wechselseitig erhellen. Immer deutlicher sei Natorp die »Mehrdimensionalität«57 der geistigen Welt und der qualitative Unterschied der geistigen Sinngebiete bewußt geworden, ohne daß er diesen Differenzen auch wirklich Rechnung getragen habe, weil er nicht nur die Logik und die Ethik, sondern auch die Ästhetik und selbst die Religionsphilosophie nach dem einförmigen Muster von »Gesetzeswissenschaften«58 zu begreifen versuchte.

53 54 55 56 57 58

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 59. A. a. O., VIII. Vgl. a. a. O., 56. A. a. O., 59. A. a. O., 60. A. a. O., 62.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

So ist es die angestrebte Spannweite, nicht die Durchführung, die Cassirer in Natorps »Allgemeiner Psychologie« das »in streng ›kritischer‹ Besinnung« aufgestellte »universelle Programm einer Phänomenologie des Bewußtseins«59 erblicken läßt. Was dabei für Cassirer an Natorps Ansatz gültig bleibt, ist sein methodisches Prinzip der Korrelation, wonach dem »Unterschied der objektiven Gestaltungen […] auch ein Unterschied im ›Subjekt‹, im spezifischen Verhalten des ›Bewußtseins‹ entsprechen« 60 muß. Zu kurz griff Natorp nur, weil er bloß die drei Objektivationsrichtungen des Logischen, des Ethischen und des Ästhetischen diesem Prinzip unterstellte, nicht aber das gesamte Leben des Geistes mit seinen Ursprungsformen des Mythos und der Sprache. Das Natorpsche Korrelationsprinzip muß somit erweitert und verallgemeinert werden. »Sollen wir eine wahrhaft konkrete Anschauung der ›vollen Objektivität‹ des Geistes einerseits, seiner ›vollen Subjektivität‹ andererseits gewinnen, so müssen wir die methodische Korrelation, die Natorp als Prinzip aufstellt, für alle Gebiete geistigen Schaffens zur Durchführung zu bringen suchen.« 61 Und genau das ist es ja, was die Philosophie der symbolischen Formen beabsichtigt. Cassirers Universalisierung des Natorpschen Korrelationsprinzips steht wie oben ausgeführt im Zeichen eines universellen Phänomenologieprogramms im Hegelschen Sinn. So erstaunt nicht, daß Cassirer diesen Abschnitt mit einem Hegelschen Begriff beschließt, dem er allerdings eine kantische Wendung gibt: »Wir gehen […] von den Problemen des ›objektiven Geistes‹, von den Gestalten, in denen er besteht und da ist, aus; aber wir bleiben bei ihnen nicht als bloßem Faktum stehen, sondern versuchen, durch eine rekonstruktive Analyse, zu ihren elementaren Voraussetzungen, zu den ›Bedingungen ihrer Möglichkeit‹, zurückzudringen.« 62 Daß Cassirer hier Hegels »objektiven Geist« ins Spiel bringt, hat einen tiefen Sinn, den Cassirer jedoch nicht ausspricht. Denn es darf mit gutem Grund behauptet werden – und das ist nun die Pointe dieser Ausführungen –, daß das universalisierte Korrelationsprinzip eine genuin Hegelsche Einsicht ist, die Hegel überhaupt erst den Weg der Phänomenologie eröffnet hat. Laut Nicolai Hartmann ist dieser Weg »Hegels eigenste Entdekkung, ein Novum in der Philosophie: Ein Weg des sich selbst Begreifens des Bewußtseins in seinen Wandlungen aufgrund eines Begreifens seines Gegenstandes in dessen Wandlungen. Das Geheimnis dieses Vorgehens ist ein einfaches […]. Es liegt in der Einsicht, daß die Erscheinungsformen des Objekts zugleich Erscheinungsformen des Subjekts sind.« 63 Hartmanns

59 60 61 62 63

A. a. O., 59. A. a. O., 63. Ebd. Ebd. Nicolai Hartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus, Berlin 19602, 310.

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 145

Beschreibung paßt genau nicht nur auf Hegel, sondern auch auf Cassirers universalisiertes Korrelationsprinzip.

VI) Die neuen wissenschaftlichen Bedingungen von Cassirers Hegeltransformation Hegels Phänomenologie des Geistes ist, allgemein formuliert, eine umfassende Stadientheorie der menschlichen Bewußtseinsentwicklung, die sowohl die Menschheitsgeschichte als auch die Individualentwicklung einbezieht und dabei auf die verschiedensten Phänomenbereiche menschlicher Kultur eingeht. Hier gilt es zu zeigen, wie Cassirer dieses Hegelsche Projekt transformiert aufgenommen, den veränderten wissenschaftlichen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts angepaßt und dabei auch bezüglich der späteren wissenschaftlichen Entwicklung eine Vorreiterrolle gespielt hat. Bisher haben wir das Rahmenkonzept und das allgemeine methodische Prinzip von Cassirers Transformation erörtert. Was sind nun aber genauer die wissenschaftlichen Bedingungen, an die Cassirer seine Transformation angleicht? Hegel hatte seine Phänomenologie weitgehend frei entworfen, ohne sich auf ein wissenschaftliches Quellen- oder Belegmaterial abzustützen. Gelehrte Anmerkungen findet man jedenfalls bei Hegel keine. Ganz anders bei Cassirer. Im Hauptwerk »Philosophie der symbolischen Formen« gibt es kaum Abschnitte, wo nicht Bezüge zu einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnissen aus nahezu allen Disziplinen hergestellt werden, die sich mit der menschlichen Kultur befassen. Hier wird sichtbar, was die geistige Situation Cassirers von jener Hegels trennt, nämlich das Aufkommen der historischen Geistes- und der übrigen Kulturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit den Erträgen dieser Wissenschaften sah sich Cassirer in seinen Hamburger Jahren konfrontiert, als er zum regelmäßigen Besucher der Bibliothek Warburg wurde und dabei einen entscheidenden Impuls für seine Philosophie der symbolischen Formen erhielt. 64 Wie Cassirer diese veränderte geistige Situation reflektiert, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in seinem Konzept einer »kritischen Phänomenologie« 65 – »Phänomenologie« hier nun nicht mehr im Hegelschen, sondern im Husserlschen Sinn genommen. Der Husserl gegenüber veränderte

64

Vgl. Massimo Ferrari: »Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die Bibliothek Warburg (1921–1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen«, in: Braun/Holzhey/Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 114–133. 65 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 16.

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Ausgangspunkt manifestiert sich im unterschiedlichen Begriff des »Gegebenen«. Für Husserl hat das »Gegebene« seinen Ursprung im »originär gebenden Bewußtsein«, wobei sein Gegebensein nicht von seiner faktischen Existenz abhängig gemacht wird; das Bewußtsein kann in der Epoché von ihr absehen. Für Cassirer hingegen bilden nun die »empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins« 66 das »Gegebene«, worunter wir nichts anderes als das Datenmaterial der Geistes- und Kulturwissenschaften zu verstehen haben. Ohne diese Wissenschaften würden wir in vielen Fällen gar nicht über eine zur Analyse anstehende »Materie« verfügen, wie Cassirer insbesondere bezüglich des Mythos darlegt. Eine solche »Materie«, schreibt Cassirer, »liegt heute« nur »dank der Arbeit, die die systematische Religionswissenschaft, die Religionsgeschichte und die Völkerkunde auf diesem Gebiet geleistet haben, in reicher Fülle vor uns« 67. Aber das Zusammentragen dieses Datenmaterials, für das die Einzelwissenschaften zuständig sind, bildet für Cassirer nur eine Vorstufe. Die philosophische Arbeit beginnt dort, wo nach der »Form« dieser »Materie« gefragt wird. 68 Es geht um die Frage, welche »allgemeine Gesetzlichkeit des Bewußtseins« 69 den aufgewiesenen Phänomenen zugrunde liegt. Diese sollen »aus der Einheit einer bestimmten ›Strukturform‹ des Geistes verständlich« gemacht werden. Die von Cassirer geforderte »Methodik der kritischen Analyse«70 fragt also gut kantisch von der »Wirklichkeit des Faktums«, d. h. der von den Einzelwissenschaften aufgewiesenen Kulturphänomene, auf die »Bedingungen seiner Möglichkeit« zurück71 und kann deshalb zurecht als »kritische Phänomenologie« bezeichnet werden. Mit der »Strukturform«, auf welche die von Cassirer postulierte »kritische Analyse« zurückzugehen hat, ist nun ein zentraler Begriff gegeben, mit dem wir uns weiter beschäftigen müssen. Denn der Strukturbegriff ist ohne Zweifel nicht nur ein philosophischer, sondern auch ein wissenschaftlicher Leitbegriff des 20. Jahrhunderts. Cassirer hat ihn oft und systematisch verwendet und auch dem Strukturalismus in den Wissenschaften sein besonderes Augenmerk gewidmet. Das beweist noch einer seiner letzten Beiträge, der Artikel »Structuralism in Modern Linguistics« von 1945 in der Zeitschrift »Word«, die Roman Jakobson begründet hatte,72 mit dem Cassirer auf der Überfahrt nach Amerika Bekanntschaft schloß. Die Behauptung scheint mir deshalb nicht überzogen, daß Cassirer auf

66

A. a. O., 13 f. A. a. O., X. 68 Ebd. 69 A. a. O., 13. 70 Ebd. 71 A. a. O., 14. 72 Jetzt in: Ernst Cassirer: Aufsätze und kleinere Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 299–320. 67

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seine Weise einer der bedeutendsten Strukturalisten des 20. Jahrhunderts war. 73 Das setzt allerdings voraus, daß man unter »Strukturalismus« mehr versteht als die kurzlebige ideologische Modeerscheinung, die insbesondere im Frankreich der sechziger Jahre grassierte. Ich möchte deshalb zum Abschluß die philosophische und wissenschaftliche Bedeutung von Cassirers Transformation der Hegelschen Phänomenologie anhand seines Umgangs mit dem Strukturbegriff demonstrieren.

VII) Die Korrelation von Struktur und Genese Der Term »Struktur« wird von Cassirer oft synonym mit »Form« verwendet, und in der Rede von der »Strukturform« werden beide miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig. Der Strukturbegriff wird dabei in einem holistisch-organismischen Sinn gefaßt: Eine echte Struktur ist mehr als ein bloßes Aggregat, reduziert sich also nicht auf eine »Und-Verbindung«, wie Cassirer im Anschluß an Wertheimer sagt.74 Als Vertreter eines Strukturalismus sui generis kann Cassirer deswegen gelten, weil es ihm generell um eine »›Formenlehre‹ des Geistes«75 geht. Aber auch das Pendant zum Strukturbegriff, der Begriff der Genese, spielt bei Cassirer eine wichtige Rolle. Denn was die Philosophie der symbolischen Formen zugleich erfassen will, ist die »Genesis der Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein«.76 Mit der so weit gefaßten »Genesis« stehen wir wiederum, wie Cassirer selbst bemerkt, im »allgemeinen Problemkreis«77 von Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Der Unterschied ist allerdings der, daß bei Cassirer nun nicht mehr wie bei Hegel das »sinnliche Bewußtsein«, sondern das mythische Bewußtsein den »eigentlichen Ausgangspunkt«78 für die Entfaltung des Geistes abgibt. Von hier aus kann man bereits vermuten, was im folgenden näher begründet werden soll, daß nämlich Cassirers Strukturalismus ein genetischer ist. Aber gerade die Korrelation von »Genese« und »Struktur« eröffnet uns nun den Zugang zu Cassirers vielschichtiger Problembehandlung.

73

Vgl. dazu generell vom Verfasser: Art. »Struktur«, in: Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6, Hamburg 2010, 355–369. 74 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24, 255. – Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24, 320. 75 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, VII. 76 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XI. 77 A. a. O., XII. 78 A. a. O., XIII.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Anders als der Terminus »Struktur« haben das Substantiv »Genese« und insbesondere das Adjektiv »genetisch« bei Cassirer einen höchst ambivalenten Stellenwert. Je nach Kontext werden sie eindeutig negativ, dann aber auch ebenso entschieden positiv gewichtet. Abgewertet und abgewehrt wird »genetisch« in den Wortverbindungen »bloß genetisch«79 »empirisch-genetisch« 80 , »genetisch-psychologisch«. 81 Cassirer hat hier hauptsächlich jene Richtungen der Psychologie im Auge, die sich an den Naturwissenschaften orientieren und mittels empirischer Beobachtung und exakter Messung kausale Herleitungszusammenhänge zwischen Bewußtseinsphänomenen aufstellen wollen, die sie mit den Kategorien materieller Dingerkenntnis in eine quasi physikalische Gesetzesform zu bringen versuchen. 82 Eine solche »empirisch-kausale ›Erklärung‹« mag zwar laut Cassirer die »zeitlichen Entstehungsursachen« und damit die »empirische Herkunft« bestimmter Bewußtseinsphänomene aufdecken. 83 Aber eine solche »bloß genetische« Herangehensweise vermag die eigentliche »Genesis«, auf die es für Cassirer ankommt, nicht zu erfassen, nämlich den »genetischen Zusammenhang« zwischen den Grundformen der Kultur in ihrem Ausgang vom Mythos. Sie kann das deshalb nicht, weil sie dazu zuvor deren Strukturformen erfassen müßte84 . Was Cassirer mit dem »bloß Genetischen« hier als ungenügend zurückweist, ist genau das, was Piaget eine Generation später als »Genetismus ohne Struktur«85 kritisieren wird: der Versuch der Etablierung von Herleitungszusammenhängen zwischen Phänomenen unterschiedlicher Entwicklungsstufen, die isoliert herausgegriffen und nicht vorgängig in ihren jeweiligen Strukturzusammenhängen bedacht werden. Entsprechend weist nun Cassirer seiner Philosophie der symbolischen Formen die Aufgabe zu, eben nach den in der »bloß genetischen« Herangehensweise vernachlässigten Strukturformen zu fragen. Diese sollen gemäß der kritisch-transzendentalphilosophischen Methodik in ihrem »reinen Bestand« 86 reflektiert werden – wir stoßen hier wieder auf das, was oben mit Cassirer als »kritische Phänomenologie« bezeichnet wurde. Um diese Aufgabe rein für sich angehen zu können, ohne den Rückgang auf zeitlich

79

A. a. O., XI. A. a. O., 13. 81 A. a. O., 14 Anm. 12. 82 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13,56 f. 83 A. a. O., 54. 84 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XI; Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 54. 85 Vgl. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt/M. 1994, 134 f. Dazu vom Verfasser: »Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz«, 210–213. 86 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 54. 80

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vorgängige Entstehungsursachen, was automatisch einen Psychologismus zur Folge hätte, trennt Cassirer die Analyse der Strukturformen radikal von deren Genese ab. »Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des ›objektiven Geistes‹ genommen, deren ›Sein‹ sich rein als solches, unabhängig von der Frage nach seinem ›Gewordensein‹, aufweisen und verstehen lassen muß.« 87 Sind wir damit beim Gegenteil eines »Genetismus ohne Struktur« gelandet, bei einem »Strukturalismus ohne Genese«88 , wie Piaget das andere Extrem genannt hat? Keineswegs. Der eben zitierte Satz Cassirers ist, wie aus ihm selbst hervorgeht, als eine methodische Anweisung zu verstehen. Er darf nicht im Sinne einer Existenzaussage genommen werden, der zufolge Strukturen in platonischer Manier ihr »Sein« unabhängig von ihrem »Gewordensein«, d. h. ohne die strukturbildende Kraft von Subjekten, besäßen. »Genetisch« kann darum für Cassirer auch geradezu soviel wie »wirklichkeitsbegründend«, »konstituierend« bedeuten. 89 Strukturen gibt es als strukturierte für Cassirer nur aufgrund von Strukturationen, die allerdings selbst auf vorgängige Strukturen zurückweisen – in Cassirers Nachlaß findet sich hierfür die Differenzierung zwischen forma formata und forma formans.90 Die schon mehrfach zitierte Rede von der »Genesis der Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein«91 bleibt somit als eine echte »Genesis« bestehen, und das heißt nun, als ein sich Auseinanderentwickeln nicht von isolierten Elementen, sondern eben von Strukturformen. Darum können auch – und hier stellt Cassirer wiederum den Bezug zu Hegels Phänomenologie her – die einzelnen Bewußtseinsformen letztlich nicht »losgelöst und abgesondert« von den ihnen vorhergehenden voll verstanden und gewürdigt werden. Nur so kann schließlich die Bewegung des Geistes nicht nur in ihrem »Produkt«, sondern »in der Art und Form des ›Procedere‹ selbst« und somit in ihrem »Prozeßcharakter« verstanden werden.92 Nach den Extremen eines »Genetismus ohne Struktur« und eines »Strukturalismus ohne Genese« sind wir so mit Piaget gesprochen beim vermittelnden Dritten eines »genetischen Strukturalismus«93 angelangt.

87

Ebd. Vgl. Piaget: Biologie und Erkenntnis, 134. 89 Vgl. Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 249. 90 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 18. – Vgl. dazu vom Verfasser: »Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen«, in: Reto Luzius Fetz/ Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ›Nachgelassenen Manuskripten und Texten‹, Cassirer-Forschungen Bd. 13, Hamburg 2008, 15–33. 91 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XI. 92 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, IX. 93 Vgl. Piaget: Biologie und Erkenntnis, 136–138. 88

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Piaget hat selbst einen solchen Strukturalismus hauptsächlich innerhalb seiner entwicklungspsychologischen Arbeit praktiziert, die zu seiner Stufentheorie der Erkenntnisentwicklung führte. Jede Erkenntnisstufe wird hier durch die ihr zugrunde liegenden Strukturen bestimmt, die genetisch auf vorhergehende Strukturen zurückweisen. Am Ausgangs- und am Endpunkt einer jeden Genese steht somit jeweils eine Struktur. Genese und Struktur bedingen sich wechselseitig: keine Genese ohne vorausliegende Struktur, aber auch keine Struktur ohne vorhergehende Genese. Damit hat innerhalb der Psychologie eine Wissenschaftsentwicklung ihre abschließende Form gefunden, die schon Cassirer vorausgesehen hatte, als er schrieb: »Immer schärfer macht sich [in der Psychologie in ihrer modernen wissenschaftlichen Gestalt] die Einsicht geltend, daß die genetischen Probleme niemals rein für sich, sondern nur in nächster Verknüpfung und in durchgängiger Korrelation mit den ›Strukturproblemen‹ ihre Lösung finden können.«94 Damit wäre nun das Profil dieses aus der Korrelation von Struktur und Genese hervorgegangenen wissenschaftlichen Paradigmas zu zeichnen. Ich kann hier nur auf zwei bedeutsame Punkte hinweisen. Von einem »Strukturalismus ohne Genese«, wie er in radikaler Form in den sechziger Jahren von Lévi-Strauss und Foucault vorgetragen wurde, hebt sich der von Cassirer und Piaget vertretene »genetische Strukturalismus« insbesondere durch die konstitutive Funktion ab, die er dem Subjekt zuweist. LéviStrauss und ganz dezidiert der frühe Foucault hatten den »Tod des Subjekts« proklamiert. In einem ahistorischen Strukturalismus, der in letzter Instanz nur das starre Gefüge sich gleichbleibender, von der Sprache, dem Denken über den Mythos bis in die Materie hinabreichender Strukturen gelten läßt, kann es letztlich kein Ich, sondern nur das Es unbeweglich in sich ruhender Tiefenstrukturen geben, an deren Oberfläche sich das illusionäre Ich kräuselt. Wo dagegen Strukturen als Prozeßresultate gedeutet werden, als Produkte einer schöpferischen Energie, die Geist und Leben miteinander verbindet, da muß mit den Prozessen der Strukturierung notwendig auch ein strukturierendes Subjekt mitgedacht werden, wie Piaget gegen Foucault geltend gemacht hat.95 Es ist dies ein Subjekt, das in Vorformen schon in den physikalischen Einheiten und dann besonders im Organischen am Werk ist und mit den vollentwickelten Erkenntnisformen schließlich seine Autonomie erlangt. Somit ist es das Leben selbst, das Subjektivität gewinnt. Cassirer spricht das dadurch aus, daß er jener berühmten Stelle aus der »Phänomenologie des Geistes«, wo Hegel erklärt,

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, XI. Vgl. Jean Piaget: Le structuralisme, Paris 1968, 120; dt.: Der Strukturalismus, Olten 1973, 134. 94 95

Fetz · Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes 151

»das Wahre« sei »nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«96 , eine dezidiert dynamische Wendung gibt: »Die Substanz des Lebens ist zum Subjekt geworden.«97 Damit ist ein Zweites verbunden. Dem erklärten Materialismus gegenüber, wie er uns am Ende sowohl bei Lévi-Strauss als auch Foucault begegnet, setzen Cassirer und auch Piaget nicht einfach eine idealistische Position entgegen, sondern rekurrieren mit dem Strukturbegriff auf ein Drittes, das sowohl in geistiger als auch in materieller Form auftritt und damit jenseits eines Materie-Geist-Dualismus steht. Hier wären für Cassirer alle jene Stellen heranzuziehen, wo er seine Position jenseits des Gegensatzes von Naturalismus und Idealismus ansiedelt98 und für eine Anthropogonie plädiert, welche die »symbolischen Formen« als die Fortführung naturaler Organisation in einem neuen Medium begreift. Teilt man die Auffassung, daß die von Cassirer geforderte Korrelation von Struktur und Genese im strukturgenetischen Ansatz Piagets und seiner Schüler ihre wissenschaftliche Umsetzung erfahren hat, dann stellt sich eine doppelte Aufgabe. Es wäre erstens zu prüfen, was innerhalb des strukturgenetischen Ansatzes von Cassirers Programm durch entsprechende Forschungen neu realisiert wurde und welche Ideen Cassirers dabei eine neue wissenschaftliche Validität gefunden haben. Ein Paradebeispiel dafür wäre der Vergleich der Erkenntnisentwicklung, wie sie Cassirer im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen vorzeichnet, mit den Ergebnissen von Piagets genetischer Epistemologie. Hier können schon jetzt frappierende Übereinstimmungen ausgemacht werden. Man bedenke nur, wie bei Cassirer die sich entwickelnde Erkenntnis aus dem Kreis der »Präsenz« hervortritt, zur »Repräsentation« übergeht, hier ihre abstrakte Form findet und schließlich durch den Aufbau eines rein gedanklichen Reiches des Möglichen ihre wissenschaftliche Gestalt gewinnt – ein Entwicklungsweg, bei dem man unschwer die Piagetschen Stufen der sensomotorischen Intelligenz und des repräsentativen Denkens bis hin zu seiner formal operatorischen Stufe vorgebildet sehen kann. Innerhalb des strukturgenetischen Ansatzes, der von Piaget auf die Erkenntnisentwicklung fokussiert, von Kohlberg auf die Moralentwicklung übertragen99 und von weiteren Exponenten auf die Entwicklung von

96 97 98

Hegel: Phänomenologie des Geistes, 18. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 238. Vgl. etwa Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2,

248 f. 99

Vgl. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt/M. 1996.

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Weltbildern100 , der Sozialbeziehungen101, von Freiheit102 und Gewissen103 angewendet wurde, hat jedoch keineswegs die Totalität der von Cassirer anvisierten Kulturformen ihre angemessene Berücksichtigung erfahren. Cassirers umfassende, aus der Hegelschen Phänomenologie übernommene Frage nach dem Zusammenhang der symbolischen Formen und ihrer geschichtlichen und aktuellen Bedeutung wurde hier überhaupt noch nicht wirklich gestellt. So bleibt eine Differenz zwischen Cassirers Gesamtprogramm und den bisher verfolgten Strukturgenesen, aufgrund deren Cassirer für den strukturgenetischen Ansatz weiterhin die Rolle eines Vordenkers zukommt. Aber auch Cassirer sah ja seine Philosophie nicht als einen »fertigen Bau« an, sondern als einen »Grundriß«, bei dem »viele und wichtige Teile« unausgeführt geblieben sind und »prinzipielle Grundfragen« noch auf eine Lösung warten.104 Und immer wieder stoßen wir bei ihm auf Stellen, wo er sich eine Weiterführung seines Ansatzes und die Lösung offener Fragen von der Zusammenarbeit zwischen Philosophie und einzelwissenschaftlicher Forschung erhofft.105 Die vielfältigen Anregungen Cassirers nicht aufzunehmen, heißt also den Aufforderungs- und Hoffnungscharakter verkennen, der seiner Philosophie innewohnt. Nur durch eine kreative Weiterführung seines Werks wird Cassirer nicht bloß als eine große historische Gestalt des 20. Jahrhunderts in Erinnerung bleiben, sondern als ein Vordenker weiterwirken, dessen Zeit keineswegs abgelaufen ist.

Vgl. Reto Luzius Fetz/Karl Helmut Reich/Peter Valentin: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2001. 101 Vgl. Robert Selman: »Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstreflexion bei Kindern«, in: Wolfgang Edelstein/Monika Keller (Hg.): Perspektiven und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt/M. 1982, 375–421. 102 Vgl. Benedikt Seidenfuß: »Die Entwicklung der Willensfreiheit im Kontext des strukturgenetischen Ansatzes«, in: Karlfriedrich Herb/Siegfried Höfling/Roswitha Wiesheu (Hg.): Kinder philosophieren. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, München 2006, 67–86. 103 Vgl. vom Verfasser: »Das Gewissen: Angelpunkt von Moralität und Identität«, in: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 2, Universalistische Moral und Ethik in der Lehre, hg. von Armin Regenbogen, Hamburg 1995, 51–68. 104 Ernst Cassirer: »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22, 137. 105 Vgl. ebd. und Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, X. 100

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Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Aufsätze und kleinere Schriften (1922–1926), in: ECW 16 – »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22 – Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 – »Structuralism in Modern Linguistics« (1945), in: ECW 24 – Aufsätze und kleinere Schriften (1941–1946), in: ECW 24 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Geschichte. Mythos, in: ECN 3 Massimo Ferrari: »Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die Bibliothek Warburg (1921–1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/ Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988 Reto Luzius Fetz: Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie, Bern 1988 – »Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz«, in: Hans-Jürg Braun/ Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988 – »Das Gewissen: Angelpunkt von Moralität und Identität«, in: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 2, Universalistische Moral und Ethik in der Lehre, hg. von Armin Regenbogen, Hamburg 1995 – /Karl Helmut Reich/Peter Valentin: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2001 – »Forma formata – forma formans. Zur historischen Stellung und systematischen Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen«, in: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ›Nachgelassenen Manuskripten und Texten‹, Hamburg 2008

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– Art. »Struktur«, in: Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6, Hamburg 2010, 355–369 Nicolai Hartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus, Berlin 19602 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Hamburg 1980 Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt/M. 1996 Jean Piaget: Logique et connaissance scientifique. Encyclopédie de la Pléiade, Paris 1967 – Le structuralisme, Paris 1968; dt.: Der Strukturalismus, Olten 1973 – /Rolando Garcia (Hg.): Psychogenèse et histoire des sciences, Paris 1983 – Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt/M. 1994 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997 Benedikt Seidenfuß: »Die Entwicklung der Willensfreiheit im Kontext des strukturgenetischen Ansatzes«, in: Karlfriedrich Herb/Siegfried Höfling/Roswitha Wiesheu (Hg.): Kinder philosophieren. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, München 2006 Robert Selman: »Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstreflexion bei Kindern«, in: Wolfgang Edelstein/Monika Keller (Hg.): Perspektiven und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt/M. 1982

Christian Möckel

Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie Ernst Cassirer über methodologische Analogien

I) Das Formproblem in Kulturwissenschaften und Biologie Der Sprachphilosoph Ernst Cassirer wählt für die Darlegung seiner Theorie der Sprache als einer symbolischen Form der Kultur, als einer symbolischen Leistung, des öfteren das methodische Verfahren, Fakten und Erkenntnisse der Sprachpathologie als empirische Bekräftigung seiner Thesen anzuführen. Der Grundgedanke dieses Verfahrens besteht darin, so Cassirer 1927 in einem Vortrag über Sprache, Denken und Wahrnehmung, daß pathologische Sprachstörungen nicht nur auf eine Störung des symbolischen Vermögens verweisen, sondern daß ihre Betrachtung die Symbolfunktion der Sprache als solcher und ihren Zusammenhang mit »einer gemeinsamen Grundfunktion des Geistes […], die wir als die Symbolfunktion schlechthin bezeichnen«, aufzuklären vermag. Für eine solche Aufklärung jedoch scheint »heute nicht nur die Sprachpathologie, sondern auch die Biologie und die Entwicklungspsychologie mancherlei Material zur Verfügung zu stellen« bzw. »manchen Hinweis und Fingerzeig« zu enthalten.1 Zu dem hier angedeuteten methodischen Verfahren des klärenden und bekräftigenden Bezugnehmens auf Sprachpathologie, Entwicklungspsychologie und Biologie greift Cassirer auch in den Fällen, wenn er Fragen der Kulturphilosophie bzw. Kulturwissenschaften nachgeht, wobei dann die Biologie bzw. biologische Entwicklungslehre im Mittelpunkt des Interesses steht. Deutlich wird dies insbesondere an dem in Band 5 des Nachlasses zugänglich gemachten Text der 1939 in Göteborg gehaltenen Vorlesung über »Probleme der Kulturphilosophie« samt weiterführenden Anlagen (Blätter über Objektivierung) 2 sowie an den im Umkreis dieses Vorlesungsmanuskriptes verfaßten Entwürfen, die kürzlich in Band 4 des

1

Ernst Cassirer: »Über Sprache, Denken und Wahrnehmung« (1927), in: ders.: Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, hg. von Christian Möckel, in: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois † und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 4, Hamburg 2011, 310. 2 Ernst Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ders.: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, in: ECN 5, hg. von Rüdiger Kramme†, Hamburg 2004, 29–200.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Nachlasses veröffentlicht worden sind.3 Viele der anhand dieser Vorlesung samt Vorarbeiten gewonnenen Einsichten finden 1941/42 Eingang in die Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften.4 Cassirer, der die Kulturwissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften auf den Form- und Stilbegriff, den Begriff des Lebens und den der Ausdrucksphänomene zu gründen sucht,5 geht in diesen Texten soweit, angesichts der diskutierten Fragen einer spezifischen, eigentümlichen kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung von methodischen Analogien bzw. Ähnlichkeiten in Bezug auf das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie zu sprechen. So hat er hier die Erkenntnis zu Papier gebracht, daß sich innerhalb der Kulturwissenschaft das »›Kausalproblem‹ […] niemals losgelöst vom Formproblem stellen«, sondern »immer nur durch Rückgang auf das Formproblem lösen« läßt. In Klammern setzt er noch hinzu: »wie dies ähnlich übrigens schon für die Biologie gilt, in der sich daher immer wieder die ›Entelechie‹ als die eigentliche ›wirkende Ursache‹ behauptet«. 6 Wir haben es bei diesem Hinweis nicht mit einer zufällig oder absichtslos niedergeschriebenen These Cassirers zu tun, wie die nachfolgend zusammengestellten vielfältigen Verweise auf Analogien in den Kulturwissenschaften und in der – beschreibenden – Naturwissenschaft Biologie belegen, die sich fast ausschließlich in der bereits erwähnten Göteborger Vorlesung von 1939, vereinzelt aber auch im Erkenntnisproblem IV7 finden. Innerhalb seines Konzeptes der ›zwei Kulturen‹ in der Wissenschaft (Oswald Schwemmer) rückt Cassirer folglich anhand des Formproblems Kultur- und Naturwissenschaft (Biologie) trotz aller Unterscheidung und Abgrenzung offenbar doch enger zusammen, als auf den ersten Blick ersichtlich. Der Frage wissenschaftsmethodischer bzw. erkenntnistheoretischer Gemeinsamkeiten und auszeichnender Eigentümlichkeiten der Mathematik bzw. der mathematischen Naturwissenschaften, der Lebenswissenschaft (Biologie) und den Wissenschaften vom geistigen Leben schenkt Cassirer aber genau genommen bereits seit dem Leibniz-Buch (1902) bzw. dem Erkenntnisproblem I/II (1906/07) Aufmerksamkeit, motiviert nicht

3

Ernst Cassirer: »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹« (1935/36), in: ECN 4, 151–215. 4 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24, 357–486. 5 Christian Möckel: »Die Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Zu Ernst Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, in: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008, 179–195. 6 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, in: ECN 5, 190 f. 7 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band, in: ECW 5.

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zuletzt durch den Organismusbegriff in Leibniz’ Philosophie, in Kants Kritik der Urteilskraft und in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. An Leibniz würdigt er den – mit Hilfe des Monadenbegriffs – methodologisch gelungenen Übergang von der abstrakten Mechanik zum »Gebiet der organischen Naturbetrachtung«. Dieser monistisch, d. h. ohne Zuhilfenahme einer dem begrifflichen System fremden ›Lebenskraft‹, sondern durch Einführung des irrationalen Zufalls ins System erklärte Übergang gipfelte in einem Begriff des lebenden Organismus, der »bis heute wissenschaftlich wirksam« sei. 8 Dagegen sieht er in dem Tatbestand, daß bei Aristoteles die Logik gegenüber der Biologie die leitende Funktion der Erkenntnis verliert, einen Rückschritt in Bezug auf den logischen Idealismus Platons, zu dem sich der ›Marburger‹ Cassirer 1902 noch weitgehend bekennt. Diese Fragestellung führt ihn auch auf das Problem, inwieweit das erkenntnistheoretisch-methodische Instrumentarium der einen Wissenschaftsgruppe mit guten Rechtsgründen, ohne Simplifikationen, auf die anderen Typen von Wissenschaft übertragen werden darf. So mag Cassirer zwar der von Goethe propagierten Übertragung des Lebensprinzips auf die anorganische Natur nicht unbesehen folgen, wendet aber den Organismusbegriff – in Kantischer Tradition – bewußt auf die Charakterisierung der Vernunft an.9 Das methodische Problem der Übertragbarkeit des organischen Lebensprinzips auf die Erkenntnis – und folglich auf die Vernunft –, die dann als eine »organische Einheit« gilt, berührt Cassirer mehrfach in seiner Darstellung des deutschen, nachkantischen Idealismus.10 Der von der Romantik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte, auf dem allgemeinen Formbegriff ruhende Organismusbegriff, über den sich eine Parallele zwischen Leben und Geist herstellen läßt, und der im 19. Jahrhundert seine zentrale Stellung in der Systematik der Geisteswissenschaften weiter behalte, erfährt aber, so Cassirer 1923, in Sinn und Tendenz eine durchgreifende Wandlung, seitdem ihm »der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft gegenübertritt.«11 Aus dem ursprünglich eher philosophischen Begriff des lebenden Organismus ist mit der Biologie im 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlicher geworden.

Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in ECW 1, 9. Kap. Das Problem des Individuums in der Biologie – Der Organismus, 358– 378, hier: 367. 9 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, in: ECW 8, 346; Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Dritter Band (1920), in: ECW 4, 296; 303. 10 Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Dritter Band, ECW 4, 153; 230; 363. 11 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 107. 8

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Im Folgenden sollen Rechercheergebnisse vorgestellt werden, die aus einem den Ähnlichkeits- und Analogiethesen Cassirers Nachgehen hervorgegangen sind. Zuerst werden die wichtigsten, von Cassirer hervorgehobenen Form-Analogien in einer sich aus der Sache selbst erschließenden Ordnung mitgeteilt und thematisiert. Dabei geht es natürlich auch darum, inwieweit sich das Formproblem in beiden Gegenstandsgebieten unterschiedlich stellt, d. h. darum, was die Besonderheit des Formproblems in der Biologie ausmacht. Danach soll – unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen – Cassirers Bild von der Biologie als moderner Naturwissenschaft skizziert werden. Daran schließt der Versuch an, einige Aspekte samt sich einstellender Fragen der Analogien bzw. Ähnlichkeiten des Formproblems in Kulturwissenschaften und naturwissenschaftlicher Biologie und des umrissenen Biologiebildes zu diskutieren und zu explizieren. Das meint u. a. die Bedeutung der ein bestimmtes methodisch gemeintes Verhältnis andeutenden soeben zitierten Aussage »schon für die Biologie gilt«, die auf eine Art Stufenbau der Wissenschaften schließen läßt. Außerdem ist auch auf die – zunächst etwas irritierende – These Cassirers einzugehen, wonach nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern alle modernen Naturwissenschaften wie Physik, Psychologie und Biologie ein eigenes Formproblem besitzen.12 Scheint doch damit nicht nur die grundsätzliche Unterscheidung von Kausal- bzw. Gesetzeswissenschaften und Gestalt-, Stil- bzw. Formwissenschaften13 unterlaufen, aufgehoben zu sein, sondern auch die Biologie ihren herausgehobenen oder Sondercharakter unter den Naturwissenschaften wieder zu verlieren, der aus ihrem Gegenstand, dem Leben, dem lebendigen Organismus, der organischen Selbstorganisation resultiert.

II) Sieben Form-Analogien nebst gewissen Unterschieden Eine philosophische Begründung für die Möglichkeit von Form-Analogien bzw. Parallelen zwischen Biologie und Kulturwissenschaft gibt Cassirer mit der – noch anzusprechenden – Theorie vom Stufengang der wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche, wonach die höheren Stufen die Gesetze und Strukturen der niederen in Geltung lassen und neue, eigentümliche hinzufügen.14 Dieser Tatbestand scheint bis zu einem gewissen Grade die Übertragung der Begrifflichkeit der niederen auf die höheren Stufen zu rechtfertigen. Ergänzt wird diese Möglichkeit durch die von Cassirer

12 13 14

Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 454 f. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5 , 92; 100. A. a. O., 63; Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 286.

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getroffene Unterscheidung zwischen ›allgemeinem‹ Formbegriff und dem ›eigentümlichen‹ Formbegriff des jeweiligen Gegenstandsbereiches, den Aufbauprinzip, Prinzip der Über- und Unterordnung etc. von dem eines anderen speziellen Bereiches trennt.15 Diese Auffassung vom Stufengang bzw. der Emergenz schränkt allerdings in Cassirers Augen das Benennen von Analogien bzw. das Übertragen der biologischen Formbegrifflichkeit auf die der Kulturformen auf ein methodisches ›als-ob‹ ein: demnach sind »die Kultur›formen‹ […] ›Organismen‹ nur im Als-Ob Sinne«.16 Die in der Vorlesung über Kulturphilosophie von 1939 und dem etwa zur selben Zeit verfaßten Erkenntnisproblem IV enthaltenen expliziten Hinweise zu Form-Analogien lassen sich sieben Aspekten zuordnen: dem Begreifen und Beschreiben; der Permanenz und Wandlungsfähigkeit; dem individuellen Charakter der Prägnanz; der Morphologie und Genesis; der Synthesis des Mannigfaltigen; der Unableitbarkeit bzw. des Kausalproblems; und der emotionalen Sprache. Diese Zuordnung ergibt nachfolgendes Bild, das gleichzeitig einen Ausblick darauf gestattet, worin Cassirer die Eigenart des Formbegriffs der Biologie im Vergleich mit dem Formund Gestaltbegriff der Kulturwissenschaft sieht: Begreifen und Beschreiben: Es ist zunächst das kulturphilosophische Begreifen, das sich als Beschreibung von Strukturen, Ganzheiten – anstelle von Erklären durch Rückführung auf quantitative Gesetze – vollzieht, und das somit den Formbegriff voraussetzt, impliziert. Wenn die für die Spezifik der Kulturobjekte entscheidende Ausdrucks-Wahrnehmung als logisches Fundament des Begreifens den Formbegriff fordert, dann ist »in dieser logischen Hinsicht […] die Welt der Kulturobjekte der der biologischen Begriffe parallel.«17 Auch bereits das biologische Begreifen vollzieht sich als ein Beschreiben von Formen bzw. Strukturen. Dabei müsse die Beschreibung des einzelnen Organismus (bzw. Organs) das Allgemeine, das Ganze, die Gesamtstruktur der entsprechenden Tierform voraussetzen.18 »Das Wissen von einer Einzelform [des Lebens – CM] setzt […] das Wissen von der Formwelt als Ganzes voraus«.19 Mit anderen Worten, die Gattungsform – d. h. der ›Bauplan‹, die ›Lebensform‹ - steht für die allgemeinen Formgesetze, die im Tierreich die Form des einzelnen Organismus streng festlegen.20

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Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 58 f. A. a. O., 127. A. a. O., 101 f. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 151. A. a. O., 152. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 135.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Permanenz und Wandlungsfähigkeit: Cassirer sieht »das Analogon, das immer wieder zu einem Vergleich der Kulturobjekte mit Objekten der organischen Natur geführt hat«, insbesondere in der Eigenschaft des ›Bestandes‹ von Kulturphänomenen, sich in beständiger Veränderung zu befinden und dennoch ein und dieselben zu bleiben, was sich in ihren Fortwirkungen und beständigen Umbildungen bekunde. »Diese Fähigkeit zur Permanenz der Form und zur Entwicklung der Form« ist – so Cassirer – »beiden [Objektklassen – CM] gemein«.21 Bei der betonten Gemeinsamkeit hat er u. a. den Tatbestand vor Augen, daß die Fähigkeit der Form zur Permanenz und Wandlungsfähigkeit, die er als ihr »eigentümliches ›Leben‹« bezeichnet, in den kulturellen wie in den biologischen Gebilden trotz aller Tendenzen zur Erstarrung erhalten bleibt. Deshalb ist, mit anderen Worten, »die Metamorphose«, d. h. die Auffassung von Gestaltwandel und Entwicklung eines Urtypus, »das Gemeinsame [der Kulturgestalten, CM] mit der Welt des Organischen«.22 Gemeint ist damit die Fähigkeit, eine Fülle neuer, einander ähnlicher Gestalten »aus sich hervorgehen zu lassen«. Die organischen ›Lebensformen‹ oder ›organischen Naturen‹ bilden demnach keine »konstanten Grundverhältnisse«, sondern lassen sich je einem Typus oder ›Urbild‹ zuordnen, 23 sie erscheinen – der »empirischer Intuition« – als »nach einem Urbilde geformt«, das, obwohl nur in den Teilen variierend und abweichend, sich aber dennoch im Ganzen um- und fortbildet. 24 In diesem Sinne verhalten sich die Kulturgestalten wie organische Gestalten, ohne aber solche zu sein, genauer: Sie verhalten sich, ›als ob‹ sie welche wären. Die Annahme, daß für Cassirer die Form-Begrifflichkeit der biologischen Metamorphosenlehre auf den höheren Gegenstandsstufen der Wissenschaft, zumindest auf dem der Kulturwissenschaft – und der Historie –, ihre methodische Geltung behält, belegt auch eine Bemerkung zu Jakob Burckhardt. Der erfasse an den plastischen Bildwelten der Kunst, Dichtung, Sprache etc. eine Metamorphose, ein ›Werden im Sein‹, einen Gestaltwandel, wie ihn die Kulturgeschichtsschreibung mitzuteilen habe. 25 Individueller Charakter der Prägnanz: Die metamorphosische Beweglichkeit oder ›Prägnanz‹ der Form, die Cassirer an den geistig-kulturellen Formen dartut, was bedeutet, daß »die allgemeinen, ›starren‹ Formen […] immer wieder in diesen Schmelztiegel des […] Gestaltens, Umformens zurückgeworfen« werden,26 trifft seiner Überzeugung nach bereits auf die biologi-

21 22 23 24 25 26

A. a. O., 127. Ebd. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 160 f. A. a. O., 167. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 323. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 139.

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schen Formen zu. Auch die biologische Form ist in diesem Sinne »›geprägte Form‹[…], die lebend sich entwickelt«,27 ist ein und dieselbe Form, »die sich ständig um- und weiterentwickelt«.28 Doch hier wird auch auf grundsätzliche Unterschiede hingewiesen, die den individuellen Charakter der Umgestaltung der Form beim kulturell tätigen Menschen zum Ausgangspunkt haben. In der organischen Natur, im Tierreich kann von einer »Arbeit der Individuen […], die sich in diesen [prägnanten, CM] Formen ausdrücken«,29 sich ihrer bedienen, sie gebrauchen und damit neu ›beseelen‹, ihnen neues Leben geben,30 keine Rede sein. »Regeneration durch individuelle Aneignung und individuelle Formung« gibt es nur für und durch den Kulturmenschen.31 Schließt dies doch die Vererbung erworbener Eigenschaften ein,32 was – zumindest zu Cassirers Zeiten – für den Formbegriff der Biologie eine unüberschreitbare Schranke bildet.33 Das Tier als Exemplar der Gattung nehme nur an den allgemeinen Formgesetzen teil, die durch die Gattung streng und bindend vorgeschrieben werden. Morphologie und Genesis: Eine weitere methodische Analogie findet Cassirer in der morphologischen Herangehensweise an die beiden Objektklassen vor, wobei er die Morphologie als Lehre von der ›ideellen Genesis‹ der anschaulichen Gestalt (Goethe) im Unterschied von kausaler Erklärung bzw. historischer Abfolge der Lebenserscheinungen bevorzugt.34 Die sich in der modernen Biologie für den Betrachter ergebende ›ideelle Genesis‹ der morphologischen ›Form‹, bei der es nicht um die »Frage nach der historischen Abfolge der Lebenserscheinungen« gehe, hat ihr Gegenstück im ›genetischen Gesichtspunkt‹.35 Diesen hatte Cassirer z. B. in der Vorlesung über Grundprobleme der Kulturphilosophie (1929) für das Formproblem angesichts der Kulturphänomene geltend gemacht,36 sei das Kulturphäno-

27

A. a. O., 128. A. a. O., 134. 29 Ebd. 30 A. a. O., 131. 31 A. a. O., 135. 32 A. a. O., 140. 33 Neuere biologische Forschungen scheinen dagegen durchaus die Vererbung bestimmter Lebenserfahrungen selbst bei Pflanzen zu bestätigen. So haben die beiden Biologinnen Galloway (University of Virginia) und Etterson (University of Minnesota) in Labor- und Freiluftexperimenten an amerikanischen Glockenblumen nachgewiesen, daß die Familiengeschichte, weitergegeben als Information im Samen, über die Lebensdauer der nächsten Generation von Blumen (mit-)entscheidet. – Vgl. Laura F. Galloway/Julie R. Etterson: »Transgenerational Plasticity Is Adaptive in the Wild«, in: Science, Vol. 318, No. 5853, 1134–1136. 34 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 148; 173. 35 A. a. O., 172 f. 36 Ernst Cassirer: »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5, 21 f. 28

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men doch als ein ›Werden zum Sinn‹ zu verstehen.37 Abgesetzt wird diese Auffassung dabei gegen den aristotelischen Formbegriff, der die Formen des natürlichen Werdens als »unveränderliche Fundamente des Werdens« bestimmt, die dieses ermöglichen.38 Die morphologischen Begriffe der Gestalt, wie sie die Kulturwissenschaft kennt und anwendet, sind als solche »schon in der Biologie unentbehrlich«.39 Aber auch die Analogie der Morphologie muß die Unterschiede von Naturgeschichte und Kulturgeschichte beachten. Unter Morphologie bzw. morphologischer Form der Gattung versteht Cassirer offenbar die Lehre vom funktionalen Bau, d. h. von den Funktionen, der Gliederung des gattungsspezifischen Organismus nach Funktionen, ›verkörpert‹ in den Organen. Die »allgemeinen [morphologischen, CM] Formgesetze« der Tier-Gattung determinieren den »körperlichen ›Bauplan‹«, d. h. die Organe und Funktionen, eines jeden Exemplars, binden es in seine jeweilige Merk- und Umwelt ein. Als Exemplar seiner Spezies drückt das einzelne Tier die morphologische Form der Gattung »und den durch diese Form vorgeschriebenen ›Bauplan‹« aus, den es als Exemplar nicht verändern, erweitern, verlassen kann.40 Hinsichtlich seiner »körperlich-morphologischen Struktur«, d. h. seiner »körperlichen Form«, erfährt sich das einzelne menschliche Individuum ebenfalls als in sie eingeschlossen, erfährt auch der Mensch ihre Unveränderbarkeit durch den Einzelnen. Diese Strenge und Bestimmtheit der körperlich-morphologischen Struktur gilt, so vermutet Cassirer, sogar für die kulturelle »Welt von [symbolischen, CM] Formen«, die das Individuum nicht erfindet, in die es vielmehr hineingeboren wird.41 Aber im Gebrauch verändert der Mensch, verändert das Individuum diese allgemeine geistige Form. Das gelte insbesondere für die Taten der ›großen‹ Individuen: »Der große Politiker wandelt eben auch die Form des Staates«.42 Das große Individuum ist demnach nie ein bloßer Fall der Gattung Mensch, weil es die kulturelle Gattungsform selbst – und ihre besonderen Kulturformen – neu belebt, umformt, regeneriert! Die Kulturform als solche, aber auch die Sprachform, die Kunstform etc. wird bei Cassirer nicht als Form an sich, als starre Form gedeutet, sondern als eine Form, von der wir zwar eine Art Urtyp, Urphänomen aufzeigen oder vorstellen können, die wir aber immer nur als konkrete, gewandelte, neu belebte, regenerierte, angereicherte etc. Form erfahren.

37 38 39 40 41 42

A. a. O., 12. A. a. O., 21 f. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 157. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 135. A. a. O., 135 f. A. a. O., 191.

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Eine gewisse Veränderung der morphologischen Form muß es aber dennoch auch in der organischen Welt geben, sonst könnte Cassirer ja nicht von einer Analogie mit der Kulturwelt sprechen. Auf die Lehre Lamarcks bezugnehmend heißt es denn auch, die Formveränderung durch Gebrauch »hat sein Analogon schon in der körperlichen [d. h. organischen, CM] Welt, wo gleichfalls die Funktion es ist, die die morphologische Form« der Art – d. h. auch der Gattung – »ändert, umgestaltet, entwickelt«.43 Da in den vorstehenden Zeilen von der Veränderung der allgemeinen geistigen Form durch ihren Gebrauch die Rede ist, hatte sich das ›gleichfalls‹ hier offenbar auf die symbolischen Funktionen kulturellen Tuns bezogen, die nun mit den Organfunktionen im biologischen Organismus in Analogie gesetzt werden. Diese Analogie ist m.E. so zu verstehen, daß das »einzelne Tier eine bestimmte Fertigkeit übt«, wodurch es »in sehr engen Grenzen durch diese Übung das Organ [der Funktion, CM] verändern« kann.44 Umstritten sei jedoch in der Biologie die Vererbbarkeit dieser morphologischen Veränderungen des Organs auf die Nachkommen bzw. auf die Gattung. Die notwendige theoretische Vereinbarung der »unverrückbaren Festigkeit der biologischen Form« mit der »Beweglichkeit, Entwicklung der Form« unterscheidet sich offenbar von dem entsprechenden Wechselspiel in der Welt der Kultur bzw. im Geistigen, wo die Funktion stetig und unmerklich das Organ verwandelt, was dieses zu neuen Funktionen befähigt.45 Darauf, daß die »Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe […], die in der organischen Natur herrscht«, sich von »dem Verhältnis, das uns in den Gebilden der Kultur begegnet«, unterscheidet, kommt Cassirer auch in LKW zu sprechen.46 Dabei wird noch einmal betont, daß in der Naturform die durch die Individuen bewirkten Veränderungen nicht ins Leben der Gattung eingehen, in der Kulturform dagegen sehr wohl: »Der ›Geist‹ hat [hier, CM] geleistet, was dem ›Leben‹ versagt blieb.«47 Außerdem – oder gerade damit – habe sich die Menschheit im Gegensatz zur Tierheit »in allen ihren Kulturformen […] einen neuen [zweiten, CM] Körper geschaffen, der allen gemeinsam zugehört«.48 Synthesis des Mannigfaltigen: In der Eigentümlichkeit, wie kunstgeschichtliche Stil- und Gestaltbegriffe – im Unterschied zu den Gesetzesbegriffen – »am Besonderen […] ein Allgemeines [der Form, CM] sichtbar« werden las-

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A. a. O., 136. Ebd. A. a. O., 137. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 484. A. a. O., 485. A. a. O., 486.

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sen,49 wie sie auf eine spezielle Weise die ›synthetische Einheit des Mannigfaltigen‹ bewirken,50 bestimmt Cassirer eine weitere, mit den bislang genannten eng verbundene Gemeinsamkeit zwischen den beiden Gebieten der Begriffsbildung und wissenschaftlichen Erkenntnis. Das Verhältnis »zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen« darf – wie Goethe gezeigt habe – »nicht [als] das Verhältnis der logischen Subsumption« gedeutet werden, sondern als »das Verhältnis der ideellen oder ›symbolischen‹ Repräsentation«,51 ein Verhältnis, das die Gestaltbegriffe vollbringen, vollziehen, vermitteln. Solche, ein eigentümliches Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen ausdrückende Gestaltbegriffe kenne, »neben den Gesetzesbegriffen, […] bereits die theoretische Biologie« bzw. der biologische Vitalismus.52 Dabei ist die ›Gestalt‹ der kulturwissenschaftlichen Forschung genau so etwas Objektives wie das ›Gesetz‹ in der Naturerkenntnis. Die Gestalt ist »eine ›Form‹ gleich den Naturformen, [sie] hat eine objektive Bestimmtheit und Struktur«.53 An einer weiteren Stelle in der Vorlesung heißt es noch einmal: »Die Art, der Modus, durch den die ›synthetische Einheit des Mannigfaltigen‹ bewirkt wird«, sei »in der Physik das Instrument des ›Gesetzes‹, in der Biologie und Kulturwissenschaft [dagegen, CM] das [Instrument, CM] der Form (›Gestalt‹)«.54 Denn »schon in der Biologie« ist neben dem Gesetz die Form – und damit die Gestalt – ein Begriff sui generis. Hinzuweisen bleibt noch auf den kleinen, aber wichtigen Bedeutungsunterschied beider Textstellen in Bezug auf den Begriff des Gesetzes: Im ersten Fall stehen ›Gesetz‹ und ›Form‹ bzw. ›Naturform‹ offenbar nicht in einem Gegensatz, im zweiten Fall dagegen ganz explizit. Unableitbarkeit und Kausalproblem: Die Formprobleme bzw. Formbegriffe in Kulturwissenschaft und in Biologie sind für Cassirer rein methodische, keineswegs metaphysische Probleme bzw. Begriffe,55 dabei aber insofern unreduzierbare und unableitbare Urphänomene, als sie nicht mit formfremden, d. h. materiellen Ursachen erklärt werden können. Darwin z. B. habe bei aller Betonung des Formbegriffs für das Organische die Form für ein bloßes Zufallsprodukt gehalten, für ein Produkt rein mechanischer Kräfte, und ihr so ihre Selbständigkeit und Unableitbarkeit genommen.56 Diese Selbständigkeit sieht Cassirer dagegen in Uexkülls ›Bauplan‹-Begriff, den er bekanntlich als Struktur- und Formbegriff deutet, gewahrt, insbesondere

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Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 133. A. a. O., 165. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 169. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 133. A. a. O., 143. A. a. O., 165. A. a. O., 95. A. a. O., 61 f.

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wenn der in diesem Zusammenhang von einer »›immateriellen Beziehung der materiell gegebenen Teile eines Körpers‹«57 oder von »einer nichtstofflichen Ordnung, einer Regel des Lebens […], die dem Stoff erst sein Gefüge verleiht«,58 spreche. Doch trotz des Ausschlusses von kausaler Ursprungsforschung in Bezug auf den Begriff der Ganzheit oder der Struktur sowohl in der Kulturwissenschaft als auch in der Biologie stellt Cassirer fest, daß beide Wissenschaften nicht ohne das Kausalproblem auskommen, das sich in der Kulturwissenschaft aber, wie wir bereits gesehen haben, nur »durch Rückgang auf das Formproblem lösen [läßt] (wie dies ähnlich übrigens schon für die Biologie gilt […])«.59 Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob Cassirer immer in ein und demselben Sinne von Kausalität spricht, oder ob er einmal eine Kausalität vor Augen hat, die Naturwissenschaftler unter Laborbedingungen erzeugen, ein anderes Mal aber eine Kausalität als Strukturproblem, was für die zitierte Aussage zuzutreffen scheint. Emotionale Sprache: Und schließlich kommt Cassirer im Essay on Man noch in einem weiteren Sinne auf Analogien zwischen Kultur- und Tierreich – und damit indirekt zwischen Kulturwissenschaft und Biologie – zu sprechen, nämlich dann, wenn er die »modes of symbolic behavior« unterscheidet.60 So finde man – bei allen Unterschieden – »analogies […] to emotional language« des Menschen bereits »in the animal world«.61 Das Tier kennt ebenfalls eine subjektive emotionale Sprache, nicht jedoch die objektive aussagende, propositionale Sprache, über die allein der Mensch verfügt.62 Es verfügt über eine Zeichensprache, nicht aber über eine Symbolsprache, die dem Menschen vorbehalten ist,63 bzw. nur über erste Ansätze, soweit dies die emotionalen Ausdruckscharaktere betrifft. Das Tier bleibt letztlich beschränkt auf die »limits of his biological needs and his practical interests«,64 die der Mensch in der von ihm selbst ausgeprägten Symbolik überschreitet.65

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A. a. O., 162. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 235. 59 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 190 f. 60 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 32. 61 A. a. O., 34. 62 A. a. O., 34 f. 63 A. a. O., 36 f. 64 A. a. O., 47. 65 »Das Leben des Tieres besteht nicht, wie das des Menschen, in gegenständlichen Anschauungen und es zielt nicht auf gegenständliche Formungen.« (Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 86.) 58

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III) Die Biologie als moderne Form-Wissenschaft Die Biologie hat, so sieht dies Cassirer in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, im 19. und 20. Jahrhundert eine beachtliche Entwicklung genommen. Eine der Voraussetzungen dieses Aufschwungs bildete die sich seit Kants Kritik der Urteilskraft (1790) immer mehr durchsetzende Auffassung von der Autonomie oder Eigentümlichkeit ihres Gegenstandes, des Organismus mit seiner Eigenschaft der Zweckmäßigkeit, des organischen Lebens überhaupt gegenüber der anorganischen Natur und ihrer Grundwissenschaft, der Physik. Damit wurde der positivistische Methoden-Monismus, wie ihn Aristoteles und Descartes – auf gegensätzliche Weise – vertraten, grundsätzlich in Frage gestellt.66 Cassirer glaubt, daß sich zu seiner Zeit dieser Vorgang in den Kulturwissenschaften gerade wiederhole und noch nicht abgeschlossen sei. Er verfolgt und registriert aufmerksam, wie sich in der Biologie – und in den Kulturwissenschaften – eine neue eigentümliche Methodik etabliert, die in Distanz zu den vorherrschenden mathematischnaturwissenschaftlichen bzw. kausalwissenschaftlichen Methoden tritt, wie sie in der Physik Anwendung finden, wie sie aber auch von monistisch, materialistisch-mechanistisch eingestellten Biologen zur Erklärung des eigenen Gegenstandes - des Organismus - herangezogen werden. Die Auswertung der im vorhergehenden Abschnitt bereits erwähnten Schriften und Texte Cassirers erlaubt es, ebenfalls mindestens sieben Aspekte dieser methodischen Erneuerung herauszustellen und in die nachfolgende Ordnung zu bringen: Morphologie und Metamorphose, Darwins Evolutionstheorie, Animismus/Vitalismus, deskriptive Methode, kausalanalytische Methode, Wissenschaft als Formproblem, Formbegriff und Gesetzesbegriff. Morphologie und Metamorphose: In der Entwicklung der Biologie und ihrer Methode seit Kant werde zum einen die ausschließliche Klassifizierung des Ganzen des Lebens (Linné) bereits bei Cuvier durch eine Verlagerung des »Schwerpunktes der biologischen Forschungen in die Morphologie«, d. h. in die ›ideelle Genese‹, ersetzt.67 Zum anderen löst ein an »Goethes Metamorphosenlehre« 68 orientiertes biologisches Denken die – nach Cassirers Auffassung – metaphysische und damit unproduktive Frage »nach dem Wesen und Ursprung des Lebens« ab. Dieses neue Denken bringt die »ge-

Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 31; 33; ders.: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 137 f. 67 A. a. O., 148. 68 Christian Möckel: »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Zu Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre«, in: Goethe-Jahrbuch (Goethe-Gesellschaft in Japan) Bd. 52, Tokyo 2010, 45–73. 66

Möckel · Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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gebenen [besonderen, CM] Lebensformen« in eine systematische Ordnung, in ein Ganzes (Allgemeines) und schaut sie in ihm zusammen; es arbeitet dabei mit dem Typenbegriff, der es erlaubt, in der Welt des Lebendigen »Gestalten des Lebens« aufzufinden.69 Die moderne Biologie, die erst einmal der »primären Bedeutung des Faktors ›Form‹« gewahr geworden ist,70 wendet sich von metaphysischer – d. h. kausal-erklärender – Ursprungserkenntnis ab, führten diese letztlich metaphysischen ›Ursprungsfragen‹ doch »schon in der Biologie […] zu seltsamen ›Aporien‹«.71 Diese methodische Alternative von deskriptiver Form- und metaphysischer Ursprungsbefragung findet Cassirer nicht nur in der Biologie, sondern ebenfalls in den Kulturwissenschaften vor: Auch die Kulturgegenstände können als ein Ganzes von Formen erfaßt oder nach ihrem Ursprung (›Warum‹, ›Woher‹) befragt werden.72 Darwins Evolutionstheorie: Einen bedeutsamen Schritt bedeutet in Cassirers Augen die Darwinsche Lehre und ihre Evolutionstheorie, überwindet sie mit ihrer Annahme eines »continuous and uninterrupted stream of life«73 doch alle aus der Klassifikation herrührenden »arbitrary limits between the different forms of organic life«.74 Allerdings zieht sie zufällige Veränderungen im Leben eines jedes Organismus heran, um die Transformation »from the simplest forms of life […] to the highest forms«75 zu erklären. Außerdem erklärt sie das »phenomenon of life«, »the structure of organic nature«,76 aus zufälligen materiellen – d. h. mechanischen – Ursachen. Mit der Lehre Darwins sieht Cassirer nunmehr den Historismus des 19. Jahrhunderts (Hegel) »auch in die Biologie eindringen«77 und sich die geschichtliche Erforschung der Lebewesen etablieren.78 Damit war es notwendig geworden, die Anwendbarkeit der deskriptiven Methode (Historisches) und der kausal-analytischen Methode (Rationales) auf die Lebensvorgänge zu klären.79 Cassirer sympathisiert mit dem Versuch Goethes, den »Geist der bloßen Analyse« als Arbeitsmethode aus der Biologie zu vertreiben, da diese Vertreibung die Anerkennung der ›Autonomie des Organischen‹ (Vitalismus) vorbereitet und bestärkt.80

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 149. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 94. A. a. O., 189. A. a. O., 96. Cassirer: An Essay on Man ECW 23, 25. Ebd. A. a. O., 24. A. a. O., 23. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 197. A. a. O., 200. A. a. O., 210 f. A. a. O., 214, 217.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Animismus/ Vitalismus: Bei der Umwandlung der Biologie aus einer Wissenschaft, die den Organismus als einen quasi physikalischen Mechanismus behandelt und mit der Ausdruckswahrnehmung, mit den Ausdrucksphänomenen aus ihm gerade das ›Leben‹, das ›Lebendige‹ verweist, schreibt Cassirer in seinen Texten der Strömung des Vitalismus eine entscheidende Rolle zu, als dessen modernen Fortsetzer er immer wieder Jakob von Uexküll würdigt.81 Deshalb schenkt er dem Ringen zwischen den Vitalisten, die das Eigenständige und Spezifische des Organischen (»Lebenskraft«) gegenüber dem Unorganischen betonen,82 mit ihren Gegnern, die gemäß ihrem monistischen Prinzip »den Organismus einfach in ein System bewegender Kräfte auflösen« wollen, wie sie auch überall in der anorganischen Natur agieren,83 große Aufmerksamkeit. Der neuere Vitalismus (Uexküll) suche die »Autonomie des Lebens« mit dem gegenüber der mechanischen Sichtweise als Alternative geltend gemachten Formbegriff zu verteidigen.84 Der auf Ganzheit, Ganzheitlichkeit zielende aktuelle Formbegriff in der vitalistischen Biologie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts habe auch den alten teleologischen Zweckbegriff abgelöst. Es bleibt anzumerken, daß der Begriff des Ganzen bei Cassirer häufig im Leibnizschen Sinne von etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile, gebraucht wird.85 Er fügt dem den Gedanken der Repräsentation hinzu: Jedes zeitlich-Momentane z. B. repräsentiert auf seine Weise das Ganze, stellt es dar, schließt das Ganze – den Sinn – unmittelbar in sich ein, weshalb diese Sinnprägnanz als ›Urphänomen‹ zu gelten habe.86 Das Ganze bedeutet bei Cassirer also oft das Sinnganze, das sich im einzelnen Sinnfragment offenbart. Deskriptive Methode: Am Ganzheitsbegriff – und nicht am psychologistischen, teleologischen und willentlichen Zweckbegriff (Ungerer) – orientiere sich auch die der Biologie am ehesten angemessene Methode der reinen Beschreibung des organischen Geschehens.87 Als einen wichtigen Vertreter dieser rein beschreibenden Biologie zieht Cassirer u. a. Ludwig von Bertalanffy heran.88 Auch Uexküll wende auf die organischen Phänomene

A. a. O., 150; Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 404. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 218. 83 A. a. O., 220. 84 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 378; ders.: An Essay on Man, ECW 23, 28 f. 85 Cassirer: Leibniz’ System, ECW 1, 115 ff.; 361. 86 Ernst Cassirer: »Praesentation und Repraesentation« (1927), in: ECN 4, 4. 87 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 247. 88 A. a. O., 250; Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 452 f. – Zur Rezeption von Bertalanffy durch die Philosophen, speziell durch Cassirer, siehe auch: David Pouvreau † and Manfred Drack: »On the history of Ludwig von Bertalanffy’s ›General Systemology‹, and on its relationship to cybernetics«, in: International Journal of General Systems, Vol 36, No. 3, June 2007, 281–337, hier 294 ff. 81

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die rein beschreibende Methode an, die Cassirer selbst ebenfalls zu favorisieren scheint.89 Führt sie doch unausweichlich auf das Formproblem, auf den Formbegriff in seiner zentralen Bedeutung für die Biologie, während die mechanisch-materialistische Methode an Stelle der Form nur eine Summe von Teilen setze. In einer ›Formwissenschaft‹, die nicht auf Ursachen, sondern auf Strukturen (bzw. Gestalten) geht, werden Einzelphänomenen Formen (Gestalten) zugeordnet.90 Die ›Form-Analyse‹ gilt Cassirer als eine »spezifische Richtung des Wissens«, d. h. der Begriffsbildung und Erkenntnis, und dies im Unterschied zur kausalen Gesetzesanalyse.91 Kausal-analytische Methode: Cassirer deutet allerdings nicht nur den im Streite mit dem Vitalismus liegenden Mechanismus als eine einseitige Position, die es mit ihrer »Maschinentheorie des Lebens«92 als mechanischmaterialistischer Biologie93 nicht vermag, das »Rätsel des Lebens« zu lösen, sondern auch den biologischen Vitalismus selbst,94 soweit er (wie Hans Driesch oder Eduard v. Hartmann) auf den – kausal-ursächlich und damit für Cassirer naturalistisch bzw. metaphysisch gemeinten – Begriff der ›Lebenskräfte‹ setzt.95 Die moderne Biologie habe beide Extreme vermieden und sich immer stärker »auf den rein methodischen Sinn des [Lebens]Problems« besonnen. Sie versuche nicht mehr, die organischen Lebensformen aus rein mechanischen Kräften abzuleiten, sondern legt vielmehr den Nachdruck darauf, daß die organischen Lebensformen »durch reine Kausalbegriffe nicht vollständig beschrieben werden können. Und für diesen Nachweis griff sie auf die Kategorie der ›Ganzheit‹ zurück«.96 Mit anderen Worten, die moderne Biologie ist sich bewußt, daß sich Formbegriffe als Begriffe sui generis »keineswegs restlos auf ›Gesetze‹ (ursächliche Kräfte) zurückführen« lassen,97 wohl aber teilweise, ein Stück weit. Das bedeutet aber wiederum auch, daß die kausal-analytische Methode der Erklärung aus ihr nicht grundsätzlich, nicht völlig ausgeschlossen ist, vielmehr werden die Grenzen ihrer Erklärungskraft abgesteckt, hinter denen die ›ganzheitliche Betrachtung‹ (›Holismus‹98) bzw. die Gestalt- und Stilbegriffe zu ihrem eigenen Recht kommen.99

89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 49. A. a. O., 160 f. A. a. O., 94. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 452. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 46 f. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 238; 242. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 452. Ebd. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 165. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 453 Anm. 1. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 167 f.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Kausalgesetze bzw. der für die Physik typische Gesetzesbegriff spielen neben letzteren eben auch im organischen Geschehen eine entscheidende Rolle. Cassirer, der sich hier auf Moritz Schlick und dessen Deutung von Erkenntnis als ›Wiederfinden‹, ›Wiedererkennen‹ stützt,100 sieht in den Gesetzesbegriffen eine »›exakte‹ Form des ›Wiederfindens‹«,101 bei der die dabei bestimmten physikalischen Phänomene von uns – d. h. den Physikern – selbst hervorgebracht und die Bedingungen dieses Hervorbringens untersucht werden können. Genau darin sieht er »das Wesen des physikalischen Experiments«,102 was die Interpretation des Cassirerschen Gesetzesbegriffes zu bestärken scheint, die sich auf Struktur- und Konfigurationsforschung stützt, die die ermöglichenden Randbedingungen von kausalen Verläufen einbezieht (Oswald Schwemmer). In diesem Sinne kann Cassirer im Anschluß erklären: Die »Kraft [des physikalischen, objektivierbaren, CM] Experiments«, das auf die Phänomene der Kulturwelt nicht anwendbar ist, erstrecke sich demgegenüber »bis weit in die Biologie hinein – / die wichtigsten Feststellungen der modernen Biologie werden ja dem Experiment verdankt«.103 Die Biologie wird demnach auch »von kausalen Gesichtspunkten bestimmt«, jedenfalls kann sie diese »nicht entbehren«, sie kann aber »auch nicht ausschließlich durch sie aufgebaut werden«.104 Biologie ist also beides: Gesetzes- und Gestalt- bzw. Form-Wissenschaft! Wir suchen in ihr – »als heuristische Maxime« – nach »Gesetzen für das organische Geschehen«, das sich wiederum nur vom Formbegriff her erfassen läßt.105 Kausale Entwicklung ist »im Kreise des organischen Lebens« nach- bzw. erfragbar, dies gelte aber nicht von der Entstehung dieses Kreises aus einem anderen,106 auch nicht von der Entstehung der Kultur aus der Natur.107 Auch die Kulturwissenschaft stützt sich in diesem Sinne – neben allen Formund Gestaltbegriffen – weiter auf den Kausalbegriff bzw. das Kausalproblem (Werden, Geschichte).108 Wissenschaft als Formproblem: Den in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien ausgemachten methodischen Übergang hin zur Formbetrach-

100

Christian Möckel: »Moritz Schlick und Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit dem ›Wiener Kreis‹«, in: F.O. Engler/M. Iven (Hg.): Moritz Schlick – Ursprünge und Entwicklungen seines Denkens (Schlickiana Bd. 5) Berlin 2010, 207–224. 101 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 167. 102 A. a. O., 168. 103 Ebd. 104 A. a. O., 189. 105 A. a. O., 166. 106 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 460 f. 107 A. a. O., 461. 108 A. a. O., 455 f.

Möckel · Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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tung bezieht Cassirer, wie bereits erwähnt, nicht nur auf Kulturwissenschaft und Biologie, sondern auf die Entwicklungen in der Naturwissenschaft generell, also auf Physik (als Feldtheorie), Biologie (als Evolutionstheorie) und Psychologie (als Gestalt-Psychologie).109 Sie alle führen, im Abrücken vom mechanischen Materialismus und Monismus, methodisch Ganzheiten, Strukturen als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« ein,110 die als die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Teile gelten. Überall tritt in einem bestimmten Sinne der Strukturbegriff (Ganzheit) dem Kausalbegriff als leitendes Prinzip gegenüber.111 Für Cassirer wird damit eine »trennende Schranke« zwischen Natur- und Kulturwissenschaft beseitigt, was aber keineswegs heißt, daß der Biologie und den Kulturwissenschaften nicht ihre jeweiligen methodischen Besonderheiten erhalten bleiben. Aus dem einander ausschließenden Gegeneinander von Kausal- und Form- bzw. StrukturBetrachtung ist damit ein Mit- und Ineinander geworden, was aber wohl auch eine Bedeutungsveränderung oder Bedeutungsspezifizierung der Begriffe einschließt. Diesen Aspekt der methodischen Verschränkung resümierend heißt es: »Die Logik der Forschung kann jetzt all diesen [methodischen, CM] Problemen ihren Platz zuweisen. Form-Analysen und kausale Analysen erscheinen nunmehr als Richtungen, die einander nicht widerstreiten, sondern die einander ergänzen und die sich in allem Wissen miteinander verbinden müssen.«112 Was für den von Cassirer bemerkten »überraschendeinheitlichen Aufbau von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft« auf Grund des Objektivierungsprozesses durch Gesetzes- und Form-Begriffe spricht. Damit hat er u. a. im Auge, daß beide Typen von Wissenschaft das »Besondere und das Allgemeine als […] korrelative Momente« enthalten und somit ein gemeinsames Erkenntnisziel – wenn auch mit unterschiedlichen Methoden – verfolgen.113 Je nach Modus des Bewirkens der ›synthetischen Einheit des Mannigfaltigen‹ zeichnen sich die Gegenstandsklassen physischer, biologischer, psychischer, kulturell-geistiger Gegenstand ab.114 Formbegriff und Gesetzesbegriff: Diese Gegenstandsbereiche der Wissenschaften – Physik, Biologie, Psychologie und Kultur (ideelle Sphäre) – scheinen für Cassirer eine Art Stufengang zu bilden, der an Nicolai Hartmanns ›Stufenontologie‹ erinnert. Lassen doch die Übergänge vom niederen Bereich zum höheren die niederen Gesetze in Geltung, führen zu

109 110 111 112 113 114

A. a. O., 454 f.; Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 57. Ebd. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 455. Ebd. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 164. A. a. O., 165.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

keinem Bruch mit dem Niederen, für die Biologie mit den Gesetzen der Physik, und fügen neue – biologische – Gesetze hinzu. Es vollzieht sich jeweils ein qualitativer Sprung zu einem neuen »Problem- und Gegenstandstypus«.115 Demnach schließt der Gegenstandbereich der Kulturwissenschaften Gesetze und Strukturen der Biologie (»Ganzheits-Bezogenheit«) weiter ein, bereichert um ein spezifisches ›Kennzeichen‹ der Kultur. Für jeden Gegenstandsbereich bzw. jede ›Stufe‹ von Wissenschaft stehen die Gesetzes- und Formprobleme in einem anderen eigentümlichen Verhältnis, ist doch jede Wissenschaft Gesetzes- und Formwissenschaft.116 Für die Biologie gilt, daß in ihr »noch das Verhältnis [besteht], daß Gestaltbegriff und Gesetzesbegriff sich zwar nicht aufeinander zurückführen lassen – […] wohl aber ständig aufeinander bezogen werden müssen«.117 In diesem Sinne ist für die deskriptive Biologie ein »›Gleichgewicht‹ zwischen Formbegriffen und Gesetzesbegriffen« typisch.118 Die theoretische Physik wäre, wenn wir Cassirers Überlegungen fortspinnen, durch den Primat der Gesetzesbegriffe gegenüber dem Formbegriff charakterisiert, während in den Kulturwissenschaften der explizit formulierte »Primat der Formbegriffe« gegenüber dem Gesetzesbegriff hervortritt. Daß die Formbegriffe als »geprägte«, lebendige Formen aufgefaßt werden müssen, verbindet wiederum Kulturwissenschaft und Biologie miteinander.

IV) Schlußüberlegungen: Gründe für das Interesse an der Biologie Rückblickend auf die soeben dargelegten Analogie- und Ähnlichkeitsthesen Cassirers bleibt zunächst zu erklären, warum gerade die Biologie so ausgezeichnet wird, aus welchen Überlegungen heraus der Kulturphilosoph Cassirer, der im Spätwerk an einer ›Logik der Kulturwissenschaften‹ arbeitet und der seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als eine ›kritische Kulturphilosophie‹ begreift, die die Kulturgegenstände deskriptiv als ein Ganzes von Formen aufzuklären hat,119 sich so ausgiebig für die naturwissenschaftliche Biologie interessiert und sie zur Kulturwissenschaft in ein so herausgehobenes Verhältnis setzt. Zumindest als eine erste Antwort auf diese Frage lassen sich m.E. drei theoretische, systematische Anhaltspunkte nennen. Diese Auszeichnung der Biologie, dieses systematische Interesse an ihr hat erstens mit der Überzeugung Cassirers zu tun, daß die höheren Lebens-

115 116 117 118 119

A. a. O., 63. A. a. O., 92. A. a. O., 165. A. a. O., 166. A. a. O., 96.

Möckel · Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie

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formen der Kultur einerseits über die elementaren – organischen – Lebensformen hinausragen, daß aber andererseits eine Art ›Verwurzelung‹ bzw. ein ›Entspringen‹ der höheren Kulturform des Lebens in bzw. aus der Naturform des organischen Lebens, »aus der Grund- und Urschicht des Lebens« aufzuweisen ist.120 Mit ›Leben‹ ist in dem Zusammenhang aber wohl nicht einfach der vegetative Organismus mit seinen biologischen Gesetzen gemeint, sondern die Ausdrucksfunktion höherer Lebensformen. Müsse doch der Mensch »seine ihm eigentümliche Gegenstands- und Formwelt« dem »Primat der Ausdruckswahrnehmung« abgewinnen, die die Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungswelt der Tiere bestimmt121 und die als »eine andere, mehr elementare Schicht des Daseins und des Verhaltens« in »der Welt des Kindes und in der des ›Primitiven‹« immer noch aufscheint.122 Diese Aufweisung des Entspringens, gelegentlich von Cassirer auch ›Genesis‹ genannt, laufe auf eine »Grenzsetzung zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹, zwischen der Welt der organischen Formen und der Welt der Kulturformen« hinaus und finde z. B. bei Uexküll in einer »funktionellen Differenz«, in einem »eigentümlichen Funktionswandel« aller Bestimmungen seine Erklärung.123 Die Frage, ob zwischen dem biologisch-vegetativen Leben und dem Leben des Geistes von einer Kontinuität auszugehen ist, beschäftigt Cassirer immer wieder. Nur bei einer bejahenden Antwort wäre es gerechtfertigt, geistiges Leben in biologischen Kategorien zu deuten, wie dies z. B. Darwin, Nietzsche und auch Spengler tun. Oder sie würde dazu berechtigen, das organisch-vitale Leben mit Hilfe von Analogien und Kategorien des Geistigen als unseren Erkenntnisgegenstand zu konstituieren. Cassirer bleibt der durch Darwin vertretenen Annahme, wonach das geistige Ausdrucksphänomen, das den Boden der Kultur abgibt, quasi nur eine Verlängerung oder Sublimierung organisch-vitaler Ausdrucksvorgänge ist, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Denn dann wäre der »Ausdrucksvorgang als reiner Lebensvorgang zu erfassen« und mit »rein biologischen Kategorien zu beschreiben«,124 was die Kontinuität zwischen dem natürlichen und dem geistigen Sein bzw. Leben setzt. Die Konsequenz wäre somit, daß die Welt der Kultur in die Welt der Natur aufgenommen und »nach dem gleichen Prinzip wie diese erklärt« wird,125 eine Konsequenz, die Cassirer zu vermeiden trachtet.126

120 121 122 123 124 125 126

Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 376 f.; 378. Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 84. A. a. O., 86 f. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 379 f.; 381. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 37. A. a. O., 38. A. a. O., 244.

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Außerdem ist hier implizit zugleich auch die Frage gestellt, ob geistige Lebensfunktionen letztlich aus organisch-vitalen Lebensfunktionen erwachsen, bzw. ob die Vitalfunktionen in geistige umschlagen oder sie wenigstens vorbereiten, wie dies Simmel in seinem Essayband Lebensanschauung (1918) suggeriert.127 Cassirer scheint dabei die Meinung zu vertreten, daß das sinnorientierte geistige Leben, also die geistig-lebendigen symbolischen Formen, selbst nicht aus organisch-vegetativen Funktionen hervorgehen und auch keine Übertragungen dieser Funktionen auf das geistige Leben darstellen. Denn der Geist in seiner höchsten Stufe, das reine Denken der Bedeutungsfunktion, bewegt sich allein in der Welt der Geltung, in einer ideellen Welt bar jeglicher »individuellen Lebensfülle« und damit bar jeglicher Nützlichkeits- und Zweckerwägung, die nicht-geistiges Leben charakterisiert.128 Trotzdem sind seine symbolischen Formen, wie bei Simmel, zuerst in den »Kreis der bloßen ›Nützlichkeit‹«, d. h. in den Kreis des reinen Daseinskampfes eingeschlossen und müssen den ihnen eigentlich fremden Lebenszwecken dienen, auf die sie als Ausgangsstufe offenbar angewiesen sind. Die Aufmerksamkeit für die Biologie hat zweitens mit Cassirers Beobachtung zu tun, daß die moderne Biologie als Lebenswissenschaft in wissenschaftsmethodischem Sinne zu einer Schlüsseldisziplin geworden ist: Der Lebensbegriff (Lebensform) hat seinem Verständnis nach den Funktionsbegriff der Mathematik gewissermaßen abgelöst. So ist, wie er feststellt, die Biologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einer echten Wissenschaft geworden,129 sondern bereits im 19. Jahrhundert habe »biological thought takes precedence over mathematical thought«.130 Deshalb glaubten Wissenschaften bzw. Disziplinen wie die philosophische Anthropologie sich nun auf die Biologie (als allgemeiner Evolutionstheorie) und nicht mehr auf die Mathematik stützen zu müssen.131 Ein Ausdruck dieser »Oberhand« des biologischen Denkens dürfte – auch bei Cassirer – der vielfache Gebrauch methodisch gemeinter Termini sein wie »organische [das meint ganzheitliche, CM] Betrachtung«,132 »organischer [das meint systematischer, strukturierter] Zusammenhang«,133 »organisches Ganzes« [d. h., strukturierte, sich entwickelnde Ordnung].134 Kulturformen werden häufig als lebendige

Georg Simmel: »Die Wendung zur Idee«, in: ders.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 28–98, hier: 38. 128 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 99 f. 129 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 19. 130 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 22. 131 A. a. O., 22 f. 132 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 188. 133 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 58. 134 A. a. O., 141. 127

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»Organismen«135 bezeichnet, oder es ist vom lebendigen »Organismus der Sprache« die Rede.136 Fragen müssen wir uns dabei immer, ob es sich für Cassirer in diesen Fällen um eine der Biologie oder der Philosophie bzw. den Geisteswissenschaften entlehnte Bedeutung der Begriffe handelt. Das Interesse für die Biologie hängt drittens nicht zuletzt mit den von Cassirer bemerkten Form-Analogien, Form-Ähnlichkeiten zusammen, die sich vor allem aus der Gemeinsamkeit des Lebens, des Lebendigen in beiden Gegenstandsgebieten und Begrifflichkeiten ergeben. Hier ist, wenn vom Lebensprozeß die Rede ist, auch an den Unterschied von organischem Leben (Wirkverhältnis) und geistigem Leben (Sinnverhältnis) zu denken. Das Aufmerken auf diese Analogien geht nach Cassirer zunächst auch von in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften bemerkten methodischen Neuerungen aus und speist sich nicht zuletzt aus der 1939 formulierten Frage, welche Bedeutung die in den Naturwissenschaften als »etwas Ursprüngliches, Unableitbares« eingeführten Form- und Strukturbegriffe denn für »die Grundlegung der Kulturphilosophie und […] die Möglichkeit der Kulturwissenschaft« haben.137 Diese Formulierung138 deutet ein – zumindest methodisches – Primat der Naturwissenschaften in dieser Frage der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung an. Eine besondere Grundlage, die der Physik allerdings zu fehlen scheint, haben die thematisierten Analogien des Formproblems speziell in Biologie (»organisches Leben«) und Kulturwissenschaft (»geistiges Leben«) für Cassirer ganz klar in der »ersten Grundschicht« des Phänomens, daß das Wirklichkeitsverhalten auf Invarianten, auf Regeln des gleichförmigen Antwortens auf Umweltreize beruht.139 Diese Grundschicht wird von Cassirer bekanntlich im Gebiet der Ausdruckswahrnehmung lokalisiert. Gleichzeitig bleibt zu bedenken, ob und inwieweit Cassirer diese Formbegrifflichkeit letztlich nicht doch der Philosophie und den Kulturwissenschaften entlehnt und sie auf die Methoden der modernen Naturwissenschaften, so wie er sie sieht oder verstehen möchte, überträgt bzw. anwendet. Es ist offensichtlich, daß dieses Interesse an der modernen Biologie selbst wiederum einen Bezug zu dem Ende der 20er Jahre einsetzenden Bemühen Cassirers hat, seine symboltheoretische Kulturphilosophie und die philosophische Anthropologie in eine enge Beziehung und gegenseitige Begründung zu setzen. Wir haben also auch zu fragen, inwieweit sich

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Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 127. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 403. 137 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 57. 138 Das in bzw. mit dieser Formulierung ebenfalls aufgeworfene Verhältnis von Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie, das Cassirer vielleicht in Analogie zu dem von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie bestimmt, muß hier unthematisiert bleiben. 139 Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 83. 136

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Cassirer dabei einem Ansatz nähert, der eine Verwurzelung, Fundierung des Geistig-Kulturellen im Organisch-Natürlichen thematisiert, was nahelegt, daß die biologischen Formgesetzlichkeiten im geistig-kulturellen Leben des Menschen wenigstens weiterwirken.140 Ein Ansatz, der nicht zuletzt dann interessant wird, wenn es gilt das Verhältnis von Kultur und Natur im Menschen zu bestimmen. Zumindest einmal hat es auch Cassirer klar ausgesprochen, daß die spezifisch menschliche Welt »forms no exception to those biological rules which govern the life of all the other organisms«.141 Cassirer steht zudem mit dem methodischen Bezug des Geistig-Kulturellen zur Biologie keineswegs allein da. Findet sich doch z. B. auch bei Wilhelm Dilthey, dem für Cassirers Denken immer wichtigen Anreger, den er 1929 für die damals noch junge philosophische Disziplin der Kulturphilosophie durchaus für bedeutsam hält,142 in dessen Einleitung in die Geisteswissenschaften ganz unerwartet die Annahme, daß, weil die »Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage« haben, »die Wissenschaften des Organismus ihre [d. h. der Kulturwissenschaften, CM] Grundlage« bilden.143 Andernorts thematisiert Dilthey, nach einer Feststellung Norbert Meuters, ebenfalls die »Bedeutung der durch die […] Biologie […] erschlossenen Natur als ›Grundlage‹ auch der Kulturwissenschaften«.144 Diese Überlegungen stehen in Zusammenhang mit dem Bemühen Diltheys um eine philosophische Anthropologie, die den Menschen als geistiges Kulturund organisches Leibwesen zu fassen bzw. zu verschränken sucht.145 Dennoch denkt Cassirer kaum daran, biologische Formbegriffe als kulturelle Formbegriffe zu deuten. Dies wird ganz deutlich, wenn er zum Ausdruck bringt, daß man das Spiel mit Analogien und Ähnlichkeiten schwerlich so verstehen darf, als ließen sich geistig-kulturelle Formen auf ihre sozusagen biologischen Unterstufen zurückführen, in ihnen auflösen, »wenngleich [sie] genetisch mit diesen anderen in Zusammenhang stehen [mögen]«.146

140

Christian Möckel: »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Zur philosophischen Anthropologie Ernst Cassirers«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 3. Jg. Heft 2/2009, 209–220. 141 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 29. 142 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 3. 143 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Erster Band (1888). In: Gesammelte Schriften Bd. 1, Leipzig und Berlin 1922, S. 19. 144 Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, 40; 47. 145 Meuter: Anthropologie des Ausdrucks, 80 f. 146 Cassirer bezieht diese Aussage auf die symbolische Form als etwas »Urphänomenales«, was es so im Tierreich nicht gibt: »die symbolische Form ist immer etwas Eigenartiges, Unableitbares, sui generis[,] das nicht auf andere (biologische) Vorstufen zurückgeführt, in sie nicht aufgelöst werden kann, wenngleich es genetisch mit diesen

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Des weiteren ist zu prüfen, ob und wodurch dieses Verfahren des Benennens von Form-Analogien gerechtfertigt erscheint und wieweit es trägt, was es kulturphilosophisch leistet. Dilthey z. B., der noch 1910 im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften meint, daß die kulturelle Welt des objektiven Geistes und die Struktur des hermeneutischen Bewußtseins gewisse »Ähnlichkeiten mit der biologischen Struktur« haben, sieht deren Aufweisung jedoch nur auf »vage Analogien« führen.147 Und nicht zuletzt bleibt zu klären, ob diese methodischen Analogien eher von der Biologie aus mit Blick auf die Kulturwissenschaft oder umgekehrt, von den Kulturwissenschaften aus auf die Biologie, erfaßt und festgestellt werden. Letzteres Verfahren würde die Emergenzthese Cassirers methodologisch schwächen. Seine soeben angeführte Bemerkung, wonach die Rückführung kausaler Fragestellungen auf das Formproblem »ähnlich […] schon für die Biologie gilt«, weist zunächst einmal eher darauf hin, daß er bestimmte kulturwissenschaftliche Gegebenheiten in biologischen wiederzufinden meint, was ihnen einen zusätzlichen Geltungswert verleiht. Wenn solche Form-Analogien konstatiert werden, dann müssen selbstverständlich auch die grundlegenden methodischen Unterschiede zwischen dem Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie – als einer Naturwissenschaft – zur Sprache kommen, handelt es sich doch schließlich um ›Zwei Kulturen‹ der Wissenschaft. Unterscheidungen (Entgegensetzungen) und Vergleiche (Ineinssetzungen) beider Typen von Wissenschaft scheinen aber in Cassirers Texten begrifflich nicht konsistent vorgenommen zu werden. Möglicherweise spricht er oft in zwei ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen von Wissenschaft (Ernst Wolfgang Orth): einmal gemäß dem methodischen Selbstverständnis der forschenden Wissenschaftler, nach welchem Naturwissenschaft als kausale Gesetzeswissenschaft und Kulturwissenschaft als beschreibende, individualisierende Stilwissenschaft gänzlich zu unterscheiden sind, und das andere Mal gemäß seinem eigenen methodischen Verständnis, welches in beiden Wissenschaftstypen zwar ein veränderliches Verhältnis von Form- und Kausalproblemen konstatiert, dabei aber das Formproblem als ein originäres, eigenständiges Thema in allen Typen von Wissenschaft verortet. In Cassirers Ausführungen treffen wir, wie ich das sehe, auf mehrere, unterschiedlich gemeinte begriffliche Fassungen des Problems: zum einen auf den zum Ausdruck gebrachten Gegensatz von Gesetzeswissenschaft (Kausalität) der Natur (Laborbedingungen) und Form- bzw. Stilwissen-

anderen in Zusammenhang stehen mag«. (Cassirer: »Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹«, ECN 4, 158). 147 Meuter: Anthropologie des Ausdrucks, 48; Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften Bd. 7, (8. Aufl.) Stuttgart/Göttingen 1992, 23.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

schaft der Kultur (Individualität und Freiheit). Wir treffen zum anderen auf die Deutung der Wissenschaft als Verfahren der Konstantenbildung am mannigfaltigen Material, wobei zwei Richtungen der Konstantenbildung unterschieden werden: die eine auf Begriffe von Naturgesetzen hin, in denen das Einzelne, der Fall dem Allgemeinen, dem Gesetz subsumiert wird, aus diesem erklärt wird, und die andere auf Stil- und Gestaltbegriffe hin, für die das Einzelne das Allgemeine lediglich repräsentiert bzw. das Allgemeine im Einzelnen symbolisch zum Ausdruck kommt. Hier ist wahrscheinlich in einem anderen Sinne auch von Stil›gesetzen‹ bzw. ›Gesetzen‹ individueller Einheiten die Rede. In einem dritten Sinne treffen wir auf die Auffassung, wonach Wissenschaft, also explizit auch die Naturwissenschaften, grundsätzlich von Formproblemen und von Kausalproblemen beherrscht ist. In diesem Zusammenhang ist das Kausalproblem möglicherweise als eine Strukturforschung der Randbedingungen, der Konfigurationen als Ursachenverhältnissen zu verstehen, wodurch es sich mit dem Formproblem in Beziehung setzen läßt. Es handelt sich dabei – je nach Forschungsgegenstand – um ein bewegliches, veränderliches Verhältnis, bei dem Cassirer hinsichtlich der Relevanz des Formproblems durchaus Unterschiede hervorhebt, z. B. zwischen der Mechanik und der Feldphysik, der experimentellen Psychologie und der Gestaltpsychologie. In einer weiteren, vierten Fassung des Problems gilt Cassirer die Naturwissenschaft (Biologie) selbst als ein Kulturphänomen. Das Naturuniversum wird als Kulturraum, als symbolisches Universum begriffen. Der Unterschied zu den Kulturwissenschaften ist durch die Kultur, den Kulturmenschen, der als Naturwissenschaftler fungiert, generiert und benannt (Ernst Wolfgang Orth). Damit schließt der Kulturbegriff den der Naturwissenschaft einmal ein, ein andermal aus.

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Leibniz’ System (1902), in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 1 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Dritter Band, in ECW 4 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: ECW 5 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923) in: ECW 11 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23

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– Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 – Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte. hg. von John M. Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1, hg. von John M. Krois, Hamburg 1995 – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. von Klaus Christin Köhnke und John Michael Krois. Nachgelassene Manuskripte und Text, hg. von Klaus Christian Köhnke, John M. Krois und Oswald Schwemmer, Bd. 2, Hamburg 1998, ECN 2 – Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, hg. von Christian Möckel. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von Klaus Christian Köhnke, John M. Krois † und Oswald Schwemmer. Bd. 4) Hamburg 2010, ECN 4 – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, hg. von Rüdiger Kramme †. Nachgelassene Texte und Manuskripte. Hg. von Klaus Christian Köhnke, John M. Krois und Oswald Schwemmer, Bd. 5, Hamburg 2004, ECN 5 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Erster Band (1888), Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig und Berlin 1922 – Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften. Bd. 7. 8. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1992 Laura F. Galloway/Julie R. Etterson: «Transgenerational Plasticity Is Adaptive in the Wild«, in: Science, Vol. 318, no. 5853, 1134–1136 Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006 Christian Möckel: »Die Kulturwissenschaften und ihr ›Lebensgrund‹. Zu Ernst Cassirers Beitrag zur Theorie der Kulturwissenschaften«, in: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008, 179–195 – »Moritz Schlick und Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit dem ›Wiener Kreis‹«, in: F.O. Engler/M. Iven (Hg.): Moritz Schlick – Ursprünge und Entwicklungen seines Denkens (Schlickiana Bd. 5), Berlin 2010, 207–224 – »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Zu Goethes Morphologieund Metamorphosenlehre«, in: Goethe-Jahrbuch. (Goethe-Gesellschaft in Japan) Bd. 52, Tokyo 2010, 45–73 David Pouvreau† and Manfred Drack: «On the history of Ludwig von Bertalanffy’s ›General Systemology‹, and on its relationship to cybernetics«, in: International Journal of General Systems, Vol 36, No. 3, June 2007, 281–337 Georg Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918

Martina Plümacher

Menschliches Wissen in Repräsentationen

I) »Repräsentation« – ein sinnvoller Begriff der Erkenntnistheorie? Das Wort ›Repräsentation‹ ist in vielen Kontexten beheimatet und in seiner Bedeutung dementsprechend vielfältig. Kernbedeutungen sind »Darstellung«, »Vorstellung« oder »Stellvertretung«, z. B. in den Kontexten der Politik und des Rechtswesens. Auch diese Termini werden nicht einheitlich verwendet.1 Unterschiedliche Auffassungen und Theorien existieren dazu, in welchem Sinn von Repräsentation als »Darstellung«, »Vorstellung« oder »Stellvertretung« die Rede sein soll, was genau dies ist, das vorgestellt, dargestellt oder stellvertretend präsentiert wird und in welcher Form dies vorgestellt, dargestellt oder vertreten wird. In der Erkenntnistheorie ist »Repräsentation« sowohl als expliziter Fachbegriff als auch als Terminus und Begriff der allgemeinen wissenschaftlichen Sprache in Gebrauch genommen. 2 Er bezeichnet Funktion und Resultat menschlicher Bewußtseinsleistungen; mit ihm ist zumeist das Verhältnis von »Geist« und »Welt« oder »Wirklichkeit« thematisch, z. B. im Verständnis von Repräsentation als Vorstellen oder Vorstellung von Gegenständen und Prozessen der Wirklichkeit. Mit Rücksicht auf die Rolle der Zeichenbildung für die menschliche Erkenntnis ist von Repräsentation auch im Sinne von gegenstandsbezogener Signifikation oder »Darstellung von Wirklichkeit in Zeichen« bzw. »Artikulation der Wirklichkeitserkenntnis in Zeichen« die Rede. Insofern »Repräsentation« auf mentale Inhalte Anwendung findet, spricht man von »mentaler Repräsentation«

1

Zu den Bedeutungsfacetten von ›Repräsentation‹ und Begriffen der Repräsentation siehe: Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation«, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, Hamburg 1999, 1384–1389; Christoph Jamme/Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation. Krise der Repräsentation. Paradigmenwechsel«, in: Silja Freudenberger/Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation. Krise der Repräsentation und Paradigmenwechsel, Frankfurt/M. 2003, 15–45. 2 Die Geschichte des Begriffs der Repräsentation in der Erkenntnistheorie und Zeichenphilosophie verdeutlicht Eckart Scheerer: Art. »Repräsentation« (I/1, I/2, I/4; IV), in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 790–797, 800–812, 834–846; Eckart Scheerer: »Mentale Repräsentation: Umriß einer Begriffsgeschichte«, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation und Modell. Formen der Welterkenntnis (Schriftenreihe des Zentrums Philosophische Grundlagen der Wissenschaften), Bd. 14, Bremen 1993, 9–38.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

im Unterschied zur Repräsentationsfunktion von Zeichen, d. h. der Funktion der Zeichen, Bedeutung zu übermitteln und in diesem Sinn Inhalte darzustellen. Strittig ist die Frage, wie die Bewußtseinsleistung zu verstehen sei – als eine Form der Abbildung von Wirklichkeit, als Erfassung von Strukturen der Wirklichkeit, d. h. als strukturale Repräsentation3 , oder als originäre Wirklichkeitsauffassung, die nicht in Konzepten der Abbildung der Wirklichkeit im Geist zu formulieren ist.4 Umstritten ist das Konzept der »mentalen Repräsentation«, das gleichwohl in der Philosophie des Geistes an Bedeutung gewonnen hat; »Repräsentationalismus« ist in der Erkenntnistheorie ein abgewerteter Begriff. Einflußreich war in den 1980er Jahren insbesondere Richard Rorty mit seiner Kritik des Projekts Erkenntnistheorie, das er an das Konzept der Repräsentation als einer Abbildung von Wirklichkeit gebunden sah. Der von ihm gescholtene »Repräsentationalismus« ist die Auffassung, Erkennen sei ein Repräsentieren – ein ›Spiegeln‹ – der Natur. Diese Auffassung führt – so Rorty – in schiefe Problemlagen, weil nach der Genauigkeit der Repräsentationen gefragt werde, statt nach der Rechtfertigung von Erkenntnissen. 5 Nach der Genauigkeit, der Akkuratheit der Erkenntnis, kann Rorty zufolge nicht sinnvoll gefragt werden, weil der Vergleich der Erkenntnisse mit der Wirklichkeit, wie diese gänzlich unabhängig von jeder Erkenntnis wäre, nicht möglich ist. Das Argument der Nicht-Vergleichbarkeit trägt bekanntlich auch Ernst Cassirer vor, und er kann sich dabei auf Kant stützen, für den die Frage, wie das an sich selbst beschaffen sein mag, was unseren Vorstellungen korrespondiert, an Sinn verloren hat: »Es ist leicht einzusehen, daß dieser [den Vorstellungen korrespondierende] Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis korrespondierend gegenübersetzen könnten.« 6 Cassirer lenkt die Aufmerksamkeit auf die zeichen- und symbolbildende Aktivität des Menschen, durch die Menschen sich in der

3

Zu Begriff und Modellen der ›strukturalen Repräsentation‹: Andreas Bartels: Strukturale Repräsentation, Paderborn 2005. 4 Vgl. Martina Plümacher: »Wirklichkeit/Realität«, in: Armin G. Wildfeuer/Petra Kolmer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i.Br./München 2011. 5 Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Natur, Princeton (New Jersey) 1979, 170. – Wie Thomas Mormann zeigt, unterstellt Rorty eine Ähnlichkeitskonzeption der Repräsentation, d. h. sein Begriff der Repräsentation setzt eine Ähnlichkeit der Repräsentation mit dem Repräsentierten voraus. Daher erfaßt Rortys Kritik am Repräsentationskonzept nicht die so genannte strukturale Repräsentation, die keine Ähnlichkeit voraussetzt. Thomas Mormann: »Ist der Begriff der Repräsentation obsolet?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51, Heft 3, 1997, 349–366. 6 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1911, Bd. IV, A 104.

Plümacher · Menschliches Wissen in Repräsentationen

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Welt orientieren. Je basaler die jeweils gesetzten Pfeiler der Orientierung für gemeinsames Handeln sind, umso mehr erscheinen sie alternativlos ›natürlich‹. Daher stellt sich der »naiven Auffassung […] das Erkennen als ein Prozeß dar, in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewußtsein bringen.« Wer sich allerdings mit der Arbeit in den Wissenschaften näher befaßt, dem werden die Prozesse der Gestaltung offenkundig. Denn »in allem begrifflichen Wissen [haben wir es] nicht mit einer einfachen Wiedergabe, sondern mit einer Gestaltung und inneren Umformung des Stoffes zu tun […], der sich uns von außen darbietet.«7 Man denke etwa an die Auswahl von Beispielen für Generalisierungen, die kritische Gliederung der Gegenstandsarten und Prozesse, die Entwicklung ausgeklügelter Experimente und die mathematische Beschreibung der Naturprozesse. Für Cassirer steht außer Frage, daß nach der Akkuratheit der Erkenntnis gefragt werden muß und sinnvoll gefragt werden kann. Zwar ist kein Vergleich der Erkenntnisse mit einer von jeder Erkenntnis ›unberührten‹ Wirklichkeit möglich. Doch möglich und unter erkenntniskritischem Vorzeichen gefordert ist der Vergleich der Erkenntnisse in Hinblick auf Kohärenz und Konsistenz. Nach der Akkuratheit der Erkenntnis zu fragen heißt darüber hinaus zu überprüfen, wie gut sich Erkenntnisse in der Praxis bewähren. Cassirer kann mit Rorty darin übereinstimmen, daß es auf die Rechtfertigung der Erkenntnis ankommt. Doch im Unterschied zu Rorty kann für ihn nicht gelten, daß »we understand knowledge when we understand the social justification of belief«. 8 Die Rechtfertigung der Erkenntnis ist keine Sache der Konvention. Den Konventionalismus, dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Wissenschaftler anhingen, wies Cassirer nachdrücklich mit dem Hinweis zurück, empirische Erkenntnis sei an der Empirie zu messen.9 Dies schließt die Beachtung der Wissenschaftsstandards ein, die sich in den betreffenden Erkenntnisbereichen mit guten Gründen etabliert haben. Rorty will die Realismus-Idealismus-Debatte hinter sich lassen. Eine anders gelagerte Kritik am »Repräsentationalismus« will diese Debatte dagegen ins Zentrum rücken: Dabei wird als Repräsentationalismus die Auffassung bezeichnet, die Wirklichkeit sei dem menschlichen Geist mental vermittelt durch Ideen. Der kritische Einwand lautet damit, diese Auffassung führte zwangsläufig in den Skeptizismus, da die Existenz einer

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band (1906), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, Hamburg 1999, 1. 8 Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, 170. 9 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910; 1923), in: ECW 6, 203. 7

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

gänzlich denkunabhängigen Wirklichkeit möglich wird. Wären Repräsentationen, Ideen oder Inhalte von Überzeugungen der einzige mentale Zugang zur Wirklichkeit, dann gäbe es keinen Maßstab für Erkenntnis: Repräsentationen könnten dann ein Wirklichkeitsbild vermitteln, das der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit nicht adäquat ist.10 Die tatsächliche Wirklichkeit könnte davon gänzlich unterschieden, Skeptizismus also selbst in den Fällen bestgesicherter Repräsentationen jederzeit möglich sein. Diese Linie der Kritik hat eine Tradition, die bis zur Kritik repräsentationalistischer Auffassungen des 17. Jahrhunderts zurückreicht. Erinnert sei an die Debatten der Cartesianer und der englischen Empiristen über den repräsentationalen Status der subjektiven Sinneseindrücke11 : Wie sind die so genannten sekundären Qualitäten – Temperatur, Geruch, Geschmack, Farbe und Ton – zu verstehen? Sind sie als Eigenschaften der Dinge oder bloß als psychisch-physische Zustände des Subjekts zu begreifen? An die Feststellung der Subjektivität der Sinneseindrücke knüpft sich die erkenntnisskeptische Frage. Sie hat John Locke deutlich formuliert: »How shall the Mind, when it perceives nothing but its own Ideas, know that they agree with Things themselves?«12 Diesem Skeptizismus begegnete Thomas Reid bekanntlich mit der These, wir hätten es in der Erfahrung der Welt mit den Dingen selbst, nicht mit den Ideen von den Dingen zu tun.13 Den Repräsentationalismus wies er damit zurück. Wie aber genau es zu verstehen ist, daß nicht Sinnesqualitäten, Empfindungen oder einzelne dingliche Erscheinungen wahrgenommen werden, sondern räumlich und zeitlich verortete Dinge, Dinge einer ›Außenwelt‹, das hat im Detail minuziös erst Edmund Husserl erläutert. Er wiederum nutzte dazu – zumindest anfänglich – ein bestimmtes Konzept der Repräsentation. Dieses Konzept der Repräsentation, das parallel zu Husserl und eigenständig auch Cassirer entwickelte, ist ganz anders geartet als die beiden soeben genannten und kritisierten Positionen: Bei Cassirer und Husserl ist der Begriff der Repräsentation nicht zentral auf ›Wirklichkeit‹ bezogen, sondern auf die »Aktivierung von Wissen«. Nicht Wirklichkeit wird abgebildet oder in Vorstellungen oder Zeichen dargestellt; ›Repräsentation‹

10

Vgl. Marcus Willaschek: »Realismus und Intentionalität«, in: Christoph Halbig/ Christian Suhm (Hg.): Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie, Frankfurt/M./Lancaster 2004, 49–79, bes. 54. 11 Vgl. Alison Simmons: »Changing the Cartesian Mind: Leibniz on Sensation, Representation and Consciousness«, in: The Philosophical Review 10, No. 1, 2001, 31–75. 12 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690), ed. by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, 563. 13 Thomas Reid: Essays on the Intellectual Powers of Man (1785), in: The Works of Thomas Reid, Vol. I, ed. by William Hamilton, Bristol 1994.

Plümacher · Menschliches Wissen in Repräsentationen

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meint die Aktivierung eines Geflechts von Wissen. Darunter ist dann auch Wissen über Wirkliches und Wirklichkeit. Dies so zu sagen heißt, den Ausdruck ›Wissen‹ in einem weiten Sinn des Begriffs zu verwenden14 : Er umfaßt sowohl das wissenschaftlich begründete, gerechtfertigte Wissen, d. h. ›Wissen im engeren Sinn‹, als auch das alltägliche, handlungsbezogene Wissen, daß etwas der Fall ist, und Wissen, wie man etwas macht, z. B. Fahrradfahren. Wenn der tradierte Begriff der Repräsentation in dem skizzierten Sinn kritisiert und zurückgelassen wird, warum, so kann man fragen, hält – zumindest Cassirer – an der Bezeichnung fest? Husserl wechselt zur Rede von »Intentionen« und transformiert dabei den Begriff der Intention zum Konzept intentionaler Horizonte, wie im Folgenden noch erläutert werden wird.15 Semantisch-begriffliche Neuprägungen einer tradierten Bezeichnung sind mit dem Problem behaftet, daß das Wort auch alte und überwundene Bedeutungen weiter mittransportiert oder sich diese hinterrücks einschleichen. Die Alternative ist oftmals die Wortneuschöpfung. Sie aber kann künstlich wirken und muß erst noch überzeugen, um angenommen zu werden. Beide, Cassirer wie Husserl, haben sich für die begriffliche Neuprägung der Rede von Repräsentation bzw. Gegenstandsintention entschieden, die Anschluß hält an Diskurse, einerseits an den Diskurs um Phänomene der Repräsentation, andererseits an den Diskurs um intentionale Gegenstände. Mit dieser begrifflichen Neuprägung von »Repräsentation« wird sowohl die Abbildtheorie der Erkenntnis verlassen als auch die Annahme mentaler Inhalte als Wirklichkeit vermittelnde Instanzen.

II) Neuprägung des Begriffs »Repräsentation« Als Phänomene der Repräsentation wurden damals in der Psychologie und Philosophie der Kognition die kognitiven Leistungen der Bezugnahme auf etwas Nicht-Präsentes durch ein anderes, Präsentes betrachtet: Erinnerung, Bilder, Worte und andere Zeichen machen ein anderes ihrer selbst kognitiv ›präsent‹.16 Diese Fähigkeit der vermittelten Bezugnahme ist kardinal

Zum engen und weiten Sinn des Begriffs siehe Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004, 44, 319–348 (Kap. 10). – Cassirer und Husserl haben noch nicht in dieser Weise Unterschiede gesetzt. 15 Ausführlich zu Husserls und Cassirers Auseinandersetzung mit Repräsentationskonzepten und Phänomenen der Repräsentation siehe Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewußtseins, Berlin 2004. 16 Die Gegenüberstellung von Präsentem/Präsentation und Re-Präsentem/Repräsentation geht zurück auf William Hamilton (vgl. Scheerer: »Repräsentation«, 836). Im 14

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für menschliche Kognition. Im Hinblick darauf analysierte Cassirer das Zeichenverstehen und die Zeichenbildung genauer. In Zeichen artikuliert sich ein geistiger Gehalt, der mit der materiellen Gestalt der Zeichen keine Ähnlichkeit besitzt. Rein materiell betrachtet ist ein Buch ein Haufen gebundenes, mit Druckerschwärze versehenes Papier; desgleichen ist ein Gemälde rein materiell gesehen bloß eine mit Ölfarbe versehene Leinwand. Ein gesprochener Satz, in einer Sprache, die man nicht versteht, ist ein bloßes Lautgebilde. Das Zeichenphänomen, d. h. das Phänomen, daß sich ein geistiger Gehalt in Zeichen ausdrückt, wurde schon im Mittelalter als ›Repräsentation‹ bezeichnet. Man nahm an, daß sich dem Geist in den Zeichen Wirklichkeit präsentiert.17 Cassirer jedoch macht deutlich, daß Zeichen nicht deshalb so wertvoll sind, weil sie eine »schlichte Kopie des Vorhandenen« wären – in diesem Fall wären sie verzichtbar. Was sie überaus wertvoll macht, ist ihre Orientierungsleistung: Sie strukturieren Wahrnehmung und Handlung durch ihren Beitrag zur Ordnung der Erscheinungen. Ein Raumplan eines Gebäudes z. B. beschränkt sich in der Darstellung der betreffenden Örtlichkeiten – die Zeichnung hat mit der sinnlichen Anschauung der Räume nichts mehr gemein. Der Plan verdeutlicht etwas, was im sinnlichen Raumerlebnis nicht direkt erfahren wird: die geometrische Form der Räume und die Raumaufteilung des Gebäudes insgesamt, auch pragmatisch wichtige Aspekte wie z. B. die Raumzugänge. Die Beschränkung der Darstellung auf bestimmte Hinsichten der Darstellung, die Heraushebung »bestimmter ›prägnanter‹ Momente« macht »die eigentliche Kraft des Zeichen[s] aus«.18 Mittels Zeichen und Zeichensystemen werden Ordnungen entworfen und verdeutlicht, die den Erscheinungen nicht direkt ›abzulesen‹ sind. Man denke etwa auch an die Bildung von Skalen, Uhren und Messinstrumenten, die Auszeichnung bestimmter Merkmale als ›charakteristisch‹ für eine bestimmte Art von Gegenständen oder Prozessen, den Entwurf von

19. Jahrhundert verbreitete sich in der britischen Psychologie die Unterscheidung zwischen ›Präsentation‹ und ›Repräsentation‹ zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen direkter Erkenntnis, z. B. Wahrnehmung, und indirekter, vermittelter Erkenntnis. Diese Unterscheidung übernahmen in Deutschland beispielsweise auch Benno Erdmann und Edmund Husserl (in seinen frühen Schriften von 1893/94); Paul Natorp spielte mit diesem Begriffspaar, um das menschliche Bewußtsein generell als »Beziehung« zu charakterisieren (Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie (1912), Amsterdam 1965, 53–56). 17 Damit war zunächst eine Theorie der geistigen Abbildung der Wirklichkeit verbunden sowie die Annahme einer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Diese mit dem Begriff der Repräsentation verbundene Annahme einer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem wurde von Ockham aufgegeben, ebenso die repräsentationalistische Idee der Vermittlung der Erkenntnis durch species (vgl. Scheerer: »Mentale Repräsentation«, 15, sowie ders.: »Repräsentation«, 794). 18 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 42.

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Modellen in der empirischen Forschung, an mathematische Formalismen in der Naturbeschreibung, an die computergestützte Simulationen von Prozessen. Die in Zeichen und Zeichensystemen artikulierten Ordnungen bestimmen und durchdringen das menschliche Leben, sie sind Grundlagen der Entwicklung von Technologien. Cassirer bestimmt folglich Zeichen als Medien der Erkenntnis, nicht der Abbildung von Wirklichkeit. Erkenntnis selbst betrachtet er als Prozeß und Resultat einer systematischen Ordnung der Phänomene unter bestimmten Hinsichten, die sich aus Fragestellungen der Praxis ergeben – z. B. der Frage nach der architektonischen oder geometrischen Gliederung des Raumes, der chemischen Reaktion von Stoffen in bestimmten Prozessen oder nach den Regeln der Vererbung von phänotypischen Merkmalen. In seiner Analyse der »Kraft der Zeichen« akzentuiert Cassirer daher nicht Repräsentation von Wirklichkeit in Zeichen, sondern das durch Zeichen aktivierte Wissen und die Bedeutung – letztere verstanden als der Sinn von Zeichen in der menschlichen Handlungspraxis. Eine gezeichnete Linie etwa kann in einem bestimmten Kontext eine mathematische Funktion repräsentieren, in einem anderen Kontext eine Fieberkurve, in einem wiederum anderen Kontext, etwa in einer ästhetischen Einstellung, eine schöne kraftvolle Linie sein. Cassirers generalisierende Charakterisierung der Zeichenphänomene faßt Zeichenverstehen und Wahrnehmen in einer bestimmten Hinsicht zusammen: Cassirer spricht von dem ›sinnlichen‹ Erlebnis, von ›sinnlicher‹ Wahrnehmung, die »einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt«19, die Einheit von Sinnlichkeit und Sinn ist. Bezogen auf Wahrnehmung ist damit zugleich die Rolle des ideellen oder ›epistemischen‹ Gesichtspunkts, von dem her etwas wahrgenommen wird, betont: Was wahrgenommen wird, verändert sich im Wechsel des ideellen Bezugspunkts. Es ist nicht nur so, daß mit neuen Aspekten der Betrachtung anderes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das Wahrgenommene kann sich phänomenal grundlegend wandeln. Das dafür schönste Beispiel Cassirers stammt von dem Physiologen Ewald Hering: Bei einem Spaziergang durch den Wald wird in einiger Entfernung eine weiße Stelle auf dem Weg gesehen. Es sei Kalk verschüttet, meint der Spaziergänger, bis er den Einfall des Sonnenlichts bemerkt. Die gleiche Stelle erscheint ihm nun vom Licht erleuchtet hell, doch nicht mehr weiß – wie zuvor mit Bezug auf Kalk –, sondern graubraun. 20 Cassirer erläutert:

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 231. – Die Textstelle, der das Zitat entnommen ist, bezieht sich auf Wahrnehmung. 20 Ewald Hering: Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (1905), Berlin 1920, § 4, 8 ff.; Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 154. 19

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Zunächst sei die Kategorie der Substantialität für die Wahrnehmung leitend, dann der Gesichtspunkt der Kausalität. Verallgemeinernd formuliert er, die »Richtung der ›Ideation‹ zwingt also das rein »optische« Phänomen in ganz bestimmte Bahnen«; »die Identität des Bezugspunkts« weise »der ›Rekognition‹ und ›Repräsentation‹ die Wege«. 21 Im Hinblick auf Wissen und Erkenntnis von Wirklichkeit ist der feine Unterschied, den Cassirer gegenüber tradierten Auffassungen markiert, zu beachten. Er betont: Wir erkennen nicht die Gegenstände, sondern wir erkennen gegenständlich. »Wir erkennen […] nicht ›die Gegenstände‹ – als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und gegeben –, sondern wir erkennen gegenständlich, indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammenhänge fixieren.«22 Diese Bestimmung Cassirers markiert den Punkt, daß Erkennen eine die Erfahrung strukturierende, ordnende Tätigkeit ist, in der Wissen dadurch entsteht, daß bestimmte Relationen ausgezeichnet und fixiert werden – etwa die Relation zwischen Gegenständen einer Art und ihren Eigenschaften oder die Relation zwischen bestimmten Umständen und ihren notwendigen Folgen. An diesen Vorgängen hat das sprachliche Urteil einen wesentlichen Anteil. Betrachten wir zum Beispiel einfache Urteile zur Unterscheidung von Gegenstandsarten der Form »Buchen unterscheiden sich von Eichen dadurch, daß […]« – es folgt eine Bestimmung des Unterscheidungsmerkmals. Eine solche Unterscheidung von Gegenständen erfolgt durch Festlegung bestimmter unterscheidender Merkmale. Dabei werden den Gegenstandsarten Eigenschaften zugeordnet, die für sie kennzeichnend und typisch sind, und in diesen Festlegungen werden die Gegenstandsarten zugleich auch erst geprägt. Die Unterscheidung von Arten ist nicht durch die Natur vorgegeben. Sie hängt vielmehr davon ab, welche Unterschiede Menschen relevant erscheinen. Die Relation zwischen gewissen Umständen und ihren notwendigen Folgen bringen etwa Wenn-Dann-Sätze zum Ausdruck. Sie artikulieren Erkenntnis über regelhaftes Geschehen. Generalisierungen solcher Art konstituieren Ordnungen in der Erfahrung des Prozessualen. In der Wissenschaft werden sie mittels Experiment und kritischer Reflexion auf Theoriebildungen systematisch entfaltet und zu einem System von kausalen und deduktiven Abhängigkeiten ausgebaut. 23 Kurze Aussagen einer Wissenschaft können Ausdruck eines komplexen Wissens sein. Betrachten wir etwa den Satz aus dem Bereich der kineti-

21

Ebd. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 328. 23 Vgl. Cassirers Charakterisierung der Symbolform ›Wissenschaft‹: Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 326–328. 22

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schen Gastheorie: »Wenn die Temperatur hinreichend niedrig ist, dann verhalten sich alle schwingungsfähigen Moleküle so, als könnten sie nicht schwingen.«24 Um diesen Satz zu verstehen, ist Wissen über Einsichten der Quantenmechanik zur Schwingungsfähigkeit der Moleküle vorausgesetzt und gefordert. Cassirer hat bei der für ihn kennzeichnenden Thematisierung von Repräsentationsphänomenen Sätze dieser Art im Sinn, auch Experimente in den Wissenschaften. Im Experiment werden einzelne Erscheinungen, die einem Laien nicht viel ›sagen‹, eingeordnet in den Kontext einer Hypothese im Rahmen einer theoretischen Problemstellung und kritischen Theoriereflexion; beobachtet wird vor dem Hintergrund des praktischen und theoretischen Wissens der jeweiligen Disziplin. Die einzelne Erscheinung wird zum Symbol25 für einen bestimmten Theorieaspekt und theoretischen Zusammenhang. Im O-Ton Cassirers heißt dies: ›Repräsentation‹ ist aufzufassen »als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt«. 26 Cassirers Repräsentationsbegriff ist als ein »›interner‹ Repräsentationsbegriff«27 bezeichnet worden, weil er die Repräsentationsbeziehung nicht zwischen Zeichen und Dingen der ›Außenwelt‹ ansetzt, sondern zwischen Zeichen (oder einem Wahrgenommenen) einerseits und einem Zusammenhang der Bedeutungen und des Wissens andererseits. Zu vergleichbaren Aussagen über Erkenntnis, Wissen, Repräsentation ist Edmund Husserl gelangt. Intensiver als Cassirer hat er sich mit Repräsentationsphänomenen in Wahrnehmungen befaßt. Er behandelt Beispiele wie das Folgende: Wir sehen einen roten Ball. Genau genommen sehen wir in einer bestimmten Perspektive eine runde oder ovale Form mit Verfärbungen des Farbtons. Doch wir wissen und sehen: Vor uns ist ein Ball, eine Kugel – keine Scheibe – von gleichmäßig roter Farbe. Dieses Wissen hat Husserl in seinen frühen Schriften als »Repräsentation« bezeichnet, um es von der »Anschauung« des Gegenstands in seiner perspektivisch geprägten Form der Erscheinung abzuheben. 28 In den Logischen Untersuchungen spricht er schon von gegenständlicher Intention oder

Henning Genz: Wie die Naturgesetze Wirklichkeit schaffen. Über Physik und Realität, Reinbek bei Hamburg 2004, 141. 25 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 303. 26 A. a. O., 306, vgl. 320, 324. 27 Thomas Mormann: »Der begriffliche Aufbau der wissenschaftlichen Wirklichkeit bei Cassirer«, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie. Neue Folge, Bd. 4, Heft 4, 1997, 268–293, Zitat: 288. 28 Edmund Husserl: »Anschauung und Repräsentation, Intention und Erfüllung« (Manuskript von 1893), in: Husserliana, Bd. XXII: Aufsätze und Rezensionen (1800–1910), mit ergänzenden Texten hg. von Bernhard Rang, Den Haag 1979, 269–302; Edmund Husserl: »Psychologische Studien zur elementaren Logik« (1894), in: a. a. O., 92–123. 24

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von dem »intentionalen Gegenstand«, jedoch in Abgrenzung zur überlieferten Auffassung, die Gegenstände der Außenwelt seien dem Bewußtsein, der Vorstellung immanent.29 Wahrnehmende wissen, daß Wahrnehmungen keine bloßen Bilder sind; sie wissen, daß sie Gegenstände außerhalb ihres Körpers wahrnehmen, da sie diese als solche körperlich erkunden können. Die Erfüllung von Gegenstandsintentionen in Wahrnehmungen ist Husserls großes Thema – etwa die Erfüllung der Intention ›kugelförmiger Körper‹ im Abtasten und Sehen der Form. Daß die gesehene runde Form keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, kann ertastet werden. Daß rein visuell und unmittelbar eine Kugel erfaßt wird, ist auf Wissen zurückzuführen – Wissen um bestimmte Relationen in Wahrnehmungsprozessen, wie die Veränderung der Farben und der Licht-Schatten-Verhältnisse im Licht, die Veränderung der visuellen Gestalt und der Licht-Schatten-Verhältnisse in der Veränderung des Betrachterstandpunkts, bei akustischen Gegenständen die Veränderung eines Tons mit zunehmender Entfernung etc. Aufgrund solchen Wissens um reguläre Formen der Erscheinung sehen wir z. B., daß eine Oberfläche rau ist. Genauer müßten wir sagen: Wir erkennen an der spezifischen Licht-Schatten-Struktur, daß die Oberfläche rau ist und auch in welcher Weise sie dies ist. Die Materialstruktur ist rein visuell erfaßbar. Eine »partiale Anschauung« genügt, wie Husserl sagt, um den ganzen Gegenstand ›präsent‹ zu haben. Diese ›Präsenz‹ ist eine durch Wissen geformte Wahrnehmung.

Edmund Husserl: Logische Untersuchungen (1901), Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Erster Teil, in: Husserliana, Bd. XIX/1, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984, 388. Husserl beklagt die Vieldeutigkeit des Ausdrucks ›Repräsentation‹ und kritisiert die auf Berkeley zurückgehende Repräsentationstheorie, die unterstellt, eine konkrete Vorstellung oder Anschauung könne repräsentativ – im Sinne von stellvertretend – für das Ganze einer Klasse von Vorstellungen oder Anschauungen der gleichen Art stehen, weil sie assoziativ mit den anderen Vorstellungen oder Anschauungen der gleichen Art verbunden sei. Dieser Repräsentationstheorie gegenüber betont Husserl die »neuartige Bewußtseinsweise« der Idee, ein individuell Konkretes als Einzelfall einer Gattung oder als ein Beispiel für den Begriff einer Gattung aufzufassen. Es handelt sich um einen neuen logischen Bezugspunkt oder Gedanken, der selbst nicht anschaulich ist – er ist ein Ordnungsgesichtspunkt gegenüber dem sinnlich Konkreten und Individuellen (a. a. O., 174 f., 177). Husserl erklärt jedoch, daß dann richtig von der repräsentativen Funktion des Anschauungsbildes gesprochen werde, wenn damit gemeint sei, daß »das Anschauungsbild in sich nur ein einzelnes der betreffenden Spezies vorstellig macht, aber als Anhalt für das daraufgebaute begriffliche Bewußtsein fungiert, so daß mittels seiner die Intention auf die Spezies, auf die Allheit der Begriffsgegenstände, auf ein unbestimmt Einzelnes der Art usw. zustande kommt.« (A. a. O., 178). Diese Textpassage verdeutlicht die begriffliche Übereinstimmung mit Cassirer in puncto »Repräsentation«. Doch Husserl verzichtet zunehmend auf diesen Terminus, um Anklänge an die abgelehnte Auffassung der Repräsentation als Stellvertretung zu vermeiden. An dessen Stelle rücken die Ausdrücke ›gegenständliche Intention‹ oder ›Bedeutungsintention‹ im Fall von Zeichen. 29

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III) Zwei Mißverständnisse Sowohl bei Cassirer als auch bei Husserl finden sich Textstellen, die Repräsentation als ›Darstellung‹ beschreiben. Cassirer spricht von Repräsentation als der »Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen«30, auch von der »Darstellung einer bestimmten ›Bedeutung‹ durch ein sinnliches ›Zeichen‹«.31 Husserl spricht von der »›Darstellung‹« der Wahrnehmungsgegenstände in den Empfindungsdaten.32 Solche Redeweisen legen zwei Mißverständnisse in puncto Repräsentationsbegriff nahe: 1. die Auffassung von Repräsentation als einer expliziten Darstellung geistiger Inhalte oder Darstellung von Wirklichkeit; 2. die Auffassung von Repräsentation als Zeichenbedeutung. »Repräsentation« ist genau genommen nicht ›Darstellung geistiger Inhalte‹. Dies schon deshalb nicht, weil das im Wahrnehmen und Zeichenverstehen aktivierte Wissen nicht als solches selber auch explizit bewußt wird. Wissen ist darin aktiviert, handlungsleitend, stellt sich selbst aber nicht zugleich auch dar. Wer eine Aussage aus dem Bereich der kinetischen Gastheorie versteht, dem sind nicht die Aussagen der Theorie explizit bewußt, mit denen der Satz in Beziehung steht. Zeichen stellen auch nicht Wirklichkeit dar. Als wirklich werden Dinge und Prozesse erfahren, insofern die Erfahrung des einzelnen und besonderen Vorkommnisses in Einklang steht mit der wissensbezogenen Erfahrung dessen, was als wirklich gelten kann. »Repräsentation« ist auch nicht mit ›Zeichenbedeutung‹ gleichzusetzen – nicht nur weil Repräsentationsphänomene auch in Wahrnehmungen auftreten. Selbst in allen Fällen des Zeichenverstehens meint »Repräsentation« mehr als Zeichenbedeutung. Zeichenverstehen ist nicht möglich ohne Wissen um die Zeichenbedeutung, die Verwendung eines Wortes oder Zeichens. Doch was im Zeichenverstehen an Hintergrundwissen aktiviert wird, ist nicht nur semantisches Wissen, sondern ganzheitliches Wissen um das gesamte in Frage stehende Handlungsfeld. Semantisch mehrdeutige oder inkorrekte Aussagen, wie die Aussage einer Kellnerin »Das Sandwich drüben möchte zahlen«, können überhaupt nur adäquat verstanden werden, weil ein solches Wissen aktiviert wird. Linguisten sprechen in dem Fall gerne von ›Weltwissen‹33 und lassen offen, was genau dies ist.

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 39, vgl. 33. A. a. O., 60. 32 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana, Bd. III, hg. von Karl Schumann, Den Haag 1976, 85 f.; ders.: Logische Untersuchungen, Zweiter Band, 379. 33 Martina Plümacher: »›Weltwissen‹. Ein sprachwissenschaftlicher Terminus phänomenologisch betrachtet«, in: Dieter Lohmar/Dirk Fonfara (Hg.): Interdisziplinäre 30 31

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Es ist die Aufgabe der Epistemologie zu klären, wie »Repräsentation«, das im Zeichenverstehen und Wahrnehmen aktivierte Wissen, näher zu charakterisieren ist. Cassirer spricht wiederholt von dem »Bewußtseinsganzen«, das bei jeder Fixierung eines Inhalts »mitgesetzt« und »repräsentiert ist«. »Jede ›einfache‹ Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein ›Etwas‹ im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein ›Anderes‹ und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und ›Präsenz‹ des Inhalts nennen.«34 In dieser und in anderen ähnlichen Aussagen läßt Cassirer unbestimmt, was als ›Bewußtseinsganzes‹ zu denken ist. Die kritischen Debatten der letzten Jahrzehnte um den epistemischen und semantischen Holismus haben deutlich gemacht, daß holistische Positionen sich nicht mit der Feststellung eines Netzes von Beziehungen begnügen können, sondern Aussagen dazu machen müssen, wie das Netz gestrickt ist.35 Auf Psychologie ist nicht auszuweichen, denn »Repräsentation« ist kein psychologischer Begriff.

IV) Wie wird Wissen repräsentiert – welches Wissen wird repräsentiert? Den Weg einer Antwort hat Husserl gewiesen. Der phänomenlogischen Methode entsprechend ging er von psychischen Phänomenen aus, um zu epistemologischen Fragen und Aussagen zu gelangen. Husserl machte zwei wichtige Beobachtungen: 1. Die in Wahrnehmungen aktivierten, auf den Gegenstand bezogenen Intentionen haben in einem spezifischen Sinn den Charakter des Unbestimmten:

Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation: Cognitve Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, Dordrecht 2006, 247–261. 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 30 f. 35 Martina Plümacher: »Holismus und Bestimmtheit der Bedeutung. Edmund Husserl und Ernst Cassirer zu ›Repräsentation‹«, in: Freudenberger/Sandkühler (Hg.): Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel, 131–157.

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Wenn wir ein Haus sehen, genauer eine Seite eines Hauses, wissen wir, daß es andere Ansichten des Hauses gibt, die wir in Erfahrung bringen könnten. Wir haben kein konkretes Wissen des ganzen Hauses. Insofern ist unsere Gegenstandsintention unbestimmt. Doch was immer auch konkret in Erfahrung zu bringen ist, würde stets die Erfahrung eines Hauses sein. Nur im Bereich des Fiktionalen, nicht im Bereich des Wirklichen ist denkbar, daß sich das Haus zum Beispiel als ein uns verschlingendes Lebewesen entpuppt. Husserl verallgemeinert: Die gegenstandsbezogenen Intentionen sind zwar unbestimmt, aber »in ihrer Unbestimmtheit doch von einer Struktur der Bestimmtheit«.36 Diese Aussage Husserls ist nicht immer verstanden worden.37 Sie macht Sinn, wenn wir kategoriale und kategorial-modale Ordnungen des Hintergrundwissens ins Spiel bringen, die den Rahmen stecken für das, was bezogen auf den Gegenstand unmöglich, notwendig, möglich und wahrscheinlich ist. Es gibt einen Bereich von Möglichkeiten, die sich erfüllen können, wenn der Gegenstand praktisch erkundet wird. Dieser Bereich ist jedoch begrenzt durch das auf den Gegenstand bezogen Unmögliche. Den kategorialen Wissensordnungen, die im Sinne einer Umgrenzung von Gegenstandsintentionen wirken, hat sich Husserl insbesondere in dem zweiten, posthum veröffentlichten Band der Ideen zugewandt. Es geht dort um grundlegende epistemische Distinktionen, die Erfahrung strukturieren, wie die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Natur, Mensch und Tier, Ego und Alter Ego, selbstverantworteter Freiheit und nicht-willentlich beeinflußtem Geschehen.38 Die Gegenstandsintentionen zum wahrgenommenen Haus bewegen sich im »intentionalen Horizont« (so Husserls Ausdruck) des Unbelebten, des Näheren im Horizont von Architektur, Wohnkultur oder Kultur der Repräsentanz im Fall etwa öffentlicher Gebäude. Auf unsere Frage ergibt sich durch diese Überlegungen folgende Antwort: Das in Wahrnehmungen oder Zeichenprozessen aktivierte Wissen ist kategorial gerahmt und thematisch mit Bezug auf feingliedrigere Ordnungen der Erfahrung, die im Hinblick auf den in Frage stehenden Gegenstand und unser Interesse thematisch relevant sind. Husserl spricht auch von »thematischen Horizonten«.39 Aus dieser Antwort folgt: Von den

Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen (1929), in: Husserliana, Bd. I, hg. von Stephan Strasser, Den Haag 1963, 41–183, hier: 83. 37 Vgl. David Woodruff Smith/Ronald McIntyre: Husserl and Intentionality. A Study of Mind, Meaning, and Language, Dordrecht/Bosten/Lancaster 1982, 247. 38 Dazu auch: Plümacher: »›Weltwissen‹«, 254–256. 39 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936), in: Husserliana, Bd. VI, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1954, 215; ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, Bd. IV, hg. von Marly Biemel, DenHaag 36

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Ordnungen unseres Wissens hängt ab, welcher Teilbereich des Wissens aktiviert wird, wie Gegenständliches erfahren wird und wie Gegenstände der Erkenntnis geprägt werden. Wissen ist nicht nur geordnet durch ontologische Kategorien und Subkategorien. Es ist auch geprägt durch epistemologische Ordnungen. Diese existieren infolge der Unterscheidung zwischen Disziplinen, zwischen verschiedenen disziplinär erarbeiteten Bereichen des Wissens, zum Beispiel dem Wissen der Mathematik, der Physik oder der Biologie, und spezieller auch infolge der Unterscheidung zwischen disziplinären Teilbereichen des Wissens. Cassirer weist in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) zudem auf historische, ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Ordnungen im Wissen hin40 , die historische Reflexionen ebenso ermöglichen wie die kritisch-methodische Selbstreflexion auf die konstruktionalen Elemente der Theoriebildung. Gegenstände der Erkenntnis sind Cassirer zufolge in der Ordnung des Wissens mit Indizes versehen41 : Sie sind Gegenstand der Disziplin x, der Theorie y und der Kultur- und Wissensepoche z. Das Konzept der symbolischen Formen bringt eine weitere Unterscheidung ins Spiel – die Unterscheidung zwischen Richtungen und Formen des Denkens. Die »symbolischen Formen« ›Religion‹, ›Kunst‹, ›Wissenschaft‹ und ›Technik‹ markieren unterschiedliche Formen der Handlung, der Ziel- und Zwecksetzung in der menschlichen Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Auch diese Unterscheidungen sind in Erkenntnisprozessen implizit mit im Spiel. Sie bilden Rahmungen für das jeweils in diesen Prozessen aktivierte Wissen (das sich in den Erkenntnisprozessen bestätigt oder verändert, weil es korrigiert, ergänzt und modifiziert wird). Ordnungen des Wissens gestalten sich infolge von Unterscheidungen, die in der Reflexion auf Erkenntnis, Denken und Handeln gemacht werden. Husserl und Cassirer thematisieren unterschiedliche Formen basaler Unterscheidungen, die Horizonte oder Rahmen für Repräsentationen sind. Wie eine spezielle Gegenstandswahrnehmung und Gegenstandserkenntnis in diesen Horizonten erfolgt, hängt von feinkörnigeren Ordnungen ab, die sich im Wissenserwerb, in den Debatten um Theorien und Interpretationen bilden und verändern.

1952, 218; Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 219–231. 40 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, Kap. 6, bes. 298. 41 Ich beziehe mich auf Cassirers Ausführungen zur Ordnung des Wissens (a. a. O., insb. Kap. 6). Danach sind die Gegenstände der Erkenntnis den Theorien zugeordnet, in deren Rahmen sie thematisiert und entwickelt wurden; die Theorien wiederum sind einem bestimmten historischen Kontext zuzuordnen. Explizit von Indizes spricht Cassirer im Hinblick auf die jeweiligen »Modalitäten«, die den apriorischen Relationen des Raumes, der Zeit, der Kausalität hinzuzufügen seien zur Kennzeichnung der besonderen Form, in der Ordnungen des Raumes, der Zeit oder der Kausalität entwickelt bzw. thematisch werden. (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 29).

Plümacher · Menschliches Wissen in Repräsentationen

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2. Die zweite wichtige Beobachtung Husserls betrifft das Verhältnis von Bewußtem und potentiell Bewußtem oder implizitem Wissen. Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, bedenken wir nicht den Rahmen oder die Perspektive, in dem wir ihn wahrnehmen, ebenso nicht den Wissenshintergrund. Das im Wahrnehmen Bewußte, ein Gedanke vielleicht, ist nur ein Teil dessen, was als Gegenstandsintention im Spiel ist. Husserl spricht von »Horizonten«, in denen etwas bewußt ist – gemeint sind thematische und kategoriale Rahmen der Intentionen, die im Hintergrund des Bewußten sind42, – und er spricht von einem »Hof« des potentiell Bewußten, der das Bewußte umgibt. Dieses sind Gedanken oder Vorstellungen, die mit dem aktuell Bewußten enger verbunden sind und gegebenenfalls bewußt werden könnten. Husserl wählt den Ausdruck ›potentiell bewußt‹ mit Bedacht, denn Subjekte können intentionale Horizonte auslegen und Potentialitäten explizieren.43 Das potentiell Bewußte ist kein unzugängliches Unbewußtes. Subjekte müssen das Wissen im Hintergrund des Bewußten nicht bewußt präsent haben und sie müssen es nicht explizieren, um handlungsfähig zu sein. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Eine Schneiderin wählt einen Stoff aus; zielstrebig wählt sie zwischen mehreren Regalen, die mit Stoffballen gefüllt sind. Sie muß nicht bewußt daran denken, daß es ein Stoff sein sollte, der leicht gewebt ist und leicht wirkt, aber Gewicht hat, so daß er den Körper eng umspielt. Sie weiß, welche Art des Stoffes sie braucht und denkt vielleicht über die richtige Farbe nach, um zwischen mehreren passenden Stoffen den richtigen zu bestimmen. Würde sie gefragt, warum sie diesen Stoff wählt, könnte sie einiges über die Kriterien ihrer Wahl sagen und ihr Wissen explizieren, vorausgesetzt, sie ist im Erklärungen-Geben geübt.44 Das Wissen im Hintergrund ist insgesamt nicht explizierbar dadurch, daß Überzeugungen über das, was der Fall ist, etwa in Form von Propositionen aufgelistet werden. Diese Vorstellung der Explikation des Hintergrundwissens ist jedoch im Rahmen der Debatten um den semantischen

Husserl: Cartesianische Meditationen, 82 f.; ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, 57 f., 185; ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, 218; ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 19, 215, 258 f.; ders.: Erste Philosophie, Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (1923/1924), in: Husserliana, Bd. VIII, hg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1959, 86, 147 f., 150; ders.: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), redigiert und hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, 28 f., 35. – Vgl. dazu Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 219–225. 43 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Erstes Buch, 72 f., 185 ff., 257. – Eine vergleichbare Aussage Cassirers zum Bewußtsein findet sich in Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 38 f. 44 Ryle weist auf die Bedeutung des letzteren hin: Gilbert Ryle: The Concept of Mind (1949), Reprint, London 1963). 42

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

und epistemischen Holismus vertreten worden. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb eine solche Explikation kaum Sinn macht. Der wichtigste Grund ist, daß die das Hintergrundwissen rahmende und Repräsentationen ermöglichende und bestimmende Ordnung im Wissen nicht selbst explizit zum Vorschein kommt. Das hängt auch damit zusammen, daß das potentiell Bewußte und Naheliegende noch nicht der Wissenshorizont ist.

V) Wissensordnungen als Hintergrund von Repräsentationen Die Ordnungen des Hintergrundwissens sind im Normalfall des Denkens und Handelns nicht explizit bewußt. Dennoch sind sie keine Fiktion. Dies wird deutlich, sobald wir uns die Frage stellen, wie es zu denken ist, daß wir auf Situationen und Zeichen passend reagieren. Situationserfassung und Zeichenverstehen sind nicht zurückzuführen auf eine bloß assoziative Aktivierung von Wissen und Bedeutung.45 Anknüpfungspunkt für Assoziation kann alles sein, was in irgendeiner Hinsicht mit anderem ähnlich ist oder als ›Brücke‹ zu einem anderen Inhalt überleitet. Assoziative Formen des Denkens treten häufig auf, sind jedoch in den meisten Kontexten nicht handlungsrelevant. Eine Ausnahme bilden etwa Kontexte der Kunst. Leiteten uns bloße Assoziationen im Handeln, würde unsere Welt chaotisch sein. Die zielgerichtete Umsetzung komplexer Handlungsstrategien wäre nicht gegeben. Die passende Reaktion auf Situationen und Zeichen ist auch nicht mit der Verinnerlichung von Konventionen zu erklären. Habitualisiertes spielt zwar eine wichtige Rolle im Verhalten. Die Kreativität des menschlichen Verhaltens ist jedoch der Punkt, den man im Rekurs auf Habitualisierungen intellektuell nicht in den Griff bekommt. Passend reagieren zu können, z. B. in einer gegebenen Situation, in einer philosophischen Debatte oder bei der Suche nach dem Grund, weshalb der Internetzugriff plötzlich nicht mehr funktioniert, erfordert die Aktivierung eines bestimmten Teils des Wissens. Das ist einerseits selbstverständlich, andererseits aber auch etwas Besonderes, wenn wir uns nämlich klar machen, wie viel Menschen im Grunde wissen. Das umfangreiche Wissen, auch über Details, steht uns niemals in Gänze zur Verfügung und selbst in Teilen nicht zu jeder Zeit (und muß das glücklicherweise auch nicht). Es ist ein besonderes Merkmal unserer Kognition, daß wir kontextbezogen denken. Wir müssen sogar gezielt Kontexte wechseln, um zu einem Thema

45

Cassirer entwickelte seine Positionen in der kritischen Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie, dazu Martina Plümacher: »Philosophical Research on Cognition«, in: Synthese 2011, 153–167.

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unser diesbezügliches Wissen aktivieren und das Thema in verschiedenen Richtungen durchdenken zu können. Um ein Beispiel zu geben: Wir denken über die Situation der Philosophie in Deutschland nach, im Kontext der allgemeinen Situation der Hochschulen, insbesondere unter den Bedingungen der so genannten Hochschulreformen, und wir wechseln dann den Kontext etwa mit der Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß unter diesen Bedingungen noch vergleichsweise gute Forschungen zustande kommen. Zum Zuge kommen dann Fragen wie zum Beispiel die, was Forschung in der Philosophie ist, was Maßstäbe setzt, wer sie setzt… Zu den Merkmalen unserer Kognition gehört nicht nur, daß Wissen in Teilen aktivierbar ist, sondern auch, daß beim Wechsel der thematischen Rahmen und Perspektiven ein sinnvoller Zusammenhang der verschiedenen Aspekte besteht oder aber entwickelt wird. Beide Merkmale setzen stets bereits eine Organisation im Kognitiven voraus, in der diese Bedingungen erfüllt sind: Segmentierbarkeit der Wissensbestände einerseits, epistemische Zusammenhänge im Sinne einer Ordnung der Wissensbestandteile andererseits. Diese Ordnung ist nicht nur als eine Ordnung zu denken, die Orientierung im Ontologischen erlaubt. Sie muß auch Orientierung im Handeln ermöglichen, d. h. Zugriff auf Wissen erlauben in Bezug auf das, was zu tun ist und wie weit man damit kommen kann. Wissensordnung ist nicht als eine eindimensionale Ordnung zu denken, insbesondere nicht nur als Ordnung der Gegenstände und der disziplinären Zugriffe auf sie. Zur Wissensordnung gehört Ordnung im Hinblick auf epistemische Geltung, Geltungsbereiche, Handlungsfelder, Ziele und Zwecke von Handlungen. Diese Ordnungen werden geschaffen, kommuniziert und in Geltung gesetzt durch klare Unterscheidungen, was wohin und wozu gehört. Die Philosophie bietet dafür zahlreiche Beispiele; es ist geradezu ihr Geschäft, Ordnungen im Denken zu vermitteln. Aber auch im nichtphilosophischen Alltag werden Ordnungen aktiviert und kommuniziert, die Ordnungen im Wissen sowohl ausdrücken als auch prägen: Man denke an Gespräche, wer für welches Problem beruflich zuständig ist, welche Methode man zu welchem Zweck verwendet, welche Fälle eine allgemeine Regel abdecken und welche nicht, was Begriffe beinhalten und wie sie von anderen Begriffen zu unterscheiden sind. Man verständigt sich z. B. auch darüber, in welcher Perspektive und von welcher Grundlage aus man argumentiert, und man klärt damit zugleich etwa auch, wie sich Perspektiven und Prämissen-Folgerungsbeziehungen voneinander unterscheiden oder aufeinander beziehen oder aber beides, sich sowohl unterscheiden als auch aufeinander beziehen.

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VI) Wissen in Repräsentationen »Repräsentation« ist im Verständnis Cassirers und Husserls Aktivierung von Wissen. Wir können von »mentaler Repräsentation« sprechen, vorausgesetzt, daß damit nicht behauptet wird, das Repräsentierte müsse gänzlich bewußt sein. Die Bezeichnung »mentale Repräsentation« bietet sich an, um von diesem Repräsentationsverständnis das andere zu unterscheiden, dasjenige, das Zeichen und Zeichensysteme in den Blick nimmt. Der Ausdruck ›Wissen in Repräsentationen‹ kann nicht nur bedeuten, daß ein bestimmter Teil des Wissens in Repräsentationen aktiviert ist. Er beinhaltet auch, daß sich Wissen in Repräsentationen artikuliert. Im zweiten Fall haben wir es mit einem anders ausgerichteten Repräsentationsbegriff zu tun. Er geht zurück auf die zuerst von Leibniz formulierte Einsicht, daß menschliche Erkenntnis und menschliches Wissen der Artikulation in Zeichen bedürfen. Zeichen und Zeichensysteme bringen Erkenntnis zum Ausdruck. In diesem Sinn repräsentieren sie Erkenntnis – doch stets nur für Subjekte, die in der Lage sind, die Zeichen zu verstehen. Gäbe es niemanden mehr, der unsere Bücher und Bilder verstünde, hörten sie auf, Erkenntnisse zu repräsentieren. Die Blickwendung auf Zeichensysteme und Zeichen als Formen der Artikulation von Erkenntnis rückt die Medien der Erkenntnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sich auf Leibniz berufend hat Cassirer nachdrücklich betont, daß Zeichen nicht bloß als Mittel zur Kommunikation von zuvor bereits gefaßten Gedanken zu verstehen seien, sondern als »Organe« des Denkens.46 In der Gestaltung von Zeichen und Zeichensystemen, darunter auch Apparaturen, gestaltet sich menschliche Erfahrung. Es handelt sich nicht um Abbildungen des Wirklichen, sondern um Medien der Orientierung im Handeln, Medien der praktischen Auseinandersetzung mit Wirklichem. Selbst ein Gebäudeplan, von dem gesagt wird, er sei eine strukturelle Abbildung eines Gebäudes, stellt genau genommen nicht das Gebäude dar. Er dient Menschen zur Raumorientierung. Das Zeichensystem der Raumabbildung ist Ausdruck und Medium einer Raumorientierungsfähigkeit, die nicht mehr auf einzelne spezielle Gegenstände als markante Orientierungswerte angewiesen ist. Cassirer hat sich im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen in einem langen, fast hundert Seiten umfassenden Kapitel »Zur Pathologie des Symbolbewußteins« mit den kognitiven Fähigkeiten beschäftigt, die durch Zeichensysteme aufgebaut werden. Bemerkenswert ist sein Hinweis darauf, daß diese Systeme nicht nur die Ablösung der Orientierung vom Lebensnahen und Konkreten ermöglichen, sondern eine Flexibilität

46

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 16.

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im Denken dadurch ermöglichen, daß das Wissen um relationale Ordnungen einen Wechsel der Perspektiven erlaubt.47 Systeme der Raumdarstellung, Mathematik und andere Systeme relationaler Ordnungen, z. B. das Periodensystem der chemischen Elemente, aber auch Unterscheidungen historischer Epochen, sind ›Koordinatensysteme‹, insofern sie dazu befähigen, die Zentren der Orientierung beweglich anzusetzen. Cassirer beschreibt die Schwierigkeit vieler gehirngeschädigter Aphasiker beim Ausführen von Rechenoperationen oder bei der Anfertigung einer Skizze ihres Zimmers: Die Schwierigkeit »besteht in der freien Setzung und in der freien Aufhebung eines Koordinatenmittelpunkts, sowie in dem Übergang zwischen Systemen, die sich auf verschiedene derartige Mittelpunkte beziehen. Die jeweiligen Grundeinheiten müssen nicht nur ›festgestellt‹, sondern in ebendieser Feststellung auch beweglich erhalten werden, so daß zwischen ihnen abgewechselt werden kann.«48 In seiner Analyse der Zeichenphänomene legt Cassirer den Akzent nicht auf ontologische, sondern auf epistemische und pragmatische Dimensionen der Zeichenfunktion. Für ihn ist der »eigentliche Kern des Wirklichkeitsbegriffs« die »logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten«.49 Diese Differenzierung wird in Zeichen markiert und in passend gegenstandsbezogener Zeichenverwendung praktiziert. Eine chemische Formel etwa, verwendet zur Bezeichnung eines bestimmten Stoffes, stellt nicht den Stoff dar, wie er beobachtbar ist. Sie markiert eine Unterscheidung zu anderen Stoffen nicht durch direkt wahrnehmbare Eigenschaften, sondern durch den »Inbegriff möglicher ›Reaktionen‹, möglicher kausaler Zusammenhänge, die durch allgemeine Regeln bestimmt werden.«50 Die Formel wird in Lehrbüchern eingeführt und erläutert, doch sie dient der Orientierung in der chemischen Praxis und muß sich in ihr beweisen. In diesem Sinne also können wir »menschliches Wissen in Repräsentationen« verstehen.

Zu diesem Kapitel (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 234–322): Martina Plümacher: »Die Erforschung des Geistes – Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/ Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie des Geistes, Stuttgart/Weimar 2003, 85–110, hier bes.: 99–104. 48 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 290. 49 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 302, vgl. 161. 50 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 43. 47

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Literaturverzeichnis Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004 Andreas Bartels: Strukturale Repräsentation, Paderborn 2005 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, Hamburg 1999 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910; 1923), in: ECW 6 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 Henning Genz: Wie die Naturgesetze Wirklichkeit schaffen. Über Physik und Realität, Reinbek bei Hamburg 2004 Gilbert Ryle: The Concept of Mind (1949), Reprint, London 1963 Ewald Hering: Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (1905), Berlin 1920 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), redigiert und hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948 – Cartesianische Meditationen (1929), in: Husserliana, Bd. I, hg. von Stephan Strasser, Den Haag 1963 – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana, Bd. III, hg. von Karl Schuhmann, Den Haag 1976 – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, Bd. IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag/Dordrecht 1952 – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936), in: Husserliana, Bd. VI, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1954 – Erste Philosophie, Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (1923/1924), in: Husserliana, Bd. VIII, hg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1959 – Logische Untersuchungen (1901), Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Erster Teil, in: Husserliana, Bd. XIX/1, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984 – »Anschauung und Repräsentation, Intention und Erfüllung« (Manuskript von 1893), in: Husserliana, Bd. XXII: Aufsätze und Rezensionen (1800–1910), mit ergänzenden Texten hg. von Bernhard Rang, Den Haag 1979 – »Psychologische Studien zur elementaren Logik« (1894), in: Husserliana, Bd. XXII: Aufsätze und Rezensionen (1800–1910), mit ergänzenden Texten hg. von Bernhard Rang, Den Haag 1979 Christoph Jamme/Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation. Krise der Repräsentation. Paradigmenwechsel«, in: Silja Freudenberger/Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation. Krise der Repräsentation und Paradigmenwechsel, Frankfurt/M. 2003 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1911, Bd. IV

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John Locke: An Essay Concerning Human Understanding (1690), ed. by Peter H. Nidditch, Oxford 1975 Thomas Mormann: »Ist der Begriff der Repräsentation obsolet?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51, Heft 3, 1997 – »Der begriffliche Aufbau der wissenschaftlichen Wirklichkeit bei Cassirer«, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie. Neue Folge, Bd. 4, Heft 4, 1997 Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie (1912), Amsterdam 1965 Martina Plümacher: »Holismus und Bestimmtheit der Bedeutung. Edmund Husserl und Ernst Cassirer zu ›Repräsentation‹«, in: Silja Freudenberger/ Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel, Frankfurt/M. 2003 – »Die Erforschung des Geistes – Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie des Geistes, Stuttgart/Weimar 2003 – Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewußtseins, Berlin 2004 – »›Weltwissen‹. Ein sprachwissenschaftlicher Terminus phänomenologisch betrachtet«, in: Dieter Lohmar/Dirk Fonfara (Hg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation: Cognitve Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, Dordrecht 2006 – »Wirklichkeit/Realität«, in: Armin G. Wildfeuer/Petra Kolmer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i.Br./München 2008 – »Philosophical Research on Cognition«, in: Synthese 2011 Thomas Reid: Essays on the Intellectual Powers of Man (1785), in: The Works of Thomas Reid, Vol. I, ed. by William Hamilton, Bristol 1994 Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Natur, Princeton (New Jersey) 1979 Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation«, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, Hamburg 1999 Alison Simmons: »Changing the Cartesian Mind: Leibniz on Sensation, Representation and Consciousness«, in: The Philosophical Review 10, No. 1, 2001 Eckart Scheerer: Art. »Repräsentation« (I/1, I/2, I/4; IV), in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992 – »Mentale Repräsentation: Umriß einer Begriffsgeschichte«, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation und Modell. Formen der Welterkenntnis (Schriftenreihe des Zentrums Philosophische Grundlagen der Wissenschaften), Bd. 14, Bremen 1993 Marcus Willaschek: »Realismus und Intentionalität«, in: Christoph Halbig/Christian Suhm (Hg.): Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie, Frankfurt/M./Lancaster 2004 David Woodruff Smith/Ronald McIntyre: Husserl and Intentionality. A Study of Mind, Meaning, and Language, Dordrecht/Bosten/Lancaster 1982

Hans Jörg Sandkühler

Kritik der Gewißheit Zeitgenossenschaft – Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Gaston Bachelards Épistémologie I) Kopernikanische Wenden Die Bedeutung einer philosophischen Theorie der Erkenntnis und des Wissens ist heute nicht weniger umstritten als die allgemeinere Frage, was die Philosophie überhaupt zur Aufklärung über die Wirklichkeit beizutragen hat. Ist nicht, was sie in ihrer Geschichte zu leisten sich vorgenommen hat und sich noch heute vornimmt, längst Aufgabe und Gegenstand empirischer Wissenschaften? Ist das Programm einer naturalisierten Epistemologie nicht erfolgreicher als eine philosophische Erkenntnistheorie? Sollte die Philosophie nicht vor den empirischen Wissenschaften des Gehirns, den Kognitions- und Neurowissenschaften, die Segel streichen? Ich werde dafür argumentieren, daß sie dies nicht tun sollte und – in systematischem epistemologischem Interesse und im historischen Rückgriff auf die Zeitgenossen Ernst Cassirer und Gaston Bachelard – für ein wahrheitstheoretisch bescheidenes Philosophieren plädieren. In Wissenschaften, die sich mit der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Wissen befassen, regt sich derzeit lauter Widerstand gegen die kantische Kopernikanische Wende und die durch sie begründete Tradition der Theoriebildung. Ein neuer, in seinen Prinzipien alter und wahrheitstheoretisch maßloser Materialismus/Naturalismus provoziert mit der These, alles lasse sich als Element der physischen Welt erklären, und die beste wahre Erklärung liefere eine Wissenschaft nach dem Muster der exakten nomologischen Naturwissenschaften. Reduktionistische Strategien setzen auf die Karte, alles, auch Bewußtsein und Geist, auf natürliche Entitäten und Naturgesetze zurückführen zu können. Diese Karte sticht seit Kant nicht mehr. In der Philosophie gibt es eine Tradition, die sich als theoretische Alternative zum Materialismus/Naturalismus anbietet – die kantische. Im Rahmen der Weiterentwicklung dieser Tradition stellen Pluralismus und interner Realismus mögliche Grundlagen einer erklärungsstarken Epistemologie dar. Deren Kernfrage lautet nicht, wie unser Wissen die Realität nach dem Maß der Dinge abbildet, sondern wie phänomenale Wirklichkeit – Wirklichkeit nach Menschenmaß – in Wissensordnungen, epistemischen Konstellationen bzw. Wissenskulturen entsteht. Eine solche Epistemologie hat sich von der Idee einer vorgegebenen und nur noch abzubildenden Welt verabschiedet. Gaston Bachelard, der

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Begründer der Épistémologie in Frankreich, beschreibt seit den 1920er Jahren diesen Abschied als ›kopernikanische Wende der Objektivität‹ und als den Beginn eines ›neuen wissenschaftlichen Geistes‹: Das wissenschaftliche Denken beginnt mit einer époché; es klammert aus, was SubstanzMetaphysiker ›Realität‹ nennen, und versteht sich als phénoménothechnique, als Herstellung des für uns ›Wirklichen‹. Nicht anders als Cassirer warnt Bachelard vor der »Verführungskraft der Substanzvorstellungen«1 und betont den funktionalen Charakter unserer Begriffe. Ernst Cassirer, Zeitgenosse Bachelards, schreibt 1921 in seinem Buch Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, wir stünden in dem Moment, in dem das Denken die Form der ›einfachen‹ Grund- und Maßverhältnisse verändert habe, vor einem neuen ›Weltbild‹. Was ist der gemeinsame Nenner der Philosophie der symbolischen Formen und der Épistémologie, was das Übereinstimmende im Denken der beiden Theoretiker, die sich nicht gekannt haben und sich nicht aufeinander bezogen haben? Es ist dieses, nicht zuletzt aus der Analyse der modernen Wissenschaften gewonnene Prinzip: Etwas von der Welt wissen kann gemäß der nachkantischen zweiten Kopernikanischen Wende nicht bedeuten, einen Gegenstand, ein Ereignis, eine Tatsache in der Weise zu wissen, wie sie der Alltagsverstand spontan unterstellt – in der Weise, wie fraglos hingenommene Gegenstände, Ereignisse und Tatsachen ›nun einmal sind‹. Die Welt, wie wir sie wissen, ist von Subjektivität geprägt. Die Namen und Bedeutungen von ›Realität‹ entstehen in Transformationen in die uns erscheinende Wirklichkeit – in Kulturen, in Zeichen und Symbolen, in denen Menschen ihre jeweiligen Welten entsprechend ihren Selbstbegriffen interpretieren und verstehen. Was meinen wir, wenn wir sagen, wir hätten etwas erkannt und wüßten es? Wissen ist ein Ergebnis von Erkennen. Von Gewißheit sprechen wir, wenn wir von der Wahrheit des Erkannten überzeugt sind. Wie aber sprechen wir sinnvoll von Wahrheit, wenn wir der Annahme einer durch das Sein selbst garantierten Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Aussage kein Vertrauen mehr schenken? Die moderne Kritik der Möglichkeitsbedingungen von Wissen hat zur Einsicht geführt, daß Aussagen keine Kopien des zu Erkennenden sind, sondern mit Voraussetzungen geladene Artefakte: geladen mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und Interessen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens, kurz: mit Überzeugungen. Nicht zu vergessen ist eine weitere Voraussetzungsdimension – das Nichtwissen, dessen Wirkung sich im Wissen nicht offen zeigt.

1

Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt/M. 1988, 201.

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Die heute gängige Standarddefinition von ›Wissen‹ lautet: Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung (justified true belief ). Statt von Definition ist eher von Problem und Forschungsprogramm zu sprechen. Bevor wir nicht wissen, was Überzeugungen sind, wie die Wahrheit von Überzeugungen bestimmt werden kann und was die Mittel und Wege der Rechtfertigung sind, kann von einer Aufklärung über Wissen kaum gesprochen werden. Das erkennende Subjekt S1 wählt eine bestimmte Alltagsanschauung der Welt und in Philosophie und Wissenschaft ein bestimmtes epistemologisches Profil; es trifft die Wahl, Realist, Idealist, Naturalist etc. zu sein; S2 wählt eine andere Weltsicht, ein anderes Profil, S3 ein bestimmtes Begriffsschema, S4 eine bestimmte Rahmentheorie, S5 eine bestimmte Methodologie. Die Wahl hat Kontexte: Traditionen, Kulturen, Lebensbedingungen, arbeitsteilige Spezialisierungen, Opportunitäten etc.; sie ist nicht un-bedingt frei. Jede Wahl hat Folgen. Der metaphysische Realist, der von einem direkten Bezug der Aussage zu Gegenständen, Ereignissen etc. ausgeht, kommt zu einem anderen Ergebnis als der interne Realist, der die Abhängigkeit seines Denkens und seiner Aussagen von einem semantischen und semiotischen Netzwerk, von einem Zeichen- und Beschreibungssystem, einräumt. Interne Realisten – wie in einem weiten Sinne Cassirer und Bachelard – sind davon überzeugt, mit dem faktischen Pluralismus der symbolischen Formen und der Vielfalt der Theorien leben zu müssen und leben zu können.

II) Wissen können – oder Das menschliche Maß Der anthropos-metron-Satz des Protagoras, aller Dinge Maß sei der Mensch – des Seienden, daß (wie) es ist, des Nichtseienden, daß (wie) es nicht ist – bildet seit der Sophistik, der ersten europäischen Aufklärung, den Kerngehalt erkenntniskritischer Philosophien. Er bringt zum Ausdruck, wie Menschen wissen können: »Der Einwand des Gorgias: ›es redet der Redende, aber nicht Farbe oder Ding‹, gilt«, so Cassirer im ersten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen, »in verschärftem Maße, wenn wir die ›objektive‹ Wirklichkeit durch die ›subjektive‹ ersetzen. In dieser letzteren herrscht durchgängig Individualität und höchste Bestimmtheit.«2 Zu den Intuitionen des Alltagsverstandes gehört der homo-mensura-Satz nicht. Die habitualisierten Intuitionen unseres Alltagsbewußtseins – auch

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki [im folgenden ECW], Bd. 11, Hamburg 2001, 134f. (Hervorhebung HJS). 2

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in den empirischen Wissenschaften – kommen mit einem naiven Realismus3 aus: Es steht uns beim Erkennen eine fertige äußere Dingwelt gegenüber, die wir nur noch in Worte zu fassen haben. Kontraintuitiv ist auch der Einwand des Gorgias. Dem Alltagsverstand widerstrebt die Annahme des epistemischen Perspektivismus und Pluralismus4 , es gebe eine Vielzahl möglicher subjektiver Zugänge zur Natur, zu Kultur und Geschichte und zum Selbst – Perspektiven in Relation zur Lebenswelt, zu praktisch-sozialen Kontexten und Wissenskontexten. Tatsächlich aber gehört es zu den epistemischen Voraussetzungen, daß die Dingwelt kein Wissen oktroyiert und man epistemologische Profile (Gaston Bachelard) wählen kann. Es gibt keine bedeutungsvollen Nachrichten eines Absenders mit dem Namen ›Sein/Seiendes‹, die uns als Adressaten zukommen. Die Autoren der Bücher der Natur, der Geschichte, des gesellschaftlichen Lebens, in denen dem Seienden Bedeutungen für Lebenswelten zugeschrieben werden, sind wir selbst. Der Akt der Erkennens schafft keine Gegenstände (mit Kant : Dinge, wie sie an sich selbst sind); aber er schafft und formt Erkenntnisobjekte in Abhängigkeit von Wissenskulturen und (Re-)Präsentationsformaten als Dinge, wie sie für Menschen sind. Die Grade der Unbestimmtheit der Erkenntnisobjekte – ihrer empirischen Unterdeterminiertheit (W.O. Quine) – und die Freiheitsgrade des Repräsentierens-als erhöhen sich in dem Maße, wie es sich um Zeichen und Symbole handelt. Die einzelnen Zeichen bedeuten, für sich genommen, nichts. Die Zeichen verwendenden Subjekte sind in übergreifende Zeichen- und Symbolkonstellationen eingebunden und binden die Zeichen in ihre Konstellationen ein. Die bezeichneten Erkenntnisdinge bekommen ihre Bedeutungen in Wissenskulturen. Deshalb betonen interne Realisten die kognitiven und praktischen Voraussetzungskontexte und die Abhängigkeit der mit den Dingen verbundenen Eigenschaften von Namensgebung, Zeichensetzung und Bedeutungszuschreibung. Die Frage, ob wir uns Wissen zuschreiben und wahre Aussagen über etwas in der Außenwelt machen können, beantwortet der interne Realist nicht mit dem »Ja« des Korrespondenztheoretikers und nicht mit dem »Nein« des Skeptikers; seine kontextualistische Antwort lautet: »Das hängt davon ab«. 5 Die Möglichkeit der Wissenszuschreibung

Zur neueren Realismus-Diskussion vgl. Marcus Willaschek (Hg.): Realismus, Paderborn/München/Wien 2000 und ders.: Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, Frankfurt/M. 2003. 4 Vgl. die ausführliche Einführung zu Epistemologie und Pluralismus in Hans Jörg Sandkühler: Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart/Weimar 2002. 5 Zur gesellschaftlichen Kontextualisierung wissenschaftlichen Wissens und zu schwach bzw. stark kontextualisiertem Wissen vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, übersetzt von Uwe Opolka, Weilerswist 2004, 155. 3

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ist keine Gabe des Seins, sondern sie entsteht in der Anerkennung , daß jemand weiß, daß p. Das Wahrsein dieses Wissens ist eine Wahrheits mit der Signatur des jeweiligen semantischen Kontextes6 , der symbolischen Form, des epistemologischen Profils. Aus einem so verstandenen Kontextualismus folgt weder – wie häufig unterstellt wird – die Verwechslung von Genesis und Geltung des Wissens (Wissen kann unabhängig von seiner Herkunft wahr oder falsch sein), noch die Leugnung der bewußtseinsunabhängen Existenz von Entitäten in der Außenwelt. Das Problem der Außenwelt ist lediglich philosophisch uninteressant, solange es um ihre bloße Existenz geht; sie zu leugnen ist sinnlos und als philosophisches Spiel ohne Witz. In diesem Sinne hält auch R. Carnap die These von der Realität der Außenwelt für »eine leere Zutat zum Wissenschaftssystem«. 7 Die Außenwelt ist hingegen als erkenntnisund wissenstheoretisches Thema interessant, weil sie die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des kognitiven Bezugs zu ihr nicht selbst liefert. 8 Der hier skizzierte interne Realismus wird heute weithin als Provokation wahrgenommen, nicht nur für den Alltagsrealismus, sondern auch für realistische und naturalistische Überzeugungen in Philosophie und Wissenschaften. Neu ist dieser wahrheitstheoretisch bescheidene Realismus nicht. Es gab und gibt ihn immer dort, wo ein Veto eingelegt wird gegen das naive Vertrauen in die direkte Referenz unserer Sinneswahrnehmungen und in deren exklusiven ›objektiven‹ Zugang zur Realität. Ein Beispiel neben Cassirer und Bachelard ist A.N. Whitehead, der in Modes of Thought (1936) betont, daß die Sinneswahrnehmung die Daten nicht so zur Verfügung stellt, wie wir sie interpretieren.9 In Erkenntnis und Sprache, in Zeichen und symbolischen Formen, durch Experiment, Messung und Dateninterpretation, wird die vermeintlich objektiv gegebene Realität zu jener Wirklichkeit, wie Menschen sie nach ihrem Maß interpretieren und verstehen können.

6

Zum »semantischen Aufstieg der Wahrheit und wahrheitstheoretischen Abstieg der Außenwelt« vgl. Thomas Hoffmann: Welt in Sicht. Wahrheit – Rechtfertigung – Lebensform, Weilerswist 2007, 44-74. 7 Rudolf Carnap: Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, 71. Vgl. auch über »Die seltsame Erfindung einer ›Außen‹-Welt« Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002, 10-19. 8 Vgl. George Pappas: »Problem of the external world«, in: Jonathan Dancy/Ernest Sosa (eds.): A Companion to Epistemology, Oxford 1993, 381; vgl.: »Die Aussage ›Welt außerhalb von uns‹ ist das Ergebnis desselben Irrtums, aufgrund dessen die Vorstellung vom ›Anderen‹ mit derjenigen des ›Objekts‹ verwechselt wird.« Valerio Meattini: Der Ort des Verstehens, Frankfurt/M. u.a. 2007, 77. 9 Alfred North Whitehead: Denkweisen, hg., übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer, Frankfurt/M. 2001, 165.

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Diese Annahme ist keine Erfindung von Philosophen; sie wurde vor allem durch die Entwicklung der positiven Wissenschaften befördert, und dies bereits seit den 1860er Jahren, wie L. Boltzmanns erkenntnistheoretische Interpretation von Maxwells elektromagnetischer Lichttheorie zeigt. Sie trägt einem Neuen Rechnung: Eine Gruppe von Erscheinungen läßt sich auf verschiedenen Arten gleich gut erklären (Licht als Welle, Licht als Korpuskel). Boltzmann beruft sich – wie später Cassirer – auf H. Hertz, der den Physikern bewußt gemacht habe, was den Philosophen längst klar gewesen sei: »daß keine Theorie etwas Objektives, mit der Natur sich wirklich Deckendes sein kann, daß vielmehr jede nur ein geistiges Bild der Erscheinungen ist, das sich zu diesen verhält wie das Zeichen zum Bezeichneten«.10 Die neue intellektuelle Kultur des Zeichen-Welten-Pluralismus relativiert frühere Evidenzen. Es ist genau dieses Problem, in dessen Zusammenhang das Theorem zu diskutieren ist, das nur scheinbar selbstverständlich ist: Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung. Was dieser Satz mit definitorischem Anspruch behauptet, hat ein anderer Zeitgenosse, L. Wittgenstein, in seinen späten Aufzeichnungen Über Gewißheit als Problem erkannt. Er spricht von einem »Naturgesetz des ›Fürwahrhaltens‹« und betont: »Der Unterschied des Begriffs ›wissen‹ vom Begriff ›sicher sein‹ ist gar nicht von großer Wichtigkeit, außer da, wo ›Ich weiß‹ heißen soll: Ich kann mich nicht irren. [...] ›Ich weiß ...‹ scheint einen Tatbestand zu beschreiben, der das Gewußte als Tatsache verbürgt. Man vergißt eben immer den Ausdruck ›Ich glaubte, ich wüßte es‹.«11 Auf das Problem der Beziehung des für wahr gehaltenen Wissens zu Glauben und Überzeugungen haben nachkantische Philosophien mit Konzeptionen wie ›theoretischer Rahmen‹, ›Sprachspiel‹ oder ›Begriffsschema-Relativität‹ reagiert.12 Es geht um Brücken, über die das Erkennen zur Wirklichkeit kommt. Eine Wittgensteinsche Variante lautet: »Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserm Bezugssystem.«13 Statt zu sagen, wie Realität ist, sollten wir über die Wirklichkeit sagen, daß sie in offenen intentionalen (gerichteten), engagierten Akten von Er-

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Ludwig Boltzmann: «Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit« (1889), in: Hansjochen Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822-1958), Berlin/Heidelberg/New York 1987, 212. 11 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, in: ders.: Werkausgabe, hg. von G. Elizabeth M. Anscombe/Georg Henrik von Wright, Bd. 8, Frankfurt/M.1989, 120f. 12 Zu conceptual relativity vgl. Hilary Putnam: Für eine Erneuerung der Philosophie, übers. von Joachim Schulte, Stuttgart 1997, 158. Zu Begriffsschemata vgl. Silvia Freudenberger: Erkenntniswelten. Semiotik, analytische Philosophie, feministische Erkenntnistheorie, Paderborn 2004, 86-138. 13 Wittgenstein: Über Gewißheit, 136.

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kenntnissubjekten wird. Denn Wirklichkeit entsteht als »Korrelat des Geistes in einem Weltbild, das in charakteristisch menschlichen Verständniskategorien entworfen ist.«14 Die Ordnungen des Erkannten entsprechen den Ordnungen des Erkennens. ›Pluralismus‹ ist der Name für die faktische Verschiedenheit menschlicher Erfahrung und der Wege zum Wissen.15 Der epistemische Pluralismus entspricht der auch von Cassirer beschriebenen wissenskulturellen Situation, in der die Referenz von Wahrnehmung, Erfahrung, Beobachtung und Wissen und die Tatsachen der Empirie nicht mehr mit der Annahme begründet werden können, daß sich eine objektive materielle Welt durch Repräsentationen im Kopf der Menschen in Geistiges übersetzt. Es ist vielmehr »die Metamorphose zu erklären, durch welche die Erscheinung aus einem bloßen Datum des Bewußtseins zu einem Inhalt der Realität, der ›Außenwelt‹, wird«.16 Die Subjektivitäts- und Relativitätslasten dieser Position sind offensichtlich. Aber die Welt bleibt die Welt. Nur – die Ding-Welt akzeptieren bedeutet nicht mehr als (i) eine bestimmte Form der Sprache, ein bestimmtes begriffliches Schema und die Regeln der Sprache oder des Schemas akzeptieren17 ; die Welt akzeptieren bedeutet (ii) anzuerkennen, daß es mehr als eine gute Begründung für das gibt, wofür wir uns entscheiden, was wir für richtig halten, wovon wir überzeugt sind usf. Keine Weltsicht ist durch Wahrheits- und Gültigkeitsbedingungen privilegiert, die aus einem einzigen ausgezeichneten Seinsgrund gespeist wären. Was können wir wissen? Welche Konzepte von gerechtfertigter Überzeugung, Wissen und Wahrheit sind philosophisch sinnvoll begründbar? Ein Plädoyer für wahrheitstheoretische Bescheidenheit in der Philosophie und in den Wissenschaften stellt die Selbstgefährdung des Denkens durch uneinlösbare Ansprüche18 in Rechnung, nicht zuletzt durch absolutistische Wahrheitsansprüche ; diese sind mit der Lebenspraxis und mit einer transkulturellen Offenheit unverträglich, die sowohl Szientismus als auch Eurozentrismus zu überwinden hat. Der Dogmatismus überfordernder Wahrheitsansprüche ist eine Grundlage für Machtansprüche. Der Dogma-

Nicholas Rescher: Studien zur naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre, hg. von Axel Wüstehube, Würzburg 1996, 107. 15 »Given the diversity of human experiences, empiricism entails pluralism.« (Nicholas Rescher: Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford 1993, 77.) 16 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 141. 17 Vgl. Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1993, 146, 148, der sich auf Rudolf Carnap: Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic (1947), Chicago/London 2 1956, 207f. bezieht. 18 Vgl. hierzu Hans Jörg Sandkühler: »Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung? Plädoyer für eine wahrheitstheoretisch bescheidene Philosophie«, in: ders.: Philosophie, wozu?, Frankfurt/M. 2008. 14

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tismus des Anspruchs auf die Wahrheit setzt als Machtanspruch Gewalt gegen den sensus communis frei – gegen Selbstdenken, Widerspruchsfreiheit des Denkens und Denken in der Perspektive des Anderen – und gegen Freiheit im Denken und Handeln. Begreift man dies, dann wird der Prozeß wichtig, den das Philosophieren als Kritik immer wieder gegen sich selbst angestrengt hat und permanent anstrengen muß. Kritik ist die erste Aufgabe theoretischer Philosophie. Hieß es in Voltaires Dictionnaire philosophique, das Wort ›Kritik‹ stamme ab von ›krites, juge, estimateur, arbitre‹ (Richter, Beurteiler, Schiedsrichter) und bezeichne das begründete Urteil des ›bon juge‹, so hat Kant ihm eine erweiterte Bedeutung gegeben: ›Kritik‹ bezeichnet das Vermessen eines Möglichkeitsraumes, d. h. hier: die Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen. Zu denen, die sich dieser Kritik nach Kant gewidmet haben, gehören Cassirer und Bachelard.

III) Sein und Symbol – Zu Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis19 Ernst Cassirers Spätwerk An Essay on Man (1944) setzt ein mit Kants Frage »Was ist der Mensch?« Die Eröffnungspassage ist ein philosophisches Selbstzeugnis der Gründe intellektuellen Engagements gegen Dogmatismus, gegen zu gewisse Wahrheiten, aber auch gegen Resignation vor dem scheinbar unausweichlichen Verfall von Aufklärung und Rationalität. Cassirer notiert zur ›Krise der menschlichen Selbsterkenntnis‹: »That self-knowledge is the highest aim of philosophical inquiry appears to be generally acknowledged«. Dies hat gerade die Skepsis nicht geleugnet: »In the history of philosophy scepticism has very often been simply the counterpart of a resolute humanism. By the denial and destruction of the objective certainty of the external world the sceptic hopes to throw all the thoughts of man back upon his own being. Self-knowledge – he declares – is the first prerequisite of self-realization. We must try to break the chain connecting us with the outer world in order to enjoy our true freedom.«20 Der skeptische Zweifel ist bei Cassirer habituell; zugleich diskutiert er die Skepsis als epistemologisches Problem: »Um die Operation des Ausdrucks rein hervortreten zu lassen, muß der Inhalt, der als Zeichen dient, mehr und mehr seines Dingcharakters entkleidet werden; damit aber scheint zugleich die objektivierende Bedeutung, die ihm zugesprochen

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Zu einer Gesamtdarstellung der Philosophie Cassirers siehe Hans Jörg Sandkühler/ Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003. 20 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 5.

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wird, ihren Halt und ihre beste Stütze zu verlieren. So droht die Theorie der Repräsentation immer von neuem der Skepsis zu verfallen: Denn welche Gewißheit besteht dafür, daß das Symbol des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen?«21 Aus dem Verlust an Gewißheit entsteht die Überzeugung von der Notwendigkeit einer kritischen Philosophie im Dialog aller menschlichen Kulturen und von der Möglichkeit eines Pluralismus, der weder kulturell noch politisch-ethisch zu heillosem Relativismus führt. Was Cassirers Philosophie der Erkenntnis und des Wissens auszeichnet, ist die konsequente epistemologische Aufdeckung der Relationalität – und in diesem Sinne: Relativität – aller Erkenntnis und des Wissens, auch in den Wissenschaften. Dies ist bereits ein wesentliches Merkmal in Das Erkenntnisproblem (1. Bd., 1906). 22 In Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) spitzt Cassirer zu: »Die schärfere Fassung des Prinzips der Relativität der Erkenntnis stellt dieses Prinzip nicht als eine bloße Folge aus der allseitigen Wechselwirkung der Dinge hin, sondern erkennt in ihm eine vorausgehende Bedingung für den Begriff des Dinges selbst. Hierin erst besteht die allgemeinste und radikalste Bedeutung des Relativitätsgedankens«. 23 Noch einmal in einer Variation: »Die Wahrheit des Gegenstands [...] hängt an der Wahrheit [bestimmter] Axiome und besitzt keinen anderen und festeren Grund. Es gibt somit freilich im strengen Sinne kein absolutes, sondern immer nur relatives Sein: Aber diese Relativität bedeutet ersichtlich nicht die physische Abhängigkeit von den einzelnen denkenden Subjekten, sondern die logische Abhängigkeit vom Inhalt bestimmter allgemeingültiger Obersätze aller Erkenntnis überhaupt.«24 Es bliebe »ein Zirkel, die Relativität der Erkenntnis aus der durchgängigen Wechselwirkung der Dinge erklären zu wollen, da ebendiese Wechselwirkung vielmehr nur einer jener Relationsgedanken ist, die die Erkenntnis in das sinnlich Mannigfaltige hineinlegt, um es damit zur Einheit zu gestalten«. 25 Das Problem der Relationalität /Relativität ist mit dem der Subjektivität und Perspektivität von Erkenntnisbedingungen und -interessen und von Bedeutungen verknüpft: »die schlechthin ›standpunktfreie‹ Betrachtung philosophischer Probleme [...] erweist sich bei näherem Zusehen nicht sowohl als Ideal, denn als Idol«. 26

Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 305f. 22 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, X, 3 und passim. 23 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 330. 24 A.a.O., 321. 25 A.a.O., 331. 26 Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), in: ECW 17, 15. 21

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Skepsis als Hoffnung auf Autonomie – dies gehört zur Mentalität einer Kultur, die metaphysische Gewißheiten verloren hat.

III.1) Erkenntnistheorie im Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kulturen der Erkenntnis Cassirer entwirft die Philosophie, die vor allem mit seinem Namen verbunden ist – die Philosophie der symbolischen Formen – im Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur.27 In ihrem Kern ist die Philosophie der symbolischen Formen eine kritisch-idealistische und antinaturalistische Philosophie des Geistes. In diesem Rahmen konzipiert Cassirer eine neue Theorie der Erkenntnis und des durch Zeichen- und Symbolgebrauch zustande kommenden Wissens. Um dem Anspruch einer »methodische[n] Grundlegung der Geisteswissenschaften« gerecht zu werden, grenzt sich die Philosophie des Geistes von der traditionellen Erkenntnistheorie ab, die einer »prinzipiellen Erweiterung« bedarf.28 Cassirer wird auf dem Wege von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur letztlich zu einer Neubestimmung auch der Erkenntnistheorie kommen, weil es ihm um eine Theorie der »Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt« geht: »Erkenntnistheorie ist im Grunde nichts anderes als eine Hermeneutik der Erkenntnis.«29 Die neue Theorie der Erkenntnis, die den Spuren Kants folgt und über Kant hinausgeht, formuliert als ›Theorie der geistigen Ausdrucksformen‹ demgegenüber ein ganz anderes Prinzip: »Das echte ›Unmittelbare‹ dürfen wir nicht in den Dingen draußen, sondern wir müssen es in uns selbst suchen.«30

III.2) Erkenntnistheorie als Phänomenologie der Erkenntnis Cassirer arbeitet nicht an einer spekulativen Erkenntnistheorie, sondern an einer Phänomenologie der Erkenntnis. In einer späteren bilanzierenden Positionsbestimmung betont er unter dem Titel ›Zur Logik des Symbolbegriffs‹ 1938: »Die Philosophie der symbolischen Formen will keine Metaphysik

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9. Vgl. Martina Plümacher/Volker Schürmann (Hg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt/M./Berlin/Bern 1996. – ›Kritischer Idealismus‹ und ›Philosophie der Kultur‹ gebraucht Cassirer synonym. 28 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, VII. 29 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995ff., [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 165. 30 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 26. 27

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der Erkenntnis, sondern eine Phänomenologie der Erkenntnis sein. Sie nimmt dabei das Wort: ›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne. Sie versteht darunter nicht nur den Akt des wissenschaftlichen Begreifens und des theoretischen Erklärens, sondern jede geistige Tätigkeit, in der wir uns eine ›Welt‹ in ihrer charakteristischen Gestaltung [...] aufbauen. Demgemäß will die Philosophie der symbolischen Formen nicht von vornherein eine bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und ihren Grundeigenschaften aufstellen, sondern statt dessen, in geduldiger kritischer Arbeit, die Arten der Objektivierung erfassen und beschreiben, wie sie der Kunst, der Religion, der Wissenschaft eigen und für diese charakteristisch sind.«31 Angesichts der Pluralität der Objektivierungen verliert der Glaube, »die Realität unmittelbar zu erfassen und zu besitzen«, der »jeder Form der Wahrnehmung an- und eingeboren ist«, seine Gewißheit.32 Aufgrund der mit dem Gebrauch von Zeichen und Symbolen gewonnenen Freiheit entsteht, so zeigt Cassirer, eine asymmetrische Relation zwischen der ›Welt‹ des common sense, ›in der wir erkennen‹, und der von uns objektivierten Welt, ›die wir erkennen‹: Je mehr an einzelnen Daten der Welt-Erfahrung wir unter die allgemeinen Begriffe unserer selbst geschaffenen Symbolwelten bringen, desto weniger bleibt von jener Welt, die der realistische Alltagsverstand als eine ›gegebene‹ Realität mißversteht.33 Wir gewinnen desto mehr an phänomenaler Welt und maximieren die Menschenähnlichkeit der von uns objektivierten und interpretierten Welten. Das Wissen ist weder ein Teil des Seins noch dessen Abbildung. Nicht anders als bei Bachelard ergibt sich hieraus aber kein ontologischer und epistemologischer Anti-Realismus; auch der ›interne‹ Realismus ist ein Realismus: Dem Wissen wird »die Beziehung auf dieses Sein so wenig genommen, daß sie vielmehr in einem neuen Gesichtspunkt begründet wird. Denn die Funktion des Wissens ist es, die jetzt den Gegenstand, nicht als absoluten, sondern als durch eben diese Funktion bedingten, als ›Gegenstand in der Erscheinung‹ aufbaut und konstituiert«.34 Cassirers eigenes Leitmotiv war von früh an: »Die Auflösung des ›Gegebenen‹ in die reinen

Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22, 117f. (Hervorhebung HJS). Cassirer diskutiert hier Einwände Marc-Wogaus, man könne aus dem Kreis der Formen nie heraustreten, wenn alle Objektivität nicht anders als in symbolischen Formen präsent sei. 32 A.a.O., 149f. 33 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 242. Im Rückgriff auf Rickert schreibt Cassirer: »was unsere Kenntnis der Tatsachen zu befestigen und zu erweitern schien, das entfernt uns vielmehr immer weiter von dem eigentlichen Kern des ›Tatsächlichen‹. Das begriffliche Verständnis der Wirklichkeit kommt der Vernichtung ihres charakteristischen Grundgehalts gleich«. Zu Rickerts Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung vgl. 241ff.; zu dessen Theorie der Kulturwissenschaften vgl. ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 156ff. 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 5. 31

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Funktionen der Erkenntnis bildet das endgültige Ziel und den Ertrag der kritischen Lehre.«35

III.3) Von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen Cassirer hat seine Theorie des Funktionsbegriffs, der »in sich zugleich das allgemeine Schema und das Vorbild [enthält], nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet«36, zunächst in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) in Auseinandersetzung mit dem Aristotelischen ›Begriffsrealismus‹ entwickelt. Der eigentliche Ausgangspunkt der antimetaphysischen Funktionstheorie ist die Analyse der »logische[n] Natur der reinen Funktionsbegriffe« im System der modernen Mathematik. Im mathematischen Denken findet Cassirer die Bestätigung dafür, daß das menschliche Erkennen nicht von ›Gegenständen‹ determiniert wird, die als substanzielle Entitäten verstanden werden könnten.37 Auf einen einfachen Nenner gebracht: ›Gegenstände‹ sind Variablen bestimmter Erkenntnisaktivitäten. Wir kommen, so erläutert Cassirer am Beispiel des Induktionsproblems in der Physik, d.h. am Beispiel des Verhältnisses von »Gesetz und Tatsache«, keineswegs dadurch zu Gesetzen, daß wir »einzelne Fakta vergleichen und messen«. Was in diesem »logische[n] Zirkel« verkannt wird, ist: »Das Gesetz kann nur darum aus der Messung hervorgehen, weil wir es in hypothetischer Form in die Messung selbst hineingelegt haben.«38 Cassirer plädiert für eine neue Sicht der Beziehung von Subjekt und Objekt bzw. von Subjektivität und Objektivität : Für die »Kritik der Erkenntnis [...] lautet das Problem nicht, wie wir vom ›Subjektiven‹ zum ›Objektiven‹, sondern wie wir vom ›Objektiven‹ zum ›Subjektiven‹ gelangen. Sie kennt keine andere und keine höhere Objektivität als diejenige, die in der Erfahrung selbst und gemäß ihren Bedingungen gegeben ist«. 39 ›Objektivität‹ wird nicht mehr, wie in der Substanzmetaphysik, Entitäten zugeschrieben, die unabhängig vom Bewußtsein sind; die Objektivität, von der Cassirer spricht, ist das Ergebnis der Objektivierung , in der durch geistige Formung Entitäten-für-uns entstehen. Das Motiv der epistemologischen Wende zur Subjektivität darf nicht im Sinne eines Subjektivismus mißverstanden werden; es geht vielmehr um Gründe für das Veto gegen den metaphysischen Realismus und gegen

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 638. 36 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 20. 37 Vgl. a.a.O., 121. 38 A.a.O., 158. 39 A.a.O., 300 (Hervorhebung HJS). 35

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die Abbildtheorie, die aus einer metaphysischen Auffassung der Erkenntnis folgt.40 Solche Gründe liefert keineswegs nur der philosophische Idealismus; für Cassirer hat vor allem die Entwicklung der Wissenschaften den »starre[n] Seinsbegriff« in Fluß gebracht; und in »dem Maße, wie sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen«. An die Stelle »passive[r] Abbilder eines gegebenen Seins« treten »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole«.41 Die ›Dinge‹ und ›Zustände‹ sind nicht gegebene Inhalte des Bewußtseins, sondern subjektiv bestimmte ›Weisen und Richtungen seiner Formung‹. Wie kann gleichwohl an der Idee eines einheitlichen Grundes der Objektivierung zur Welt festgehalten werden? »Wo die Abbildtheorie der Erkenntnis eine einfache Identität sucht und fordert – da erblickt die Funktionstheorie der Erkenntnis durchgängige Verschiedenheit«, schreibt Cassirer in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie ; er setzt den Satz mit einem ›Aber‹ fort: »aber zugleich freilich durchgängige Korrelation der Einzelformen«.42 Die Aufdeckung dieser Korrelation, der »transzendental-logische[n] Einheit der Erkenntnisfunktion«43, ist eine vorrangige Aufgabe der Erkenntniskritik; sie besteht darin, die allgemeinen, alle Einzelformen betreffenden Regeln der Transformation von Vorstellungen in Dinge aufzudecken44 : »Indem wir die logische Regel, der das Wissen in seinen verschiedenen Stufen und Phasen folgt, in all ihren mannigfachen Äußerungen vor uns hinstellen, entsteht damit für uns der Gedanke der Einen in sich zusammenhängenden Wirklichkeit. Damit ist die ›kopernicanische Drehung‹ vollzogen, die die Bewegung, statt sie den Gegenständen zuzuschreiben, in den Zuschauer verlegt.«45 III.4) Eine neue Theorie der (Re-)Präsentation Dies ist eine der wesentlichen Problemstellungen sowohl der Theorie der Sprache als auch der Theorie des Begriffs. Im Kern geht es um eine neue Theorie der (Re-)Präsentation.46 Zwar verwendet Cassirer den Terminus ›Repräsentation‹, aber nicht in Übernahme des Konzepts, mit dem sich

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»Innerhalb der metaphysischen Lehren ist es die ›Vorstellung‹, die auf den Gegenstand, der hinter ihr steht, hinweist«. (A.a.O., 303). 41 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 3. 42 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10, 117. 43 Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), in: ECW 9, 300. 44 Zur ›Regel‹ vgl. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 311. 45 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), ECW 9, 299. 46 Vgl. hierzu ausführlich Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004.

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die Annahme einer ›Übereinstimmung‹ zwischen ideellem Repräsentat und realem Repräsentierten verbindet. Für ihn geht es um das Repräsentationsproblem; es ist das »Kernproblem der Erkenntnis«.47 ›Repräsentation‹ wird er nie als Abbildung verstehen, sondern als »Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen«; in diesem Verständnis ist sie »eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und [eine] Bedingung seiner eigenen Formeinheit«.48 Seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff versteht Cassirer »Repräsentation als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt«. Damit »haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffliche Bestimmtheit geben«.49 Unter dem Titel Der Begriff und das Problem der Repräsentation50 bestimmt Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen (Bd. 3: ›Phänomenologie der Erkenntnis‹) die natürliche Sprache als »Vehikel für die ›Rekognition im Begriff‹«; durch sie erst wird das ›Ausdruckserlebnis‹ zur ›Darstellung‹, weil sie den Fluß der Bilder zur Ruhe und die Konkreta in den Horizont eines Ganzen bringt. Das Konkrete wird nicht einem beliebigen ›Moment‹ des Mannigfaltigen zugeordnet, sondern zu einem »Merkmal«, das als ›Repräsentant des Ganzen‹ fungiert. Der »Akt der ›Rekognition‹ ist notwendig an die Funktion der ›Repräsentation‹ gebunden und setzt sie voraus«. 51 Es ist diese »fundamentale Leistung«, »kraft deren der Geist sich zur Schöpfung der Sprache, wie zur Schöpfung des anschaulichen Weltbildes, zum ›diskursiven‹ Begreifen der Wirklichkeit wie zu ihrer gegenständlichen Anschauung erhebt«. 52 Diese Auffassung setzt einen veränderten Begriff der Repräsentation voraus: Die naive Auffassung des Erkennens als Reproduktion eines ›gegenüberstehenden‹ Seins gehört für Cassirer der Vergangenheit an: »Denn die erkenntnistheoretische Besinnung führt uns überall zu der Einsicht, daß dasjenige, was

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 199. Zur »neue[n] Bedeutung, die die Erkenntniskritik dem Begriff der Repräsentation zuweist«, vgl. ders.: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 306. 48 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 39; vgl. 33. 49 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 306. Wenn von ›scheinbarer Repräsentation‹ die Rede ist, so belegt dies Cassirers Distanz zum traditionellen abbildtheoretischen Konzept. 50 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 119-130. 51 A.a.O., 127. 52 A.a.O., 130. 47

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die verschiedenen Wissenschaften den ›Gegenstand‹ nennen, kein ein für allemal Feststehendes, an sich Gegebenes ist, sondern daß es durch den jeweiligen Gesichtspunkt der Erkenntnis erst bestimmt wird. 53 Bei Cassirer geht es nicht mehr wie in der realistischen Auffassung der Beziehung zwischen Ontologie und Epistemologie darum, die Transformation der ›Dinge‹ in Vorstellungen zu begreifen. In dem Maße, wie die Abbildtheorie der Repräsentation zu verabschieden ist, geht es darum, eine Umkehrung zu erklären, in der die Epistemologie systematischen Vorrang bekommt. Zu erklären ist, wie Inhalte des Bewußtseins so transformiert werden, daß wir sie für Gegebenheiten der ›Außenwelt‹ halten. Nicht anders als Bachelard hat Cassirer diese Perspektive aus den Naturwissenschaften entwickelt.

III.5) Erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist Cassirer widmet sich intensiv der Analyse der Genese, der Struktur und der Funktion wissenschaftlichen Wissens54; die wissenschaftliche Erkenntnis ist ein wesentlicher Ausgangspunkt seiner Erkenntnis- und Wissenstheorie. Er favorisiert eine Philosophie, für welche die Nähe zum Wissen der Wissenschaften konstitutiv ist, und sieht sich in Übereinstimmung mit dem Wiener Kreis: »In der Weltanschauung, in dem, was ich als das Ethos der Philosophie ansehe, glaube ich keiner ›Schule‹ näher zu stehen, als den Denkern des Wiener Kreises: Streben nach Bestimmtheit, nach Exaktheit, nach Ausschaltung des Bloß-Subjektiven, der ›Gefühlsphilosophie‹, Anwendung der analytischen Methode, strenge Begriffsanalyse. Das alles sind Forderungen, die ich durchaus anerkenne.«55 Die moderne Naturwissenschaft selbst ist Zeuge eines neuen Verhältnisses von Wissenschaft und (kritischer) Philosophie: »[Die] heutige Gestaltung der Einzelwissenschaften [zeigt], daß wir den Schnitt zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft nicht mehr in der gleichen Weise führen können, wie er von seiten der empirischen und positivistischen Systeme des 19. Jahrhunderts geführt worden ist. Wir können nicht mehr die besonderen Wissenschaften auf die Gewinnung und Sammlung der ›Tatsachen‹ verweisen, während wir der Philosophie die

Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 7. Zu Cassirers Wissenschaftsphilosophie vgl. Karl-Norbert Ihmig: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer, Darmstadt 2001. 55 So in einem Manuskript mit dem Titel »Vorarbeiten zur Ausdrucksfunktion in der Kulturphilosophie«, in Yale Cassirer Papers, Box 52, folders 1041–43, Abschnitt »Darstellungsfunktion (Objektivität) d 3, 2«, zitiert nach Jean C. Kapumba Akenda: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998, 4f.; vgl. aber auch in: Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 40 ff., die Kritik an R. Carnaps Scheinprobleme in der Philosophie und am Physikalismus insgesamt. 53 54

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Untersuchung der ›Prinzipien‹ vorbehalten. Diese Trennung zwischen dem ›Faktischen‹ und ›Theoretischen‹ erweist sich als durchaus künstlich; sie zerstückelt und zerschneidet den Organismus der Erkenntnis.« 56 Cassirer steht unter dem Eindruck, den auch das Marburger neukantianische Programm einer Analyse naturwissenschaftlichen Wissens als Verweis auf die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Selbstkritik innerhalb der Physiologie, der Mathematik und der Physik verstanden hatte und der heute in experimentellen Kognitionswissenschaften und auf sie gestützten naturalistischen Philosophien des Geistes nahezu vergessen ist: »Es gibt keine ›nackten‹ Fakta – keine Tatsachen, die anders als im Hinblick auf bestimmte begriffliche Voraussetzungen und mit ihrer Hilfe feststellbar sind. Jede Konstatierung von Tatsachen ist nur in einem bestimmten Urteilszusammenhang möglich, der seinerseits auf gewissen logischen Bedingungen beruht. [...] Es ist die wissenschaftliche Empirie selbst, die in dieser Hinsicht die bestimmteste Widerlegung gewisser Thesen des dogmatischen Empirismus enthält. Auch im Kreis der exakten Wissenschaften hat sich gezeigt, daß ›Empirie‹ und ›Theorie‹, daß faktische und prinzipielle Erkenntnis miteinander solidarisch sind.«57 Gerade die erkenntnistheoretische Analyse der modernen Physik bietet Cassirer den Beleg dafür, daß die einst mit der Naturwissenschaft verbundenen Auffassungen von Erkenntnis als abbildender Repräsentation fragwürdig geworden sind. Die Begriffe der Wissenschaften können sich insofern auf Objekte ›beziehen‹, als sie diese selbst als Objekte von Begriffen konstituieren. In diesem Sinne betont Cassirer in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921): »[J]eder objektiven Messung [muß] gleichsam ein bestimmter subjektiver Index hinzugefügt werden, der ihre besonderen Bedingungen kenntlich macht.«58 Die Objekte empirischer Wissenschaften werden nach Regeln, die sich nicht aus den Objekten selbst, sondern gemäß den Begriffen ergeben, auf Gegenstände der Erfahrung bezogen. Es ist die damit verbundene Fragwürdigkeit der ›Tatsachen‹ und des positivistischen Empirie-Verständnisses, die Cassirer schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff bei der Analyse der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die Übereinstimmung seiner Symbol-Konzeption mit der Pierre Duhems59 betonen ließ: »Erst wenn das rohe Faktum durch ein mathematisches Symbol dargestellt und ersetzt ist, beginnt die intellektuelle Arbeit

Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), ECW 24, 372f. A.a.O., 373. 58 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 9; vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 24. 59 Cassirer zitiert in seinem Einstein-Buch 1921 einen Satz Duhems, der den Begriff der ›symbolischen Form‹ enthält: »Les faits d’expérience […] doivent être transformés et mis sous forme symbolique«. (Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 90.) 56 57

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des Begreifens, die es mit der Gesamtheit der Phänomene systematisch verknüpft.« 60 In einem späteren Kontext argumentiert Cassirer erneut mit Pierre Duhem : »Die Empirie scheint sich damit begnügen zu können, einzelne Fakta, wie sie sich der sinnlichen Beobachtung darbieten, zu erfassen und sie rein beschreibend aneinanderzureihen. [...] Jedes Gesetz [...] kommt nur dadurch zustande, daß an die Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobachter als wahr und gültig annimmt, entsprechen sollen. [...] Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen intellektuellen Deutungsprozeß bestimmt und sichergestellt werden: und eben dieser Prozeß, eben diese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theorie ausmacht.« 61 Es ist in historischer Sicht nicht die Philosophie, sondern die Physik und die Wissenschaftstheorie der Physik, die ihr Veto eingelegt haben gegen das »Bestreben, Funktionales in Substantielles, Relatives in Absolutes, Maßbegriffe in Dingbegriffe zu verwandeln«. 62 Cassirer zieht im Kapitel ›Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis‹ im 3. Band seiner Philosophie der symbolischen Formen die allgemeine Schlußfolgerung, der »Gegensatz zwischen ›Induktion‹ und ›Deduktion‹, wie er im Streit der erkenntnistheoretischen Schulen behauptet und formuliert zu werden pflegt«, sei überwunden: » ›Induktion‹ und ›Deduktion‹, ›Erfahrung‹ und ›Denken‹, ›Experiment‹ und ›Rechnung‹ erscheinen vielmehr lediglich als verschiedene, jedoch gleich unentbehrliche Momente der physikalischen Begriffsbildung selbst.«63 Immer wieder und bis hin zur späteren quantentheoretischen Studie Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937) hat Cassirer die für die Lösung des Induktionsproblems wichtige Beziehung zwischen Beobachtung und Gesetz analysiert. Seine Lösung lautet: »Was in Wahrheit den Inhalt unseres empirischen Wissens ausmacht, ist [...] der Inbegriff der Beobachtungen, die wir zu bestimmten Ordnungen zusammenfassen und die wir, dieser Ordnung gemäß, durch theoretische Gesetzesbegriffe darstellen können. So weit die Herrschaft dieser Begriffe reicht, so weit reicht unser objektives Wissen. Es gibt ›Gegenständlichkeit‹ oder ›objektive Wirklichkeit‹, weil und sofern es Gesetzlichkeit gibt, nicht umgekehrt. [...] Wir lesen nicht einfach die Gesetze ›von den Gegenständen ab‹, sondern wir verdichten die empirischen Daten, die uns durch Beobach-

Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 159f. Vgl. zum Rekurs auf Duhem auch 156 ff. 61 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 24. 62 A.a.O., 22. 63 A.a.O., 497. 60

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tung und Messung zugänglich sind, zu Gesetzen und damit zu objektiven Aussagen, und außerhalb dieser gibt es für uns keine objektive Wirklichkeit, die wir zu erforschen und nach der wir zu suchen hätten.«64 Letztlich argumentiert Cassirer – so auch in der ersten seiner fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) – mit dem von Kant präzisierten Vico-Theorem, »daß jegliches Wesen nur das wahrhaft begreift und durchdringt, was es selbst hervorbringt«. 65 Dies gilt auch für die Naturwissenschaften, in denen das sensualistische Dogma der Ideen als bloßer Kopien von Impressionen längst nicht mehr haltbar ist. 66 Cassirer plädiert für einen »Anthropomorphismus« in »kritisch-transzendentalem Sinne«. Er teilt mit Goethe die Überzeugung, »das Höchste sei es, zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist«. 67 Von Goethe läßt er sich ein weiteres anthropomorphes Stichwort geben: »Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen. Es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß aller Dinge ist.« 68 Man würde es sich zu leicht machen, wollte man solche Sätze mit der Unterstellung mangelnder Sachkenntnis abtun. Cassirer ist ein vorzüglicher Kenner sowohl der Geschichte als auch der zeitgenössischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Zu den für ihn wichtigen Zeugen der Entstehung des neuen wissenschaftlichen Geistes in den Naturwissenschaften, zunächst und vor allem in der Physiologie des Sehens, zählen Johannes Müller69, Hermann v. Helmholtz70 und – bezüglich der Epistemologie der Physik – Heinrich Hertz. Mit Helmholtz definiert er die Welt der Erkenntnis als eine »Welt reiner ›Zeichen‹«. 71 Er versteht die Helmholtzsche Zeichentheorie keineswegs als Privat- oder Sonntagsphilosophie eines Naturwissenschaftlers, sondern als »charakteristische und typische Ausprägung der allgemeinen naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre«. Was ihn an dieser Theorie fasziniert, ist die Aussage: »Unsere Empfin-

Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22, 279. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946), ECW 24, 365. 66 Vgl. Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 98. 67 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 29. Vgl. zu diesem für Cassirer signifikanten, bereits von Heinrich Rickert verwendeten GoetheZitat auch 471; ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 90, und Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 93. 68 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 111. 69 Vgl. z.B. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 309. 70 In seinem Artikel »Neo-Kantianism« begründet Cassirer die prominente Stellung, die Helmholtz bei ihm einnimmt, mit der engen Verbindung zwischen Neukantianismus und Wissenschaftsentwicklung: »Neo-Kantianism finds itself confronted with a new task inasmuch as it must face a different state of science itself«. (Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), ECW 17, 308.) – Helmholtz gehört bereits seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff zu den Kronzeugen Cassirers; vgl. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 43f. 71 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 23. 64 65

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dungen und Vorstellungen sind Zeichen, nicht Abbilder der Gegenstände. Denn vom Bilde verlangt man irgendeine Art von Gleichheit mit dem abgebildeten Objekt, deren wir uns hier niemals versichern können. Das Zeichen dagegen fordert keinerlei sachliche Ähnlichkeit in den Elementen, sondern lediglich eine funktionale Entsprechung der beiderseitigen Struktur.«72 Heinrich Hertz ist für Cassirer der »Urheber einer ›Revolution der Denkart‹ innerhalb der physikalischen Theorie«, weil er »die Wendung von der ›Abbildtheorie‹ der physikalischen Erkenntnis zu einer reinen ›Symboltheorie‹ am frühesten und am entschiedensten vollzogen hat«. 73 Nach Cassirers grundlegenden Arbeiten zur Erkenntniskritik und zur Epistemologie der Naturwissenschaften kann es nicht überraschen, daß er sich – neben M. Schlick – als einer der ersten Philosophen seiner Zeit von der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie 74 herausgefordert sieht und sich intensiv auf sie einläßt. Die Erkenntnistheorie verknüpft »ihr eigenes Schicksal [...] mit dem Fortgang der exakten Wissenschaft«. 75 1921 erscheint sein umfangreicher Aufsatz Zur Einsteinschen Relativitätstheorie; der Untertitel belegt, worum es auch hier geht: ›Erkenntnistheoretische Betrachtungen‹. Während der Arbeit an dieser Schrift veröffentlicht Cassirer 1920 unter dem Titel »Philosophische Probleme der Relativitätstheorie« eine kürzere Darstellung mit dem Ziel, »den rein philosophischen Kern der Relativitätstheorie herauszuschälen«.76 Er begreift, daß sich »eine Revolutionierung unseres Weltbildes ankündigt« und sich auch der »Begriff der Natur und der Naturerkenntnis von Grund aus« verändert. 77 Die Übereinstimmung zwischen der neuen Physik und der ›Erkenntniskritik‹ besteht darin, daß beide wissen: Raum und Zeit sind »reine Form- und Ordnungsbegriffe, keine Sach- und Dingbegriffe«. 78

Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 328f. Cassirer bezieht sich auf Helmholtz’ Schrift »Die Thatsachen in der Wahrnehmung« (1878), in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1984. 73 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 23. Zu Theorie, Erfahrung und Tatsache vgl. auch ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 20f. Cassirer bezieht sich in der Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 4, auf den von Hertz’ in Die Prinzipien der Mechanik formulierten Satz: »Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.« (Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik, in: ders.: Gesammelte Werke. Band III, Leipzig 1894, 1.) 74 Der Anlaß ist zunächst Albert Einsteins 1905 veröffentlichte Schrift Zur Elektrodynamik bewegter Körper; Cassirer diskutiert ferner Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie (1916) und Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (1917) sowie Schriften von Lorentz, Minkowski, Planck u.a.; 1936 wendet er sich in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19, der Quantenphysik zu. 75 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 6. 76 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), ECW 9, 217, Anm. 77 A.a.O., 218. 78 A.a.O., 232. 72

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Im philosophisch und wissenschaftlich noch anspruchsvolleren Text Zur Einsteinschen Relativitätstheorie verhandelt Cassirer diese Problematik unter dem Titel »Maßbegriffe und Dingbegriffe«, um zu zeigen, wie sich der archimedische Punkt, von dem aus Newton noch denken zu können glaubte, mit der Entstehung einer Pluralität von Geometrien aufgelöst hat. 79 Die »Relativitätstheorie der modernen Physik« ist für ihn »in allgemeiner erkenntnistheoretischer Hinsicht eben dadurch bezeichnet, daß in ihr, bewußter und klarer als je zuvor, der Fortgang von der Abbildtheorie der Erkenntnis zur Funktionstheorie sich vollzieht«. 80 Im Kern bedeutet dies, daß ein »empirische[s] Objekt nichts anderes als einen gesetzlichen Inbegriff von Beziehungen besagt«. 81 Das physikalische Denken, das bestrebt ist, »in reiner Objektivität nur den Gegenstand der Natur zu bestimmen und auszusprechen, [...] spricht dabei notwendig zugleich sich selbst, sein eigenes Gesetz und sein eigenes Prinzip aus«. 82

IV) Gewißheit kann man nicht ›haben‹. Zur Epistémologie Gaston Bachelards Gaston Bachelard (1884-1962), 1919-1930 Physik- und Chemielehrer, 19301940 Professor für Philosophie in Dijon und 1940-1955 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der Pariser Sorbonne, hat seit den 1930er Jahren mit der von ihm begründeten Épistémologie83 eine Wissens- und Wissenschaftsphilosophie sowie eine Theorie der Wissenschaftsgeschichte begründet, die in der Argumentationsstrategie eine weitgehende Übereinstimmung mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen erkennen läßt. Bachelard datiert den Beginn des ›Zeitalters des neuen wissenschaftlichen Geistes‹ »sehr präzise mit dem Jahr 1905«84, also mit der Einsteinschen Relativitätstheorie. Zu den wichtigsten epistemologischen Werken Bachelards gehören Essai sur la connaissance approchée (1927), La Valeur inductive de la Relativité (1929), Le Pluralisme cohérent de la chimie moderne (1932), L’Intuition de l’instant (1932), Le Nouvel Esprit

Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 3. Vgl. insgesamt das Kapitel »Euklidische und nicht-euklidische Geometrie«, 93–110. 80 A.a.O., 49. 81 A.a.O., 41. 82 A.a.O., 111. 83 Vgl. Hans Jörg Sandkühler, »Epistemologie«, in: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 1, Hamburg 2010. 84 Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984, 39. Soweit die Werke Bachelards nicht auf Deutsch vorliegen, handelt es sich bei Zitaten um meine Übersetzungen. 79

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scientifique (1934), La Formation de l´esprit scientifique (1938), La Philosophie du non (1940), Le Rationalisme appliqué (1949), La Dialectique de la durée (1950) und Le Matérialisme rationnel (1953).85 Zunächst war Bachelard vor allem an Analysen der Geschichte der Wissenschaften, vornehmlich der modernen Naturwissenschaften (Chemie und Physik), und an der Entwicklung eines neuen Rationalismus und Realismus interessiert. 1940 wandte er sich intensiv auch den Mythen, Bildern und Metaphern der Alltagserkenntnis und der Dichtung zu, um gegenüber dem Konzept kausaler Bestimmtheit der Erkenntnis die Kreativität der ›imagination‹ (Einbildungskraft) geltend zu machen. Er verfaßte zu diesem Themenfeld u.a. Psychanalyse du Feu (1940), Poétique de l´espace (1957) und La Poétique de la Rêverie (1960). Im Bewußtsein heutiger Zeitgenossen ist Bachelard selten präsent. Man trifft auf ihn in Michel Foucaults L’archéologie du savoir (1969) und Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966), also in der Analyse der Konfigurationen des ›epistemologischen Feldes‹. AlthusserKennern bleibt Bachelard in eher ferner Erinnerung durch die These des ›epistemologischen Bruchs‹ zwischen Ideologie und Wissenschaft. 86 Im deutschsprachigen Bereich ist Bachelard so unbekannt oder unterschätzt, daß ihn W.K. Essler in seinem Artikel ›Epistemologie‹ im Wissenschaftstheoretischen Lexikon nicht einmal erwähnt. 87 Verdienstvoll für die deutsche Bachelard-Rezeption war hingegen die von Wolf Lepenies 1978 besorgte deutsche Ausgabe von La Formation de l´ esprit scientifi que; Lepenies gibt in seiner Einführung die treffende Kurzdarstellung, Bachelards Denken sei zwar von der Relativitätstheorie besonders stark beeindruckt, »doch waren es im Grunde genommen nicht so sehr neue Perspektiven als die Verneinung herkömmlicher Positionen, die sein Denken bestimmten, wie die nicht-cartesische Wissenschaftstheorie, die nicht-euklidische Geometrie, die nicht-aristotelische Logik und die nicht-newtonsche Mechanik. Schon in ihrem Ursprung ist die Philosophie Bachelards eine ›Philosophie des Nein‹. Innerhalb von nicht mehr als 20 Jahren, so lautet das Resümee Bachelards, haben die Physiker drei bis

85

Zum wissenschaftsphilosophischen Werk Bachelards vgl. Wolf Lepenies: »Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte – Das Werk Gaston Bachelards«, in: Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938); Guy Lafrance: Gaston Bachelard, profils Epistémologiques, Ottawa 1987; Dominique Lecourt: L’Epistémologie historique de Gaston Bachelard (1969), Paris 112002; Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007. Eine umfassende Bibliographie der Werke und der internationalen Literatur zu Bachelard liegt vor mit Hyondok Choe: Gaston Bachelard. Epistemologie. Bibliographie, Frankfurt/M. u.a. 1994. 86 Vgl. Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler (1967), übersetzt und. mit einem Nachw. versehen von Frieder Otto Wolf, Berlin 1985. 87 Vgl. Edmund Braun/Hans Radermacher (Hg.): Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz/Wien/Köln 1978, 134–140.

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vier Mal eine Umorientierung der Vernunft erzwungen und diese mit einer Flexibilität ausgestattet, die von der Philosophie bisher eher behindert als gefördert wurde. Statt aus der Perspektive der Philosophie die Prinzipien des objektiven Wissens zu bestimmen und dann die Wissenschaft daraufhin zu befragen, wieweit sie diesen Prinzipien genügt, stellt sich Bachelard [...] entschieden auf den Standpunkt der Wissenschaft: die Wissenschaftstheorie ist von den Ergebnissen der empirischen Einzeldisziplinen abhängig, nicht umgekehrt. [...] Damit die Philosophie so beweglich bleibt wie die Wissenschaften, muß sie sich stets daran erinnern, daß das objektive Wissen auch das Ergebnis intersubjektiver Verständigung der Wissenschaftler einer bestimmten Epoche ist.«88 Sein Programm einer ›wissenschaftlichen Philosophie‹ hat Bachelard anläßlich des 8. Internationalen Kongresses für Philosophie 1934 in Anwesenheit von Repräsentanten des Wiener Kreises in Prag unter dem Titel »Critique préliminaire du concept de frontière Epistémologique« formuliert; es ist ein Alternativprogramm zum Logischen Empirismus, das er von nun an immer wieder in neuen Variationen artikulieren sollte: »Es müssen überall die anfänglichen Begrenzungen zersetzt werden, es muß die nicht-wissenschaftliche Erkenntnis reformiert werden, die immer wieder die wissenschaftliche Erkenntnis hemmt. Die wissenschaftliche Philosophie muß irgendwie die Barrieren zerstören, welche die traditionelle Philosophie der Wissenschaft gesetzt hat. [...] Wir müssen die Bedingungen sine qua non des wissenschaftlichen Denkens verwirklichen. Wir fordern infolgedessen, daß die wissenschaftliche Philosophie dem unmittelbaren Realen absagt und daß sie die Wissenschaft in ihrem Kampf gegen die ersten Anschauungen unterstützt. Beherrschende Grenzen sind illusorische Grenzen.« 89 Die Bilanz lautet so: Die ›Dinge‹ sind nicht einfach da; es gibt keine Gewißheit, die zu ›haben‹ ist. Die Wissenschaft bricht mit dem Alltagsverstand. Die Wissenschaft kopiert nicht, sondern ist ›Phänomenotechnik‹.90 Das Beobachtete ist nicht unabhängig vom Beobachter. Das Gemessene ist mit Aktivität und Subjektivität des Messenden geladen; Tatsachen sind theoriegeladen. Die Phänomene werden in wissenschaftlicher Aktivität erzeugt. Untersuchungsgegenstände, Erkenntnisobjekte, sind nicht identisch mit ›Dingen‹, mit Realobjekten. Seit Le nouvel esprit scientifi que (1934) präzisiert Bachelard die Strategie einer Überwindung der traditionell als Antipoden aufgefaßten Positionen des Induktivismus/Empirismus und Deduktivismus/Rationalismus sowie der Extreme des Idealismus und Materialismus. Mit La formation de l´ esprit

88 89 90

Lepenies: »Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte«, 12 f. Gaston Bachelard: Epistemologie. Ausgewählte Texte, Frankfurt/M. u. a. 1974, 26. Vgl. Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt/M. 1988, 18.

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scientifi que (1938) plädiert er für eine ›Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis‹. Deren Ziel besteht darin, (i) den Begriff des ›Erkenntnishindernisses‹ (obstacle épistémologique) 91 systematisch und historisch zu explizieren, (ii) das »Unbewußte des wissenschaftlichen Geistes«92 und (iii) das Haben93 von Objektivität und Wahrheit – die von Substanztheorien gepflegten »Besitzerfreuden und objektiven Gewißheiten«94 – einer Analyse und Kritik zu unterziehen: »Im Erkenntnisakt selbst müssen wir also die Verwirrung ausmachen, die durch das dominierende Gefühl des Habens ausgelöst wird.«95 Für die Epistemologie formuliert Bachelard »folgendes Postulat«: »[D]as Objekt läßt sich nicht als etwas unmittelbar ›Objektives‹ bezeichnen; anders gesagt, ein Marsch aufs Objekt ist nicht von vornherein objektiv. Wir müssen also einen wirklichen Bruch zwischen der sinnlichen und der wissenschaftlichen Erkenntnis hinnehmen. Wir meinen in der Tat, [...] daß die normalen Tendenzen der sinnlichen Erkenntnis, die von einem unvermittelten Pragmatismus und Realismus angeregt sind, lediglich einen falschen Ausgangspunkt, eine falsche Richtung bestimmen. Insbesondere das unmittelbare Festhalten an einem konkreten Gegenstand, der wie ein Gut ergriffen und wie ein Wert behandelt wird, geht zu stark auf das sinnliche Sein ein; es geht hier um innere Befriedigung, nicht um rationale Evidenz . [...] Dieses Bedürfnis, den Gegenstand zu fühlen, dieser Hunger nach dem Objekt, diese unbestimmte Neugier, sie entsprechen noch – in keiner Weise – einem Zustand wissenschaftlichen Geistes.«96 1934 hat Bachelard die zwei Themen der Suche nach rationalen Lösungen des Erkenntnisproblems formuliert, die mit dem Neuartigen im wissenschaftlichen Wissen auf der Tagesordnung stehen: (i) Die Naturwissenschaften bilden keine von ›objektiver Natur‹ vorgegebenen Objekte ab, sondern erzeugen die Gegenstände ihrer Erkenntnis und Praxis in Beobachtung und Experiment ; (ii) die Kritik jener Philosophie, die noch immer auf dem Niveau der Alltagserfahrung steht. Deshalb betont Bachelard den Bruch (die coupure épistémologique) zwischen sinnlich-empirischer und theoretisch-wissenschaftlicher Erkenntnis und fordert eine ›wissenschaftliche Differentialphilosophie‹ als Gegenstück zur ›Integralphilosophie der Philosophen‹. Die von Bachelard geforderte »kopernikanische Wende der

Vgl. zur Erklärung dieses Begriffs Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 1984, 50–54. 92 A.a.O., 83. 93 Vgl. a.a.O., 202. 94 A.a.O., 211. 95 A.a.O., 203. 96 A.a.O., 345. 91

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Objektivität«97 besteht darin, daß nicht der Gegenstand selbst die Objektivität und Exaktheit des Wissens bestimmt; es ist vielmehr die Methode, die den Untersuchungsgegenstand konstituiert. In Le matérialisme rationnel hat Bachelard das Thema variiert, »daß der wissenschaftliche Geist unserer Zeit nicht in Kontinuität mit dem einfachen gesunden Menschenverstand gesehen werden kann, sondern ein weit riskanteres Spiel präsentiert«98 – weit riskanter, als es sich der Gewißheit ›habende‹ Alltagsverstand vorzustellen vermag: Es gibt keine Gewißheit, die insofern ›objektiv‹ gegeben wäre, als sie der wissenschaftlichen Erkenntnis von den ›den Dingen selbst‹ garantiert würde. In La formation de l‹esprit scientifi que (1938) lautet diese These: »Eine wissenschaftliche Erfahrung ist [..] eine Erfahrung, die der gewohnten Erfahrung widerspricht.«99 »Die Erfahrung ist kein Ausgangspunkt mehr, sie ist nicht einmal mehr ein einfacher Führer, sie ist ein Ziel.«100 Was dem Positivismus als ›Tatsache‹ erscheint, ist ein Erkenntnishindernis: »Die primäre Erfahrung, oder genauer gesagt, die erste Beobachtung ist immer ein Hindernis für die wissenschaftliche Bildung [..] sie ist malerisch, konkret, natürlich, einfach [..] wir werden zeigen, daß zwischen Beobachtung und Erfahrung nicht Kontinuität, sondern ein Bruch besteht.«101 Hieraus ergibt sich ein Veto gegen den ›philosophe chosiste‹ (den dinggläubigen Philosophen); der ›chosisme‹ ist nicht mehr »geeignet für eine Beschreibung der Phänomene moderner Naturwissenschaft«. Die spontane Ontologie der ›gegebenen‹ Tatsachen, die den common sense kennzeichnet, liefert die Wissenschaft »der Sklaverei unserer ersten Intuitionen« aus; die Evidenzen des Alltagsverstandes führen zum Tod des Fragens und der wissenschaftlichen Neugierde.102 Das wissenschaftliche Denken muß deshalb den ›anfänglichen Realismus‹ eliminieren. Die Überzeugung des naiven Realisten ist nichts als eine Beschwörung der ›Dinge‹. Erst die »Anerkennung der Tatsache, daß die realistische Anrufung gewisser natürlicher Gegebenheiten in hohem Maße von unseren Weisen des Verstehens abhängig ist, nimmt dem naiven Realismus weitgehend seine Überzeugungskraft«.103 Der vom Alltagsbewußtsein und in der Wissenschaftspraxis gehütete Realismus ist ein »Instinkt«, die »einzige angeborene Philosophie«.104 Dieser Realismus ist nicht mehr

Vgl. Bachelard: Epistemologie, 138. Gaston Bachelard: Le matérialisme rationnel, Paris 41980, 207. 99 Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 75. 100 Bachelard: Epistemologie, 75. 101 Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 54. 102 Vgl. Gaston Bachelard: L’activité rationaliste de la physique contemporaine, Paris 1951, 85 f. 103 Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1988, 96. 104 Vgl. Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 201. 97 98

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haltbar. Pointiert nennt Bachelard in L’activité rationaliste de la physique contemporaine (1951) den Grund: »Der zeitgenössischen Physik folgend, haben wir die Natur verlassen, um einzutreten in eine Fabrik der Phänomene.«105 In seiner Erörterung der Theorien der Relativität (Bohr, Heisenberg u.a.) kommt Bachelard in Le nouvel esprit scientifi que zu dem Ergebnis, es bestehe Bedarf, »eine Ontologie der Komplementarität zu begründen«.106 Dieser Ontologie, die statt der Dinge-an-sich nur vom Beobachter abhängige Gegenstände-für-uns kennt, entspricht das Konzept ›Phénoménotechnique‹ zur Beschreibung des Status und der Funktion des Experiments : »Im Experiment sucht [die wissenschaftliche Konzeptualisierung] nach Möglichkeiten, das Konzept zu komplizieren, es gegen den Widerstand des Konzeptes anzuwenden, um so die Anwendungsbedingungen zu verwirklichen, die die Wirklichkeit nicht zustande gebracht hat. An diesem Punkt merkt man, daß die Wissenschaft ihre Objekte verwirklicht, ohne sie jemals ganz fertig vorzufinden. Die Phänomenotechnik erweitert die Phänomenologie. Ein Konzept wird in dem Maße wissenschaftlich, wie es technisch wird, wie mit ihm eine Technik der Verwirklichung einhergeht.«107 Im Experiment »muß man die Phänomene sortieren, filtrieren, reinigen, in die Gußform der Instrumente gießen; ja sie werden auf der Ebene der Instrumente erzeugt. Nun sind die Experimente nichts anderes als materialisierte Theorien. Daraus resultieren Phänomene, die allenthalben die Prägemale der Theorie zeigen.«108 Die Phänomenotechnik, so heißt es in Le nouvel esprit scientifi que, »läßt eine Welt erscheinen, aber nicht mehr durch einen magischen, der Realität immanenten Impuls, sondern durch einen rationalen, dem Geist innewohnenden Anstoß«.109 Der Experimentator handelt nicht ›einsam‹; das Experiment gehört zur vergesellschafteten Wissenschaft, die »an experimentellen Materialien und mit logischen Bezugsrahmen arbeitet, die schon lange sozialisiert und damit bereits kontrolliert sind«.110 In diesem Rahmen der Experimentalkultur gilt: »Jede genaue Messung ist eine präparierte Messung.«111 In der Realisierung des Rationalen entsteht ein »technischer Realismus«, ein »Realismus zweiter Ordnung, der eine Reaktion auf die gewohnte Realität darstellt und im Streit mit dem Unmittelbaren liegt [...] Die Arbeit des Verstandes ist Konstruktionstätigkeit.«112

105 106 107 108 109 110 111 112

Bachelard: L’activité rationaliste de la physique contemporaine, 17. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, 21. Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 111. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, 18. Ebd. A.a.O., 347. Ebd. Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, 11.

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Die Methoden der Herstellung der Phänomene werden nicht von den ›Dingen selbst‹ erzwungen. Das wissenschaftliche Denken ist vielmehr charakterisiert durch eine Pluralität ›epistemologischer Profile‹, die im Rahmen des »Pluralismus der philosophischen Kultur«113 zur Wahl stehen. Bachelard zeigt dies La Philosophie du Non am Beispiel des Begriffs ›Masse‹. Ein epistemologisches Profil hat laut Bachelard – in epistemisch-kulturellen und sozial-institutionellen Kontexten – »nur je für einen einzelnen Geist Gültigkeit [...], der sich in einem bestimmten Stadium seiner geistigen Kultur überprüft«114 : »Wenn wir uns selbst befragen, stellen wir fest, daß die fünf von uns in Betracht gezogenen Philosophien (naiver Realismus – klarer und positivistischer Empirismus – Newtonscher oder Kantscher Rationalismus – vollständiger Rationalismus – dialektischer Rationalismus) unsere verschiedenen persönlichen Verwendungen des Massebegriffs nach verschiedenen Richtungen orientieren. Wir wollen versuchen, ihre relative Bedeutung dadurch grob herauszustellen, daß wir die aufeinander folgenden Philosophien auf der Abszisse eintragen und als Ordinaten einen Wert, der – falls er exakt sein könnte – die effektive Häufigkeit unseres Gebrauchs des betreffenden Begriffs, die relative Bedeutung unserer Überzeugungen messen würde.«115 Von den jeweils gewählten Profilen – man kann sie als eine Binnendifferenzierung in Cassirers symbolischer Form ›Wissenschaft‹ verstehen – hängen die Phänomene ab, die in der wissenschaftlichen Tätigkeit produziert werden. Bachelard zeigt, daß in der Naturwissenschaft eine Pluralität von Perspektiven zur Verfügung steht, aus denen der Wissenschaftler sein Profil wählt. Es gibt, wie er im Zusammenhang mit der Lavoisierschen Chemie sagt, einen »horizontalen Pluralismus [...], der sich erheblich von dem realistischen Pluralismus unterscheidet, der die Substanzen als Einheiten faßt«: »Wir werden zeigen, daß dieser Pluralismus in Wirklichkeit aus der Einverleibung der Wahrnehmungsbedingungen in die Definition der Substanzen entsteht, so daß die Definition einer Substanz in bestimmter Hinsicht Funktion einer substantiellen Umgebung ist. Da die Wahrnehmungsbedingungen bei der Definition der Substanzen eine Rolle spielen, läßt sich sagen, daß die Definitionen eher funktional als realistisch sind. Daraus ergibt sich die fundamentale Relativität der Substanz; diese Relativität stört in einer ganz anderen Form als vorher den Absolutheitscharakter der Substanzen, wie sie die lavoisiersche Chemie sieht.«116

Gaston Bachelard: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt/M. 1980, 56 (Original: Gaston Bachelard: La philosophie du non. Essai d’une philosophie du nouvel esprit scientifique, Paris 1940). 114 A.a.O., 57. 115 Ebd. 116 A.a.O., 85f. (Hervorhebung HJS). 113

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V) Wir können wissen, was wir wissen können Können wir wissen, was wir wissen können? Ist als menschliches Wissen mehr als Intuition, Evidenz und Überzeugung erwartbar? Werden nicht Gründe für Wissensansprüche nach Maßstäben angegeben, die in unterschiedlichen symbolischen Formen oder epistemologischen Profilen variieren? Wir können durchaus wissen, was wir wissen können, wenn die normativen epistemologischen Ansprüche stärker als in traditionellen Philosophien die tatsächlichen Entstehungs- und Funktions- und Geltungsweisen von Wissen berücksichtigen. Es gehört zum Menschen, wissen zu wollen, wissen zu können und zu glauben, Wissen zu ›haben‹. Es ist menschlich, gute Gründe und Rechtfertigungen des Wissens zu unterstellen. Der radikale Zweifel und ein epistemologischer Relativismus der Beliebigkeit sind trotz verbreiteter relativistischer Einstellungen des Alltagsverstands nicht nur kontraintuitiv, sondern mit Blick auf die Notwendigkeit zu handeln auch kontraproduktiv. Trotz des ›Wir können wissen‹ gibt es im Alltagsleben und in der Philosophie, in den Wissenschaften und Künsten sowie in der Technik, ja selbst in Religionen, den Schatten der Unsicherheit hinsichtlich der Frage, welche Gewißheit welches Wissen wem bieten kann und in welchen Grenzen Wissens- und Wahrheitsansprüche begründet geltend gemacht werden können und von Dritten akzeptiert werden. Unabgeschlossenheit und Nichtwissen, Ungewißheit und Zweifel gehören zum Wissen-Können. Als ständige Provokation unauflösbar mit Wissen nach menschlichem Maß verbunden, fordert die Frage nach Gewißheit dazu heraus, jedes individuelle »Ich weiß« im Horizont maßnehmender Kritik bescheidener als »Ich glaube zu wissen« zu verstehen. Dies ist die Kernannahme des intern-realistischen epistemologischen Pluralismus, der im Unterschied zum radikalen Skeptizismus Wissen und (Re-)Präsentation nicht für unmöglich und im Unterschied zum radikalen Relativismus hinreichende pragmatische Geltungsbegründungen für möglich hält. In dieser Perspektive ist darüber, wie gewußte phänomenale Wirklichkeit in epistemischen Konstellationen bzw. Wissenskulturen entsteht, ebenso Aufklärung möglich wie darüber, was bei (Re-)Präsentationen ›Gewißheit haben‹ bedeuten kann. Die Gewißheit, die Personen haben und in Interaktionen mit Dritten erreichen können, ist weit entfernt von einer durch das Sein selbst garantierten Übereinstimmung zwischen Dingen und Aussagen. Gewißheiten stehen unter dem Vorbehalt, mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und Interessen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens, ›geladen‹ zu sein. Sie stehen ferner unter dem Vorbehalt, daß Nichtwissen das Wissen überschattet: Wissen ist in vielen Fällen Teilwissen.

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Deshalb handelt es sich bei der Aussage »Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung« nicht um eine sinnvolle Definition, sondern um einen normativen Satz, der das Problem des Wissens so lange verschleiert, wie seine Normativität nicht verstanden wird. Die Definition klammert aus, daß die Entstehung, Funktion und Geltung von Wissen von bewußten Wahlen oder unbewußten Übernahmen von epistemologischen Profilen, Begriffsschemata, Rahmentheorien etc. beeinflußt ist, die mit Überzeugungen zusammenhängen bzw. Überzeugungen bilden. Die angestrebte Rechtfertigung von Überzeugungen ist abhängig von Überzeugungen, die in symbolische Formen eingebettet sind. Genau dies wurde und wird in den traditionellen realistischen und empiristischen Epistemologien nicht gesehen, die geradezu blind mit der Unterstellung empirischer Rechtfertigbarkeit von Überzeugungen als ›wahr‹ und folglich als Wissen umgeht. Die Definition klammert das Problem aus, daß und wie intersubjektives Verstehen auch dann möglich ist, wenn das Überzeugungs-›Wissen‹ nicht mit dem Gütesiegel letzter Wahrheit versehen werden kann.117 Daß und wie dieses Wissen ohne letzte Gewißheit möglich ist, zeigen Cassirer und Bachelard.

Literaturverzeichnis Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1993 Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler (1967), übers. u. m. einem Nachw. vers. von Frieder Otto Wolf, Berlin 1985 – L’activité rationaliste de la physique contemporaine, Paris 1951 – Epistemologie. Ausgewählte Texte, Frankfurt/M. et al. 1974 – Le nouvel esprit scientifique (1934), Paris 141978 – Le matérialisme rationnel, Paris 41980 – Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt/M. 1980 (Original: Gaston Bachelard: La philosophie du non. Essai d’ une philosophie du nouvel esprit scientifique, Paris 1940) – Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984 – Der neue wissenschaftliche Geist, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1988 Ludwig Boltzmann: »Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit« (1889), in: Hansjochen Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin/Heidelberg/New York 1987

Vgl. hierzu Hans Jörg Sandkühler: Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt/M. 2009. 117

Sandkühler · Kritik der Gewißheit

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Edmund Braun/Hans Radermacher (Hg.): Wissenschaftstheoretisches Lexikon› Graz/Wien/Köln 1978 Rudolf Carnap: Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic (1947), Chicago/London 21956 – Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki [im folgenden ECW], Bd. 2, Hamburg 1999 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), in: ECW 9 – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17 – Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19 – Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), in: ECW 22 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946), in: ECW 24 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995ff. [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Geschichte. Mythos, in: ECN 3 Hyondok Choe: Gaston Bachelard. Epistemologie. Bibliographie, Frankfurt/M. et al. 1994 Silvia Freudenberger: Erkenntniswelten. Semiotik, analytische Philosophie, feministische Erkenntnistheorie, Paderborn 2004 Hermann von Helmholtz: »Die Thatsachen in der Wahrnehmung« (1878), in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1984 Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik. Gesammelte Werke. Band III, Leipzig 1894 Thomas Hoffmann: Welt in Sicht. Wahrheit – Rechtfertigung – Lebensform, Weilerswist 2007 Karl-Norbert Ihmig: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer, Darmstadt 2001 Jean C. Kapumba Akenda: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998 Guy Lafrance: Gaston Bachelard, profils Epistémologiques, Ottawa 1987

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002 Dominique Lecourt: L’Epistémologie historique de Gaston Bachelard (1969), Paris 11 2002 Wolf Lepenies: »Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte – Das Werk Gaston Bachelards«, in: Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984 Valerio Meattini: Der Ort des Verstehens, Frankfurt/M. et al. 2007 Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, übersetzt von Uwe Opolka, Weilerswist 2004 George Pappas: «Problem of the external world«, in: Jonathan Dancy/Ernest Sosa (eds.): A Companion to Epistemology, Oxford 1993 Martina Plümacher/Volker Schürmann (Hg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt/M./Berlin/Bern 1996 Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004 Hilary Putnam: Für eine Erneuerung der Philosophie, übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1997 Nicholas Rescher: Studien zur naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre, hg. von Axel Wüstehube, Würzburg 1996 – Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford 1993 Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007 Hans Jörg Sandkühler: Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart/Weimar 2002 – »Epistemologie«, in: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 1, Hamburg 2010 – /Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003 – »Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung? Plädoyer für eine wahrheitstheoretisch bescheidene Philosophie«, in: ders.: Philosophie, wozu?, Frankfurt/M. 2008 – Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt/M. 2009 Alfred North Whitehead: Denkweisen, hg., übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer, Frankfurt/M. 2001 Marcus Willaschek (Hg.): Realismus, Paderborn/München/Wien 2000 – Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, Frankfurt/M. 2003 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, in: ders.: Werkausgabe, hg. von G. Elizabeth M. Anscombe/Georg Henrik von Wright, Bd. 8, Frankfurt/M.1989

Detlev Pätzold

Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit

Ernst Cassirer hat sich für vieles interessiert, und damit sage ich gewiß noch nichts Neues. Denn bei der wohlbekannten enormen Bandbreite seiner Philosophie der Kultur ist es eine diesem Ansatz inhärente Notwendigkeit, aus vielen und sogar den unterschiedlichsten Quellen zu schöpfen und – soweit es der eigene systematische Gesichtspunkt seiner Philosophie der symbolischen Formen erlaubt – zu inkorporieren. Man könnte daher Cassirer als einen Eklektiker, im besten Sinne des Wortes, bezeichnen. Und das heißt zunächst nur ex negativo gesagt: er ist kein Anhänger einer bestimmten Sekte. Natürlich gehört er zur Marburger Schule des Neukantianismus, aber er ging schon immer auch eigene und gewiß nach 1910 ganz erheblich neue Wege. Was den Eklektizismus im positiven Sinne umschrieben ausmacht, hat er denn wohl auch erst seiner Begegnung mit Aby Warburg und seinem Kreis in den Hamburger Jahren zu verdanken: einen Begriff von Kultur, der quer durch die üblichen Klassifikationen der vielen Kulturgebiete und wissenschaftlichen Disziplinen und Einteilung historischer Perioden hin verläuft. Daß sich Cassirer damit neben vielem auch für die Psychologie interessieren mußte, ist ebenso verständlich. Dies gebot schon sein frühes Augenmerk auf die systematischen Probleme und die neuzeitliche Geschichte der Erkenntnistheorie, die schwieriger gewordene Grenzziehung zwischen Philosophie und Psychologie seit deren Etablierung als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin, und zudem der zu dieser Zeit virulente Psychologismusstreit. Cassirers Bemühungen um die erkenntnistheoretische Absicherung, um nicht zu sagen Fundierung, seines kulturphilosophischen Symbolbegriffs ab der Philosophie der symbolischen Formen machte eine Hinwendung zur Psychologie noch dringlicher. Dabei ging es nicht zuletzt um die Vergewisserung, welche der konkurrierenden Richtungen in der zeitgenössischen Psychologie fruchtbar für den eigenen Ansatz sein könnten. Dabei scheint die sogenannte Denkpsychologie auf den ersten Blick keine prominente Rolle zu spielen. Statt dessen steht die Gestaltpsychologie Pate für seinen Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹, der im dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen eine Schlüsselrolle bei der Erläuterung des Symbolbegriffs einnimmt.1

Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von 1

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Weiterhin sind die psychologischen und neurologischen Forschungen zu Aphasie und Apraxie ganz entscheidend für seine Wahrnehmungstheorie im dritten Teil seines Hauptwerks, aber auch die Tierpsychologie spielt ab diesem Zeitpunkt bis in sein Spätwerk eine wichtige Rolle. Des weiteren wird man ebenso Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912) und Husserls Schriften zur Phänomenologie mit zu den entscheidenden Einflüssen auf Cassirers Werk zählen müssen, obwohl sie nicht so eindeutig der Psychologie zuzuordnen sind, wie die zuvor genannten Gebiete.2 Aber die Grenzziehung zwischen philosophischer Erkenntnistheorie und allgemeiner Psychologie ist in dieser Zeit eben schwer anzugeben. Cassirers Bezugnahmen auf die Denkpsychologie seiner Zeit sind vergleichsweise gering und darüber hinaus ist es keineswegs so deutlich, was und wen er selbst zu dieser Richtung zählt. Bei dieser schwierigen Ausgangslage kann ich hierzu nur eine (vielleicht zu gewagte) These vortragen. Sie lautet, daß sich Cassirers Einstellung zur Denkpsychologie noch nicht aus den hierfür einschlägigen Schriften vom Ende der Zwanziger Jahre ablesen läßt, sondern daß sie sich erst Ende der Dreißiger Jahre im Zusammenhang mit seinen an Goethe orientierten Überlegungen zu den sogenannten ›Basisphänomenen‹ erschließt. Ich will diese These in drei Schritten entwickeln. Zunächst gebe ich einen ganz summarischen und rezeptionsgeschichtlich verkürzten Blick auf die Denkpsychologie. Damit beabsichtige ich also keineswegs, eine Analyse der Denkpsychologie und ihrer Entwicklung vom Ausgang des 19. bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zu geben. Es geht nur darum, eine begrenzte Anzahl von Autoren und Schriften kurz anzudeuten, darunter diejenigen, auf die Cassirer selbst früher oder später Bezug nimmt. Zweitens werde ich Cassirers Aufsatz »Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927) und entsprechende Passagen aus

Birgit Recki [im folgenden ECW], Bd. 13, Hamburg 2002, 218–233; John Krois hat hierauf schon früh hingewiesen; vgl. John Michael Krois: »Ernst Cassirers Semiotik der symbolischen Formen«, in: Zeitschrift für Semiotik 6, 1984, 441 f.; ders.: »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 23 ff.; Martina Plümacher hat hierzu später einen wichtigen Beitrag geliefert, vgl. Martina Plümacher: »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: Enno Rudolph/Ion-Olimpiu Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997. 2 Einen guten Überblick der Aufnahme all dieser Strömungen in Cassirers Symboltheorie erhält man in: Martina Plümacher: »Die Erforschung des Geistes – Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003, 85–110. – Zu Cassirer und Husserl vgl. auch Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004.

Pätzold · Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit

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dem dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen: Phänomenologie der Erkenntnis (1929) analysieren. Hier entsteht die Schwierigkeit der Abgrenzung der von Cassirer selbst genannten Gebiete: Erkenntnistheorie, Logik, Denkpsychologie. Drittens werde ich mich dann vor allem auf das Nachlaßmanuskript zu Basisphänomenen (um 1936/37) konzentrieren, um den neuen Kontext, in den die Denkpsychologie nun bei Cassirer gerückt wird, einsichtig zu machen.

I) Stichworte zur Denkpsychologie Einen ersten Eindruck vom Unternehmen der Denkpsychologie kann uns ein längeres Zitat aus dem vor der Kant-Gesellschaft gehaltenen und in den Kant-Studien 1913 abgedruckter Vortrag »Prinzipienfragen der Denkpsychologie« von Richard Hönigswald geben: »Dass auch das schlechthin Unanschauliche und von anschaulichen Bestimmungen schlechthin Unabhängige Gegenstand psychologischer Fragestellung werden könne – das war die erste und bedeutsame Entdeckung der Denkpsychologie. Der ›Gedanke‹ als solcher wurde jetzt zum psychologischen Problem; und die völlige Ohnmacht des Assoziationsprinzips, sich dieses Problems mit Erfolg zu bemächtigen, ward offenkundig. Auf der ganzen Linie traten jetzt die entscheidenden Differenzen zwischen assoziativen Verbänden und ›Gedanken‹ im eigentlichen Sinn in die Erscheinung und immer deutlicher offenbarte das durch die Schule Külpes vielverheissend inaugurierte denkpsychologische Experiment, daß gewusst werden kann, was niemals hat können assoziiert werden. Ja mehr noch! Das Phänomen des Wissens überhaupt verlangte auf dem Boden psychologischer Forschung eine von ›Anschauung‹ und ›Assoziation‹ unabhängige Analyse. So ward allmählich und folgerichtig die Gesamtheit derjenigen Phänomene und Prozesse, die der Begriff des ›Wissens‹ impliziert, zum Gegenstand denkpsychologischer Untersuchungen: das ›Glauben‹ und das ›Meinen‹, das ›Annehmen‹ und das ›Vermuten‹, vor allen Dingen aber auch im Urteilen und im Schliessen das ›Erkennen‹.«3

Was Hönigswald, auf den ich nachher im zweiten Teil meines Beitrags noch näher eingehen werde, hier auf recht dramatische Weise beschreibt, klingt wie ein Paradigmenwechsel in der Psychologie: die Abkehr von der klassischen Assoziationspsychologie mit ihrer Fokussierung auf Empfindungen und anschauliche Wahrnehmungen (pure experiences und percepts bei William James) und die Hinwendung zu den höheren mentalen Funktionen, die in seiner Aufzählung von Glauben bis Erkennen allesamt als Wissensformen, d. h. als kognitive Leistungen aufgefaßt werden. Aber hier spricht

Richard Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, in: Kant-Studien 18, 1913, 210. 3

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natürlich in erster Linie der an Kant und transzendentaler Erkenntnistheorie orientierte Philosoph. Der Vater der Assoziationstheorie, David Hume, hatte die Dinge ja noch ganz anders gesehen. Hönigswald diagnostiziert die Entwicklung in der Psychologie um die Jahrhundertwende, zumindest was die Rolle der Würzburger Schule angeht, ganz zutreffend. Karl Bühler, den wir zu dieser denkpsychologischen Schule rechnen können, schrieb denn auch später das einflußreiche Buch Die Krise der Psychologie (1927; 2. Aufl. 1929), in dem u. a. die Denkpsychologie als Anstoß für diese Wende angeführt wurde.4 Bei dem Begründer der Würzburger Schule, Oswald Külpe, trat die von Hönigswald angegebene Ausrichtung der Denkpsychologie jedoch noch nicht gleich so deutlich zutage. In Külpes frühem Hauptwerk Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt (1893) geht es vor allem um die physiologischen und psychologischen Aspekte der Empfindungen und ihrer Verknüpfungen. Nur in der Einleitung und im letzten Kapitel dieses Buches werden auch höhere mentale Funktionen angesprochen. ›Geistige Erzeugnisse‹, d. h. für ihn beispielsweise Sprache, Kunst und Recht, seien zwar kein unmittelbarer Gegenstand der Psychologie, seien aber doch einer psychologischen Behandlung zugänglich. Man könne »etwa in der Ordnung der sprachlichen Formen und Aussagen Regeln wirksam finden, die für die Verbindungen der Vorstellungen beim Denken gelten«; und ebenso zeige »die künstlerische Verwendung der Sinnesempfindungen und des reproductiven Mechanismus gesetzmäßige Verhältnisse in der Verbindung der Empfindungen unter einander«. 5 Diese Regelgeleitetheit geistiger Funktionen betont er auch im letzten Kapitel seines Buches, wo er kurz auf das Denken eingeht. Entscheidend für das Denken seien die hierfür typischen antizipierenden Apperzeptionen: »Nicht durch eine besondere Art von Verbindungen, sondern nur durch die Leitung des Vorstellungsverlaufs vermittelst antizipierender Apperzeptionen scheint uns das Denken von dem automatischen Spiel der Vorstellungen [gemeint sind Assoziationsketten, DP] sich zu unterscheiden«. 6 Entscheidend für die Möglichkeit antizipierender Apperzeptionen ist die Entwicklung des Selbstbewußtseins, genauer: zunächst das Bewußtsein des eigenen körperlichen, aber dann auch des geistigen Ich: »also die Thatsache der Apperception oder des Willens ist eines der wichtigsten Motive für die Sonderung des Ich und Nicht-Ich. In ihr wurzelt auch schließlich die erkenntnistheoretische Begründung des Gegensatzes von Subject und Object«7 (Cassirer hat diesen Gedanken später im

Vgl. Karl Bühler: Die Krise der Psychologie, 2. Auflage, Jena 1929, 12–15. Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, Leipzig 1893, 18. 6 A. a. O., 464. 7 A. a. O., 465 f. 4 5

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Zusammenhang mit Goethe und den drei Basisphänomenen weiterentwikkelt.). 8 Ganz explizit tritt Külpe aber erst ab 1904 als Denkpsychologe auf, und zwar mit seinem Vortrag »Versuche über Abstraktion«, den er auf dem Ersten Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen hielt.9 Dies ist übrigens auch die Zeit, ab der Külpe mit mehreren Publikationen zu Kant an die Öffentlichkeit trat.10 Der Ausdruck ›Denkpsychologie‹ erscheint aber nur einmal im Titel seiner Publikationen: 1912 in »Über die Bedeutung der modernen Denkpsychologie«. Es handelt sich hierbei allerdings nur um einen ganz kurzen Auszug aus dem Vortrag »Über die moderne Psychologie des Denkens«, den er auf dem V. Kongreß für experimentelle Psychologie im selben Jahre in Berlin gehalten hatte. Külpe beschreibt die Resultate denkpsychologischer Forschungen in der vollständigen Druckfassung dieses Vortrags folgendermaßen: »Sobald man anfing in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und unbefangene Mitteilungen machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich. Man entdeckte in sich Vorgänge, Zustände, Richtungen, Akte, die sich dem Schema der älteren Psychologie nicht fügten. Die Versuchspersonen begannen in der Sprache des Lebens zu reden und den Vorstellungen nur eine untergeordnete Bedeutung für ihre Innenwelt beizulegen. Sie wußten und dachten, urteilten und verstanden, ergriffen den Sinn und deuteten die Zusammenhänge, ohne eine wirkliche Unterstützung durch gelegentlich auftauchende Versinnlichungen dabei zu erhalten«.11

Neben Karl Marbe, der »Über das Urteil« experimentelle Untersuchungen anstellte, Narziß Ach »Über die Willenstätigkeit und das Denken«, August Messer »Über das Denken«, über »Empfindung und Denken« und Otto Selz »Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs«, gehört auch Karl Bühler mit seinen frühen empirischen Studien zur Würzburger Schule der Denkpsychologie.12 Obwohl Cassirer sich nur auf die späteren Arbeiten

Vgl. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, Hamburg 1999, 9 f. 9 Oswald Külpe: »Versuche über Abstraktion«, in: Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen, Leipzig 1904. 10 Vgl. Oswald Külpe: Über Kant. Festrede bei der Kant-Feier der Würzburger Universität am 12.2. 1904, Würzburg 1904; ders.: Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, 2. Auflage, Leipzig 1908. – Übrigens besorgte Külpe auch die Ausgabe von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht für die Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Kants (Band VII, Berlin 1907). 11 Oswald Külpe: »Über die moderne Psychologie des Denkens«, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kultur und Technik, Heft 9, 1912, 1077. 12 Karl Marbe: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik, Leipzig 1901; Narziß Ach: Über die Willenstätigkeit und das Denken. 8

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Bühlers ab 1927/29 bezieht, will ich kurz auf diese frühen Studien eingehen, da sie einen guten Eindruck von dem noch frischen neuen Forschungszweig, aber auch seiner methodologischen Naivität geben können. Bühler publizierte 1907 und 1908 im Archiv für die gesamte Psychologie unter dem Obertitel »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge« drei Beiträge: »I. Über Gedanken« (1907), »II. Über Gedankenzusammenhänge« (1908) und »III. Über Erinnerungsgedanken« (1908).13 Ihm ging es im ersten Beitrag, auf den ich exemplarisch hinweisen möchte, um die Klärung der Frage, was Denken im Hinblick auf die ›Inhalte von Denkerlebnissen‹ oder kurzweg was ›Gedanken‹ seien. Als neue experimentelle Untersuchungsmethode zur Klärung dieser Frage diente ihm die Erstellung von Listen einzelner Fragen aus verschiedensten Wissensgebieten, auf die Versuchspersonen nach einiger Bedenkzeit mit Ja oder Nein zu antworten hatten, um sodann den Prozeß ihrer Gedankengänge, die zur jeweiligen Beantwortung der Problemstellung geführt hatten, (sprachlich) zu beschreiben, so daß der Versuchsleiter auf der Grundlage dieser Beschreibungsprotokolle seine Analysen erstellen konnte. Als Versuchspersonen wählte Bühler Wissenschaftler und Philosophen, und basierte seine Analysen vor allem auf zwei von ihnen, weil sie ihm die besten Beschreibungsprotokolle lieferten. Es waren Bühlers Würzburger Kollegen Ernst Dürr14 und – man höre und staune – Oswald Külpe höchstpersönlich! Soviel zur Naivität in der Anwendung der neuen experimentellen Methode. Allerdings war sich Bühler durchaus im Klaren über das Problem der Introspektion, glaubte aber eine deutliche Arbeitsteilung zwischen dem Versuchsleiter, der die Denkprozesse nur anstoße und protokolliere, und der Versuchsperson, die nur mit ihrem eigenen Denkerlebnis und seiner Beschreibung befaßt sei, durchführen zu können.15 An der grundsätzlichen Möglichkeit und Zuverlässigkeit von Introspektion zweifelte Bühler nicht. »Läßt sich nun aus solchen Protokollen etwas über die Vorgänge ausmachen, die sie beschrei-

Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen 1905; August Messer: »Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 8, 1906; August Messer: Empfindung und Denken, Leipzig 1908; Otto Selz: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung, Stuttgart 1913. 13 Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, 297–365; ders.: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908, 1–23; ders.: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908, 24–92. 14 Ernst Dürr hatte sich 1903 am Würzburger Institut habilitiert. Wichtig für die Denkpsychologie ist sein Buch Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907. 15 Vgl. Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, 299.

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ben wollen? Auf Einwände, welche die Selbstbeobachtung als solche treffen können, brauchen wir nicht einzugehen«, denn »die natürlichste Art, einen anderen zum Denken zu veranlassen, [ist] die, daß man eine Frage an ihn richtet. Wenn man diese Frage so einrichtet, daß er sie mit ja oder nein beantworten kann, daß er sich also nicht erst um die Formulierung seiner Antwort zu bemühen braucht, dann wird er uns nachträglich sagen können, wie er zu dem Ja oder Nein gekommen ist, d. h. was er auf unsere Frage hin gedacht hat«.16 Das erste wesentliche Ergebnis von Bühlers Analyse der Beschreibungen von Denkerlebnissen bestand in seiner Feststellung, daß die Bestimmtheit des Denkens unabhängig von den sporadisch mit ihm einhergehenden sinnlichen Vorstellungen war. Es gab häufig auch »Gedanken, ohne jede nachweisbare Spur von irgend einer Anschauungsgrundlage«, und er schlußfolgerte daraus: »Als die wesentlichen Bestandstücke unserer Denkerlebnisse können nur die Gedanken angesehen werden«.17 Ein weiteres Ergebnis war die Feststellung, daß die adäquate Repräsentation von Gegenständen im Bewußtsein sich nicht auf anschauliche Bilder beschränke, sondern daß »das andere adäquate Gegenstandsbewußtsein […] das Regelbewußtsein [ist]«,18 welches typisch für das wissenschaftliche Denken, insbesondere für das Denken mathematischer Funktionen sei, aber auch beim Verständnis technischer Konstruktionen und grammatischer Regeln auftrete. Die Methode und die mit ihr erzielten Ergebnisse Bühlers waren eine Provokation für die Leipziger Schule der Psychologie und ihr Oberhaupt Wilhelm Wundt reagierte denn auch mit geharnischter Kritik an der ihnen zugrunde liegenden Introspektionsmethode, oder, wie er abschätzig sagte, an der ›Ausfragemethode‹ dieser ›Scheinexperimente‹.19 Es war Hönigswald, der, obwohl kein Vertreter der Würzburger Schule, den methodologischen Ansatz der Denkpsychologie mit besseren Argumenten als Bühler im Jahre 1913 im eingangs schon zitierten Vortrag verteidigte. 20 Wie dem auch sei, es sind drei Dinge, die wir als Charakteristika der Denkpsychologie festhalten können: Erstens die Ausdehnung der empirischen psychologischen Forschung über die Sinnesphysiologie und die Wahrnehmungspsychologie hinausgehend auf die sogenannten höheren mentalen Funktionen. Kurz gesagt auf das Denken, oder genauer gefaßt wie im Forschungsprogramm Karl Büh-

16

A. a. O., 304 ff. A. a. O., 317 f. 18 A. a. O., 340. 19 Vgl. hierzu Helmut E. Lück: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 1991, 66–68; Steffi Hammer: Denkpsychologie – Kritischer Realismus. Eine wissenschaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes, Frankfurt/M. 1994, 62, 121 f. 20 Vgl. Richard Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, in: Kant Studien 18, 1913, 211–217. 17

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lers: auf Gedanken (ohne Anschauungsgrundlage) und Gedankenzusammenhänge (Regelbewußtsein). Zweitens die Annahme der Möglichkeit der Introspektion21 bei den Versuchspersonen, da die experimentelle Methode sich ganz auf ihre Befragung beschränkt. Drittens der Rekurs auf Sprache und Sprachverständnis als vorrangiges Medium der Mitteilung von Intentionen und Bedeutungen, worauf Külpe schon hingewiesen hatte, ebenso Hönigswald mit seiner These von der ›Worthaftigkeit des Denkens‹ und später dann vor allem Bühler mit seiner Theorie von der ›Darstellungsfunktion der Sprache‹. 22 Das wichtigste Ergebnis der Denkpsychologie besteht in der Feststellung, daß diese Denkvorgänge ganz unanschaulich sein können, was einen grundlegenden Unterschied zwischen Sinneswahrnehmungen und Denkprozessen belegt. Des weiteren zeige sich eine Regelhaftigkeit der Gedanken, die mehr beinhalte als bloße Assoziationsketten, die also, obwohl oft unbewußt, zielgerichtet auf Problemlösungen zusteuert. Übrigens gibt es bei Husserl in den Logischen Untersuchungen eine vergleichbare Annahme über die Regelhaftigkeit von Gedanken oder ›Inhalten‹ des Bewußtseins: »In der Natur der Inhalte und in den Gesetzen, denen sie unterstehen, gründen gewisse Verknüpfungsformen. […] Die Inhalte haben eben, so wie Inhalte überhaupt, ihre gesetzlich bestimmten Weisen miteinander zusammenzugehen«.23 Für Cassirer als einen aus der Descartes-Kantischen Tradition herkommenden Erkenntnistheoretiker sollten diese zwei Resultate der Denkpsychologie von Interesse sein. Denn das eine bestätigt die Lehre von den zwei Erkenntnisstämmen, Sinnlichkeit einerseits und Verstand andererseits, das andere bestätigt die Regelgeleitetheit nicht nur des logischen Denkens, sondern auch des epistemischen Denkens in seinem Bezug auf die phänomenale Welt, so wie sie in synthetisch-apriorischen Urteilen zum Tragen kommt. 24 Insbesondere was den ersten Aspekt betrifft, scheint es mir daher nach wie vor sinnvoll, diese Strömung der Psychologie weiterhin als ›Denkpsychologie‹ und nicht als ›Kognitionspsychologie‹ zu bezeichnen, da der heutige Kognitionsbegriff sehr viel weiter gefaßt wird und gerade die für die (neukantianisch inspirierte) Denkpsychologie grundlegende Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Denken wiederum nivelliert.

Hierzu hatte sich schon früh Külpe geäußert; vgl. Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, 9 f. 22 Vgl. a. a. O., 14 f.; Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, 216 f., 237– 243; Bühler: Die Krise der Psychologie, 47–57 und vor allem Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. 23 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 2: Erster Teil, The Hague 1984, 364. 24 Zu Cassirers Auffassung des Apriorigedankens vgl. Detlev Pätzold: »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007. 21

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Das schließt übrigens nicht aus, daß die moderne Kognitionsforschung, was den zweiten Aspekt betrifft, von den Studien zur Regelhaftigkeit kognitiver Prozesse inspiriert worden ist. Die Würzburger Schule wurde von George Humphrey in den Fünfziger Jahren im angelsächsischen Sprachraum bekannt gemacht. Der Forschungsansatz von Otto Selz wurde von A.D. de Groot weiterentwickelt und wird mittlerweise auch im Kontext der ›Information-Processing Psychology‹ (Herbert Simon) ernstgenommen. 25

II) Cassirers Blick auf die Denkpsychologie in den späten Zwanziger Jahren Oswald Külpe ist ebenso wie Richard Hönigswald für Cassirer schon in den früheren Jahren vor der Philosophie der symbolischen Formen kein Unbekannter. Aber nicht die Denkpsychologie ist das Thema. Er rezipiert schon 1913 Külpes Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften bzw. seinen kritischen Realismus, und mit Hönigswald hatte er einen kleinen Disput über die eigene funktionale Begriffslehre aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff.26 Aber erst der Aufsatz »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« aus dem Jahre 1927 scheint uns mehr Auskunft über sein Verhältnis zur Denkpsychologie geben zu können. Doch der Eindruck täuscht, wenn auch nicht gänzlich, so doch in gewisser Weise. Wie der Titel angibt, geht es in erster Linie um erkenntnistheoretische und logische Fragen und nur an dritter Stelle um Denkpsychologie. Und so bespricht Cassirer in diesem langen Übersichtsartikel zur Philosophie der Gegenwart ausführlich bekannte Logiker, Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftstheoretiker seiner Zeit: Husserl, Russell, Schlick sind hier die bekannten Namen. Weniger bekannte Autoren sind

Vgl. George Humphrey: Thinking. An Introduction to Its Experimental Psychology, New York 1963; Adriaan D. de Groot: Thought and Choice in Chess, The Hague 1965; Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology, The Hague 1980; Herbert Simon: »Otto Selz and Information-Processing Psychology«, in: Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology. – Zu Selz’ tragischem Ende in Nazideutschland und zur Selz-Rezeption vgl. Michel ter Hark: »Popper, Otto Selz and Meinong’s Gegenstandstheorie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 89, 2007, 69–76. Ausführlicher zu Selz in Michel ter Hark: Popper, Otto Selz and the Rise of Evolutionary Epistemology, Cambridge 2004. 26 Vgl. Ernst Cassirer: »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9, 194–200; 157–159. Hönigswald hatte Cassirers Buch aus dem Jahre 1910 in der Deutschen Literatur-Zeitung vom 9. und 16. November 1912 ausführlich und kritisch besprochen (Sp. 2821–2843 und 2885–2902). Cassirer hatte seinerseits schon 1909 in den Kant-Studien (Band 14, 91–98) Hönigswalds Buch Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre aus dem Jahre 1906 rezensiert. 25

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die Physiologen und Logiker Theodor Ziehen und Johannes von Kries,27 und Cassirer beschließt seinen Bericht sogar mit Nicolai Hartmann, dessen Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) gar nicht so recht in diese Reihe paßt. Aber kein einziger Autor der Würzburger Schule der Denkpsychologie kommt ins Visier. Nur einmal fällt der Name Külpes im Anschluß an ein Zitat zu Begriffsfunktionen aus Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre (1918). 28 Entweder rechnet Cassirer alle von ihm behandelten Autoren zur Denkpsychologie, was Unsinn wäre, oder aber die Denkpsychologie kommt überhaupt nicht vor. Letzteres ist der Fall mit einer Ausnahme, die uns zu einer Präzisierung veranlaßt. Die Würzburger Schule der Denkpsychologie kommt nicht zu Wort, wohl aber Richard Hönigswald, der, wie wir schon gesehen haben, durchaus mit den Würzburgern sympathisierte. Sehen wir uns also etwas genauer an, was er hier zu Hönigswald als ›Denkpsychologen‹ zu sagen hat. Cassirer bezieht sich hier nicht auf dessen Aufsatz zu Prinzipienfragen der Denkpsychologie aus dem Jahre 1913, sondern auf die mittlerweile zweite Auflage (1925) seines Buches Die Grundlagen der Denkpsychologie. Studien und Analysen (1921), d. h. er hat Hönigswald offenbar erst spät in denkpsychologischem Kontext wahrgenommen. Zwar weist Cassirer kurz auf die Tatsache hin, daß die Bestrebungen zur Ausbildung der Denkpsychologie als eigenständiger Disziplin innerhalb der Psychologie älteren Datums seien, betont dann aber: »erst vor kurzem haben diese Bestrebungen in Hönigswalds bedeutsamen Werk über die ›Grundlagen der Denkpsychologie‹ ihre methodische Reife erlangt«. 29 Es ist nicht leicht zu sagen, ob Cassirer mit diesem Hinweis etwas über die methodische Unreife der frühen Denkpsychologie sagen will, wenn er sie – also beispielsweise Bühlers experimentelle Untersuchungen und die Wundt-Bühler Kontroverse – überhaupt zu diesem Zeitpunkt kannte. Aber unabhängig davon, ob er experimentelle Untersuchungen auf diesem Gebiet befürwortete oder nicht, Hönigswalds methodische Reife liegt für ihn jedenfalls in seiner philosophischen, genauer transzendentalphilosophischen Betrachtung des Denkens nicht nur als eines psychischen Phänomens unter anderen, sondern als ›konstitutives Prinzip‹ des Bewußtseins. Das Denken ist für Cassirer hier ein hartes kantisches Apriori, d. h. das Denken oder der ›Logos‹ sei Voraussetzung der ›Psyche‹ und nicht nur ein

Theodor Ziehen: Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena 1898; ders.: Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913; ders.: Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik, Bonn 1920; Johannes von Kries: Logik. Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre, Tübingen 1916. 28 Vgl. Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17, 54 f. 29 A. a. O., 26. 27

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Teil von ihr (nebenbei bemerkt: dies hatte Descartes in seiner sechsten Meditation auch schon so gesehen).30 Der Versuch, Denken ›erklären‹ zu wollen im Sinne der Zurückführung auf andere psychische Phänomene, wie beispielsweise die assoziative Verknüpfung sinnlicher Vorstellungen, könne daher nicht gelingen (nebenbei bemerkt: auch Kant hatte auf die Zirkulariät beim Versuch apriorische Elemente des Bewußtseins zu erklären hingewiesen).31 Dieses Argument zählt natürlich nur dann, wenn man die Lehre von der Irreduzibilität von den zwei Stämmen der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, akzeptiert. Aber dies war ja gerade ein wesentliches Resultat denkpsychologischer Forschungen. Des weiteren lobt Cassirer Hönigswald dafür, das Phänomen der Bedeutung als Schnittstelle zwischen Logik und Psychologie in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen gestellt zu haben.32 Richtiger wäre allerdings zu sagen, daß Hönigswald den Begriff des Sinns in den Mittelpunkt stellte, was schon in seinem Aufsatz zu den Prinzipienfragen der Denkpsychologie zu lesen war. Denn ›Sinn‹ ist für ihn eine komplexe Relation, sozusagen Grundlage ›möglicher Bedeutungen‹, wobei eine der möglichen Bedeutungen dann die logische Wahrheit ist, die gleichsam eine ›Determination des Sinns‹ repräsentiert. Damit gilt aber auch, daß nicht alles Sinnvolle auch schon wahr sei. Logik (das ›Reich der Wahrheit‹) und Psychologie (das ›Reich der Erlebbarkeit‹) bleiben in diesem Ansatz also gut von einander zu unterscheiden.33 Die zentrale Rolle des Sinn-Begriffs für die Denkpsychologie Hönigwalds kommt aber ebensogut in dem späteren Buch über die Grundlagen der Denkpsychologie zum Ausdruck, und Cassirer zitiert selbst eine der entscheidenden Stellen, wo Intentionalität und Sinn-Begriff für Hönigswald konvergieren: »Man kennt den Satz, daß Denken allemal soviel bedeute wie Etwas denken. Er darf als der naivste Ausdruck für die Einsicht gelten, daß es eine psychologische Fragestellung nur im Hinblick auf die der Ichbezogenheit funktionell zugeordnete Sinn- und Urteilsbezogenheit geben könne. Denn auch das elementarste psychische Faktum, nenne man es Empfindung, Vorstellung, Vorstellungselement oder sonstwie, ist eben psychisches Faktum in Rücksicht auf die Möglichkeit bestimmt, ›Etwas zu sein nicht nur für jemanden‹, sondern zugleich auch ›Etwas innerhalb einer sinnvollen oder doch sinnhaften Beziehung‹.«34

Ebd.; René Descartes: Meditationes de prima philosophia, hg. von Lüdes Gäbe, Hamburg 1977, 141. 31 Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), ECW 17, 26; Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III, B 145 f. 32 Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), ECW 17, 27, 34. 33 Vgl. Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, 228 f. 34 Richard Hönigswald: Die Grundlagen der Denkpsychologie, 2. Auflage, München 1925, 157. 30

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Nun, – unabhängig von der Frage, ob wir den Sinn- oder den Bedeutungsbegriff in den Mittelpunkt rücken, denn auch Hönigswald hatte einen engen Zusammenhang gesehen, indem er Sinn als mögliche Bedeutung definierte – für Cassirer ist hierbei vor allem wichtig (und dies wird später in den Dreißiger Jahren in anderem Kontext erneut deutlich werden), daß Hönigswald jedes psychisch Erlebbare als eine zweistellige Relation beschreibt, dergestalt, daß alles Sinnhafte »eine Ich-Bezogenheit und eine Ist-Bezogenheit in sich faßt«, wobei letzteres nicht nur die empirischen Gegenstände sein können, sondern jedes intentionale Objekt, insofern es in einem objektiven bzw. Geltungszusammenhang steht.35 In der Ist-Bestimmtheit als einem der Pole dieser zweistelligen Relation kehrt die denkpsychologische These von der Regelhaftigkeit von Gedankenverknüpfungen also ebenso wieder, wie Külpes Insistieren auf dem Selbstbewußtsein als Grundlage der Sonderung des Ich und Nicht-Ich (Subjekt und Objekt) in der Ich-Bestimmtheit als dem anderen Pol. Cassirer schließt sich Hönigswalds Terminologie vorbehaltlos an, wenn er schreibt: »Ohne in diesem Sinne ist-haft und ohne zugleich ich-haft zu sein, kann kein wahrhaft ›Psychisches‹ gedacht werden. Der Begriff ›Bedeutung‹ bezeichnet daher ›das Gesetz dessen, was sich im Erleben gestaltet und zugleich die Norm, gemäß welcher sich diese Gestaltung vollzieht‹ [Zitat Hönigswald]36«.37 Ebenfalls geht Cassirer kurz auf die in Hönigswalds Buch entwickelte Theorie der Erlebniszeit ein38 , weil sie ihm ein Beispiel für den zweifachen Sinnbezug ist; er geht jedoch nicht auf dessen schon im frühen Aufsatz entwickelte und für die Denkpsychologie ebenso wesentliche These von der Worthaftigkeit des Denkens ein, die Hönigswald allerdings in seinem Buch etwas relativiert, indem statt von ›Wort‹ nun häufiger von ›Ausdruck‹ die Rede ist. 39 Doch dazu gleich mehr. Dazu will ich noch einen kurzen Blick auf den dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen werfen, um zu prüfen, ob wir hier mehr Denkpsychologisches finden, denn Cassirer selbst hatte 1927 in dem soeben besprochenen Aufsatz auf den noch nicht erschienenen dritten Teil seines Hauptwerks (1929) verwiesen.40 Über Külpe und andere Würzburger Schüler lesen wir dort nichts, aber erneut findet sich einiges zu Hönigswald und jetzt hinzukommend etwas über Karl Bühler als einem der Würzburger.

Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), ECW 17, 27 f. Hönigswald: Die Grundlagen der Denkpsychologie, 195. 37 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), ECW 17, 28. 38 Vgl. a. a. O., 28–30; ebenso Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 192. 39 Vgl. Józef Kosian: »Richard Hönigswalds Denkpsychologie«, in: Ernst Wolfgang Orth/Dariusz Aleksandrowicz (Hg.): Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, Würzburg 1996, 47. 40 Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), ECW 17, 34 Anm. 3. 35 36

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Bleiben wir zunächst bei Hönigswald. Cassirer geht jetzt kurz im II. Kapitel über ›Ding und Eigenschaft‹ in einer längeren Anmerkung auf dessen These von der Worthaftigkeit des Denkens ein. Er schließt sich offensichtlich Hönigswalds Meinung an, daß es keinen Gedanken ohne ›primären Wortbezug‹ gäbe, wobei man nicht vergessen darf, daß Hönigswald ›Wort‹ im ganz allgemeinen Sinne definiert hatte als »ein den Bedingungen sinnlicher Wahrnehmbarkeit grundsätzlich genügendes Bedeutungssymbol von beliebiger Art und Struktur«.41 Cassirers Umschreibung ist indessen allgemein genug gehalten, um dieser semiotischen und nicht nur linguistischen Auffassung von der Worthaftigkeit des Denkens Rechnung zu tragen, denn er charakterisiert Hönigswalds Position zusammenfassend: »Demgemäß sind ›etwas‹ denken und mögliche Verständigung über das Gedachte Wechselbegriffe. Wer etwas ›denkt‹, sucht notwendig nach einem sprachlichen Ausdruck«.42 Wichtiger als die weite zeichentheoretische Auffassung von der Worthaftigkeit des Denkens ist für Cassirer hier aber die übergreifende Rolle von ›Denken‹ bei Hönigswald. Dies unterscheide ihn von der Würzburger Schule der Denkpsychologie, das Denken sei das »psychologische Grundphänomen schlechthin«, weil es auch schon konstitutiv für das Wahrnehmen oder Anschauen von ›Etwas‹ sei: »›Denken‹ wird hier der universelle Ausdruck für alle Sinnbezogenheit und alle Sinnhaftigkeit des Erlebnisses überhaupt«.43 Damit erweist sich letztlich die Worthaftigkeit des Denkens als »Worthaftigkeit des Sinns«. Auch in etwas späteren, der Sprachphilosophie gewidmeten Abhandlungen Cassirers (1932/33) wird Hönigswald weiterhin positiv rezipiert.44 Was sagt Cassirer nun aber zu Bühler, einem echten Würzburger Denkpsychologen im Jahre 1929? Mittlerweile war dessen Buch Die Krise der Psychologie (1927/1929) erschienen und vor allem hierauf – neben kleineren neuen Studien zur Sprachtheorie und Bühlers Entwicklungspsychologie (Die geistige Entwicklung des Kindes, 1921) 45 – bezieht sich Cassirer

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Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, 237. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 132, Anm. 19 (Hervorhebung DP). 43 A. a. O., 133, Anm. 19. 44 Vgl. Ernst Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18, 115 f.; und gleichlautend Ernst Cassirer: »Le langage et la construction du monde des objects« (1933), in: ECW 18, 269 f. Ich sehe nirgendwo (wie Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 309), daß Cassirer sich in dieser Frage von Hönigswald abgrenzen würde. Der erste deutschsprachige Text entstand für den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg 1931, wo Cassirer u. a. mit drei Vertretern der Würzburger Schule der Denkpsychologie, Narziß Ach, Charlotte und Karl Bühler, diskutierte; vgl. Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, ECW 18, 122–126. 45 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 72; 122; 126; 135. 42

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hauptsächlich. Es geht hierbei um dessen etwa ab 1923 entwickelte Lehre von der Darstellungsfunktion der Sprache, der sich Cassirer weitgehend anschließen kann.46 Er interessiert sich aus denkpsychologischer Perspektive insbesondere für »die Wendung von den ›bloßen‹ anschaulichen Allgemeinvorstellungen zu den sprachlichen ›Begriffen‹«.47 Dies spräche ja zunächst für die kantische Trennung der zwei Erkenntnisstämme: zwischen Anschauungen und Begriffen, die er in diesem Kontext nun mit Bühler als die (teils schon im Tierreich vorkommende) schematisierte Verständigung durch sinnliche Zeichen einerseits und als sprachliche Darstellungsfunktion andererseits interpretiert. Letztere führt im Sinne von Cassirers eigener Symboltheorie dann vom natürlich-sprachlichen Wortgebrauch bis zur reinen Bedeutungsfunktion der abstrakten wissenschaftlichen Begriffe: »von den ›Wortzeichen‹ der Sprache zu den reinen ›Begriffzeichen‹ der theoretischen Wissenschaft«48 . Aber wegen der dreigliedrigen Struktur symbolischer Funktionen, die er in diesem letzten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt, erhält die Darstellungsfunktion der Sprache eine Kontinuität stiftende, vermittelnde Rolle. Dabei kommt die uns schon aus seiner Hönigswald-Rezeption bekannte Universalisierung des Begriffs des Denkens zum Tragen, wie folgendes Zitat belegen kann: »Zwischen dem wissenschaftlichen Begriff und dem Sprachbegriff scheint freilich ein Abgrund zu klaffen – aber näher betrachtet ist dieser Abgrund die gleiche Kluft die das Denken schon einmal überspringen mußte, ehe es zum sprachlichen Denken werden konnte. […] Erst die menschliche Sprache überwindet diese Bindung an die unmittelbar gegebene und vorhandene sinnliche Situation[…] Aber der Gedanke gelangt schließlich an einen Punkt, an dem [er] […] über die Grenzen der anschaulichen Darstellung und Darstellbarkeit überhaupt [hinausgreift]. Wie vom Mutterboden der Anschauung, so löst er sich nun auch vom Mutterboden der Sprache ab. Und doch könnte ihm ebendiese letzte und höchste Anstrengung nicht gelingen, wenn er nicht zuvor durch die Schule der Sprache hindurchgegangen wäre«.49

Damit zeigt sich wiederum, daß Cassirer in diesen Jahren, was die übergreifende Rolle des Denkens angeht, dem denkpsychologischen Ansatz Hönigswalds näher steht als dem der Würzburger Schule, in casu Bühler. Die Übereinstimmung mit Bühler besteht mehr in der semiotischen Interpretation der einzelnen anschaulichen Wahrnehmungen.

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Vgl. a. a. O., 122; Karl Bühler: »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3, 1923, 282–294; ders.: Die Krise der Psychologie, 47–57. – Vgl. hierzu Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 409 ff. 47 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 280 (Hervorhebung DP). 48 A. a. O., 382. 49 A. a. O., 391.

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III) Cassirers Einordnung der Denkpsychologie in den späten Dreißiger Jahren Sehen wir uns abschließend Cassirers zweite Rezeption der Denkpsychologie in den Dreißiger Jahren an, was ihn daran interessierte und was er an ihr besonders schätzte. Eine kurze, aber klare Positionsbestimmung finden wir in dem Aufsatz »Zur Logik des Symbolbegriffs« aus dem Jahre 1938. Cassirer bezieht sich hier nur auf Karl Bühler, aber nun auch auf sein neuestes Buch. Zunächst wiederum im Rückgriff auf dessen früheres Buch Die Krise der Psychologie (1927/29) bekennt er sich zur Wahrnehmungstheorie der ›modernen Psychologie‹ – womit eindeutig die Denkpsychologie Bühlers gemeint ist – nämlich der Auffassung, daß es keine relevanten Wahrnehmungen gäbe, die frei seien von einer Zeichenfunktion der Sinnesdaten, d. h. in Cassirers Worten, daß sie »immer schon durchsetzt und gewissermaßen beseelt von bestimmten Akten der Sinngebung« sind.50 Und zustimmend zitiert er Bühlers in dessen Buch zur Sprachtheorie (1934) formuliertes Programm: »de[n] prinzipielle[n] Mißgriff aufzudecken und als Mißgriff zu entlarven […] den alle jene getan haben, die im Banne der klassischen Assoziationstheorie die zweifelsfrei nachzuweisenden Komplexions- und Verlaufsverkettungen in unserem Vorstellungsleben verwechseln mit dem Bedeutungserlebnis«.51 Und das heißt für Cassirer ganz im Sinne der Denkpsychologie, daß beispielsweise beim Verständnis eines Gesprächs oder einer Rede ein ›komplexes Sinnganzes‹ erfaßt werde, »ohne daß ich hierzu nötig hätte, die einzelnen Worte der Rede mit anschaulichen Vorstellungsbildern zu begleiten und diese sodann, wie ein Mosaik, zusammenzusetzen«.52 Kurz gesagt, die Sinngebung ist allgegenwärtig, auch schon auf der Ebene der anschaulichen Wahrnehmung und Empfindung, aber nicht umgekehrt ist jeder Sinn anschaulich, wie die höheren mentalen Leistungen belegen. Aber diese Sichtweise ist uns schon bekannt seit seinem symbolischen Idealismus der Zwanziger Jahre. Er findet seine Position bestätigt durch die erneute und aktualisierte Rezeption von Bühlers denkpsychologischem Ansatz. Aber es kommt in diesen Jahren auch etwas Neues hinzu: Cassirers Reflektionen über Basisphänomene, in deren Kontext nun auch eine weiter ausdifferenzierte Rezeption der Denkpsychologie steht. Was zunächst

Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), in: ECW 22, 123. – Zu Cassirers Sinn-Begriff vgl. Detlev Pätzold: »Zum Sinn-Begriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Christian Krijnen/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, Würzburg 1998. 51 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), ECW 22, 127; vgl. Bühler: Sprachtheorie, 58. 52 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), ECW 22, 127. 50

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deren Kritik an der Assoziationspsychologie anbelangt, so findet sich Cassirers ausschlaggebendes Motiv, sich ihr anzuschließen, im Manuskript Über Basisphänomene (um 1936/37) ganz ungeschminkt formuliert. Im Kontext seiner Bestimmung des ›Phaenomen des Ich‹53 als unableitbares monadisches Sein, das er im Anschluß an Goethe – aber wahrscheinlich auch an Husserls Cartesianische Meditationen54 – als die erste Stufe oder als erstes Moment des Lebens qualifiziert,55 bekennt Cassirer seine Abneigung gegenüber der naturalistisch-experimentellen Assoziationspsychologie des späten 19. Jahrhunderts. Sie habe in ihrem Streben nach naturwissenschaftlicher Objektivität alles Psychische auf messbare Wahrnehmungen und Empfindungen reduziert und habe derart als naturalistische Wahrnehmungspsychologie nicht nur das Ich aus der Psychologie verbannt, sondern auch alles Noetische. Um die Jahrhundertwende repräsentieren für ihn Ernst Mach und Hugo Münsterberg gleichsam die letzten und radikalsten Vertreter dieser Fehlentwicklung. 56 Man sieht deutlich, wie Cassirers bekannte Abneigung gegenüber dem Sensualismus in der Tradition Lockes und Humes im Vergleich mit seiner Wertschätzung des Idealismus in der Tradition Descartes’ und Kants zu Buche schlägt. Daher schätzt er die Denkpsychologie als eine Gegenbewegung, aber nicht vorbehaltlos, wie folgendes Zitat belegt. »So wurde z. B. das Phaenomen des ›Denkens‹ in dieser Psychol[logie] erst spät u. nur auf merkwürdigen Umwegen entdeckt. (vgl. die Anfänge der Külpeschen Denkpsychologie, durch das Experimentieren mit Versuchspersonen u. das angeb[lich] ›objektive‹ Registrieren dieser Aussagen! Bühler, Krise[, S.] 12: Beschreib[ung] der Denkpsychol[ogie] u. ihrer ›Entdekkung‹ [;] es fällt uns heute schwer, das als eine Entdeckung zu sehen – es mutet fast wie eine Trivialität an. Denken [wird] hier nur negativ als ›nicht anschauliches Erlebnis‹ charakterisiert [;] Man vgl. z. B. Messer, Empfindung u. Denken [.] Ähnliches gilt für Gefühl u. Wille«.57

Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 133. Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 1987, insb. §§ 33, 45, 47. 55 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 123. Zu Cassirers Goetheinterpretation vgl. John Michael Krois: »Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995. Zum Lebensbegriff Cassirers in der Phase der Entwicklung seiner Theorie der Basisphänomene vgl. Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005, 293–336, insb. 309–314 und 318–320. 56 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 140 f. 57 A. a. O., 141 f.; Cassirer hat dies auch ganz kurz angedeutet im Manuskript ›Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion‹ (1937/38); vgl. Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5, 193. 53 54

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Daß das Denken zum eigenständigen Forschungsgebiet wurde, begrüßt Cassirer zweifelsohne, von der experimentellen Methode scheint er aber nicht viel zu halten. Ebenso ist ihm die Bestimmung des Denkens als unanschaulich zu wenig und nachgerade trivial, wobei er allerdings den positiven Aspekt, den die Würzburger an den Gedankenverknüpfungen feststellten, nämlich die Regelgeleitetheit des Denkens beim Problemlösen, unterschlägt. In Bühlers Die Krise der Psychologie wurden sehr wohl beide Aspekte unterstrichen und damit im Grunde genommen die Kantische Position auch durch die experimentelle Denkpsychologie zum Ausdruck gebracht: »Im ersten Anlauf schon stand man vor dem doppelten Tatbestand von der Eigenart und der Eigengesetzlichkeit der Gedanken und Gedankenfolgen. Gedanken sind mehr, sind etwas anderes als Vorstellungsbilder und sie folgen im wohlgeordneten, disziplinierten Denken nicht dem Assoziationsgesetz, sondern den Forderungen der gedachten Gegenstände«.58

Cassirer nennt im vorhergehenden Zitat immerhin drei der Würzburger experimentellen Denkpsychologen beim Namen: Külpe, Bühler und scheinbar erstmals auch August Messer, den er allerdings schon 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff als Beispiel für die experimentelle Denkpsychologie, ohne diesen Ausdruck zu verwenden, erwähnt hatte.59 Aber Karl Bühler und dessen Sprachtheorie widmet er im folgenden die meiste Aufmerksamkeit, und dies hat mit Cassirers Versuch zu tun, sie im Sinne der drei Basisphänomene (›Ich-Phaenomen‹, ›Wirkens-Phaenomen‹, ›Werk-Phaenomen‹)60 zu interpretieren. Dahinter steht die Einschätzung, daß sich bei Bühler eine »Wendung […] im psycholog[ischen] Denken« vollzogen habe – spätestens seit 1927 mit seinem Buch Die Krise der Psychologie und gewiß mit seiner Sprachtheorie von 1934 – und das bedeute: »Bühler ist nicht von sprachpsychologischen, noch auch von denkpsychologischen Untersuchungen in gewöhnl[ichem] Sinne ausgegangen«.61 Was hat das zu bedeuten? Die Sache ist leider etwas verwickelt. Wir müssen erst auf drei Stichworte zurückgehen, die Cassirer bei seiner Erwähnung der Denkpsychologie in der eingangs zitierten Textpassage

Bühler: Die Krise der Psychologie, 12. Vgl.: »Mehr und mehr tritt hier das Bemühen hervor, die Methode des Experiments nicht lediglich auf die Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung anzuwenden, sondern mit ihrer Hilfe die komplexen Vorgänge des begrifflichen Verstehens in ihren Grundzügen festzustellen«; und dann als Fußnote: »Eine knappe und übersichtliche Darstellung dieser psychologischen Forschungsrichtung findet sich bes. bei August Messer, Empfindung und Denken, Leipzig 1908.« (Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 373). 60 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 137. – Faßlicher ist die Darstellung in ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 8–11. 61 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 146 f. 58 59

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nannte: Denken, Gefühl und Wille. Alle drei Bereiche sind in der Tat von Cassirer bekannten Autoren der Würzburger Schule untersucht worden: z. B. von Külpe, von (dem frühen) Bühler, von Messer und von Ach. Dies sind für Cassirer offensichtlich die denkpsychologischen Untersuchungen im gewöhnlichen (experimentellen) Sinne. Sodann bringt er diese drei Bereiche in eine andere Reihenfolge und bezieht sich dabei auf Theodor Lipps, der sicher kein Denkpsychologe im Sinne der Würzburger Schule war, und lobt dessen Buch Vom Fühlen, Wollen und Denken (1902). 62 Diese Trias parallelisiert er in einem nächsten Schritt mit seinen eigenen bzw. an Goethe gespiegelten drei Basisphänomenen: »Fühlen, Wollen, Denkenman könnte diese Begriffe geradezu als Kapitel-Überschriften gebrauchen für jene 3 Urphaenomene, von denen Goethe (Max[imen] 391–93) spricht[;] cf. Blatt β1) β2! Fühlen als Ausdruck des ›Lebens‹[,] der Monas Wollen als Ausdruck des Handelns auf andere und mit andere[n] Und schließlich Denken als Ausdruck jener Objektivierung, Distanz-Setzung, die im ›Werk‹ (Opus operatum) ihren sichtbaren Ausdruck findet – «.63

Und in einem letzten Schritt werden von Cassirer dann die drei von Bühler unterschiedenen Sprachdimensionen: Kundgabe (Ausdruck), Steuerung und Darstellung, welche analog zum Fühlen, Wollen, Denken zu sehen sind, auf die drei Basisphänomene zurückbezogen: »Denn was bedeutet denn diese Zerlegung der ›Sprache‹ in die drei Grundmomente Ausdruck, Steuerung, Darstellung Und worauf weist sie letztlich zurück – ? Betrachtet man sie näher, so findet man zu seiner Überraschung, daß sie eben auf jene drei Klassen von Basisphaenomenen zurückweist, die wir unterschieden hatten und die z. B. in der Goetheschen Betrachtung hervortraten – Das Phaenomen des ›Ausdrucks‹ ist das, worin sich die reine Innerlichkeit des Subjekts, sein monadisches Eigen-Sein und Eigen-Leben bezeugt – ›Ausdruck‹ – das ist der einzige Weg, auf dem diese Innerlichkeit ›erscheinen‹, sich ›offenbaren‹, nach ›aussen‹ dringen kann – Die Steuerung entspricht dem Moment des Aktions-Zusammenhangs, WirkensZusammenhangs (kein solcher Wirkens-Zusammenhang [ist] ohne ›Steuerung‹ durch irgendwelche sinnliche ›Zeichen‹ möglich – Diese [sind] schon in der Tierwelt wirksam u. [bilden] die Grundlage u. Voraussetzung des sozialen Lebens, das sich in ihr vorfindet[)]

Theodor Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, 3. Auflage, Leipzig 1926 (1. Auflage 1902). Zu Lipps findet sich in den Dreißiger Jahren auch schon eine relativ positive Beurteilung in Cassirers kurzem Beitrag »Psychologie und Philosophie« (1932), in: ECW 18, 149. 63 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 143. 62

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– Und schließlich das Dritte: die Darstellung: die Setzung des objektiven ›Seins‹ u. der objektiven ›Sachverhalte‹ […] Darstellung zur Sphaere des ›Denkens‹ gehörig«.64

Das Letztere, die Darstellung, gehört also zum Bereich des Denkens, wobei das Denken von Cassirer hier wiederum ganz weit gefaßt wird, was er ja auch an Hönigswald, wie oben schon gezeigt, so sehr schätzte: »Es ist konkretes Denken – d. h. der Inbegriff aller kognitiven Akte überhaupt – der Inbegriff all dessen, was zur Setzung eines Objektiven hinführt und für sie unentbehrliche Bedingung ist«.65 Zur Setzung eines Objektiven gehört daher für Cassirer auch jedes Werk menschlicher Kultur, sei es nun Kunstwerk, Dichtung, Technik, Wissenschaft und so vieles andere mehr. Aber ebenso gehören bei Cassirer zur Setzung eines Objektiven auch dessen jeweils bestimmten Regeln (der Kunst, der Dichtung, der Technik, Wissenschaft) folgende und in ihrem jeweiligen Bereich objektiv geltende Formen der Symbolisierung, was vielleicht ein entferntes Echo der These von der Regelgeleitetheit des Denkens aus der Würzburger Schule sein kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß wir mehrere Etappen einer Rezeption der Denkpsychologie bei Cassirer finden. Außer einem ersten indirekten Bezug auf die experimentelle Denkpsychologie und den Würzburger Schüler August Messer am Ende von Substanzbegriff und Funktionsbegriff im Jahre 1910, sehe ich erst ab den Zwanziger Jahren eine intensivere Rezeption, wobei Hönigswald ab 1927 dominiert, aber Bühler ab 1929 hinzukommt. In den Dreißiger Jahren werden Külpe und Messer erneut, aber jetzt erst in eindeutig denkpsychologischem Kontext erwähnt. Jedoch findet im Manuskript über Basisphänomene nur Bühler als einziger Würzburger ernsthafte Beachtung, während Hönigswald nur noch ganz am Rande erwähnt wird. 66 Hönigswalds philosophische Denkpsychologie wird also in Cassirers Rezeption abgelöst durch Bühler, allerdings nicht im Sinne der frühen experimentellen Denkpsychologie, sondern im Anschluß an dessen spätere Sprachtheorie. Von der experimentellen Methode der Denkpsychologie scheint Cassirer dagegen zu keinem Zeitpunkt, auch nicht in Substanzbegriff und Funktionsbegriff67, überzeugt gewesen zu sein. Es gibt also seltsamerweise in der Phase von Cassirers Göteborger Exil eine zweite (oder dritte, wenn man den Hinweis auf Messer im Jahre 1910 hinzurechnen will) Rezeption der Denkpsychologie, also in einer Situation, von der man eigentlich sagt, daß er – auch was die Verfügbarkeit an

64

A. a. O., 148 f. A. a. O., 149. 66 Vgl. a. a. O., 139. 67 Vgl. seine kritische Bemerkung in Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 374. 65

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Literatur anging – weitgehend abgeschnitten gewesen sei. Es stellt sich die Frage, ob es vielleicht Göteborger Kollegen waren, die ihn wieder auf die Würzburger Schule der Denkpsychologie hingewiesen haben. Gibt es eine Göteborger Rezeption der Würzburger Schule? Ich weiß es nicht. Und wo für mich ein ›Ich weiß es nicht‹ beginnt, ist der rechte Augenblick gekommen, um an diesem Punkt vorläufig meine Darstellung zu beenden.

Literaturverzeichnis Narziß Ach: Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen 1905 Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907 – »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908 – »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908 – »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3, 1923 – Die Krise der Psychologie, 2. Auflage, Jena 1929 – Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 6 – »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17 – »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18 – »Le langage et la construction du monde des objects« (1933), in: ECW 18 – »Psychologie und Philosophie« (1932), in: ECW 18 – Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), in: ECW 22 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5 René Descartes: Meditationes de prima philosophia, hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1977 Ernst Dürr: Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907 Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology, The Hague 1980

Pätzold · Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit

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Adriaan D. de Groot: Thought and Choice in Chess, The Hague 1965 Steffi Hammer: Denkpsychologie – Kritischer Realismus. Eine wissenschaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes, Frankfurt/M. 1994 Michel ter Hark: Popper, Otto Selz and the Rise of Evolutionary Epistemology, Cambridge 2004 – »Popper, Otto Selz and Meinong’s Gegenstandstheorie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 89, 2007 Richard Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, in: Kant-Studien 18, 1913 – Die Grundlagen der Denkpsychologie, 2. Auflage, München 1925 George Humphrey: Thinking. An Introduction to Its Experimental Psychology, New York 1963 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 2: Erster Teil, The Hague 1984 – Cartesianische Meditationen, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 1987 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III, Berlin 1968. Józef Kosian: »Richard Hönigswalds Denkpsychologie«, in: Ernst Wolfgang Orth/Dariusz Aleksandrowicz (Hg.): Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, Würzburg 1996 Johannes von Kries: Logik. Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre, Tübingen 1916 John Michael Krois: »Ernst Cassirers Semiotik der symbolischen Formen«, in: Zeitschrift für Semiotik 6, 1984 – »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988 – »Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, Leipzig 1893 – Über Kant. Festrede bei der Kant-Feier der Würzburger Universität am 12.2. 1904, Würzburg 1904 – »Versuche über Abstraktion«, in: Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen, Leipzig 1904 – Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, 2. Auflage, Leipzig 1908 – »Über die moderne Psychologie des Denkens«, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kultur und Technik, Heft 9, 1912 Theodor Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, 3. Auflage, Leipzig 1926 (1. Auflage 1902) Helmut E. Lück: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 1991 Karl Marbe: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik, Leipzig 1901 August Messer: »Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 8, 1906

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

– Empfindung und Denken, Leipzig 1908 Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005 Detlev Pätzold: »Zum Sinn-Begriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Christian Krijnen/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, Würzburg 1998 – »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007 Martina Plümacher: »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: Enno Rudolph/Ion-Olimpiu Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997 – »Die Erforschung des Geistes – Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003 – Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004 Otto Selz: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung, Stuttgart 1913 Herbert Simon: »Otto Selz and Information-Processing Psychology«, in: Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology, The Hague 1980 Theodor Ziehen: Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena 1898 – Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913 – Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik, Bonn 1920

Herbert Kopp-Oberstebrink

Konstellationen und Kontexte Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Ernst Cassirers Philosophie

Wenn hinsichtlich der mittleren und späten Philosophie Cassirers gelegentlich vom »Primat des Kulturbegriffs vor dem Geschichtsbegriff« die Rede war, so gerät dieser Lesart leicht der grundlegende Sachverhalt aus dem Blick, daß das Projekt von Cassirers Kulturphilosophie auf dem Geschichtsbegriff gründet und die Dimension der verschiedenen symbolischen Formen und der durch sie konstituierten Welt der Kultur nur als geschichtliche erschließbar ist.1 Der Umstand, daß die innere wechselseitige Verwiesenheit von Kultur und Geschichte oder Kulturphilosophie und Geschichtsbegriff übersehen werden konnte, ist nicht nur historisches Resultat der Cassirer-Renaissance der letzten zwei Dekaden, die ihn zu Recht zum Inaugurator der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts machte, dabei aber in einseitiger Weise die kulturellen Symbolisierungsprozesse in den Blick nahm. Vielmehr ist diese dekontextualisierende Lesart, die Cassirers Philosophie auf die aktuellen Paradigmen von Semiotik und Metaphorologie zu verpflichten sucht, auch einem doppelten Tatbestand des Cassirerschen Philosophierens nach dessen ›cultural turn‹ geschuldet.2 Denn zum einen hat Geschichte im veröffentlichten Werk zumeist den Status eines bloßen ›Operationsbegriffs‹ inne, während der Begriff der Kultur und die kulturellen Symbolisierungen bereits mit der Philosophie der symbolischen Formen eine eingehende Thematisierung erfahren.3 Zum anderen unterzieht Cassirer Geschichte als Grundbegriff auch der Kulturphilosophie erst in den Jahren nach deren vorläufigem Abschluß eingehender Reflexion, und es scheint, als hätten erst die lebensweltlichen Bedingungen von Emigration und Exil diese Thematisierung erzwungen. Der entsprechende, im Göte-

1

Ursula Renz: »Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft. Überlegungen zur Historiographie der Philosophie im Ausgang vom Marburger Neukantianismus«, in: Studia philosophica 61, 2002, 177–197, hier: 195, vgl. auch 194. 2 Vgl. a. a. O., 195. Als sehr plausible und wohlbegründete Alternative zum mainstream der vom Primat der Kulturphilosophie geleiteten Cassirer-Interpretation erscheint die Deutung der Arbeiten Cassirers als Arbeit am Projekt einer philosophischen Anthropologie, vgl. Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 3 Vgl. Eugen Fink: »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11, 1957, 321–337.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

borger Exil verfaßte Text blieb allerdings unveröffentlicht und konnte erst im Rahmen der Nachlaßedition zugänglich gemacht werden.4 Die Problematik dieser Rezeptionsverzögerung wird im Falle des Begriffs der Geschichte in ihrer ganzen Drastik deutlich, erweist sich doch gerade auf der Basis der nachgelassenen Texte, daß Cassirer keineswegs kulturtheoretische Grundlagenreflexionen an die Stelle von geschichtstheoretischen setzte, wie die dem Primat der Kulturphilosophie unterstellte Lesart annimmt. 5 So hat Cassirer in nachgelassenen Entwürfen etwa das in der Forschung problematisierte Verhältnis von symbolischen Formen und Geschichte näher bestimmt, und zwar so, daß historisches Verstehen zur Bedingung der Möglichkeit der Formanalyse kultureller Symbolisierung und umgekehrt die strukturelle Analyse zum Organon der historisch-genetischen wird. 6 Geschichte, so wird hier en passant deutlich, ist schon deshalb keine symbolische Form, weil sie Moment jeglicher symbolischen Form ist. 7 Blickt man von hier aus auf die Einleitung zum ersten Band des Erkenntnisproblems von 1906 zurück, dann zeigt bereits dieser frühe programmatische Text, daß Kultur zum Thema nur auf der Grundlage einer Hermeneutik historischen Erkennens gemacht wird. Die problematische Ausgangslage für die Geschichtsthematik in der Tradition neukantischen Philosophierens, zumindest der der Marburger Schule, ist offenbar: einerseits wurde der Ursprung der Naturerkenntnis zum Gegenstand geltungstheoretisch orientierter Erkenntniskritik, ande-

Vgl. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 3: Geschichte. Mythos, hg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert Kopp-Oberstebrink u. Rüdiger Kramme, Hamburg 2002, 3–192; zum thematischen Zusammenhang gehört auch das Manuskript »Form«, a. a. O., 202–236. Eine umfangreiche Studie zu diesem Thema vom Verfasser befindet sich in Vorbereitung; vgl. dazu einstweilen vom Verfasser: »Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschicht sschreibung während der Exilszeit«, in: Gerald Hartung/Kay Schiller (Hg.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration, Bielefeld 2006, 53–70. 5 So etwa Renz: »Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft«, 195. 6 »Auf der einen Seite ist es das historische Denken als solches, das uns das Eindringen in die einzelnen symbolischen Formen erst ermöglicht und das uns ihre Wesensart, ihre spezifische Eigentümlichkeit erst aufschliesst – […] Aber auf der anderen Seite sind die einzelnen symbolischen Formen, wenn wir sie in dieser Weise […] erfassen, nun auch wieder die Organe, kraft deren uns historisches Leben in seinem ganzen Umfang und in seinen bewegenden Kräften, in seinen Ur-Motiven erst ganz zugänglich wird –[.]« (Ernst Cassirer: »Mythos«, in: ECN 3, 175–176). 7 Thomas Göller bemerkt zurecht, daß Cassirer Geschichte erst im Spätwerk reflektiert, setzt bei seiner Darstellung aber selbstverständlich voraus, daß »Geschichte nicht nur als symbolische Form genannt«, sondern als solche thematisiert werde, was der Sache wie dem Buchstaben nach unzutreffend ist. (Thomas Göller: »Ernst Cassirer über Geschichte und Geschichtswissenschaft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45, 1991, 224–248, hier: 224). 4

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rerseits wurden im Bereich der Ethik die Bedingung der Möglichkeit und Geltung moralischer Urteile reflektiert. Geschichte als Raum der Realisierung wissenschaftlicher oder ethischer Praxis blieb athematisch. 8 Zudem unterlag der Bereich der Geschichtsphilosophie in der Folge des spekulativen Idealismus dem Metaphysikverdacht. In dieser schulgeschichtlichen Konstellation beschränkte sich Cassirer auf methodologische Reflexionen zum historischen Erkennen in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung des sogenannten Erkenntnisproblems.9 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß die Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Erkennens, wie sie im ersten Band des Erkenntnisproblems angestellt werden, von Cassirer als paradigmatisch für historische Erkenntnis überhaupt angesehen wurden.10 Das mag unter Hinweis auf die historiographisch-methodologischen Differenzen etwa zwischen Begriffsgeschichte und politischer Geschichte als problematisch angesehen werden, ist aber klares Indiz dafür, daß Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung für den frühen Cassirer als Substitute einer Philosophie der Geschichte fungierten. In diesem Horizont betrachte ich im folgenden einige Aspekte der Philosophiegeschichtsschreibung Ernst Cassirers. Geleitet werden meine Überlegungen von der Frage, ob in seinen veröffentlichten wie unveröffentlichten Arbeiten Aspekte einer philosophischen Historiographie aufweisbar sind, die in Verfahren und Methodendiskussionen heutiger Philosophiegeschichtsschreibung von Relevanz sind. Denn der Ausgangsbefund ist eindeutig: die historisch akzentuierten Arbeiten Cassirers, seien es das Erkenntnisproblem, die Philosophie der Aufklärung oder andere, werden auch heute noch in philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zitiert und diskutiert; die Problemgeschichtsschreibung aber,

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Die Komplikationen in Cohens Interpretation des hier vereinfacht skizzierten Verhältnisses zwischen vernunfttheoretischer und naturgeschichtlicher Problemstellung hat Helmut Holzhey: »Kants Geschichtsphilosophie im Neukantianismus«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 85–104, eingehend dargestellt. 9 Vgl. Ernst Cassirer: »Einleitung«, in Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906; 1911; 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, 1–15 [= erster Teil der Einleitung zur zweiten Aufl. 1911] u. 504–533, hier: 504–511 [= zweiter Teil der Einleitung zur ersten Aufl. 1906]. 10 Vgl. a. a. O., 13, wo »der Begriff der Wissenschaftsgeschichte selbst« als exemplarisch für »jede historische Entwicklungsreihe« diskutiert wird. Diesen Sachverhalt machen bereits Cassirers erste Entwürfe zur Einleitung des Erkenntnisproblems unmißverständlich deutlich. Das nachgelassene Manuskript »Geschichte. Mythos« verwendet diese Übertragungsfigur mit einer Akzentverschiebung, wenn dort Philosophiegeschichtsschreibung ebenso gut wie jede andere Form von Geschichtsschreibung als Exempel für die Verfahren von Historiographie dienen soll, vgl. Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 96.

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auf der sie ausschließlich zu basieren scheinen, erscheint als notwendiges Übel, als nicht weiter reflektierte und doch kaum vermeidbare Praxis in Philosophiegeschichten, historischen Abrissen oder auch systematischen Arbeiten, in jedem Falle aber gilt sie als alter Hut.11 Diese Zuschreibung verdeckt jedoch, daß sich in seinen philosophiegeschichtlichen Arbeiten ebenso wie in den entsprechenden methodologischen Reflexionen unter der problemgeschichtlichen Oberfläche ganz verschiedene Ansätze und Verfahren zur Philosophiegeschichtsschreibung feststellen lassen. Es wird zu fragen sein, ob diese Heterogenität auch Umbrüche innerhalb einer als geradezu notorisch kontinuierlich erscheinenden Werkgeschichte markiert. Seitenblicke auf einige aktuelle Konzeptionen von Philosophiegeschichtsschreibung sollen zeigen, daß Cassirer auch als Philosophiehistoriker in neueren Debatten zum Thema ein Wörtchen mitzureden hätte. Ich werde in folgenden Schritten vorgehen, die der Sache nach Konzeptionsverschiebungen in Cassirers Auffassung von Philosophiegeschichtsschreibung markieren: zuerst soll als historischer und sachlicher Ausgangspunkt das Modell von Philosophiegeschichtsschreibung in den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems von 1906/07 kurz skizziert werden (I). Im Anschluß wird die Zäsur umrissen, die der dritte Band des Erkenntnisproblems (1919) für Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung bedeutet; dabei sind Leistungsfähigkeit wie Grenzen dieser Neukonzeption näher zu bestimmen (II). Die Öffnung des Ansatzes zu einer Theorie historischen Erkennens im kulturellen Kontext vollzieht das Geschichtsmanuskript von 1936, dessen Dimensionen in einem weiteren Schritt ausgelotet werden (III); näher zu untersuchen sind dabei insbesondere die Neubestimmung des Verhältnisses von Systematik und Historie (IV), die Rolle der Textkritik für die systematische Rekonstruktion (V) und abschließend das daraus entwickelte Modell von Rekontextuierung (VI).

I) Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung im Zeichen des Faktums mathematischer Naturwissenschaft – die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems (1906/07) Dem Neukantianismus seiner Lehrer Cohen und Natorp folgend sind die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems vom Paradigma des Erkennens in Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft geleitet. Natorps Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems von 1884 prägten die Hi-

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Noch neuere Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte, wie etwa Lorraine Daston/ Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007, argumentieren problemgeschichtlich, ohne dies Verfahren eigens methodologisch zu reflektieren.

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storiographie des Erkenntnisproblems zum Modell einer teleologisch konzipierten Philosophiegeschichte. Dieses teleologische Modell konstruierte Natorp als Schreibung einer doppelten Vorgeschichte: als Vorgeschichte, die in den »Idealismus« Platons mündete, und diesen wiederum als Anfang einer Geschichte, die ihr Ziel in Kants Kritik der reinen Vernunft fand.12 Entsprechend war die Geschichte des Erkenntnisproblems zunächst auf nur zwei Bände angelegt und sollte mit einer Darstellung der Kantischen Kritik enden. Ihren sachlichen Ausgang nahm die Arbeit von 1906/07 bei dem von Cassirer historisch prozessualisiert interpretierten »Factum der Wissenschaft« Cohens, das heißt bei der »Analyse der gegebenen Wissenschaft [i.e. mathematische Naturwissenschaft, HKO]«.13 Der beständige Bezug auf den Erkenntnisbegriff der Wissenschaftsgeschichte sollte das Erkenntnisproblem von einer »Geschichte der Erkenntnistheorien« unterscheiden.14 Dabei scheinen die einleitenden methodologischen Überlegungen Cassirers auf eine transzendentale Historik abzuzielen, die die Bedingungen der Möglichkeit historischen Erkennens skizzieren. Die methodische und sachliche Verpflichtung des frühen Cassirer auf die systematische und historiographische Programmatik des Marburger Schulzusammenhangs, auf einen reduktiven, mathematisierten und logifizierten Begriff von Erkenntnis brachte freilich den Ausschluß etwa der biologischen, religiösen, ästhetischen oder historischen Dimension der Wirklichkeitserkenntnis des Menschen mit sich. Entsprechend folgte die Kritik an Leibniz’ System und den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems dem Muster, das sich in der Rezeption der historischen Arbeiten Natorps herausgebildet hatte.15

Paul Natorp: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis, Berlin 1884. Es ist anzumerken, daß Natorp in den Forschungen zwar nur die erste Vorgeschichte, die zum platonischen Erkenntnisbegriff schreibt. Doch wird die zweite Vorgeschichte dadurch in die Darstellung hereingeholt, daß der zugrundegelegte Begriff von Erkenntnis im Horizont von Cohens KantInterpretation entworfen ist. 13 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906; 1911; 1922), in: ECW 2, 5. 14 Vgl. a. a. O., 6. 15 Vgl. dazu die soeben abgeschlossene, noch nicht veröffentlichte Studie vom Verfasser: Systematik und Historie in Ernst Cassirers Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung, die auch die Differenzen zwischen Natorps und Cassirers früher Philosophiegeschichtsschreibung auslotet. 12

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II) Konstellation und Motivgeschichte – Die nachkantischen Systeme (1919) als Zäsur Bereits der dritte Band des Erkenntnisproblems von 1920 markiert eine Zäsur in Ernst Cassirers Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Sein Haupttitel – vollständig: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit – weist im Vergleich mit dem der ersten beiden Bände keine Veränderung auf und scheint schon dadurch Kontinuität hinsichtlich des Gegenstands und des zugrundegelegten Modells von Geschichtsschreibung anzuzeigen. Doch wird Wissenschaft, gleich welcher Ausprägung, in der Fortschreibung des Werkes gar nicht thematisiert, und schon das verweist auf eine tiefgreifende Konzeptionsänderung gegenüber den ersten beiden Bänden. Diese betrifft freilich nicht nur das historische Material und die Bereiche der Darstellung, sondern in zentraler Weise auch deren Form und Verfahren. Orientierte sich die Geschichtsschreibung des Erkenntnisproblems der ersten beiden Bände noch an der als vorgängiges »Faktum« interpretierten Wissenschaftsgeschichte, so führt deren vollständiger Ausfall im dritten Band zur Autonomisierung des im engeren Sinne philosophiegeschichtlichen Moments und zur Aufgabe des Szientismus, der die Darstellung von 1906/07 noch geleitet hatte. Eine weitere signifikante Differenz zu den Vorgängerbänden wird deutlich: auch der Titel des Erkenntnisproblems verfehlt in seiner singularisierten Form das Dargestellte. Es geht nicht länger um das Erkenntnisproblem, sondern allenfalls um Erkenntnisprobleme – doch recht besehen sind nicht einmal sie das eigentliche Thema der Darstellung. Der Paradigmenwechsel in Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung ist offenkundig und vollzieht sich im Zeichen der Rücknahme der einseitigen Orientierung am sogenannten »Faktum« mathematischer Naturwissenschaft und der Rückgewinnung einer Pluralisierung des Erkenntnisbegriffs. Band drei des Erkenntnisproblems thematisiert Dimensionen menschlicher Wirklichkeitserkenntnis, die in dessen ersten beiden Bänden schon wegen deren mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung ausgeschlossen bleiben mußten: Theologie, Philosophie der Kunst, Staatsphilosophie, Anthropologie, Naturphilosophie und Organologie.16 Methodologischer Leitfaden des dritten Bandes sei, so erklärt Cassirer,

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Die Interpretation von John Michael Krois verfehlt das szientifisch verengte Paradigma von Erkenntnis der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems von 1906/07, wenn es heißt: »Das Erkenntnisproblem treated intellectual history in its own terms [sic], recognizing jurisprudence, language, art, and religion as unique and irreducible factors [sic]« (John Michael Krois: »A Note about Philosophy and History. The Place of Cassirer’s Erkenntnisproblem«, in: Science in Context 9, 1996, 191–194, hier: 192); damit wird genau die Position eines Pluralismus im Erkenntnisbegriff unterstellt, wie ihn Cassirer erst mit der Philosophie der symbolischen Formen (1923/1925/1929) erreicht.

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die »Treue der geschichtlichen Darstellung«. Diese verbiete, »aus den einzelnen Systemen eine eigene und selbständige ›Erkenntnistheorie‹ herauszulösen« oder deren metaphysischen Inhalt in irgendeiner Weise zu verkürzen.17 Nicht der jeweilige Beitrag der »metaphysischen Lehren« zum Erkenntnisproblem, gleich ob in singularisierter oder pluralisierter Form, soll Gegenstand der Darstellung sein, sondern deren jeweils »besondere Form des Denkens«.18 Diese Maxime stellt eine methodische und sachliche Kehrtwendung gegenüber den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems sowie Leibniz’ System dar und muß als Antwort auf die Kritik gelesen werden, die an diesen Arbeiten geübt worden war.19 Problematisch blieb indessen, wie die Einheit der Darstellung nach dem Wegfall des Bezugs auf die Wissenschaftsgeschichte und nach der Pluralisierung des Erkenntnisbegriffs zu sichern war. Der Untertitel des dritten Bandes, Die nachkantischen Systeme, scheint auf den Begriff des Systems als Einheitsmoment der Darstellung zu verweisen. Doch geht dieser Hinweis ins Leere, denn es liegt hier keine Systemgeschichtsschreibung im eigentlichen Sinne vor; immanente Darstellungen einzelner Systeme nachkantischen Philosophierens sind nicht zu finden. 20 Stattdessen werden die Systeme einerseits in ihren Wechselbeziehungen untereinander, in ihren wechselseitigen Spannungen, Problemlösungsansätzen und Auseinandersetzungen porträtiert und andererseits in ihrem ständigen Rekurs auf die kantische Philosophie, an deren Probleme und offene Fragen sie anschließen. Dabei löst Cassirers Darstellung den systematischen Zusammenhang des »Kritizismus« nachgerade auf, um begriffliche Umbildungsprozesse einzelner Theoriemotive in den Blick zu bekommen. 21 Philosophische Motiv-, nicht Systemgeschichte ist der Modus der Problemgeschichtsschreibung im dritten Band des Erkenntnisproblems. Doch die Einheit der einzelnen Theoriemotive und ihrer Transformationsgestalten wird realisiert durch ein anderes Darstellungsprinzip: das der Wirkung oder Wirksamkeit. 22 Der Bezug dieser widerstreitenden

Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4, VIII. 18 Ebd. 19 Die Rezeption von Leibniz’ System und der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems stelle ich ausführlich in der oben erwähnten, noch unveröffentlichten Arbeit zu Systematik und Historie dar. 20 Zu den Anfängen der Systemgeschichtsschreibung vgl. Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und –betrachtung, Meisenheim a. Glan 1968, 162–165. 21 »Immer von neuem muß daher das Ganze der kritischen Lehre […] seiner festen architektonischen Form entkleidet und in die gedanklichen Motive, aus denen es hervorgegangen ist, aufgelöst werden.« (Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Dritter Band, ECW 4, 2). 22 Der Begriff der ›Wirkung‹ oder gar der der ›Wirkungsgeschichte‹ ist hier keinesfalls im Sinne von Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 283–284 u.ö., 17

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Deutungsperspektiven auf Theoreme der Kantischen Philosophie bildet das innere Organisationsmoment von Cassirers Darstellung. 23 Die wirkungsgeschichtliche Dimension unterläuft dabei das bloß nominell einheitsstiftende Moment der Erkenntnisproblematik: »die mannigfachen Fortbildungsversuche der Kantischen Lehre [stehen] bei allem gedanklichen Widerstreit dennoch in einem Verhältnis gedanklicher Kontinuität.«24 Dadurch soll bei aller »einseitigen Hervorhebung des Einzelnen«, wie sie in den einzelnen nachkantischen Systemen vollzogen wird, »die Struktur des Ganzen klarer heraus[treten]« und ein »neues Totalbild« ergeben. 25 Cassirers Bruch mit der szientifisch und teleologisch orientierten Problemgeschichtsschreibung im Stile der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems enthält historiographische Potentiale, die erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wieder aktualisiert wurden. Es dürfte kein Zufall sein, daß die von Henrich angeregte Variante der Rekontextuierung, die sogenannte Konstellationsforschung, als Programm zur Erforschung der idealistischen deutschen Philosophie in ihrem Bezug zu Kant entstanden ist. Denn genau diese Phase der Philosophiegeschichte bildet den Fokus der Cassirerschen Wirkungsgeschichtsschreibung, die Kant zum Anfangspunkt einer Epoche macht und die auf ihn folgenden Theoreme und Systeme als Rezeptions- und Transformationsgestalten der drei Kritiken versteht. Auch hierin zeigt sich die Abkehr von der Konzeption von 1906/07, die die Kantische Kritik als Zielpunkt der Darstellung nahm und in gewisser Hinsicht auch als Ende der Geschichte, sollte doch auf die geschichtliche Darstellung der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems eine systematische Abhandlung folgen. 26 Mit der Konstellationsforschung

zu verstehen; ich verwende ihn vielmehr im Sinne der historischen Denkfigur der »Wirksamkeit«, mit der Cassirer erstmals in der Vorrede zu Leibniz’ System operiert hat, um die Aufnahme und Transformation von Theoriemotiven aus Leibniz’ philosophischen und wissenschaftlichen Arbeiten durch an diesen anschließende Theorien zu bezeichnen; vgl. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, X. – Verstehen läßt sich »Wirksamkeit« in diesem Zusammenhang also als Gegenfigur zur Rezeption, als von einer Theoriegestalt ausgehende Wirkmächtigkeit auf andere Theoriegestalten. 23 Cassirer nennt als Leittheoreme den »Begriff des Dinges an sich«, den der »synthetischen Einheit«, den »Gegensatz zwischen Form und Materie« und das Verhältnis des »Allgemeinen und Besonderen innerhalb der Erkenntnis«: »Es wird sich zeigen, daß alle charakteristischen und entscheidenden Einzelbestimmungen in den Lehren Reinholds und Becks, Aenesidems und Maimons, […] in den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels in irgendeiner Form auf das intellektuelle Bezugssystem hinweisen, das in diesen Begriffen und Problemen vorliegt« (a. a. O., 3). 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Vgl. den Brief an Paul Natorp, wo Cassirer einen »Schlußband, der systematische Untersuchungen zum Erkenntnisproblem enthalten soll«, ankündigt (Ernst Cassirer: Brief an Paul Natorp v. 31. Juli 1905, Bl. 2v; Universitätsbibliothek Marburg, Nachlaß Natorp, Ms. 831:618).

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verbinden sich seither sowohl eine angeregte Debatte zu den Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung wie auch eine ganze Reihe von historisch-systematischen Einzelstudien. 27 Dabei ist die Konvergenz des epochalen Zuschnitts beider Projekte mehr als nur ein erster Hinweis darauf, daß mit dem in Sachen Philosophiegeschichtsschreibung präzendenzlosen Ansatz von Band drei des Erkenntnisproblems ein Muster künftiger philosophischer Historiographie geschaffen wurde. Denn die Annahme eines vorgängigen historischen Bezugspunktes der philosophischen Positionen, die als Konstellation verstanden werden sollen, ist conditio sine qua non des weiteren Verfahrens sowohl Cassirers als auch Henrichs. Auch andere Grundbedingungen in Cassirers Ansatz sind Indiz dafür, daß Die nachkantischen Systeme Konstellationsforschung avant la lettre betreibt. Zu ihnen gehört der oben skizzierte motivgeschichtliche Ansatz innerhalb eines wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs. Unabdingbare Voraussetzung einer historischen Konstellation im Sinne Henrichs ist vor allem aber, daß die Denkmotive, Theoreme und Argumente der einzelnen philosophischen Positionen sich in Differenz zueinander und Widerstreit miteinander befinden. 28 Die philosophiehistorische Konstellation realisiert sich nur als epochaler Antagonismus, als Antagonismus von Problemen und gegenläufigen Entwürfen, deren Klärung in Debatten und Auseinandersetzungen durch die historischen Protagonisten zumindest versucht wurde. Damit gehört zu den methodischen Elementen der Konstellationsforschung zwar auch ein problemgeschichtliches Moment, das freilich bei weitem nicht so restriktiv interpretiert wird, wie das auf dem methodologischen Stand der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems der Fall war. 29 Probleme, etwa der Kantischen Kritik der reinen Vernunft – Cassirer nennt hier beispielsweise »das Ding an sich« oder den Begriff des »Gegebenen« –,

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Einen Überblick auch über die Weiterentwicklung des Forschungsprogramms und seine Interaktion mit anderen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verfahren gibt Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005. 28 Dieter Henrich: »Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung«, in: Mulsow/Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 15–30, hier: 26–30. 29 Zur restriktiven, engen Fassung der Problemgeschichtsschreibung, wie Cassirer sie in Leibniz’ System und im Erkenntnisproblem von 1906/07 praktiziert, gehört die Singularisierung des Problems, wie sie beispielsweise durch das Problem der Erkenntnis gegeben ist, und das heißt: die Einheit des Problems war nur dadurch zu gewährleisten, daß der Begriff der Erkenntnis reduktiv, als unter dem Paradigma mathematischer Naturwissenschaft stehend, gefaßt wurde. Dazu tritt als zweites Moment das der inneren Logik des Problems hinzu: der Begriff des Problems als solcher steht in Cassirers früher Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung in einer Spannung zwischen zwei Polen. Im Falle des Problems der Erkenntnis ist das die Spannung zwischen substantialistischer und funktionaler Interpretation des Erkenntnisbegriffs. Erst auf der Basis dieses bipolaren Begriffsmusters kann Erkenntnis überhaupt als Problem verstanden werden, das im Gang der Geschichte verschiedene Stationen von Lösungsversuchen durchläuft.

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können als solche überhaupt erst identifiziert und systematisch rekonstruiert werden, weil sie von Zeitgenossen und Späteren als solche diskutiert wurden – so jedenfalls lautet Cassirers Position in Die nachkantischen Systeme. Mit dieser wirkungsgeschichtlichen Wendung der Problemauffassung verliert die Problemgeschichtsschreibung das ihr inhärierende metaphysische Moment eines überhistorischen Bestandes, der aus der inneren Logik des problematisierten Begriffs, beispielsweise dem der Erkenntnis, folgen und für die gesamte Geschichte der Philosophie gelten soll. Insbesondere die erste Auflage des Erkenntnisproblems hatte mit ihrer Skizze zur antiken Philosophie in der Einleitung zum ersten Band diese Universalisierung und Enthistorisierung des Problembegriffs betrieben. 30 Auch Henrichs sogenanntes argumentationsanalytisches Verfahren, das dem im engeren Sinne historischen Moment der Konstellationsforschung zur Seite gestellt wird, findet seine Präfiguration in Cassirers systematischer Rekonstruktion von Theoriemotiven und -gestalten.31 Die prinzipielle Auszeichnung der Cassirerschen Philosophiegeschichtsschreibung als einer explizit »philosophischen«, und das heißt systematisch orientierten, gehört historisch betrachtet zu dem Teil des Marburger Erbes, an dem Cassirer durch alle konzeptionellen Wandlungen hindurch festgehalten hat und dient zur Distinktion gegenüber der Literargeschichte. 32 Überlieferungs- und Textgeschichte, Philologie und Kontexte der politischen Geschichte bleiben zugunsten theoretischer Rekonstruktion ausgeschlossen, zumindest wenn man die Cassirersche Praxis der Philosophiegeschichtsschreibung in den Blick nimmt. Vor allem aber, und damit sei ein letztes Übereinstimmungsmerkmal benannt, gründet Cassirers Konzeption des dritten Bandes des Erkenntnisproblems in der fundamentalen Prämisse und Überzeugung, daß die Erschließung von Begriffen, Argumenten und Theoremen nicht von den historischen Protagonisten ausgeht, die diese Theoriegestalten her-

30

Die in ihrem Resultat an Windelband erinnernde, von Cassirer tatsächlich aber aus der Philosophiegeschichtsschreibung Natorps aufgenommene Hypostasierung des Erkenntnisproblems zu einem quasi zeitenthobenen Bestand prägt den zweiten Teil der Einleitung in die erste Auflage des ersten Bandes des Erkenntnisproblems von 1906, vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 504–511; im Wegfall dieses Teils der Einleitung ist eine erste Distanzierung von dieser Auffassung zu sehen. 31 Vgl. Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976, 9–15, bes. 10. Für dieses Argument ist Henrichs unausweisbare Annahme, »gerade innovierende Texte« seien »undeutliche Texte«, unerheblich; zentral und auch für Cassirers systematisierende Rekonstruktionen zutreffend ist dagegen der Hinweis, die Rekonstruktion ersetze den historischen »Text durch die beste, die einsichtigste Variante, die dem Kommentator zugänglich wurde« (a. a. O., 10). 32 Zur historiographischen Programmatik einer »philosophische[n] Geschichte« vgl. Hermann Cohen: »Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer«, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 7, 1871, 249–296, bes. 290–296; sowie vom Verfasser: Systematik und Historie in Ernst Cassirers Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung.

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vorgebracht haben. 33 Vielmehr werden deren theoretische Gehalte und Probleme erst in der Rezeption durch Zeitgenossen und Spätere bestimmbar, aus der Perspektive differenter Ansätze und Positionen also. Diese Anlage des dritten Bandes beruht auf einer Grundentscheidung, die so maßgeblich wie folgenreich für Cassirers spätere Philosophiegeschichtsschreibung sein sollte und auch Henrichs Projekt der Konstellationsforschung zugrundeliegt.34

III) Erkennen, Ereignis, Prozeß, Werk – Dimensionen von Geschichte im Göteborger Manuskript Geschichte (1936) Im schwedischen Exil gelangte Cassirer erstmals zu einer eigenständigen Thematisierung und Reflexion des grundlegenden Begriffs seiner Philosophiegeschichtsschreibung sowie der gesamten Kulturphilosophie. Damit schließt Cassirer an die in der Einleitung zum ersten Band des Erkenntnisproblems entworfene programmatische Skizze zum Begriff historischen Erkennens an und führt seine Überlegungen von 1906 auf gänzlich anderer Basis und unter veränderten Bedingungen fort. Als Konsequenz des neuen theoretischen Ansatzes formuliert das Manuskript von 1936 auch weitgehende Modifikationen in der Konzeption der Philosophiegeschichtsschreibung. Zunächst ist die Basis des neuen Ansatzes zu umreißen, um dann einige Elemente der philosophischen Historiographie zu charakterisieren, die Cassirer daraus ableitet. Zu bedenken gilt, daß Cassirer dieses Manuskript wie so viele andere Texte, die er im Exil verfaßte, nicht in eine Druckfassung bringen und veröffentlichen konnte. Seine Überlegungen dienten ihm aber immerhin gleichsam als Steinbruch, aus dem Teile in Publikationen übernommen und in andere Theoriekonfigurationen integriert wurden.35

33

Dieter Henrich: »Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen Philosophie«, in: ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, 9–26, bes. 20. 34 Vgl. Henrich: Identität und Objektivität, 9. – Rainer A. Bast: Problem. Geschichte. Form. Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000, 457–462, scheint die Frage, ob Cassirer »Vorläufer« der Konstellationsforschung sei, zu verneinen. Dabei hält sich allerdings seine Deskription des Verfahrens mit dessen Peripherie auf. Vor allem aber bleibt Basts Bestimmung von Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung selbst so dekontextualisiert wie undurchsichtig und scheint eine durch alle Werkphasen hindurch einheitliche Konzeption anzunehmen – dabei bleiben etwa die Besonderheiten des dritten Bandes des Erkenntnisproblems ebenso außen vor wie die Konzeptionsverschiebungen der Philosophiegeschichtsschreib ung Cassirers überhaupt. 35 Im Falle des Geschichtsmanuskriptes bieten etwa das umfangreiche Manuskript »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« von 1937 in ECN 2, Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942 und der Essay on Man von 1944 solche neuen Kontexte.

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Grundlage der Neubestimmung des historischen Erkennens ist die zwischen 1936 und 1937 entworfene Theorie der Basisphänomene.36 Sie scheint in der besonderen Modifikation, die Cassirer ihr im Geschichtsmanuskript zukommen läßt, darauf ausgerichtet zu sein, den transzendentalphilosophischen Grundcharakter der Skizze zur Historik von 1906 ebenso wie die damit zusammenhängende Dichotomie von Subjekt und Objekt der historischen Erkenntnis zu umgreifen und in eine Hermeneutik historischen Verstehens zu transformieren. Geschichte wird dabei in drei Dimensionen thematisiert, als historisches Erkennen, als Prozeß und Ereignis sowie als Dokument oder Werk; als solcherart dimensional vermessene wird sie in der Konstellation dreier sogenannter »Basisphänomene«, des »Ich-Phänomens«, des »Phänomens des Wirkens und Wollens« und des Phänomens des »Werk[es] als Grundlage der Geschichtsbetrachtung und Geschichtserforschung« lokalisiert.37 Im ersten Basisphänomen als »Grundform der geschichtlichen Er-Innerung« soll die Sphäre der Subjektivität als Bedingung und Anfang aller Geschichtlichkeit zum Ausdruck kommen. Das meint die transzendentalen apriorischen Bedingungen des historischen Erkennens, den kategorialen Apparat seiner Grundfunktionen, wie sie im Anschluß an die Grundlegung der Basisphänomene ausformuliert werden38 – aber nicht nur. Cassirer intendiert hier mehr, wie bereits die Bezeichnung »IchPhänomen« anzeigt. Er will den Erkenntnisfunktionen im vorgängigen Faktum der prinzipiellen Geschichtlichkeit des Ichs eine Basis geben. Das »Phänomen des Wirkens und Wollens«, das auch als »Ich-Du-Phänomen« bezeichnet wird, faßt dagegen die Dimension der Intersubjektivität, des Sozialen, der Interaktionen von Einzelnen, Gruppen, sozialen Verbänden oder staatlichen Gebilden. Diese Dimension ist charakterisiert durch das Moment der Prozessualität; entsprechend bilden ihren Bereich historische Prozesse und Ereignisse im weitesten Sinne, die »Kette von Wirkungen und Gegenwirkungen«,39 von Auseinandersetzungen, »Opposition« und »Kampf«.40 Der Werkcharakter bestimmt dagegen das dritte Basisphänomen: ihm gehören die »Monumente« oder »Dokumente« an, die »Spuren«, die Residuen, die im historischen Geschehen entstanden sind und

Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 111–195; die dort vorgenommene Datierung des Neuansatzes auf 1939 ist zu korrigieren, verweist doch das Göteborger Geschichtsmanuskript auf den in ECN 1 publizierten Text und wurde seinerseits eindeutig im Zeitraum zwischen 1936 und 1937 verfaßt; vgl. das Vorwort der Herausgeber (a. a. O., IX) und den editorischen Bericht (a. a. O., 279–292); zur systematisierenden Interpretation der Basisphänomene als Grundlage der Kulturphilosophie vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. 37 Vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 14–17. 38 A. a. O., 4–145. 39 A. a. O., 59. 40 A. a. O., 16. 36

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es überdauern. Sie bilden die »Grundlage der Geschichtsbetrachtung« in gleich doppelter Hinsicht: zum einen sind die geschichtlichen Dokumente und kulturellen Monumente die empirisch-materiale Grundlage der Rekonstruktionen des Historikers, zum anderen hat der Rückgriff auf Dokumente die Objektivität seiner Rekonstruktionen im Erweis der jeweils zugrundegelegten Hypothesen zu sichern.41 Historisches Verstehen oder Erkennen situiert Cassirer in der dauernden Wechselbeziehung von erstem und drittem Basisphänomen. Damit soll auch von dieser Seite her die einseitige, bloß transzendentale Bedingtheit oder Formung des geschichtlich-kulturellen Objekts durch das erkennende Subjekt vermieden werden, wie sie noch in der transzendentalen Historik der Einleitung in das Erkenntnisproblem von 1906/07 skizziert war. Erwünschter Nebeneffekt dieser prozessualisierten Korrelation ist die Abwehr von Historismus und Relativismus, die durch die mögliche Verabsolutierung des historischen Monuments gedroht hätten. Cassirers Konzeption von 1936 zielt auf einen prinzipiellen Konstruktivismus historischen Erkennens, der sich im Rückgriff auf die Monumente und Dokumente zu bewähren hat. Dieser Ansatz gilt uneingeschränkt auch für die Philosophiegeschichtsschreibung, die insofern keinen anderen Status beanspruchen kann als irgendeine andere Partialgeschichte, sei es politische Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und dergleichen. Simmels Pluralisierung von Geschichte zur parataktischen Ordnung von Geschichten gehört zu den unabdingbaren Prämissen, die das Geschichtsmanuskript macht.42 Die Frage, der die Cassirersche Methodologie der Philosophiegeschichtsschreibung sich zu stellen hat und die sie zu einer ihrer zentralen Fragen macht, ist die nach dem Verhältnis von historischer Rekonstruktion und rationaler. Betreffen der ganze Ansatz bei den Basisphänomenen und seine Folgen für das historische Erkennen nicht nur die Rekonstruktion der historischen Kontexte philosophischer Theoreme oder Systeme, und ist die systematische Rekonstruktion, die auch gegenwärtig noch häufig als das eigentlich philosophische Moment philosophiegeschichtlicher Arbeit gilt, nicht von solchen üblicherweise als bloß als historisch qualifizierten Fragen ausgenommen? Diese Gretchenfrage der theoretischen Statusbestimmung von Philosophiegeschichtsschreibung bringt immer wieder neue Vorschläge zur Auflösung der beiden als aporetisch verstandenen Optionen hervor, die ebenso oft auf das stets Gleiche hinauslaufen: von Seiten philosophischer Systematiker wird die Frage im Prinzip immer mit der strikten

41

A. a. O., 56. Vgl. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (zweite Fassung 1905/1907), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, hg. von Guy Oakes und Kurt Röttgers, Frankfurt/M. 1997, 227–419, hier: 287–289. 42

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Trennung von rationaler und historischer Rekonstruktion beantwortet und von Philosophiehistorikern mit dem Hinweis auf die Historizität jeglichen systematischen Entwurfs.43

IV) Das dreifache Verhältnis historischer und systematischer Rekonstruktion und die Hermeneutik von Frage und Antwort Gegenüber dem historiographischen Ansatz bei einer rein systematischen Philosophiegeschichtsschreibung, wie er im Erkenntnisproblem von 1906/07 realisiert wurde, markiert die überraschende Antwort im Manuskript Geschichte eine Zäsur, die schärfer nicht sein könnte. Cassirer bestimmt das Verhältnis von historischer und systematischer Rekonstruktion in dreifacher Weise: er anerkennt erstens beider jeweils eigenes Recht und Leistung, will sodann aber zweitens die Objektivität der rationalen erst in der historischen Rekonstruktion absichern und geht drittens sogar soweit, die historische Rekonstruktion zur Voraussetzung der systematischen zu machen. Das soll im folgenden erläutert werden. Die Position systematischer Rekonstruktion wird im Geschichtsmanuskript als die der »reinen Problemgeschichte« diskutiert. »Geschichte des reinen Gedankens« scheint »dem Ideal der ›Objektivität‹« am nächsten zu kommen. »Lebensumstände«, »Vorstellungen, Meinungen, Zweifel, Kämpfe derer, die diese Probleme gedacht haben« – diese und andere kontingente historische Sachverhalte, die den Theoriegestalten äußerlich bleiben, leisten keinerlei Beitrag dazu, Geschichte im Sinne des »innere[n] Werden[s] des Gedankens zu rekonstruieren«, wie Cassirer feststellt.44 Die rationale Rekonstruktion dagegen, zu der Cassirer auch die eigene Problemgeschichtsschreibung im Stile der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems zählt, läßt »sehr wesentliche Züge, die vorher nie in dieser Schärfe gesehen worden waren, sehen«.45 Doch ungeachtet aller inneren Kohärenz und rekonstruktiven Erschließungskraft für systematische Zusammenhänge und fremde Theoriengestalten bestimmt das Manuskript

43

Zu ersterem vgl. den Versuch von Jürgen Mittelstraß, zwischen »begründeten Entwicklungen«, den von ihm sogenannten »Gründegeschichten«, und »bloßen Wirkungen« zu unterscheiden: Jürgen Mittelstraß: »Gründegeschichten und Wirkungsgeschichten. Bausteine zu einer konstruktiven Theorie der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte«, in: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt/M. 1995, 10–31. 44 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 122. 45 A. a. O., 125; für exemplarisch hält Cassirer in dieser Perspektive beispielsweise die von ihm auf dem Stand des Geschichtsmanuskriptes auch kritisierte Platon-Interpretation Natorps. Zum Gesamtzusammenhang vgl. 123–125.

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von 1936 auch die Grenzen systematisch verfaßter Geschichtsdarstellung, und zwar von zwei Seiten her. Leitgedanke der späten Philosophie Cassirers ist der Begriff der ›Lebendigkeit‹, und unter diesem Paradigma erscheint die Konzeption eines Zusammenhangs »reiner« Denkgestalten als Abstraktion, die angesichts des in seinem jeweiligen Entstehungszusammenhang »lebendigen« Gedankens den Charakter eines »›anatomischen‹ Praeparats« annähme.46 Zur Anwendung auf den in Frage stehenden Zusammenhang der Philosophiegeschichtsschreibung werden diese Überlegungen in eine Hermeneutik von Frage und Antwort eingebettet, deren Basis im zweiten Basisphänomen, der Dimension historischer Verläufe und Ereignisse, liegt: »jeder Gedanke, […] jeder fundamentale Systembegriff […] ist nur die Antwort auf eine bestimmte Frage, die an die Wirklichkeit gestellt ist«, formuliert Cassirer, um diesen Ansatz anschließend in für den früheren reinen Erkenntnisproblematiker ungewohnter Weise auf den Leitgedanken eines lebendigen Entstehungszusammenhanges zurückzuwenden: »und diese Frage nimmt in der Philosophie stets eine persönliche Gestalt an – sie formt sich in einem individuellen Geist und kann nur im Zusammenhang mit ihm in ihrer eigentümlichen ›Konkretion‹ gesehen werden«. Der »sachliche Bedeutungswandel der ›Idee‹« kann in einer Geschichte des Ideenbegriffs wohl systematisch rekonstruiert werden, doch »wir müssen ihn verstehen aus der geistig-persönlichen Struktur der Denker, die an diesem Prozeß beteiligt sind«.47 Obwohl diese Passage die Tendenz zu einem Modell biographistischer Philosophiegeschichtsschreibung aufzuweisen scheint, wäre diese Deutung ein Mißverständnis. Es geht Cassirer vielmehr um das Verstehen der Entstehungsbedingungen philosophischer Theorien. Das meint auch das Verständnis des Zusammenhangs zwischen der Persönlichkeit des Philosophen und dem von ihm Gedachten, doch bildet das nur ein Moment in der Formation von Theorien. Cassirers Anliegen ist die Rekonstruktion der »konkret-geschichtlichen Gestalt« philosophischer Probleme oder Theorien, der »Atmosphaere«, in der sie entstanden sind. Das wiederum kann vor dem Hintergrund der Kulturphilosophie nichts anderes bedeuten, als daß der kulturelle Kontext wiederzugewinnen ist, in dem die jeweilige Theoriebildung stattgefunden hat. In Begriffe der Cassirerschen Hermeneutik von Frage und Antwort übersetzt, hieße das: philosophische Theorie gleich welcher Art ist die Antwort auf die Frage, die aus dem

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»Und doch kann, auch im Gebiet der Philosophiegeschichte, die Trennung des Denkers vom Gedanken nie so weit getrieben werden, daß das Band zwischen ihnen völlig zerschnitten wird – daß ein ›reiner‹ Gedanke, ganz ohne Zusammenhang mit dem Denker herauspräpariert würde« (a. a. O., 123). 47 A. a. O., 123–124.

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Zusammenhang der Kultur heraus an die kulturell-geschichtliche Wirklichkeit des Menschen gerichtet war. Erst die »Erhellung« dieses FrageKontextes führt zur »wirklichen ›Objektivität‹«, indem der systematische Sachverhalt nicht von dem spezifischen Kontext seiner Entstehung abgetrennt, sondern aus ihm verstanden und gedeutet wird.48 Vergegenwärtigt man sich, daß es hier um die rationale und historische Rekonstruktion vergangener Theoriegestalten geht, dann wird die hermeneutische Funktion der Erschließung systematischer Gehalte über den historisch-kulturellen Kontexten deutlich. Cassirer grenzt sich hier von der aktualisierenden Rekonstruktion fremder Theorien oder Theoriemotive ab, die diese einem ihnen fremden Paradigma von Erkenntnis unterwirft und sie in diesem fremden Theoriezusammenhang auf ihre Geltung und Begründung hin untersucht – eine Form systematisierender Philosophiegeschichtsschreibung, der Cassirer in seinen ersten Arbeiten wie Leibniz’ System und den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems noch vorbehaltlos gefolgt war.49 Die Rekontextuierung von Theoriemotiven fungiert hier als deren historisch-kulturelle Verfremdung, als ›Historisierung‹, die Distanz zwischen dem, der versteht, und den zu verstehenden Gebilden als hermeneutische Voraussetzung jeder Verstehensleistung herstellt: »Diese Erweiterung des Horizontes, die gerade dies Ferne [i.e. durch die Verfremdung erzeugte] erzwingt, ist darum für ihn [den Philosophiehistoriker] auch der eigentliche systematische Ertrag der Philosophie-Historie.«50 In diesem Sinne wird die historisch-kulturelle Rekontextuierung von Theoriegestalten zur Voraussetzung von deren systematischer Rekonstruktion als anachronistischer, aus der Perspektive der Gegenwart fremder. Cassirers komplexer Versuch intendiert also mehrerlei: die Aufhebung der prinzipiellen, unversöhnlichen Opposition zwischen Systematik und Historie bei gleichzeitiger Wahrung ihrer jeweils spezifischen Leistung und die Vermeidung eines reduktiven oder hierarchischen Verhältnisses zwischen beiden. Dabei kann, abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse, sehr wohl einseitig der Standpunkt entweder bloßer Systematik oder ausschließlich historisch-kultureller Rekontextuierung eingenommen werden. Muster und Ziel des Philosophiehistorikers bleibt dabei aber die wechselseitige Integration systematischer und historischer Rekonstruktion, die ihrerseits nichts anderes als die rekonstruktive Wiederholung der

48

Vgl. a. a. O., 125. »Der Philosophiehistoriker würde […] falsch und historisch-unfruchtbar verfahren, wenn er alle Gestalten einem vorgegebenen Schema, ›seinem‹ System einordnen wollte« (a. a. O., 121). 50 A. a. O., 122. – Richard Rorty sieht genau hierin den Ertrag philosophiegeschichtlicher Arbeit. (Richard Rorty: »The Historiography of Philosophy. Four Genres«, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hg.): Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge et al. 1984, 49–75, hier: 51). 49

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Wechselbeziehung zwischen Theoriegestalt und kultureller Praxis darstellt. Leitbild der Überlegungen Cassirers ist unzweifelhaft Diltheys Bestimmung der wechselseitigen Wirkung von kulturellem Zusammenhang und philosophischem System, wie er sie im Archiv-Aufsatz formuliert hat: »Die philosophischen Systeme sind aus dem Ganzen der Kultur entstanden und haben auf dasselbe zurückgewirkt.«51 Versteht und rekonstruiert man diese Wechselwirkung als eine kontinuierliche hermeneutische Bewegung, als unabdingbare hermeneutische Voraussetzung entweder des systematischen, des historischen oder integrativen Ansatzes, dann ist die theoretische und methodologische Position des Philosophiehistorikers erreicht, wie Cassirer ihn im Göteborger Manuskript skizziert hat – eine Position, wie sie in den 1980er Jahren etwa von Rorty vertreten wurde.52

V) Philologie, Quellengeschichte und Textkritik als Basis systematischer Rekonstruktion Das Göteborger Manuskript unterzieht rationale Rekonstruktion und historische Rekontextuierung philosophischer Theorien einer weiteren, dritten Verhältnisbestimmung, indem es letztere als Voraussetzung systematischer Interpretation thematisiert. In zugespitzter Weise ließe sich formulieren, daß Cassirer Cohens Diktum, Erkenntnistheorie beziehe sich auf das »Factum der Wissenschaft« als »in gedruckten Büchern wirklich gewordene«, gegen den Strich liest und ihm eine ganz neue Bedeutung abgewinnt.53 Der im dritten Basisphänomen bestimmte Werkcharakter philosophischer Texte verweist auf den kulturellen Kontext ihrer Entstehung. Dokument, Monument oder Werk bilden die äußere Basis jeglicher Verstehensleistung, auch der des Philosophiehistorikers. Dabei ist es unerheblich, ob sich diese auf systematische Rekonstruktion oder auf historisches Verstehen durch Wiedergewinnung kultureller oder sozialer Kontexte bezieht – jegliche Art von Kontext, soweit er Gegenstand historischer Rekonstruktion wird, ist cha-

51

Wilhelm Dilthey: »Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, hg. von Hermann Nohl, Stuttgart/Göttingen 1990, 555–575, hier: 558. – Die Bedeutung des ArchivAufsatzes für das Göteborger Manuskript kann kaum überschätzt werden. 52 »These two topics [i.e. historical vs. rational reconstruction] should be seen as moments in a continuing movement around the hermeneutic circle, a circle one has to have gone round a good many times before one can begin to do either sort of reconstruction.« (Rorty: »The Historiography of Philosophy«, 53, Anm.). 53 Hermann Cohen: Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, 27; vgl. auch ders.: »Biographisches Vorwort«, in: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Iserlohn 1882, X.

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rakterisiert durch ihren Textcharakter.54 Quellen oder Dokumente, deren quellenkritische und philologische Erschließung, kurz: die textuelle Basis philosophischer Probleme waren in der problemgeschichtlichen Konzeption der ersten Bände des Erkenntnisproblems schlechterdings kein Thema. Das Geschichtsmanuskript von 1936 dagegen diskutiert sie als unabdingbare Voraussetzung jeglicher objektiver und rationaler Geschichtsdeutung, und auch hieran zeigt sich der vollständige Paradigmenwechsel, der sich in Cassirers Methodologie der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung vollzogen hat. Die Texte sind »nicht einfach ein Gegebenes, sondern ein historisch ›Aufgegebenes‹ – ein durch Methoden der Philologie und Kritik erst zu Rekonstruierendes«, wie Cassirer in Übertragung einer Natorpschen Formel für den Gegenstand der Erkenntnislogik formuliert.55 Dem Resultat der Rekonstruktion, der »wiederhergestellten« Quelle, kommt der Rang eines kulturellen »Faktums« zu. Daß damit weitreichende Konsequenzen für die systematische Interpretation verbunden sind, daß die Erschließung der Quellen des philosophischen Problems nicht bei der Wiederherstellung des einen Textes stehenbleibt, nicht stehenbleiben kann, sondern sich auf andere Texte und Dokumente, auch andere Textgattungen, wie beispielsweise Briefe erstreckt, ist dem Historiker der Philosophie so geläufig wie dem Editor nachgelassener philosophischer Texte.56 Die Bedeutung der Textgestalt als Bezugsfaktum auch der systematischen Interpretation erweist sich exemplarisch an Cassirers eigenen Texten, wie beispielsweise dem Essay on Man, dessen volle anthropologische Dimension sich erst erschließt, wenn man seine Vorstufen mit der 1945 veröffentlichten, als Resultat einer wechselvollen Publikationsgeschichte verstümmelten Fassung vergleicht.57

VI) Historisch-kulturelle Rekontextuierung als Modell Was Cassirers Göteborger Manuskript mehr skizziert als ausführt – die Koexistenz und das Eigenrecht rationaler und historischer Rekonstruktion, deren wechselseitige Verwiesenheit aufeinander in einer philosophischen Philosophiegeschichtsschreibung und die Textgeschichte als das historische

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Das betrifft auch Kontexte, die beispielsweise durch das Medium der Oralität oder anhand von Statistiken erzeugt werden. 55 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 98; vgl. etwa Paul Natorp: »Kant und die Marburger Schule«, Berlin 1912 (Sonderdruck aus den Kant-Studien 17 (1912)), 15. 56 Das trifft bereits auf Diltheys Praxis philosophischer Historiographie zu und hat seine Gültigkeit auch für den Erforscher von Konstellationen und Kontexten; vgl. Fred Rush: »Mikroanalyse, Genealogie, Konstellationsforschung«, in: Mulsow/Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 149–172. 57 Vgl. Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6.

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Verstehen von Problemen, Begriffen, Theorien aus ihren biographischen, psychologischen, soziologischen, politischen, letztlich aber kulturellen und historischen Entstehungsbedingungen sowie die Erschließung der Geschichte des Textes in seiner werkhaften Materialität – läßt sich im weitesten Sinne als Rekontextuierung oder genetische Kontextualisierung des philosophischen Problems oder Gedankens fassen. Die historisch-kulturelle Kontextualisierung sprengt den Binnenraum der bloßen Sachorientierung des philosophischen Problems auf und eröffnet den verstehenden Zugang zu ihm, indem sie es aus umfassenderen Geschichten, seiner Eingebundenheit in Zusammenhänge der Kultur und aus individuellen Erfahrungen beleuchtet. In Übertragung einer von Cassirer im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Kulturphilosophie verwendeten Terminologie könnte man sagen, daß das philosophische Problem eine Physiognomie bekommt, in die auch seine individuellen und kulturellen Entstehungsbedingungen eingezeichnet sind. Auch wenn Unterschiede nicht zu übersehen sind, so erscheinen Cassirers Überlegungen zur historisch-kulturellen Rekonstruktion von Kontexten der Intention nach und in einigen Zügen durchaus als vergleichbar mit späteren philosophiegeschichtlichen Projekten, die der Kontextualisierung als historischer Methode ihren Namen gegeben haben, wie etwa dem Quentin Skinners. 58 Zwar verabschiedet Skinner, anders als Cassirer, philosophische Biographik als philosophiehistorische Gattung ebenso wie die Orientierung der Historik am konventionellen Kanon führender historischer Figuren und Texte. Doch bereits Skinners Forderung nach Berücksichtigung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Faktoren in der Ideengeschichtsschreibung konvergiert mit Cassirers Überlegungen aus dem Geschichtsmanuskript. Das gilt zumal für Skinners Wendung gegen die Abstraktion von Ideen und Theorien – und das aus seinen historischen Entstehungsbedingungen losgelöste Problem der Problemgeschichtsschreibung im Stile der Marburger Schule ist eine solche Abstraktion –, wie es auf dessen Forderung zutrifft, daß das »Charakteristische«, Widersprüchliche, Individuelle Vorrang in der historischen Beschreibung vor den Gleichförmigkeiten und »Ähnlichkeiten« habe. Übereinstimmung zwischen beiden Positionen scheint mir vor allem hinsichtlich des Postulats der Vorgängigkeit der historischen Rekonstruktion und Beschreibungen zu herrschen, die zu einer möglichst vollständigen, komplexen und

Vgl. etwa die Aufsätze in James Tully/Quentin Skinner (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge 1988, oder das Projekt der von Skinner u. Schmitt herausgegebenen Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambrige et al 1988. Eine kritische Diskussion der Rekontextuierung bei Skinner bietet Max Bevir: »The Role of Contexts in Understanding and Explanation«, in: Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, 159–208. 58

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möglicherweise sogar widersprüchlichen Matrix der historischen Ereignisse führen sollen. Innerhalb dieser Matrix ist das historische Problem zu lokalisieren und in seinen historischen Beziehungen zu verstehen. Die Abstraktionen der systematischen Arbeit, die den vollen sachlichen Gehalt des Problems zu erschließen haben, schließen sich daran an. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Exils haben Cassirer nicht gestattet, all diese methodologischen Differenzierungen auszuführen und in druckreife Form zu bringen. Ebensowenig hat er die Brüche und Konzeptionsänderungen seiner Philosophiegeschichtsschreibung reflektiert, denn das wäre erst auf dem Boden einer Theorie historischen Erkennens möglich gewesen, wie sie sich in den Skizzen des Geschichtsmanuskripts von 1936 allererst andeutet. Doch an der Konzeption einer doppelten Rekonstruktion des Historikers – und damit auch des Philosophiehistorikers – hat Cassirer bis in die späteste Formulierung seiner Kulturphilosophie hinein festgehalten, wenn der Essay on Man zwischen empirischer Rekonstruktion und symbolischer unterscheidet. 59 Verläßt man die ausschließliche Perspektive der Problemgeschichte, so zeigen sich unter dieser Oberfläche verschiedene Ansätze zur Philosophie- und Ideengeschichtsschreibung, die teilweise erst nach Cassirer realisiert und ausgeführt werden konnten.

Literaturverzeichnis Rainer A. Bast: Problem. Geschichte. Form. Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000 Max Bevir: »The Role of Contexts in Understanding and Explanation«, in: Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002 Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff., (ECW), Bd. 1 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906; 1911; 1922), in: ECW 2 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23

Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 191. 59

Kopp-Oberstebrink · Konstellationen und Kontexte

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– Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Geschichte. Mythos, in: ECN 3 – »Form«, in: ECN 3 – Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6 Hermann Cohen: Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 7, 1871 – Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877 – »Biographisches Vorwort«, in: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Iserlohn 1882 Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007 Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, hg. von Herman Nohl, Stuttgart/Göttingen 1990 Eugen Fink: Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11, 1957 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und –betrachtung, Meisenheim a. Glan 1968 Thomas Göller: »Ernst Cassirer über Geschichte und Geschichtswissenschaft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45, 1991 Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003 Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976 – »Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen Philosophie«, in: ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991 – »Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung«, in: Martin Mulsow/ Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005 Helmut Holzhey: »Kants Geschichtsphilosophie im Neukantianismus«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 Herbert Kopp-Oberstebrink: »Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung während der Exilszeit«, in: Gerald Hartung/Kay Schiller (Hg.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration, Bielefeld 2006 – Systematik und Historie in Ernst Cassirers Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung, unveröffentlichtes Manuskript

276

Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

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Riccardo De Biase

Morphological Historicism and Ethical Destination Ernst Cassirer’s Conception of the History of Philosophy

I) It would be difficult begin these few observations without precising the meaning of term «Historismus», the meaning, obviously, that will be used in this reading. Here, and in the whole essay, for «Historismus», or «Historicism», it will be recognized and isolated a specific varying of a «school» with a long and glorious history1, a very determinable theoretical attitude. In few words, with the term «Historismus» – than, connected to Cassirer, it can undoubtedly generate reservoirs and suspicions if not specified and cleared – will come here meant a way of understanding of the historical fact that to us is seemed combinable (like intellectual and methodical affinity) to the total tone of the cassirerian vision of the meaning and of sense of the history of philosophy. The minimally informed reader will be able to recognize immediately the thought line which is wanted to be identified, a sequence of contributions, names, ideas, «historicisms» to the plural, that is seemed to us legitimate to remember in order to clear – or to try to make it – theoretical turning out of the basic attitude of Cassirer in comparison with the history. In the same years in which Cassirer developed and put to point his idea of history, its spiritual meaning and the realizing of itself in the cultures of the people, Friedrich Meinecke reached the result that ‹the Historismus› of the origins, with its «Individualitätsprinzip, verbunden mit dem Gedanken der individuellen Entwicklung» had, with Schiller, Herder, Humboldt, and above all Goethe, destroyed «die Schranken der bisherigen naturrechtlichen Denkweise» and approval with punctuality and unheard-of clarity «unendliche Fülle von Eigengesetzlichkeiten, die das Leben der Einzelnen

1

On this point, see Fulvio Tessitore’s works. We remember here only a few of his works pertaining with our aims: Fulvio Tessitore: Introduzione a lo storicismo, Bari 1991, especially 10 e sgg.; the same: Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, voll. I-V, Roma 1995–2000; the same: Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Roma 2007, especially three long essais: Storicismo e storia della cultura (loc. cit., 129–185); Su Meinecke e la «religione dello storicismo» (loc. cit., 283–291) and Meinecke e il «cristianesimo secolarizzato» (loc. cit., 293–308).

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

wie der von ihnen geschaffenen menschlichen Gebilde beherrschen». 2 Sure, the risk, after and beyond Hegel, was one «relativiertes Denken»3 , a thought for many aspects hesitant and at looking for a own main road, but also which gave this «dynamischen Historismus», the character of a «feine Obermelodie einer ungeheuren Sinfonie, die wohl oft verschwinden kann in Tumult der Bläser und Pauken, dann aber wieder von einer vornehmen Geige vorgetragen ins Innerste des Herzens dringt».4 Metaphor so acting and pregnant, since Cassirer, recalling himself to Goethe, writes in 1931: «Goethe hat die moderne europäische Geistesgeschichte mit einer großen Fuge verglichen, in der nacheinander die Stimmen einzelnen Völker einsetzen, sich in ihrer Besonderheit geltend machen, um sodann in eben dieser Gegenführung eine neue, bisher nicht erreichte Harmonie zu erzeugen. In der Tat ist es diese Polyphonie, die erst den Einklang der modernen Kultur hervorbringt und auf der ihre Kraft und ihre Eigenart wesentlich beruht. Es gewährt einen immer neuen Reiz, sich in das innere Werden zu versetzen, an dessen End- und Zielpunkt diese Harmonie steht». 5 Already here and in a completely preliminary way, come made to play and roll plugs of meanings, that – we will see – are not fruit of mere and inane synonymy, of nominalistical likeness, but they become knotted around strong and coherent conceptual cores, originated by careful meditations on the sense of historical-spiritual becoming of modernity. Meinecke (but this is famous), means this to rise of the new historicist sensibility, impregnated of sense of the individuality, conceptual dynamism and a kantianism problematically recalled in question6 , like a punctual German Ergebnis7, simulacrum of one «orchestral direction» of all the movement of reinterpretation of the sense and the meaning of the historicity in existence of all Europe. On the platform, to a one time directing and embodying this new, still for sure topics unripe vitality of meaning historian, obviously Goethe, who in the meineckian genealogic

Friedrich Meinecke: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, in: the same: Werke, vol. IV, ed. by Eberhard Kessel, Stuttgart 1959, 285. 3 Ibid. – In this regard, see Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1994², 90–196. 4 Friedrich Meinecke: Geschichte und Gegenwart, in: the same: Werke, vol. IV, 92. 5 Ernst Cassirer: Deutschland und Westeuropa im Spiegel des Geistesgeschichte (1931), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, ed. by Birgit Recki [abbreviated ECW], vol. 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, 207. Cassirer›s reference is related to Johann Wolfgang von Goethe: Aphorismen und Fragmente (Naturwissenschaften), in: Sämtliche Werke (Artemis-Gedenkausgabe), vol. 17, Zürich 1948– 1954, 766. 6 For this point of view, see Otto Gerhard Oexle: Geisteswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, 26 f. 7 Friedrich Meinecke: Die Entstehung der Historismus, in: the same: Werke, vol. III, 445 f. 2

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tripartition 8 is the most important name of the single first young arising of the new historical spirit (that «fängt mit Teilbeseelungen, nicht mit Allbeseelungen der Geschichte an»9 ). And it is with Goethe, in fact, that the historicism rises – or aspires to make itself – as a «science of the life», science of passing to realize itself of the screw of individual lives in the continuous flow of the time, from the present to the past, and that from this to that one it returns, liven up and enriching it; this, because it is a science aimed at one «grundsätzliches Verstehen menschlichen Lebens, ob gegenwärtig oder vergangen, von innen her, von seinen jeweiligen individuellen Quellpunkten her. So, wie es am tiefsten und reichsten Goethe vorgemacht hat», there’s in Goethe like the «Gipfel dieser neuen Lebensbehandlung», and never, before him and before the great thinkers of the original historicism, the historical meaning «so tief, innig und gläubig, so kongenial miterlebend vergangenes Leben an sich gezogen», and never, before Goethe, «das eigene Leben dadurch wahrer und tiefer eingebettet gesehen in das Gesamtleben der es unhüllenden großen Individualitäten der Nationen, Religionen usw.».10 This ‹to-look-at› of the historical knowledge as «live-in-the-life» organism, is a meaning and a comprising that «erst die Goethezeit hat den geistigen Erscheinungen die Flüssigkeit und genetisch Charakter gegeben»11, that it is their own, knowing itself some to assume pressing and nevertheless creative indigence.12 «Durch den Historismus» – so Meinecke – «wurde ein neuer Typus von historischer Bildung, d. h. von der Art, wie moderne Individuen die Bildungsstoffe der Vergangenheit in sich aufnehmen, geschaffen»13 , materials that, once it assimilates, do not become rigid sedimentation at all and pedantic metafisicity of the happening, but, if authentically fruitful, become the salt and the water of the understanding, the founding elements on which the «eigentliche» ferment of the «modernen Geistes geht auf individuelle Umformung und Einschmelzung geschichtlicher Bildungsstoffe»14 , it can act conveniently. This Fusing and this transforming here called in cause by Meinecke, can be only the result of a powerful movement of thought, that goethean morphologic thought that we will meet many times in our run and that will give the total tone to the historical morphology of Cassirer, that formative modus

Friedrich Meinecke: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, in: the same: Werke, vol. IV, 230. 9 Loc. cit., 229 (emphasis added). 10 Loc. cit., 232. 11 Loc. cit., 223. 12 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: the same: Gesammelte Schriften, vol. VII/1, ed. by Albert Leitzmann, Berlin 1907, 39. 13 Friedrich Meinecke: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, 234. 14 Loc. cit., 245. 8

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of the historical meditation that is not other that the every presupposed one of knowing and every anthropology: «Bei Goethe wird uns in höchster Steigerung der geistesgeschichtliche Prozeß evident, wie der Mensch Kultur hervorbringt, d. h. schöpferische Synthesen von Umwelt und Eigengeist, die dann ihrerseits wieder zum befruchtenden Umweltgut für Zeitgenossen und Nachkommen werden».15 A similar understanding never was heard in history, never, before Goethe was highlighted «so scharf und deutlich den Umfang der Bildungselemente von außen, die auf schöpferischen Geist einwirken, aber auch niemals wieder so geheimnisvoll-offenbar die produktive Kraft, die etwas ganz Neues damit schafft».16 But, attention – and this it is a feature of the meineckian thought that seems to us to marking with great linearity also our interpretation of Cassirer – what of great, sublime and dynamic is present in this perspective, cannot makes us to neglect an absence, discreet but fundamental, that it surrounds and which marks the goethean cultural humus: the «place» of an ethics thought in a futuristically way, the perspective of one morphology «seeing sage», of a planning vitalism that thinks freedom in-order-to-other and not only for itself, of one «spermatic» of the forms of the communitarian living, finalized, teleologically, selfincreasing and generative of new forms.17 To our opinion in the morphology of the increase – therefore it seems to us opportune to call the theoretical attitude of the sublime German – lacks the predictive element, lacks a comparison with the responsibility of the forms, with the selftrascendence of the continuous reconstructive movement of the forms of the human historical world, with the wozu, the morally determinable one of this uninterrupted dynamism. Because – in order to say it with Meinecke «eine Geschichtsauffassung ohne festes ethisches Fundament zum Spiel der Wellen wird»18 , because there is always, inexorably, the danger that the future moment of which Goethe theorizes the eternalizing of past and future19 and that Meinecke thinks as catchable by us with one up «vertikal in die Höhe blickten» of the authentic historicism20 , it does not find – perhaps also for narcissistic self-reflecting – the morphomantics will to «dreaming» and to create new and more and more habitable dwellings for humanity: «Der Augenblick als realer Einzelpunkt des Geschehens ist für ihn [Goethe] wie versunken

15

Loc. cit., 253 (emphasis added). Ibid. 17 I’ve tried to explain this point in a more clear way in my book La destinazione etica della storia della filosofia in Ernst Cassirer. Le testimonianze di Descartes e Goethe, Napoli 2007, especially 112–121, where I also refer for the opportune bibliography. 18 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 100. 19 Here, see Fulvio Tessitore: Storicismo come filosofia dell›evento, Soveria Mannelli 2001, 50 f. 20 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 101. 16

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[…], erscheint er der unmittelbaren Gegenwart wie entrückt. Aber der Wirklichkeit des welthistorischen Geschehens hat er damit nicht entsagt […]. Nur ein Irrtum scheint Goethe in dieser Zusammenschau von Vergangenheit und Zukunft begegnet zu sein. Er meinte, daß nun endlich die Zeit der Erfüllung seines Ideals gekommen sei; er hielt in enthusiastischer Zuversicht den Sieg für entschieden». 21

II) Not. The battle for the humanization of the cultural shapes of the humanity, for realizing themselves and self-objectiving of a new, sage humanity at all, was not gained. The historical knowledge of Goethe, its understanding of happening as free deployment of the forms, characterizes them as a creative freedom, a freedom that gives to these forms their own ties22, like an activist, «organologische» synthesis of forms, more and more indefinitely capable of improvement, its historical vision that «perceived past and present», but in which «das Gespenstische verschwunden [ist]»23, it revealed yes an idea of eternity like «ein im Herzen der Wirklichkeit und des Erlebnisses selbst wurzelnder»24, but however it left in danger just the issue of the uprooting from the present, to hurl itself of this same, of the destination of those to make that, being be thought from Goethe like inseparable ethical action of the man, will come assumed but retranslated and rearticulated by Cassirer – in our reading – in the vital one, and therefore historian impulse to the community, sudden start planning to the spiritual and cultural construction of the multiple ways of the living intersubjective. We mean to say that Cassirer, also using to full hands of the conceptual goethean outline, «the organological-augmentative» outline of the living morphology of the Leben like Basisphänomen, and adopting it with conviction that the methodical one, the metaphors and the whole conceptuality, tries to go beyond, to exceed it one beginning from ascertainment to the discounted appearance: «Aber ist eine solche Haltung, wie sie Goethe hier als Künstler fordert und übt, im Ganzen des geistigen Lebens möglich? Gibt es hier eine derart

Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt. Drei Aufsätze (1932), in: ECW 18, 312 f. An other voice about a confrontation between Meinecke and Cassirer is Peter Paret: »Ernst Cassirer und neuere Richtungen der Kulturgeschichte in den Vereinigten Staaten«, in: Enno Rudolph/Bernd Olaf-Küppers (eds.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 37–46, especially 42 f. 22 See Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, ed. by Erich Trunz, vol. 12, München 1981, 518. 23 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 98. 24 Ibid. 21

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«unmittelbare» ungebrochene Einheit?».25 The life manifests itself in the selfmetamorphic way, in the changing, transformative throb (il pulsare), is yes authentically original phenomenon, is pure creative act, but an element still lacks them, that one «Brechung», that one «immanente […] Notwendigkeit» that it makes the life what it properly is: fluid dialogical element : «Denn auch die ‹Verstandes›-Funktion des Fragens gehört zu den ursprünglichen und wesenhaften Funktionen des Geistes».26 This because, like testified from pages not coeval at those which was readed, for Cassirer the kantian critical interest27 for biological sciences, for the «fact» of the life and its relationship with the spirit, as they come out from the Kritik der Urteilskraft28 and therefore they manifest the authentic greatness of the Kant thinker who didn’t «in diesem Sinn, nach Art der unkritischen Metaphysik, ins Innere der Natur eindringen, und er fragt nicht, wie die Natur bei der Schaffung der Lebewesen verfahre. Er will nur die verschiedenen Formen der wissenschaftlichen Erkenntnis analysieren, ihre Grundbegriffe und Prinzipien aufzeigen und dadurch ihren Unterschied und ihre Grenzen festsetzen»29, but that, also however, they were not solvable because Kant couldn’t recognize «das «Faktum der Geisteswissenschaften», wie es uns heute vor Augen steht […] und in seiner jetzigen Form noch nicht voraussetzen können».30 In fact, is the rising of this enriched historicism (evidently historicisms: in the plural, an historicism of which it was spoken before, those of Humboldt and Schleiermacher, Ranke and Droysen, of Weber, Dilthey and Troeltsch), finalized and not finalistical, this version of the interrogation of «the better» past of the history, having-in-sight the future, which offers the right in order to speak lawful about the cassirerian historicism; in order to take control of the more opportune instruments set at great length, in order to put in suitcase the more adapted necessaire to an understanding of the totality of the life-at-work, in order to render conveniently account of the trial-like, the infinite one unit of is given and to form itself of spiritual living, must be gone back otherwise at the rising moment of the western thought, at the moment in which «Sokrates wendet die Frage gegen das sittliche Selbstbewußtsein des Ich […] Er fragt nicht (metaphysisch) woher

Ernst Cassirer: Über Basisphänomäne, in: Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, ed. by John Michael Krois and Oswald Schwemmer [abbreviated ECN], vol. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ed. by John Michael Krois, Hamburg 1995 ff., 127. 26 Ibid. 27 Ernst Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs (1938), in: ECW 22, 112–139. 28 Loc. cit., 137. 29 Ernst Cassirer: Kant und die moderne Biologie (1940/41), in: the same: Geist und Leben. Schriften, ed. by Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, 81. 30 Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs (1938), ECW 22, 137. 25

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dies alles – aber fragt (ethisch) nach dem Wozu»31, properly: where this huge spiritual power is direct, which is the (directional) sense of its own growing and realizing in the objectivation. Therefore, regarding also dragging the goethean tension towards the definition of a abecedarian of the spiritual and creative constitution of the Human, Cassirer tries to remake that one more step of thinking that «Umgestaltung des ‹Lebens› durch die Form der ‹Frage›»32 , which is the «method» of the spiritual increase generated by the issue of its historical origin, by the power of the historical forces in their continuous self-moving and characterizing themselves in the singular human objectivations, but that it finds again its fuller dignity in the issue of the «direction»: «Die wahre αἰτία liegt vielmehr im ‹Ende›, im Telos».33 The self-objectivation of the spiritual formative energies of the man, which are manifested in the creation of the art work, is the supreme kind of objectivation, it is the concretization and «miraculous» solidification of the drives, the instincts, the cultural riches of generations and generations of symbolic exchanges, semantic relations, aesthetic knowledge. But what lacks, in this dimension – which Goethe’s thought, from its point of view with right reason, considered the supreme expression of the spirit of the humanity – it is the aim. This is the decisive element that vanishes in a hypothetical moral of the increase. If, in fact, the formative impulse theorized by Goethe could be expressed and be realized – seen its same premises «organological» – in the materialization of the shapeless matter in shape of art work, the «‹Kultur›», which, together with the «‹Geschichte›» gives origin to the «Grundphaenomen des ‹Werkes›»34 , demands for itself a very different way of objectivation: «Indem sich aus dem Wirken das ‹Werk›, als ein Beharrendes und Bleibendes, absetzt[,] entsteht damit erst jenes Sein, das wir das Sein der Kultur oder der Geschichte nennen[.] ‹Kultur› unterscheidet sich eben darin von ‹Natur›, daß sie nicht bloß ‹Gewachsenes› ist – sie ist ‹Gewirktes›, durch Menschenhand und Menschengeist Hervorgebrachtes. Und alles geschichtliche Sein ist nur an diesen Hervorbringungen sichtbar zu machen – aller Wirkungszusammenhang in der Geschichte ‹besteht› für uns nur dadurch und ist uns nur dadurch faßlich, daß er sich in bestimmten dauernden Gebilden manifestiert – Diese Gebilde brauchen nicht, wie die der ‹bildenden Kunst›[,] ein physisches ‹Dasein› zu haben, an irgend einem bestimmte Stoffe zu haften (wie die Leinwand, auf der das Gemälde erscheint[,] das Holz, der Marmor des plastischen Kunstwerkes)[;] sie können auch ganz ‹immateriell› sein – wie das Recht, der Staat, wesentlich ist nur, daß sie irgendwie ‹fleisch-geworden›

31 32 33 34

Cassirer: Über Basisphänomäne, ECN 1, 127. Ibid. Loc. cit., 129. Loc. cit., 155.

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sind (wie das Recht, der Staat die ‹fleischgewordene› Sitte sind». 35 Aim and scope of the energies of the human spirit – without being for this reason finalistical or metaphysical crews in hand to a Superessential Astuteness of the History – the culture and the history (indeed, the culture or the history used by Cassirer in the previous passage nearly in synonymy) are in force of morphologic aims of the life, of the specifically human life, the life that objectives itself in the time, and indeed are it same realized temporality. And will not have to attend these discontinuous and fragmentary indications, does not publish to you from Cassirer and therefore collected under shape of notes and scattered reflections, in order to see the idea of a morality of the form-time-historical extended and compact. We read to such purpose one clear page of the third volume of the Philosophy of the symbolic Forms. In the intuition of the time, draft to comprise itself like makes manifest to the man the not catchable weft of passing of the physical events, which is the learning Form by means of which to the spirit the perception of alternating themselves is given and succeeding themselves of the events and the psychophysical facts: «Aber selbst wenn» – says Cassirer – «es gelänge, die Form der ‹objektiven› Zeit, wie sie die mathematische Naturwissenschaft denkt und zugrunde legt, von diesem Gesichtspunkt aus zu erfassen, und zutreffend zu beschreiben – so wäre mit dieser Auffassung doch die historische Zeit, die Zeit der Kultur und der Geschichte, beseitigt und um ihren eigentlichen Sinn gebracht». 36 The immediately previous reference that we find in Cassirer’s pages is relative to the Principles of Psychology of William James37 and to the sphere of the psychological experimentalism of the end 1800’s, but we don’t dislike to imagine that one of the interlocutors to which Cassirer addressed his words, could be (in a section of the work entitled ‹Phänomenologie der Erkenntnis›) Husserl of the Lessons on the time, edited by Heidegger just in the 192838 . In every case – and also beyond the important definition of the horizon of one more or less orthodox «Marburger Neukantianismus» of the Cassirer of those years – seems to us fundamental the «choice» of removing radically the historicity from the field of the scientist applications on psychologistical background, from that one of the theories of physical sciences and from that one of the phenomenological exercitations: «Denn ihr Sinn baut sich für uns nicht lediglich aus dem Rückblick in die Vergangen-

35

Loc. cit., 155 f. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 207. 37 William James: Principles of Psychology, vols. I und II, London 1902. 38 Edmund Husserl: Edmund Husserls Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein, in: Martin Heidegger (ed.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, vol. IX, Halle 1928. 36

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heit, sondern nicht minder aus dem Vorblick in die Zukunft auf».39 Toto genere differs the historical time from the physical time, from the time of the subjective apprehension, from the existential time, that one of the bergsonian élan vital 40 ; this difference is radical and essential, not subject to mediations, because, is also not explicitly, these «times» is always melted on the prevalence of the «tyrannical» Anwesenheit of the present, on structuring its exclusive feature, its persistent, pressing «finalized moral organization» to the satisfaction of the present need. Not so the historical time, because it is «gleich sehr auf das Streben und auf die Tat, auf die Tendenz zum Künftigen, wie auf die Betrachtung und Vergegenwärtigung des Vergangenen gestellt».41 In other times and other spaces, Cassirer places – as we will see – better and more aware this will deepen this ‹considering› and this ‹remembering› the past in how much essential member of one spring and immanent ethics of the philosophical history of the humanity, that is of a philosophical anthropology of the cultural history of the man. But already in Philosophie der symbolischen Formen there is the clear conscience that the man, and only the man in how much «wanting and operating being», is those freedom to hurling himself toward the future and capable, in the same time, to determinate the future.42 The condition because it can happen, founds itself on the free will that constantly, «biologically» pushes the man to create «history», beginning from the good-seeing «outstretching» to the future: «[Er] kann eine ‹Geschichte› haben; kann von Geschichte wissen, weil und sofern er sie ständig erzeugt».43 «Die echte geschichtliche Zeit» – continues Cassirer – «ist daher niemals bloße Geschehens-Zeit; sondern ihr spezifisches Bewußtsein strahlt nicht minder als aus dem Mittelpunkt der Betrachtung aus dem Mittelpunkt des Wollens und Vollbringens aus».44 And that Kant of the third Critic is intimately present in these words (where is manifested the clear intention «to harmonize it» with vision of the most expressive historicity), is possible to deduce it in the successive step when Cassirer specifies: «Denn das geschichtliche Wollen selbst ist nicht ohne eine Tat der ‹produktiven Einbildungskraft› möglich».45 This will, so named at the end of the twenties, is the same «faculty» of the mind, transformed and rethought, in the shadow of Descartes and Goethe, as we will try to argue soon, the core of «historicist» ethics of Cassirer, fulcrum to which the libertarian and

39 40 41 42 43 44 45

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 207. Loc. cit., 211–213. Loc. cit., 207 (emphasis added). Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.

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liberal ideas of the thinker, become knotted exile and cosmopolite ideas; it is on this will, in how much it is the glare and the determination more immediate than that self-normativity of the conscience «auf ihr beruht das, was man die sittliche ‹Persönlichkeit›, was man die Einheit, die Geschlossenheit, die innere Konsequenz des Charakters nennt».46 For «that» Cassirer, engaged in the self-conscious test of the edification of a possible ethics, to the thresholds of the Nazi tragedy, the will – that disposition of the mind that in the course of the centuries has been therefore defined by the philosophers – «ist hier nicht länger die Bezeichnung für irgendeine geheimnisvolle Urpotenz des Seins, die im Menschen herrscht und die vielleicht als unbewußte Macht, als ‹blinder Wille‹ auch alles Naturgeschehen durchdringt».47 III) If it is legitimate how much said up to now, if it is lawful to support that for Cassirer the history is a productive, intrinsically unstoppable function to carry out itself like activity and, entirety, scene of the spirit, and that, as form-of-the-forms can consistently be defined «morphologic history», history of the variations and indeterminacy of the creative conditions of the spiritual spontaneity of the man, history of the human operating; if all that is permissible, remains to see as this conception is refined, illuminating itself as intrinsically disposed to ethics and because, between many possible «histories», that philosophical one represents the ethic idealtypical dimension of the historical time (geschichtliche Zeit). The history of the philosophy is the ethic Anlage (in a kantian sense: Anlage, dis-position, like tendency of man to stretch out from his original «position») of historical happening because it develops itself like so and not otherwise, because, in as it rises and grows there is already, implicitly or explicitly, all the whole anthropological and cultural cargo of concrete putting into effect itself of the morphopoietic and morphomantic spirit of the man. In its immediate borning like position of interrogating, the philosophy is in fact «already adult» because, according to Cassirer, it is the place in which an incalculable qualitative jump regarding the «philosophies of the nature» and to the presocratic sophistic philosophies: «Das Verfahren der Sokratischen ‹Induktion› und das Verfahren der Sokratischen ‹Maieutik› ist nicht anders als die Methode, kraft deren das Bewußtsein gleichsam «zum Sprechen gebracht wird» […]. So erringt der Mensch mit der Sprache nicht

Ernst Cassirer: Axel Hägerström. Eine Studie zur Schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), published for the first time in: Göteborgs Högskolas Årsskrift, vol. XLV, Göteborg 1939, now in: ECW 21, 3–116, here: 104. 47 Ibid. 46

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nur eine neue Macht über die Dinge, über die objektive Wirklichkeit, sondern auch eine neue Macht über sich selbst».48 Is the world of the sociality, the community ethically thought the only one at which, since Socrates, the dialogical prominence of authentically human the philosophical formulation aims, because next and beyond to «der Welt der ‹äußeren› Gegenstände und neben der Welt des eigenen Ich aber ist es die soziale Welt, die durch die Sprache erst eigentlich aufgeschlossen und die durch sie erst fortschreitend erobert wird. Der erste Schritt, den das Ich auf seinem Wege zur Objektivität vollzieht, führt es ja nicht in eine Welt der Gegenstände, der bloßen ‹Dinge› hinhaus; sondern früher als diese Dingwelt, als die Welt des ‹Es›» – which is the «third-person-world», the world of overpersonality – «tritt die Welt des ‹Du› in seinen Blickpunkt ein».49 But if this is the most luminous glade in which the humanity can dwell, then this is also the culture, and when the world of «you» (Du) enters in the sphere of «I», it happens that what comes carried, is not only a linguistic content, the «what-is» which in the relation it is expressed, but also the ‹as› of this expressing itself, those ‹as› which Cassirer determines as and calls Form.50This Form has one its specific correspondence in a general concept51 «der der Kulturwissenschaft eigentümlich ist […]. Die Kulturwissenschaft ist eine Lehre von den Formen, in denen das geistige Leben der Menscheit sich vollzieht».52 It’s famous for everyone the ethical-theoretical centrality that the language assumes in Cassirer’s planning of one triadic philosophy (ich-du-es Beziehung) dialectically mature without being hegelian, of a productive thought exceeding Kant, a deepening of the Erkenntnistheorie out of the «Marburgexcesses». All the same, remains the problem to clear which ‹Form› has the most general valour, where, authentically, the spiritual life of the man is concretized. Seems to us that there are passages in which Cassirer is extremely linear: «Die Geschichte der Menschheit lehrt, welche Mühe es kostet und welcher geistig-sittlichen Anstregung es bedarf, den Gedanken einer übersprachlichen Gemeinschaft zu erfassen, – einer humanitas, die nicht durch den Gebrauch einer bestimmten Sondersprache zusammengehalten und konstituiert wird. Die Idee dieser «Humanität» führt über die Sprache hinaus; aber auf der anderen Seite bildet die Sprache einen der unentbehrli-

Ernst Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932–1933), in: the same: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, ed. by Ernst Wolfgang Orth and John Michael Krois, Hamburg 1995², 138. For the choose of this version of the essay, see in the same: Nachweis der Erstveröffentlichungen, in: the same: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, 210–211. 49 Loc. cit., 140. 50 Loc. cit., 142. 51 For an analysis of the cassirerian theory of concept, see again my book La destinazione etica della storia della filosofia in Ernst Cassirer. Le testimonianze di Descartes e Goethe. 52 Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 160. 48

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chen Durchgangspunkte für sie, eine notwendige Etappe auf dem Wege zu ihr».53 The language, like the art, science, myth, and every realized manifestation of the spirit, are fundamental dimensions of creative-morphologic acting of the spirit, but they represent however the joints of transit, the «risers» of connection between the indistinct materials of the human productivity and the acculturated sociality, between the instinctual, primordial impulse of expressing which makes men the animals who properly haveworld, because they creates it, and the preparation of a philosophical anthropology, which holds the universe of the formed cultures. All this, says Cassirer, is a lesson that can offer to us only the history, those Form-of-theforms that is the memory of all acting, of social action. This is the reason because Goethe’s morphology gives the trace but is insufficient: an unmemorial organology is not properly instrument with which the organisms we are, as self-remembering social history, can themselves conveniently be studied; or, better said, it is not and it neither could be the basic intellectual structure in a position to giving reason of the associate-moral creativity that would have to be own of the humanity. In the measure in which, then, it can be supported that social space without the communicative member is not given, this last one becomes «method ethical» only when of it memory is given, historical reason of every possible anthropological relationship, speech-each-other of the anthropoi, a speech which reflects in it same its historical matrix. To converse is, like were said previously, to ask and to listen, is the primordial imperative of every possible ethic, it is the question that in the time makes listens and that it returns to ask after to have listened to the question that they give other comes to it. «[…] es ist eine falsche Vorstellung» – says Cassirer to us, in order to delineate the analogies and the differences between historical and scientific knowledge – «daß durch diese Konkretisierung der Fragen schon an und für sich eine Minderung des Wahreitswertes, der «Objektivität» des historischen Urteils erzwungen wird. Das wäre nur dann der Fall, wenn es sich nicht um eine Konkretisierung der Frage, sondern um eine Konkretisierung der Antwort handelte».54 It’s famous to everyone that the greater attention of Cassirer interpreter of the stages of the history of the philosophy, the preferences (we would say nearly aesthetic) which he feels for the moments that pass one after the other one of several ways to place the fundamental questions of the man, regards in special way modernity and the Enlightenment. But probably we would twist Cassirer (or we would give to him an honour just not wished) if we number it between the historians of the philosophy of «profession», a medievist, as an example, or one «specialist» of the Modern

53 54

Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, 143. Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 115.

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one, the Ancient, etc. There are not any doubts that the philosophy of Cassirer always would refuse for itself these denominations, being selfappointed one «theoretical philosophy» (trying however to equally escape taxonomies of opposite sign). And then, how could we place, the following Cassirer’s words, if not in one formidable, unknown welding of ethical reasons and «historicist» thoughts? «Die geschichtliche Zeit ist dann wesentlich ethische Zeit: Zeit der ‹reinen Zukunft›[;] alles ‹Geschehen› [ist] gewissermaßen hinaufgehoben in die Dimension der Zukunft – Auch das Vergangene muß ständig neu gesehen, neu gestaltet, neu geboren werden aus dem Blick auf die Zukunft heraus. Jeder Zukunfts-Gedanke verändert die geschichtl[iche] Gegengwart wie die geschichtl[iche] Vergangenheit. Das allein ist echte ‹Renaissance› – Wiedergeburt des Vergangenen aus dem «Geiste» (Blickpunkt) der Zukunft».55 It’s the question, also here like with Goethe and Meinecke, of an asking that lies outside from the single historical ages, from the analyses – also the most refined – of a period, of a particular time; it’s the possibility to interrogate the «spirit of the past» enlivening it with and beyond that one of the present, for the landing place to one future; it’s the question of drafting launch a bridge whose carrying axis we are, live-that-asks, and whose couplings to the mainland are the past of the philosophy and the future of the humanity, the incoming humanity. And the philosophy, the «glorious» historical philosophy, in concrete terms existing in its higher interpreters, can become philosophy of the plural cultures and «to the future one» only if, when and how it will know to promote itself at the same time, like culture for a philosophical foundation, literally transforming itself, in spite of having to remain the same. The philosophical historicism of organic type becomes single culture when it becomes able to imagine an incoming world and to imagine itself in this world, when a possible world knows to put itself in condition for thinking its function ethics in delineating that it is not the pure reign of the uncontrolled fantasy, but that you carry in itself all the weight of its own «better» history. And it’s clear that such historical recapitulations, such memorial getting point of the roads of man, these intellectual and cultural going-backs in the history of the thought, all that find «fundamental value» just in what the future (the possible futures) attends to these incessant, inexhaustible reviews and re-examinations, to these conversations with the past. The difficulty of the task («keine andere philosophische Disziplin [ist] so weit von dem Ideal einer wirklichen wissenschaftlichen Begründung entfernt als die Ethik»56) that the same Kant had evidenced and «condemned»

55 56

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 228–229. Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 60.

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to the insolubility, equally does not leave escape to the liberal and libertarian Cassirer, who knows, on the wake of Herder and, still, Goethe, that for what some concern to «sciences of the spirit», it’s not a question of their «Sein»57, one deep and ontological layer, but to follow them, to smell them on the trace, and possibly to understand them in advance, observe them in their «Leistung»58 , on the course, the destiny. And then, Cassirer asked himself, taking note of the impossibility of a foundation of ethics by means of the canons of science and of the theory of knowledge more perceived, must we, for this reason «den ‹Bankrott› der Wissenschaft verkünden?»59 In others and more direct terms: «In welchem Sinne kann heute überhaupt noch von einer einheitlichen Kultur-Philosophie gesprochen werden?»60 Never forget man (!) because «‹Philosophische Anthropologie› heißt uns die Gesamtheit der Antworten, die die Philosophie im gesamten Verlauf ihrer Geschichte auf die Frage zu geben versuchen hat»61. In the course of its vicissitude, in the continuous, perpetual to busy itself about itself, the philosophy is «incarnated» time by time in the single man, from whose voice, but, echoed always, the «in toned» voice of the entire history of the most elevated reflections of the humanity on itself. Here, therefore, there is the ethic valence of the history of the philosophy and the history of the philosophy of the culture: an overspace and an overtiming dialogue, a dialogue which can unfold itself only like historical time of the human productivity, a unison of perspectives, places, indications, changing forms and plans on the issue: what is the man. A philosophy for the man is a philosophy which knows the inseparability of history and culture, is a philosophy which, placing on the base of its own one existing, the dynamicity and the lapsing of the historical time, succeeds in «to-make-history» also that facts which seemed very far from it. An example? The Darwinian theory of evolution: «So ist die ganze «Deszendenztheorie» im Darwin-Haeckelschen Sinne zwar auf Objekte der «Natur» (der Welt des Organischen) gerichtet – aber sie arbeitet durchaus mit historischen Begriffen und behandelt ein historisches Thema – Denn es wäre natürlich ganz willkürlich, das Historische, als Kategorie, auf die Menschengeschichte zu beschränken – das «Werden der Organismen» ist, wenn es im Sinne der Entwickungstheorie besteht, ein zeitlicher Verlauf – ein Prozeß hic et nunc[,] genau so wie das Werden des römischen Weltreiches – ein Geschehen, das sich auf dieser

Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939), in: ECW 22, 155. 58 Ibid. 59 Loc. cit., 164. 60 Ernst Cassirer: Grundprobleme der Kulturphilosophie (1939), in: ECN 5, 7. 61 Ernst Cassirer: Vorlesung und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6, 6 (emphasis added). 57

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unserer Erde abgespielt hat». 62 There is no one reason because, then, as «die Kultur ist immer und überall ein Reich der «Formen»»63 , and as «die Grundbegriffe der Kulturwissenschaft sind nicht Begriffe von Ursachen, sondern von Formen, Typen»64 , the passionate Cassirer’s researches of the methodological archimedical lever for an authentic science of the man and for the man, the philosophy of the culture, cannot and it does not have to be thought like the search to found ethics on the reflective character of the philosophy on itself, on the careful and taken care of the memorial happening of the metabolism of «Übergang von Form zu Form». 65 There is something more in these words, something that exceeds the correct remark, with regard to Cassirer, that «eine Theorie, die mit dem Prozeß der Symbolisierung zugleich den humanen Sinn von Zivilisierung überhaupt aufklärt, leistet schon von Haus aus, was eine philosophische Ethik leisten soll». 66 There is an element that still more penetrates in depth the ethical-theoretical weft of the process of symbolic-cultural understanding of human operating. This element is the possibility that the history of the philosophy (in the double sense that the history is a «thing of the philosophy», belongs to it for comprising origin and consanguinity, and that the philosophy is the same in its history) has already in its to put into effect and living, one its nature ethics, that it is legitimate to aspire to a real historical, experiential understanding, of how put in existence and to render communicable in communitarian shape that ideal of «the inner freedom» which is, according to Cassirer, the spiritual ethical apex in «Rationalismus» (Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant) on the wake of the Stoa. 67 Here we are therefore to the conclusive step of our short reflections: the inner freedom is «teachable», transferable, increasable, for garnishment or conviction, to the possible maximum number of men? That apex ethical ideal can be entirety foundation and directional goal of interrogating historian, shareable and acquirable from the human communities, without running, therefore, the risk of a political paternalism, or, vice versa, of one «dictatorship» of the culture? If it is permissible to see in the ability to interrogate historically the past, hurling at the same time towards the future, the form always-transforming-itself of the originally ethical system of the philosophy; and if, this ability, is the more own ability to the man

Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie, ECN 5, 91–92. Loc. cit., 94. 64 Ibid. 65 Loc. cit., 97. 66 Jürgen Habermas: Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, in: Dorothea Frede/Reinhold Schmücker (eds.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 79–104, here: 102. 67 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 79. 62 63

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(better: his «Grund- und Urfunktion»68 ), this wants to say that in Cassirer works an passionate and seeing «faith» in the potentialities of the Historical to transform itself and to model itself, time by time, on the today and on the tomorrow of the man («in allen großen Wendepunkten des Denkens und der Geschichte der Philosophie kehrt die anthropologische Frage in einer neuen, verwandelten, vertieften Gestalt wieder»69 ), and that this conceptual intense activity is the true and own «ethics form» of the historical function. But the confidant expectation of coming true of the historical upheavals cannot be left to govern itself alone; the government of this confidence into the historicity of philosophical interrogation has, in fact, a peculiar name, a name that, wanting at all costs historiographical to emphasize the stages of the cassirerian thought, returns still many years after the pages of the Philosophie der symbolischen Formen that we have read at the beginning of this essay: «Die Richtung auf die Zukunft, die ein konstruktives Moment in allem menschlichen Bewußtsein bildet, läßt sich durch den Ausdruck des ‹Willens› bezeichnen». 70 «Name» rich of history and glory, that one of the voluntas, a «faculty» completely separate, because, for a philosophy of the culture – for a philosophical valid culture for everyone – it is essential and irrevocable the look to the future, and one look hoping and exactly not only trusting but sage, operating, objectiving, one look loaded with the most noble weight of the past but to make of only training and not burden: «Auch wenn wir nicht nur auf alle metaphysischen Erklärungen des Willens verzichten, sondern es auch ablehnen, in ihm, gemäß der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts, ein eigenes ‹Seelenvermögen› zu sehen, ein Moment erhalten, das das Phänomen des ‹Wollens› als solches kennzeichnet und uns nötigt, in ihm eine Erscheinung sui generis zu sehen». 71 But which will? Which specific shape, in the exterminated horizon that of it has known to give the history of the western thought, has to assume this «completely peculiar phenomenon» in the potentialities of the human abilities. Here, in order to conclude, we want to point out as in I outline diriment of this phenomenon of the ethical attitude, the names of Goethe and Descartes are interlaced in harmonious and flat way. Seems to us that Cassirer has the intention – in justifying the An-sich-Selbigkeit of the will – to found its primacy in the field of public ethics, to donate them one «political» dimension in the higher sense of the term. Let’s wait and see. In order to begin, it is necessary «eine Betrachtung des schlichten phänomenologischen ‹Befundes› des Pfichtbewußtseins aus-

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Cassirer: Vorlesung und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 11. Ibid. Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 102. Loc. cit., 103 f.

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reicht, um hier die Grenze sicher zu ziehen»72 . This Befund that is called here in cause, is what gives a point of phenomenal approval which resists after the not-essential peelings, because «in der Pflicht liegt keinesweg allein das Moment des äußeren Zwanges; ja dieses letztere wird in ihr gerade überschritten und aufgehoben. Es ist ein aktives Sich-Binden, nicht eine bloß passive Gebundenheit». 73 Is not therefore accidental that Cassirer resumes the goethean inheritance just here, but transferring it on a moral plan, disowned to his great «ancestor»: «‹Pflicht›, so hat Goethe einmal pregnant und charakteristisch definiert: «wo man liebt, was man sich selbst befiehlt». In dieser Fähigkeit des Sich-Selbst-Befehlens erlangt der Wille erst seine eigentlich ethische Qualität». 74 If we don’t err, and beyond the «natural» company of Goethe, typically cartesian concepts return in this idea. In the IV. Meditation Descartes writes: «Nam si, exempli causa, facultatem intelligendi considero, statim agnosco perexiguam illam & valde finitam in me esse […]. Eadem ratione, si facultatem recordandi vel imaginandi, vel quaslibet alias esamine, nulla planem invenio, quam non in me tenuem & circuscriptam, in Deum immensam, esse intelligam. Sola est voluntas, sive arbitrii libertas,quam tantam in me experior, ut nullius majoris ideam apprehendam; adeo ut illa praecipue fit, ratione cujus immagine quandam & similitudinem Dei me referre intelligo». 75 This, «translate» in cassirerian terms, can mean only that the An-sich-Selbigkeit which the German philosopher claimed to the will, in comparison of all the other motions of joined the psychophisical human, represents something of unique in the equipment total with which the man places itself of forehead to the truth. But if there is therefore something that joins the slight knowledge of will of Cassirer and Descartes, enough to perhaps annex they a greater identity of that one hardly pronounced? We continue in the cartesian dictation, because ‹will›, not to case, is revealed amazingly synonymous of ‹freedom›: «[…] quia tantùm in eo consistit, quod idem vel facere vel non facere […] possimus, vel potius in eo tantùm, quod ad id quod nobis ab intellectu proponitur affirmandum vel negandum, sive prosequendum vel fugiendum, ita seramus, ut a nulla vi externa nos ad id determinari sentiamus» – just that moment of the conscience of the duty which Cassirer considered secondary. Descartes continues: «Neque enim opus est me in utramque partem ferri posse, ut sim liber, sed contra, quo magis in unam propendeo, sive quia rationem veri & boni in ea evidenter intelligo, sive quia Deus intima cogitationis meae

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Loc. cit., 104. Ibid. 74 Ibid. The reference from Goethe is derived by Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, here vol. 12, 518. 75 René Descartes: Meditationes de prima philosophia, A.T. VII, Paris 1968, 57 (emphasis added). 73

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ita disponit, tanto liberius illam eligo;nec sane divina gratia, nec naturalis cognitio unquam imminuunt libertatem, sed potius augent & corroborant». 76 Expressed in the liberal and layer way, that is own of the thinker and of the Cassirer man, to us seems to find again the same ideal universe and the same philosophical sensibility: the quality ethics eigentlich of which previously Cassirer it made mention, is that disposition of the wanting mind that it knows that when its deliberation is united with the longing to the right one, to the rectum, to the bond, does not diminish of a single gram the weight of the freedom and it does not move of a single mm. the measure of the human dignity. And it is on this selfnormativity that «auf ihr beruht das, was man sittliche «Persönlichkeit», was man die Einheit, die Geschlossenheit, die innere Konsequenz des Charakters nennt»77, because the one which, with traditional word is of use to name Wille. Then, it’s on this will «auf ihr beruht die Möglichkeit, daß eine hier und jetzt getroffene Entscheidung über den Einzelfall hinauswachsen, daß sie künftige Fälle «präjudizieren» kann». 78 It’s time to finish. It seems to us that just this decide-himself-in-orderto is the attitude that a «reason-at-work» has to adopt if not only said and thought in abstract, but which wants in concrete terms to be useful to a humanity, in its social and factually political declinations, in its articulated and complex shapes of cohabitation. The challenge of Cassirer seems to us to be that one to give again, in a way, right of a foreseeing citizenship to philosophical rationality, ethically set up, and that this rationality consists mainly in the ability of pre-judice finalistically (with all the risks, obvious, that that involves), and this is in the sense of the kantian ‹man-not-as-aimbut-as-average›, and this, in the sense that the prejudgment is tries more necessary one and noticed in how much preceded by the moral judgment on the «best» to obtain, to judge, in a radical sense, about the directionality to the future. Here «drückt sich darin vielmehr eine eigene und unentbehrliche «Intention» aus, die dem Gefühl als solchem mangelt. Und ebenso hebt sich die «prospektive» Richtung des Willens deutlich von der retrospektiven der Erinnerung und von der auf das Gegenwärtige gerichteten Funktion der Wahrnehmung und der gegenständlichen Anschauung ab». 79

76 77 78 79

Loc. cit., 57–58 (emphasis added). Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 104. Ibid. (emphasis added). Loc. cit., 104–105.

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Edmund Husserl: Edmund Husserls Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein, in: Martin Heidegger (Hg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, vol. IX, Halle 1928 William James: Principles of Psychology, vol. I–II, London 1902 Friedrich Meinecke: Die Entstehung der Historismus, in: Werke, Bd. III, hg. von Carl Hinrichs, München 1959 – Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. IV, hg. von Eberhard Kessel, Stuttgart 1959 – Geschichte und Gegenwart, in: Werke, Bd. IV – Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, in: Werke, Bd. IV Otto Gerhard Oexle: Geisteswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996 Peter Paret: »Ernst Cassirer und neuere Richtungen der Kulturgeschichte in den Vereinigten Staaten«, in: Enno Rudolph/Bernd Olaf-Küppers (eds.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 Fulvio Tessitore: Introduzione a lo storicismo, Bari 1991 – Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, vol. I-V, Roma 1995–2000 – Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Roma 2007 – Storicismo come filosofia dell’evento, Soveria Mannelli 2001 Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942

Sebastian Ullrich

Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹

I) Einleitung Ernst Cassirer hat sich Zeit seines Lebens um einen Dialog der Philosophie mit den Einzelwissenschaften bemüht. Waren es in der früheren Phase seines Werkes besonders die Disziplin der Geschichte der Philosophie und dann die physikalischen Naturwissenschaften sowie deren Wissenschaftstheorie, wendet er sich besonders in seiner späteren Schaffensperiode der Psychologie, Biologie und Entwicklungslehre zu. Allerdings ist Cassirer nicht der Meinung, daß die Aufgabe der Philosophie bzw. Kulturphilosophie darin bestünde, lediglich eine methodisch analog zu den Einzelwissenschaften verfahrende, interdisziplinäre Metatheorie zu entwickeln, auf einem positivistischen, nämlich entsprechend dem Modell der Wissenschaftstheorie gestalteten, oder letztlich gar unreflektierten Standpunkt. Mit Blick auf Cassirers Verhältnis zu den positiven Wissenschaften läßt sich vielmehr feststellen, daß Cassirer »zwar evolutionstheoretische, gestaltpsychologische etc. Ansätze zur Erklärung einzelner menschlicher kognitiver Leistungen nicht prinzipiell ablehnt, sie jedoch letztlich für seine philosophische Analyse symbolischer Modalitäten nicht in Anschlag bringt.«1 Dementsprechend zeigt nicht zuletzt ein Blick in Cassirers nachgelassene Fragmente zu einer »Metaphysik des Symbolischen«2, daß Cassirer durchaus ein »Bewußtsein vom methodischen Sonderstatus der Philosophie«3 hat. Im sogenannten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen findet sich in dem in Fragmenten vorliegenden Kapitel »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«4 ein kurzer Abschnitt über das Problem

1

Detlev Pätzold: »Ernst Cassirers Philosophiebegriff«, in: Hans Jörg Sandkühler/ Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, 45–69, Zitat: 65. 2 Vgl. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, 3 ff., insbesondere 261 ff. 3 Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, 46. 4 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 261 ff. – Daß es sich bei diesem Fragment um eine Arbeit von Cassirer handelt, die vermutlich auf den Anfang

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der »philosophischen Erkenntnis« – jedoch: Als durchreflektiert werden Cassirers Überlegungen diesbezüglich nicht empfunden. Recki spricht im Hinblick auf Cassirers Formel von der Philosophie als »Kritik u. Erfüllung der symbolischen Formen«5 von einer »rätselhafte[n] Formulierung« 6 ; Oswald Schwemmer behauptet gar, Cassirers Beanspruchung eines Sonderstatus der Philosophie »bleibt eine ungeklärte Hoffnung – weil Cassirer nämlich nicht sagt, wie seine Philosophie diese besondere Position erreichen kann.«7 Sieht man allerdings im Ausgang von Cassirers Notizen seine verstreuten Bemerkungen zu einer Methodologie der Philosophie durch, so nährt sich durchaus die Hoffnung, dieses Rätsel lasse sich doch lösen. Weil es aber natürlich möglich ist, daß Cassirer einen Begriff von »philosophischer Erkenntnis« hat, der als Zumutung empfunden wird, weil außerdem sein Verständnis von »philosophischer Erkenntnis« sicherlich sein gesamtes Philosophieverständnis und die von ihm verwendete Methode betrifft und prägt – die Recki zurecht als eine letztlich unbefrie-

der 1920er Jahre zu datieren ist, ändert nichts an seiner systematischen Bedeutung für das Ganze von Cassirers Philosophie. Der transzendentalphilosophische Standpunkt Cassirers kommt hierin ebenso deutlich zum Ausdruck, wie in der Einleitung zur Philosophie der symbolischen Formen (Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki. Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 11, Hamburg 2001, 1–49). Auch und gerade seine Theorie der Basisphänomene (vgl. ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 112 ff.; ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 und auch ders.: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 247 ff.), an der Cassirer vor allem Mitte der 1930er Jahre in systematischer Absicht gearbeitet hat, ist und bleibt ein transzendentalphilosophischer Systementwurf. Werkbiographisch läßt sich dies zunächst indirekt daran ersehen, daß aus der Zeit der Arbeit an den entsprechenden Entwürfen auch systematisch so bedeutsame Aufsätze wie besonders »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22, stammen. – Auch in »Critical Idealism as a Philosophy of Culture« (1936), in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 und »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem« (1935), in: a. a. O., reklamiert Cassirer ausdrücklich eine kantische Position für sich und bezeichnet in diesem (transzendentalphilosophischen) Sinne die Philosophie der symbolischen Formen als »Critical Idealism«. – In »Was ist ›Subjektivismus‹?« (1939), in: ECW 22, 169, sagt Cassirer beispielsweise ausdrücklich: »Ich selbst bin oft als ›Neukantianer‹ bezeichnet worden, und ich nehme diese Bezeichnung in dem Sinne an, daß meine gesamte Arbeit im Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ gegeben hat.« – Die Transzendentalität der Basisphänomene ist aber auch aus rein systematischen Gründen ersichtlich. Vgl. z. B. ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 9 ff., auch ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 123, 132. 5 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265. 6 Recki: Kultur als Praxis, 46. 7 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 65.

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digende, intuitiv verfahrende semi-empirische Methode charakterisiert 8 –, so müßte man sich im Anschluß an die Klärung dieses Problems wohl eher Gedanken machen, ob man den Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen im Ganzen für tragbar halten kann. Mit seiner Auffassung der »philosophischen Erkenntnis« kommt eine für das gesamte philosophische Erkennen konstitutive Reflexionsproblematik ins Spiel. Denn sie besteht für den Kantianer Cassirer letztlich in nichts anderem als der »Selbsterkenntnis der Vernunft«.9

II) Der methodische Sonderstatus der Philosophie Hier soll nun der Frage nachgegangen werden, worin jener methodische Sonderstatus der Philosophie, worin also das besondere Wesen der »philosophischen Erkenntnis als ›Selbsterkenntnis der Vernunft‹« besteht. Für Cassirer ist die Frage nach dem Selbstverständnis der Philosophie ein integraler Bestandteil ihrer selbst: »The concept of philosophy shows itself again and again as a problem of philosophy, as a problem which in itself never comes to rest, but which must always be undertaken anew in a continual dialectical movement of thought.«10 Die »Selbstbesinnung und Selbstrechtfertigung erstreckt sich nicht nur auf ihre Resultate, auf den Bestand bestimmter Lehrsätze, sondern sie richtet sich in erster Linie auf das Ganze ihrer Fragestellung und auf das Ganze ihrer Methode.«11 In dieser auf den methodischen Status der Philosophie gerichteten Hinsicht spricht Cassirer von der Rechenschaftsablegung der Philosophie.12 Weil also, wie Cassirer in seinem Vortrag Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs (1929)13 ausdrücklich betont, »die Forderung der Rechenschaftsablegung […] der Philosophie nicht von außen her auferlegt, sondern […] der reine Ausdruck ihres eigensten Wesens und ihres Grundproblems [ist]«14, kann dieses Problem nur im Zusammenhang mit der Frage erörtert werden, warum die »philosophische Erkenntnis« innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen einen solchen Sonderstatus beanspruchen muß.

Vgl. Recki: Kultur als Praxis, 45. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 264. 10 Cassirer: «The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem”, 50. 11 Ernst Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17, 342. 12 Ihre »Rechtschaffenheit« muß die Philosophie gemäß Cassirer dabei wörtlich, nämlich im ethischen Sinne erweisen, vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 128. 13 Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, ECW 17, 342–359. 14 A. a. O., 342. 8 9

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Damit geht es Cassirer für seinen »symbolischen Idealismus« um die Frage der Wahrheit der Philosophie. Demgemäß faßt Cassirer »die Frage nach der Begriffsbestimmung der ›Wahrheit‹ selbst«15 nicht nur als philosophiehistorisch interessante Fragestellung, sondern als zentrales Problem des Philosophierens selbst auf: »[E]s giebt ein εἶδοϚ der Wahrheit[.]«16 »Alle Begriffsbildung, an welchem besonderen Problem sie auch einsetzen mag, ist zuletzt durch ein Grund- und Leitziel hingewiesen, ist auf die Bestimmung der ›Wahrheit schlechthin‹ gerichtet. Alle besonderen Setzungen, alle einzelnen Begriffsstrukturen, sollen sich zuletzt einem einheitlichen allbefassenden Denkzusammenhang einfügen.«17 Das philosophische Erkennen steht somit in der Pflicht, »Entscheidung zu treffen« hinsichtlich »der ›Einen‹ Wahrheit«.18 Die Wahrheit, die freilich in jeder symbolischen Form gleichsam durch ein anderes Medium erblickt wird – weiter unten wird in diesem Sinne der Begriff der formimmanenten Geltungskriterien eingeführt –, ist für Cassirer konstitutives, und nicht bloß regulatives, Ideal jeden Wissensgebietes: »Without the claim to an independent, objective, and autonomous truth, not only philosophy, but also each particular field of knowledge, natural science as well as the humanities, would lose their stability and their sense.«19 Die systematische Verbindung zwischen dem Ideal der »›Einen‹ Wahrheit« und der Pluralität formimmanenter Geltungskriterien gelingt Cassirer – darauf kann hier nur hingewiesen, nicht aber eingegangen werden – mittels seiner Konzeption des »funktionale[n] Wahrheitsideal[s]«. 20 Rechtfertigung bzw. Rechenschaftsablegung der Philosophie – womit schon vorderhand ein wesentliches Kriterium philosophischen Erkennens erreicht ist – besteht folglich in einer methodologischen Selbstaufklärung. Es muß sich der methodische Sonderstatus der Philosophie bewähren, indem Einsicht in die Geltung des sich vollziehenden Philosophierens vollzogen wird. Dies geschieht im Vollzug der philosophischen Reflexion; denn wer philosophische Aussagen über die Formen des Lebens machen will, und zwar nicht nur empirisch-einzelwissenschaftliche oder auch interdisziplinär aufzugliedernde, der erhebt damit einen bestimmten Anspruch: nämlich daß das Philosophieren ein Erkenntnisvollzug sui generis sei.

15

Ernst Cassirer: »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 9, 139. 16 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 191. 17 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 327. 18 Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 148. 19 Cassirer: »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem», 61. 20 Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, ECW 17, 357.

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Damit erscheint Cassirers lakonische Antwort auf die Frage nach dem Sonderstatus der Philosophie sogleich weniger rätselhaft. Im systematischen Horizont der Selbstbefragung der Philosophie auf ihre »philosophische[-] ›Rechtschaffenheit‹«21 ist Cassirers Bestimmung der »Metaphysik des Symbolischen« als »Kritik u. Erfüllung der symbolischen Formen« zu lesen, die »sich gegen den transzendenten ›Gegenstand‹ wendet«, sofern »sie über die Sinnbildlichkeit des ›Zeichens‹ hinausstrebt, auf ›Elimination‹ des Zeichens u. auf Gewinn der zeichenlosen ›adaequaten‹ Erkenntnis geht[.]«22 Diese Bestimmung bleibt freilich unter den dargelegten methodischen Voraussetzungen aufzuklären, denn Cassirer beansprucht hier allen Ernstes, daß die »philosophische Erkenntnis« etwas anstrebt, was sie nach ihrer eigenen Einsicht faktisch nicht erreichen kann. Cassirer schreibt auf demselben Blatt: »Wir können […] nicht […] die Hülle der Symbolformen von uns werfen und nun das ›Absolute‹ von Angesicht zu Angesicht schauen[.]«23 Offensichtlich legt Cassirer mit dem Gedanken der Rechenschaftsablegung der Philosophie seine methodische Forderung im kantischen Verständnis der Frage nach dem quid juris24 an: »Denn wie die reine Erkenntniskritik im besonderen, so fragt die Philosophie der symbolischen Formen im ganzen nicht nach d[-]er empirischen Herkunft des Bewußtseins, sondern nach seinem reinen Bestand. […] Wir stehen im Kreise der allgemeinen ›transzendentalen‹ Frage: im Kreise derjenigen Methodik, die das ›quid facti‹ der einzelnen Bewußtseinsformen nur zum Ausgangspunkt nimmt, um nach ihrer Bedeutung, um nach ihrem ›quid juris‹ zu fragen.«25 – Auch wenn dies zunächst ein etwas paradox anmutender Befund ist, so bleibt doch jedenfalls festzuhalten, daß die Wahrheit als Problem des symbolischen Idealismus im »Blickpunkt«26 des philosophischen Erkenntnisstrebens liegt und zwar insofern, als es in der »Selbsterkenntnis der Vernunft«27 um die »Wahrheit schlechthin« geht, die in der »zeichenlosen, ›adaequaten‹ Erkenntnis«28 zur Geltung kommen soll. Wir müssen uns nämlich, als philosophierende Subjekte – darauf ist noch einzugehen –, »in der letzten höchsten Einsicht […] zur Geltung erheben[.]«29

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 128. A. a. O., 265. 23 Ebd. 24 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bde. III und IV, A 84 ff./B 116 ff. 25 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 54. 26 Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 13; vgl. dazu auch a. a. O., 24. 27 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 264. 28 A. a. O., 265. 29 A. a. O., 271. 21

22

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Was zunächst das (scheinbare) Paradoxon angeht, so ist freilich daran festzuhalten, daß auch in der Philosophie der symbolischen Formen nichts Widersprüchliches oder Inkohärentes behauptet werden darf. Unterhalb der »Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit der Beschreibung«30 müßte hier gar nicht mit dem Versuch angefangen werden, für irgendetwas zu argumentieren. Damit lassen wir uns im Philosophieren immer schon auf Cassirers Kriterien für Wissenschaftlichkeit ein. Und Philosophieren ist immer ein sprachlicher Vollzug. Im faktischen Vollzug unterliegen wir als philosophierende Subjekte also dem »Zwang der Symbolik«.31 Ohne die »Anwendung einer positiven Form, einer positiven ›Sprache‹«32 könnten wir noch nicht einmal einen Sonderstatus für die Philosophie beanspruchen. Philosophische Erkenntnis ist also jedenfalls wissenschaftliche Erkenntnis, die sprachlich vermittelt ist. Die Philosophie »schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das, was sie sind: als eigentümliche symbolische Formen.«33 Für den Status der Philosophie gilt also jedenfalls, daß diese nur als Erkenntnisvollzug verstanden werden kann. Um den reklamierten methodischen Sonderstatus der »philosophischen Erkenntnis« verstehen zu können, werfen wir deshalb zunächst einen Blick auf Cassirers Verständnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und damit werkbiographisch gesehen zurück in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910).34

III) Die Form der Erkenntnis Erkenntnis im strengen Sinne ist gültiges Wissen. Das heißt, es gibt dann eine Aussicht darauf, daß unsere Begriffe und Theorien wahr sind, also Erkenntnisse darstellen, wenn sie objektiv gültig sind. Unsere Begriffe und Theorien empfangen aber »nicht dadurch ihre Wahrheit, daß sie Abbilder an sich vorhandener Wirklichkeiten sind, sondern dadurch, daß sie ideelle Ordnungen ausdrücken, die den Zusammenhang der Erfahrung herstel-

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 4. 31 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265. 32 Ebd. 33 A. a. O., 264. – Cassirer spricht von »früheren« Modalitäten. Denn der faktische Lebensvollzug, der sich immer in bestimmten symbolischen Formen vollzieht, ist die faktische Voraussetzung dafür, daß überhaupt philosophiert werden kann; die symbolischen Formen haben insofern gegenüber dem Philosophieren eine Priorität, die, je nach Standpunkt, historisch oder psychologisch ausgelegt werden kann. 34 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6. 30

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len und verbürgen.«35 Das Wissen von einem Zusammenhang ist nicht dadurch eine Erkenntnis, daß es eine Abbildung gegebener Verhältnisse bzw. eine Angleichung des Wissensbildes an eine vorgegebene Objektivität ist. Wissen kommt vielmehr überhaupt nur dadurch zustande, daß sich eine ideelle Ordnung objektiv ausdrückt, wozu es kommt, sofern die in der Konstitution des Wissensbildes tätige geistige Energie die entsprechende »ideelle Ordnung« intendiert bzw. zum Ziel hat. »Dieses Ziel«, so Cassirer, »mag auf keiner gegebenen Stufe des Wissens vollständig erreicht sein: Als Forderung bleibt es nichtsdestoweniger bestehen.«36 Die geistige Energie ist in ihrem Zielen auf die entsprechende »ideelle Ordnung« folglich ein intentionaler Akt. Cassirer betont ausdrücklich, daß jeder mögliche Wissensakt eine solche »ideelle Ordnung« intendiert, daß also jedes mögliche Wissensbild insofern ein wesentlich Erkenntnis intendierendes Bilden ist: »Es gibt keinen Akt des Wissens, der nicht auf irgendeinen festen Gehalt von Beziehungen, als seinen eigentlichen Gegenstand gerichtet wäre; wie andererseits dieser Bestand sich nicht anders als in Akten des Wissen belegen und zum Verständnis bringen läßt.«37 Der »feste Gehalt von Beziehungen«, so läßt sich paraphrasieren, ist die »ideelle Ordnung«, die in jedem Wissensakt notwendig als »Forderung« Bestand hat. Und wie gesagt hat Erkenntnis da statt, wo Zusammenhänge, die der entsprechenden ideellen Forderung gemäß gestaltet sind, objektiv zum Ausdruck kommen. »Die [geistige] Tätigkeit selbst ist es somit, aus der die Anerkennung eines dauernden Bestandes von Wahrheiten quillt.«38 Cassirer identifiziert entsprechend die geistige Tätigkeit, die sich selbst dazu bestimmen muß, bestimmte konstitutive Forderungen im Wissen anzuerkennen, damit Erkenntnis überhaupt möglich ist, als Spontaneität.39 Die Energie des Geistes vollzieht sich an einer an sie aus einer ideellen Ordnung ergehenden Forderung. Diese Analyse der geistigen, Erkenntnis intendierenden Tätigkeit bezeichnet Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff genauso wie in seinem Nachlaß als die »›genetische‹ Ansicht der Erkenntnis«.40 Freilich gilt diese innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen nicht nur für die Form der wissenschaftlichen Erkenntnis im engeren Sinne, sondern »für jede Form, jede geistige ›Energie‹«.41 In seinem Hauptwerk, in der Philosophie der symbolischen Formen, bringt Cassirer seine entsprechende

35 36 37 38 39 40 41

A. a. O., 345. A. a. O., 290. A. a. O., 341. A. a. O., 343. Vgl. ebd. A. a. O., 341, vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 249. Ebd.

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Vorstellung von der Grundform des geistigen Vollzugs in jeder symbolischen Form in einer trefflichen Formel auf den Punkt: In den durch die symbolischen Formen in jeweils unterschiedlichen »Modalitäten der Sinngebung«42 gebildeten Zusammenhängen »erfaßt der Geist den ›Gegenstand‹, indem er dabei zugleich sich selbst und die eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt.«43 Symbolische Formen sind in diesem Sinne »nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung, verfolgt.«44 Ein Charakteristikum von Ernst Cassirers philosophischem Entwurf ist es bekanntlich, daß er eine nichtreduzierbare Pluralität an symbolischen Formen bzw. eine Mehrdimensionalität der geistigen Welt annimmt.45 Es gilt also nicht nur für das theoretische Wissen im engeren Sinne, sondern für jedes, im Modus der verschiedenen symbolischen Formen mögliche Wissensbild: Es kann darin in der genetischen Ansicht jeweils »ein immanentes Kriterium aufgewiesen werden, durch welches es seiner Gesetzlichkeit und Notwendigkeit und damit seiner objektiven Geltung versichert wird.«46 Gibt es aber eine Pluralität symbolischer Formen, so gibt es auch eine Pluralität entsprechender immanenter Kriterien für objektive Geltung. Mit Bezug auf diese immanenten Kriterien der objektiven Geltung wird hier kurz von formimmanenten Geltungskriterien gesprochen. Diese formimmanenten Geltungskriterien sind jeweils ein »›a priori‹ für die einzelnen Gebilde«47 des sich selbst offenbar werdenden Geistes. Als philosophische »Aufgabe«48 ergibt sich entsprechend für Cassirer, »jede dieser Formen zugleich in ihrer Individualität und in ihren systematischen Beziehungen zu erfassen, so daß in ein und derselben Bestimmung ihre Eigenart gesichert und ihre Stellung innerhalb […] der Totalität der geistigen Auffassungsweisen, bezeichnet [wird].«49 Jede symbolische Form formiert sich mit konstitutivem Bezug auf ein jeweiliges formimmanentes Geltungskriterium (das als solches in den Untersuchungen der »kritischen Phänomenologie«50 ans Licht zu bringen ist). Im jeweiligen formimmanenten Geltungskriterium hat die geistige Energie

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 230. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 23. 44 A. a. O., 7. 45 Vgl. a. a. O., 15; Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 263. 46 Ernst Cassirer: »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9, 299. 47 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 250. 48 Vgl. zu Cassirers Begriff der Aufgabe: Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 212, 245. 49 Cassirer: »Goethe und die mathematische Physik«, ECW 9, 307. 50 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 16; ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), in: ECW 16, 179. 42 43

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an der »›Einen‹ Wahrheit« teil, die unter der Voraussetzung der jeweiligen formkonstitutiven »Kategorien«51 in jeweils anderer »Gestalt«52 erscheint. Cassirer bezeichnet die symbolischen Formen auch als »geistig-ethische Vollzugseinheiten, die von dem geistigen Subjekt aufzubauen sind.«53 Im Sinne von »reine[n] Vollzugseinheit[en]«54 unterliegen insofern die symbolischen Formen, betrachtet man sie im transzendentalen Verständnis als »Bewußtseinsformen«55 , einer sich jeweils spezifisch aufprägenden Forderung nach logischer Einheit des Sinns, wobei gilt »Sinn = Einheit statt substanzielle Einzelheit«. 56 Cassirer sieht die Gefahr, die aus dieser zunächst paradox anmutenden Auffassung erwächst und zeigt die Lösung auf: »Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest, so droht zuletzt in der Allgemeinheit der logischen Form die Besonderung jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen – versenken wir uns dagegen in ebendiese Individualität und bleiben wir bei ihrer Betrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu verlieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu finden. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden, wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt.«57 Das gesuchte »Medium« der philosophischen Erkenntnis erweist sich als der lebendige Vollzug des Philosophierens selbst und wird gefunden, indem man es tut.

IV) Philosophische Geltung Das Philosophieren strebt als spezifischer Erkenntnisvollzug Geltung an. Zugleich soll aber auch gelten, daß die Philosophie keine neue schöpferische Modalität begründet – »aber sie begreift die früheren Modalitäten als das, was sie sind: als eigentliche symbolische Formen.«58 Es soll entsprechend gelingen, in der Reflexion auf das quid juris der Philosophie selbst einen spezifischen Begriff der Geltung zu etablieren. Vermittels der

Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 5, 270; auch ders.: Geschichte. Mythos, ECN 3, 196. 52 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 14; vgl. auch ders.: Geschichte. Mythos, ECN 3, 249. 53 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 248. 54 Ebd. 55 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 54; vgl. ›transzendentales Verständnis‹ in: Ernst Cassirer: »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16, 123. 56 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 248. 57 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 14. 58 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 264. 51

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in diesem Begriff zur Geltung kommenden Idee wird zugleich die Rechtmäßigkeit aller philosophischen Behauptungen erwiesen, mithin auch aller Erträge der Analysen der »kritischen Phänomenologie« im Hinblick auf ihre Methode. Mithin soll in solcher philosophischen Reflexion eine Einsicht erreicht werden – die, nebenbei bemerkt, die »Metaphysik des Symbolischen« im engeren Sinne von der »kritischen Phänomenologie« abgrenzt: »In der letzten höchsten Einsicht müssen wir uns freilich zum Begriff der Geltung erheben; aber wir können darum nicht auf den Begriff des Lebens verzichten! Im Gegenteil: er ist der letzte – ein Leben selbst, an dem wir in wandelbaren Symbolen ›teilhaben‹!«59 Philosophieren ist somit als ein Vollzug ausgezeichnet, der den Begriff der Geltung und den Begriff des Lebens in einer umfassenden Einsicht, und zwar mit Blick auf jedes mögliche formimmanente Geltungskriterium, zur Geltung bringen soll. Philosophieren ist insofern, um hier das Entscheidende zusammenzufassen, ein »philosophische Erkenntnis« intendierender Formvollzug bzw. Lebensvollzug, der als solcher dem faktischen »Zwang der Symbolik« – also den Bedingungen, die sich der »genetischen Ansicht« als konstitutiv notwendig darstellen – freilich faktisch nicht entgehen kann. Die Aufgabe der Philosophie, wie sie sich gemäß Cassirer stellt, impliziert aber eine besondere Anmutung an das Denken: Es soll durch die faktische Notwendigkeit spezifischer Formen auf die ideale Gestalt und Bewegung des grundlegenden Vollzugs des Lebens »als eines geistigen Prozesses« 60 in seiner Einheit gesehen werden: »Was zu fordern ist, ist […] die […] Einheit des Geistes, der geistigen Energie als solcher in aller Verschiedenheit der ›symbolischen Formen‹.« 61 Was mit Cassirer also zu fordern ist und dabei allen Ernstes philosophisch behauptet wird, ist die Einheit des Geistes, die im Gegensatz zur faktischen Pluralität der Formen der Selbstoffenbarung des Geistes sich entsprechend als transformale Einheit bewähren muß. Würde nicht davon ausgegangen werden, daß eine solche transformale »Einheit des Geistes« zu Recht postuliert wird, so würde zugleich die philosophische Rede von verschiedenen symbolischen Formen ihren Sinn verlieren. Denn in einer fiktiven Philosophie, die, wie eben Ernst Cassirers symbolischer Idealismus 62 , die symbolischen Formen aus sich selbst heraus verstehen will, indem sie diese dabei auf ihre »Kategorien« hin durchschaut, würden ohne Beanspruchung eines gültigen Nachvollzugs dieser transformalen Einheit des Geistes alle behaupteten Strukturen selbst auch nur im Geltungsbereich der in diesem Behaupten bezogenen (bzw. behaupteten)

59 60 61 62

A. a. O., 271. A. a. O., 266. A. a. O., 262. Vgl. a. a. O., 261.

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symbolischen Form verbleiben. Dann müßte aber der Anspruch fallen gelassen werden, daß überhaupt irgendetwas über jeweils andere symbolische Formen, z. B. den Mythos oder die Kunst, philosophisch ausgesagt werden könnte. Mittels Reflexionsbegriffen wie »geistige Energie« oder »ideelle Ordnung« könnte, wenn überhaupt, nur innerhalb der symbolischen Form des wissenschaftlichen Denkens und nur zur Analyse dieser Form selbst argumentiert werden, und es gäbe keinen Anlaß zum Glauben an die Berechtigung, ebenso auch vermeintliche andere Formen des geistigen Lebens zu analysieren. Alle Untersuchungen und Argumentationen, die in diesem engeren Sinne von Wissenschaftlichkeit verbleiben, sind aber entweder empirisch oder formal (im Sinne von Logik und Mathematik). Kann die Einheit des Geistes aber zugleich nur in der »Verschiedenheit der symbolischen Formen« eingesehen werden, wie es die Philosophie der symbolischen Formen will, und soll in der Philosophie zudem noch die »Totalität der geistigen Auffassungsweisen« selbst zum Thema gemacht werden können, so muß die »philosophische Erkenntnis« intendierende Reflexion also für sich beanspruchen, einen zwar faktisch wissenschaftlichsprachlichen, aber nichtsdestotrotz einen ideell transformalen Lebensvollzug zu realisieren. Cassirer jedenfalls behauptet in seinen »genetischen« Analysen der Symbolformen eine transformale Identität der Vollzugsform der symbolischen Form als solcher. Eine solche Behauptung kann sich überhaupt nur als rein philosophische Aussage artikulieren, denn sie läßt sich nicht mit Blick auf den faktischen Bestand bzw. die Empirie im noch so weiten Sinne gewinnen, und war aus zwei Gründen, die analytisch zu unterscheiden sind: Erstens, weil diese Behauptung den rein apriorischen Vollzug betreffen soll und eine solche Aussage niemals aus der Faktizität gewonnen werden könnte. Zweitens, weil diese transformale Identität der geistigen Energie zugleich als Bedingung der Möglichkeit des »Sehens« 63 überhaupt, und damit in eins als Bedingung der Möglichkeit des diese Identität sehenden philosophischen Sehens behauptet wird. Die Behauptung solcher Identität kann also nicht in der Immanenz einer bestimmten symbolischen Form gemacht werden, weil sie dann schließlich nur innerhalb dieser Form Gültigkeit beanspruchen könnte; mithin wäre gerade eine transformale Identität nicht behauptet – das, jedenfalls das Cassirer’sche, Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen bzw. eines symbolischen Idealismus würde als ein in sich sinnleeres Unterfangen in sich kollabieren.

63

Vgl. a. a. O., 28, 214; Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 249.

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V) Philosophische Reflexionsbegriffe Cassirers Philosophiebegriff beinhaltet also, um hier wiederum das Entscheidende zusammenzufassen, eine Konzeption von »philosophischer Erkenntnis«, die sich, im methodischen Gegensatz zu den sich an formimmanenten Geltungskriterien formierenden geistigen Lebensvollzügen im Modus bestimmter, symbolischer Formen, zugleich als ein ideell transformal gültiger Lebensvollzug behauptet. Einen solchen transformalen Lebensvollzug der philosophischen Reflexion realisieren wir, so Cassirer, »indem wir jede[-] [symbolische Form] an [ihrer] Stelle begreifen und [sie] durch andere als begrenzt u. bedingt erkennen.«64 Um den Anspruch auf eine Selbstüberschreitung des Denkens hin zu einem solchen Denken transformaler Einheit zunächst provisorisch zu rechtfertigen, verweist Cassirer auf die Tendenz zur Selbstüberschreitung, die jeder symbolischen Form eigen sei: »Diese Tendenz ist eingeleitet in den einzelnen Symbolformen selbst. Sie alle wenden sich im Fortschritt gegen das eigene ›Zeichensystem‹ selbst – so Religion gegen Mythos, Erkenntnis gegen Sprache, wissenschaftlicher Ursachenbegriff gegen sinnlich-anthropomorph-mythischen Ursachenbegriff etc.« 65 Hier interessieren nur die rein methodologischen Implikationen dieser Behauptung. Der philosophischen Reflexion eröffnet sich dadurch nämlich die postulierte Möglichkeit, sich mittels spezifischen »Reflexionsbegriffen« 66 ideell über die faktische Unentrinnbarkeit aus den positiven Formen zu erheben, um so Rechtmäßigkeit – das quid juris – ihres eigenen Vollzugs zu beanspruchen. »Lösen können wir uns von diesen Formen nicht, obwohl uns der Drang dazu an- und eingeboren ist […], aber wir können und müssen ihn in seiner relativen Notwendigkeit begreifen und einsehen.« 67 Das faktische Erkennen ist und bleibt somit im Kleist’schen Marionettentheater gefangen: In allen symbolischen Formen, also in allen Lebensvollzügen, gibt es konstitutive Relationen; und in allen Vollzugsweisen liegen diese ›im Rücken‹. Allein die Philosophie beansprucht eine spezifische Transzendierung der Faktizität und damit einen ihr eigenen Hintereingang auf die Bühne des Kleist’schen Marionettentheaters. Cassirer spricht hier unter Verwendung einer klassischen philosophischen Metapher von der »Wendung des Blicks« 68 , so daß der »reine Blickstrahl, der auf das

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Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265. Ebd. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 11. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265. A. a. O., 140.

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Leben fällt« 69 in einem methodischen »Rück-Blick«70 die Konstitution seiner »Selbstoffenbarung«71 nachvollziehen kann. Im philosophischen Vollzug muß sich dies mittels spezifischer Reflexionsbegriffe vollziehen. Diese lassen sich mit Cassirer in Anschluß an Kant als methodische, reflexionsimmanente Begriffe rekonstruieren. In der Kritik der reinen Vernunft sind die Reflexionsbegriffe nicht auf Objekte bezogene Begriffe, sondern erfassen in der Reflexion vielmehr ein Verhältnis der Erkenntnisvermögen (Verstand, Sinnlichkeit, Vernunft) zum Gemüt im transzendentalen Sinne. 72 Reflexionsbegriffe sind die »Mittel«73 des sich formierenden, philosophischen Erkenntnisstrebens. Die Mittel eines Denkaktes können freilich nur Begriffe sein, mittels derer es über seine Gehalte und insofern über das Verhältnis seiner selbst als sich vollziehender Subjektivität zu seinem sich in diesem Vollzug als objektiver Gegenständlichkeit einstellenden Gehalt reflektiert. Die Reflexionsbegriffe, die für Cassirers methodologisches Verständnis der Philosophie benötigt werden, sind insofern ganz im Sinne Kants zu gewinnen aus der Vergleichung unseres subjektiven Vermögens, Erfahrungen zu machen, mit den sich in diesen Erfahrungen realisierenden Formen von möglicherweise begegnenden grundlegenden Fakten als dem objektiven Gehalt der Erfahrung. Damit gehen wir im Vollzug solcher Reflexion zugleich auf die subjektiven Bedingungen als Grundlage des Philosophierens zurück, unter denen wir allein zu den Strategien des Vorstellens und Denkens (Hubig) gelangen können, mittels derer wir, indem wir entsprechende Erfahrungen machen, jener Fakten der Erfahrung habhaft werden können. Über diese muß das denkende Subjekt bewußt – und das heißt natürlich im Rahmen einer philosophischen Systematik – verfügen können. Nach Kant hat es die »Überlegung (reflexio)«74 insofern nicht »mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu

69

A. a. O., 214. A. a. O., 213. 71 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 7. 72 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 260/B 316. 73 Wenn hier von Mitteln der Reflexion die Rede ist, so ist dabei daran zu erinnern, daß das naive Bewußtsein nicht geradehin Vorstellungen von Mitteln haben kann. Vielmehr gewinnt das Bewußtsein den Zugang zu seinen Mitteln in »Abduktionen« bzw. »abduktiven Schlüssen«, wie Christoph Hubig: Die Kunst des Möglichen I. Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006, 107 ff., bes. 125 ff., im Anschluß an das Teleologie-Kapitel in Hegels Wissenschaft der Logik gezeigt hat; vgl. auch Christoph Hubig: Mittel, Bielefeld 2002. Die Spuren des Scheiterns in der Verwendung von Mitteln erlauben Rückschlüsse bzw. Abduktionen auf die objektive Zweckmäßigkeit von unter der Vorstellung subjektiver Zwecke zunächst konzeptueller Mittelhaftigkeit des jeweils herangezogenen Materials. 74 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 260/B 316. 70

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anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können.«75 Reflexionsbegriffe in diesem Verständnis repräsentieren entsprechend das »Verhältnis[-] gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen, durch welche[-] allein ihr Verhältnis unter einander richtig bestimmt werden kann.«76 Cassirer denkt die Reflexionsbegriffe ganz analog, wenn auch selbstverständlich nicht mit den aus der systematischen Architektur der Kritik der reinen Vernunft herrührenden Einschränkungen. Das, was die Reflexionsbegriffe meinen, sind nach Cassirer dementsprechend »keine absoluten Seinspotenzen mehr, sondern sie dienen der Bezeichnung bestimmter Bedeutungsdifferenzen und Bedeutungsstrukturen.«77 Die Reflexionsbegriffe bei Cassirer können folglich als Mittel des philosophischen Erkenntnisvollzugs verstanden werden, mit denen das Verhältnis der symbolischen Formen zum immer schon als »Prozeß des geistigen Lebens« erscheinenden Geist zur Geltung gebracht wird. Hierin gründet systematisch Cassirers Feststellung, daß das »Rechenschaft ablegen« der Philosophie nur als ein im Philosophieren mitlaufendes Unterfangen möglich ist. Um das wesentliche Verhältnis von durch die symbolischen Formen erscheinendem Leben einerseits und Geist andererseits mittels der Reflexionsbegriffe zu konzipieren, muß die »philosophische Reflexion« mittels ihrer Reflexionsbegriffe in den »Mittelpunkt« der reinen Relationen78 als solchen bzw. des notwendigen »Relationsgefüge[s]«79 des erscheinenden Geistes blicken. Vom Zwang der Symbolik befreit sich die philosophische Erkenntnis dabei ideell, indem sie das »Umschlagen« des »Lebens« in den »Geist«, wie Cassirer an anderer Stelle, in kritischem Anschluß an biologistische Überlegungen, formuliert80 , zu ihrer eigenen Maxime macht: Wohlgemerkt ist der »Drang« dazu uns »an- und eingeboren« und »wir können und müssen ihn in seiner relativen Notwendigkeit begreifen und einsehen«. Insofern versteht Cassirer Philosophieren im Sinne von »Kritik u. Erfüllung« als eine ideelle Selbstüberschreitung der Faktizität des Denkens hin auf die reine Aktualität des Geistes in seinem Selbstvollzug. Das Bestreben der »philosophischen Reflexion«, die Tendenz zur Selbstüberwindung der symbolischen Formen sich gleichsam zur Maxime ihres eigenen Vollzugs zu machen, führt insofern auf die Erkenntnis ermöglichende Anschauung der prinzipiellen Form der Totalität des Lebens.

75 76 77 78 79 80

Ebd. Ebd. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 11. Vgl. Cassirer: »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem«, 52. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 367. Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 250.

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Es muß dazu, wie gesagt, das sich aus der Einheit des Geistes in seiner Selbstoffenbarung entfaltende »Relationsgefüge« an symbolischen Formen nachvollzogen werden, um das jeweilige Verhältnis aller notwendigen Bestimmungsstücke des geistigen Lebens zu begreifen. »Das ›Absolute‹ ist immer nur das vollständige, das durchgeführte u. systematisch überschaute Relative – u. besonders die Absolutheit des Geistes will u. kann nichts anderes sein.«81 Nur der Selbstvollzug der philosophischen Erkenntnis mittels der entsprechenden Reflexionsbegriffe, die sich dabei als Bilder des »Relationsgefüges« der geistigen Gebilde erweisen, kann eine solche systematische Gesamtschau des immer relativ zueinander Realisierten, möglich machen. Der Gesamtzusammenhang, der als »Absolutes« der Philosophie mittels der Reflexionsbegriffe in den Blick kommt, ist dann das Bild der reinen geistigen Tätigkeit, welche in der Gesetzmäßigkeit ihrer Selbstentfaltung und den Bedingungen ihrer Selbstdifferenzierung durchschaut werden soll. Nur so kann dann schließlich auch die (prinzipiell mögliche) Stelle jeder symbolischen Form innerhalb ihres Gesamtzusammenhangs82 verstanden werden. Denn das Ganze geht seinen Momenten immer voran: Die Momente des sich in sich differenzierenden geistigen Lebens lassen sich de jure nur aus der als solchen zu konzipierenden »letzten höchsten Einsicht« in die prinzipielle Totalität des Lebens verstehen. Die Aktualität des Geistes ist nichts anderes als das, was jeder in einem Werk bzw. Zeichen sich manifestierenden symbolischen Form als Tendenz zur Selbstüberschreitung, nämlich zum (reinen) Sinn hin, eignet. Es ist diese ideale Bewegung des Geistes als Selbstbewegung, die in der »zeichenlosen, ›adaequaten‹ Erkenntnis« eingesehen werden soll. »Die ›Adaequation‹ betrifft hier nicht den Gegenstand, sondern den Prozeß der Bewegung selbst.« 83 – »Das ist die einzig mögliche ideelle Befreiung vom Zwang der Symbolik.« 84 VI) Der philosophische Lebensbegriff Für Cassirer ist dabei das Höchste, das ergriffen werden kann, das Leben – der Begriff des Lebens in diesem systemkonstitutiven Sinne ist, wie gesagt, »der letzte«. Der Lebensbegriff in Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« meint das Leben als Totalität aller möglichen Freiheitsakte überhaupt. Leben muß gedacht werden als Selbstentfaltung in die, freilich als reale, weil objektivierbare, Möglichkeiten konzipierte Mannigfaltigkeit

81 82

A. a. O., 265. Vgl. auch Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13,

VIII. 83 84

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 264. A. a. O., 265 (erste Hervorhebung SU).

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möglicher Erscheinungsrealität überhaupt: Leben wird von Cassirer verstanden als »unendliche Formungsmöglichkeit, als Potenz zur Form«85 und zwar in dem Sinne, daß es sich in freien Akten geistigen Setzens86 selbst bestimmt. Die Funktion des Symbolisierens wird demgemäß in Cassirers symbolischem Idealismus als geistiges Bilden87 verstanden. Dieses geistige Bilden besteht darin, mögliche Sinnverknüpfungen88 hervorzubringen, und zwar im Bezug des Bildens auf sich selbst als ideellem Grund jeglicher Erscheinung von Realität.89 Die Sinnverknüpfungen sind als jeweils dynamisch zu konzipierender ordo ordinans90 die geistigen Mittel, durch die »Wirklichkeit« als solche »entdeckt«91 wird. Das Bilden projiziert92 dabei das jeweilige Bild seines eigenen Vollzugs als formale Struktur des objektiven Bestandes, der als der Anteil des Gegebenen der Realität erscheint.93 Das Leben des Bildens erscheint folglich gemäß Cassirer als ein ständiges, immanentes Übergehen94 von unendlicher Formungsmöglichkeit bzw. Bestimmbarkeit, der forma formans, zur Bestimmtheit der objektivierten Form bzw. forma formata95, wobei sich in der objektivierten Form als Ziel und Ende96 des jeweiligen, sich durchbestimmenden Bildens, das damit als schöpferisches Wirken konzipiert wird, zugleich die Aufgabe97 zu erneuter Objektivierung formiert.98 In einem metaphorischen Sinne kann folglich das Symbolisieren mit Cassirer auch als geistiger Prozeß99 verstanden werden: Es ist geistiges Leben, und als »Urprozess« der »Gestaltung u. Gestaltenänderung«100 in seinem Wesen Metamorphose101. Dieser philosophische Lebensbegriff meint das Leben als Grund jeglicher Vorstellung überhaupt, nicht im engeren Sinne als Gegenstand einer Vorstellung. Damit zeigt sich auch, wie gemäß Cassirer methodisch zu verfahren ist. Die »philosophische Reflexion«, die »die ursprünglichen Ausdruck-

85

A. a. O., 216. Vgl. a. a. O., 244. 87 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 23, 49; ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 107, 209, 256 ff. 88 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 113. 89 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256. 90 Vgl. a. a. O., 99, 248. 91 Vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 247. 92 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256. 93 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 46. 94 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 6. 95 Vgl. a. a. O., 18, 30; Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 142. 96 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 136. 97 Vgl. a. a. O., 212, 245. 98 Vgl. a. a. O., 117 f. 99 Vgl. a. a. O., 266. 100 A. a. O., 264. 101 Vgl. Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 79. 86

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serlebnisse als ideell bedingt« »enthüllt«102 – und insofern das Leben als Grund seiner sich versinnlichenden Äußerungen als geistigen Prozeß reflektiert –, verfährt, wie gesehen, mittels Reflexionsbegriffen als Wendung des Blickstrahls. Der »Blickpunkt« dieser Reflexion ist die Form der »schöpferischen Subjektivität«.103 Die Frage nach dem Grund ist als philosophische Fragestellung die Frage nach der Wahrheit.104 Die philosophische Reflexion thematisiert aus diesem Selbstverständnis die Form der schöpferischen Subjektivität als Reflex der gemeinten Wahrheit, und zwar durch eine Entfaltung der Mittel dieses Erkenntnisvollzugs, sprich: der Reflexionsbegriffe. Aus dem Hervorgehen von deren Zusammenhang wird die Grundform des geistigen Lebens ersichtlich, nämlich als die Einheit von Geltung und Leben.105 Im philosophischen Lebensbegriff als geistigem Leben ist die Reflexionsform im Bezug auf sich selbst durch Selbstbestimmung angelegt. Der Selbstbezug, der darin zur Geltung kommt, wird dabei eingesehen als die durch die »Basisphänomene«106 zum Ausdruck kommende Bezogenheitsstruktur des erscheinenden Lebens: Die Form, die als Grundstruktur der Basisphänomene erscheint, ist die immanente Vollzugsstruktur des Bildens, das sich in »Projektion[en]«107 zu künstlichen Symboliken durchbestimmt und insofern zu sich selbst kommt. Die oben dargestellten Bestimmungstücke des philosophischen Lebensbegriffs aufgreifend kann entsprechend bezüglich der Basisphänomene gesagt werden, daß sie die immanente Bezogenheitsstruktur des Bildens sind. Das Bilden hebt als forma formans, als anhebende Selbstbestimmung der im Sinne der ethischen Freiheit zu denkenden Spontaneität an; in dieser Selbstbestimmung erweist es sich als règle se faisante108 , bzw. vollzieht sich in selbstgesetzter »Prae-Determination«109, nämlich mit Bezug auf die geistig-ethische Vollzugseinheit, die vom Subjekt her (in diesem geistigen Prozeß) aufzubauen ist; in seiner »reflexio«110 erfaßt es sich selbst und bestimmt sich dabei weiter, insofern es dadurch zur »Projektion« der geistigen Energie kommt, welche die poietische Energie bestimmt. Es erweist sich insofern als der Grund der poietischen Synthesis, welche die »Werke« hervorbringt und in Geltung hält.

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 208. A. a. O., 7. 104 Vgl. Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17; ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 128, 191. 105 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 271. 106 Vgl. a. a. O., 113 ff.; Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2; auch ders.: Geschichte. Mythos, ECN 3, 247 ff. 107 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256. 108 Vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 254. 109 Vgl. a. a. O., 250. 110 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256. 102 103

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In solchem methodischen Verständnis ist der Begriff des Lebens ein auf seine Identität als transformalem Vollzug zielender, dem der in der Pluralität der symbolischen Formen erscheinenden Realität »das Gepräge der inneren Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt«111 ist. Die Struktur dieses geistigen Vollzugs des Lebens markiert Cassirer treffend mit dem durchaus in einem neuplatonischen Sinne zu verstehenden Ausdruck hen diapheromenon heauto – die in sich gegliederte Einheit.112 Die damit gemeinte Vollzugsstruktur erweist sich als die ideelle Urgestalt jeden symbolischen Vollzugs und deshalb in Bezug auf die philosophische Reflexion als das reine Selbstbild ihres eigenen Bildens. Die höchste Einsicht, die der philosophischen Erkenntnis im Sinne Cassirers also erwachsen könnte, die ihr aber auch erwachsen können muß, wenn sich das Projekt des symbolischen Idealismus zu Recht so behaupten soll, wie es Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen tut ist folglich eine nicht durch Zeichen der künstlichen Symbolik vermittelte – bzw. »adaequate« – aber gerade nicht im Sinne eines Abbildungsverhältnisses, sondern als Selbstoffenbarung der eigenen Gesetzlichkeit – Erkenntnis des spontanen Vollzugs der Selbstoffenbarung des Geistes in der philosophischen Reflexion.

VII) Philosophische Erkenntnis: Die »letzte höchste Einsicht« Die »philosophische Erkenntnis« dieses reinen Selbstbildes seines eigenen Bildens erfordert freilich als ein Wissensbild, das sich selbst zunächst bloß als ein Erkenntnis intendierendes Bild formiert, ein Geltungskriterium. Wie gesehen kann dieses Geltungskriterium, das die »philosophische Erkenntnis« verbürgen soll, aber keines der formimmanenten Geltungskriterien sein, welches die genetische Ansicht der symbolischen Formen im engeren Sinne an den Tag legt. Aber Cassirer betont, wie bereits zitiert, ausdrücklich: »In der letzten höchsten Einsicht müssen wir uns freilich zum Begriff der Geltung erheben; aber wir können darum nicht auf den Begriff des Lebens verzichten! Im Gegenteil: er ist der letzte – ein Leben selbst, an dem wir in wandelbaren Symbolen ›teilhaben‹!« Die hier beanspruchte Geltung erweist sich folglich im Gegensatz zu den in der philosophischen Analyse der »kritischen Phänomenologie« zugleich ausgemachten formimmanenten Geltungskriterien als transformal die Einheit des Geistes verbürgend.

111 112

351.

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 46. Vgl. Ernst Cassirer: »Hölderlin und der deutsche Idealismus« (1917), in: ECW 9,

Ullrich · Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹

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Das Wissensbild eines Bildes, das sich als solches aber nur als das Bild einer sich selbst in ihrem Sein als solcher hervorbringenden Tätigkeit bilden kann, bildet sich allein im Selbstbild der Reflexion. Dieses muß sich dabei als Reflex der die Einheit des Geistes verbürgenden transformalen Geltung konzipieren. Dadurch erscheint im Sichbilden der »philosophischen Erkenntnis« die in sich zurückgehende Tätigkeit des Lebens als Reflex der Einheit des Geistes. Zugleich ist aber diese (hervorbringende) Tätigkeit in reiner Reflexionsform wiederum nichts anderes als die Grundform der »schöpferischen Subjektivität«. Und diese als solche rein ideelle Bildgestalt lebt eben nur als faktische: faktisch im Zwang der Symbolik. Stehen wir als philosophierende Subjekte in der Metaphysik des Symbolischen aber »auf dem Boden der Freiheit«113 und ist Freiheit im metaphysischen Lebensbegriff zugleich der Gegenstand der Reflexion, dann kann sich das Philosophieren hier selbst nur als ein solches konzipieren, an das selbst eine Forderung ergeht. Zugleich kann Freiheit, als Grund und Gegenstand der Metaphysik des Symbolischen, allein als in Selbstbestimmung hervorgebracht existieren. Das unmittelbare Bild der Selbstbestimmung bzw. der Freiheit hat die »philosophische Reflexion« also nur im konkreten, subjektiven Vollzug. Die symbolischen Formen erscheinen dabei dem Philosophieren als verschiedene »Ansichten«, deren das immanent basisphänomenal strukturierte Bilden in seiner konkreten Erscheinung in subjektiven Vollzügen fähig (und bedürftig) ist. Das Objekt der philosophischen Erkenntnis in der Metaphysik des Symbolischen sind also gerade nicht mehr die symbolischen Formen. »Die eigentliche Realität ist für uns das Subjekt, das aller dieser ›Ansichten‹ fähig ist.«114 Für das Philosophieren im Modus der Metaphysik des Symbolischen ist folglich die »eigentliche Realität«, die im Urfaktum des Lebens ohnehin unhintergehbar ist, die Form der »schöpferischen Subjektivität« selbst, in welcher der Vollzug der philosophischen Erkenntnis initiiert ist und zur »letzten höchsten Einsicht« durchvollzogen werden soll. Wenn wir also in »der letzten höchsten Einsicht […] nicht auf den Begriff des Lebens verzichten [können]«, dann deshalb nicht, weil die Form des Ich nicht nur unhintergehbare faktische Voraussetzung des Reflexionsvollzugs ist, sondern vielmehr gerade auch deshalb, weil diese als »rotierende Bewegung der Monas um sich selbst«115 zugleich das (unmittelbare) Bild der Selbstbestimmung, also der Freiheit, ist. Insofern kommt die »Metaphysik des Symbolischen« in der »letzten höchsten Einsicht« der »philosophischen Erkenntnis« zu sich selbst: Das Einsehen des Lebens in seinen reinen Vollzug

113 114 115

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 245. A. a. O., 230. A. a. O., 264.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

bewährt sich im Zu-sich-selbst-Kommen der philosophischen Reflexion. Das Bild, das sich die Subjektivität als lebendiger Vollzug des Philosophierens im Hinblick auf die Erkenntnisfrage nach der Wahrheit macht, ist das Bild der reinen Reflexionsform. Die Einsichtigkeit dieser Form ergibt sich in der Reflexion: Das Bild der Reflexionsform wird im reinen Selbstbild ihres eigenen Bildens eingesehen. In diesem Bild ergibt sich die »letzte höchste Einsicht« in die unmittelbare Synthesis von Leben und Geltung. Eingesehen wird diese Identität dabei an der im Bild der Reflexionsform erlebten Identität von lebendigem Vollzug und reiner Reflexionsform (die zugleich als reflektiertes Bild des Geistes erscheint).

VIII) Sokrates als exemplarischer Philosoph Abschließend muß noch gefragt werden, worin sich im Konkreten die »letzte höchste Einsicht« realisiert. Cassirer stellt diese Frage mit exemplarischem Bezug auf die Figur des Sokrates.116 Sokrates erweist sich als geeigneter historischer Anknüpfungspunkt, sofern mit der dargestellten Methodologie der »philosophischen Reflexion« ersichtlich nicht auf die Exaktheit des Wissens (im Sinne von symbolischer Form) abgestellt wird, sondern, wie gesagt, auf die Rechtmäßigkeit bzw. Legitimität der Lebensvollzüge. Philosophische Erkenntnis hat damit ihren »Standpunkt« nicht in einem möglichen Begründungszusammenhang, durch den eine Ansicht des mundus sensibilis heraufgeholt117 bzw. entdeckt118 wird. Denn das ergäbe nur eine Spielart spezifischer Modalitäten der geistigen Energie, sprich, entgegen der Selbstverortung der Philosophie durch Cassirer, eine symbolische Form im engeren Sinne. Vielmehr hat die »philosophische Reflexion«, und das soll Cassirers Bezugnahme auf Sokrates verdeutlichen, ihren »Blickpunkt« im mundus intelligibilis. Sie ist nicht an der Faktizität der »Ordnung des Geschehens«119 interessiert, sondern an den Prinzipien der »Ordnung des Sollens«120, die zugleich die Prinzipien von Wert und Bedeutung, damit des symbolischen Universums121 und insofern des Menschen als animal symbolicum122 sind.

116

Vgl. a. a. O., 191 ff., auch 128. Vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 19. 118 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 190; ders.: Geschichte. Mythos, ECN 3, 247. 119 Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5, 12. 120 Ebd. 121 Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 30. 122 Vgl. a. a. O., 31. 117

Ullrich · Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹

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Die von Cassirer geforderte »Einsicht« erweist sich damit als die Gewißheit, daß Wissen dann gültiges Wissen ist, wenn es als bedeutsamer, wertvoller Beitrag zur Realisierung der Freiheit in der Kultur angesehen werden kann. Forderungen der Intensivierung des geistigen Lebens als Selbstbestimmung, der Ermöglichung von Freiheit, und einer grundlegenden Moralität ergeben sich für die Philosophie der symbolischen Formen somit als die grundlegenden Kriterien kultureller Legitimität. Die »letzte höchste Einsicht« besteht folglich darin, im Anerkennen, und zwar in der philosophischen Reflexion, zu erkennen, daß der »Blickpunkt« der Freiheit der schlechthin wahre, der im höchsten Sinne gültige ist. Dieser »Blickpunkt« wird zugleich in der »kritischen Phänomenologie« immer schon als methodischer Bezugspunkt beansprucht, und zwar vermittelt durch die regulative Idee der Kultur als »Relationsbegriff«123 . Im Sinne einer regulativen Idee thematisiert Cassirer entsprechend Kulturen als »Funktions-Einheiten, Ansätze zur Aktualisierung von ›Sinn‹, […]. [S]ie sind der nie aufhörende Akt des reinen Setzens, des immer wieder Ansetzens und Abhebens selbst – das ist aber nur zu fassen, wenn wir entschlossen in das Reich der reinen Bedeutungen übergehen«.124 Und der Bezug auf Sokrates hat insofern noch eine zweite Funktion: Er soll zeigen, daß diese Einsicht nur zu erlangen ist, wenn die »schöpferische Subjektivität«, welche solche »philosophische Reflexion« betreibt, eine solche sokratische Haltung als praktische Disposition und Bereitschaft in jedem konkreten Wollen initiiert125 . Dann erweist sich auch der Begriff der Kultur als der Inbegriff spezifisch menschlicher und insofern immer schon zur Anerkennung moralischer Standards verpflichteter Existenz. Denn Naturwesen sind wir immer schon, aber erst der Blickpunkt durch die Freiheit macht uns zum Menschen im Sinne eines animal symbolicum. Die Welt erscheint uns in dieser wesentlichen Perspektive dann als Produkt und Korrelat der Freiheit, die wir als solche realisieren sollen. Weil wir insofern in unseren Weltschöpfungen durch die symbolischen Formen uns selbst als immer prinzipiell beteiligt verstehen müssen, wird verständlich, warum sich uns als Wissenschaftler, als Künstler, als mythischer Mensch usw. die Welt (als Inbegriff der Realität) stets neu bzw. anders darstellt.

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 245. A. a. O., 244 f. 125 Die ethische Imprägnierung der Philosophie der symbolischen Formen hat insofern in ihrem Wahrheitsbegriff ihre systematische Fundierung. – Vgl. Recki: Kultur als Praxis, 164, bes. 170; Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2. erweiterte Auflage, Würzburg 2004, 23, 222 ff. 123 124

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 6 – »Hölderlin und der deutsche Idealismus« (1917), in: ECW 9 – »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), in: ECW 16 – »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927), in: ECW 17 – »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17 – »Form und Technik« (1930), in: ECW 17 – »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22 – »Was ist ›Subjektivismus‹?« (1939), in: ECW 22 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Geschichte. Mythos, in: ECN 3 – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5 – »Critical Idealism as a Philosophy of Culture« (1936), in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 – »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem« (1935), in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 Christoph Hubig: Mittel, Bielefeld 2002 – Die Kunst des Möglichen I. Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III – Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. IV

Ullrich · Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹

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Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2. erweiterte Auflage, Würzburg 2004 Detlev Pätzold: »Ernst Cassirers Philosophiebegriff«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003 Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997

Dritter Teil Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Ernst Wolfgang Orth

Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur

Vergegenwärtigt man sich, was beispielsweise die Universitäten heutzutage über sich selbst verlautbaren oder von anderen verlautbaren lassen, dann möchte man glauben, daß sich etwa in den letzten zwei Jahrzehnten die Kultur, zumindest der Begriff oder Topos ›Kultur‹ auf der ganzen Linie durchgesetzt hat. Zwar wird immer wieder die Benachteiligung der sogenannten Geisteswissenschaften beklagt; gleichwohl scheinen heute alle Wissenschaften, die nicht im engeren Sinne Naturwissenschaften sind, auf den Namen ›Kulturwissenschaft‹ zu hören. Und als solche – als Kulturwissenschaften – finden sie ihrerseits durchaus wieder Gehör. Die Auskünfte beispielsweise eines herkömmlichen Historikers oder Politologen, eines Anglisten oder Klassischen Philologen, eines Ökonomen oder Theologen, eines Soziologen oder Archäologen mag man nicht allzu ernst nehmen. Aber sie lassen sich offenbar müheloser ans Publikum bringen, wenn sie von einem Kulturwissenschaftler respektive von einer Kulturwissenschaftlerin verkündet werden. Und es ist ja richtig: was immer ein Anglist, ein Soziologe und dergleichen mehr – welcher Provenienz immer – so oder so wissenschaftlich traktieren, es handelt sich stets um Kulturelles, um Themen und Gegenstände der Menschenwelt. Denn die Kultur – das ist die Welt des Menschen (wie übrigens Welt überhaupt, sofern sie vom Menschen thematisiert wird, Menschenwelt ist). Und so ist eben auch alles, was in diesem Horizont auftritt, wenn es denn ›wissenschaftlich‹ erforscht und dargestellt wird, ›kulturwissenschaftlich‹. Auch wenn diese Auffassung die Konzeption Ernst Cassirers durchaus wiederzugeben scheint, so irritiert sie doch durch die schiere Unvermeidlichkeit und Unausweichlichkeit des Topos Kultur.1 Kündigt sich hier nicht doch die Inflation eines Begriffes an, eine façon de parler? Oder handelt es sich um einen Befund, dessen Bedeutung weit über seine reellen Grenzen ausgedehnt wird? Bemerkenswert ist, daß diese Konjunktur oder auch Inflation des Kulturbegriffs immer wieder einmal epochal aufgetreten ist. Unsere Kulturkonjunktur ist also nicht die erste. Wer das

Zum Topos Kultur vgl. Ernst Wolfgang Orth: Was ist und was heißt ›Kultur‹? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000. 1

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Aperçu liebt, mag formulieren, daß Konjunkturen des Kulturbegriffs selbst ein typischer kultureller Befund sind. Schon 1888 hat der Jesuit von Nostitz-Rieneck in einem Vortrag über ›Das Problem der Kultur‹, der in den ›Stimmen aus Maria Laach‹ erschien, sozusagen ›kulturkritisch‹ festgestellt, daß »allenthalben« – handle es sich um »Vorträge und Festreden«, »um Wissenschaft oder Kunst, um Verkehr oder Industrie, um Schulsachen oder Sozialreform« – »das Kulturleben der Kulturmenschen, die Kulturmission der Kulturvölker, der Kulturfortschritt unseres Zeitalters gefeiert und gepriesen« werde. »Man werfe einen Blick in die Spalten der großen Blätter: im politischen wie im literarischen Teil, in den Berichten von Markt und Börse – überall Kultur und kein Ende.«2 Greifbar wird hier auch der mit der Kulturrede stets einhergehende Medienaufwand. Und es ging dabei auch seinerzeit nicht nur um die pathetisch hohe Kultur. Unter dem Epitheton ›kulturhistorisch‹ durfte man sich im 19. Jahrhundert in allerlei bildlichen und literarischen Darstellungen auch über Banalitäten und Anzüglichkeiten des menschlichen Lebens überall und zu allen Zeiten gleichermaßen informieren und unterhalten. ›Kulturgeschichte‹ war nicht selten das ›Infotainment‹ des 19. Jahrhunderts. Die Suggestivität und Virulenz des Kulturtopos wird sinnfällig an einer Buchtitelvariante bei dem Philosophen Theodor Litt. Sein Buch ›Individuum und Gemeinschaft‹ erschien 1919 zunächst mit dem Untertitel ›Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik‹. Der Untertitel der zweiten, völlig neu bearbeiteten Auflage von 1924 lautete ›Grundlegung der Kulturphilosophie‹. 3 Zwischen 1888 und 1924 hatte u. a. auch das Werk Georg Simmels, des 1918 verstorbenen Lehrers von Ernst Cassirer, seine Wirkung als Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie getan.4 1938 wird Thomas Mann im Vorwort zum zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift Maß und Wert die frivole Floskel zitieren (um sie zu kritisieren): »Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich den Revolver.« Sie war 1933 von dem zunächst expressionistischen, schließlich nationalsozialistischen Schriftsteller Hanns Johst in Umlauf gebracht worden5 . Im selben Jahr 1933 spricht der die Kultur und das Kulturelle hoch haltende Thomas

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Zitiert nach Wilhelm Perpeet: »Zur Wortbedeutung von ›Kultur‹«, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt/M. 1984, 26. 3 Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik, Leipzig 1919; neu bearbeitet mit dem Untertitel ›Grundlegung der Kulturphilosophie‹, Leipzig 1924 (3. Aufl. 1926). 4 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus«, in: Reports on Philosophie 14, 1991, 105–120. – Willfried Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist 2003. 5 Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1951 – 1952, hg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1993, 635 f., Anm. 6 zu dem Eintrag vom 5. 5. 1952.

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Mann gegenüber seinem Verleger Bermann von einer »neuen Form der alten deutschen Kulturquatscherei« 6 . Theodor Lessing, den die Nazis 1933 in Marienbad ermorden ließen, hatte seinerseits Thomas Mann schon 1927 (in der vierten Auflage seiner Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen) eine der »unzähligen Kulturdrohnen« genannt. 7 In unseren Tagen hat der Herausgeber des Merkur, Karl Heinz Bohrer, gar die Literatur – ein, wie man meinen sollte, alt eingeführtes Kulturphänomen – gegen ihre Vereinnahmung eben durch die Kultur in Schutz zu nehmen versucht. »Literatur ist nicht Kultur«, so titelt er in der Süddeutschen Zeitung vom 31. Okt. 2005 und will damit, wie es im Untertitel heißt, »Zur Verteidigung einer Disziplin« aufrufen, nämlich der »Literaturwissenschaft«, die eben »keine Kulturwissenschaft« sei. 8 Bohrer fürchtet, daß, wenn man die literarische Kunst »über die historische Kategorie des Kulturbegriffs verstehen« wolle, man das ästhetische Phänomen Kunst – sozusagen »die Kunst an der Kunst« – in seinem »Mehrwert zu verkennen« drohe. Er fürchtet, daß die Literatur mit anderen Phänomenen (natürlich Phänomenen der Kultur!) zum bloßen Beispiel für die Erläuterung geschichtlicher und sozialer Mentalitäten oder Zustände nivelliert wird. In diesem Sinne sieht er in der so genannten »Aktualität der Kulturwissenschaft« keineswegs einen ernsthaft »fälligen Paradigmenwechsel«, sondern eher eine politisch erzwungene Banalisierung des heutigen »nachbürgerlichen« Universitätsmilieus – wohl im Sinne einer Verbilligung geistiger Arbeit, auch für die heutige universitäre Professoren- und Studentenpopulation. Bohrers Überlegungen scheinen mir durchaus bemerkenswert. Sie machen nämlich auf eine reelle Gefahr aufmerksam, die man die Verkalauerung des Kulturbegriffs nennen könnte. Eine ihrer Folgen ist, daß Gebilde, Ereignisse und Werke in der ihnen eigenen Bestimmtheit immer weniger mit den angemessenen Maßstäben zur Geltung kommen und daß sie schließlich in einem verblasen menschenfreundlichen Relativismus eingeschmolzen werden. Auch wenn man daran erinnert, daß die Überlegungen Bohrers selbst kulturelle Befunde – über kulturelle Befunde! – sind, also der Sphäre der Kultur gar nicht entgehen können (was er auch nicht bestreitet), so bleibt für den Anspruch auf eine universale Reichweite der Kulturrede doch eine Beweislast, nämlich daß diese Rede die Wirklichkeit der Menschenwelt – auch in ihrer Vielfalt und in ihren Unterschieden – treffend thematisiert. Kultur kann nicht simuliert werden oder bloße Simulation sein.

Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1933 – 1934, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1977, 68; Eintrag vom 2. 5. 1933. 7 Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, Hamburg 1962, 236. 8 Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 251 vom 31. Okt. 2005, 20. 6

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Allerdings ist Kultur ein Allerweltsbegriff. Dies und die damit verbundenen Gefahren hat Bohrer gespürt.9 Daß aber mit diesem Allerweltsbegriff eben auch das Weltproblem als Problem der Wirklichkeitsbestimmung sozusagen kongenial aufbricht, das hat Cassirer gesehen. In seiner Philosophie verbindet sich deshalb mehr und mehr die Kulturthematik mit der Frage nach den Formen der Wirklichkeitserkenntnis. Dabei ist gerade das ›Thematischwerden‹ der Gesichtspunkt, unter dem die Topoi Kultur und Welt zusammengeführt werden. Das Weltproblem kann nur aufbrechen, der Sinn von Wirklichkeit kann nur dann näher bestimmt werden, wenn Wirkliches überhaupt thematisch wird. Dieses Thematischwerden kann man als die originäre unvermeidliche Modalisierung der Wirklichkeit bezeichnen. Modalisierung der Wirklichkeit ist aber die Grundstruktur der Kultur. Es gehört dazu noch ein weiteres Moment: das Modalisierungs- und Thematisierungsgeschehen, das Zum-Ausdruck- und Zur-Geltung-kommen des Wirklichen welcher Art immer bedarf noch einer Instanz, sozusagen einer Agentur. Und diese Agentur als Sinn-Agentur ist der Mensch, der interagierende Mensch, an dem Thematisierung sich vollzieht, d. h. Kulturgeschehen gleichsam umgeschlagen wird.10 1936 hat Ernst Cassirer in seinem Vortrag »Critical idealism as a philosophy of culture« an dem nunmehr Londoner Warburg Institute (der emigrierten Hamburger Bibliothek Warburg) den Gedanken der modalisierenden Thematisierung und damit den Grundbefund aller Kultur aufs engste mit der Kantischen Konzeption des Transzendentalen, so wie er es versteht, verknüpft. Er zitiert Kants berühmte Definition aus der Einleitung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt«.11 Und es ist dieser Topos Erkenntnisart, auf den Cassirer besonders abhebt. »Mode of cognition« übersetzt er in seinem Londoner Vortrag. Wirklichkeit konstituiert sich im Modus und in den Modis lebendiger Auffassungen. Kultur ist der Inbegriff solcher Auffassungen als Inbegriff aller möglichen Weltverständnisse. Und die Sprache

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Bohrer vermißt zu Recht Maßstäbe für das, was allenthalben Kultur genannt wird. Daß solche Maßstäbe in der heutigen Naturalisierung von allem und jedem – auch der Kultur – verloren gehen, diskutiert Bohrer an der zitierten Stelle nicht. 10 In diesem Sinne fungiert der Mensch als permanenter Zeuge von Wirklichkeit, der in seinen Bezeugungen zugleich als virtueller Richter auftritt. In dieser Zeugenschaft liegt seine Kulturfunktion. 11 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III, B 25; vgl. Ernst Cassirer: »Critical Idealism as a Philosophy of Culture«, in: Donald Phillip Verene (Ed.): Symbol, Myth and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935 – 1945, New Haven/London 1979, 64–91.

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übrigens – die Menschensprache – ist das erste prominente Paradigma solcher Kultur. Noch in seinen späteren Texten Zur Metaphysik der symbolischen Formen kommt Cassirer auf diesen Kantischen Topos von der Erkenntnisart zurück. »Eine letzte fundamentale Betrachtungsweise, die darauf gerichtet ist, zu einem ›Verständnis‹ der ›Werke‹ des Geistes und ihrer eigentümlichen Objektivität [also der Kultur] zu gelangen, ist die Methode, die durch Kant in die Philosophie eingeführt worden ist«. »Sie verlangt jene Umwendung«, die »durch Kants Beispiel der Kopernikanischen Drehung erläutert wird«. Sie »fragt« nach der »Erkenntnisart«. »Und dieser Begriff Erkenntnisart« – so formuliert Cassirer – »ist hierbei im weitesten Sinne zu verstehen«.12 Auch was wir Kultur nennen, hat einen weiten Sinn; denn Kultur ist alles mögliche Wirkliche, sofern es bedeutet wird. Dieses ›Sofern‹ oder ›Insofern‹ ist der eigentliche Ausgang für die Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs. Das Aristotelische pollachos legetai to on, das vielfältige Aussagen oder auch Lesen des Seins, ist bei Cassirer zur Kulturfunktion geworden. Es wird nicht mehr so sehr als Seinslehre, wohl aber immer noch als erstphilosophisch und insofern als durchaus metaphysisch begriffen. Die von Aristoteles behauptete Homonymie des ›Seins‹ als eine mit dem Gattungsbegriff unvergleichbare homonymie pros hen – auf eines hin – bleibt bei Cassirer in Funktion. Es ist eine Homonymie der Kultur. Und bei dieser Homonymie geht es weniger um die Vielfalt der Gegenstände als vielmehr um die Vielfalt der Hinsichten und Aspekte. Hier ist Kulturologie13sozusagen eine andere Ontologie. Diese Sicht der Dinge findet in Cassirers eigentümlicher Lehre von der metabasis eis allo genos ihren bis jetzt noch nicht ganz geklärten Ausdruck.14 Was die Vielfalt der Hinsichten und Aspekte im Befund Kultur betrifft, so verbindet Cassirer gerne den Topos der ›Erkenntnisart‹ mit dem der ›inneren Form‹. Denn Cassirer geht es – wie er immer wieder betont – bei der Bestimmung der Wirklichkeit nicht in erster Linie um das was, sondern um das wie der Bestimmung. Dieses wie erschließt sich ihm z. B. in der ›inneren Form‹. In seinen Goethe-Vorlesungen von 1940/41 in Schweden ist

Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1, 162. – Auf Seite 164 wird »Erkenntnistheorie« als »eine Hermeneutik der Erkenntnis« gekennzeichnet. 13 Zu dem Ausdruck Kulturologie vgl. Leslie A. White: »Culturology«, in: International Encyclopedia of the SOCIAL SCIENCES, vol. 3, ed. by David L. Sills, New York/London 1968, 547–551. 14 Vgl. dazu Ernst Wolfgang Orth: »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 35–74. – Vgl. auch Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2004, 111; 116 f.; 240. 12

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ihm Goethe geradezu das Paradigma dieses Wirkens der ›inneren Form‹, die er ja eigentlich der Humboldtschen Sprachtheorie entlehnt.15 Und das führt uns über die Homonymie pros hen auf eine weitere metaphysische Reminiszenz im Kulturbegriff. Die ›innere Form‹ als Vollzug der geistigen Energien, über die es allererst zu Thematisierungen kommt, läßt uns das in den Blick nehmen, was wir die Sinnagentur nannten. Es ist das pros hen, woraufhin Kulturbedeutungen sich einstellen. Bei Cassirer ist das letztlich der interagierende Mensch in seinem Agieren. In seinem Londoner Vortrag, der ja die Pointe der Transzendentalphilosophie Kants im Sinne der ›Kritik der reinen Vernunft‹ in Anspruch nehmen will, charakterisiert Cassirer die Kultur als Menschenwelt, im Sinne eines »gemeinsamen Kosmos« (unter Anspielung auf Heraklit). Sie ist keine bloß spekulative Angelegenheit; sie beruht nicht auf bloß theoretischen Voraussetzungen. Sie verlangt vielmehr einen Zusammenhang von Tätigkeiten; es geht um konkrete Realisierung im Sinne des dauernden Auf- und Umbaus einer empirischen Welt. Dieser empirische Charakter sei ein Wesenszug der Kultur – so betont Cassirer ausdrücklich.16 Cassirer unterstreicht damit, daß das, was bisher als metaphysischer Subjektsbegriff (auch als ›Gott‹ und ›Seele‹) vorausgesetzt wurde, als weltliches Geschehen manifest wird und als solches begriffen werden muß. Und dieses weltliche Geschehen als Kulturwirklichkeit hat sozusagen seine Basis und seinen Erfüllungsort im Menschen, der sich seinerseits in diesem Geschehen allererst etabliert oder etabliert wird. ›Mensch‹ und ›Welt‹, diese veritable Korrelation (nicht etwa Addition oder Aggregat), bezeichnet in der Tat die Grundstruktur von Kultur, die sich aber gerade damit zumindest als der Nachklang einer metaphysischen Bestimmung ausweist. Denn ›Mensch und Welt‹ – das ist sozusagen der Restposten aus jenem Set von Grundbegriffen, wie es noch im 18. Jh. von Christian Wolff als metaphysica specialis formuliert wurde: Gott, Welt, Seele (mit den entsprechenden Disziplinen der rationalen Theologie, der Kosmologie und der rationalen Psychologie). Davon bleiben Mensch und Welt. Es handelt sich hier um eine thematische Reduzierung und eine Konkretisierung hin aufs empirisch Anschauliche. Gleichzeitig ist es eine Dynamisierung. Denn, was Mensch und Welt sind, weist sich erst aus im Kulturprozeß – im Prozeß der symbolischen Formung. Im Befund Kultur liegt also selbst eine

Ernst Cassirer: Goethe-Vorlesungen (1940–1941), in: ECN 11. – Vgl. auch Ernst Cassirer: »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16, 105–133. – Im übrigen ist es Hermann Cohen, der in seiner Ästhetik von 1912 ausführlich auf Humboldts Gedanken eingeht; vgl. Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls, in: ders.: Werke, Bd. 8 und Bd. 9, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv unter der Leitung von Helmut Holzhey, Hildesheim/New York 1982, hier: Bd. 8, 382 ff., 390 ff. 16 Cassirer: »Critical Idealism as a Philosophy of Culture«, 65. 15

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originäre Motivation zur Progression, die vielleicht das Verlorene wieder einspielen soll.17 Die beiden Gesichtspunkte, die wir nannten – Kultur als Thematisierung und Kultur als Sinnagentur (Mensch) – enthalten also metaphysische Reminiszenzen (vielleicht auch Formen eines metaphysischen Phantomschmerzes). Was nicht immer genügend beachtet wird: Cassirer verbindet die beiden Gesichtspunkte, indem er den so genannten symbolischen Formen (als Inbegriff aller möglichen Thematisierungen) und der Wirklichkeit des Menschen (als Sinnagentur) eine gemeinsame Struktur zuweist. Es ist die Struktur des »Urphänomens« der »symbolischen Prägnanz«, die sich später auch in der Lehre von den »Basisphänomenen« bekundet.18 Es ist das Aufbrechen von Bedeutungen und Sinn. Demgemäß ist Wirklichkeit (zunächst Kulturwirklichkeit) originäre Verknüpftheit von sinnlich Substrathaftem mit bedeutsamem Sinn. Das ist es, was objektiv symbolische Form ausmacht. Aber diese Struktur gilt auch für den Menschen selbst. Er ist – wie der Essay on Man sagt – animal symbolicum19 ; aber er ist es nicht nur, weil er symbolisiert, Symbole bildet, sondern weil er selbst symbolisch ist. Der Mensch ist, wie schon 1929 – in Umdeutung und Richtigstellung der alten metaphysischen Leib-Seele-Unterscheidung – ausgeführt wird, tatsächlich »das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation.«20 Diese symbolische Relation ist das kulturelle Urphänomen. Sie manifestiert sich in dem, was ich den bedeutsamen Organismus nennen möchte. Nach der zunächst eher erkenntnistheoretischen Argumentation, daß sich Sinnhaftes an Sinnlichem manifestieren und offenbaren muß, kommt es bei Cassirer zu einer fundamentalen Würdigung des Lebens, das für die Kultur tatsächlich insofern konstitutiv ist, als auf ihm und aus ihm sich alle Bedeutsamkeit und aller Sinn erst entfaltet. Es ist zudem die paradigmatische Metapher für Kultur als konkrete Entwicklung. Allerdings sind Bedeutungen und Sinn nicht aus dem Organismus ableitbar. Das Verhältnis von Organismus und Sinn ist kein kausales, sondern eine Ausdrucksbeziehung. 21 Aber gerade um sich über den Organismus zu erheben, bedürfen

17

Was hier von der Kultur als Ausgleich des religiös und metaphysisch Verlorenen eingespielt wird, sind ›Bedeutungen‹ der unterschiedlichsten Art (aus Wissenschaft, Kunst und allen möglichen Lebensformen), deren religiöse und metaphysische Konnotationen nur zeitweilig verdrängt werden. 18 Vgl. dazu Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 113–195. 19 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 31. 20 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 113. 21 Dazu im Ganzen Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929– 1941), in: ECN 5.

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die Bedeutungen unabdingbar des Organismus als Basis ihrer Manifestation. Beim Menschen entfaltet sich so über die organische Fortpflanzung hinaus die Möglichkeit einer »spirituellen Fortpflanzung« – wie Cassirer in einem späteren Nachlaßtext formuliert: »Diese Fortpflanzung geschieht auf einem neuen Wege – nicht organisch durch ›Kinder‹ und ›Enkel‹ sondern geistig durch das Medium ›Kultur‹. Kultur ist das neue Medium, das die ›Vererbung erworbener Eigenschaften‹ ermöglicht – ja das im Grunde gar nichts anderes ist als dieser nie stillstehende Prozeß der Vererbung – Wir können uns dies von der einfachsten technischen Errungenschaft bis hinauf zu den höchsten geistigen Ergebnissen verdeutlichen.«22 Kultur als Prozeß erscheint hier also konstitutiv endlos. Die Struktur der Wirklichkeit selbst, wenn sie denn zum Ausdruck und zur Geltung kommen soll, verlangt ein Prozedere, dessen Ergebnisse nicht vorschnell vorweg genommen werden dürfen. In diesem Sinne hat Cassirer schon in seinem Einsteinbuch von 1921 bei der ersten Bestimmung seines damals neuen Begriffs der »symbolischen Formen« ganz formell auf die Relativität der einzelnen Formen auf einander und zum ›Ganzen‹ hingewiesen, welches Ganze seinerseits nur abstrakt antizipiert werden könne. 23 Im Gefolge dieser Überlegungen ist auch von einem modifizierten Wahrheitsbegriff auszugehen. 24 Es ist folgerichtig, wenn Cassirer in dem späteren Nachlaßtext ›Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis‹ sich die »Interpretation« »der Formen der Wirklichkeitserkenntnis von oben her und von außen her« ausdrücklich versagt: »Wir wollen vielmehr alle diese Formen gewissermaßen sich selbst auslegen lassen, indem sie sich vor uns entfalten und uns in dieser Entfaltung ihre Artikulation, ihren Zusammenhang wie ihre Besonderung deutlich machen.«25 Apriorische Grundbegriffe können deshalb auch nicht im voraus festgeschrieben werden – wie Cassirer ausdrücklich gegen Kant und Cohen einwendet. 26 »Konstitutiv[!] ist nur das Ganze – das System aller Grundbegriffe«. 27 Das heißt: der Kulturprozeß der Entfaltung der Wirklichkeit muß tatsächlich aus- und durchgehalten werden. Das ist das eigentliche Motiv dafür, warum der Philosoph Cassirer so nachdrücklich empfiehlt, die konkrete einzelwissenschaftliche Forschung hochzuhalten und deren Resultate ernsthaft zu würdigen. Ja, nicht nur die positiv wissenschaftliche Forschung ist zu respektieren, auch alle anderen sich vollziehenden Weltverständnisse

Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 204 f. Ernst Cassirer: Zur Einstein‹schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10, 113. 24 Dazu Ernst Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17, 342–359. 25 Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 7. 26 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 238. 27 A. a. O., 239. 22 23

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sind ernst zu nehmen (als Manifestationen von Wirklichkeitsbestimmung – welcher Art immer). Die klassische neukantianische These, es sei vom Faktum der Wissenschaften als Kulturfaktum auszugehen – die übrigens die Marburger und die südwestdeutschen teilen –, erweist hier ihren tieferen Sinn. Auszugehen ist von dem Strukturverhalt, daß die Kultur selbst ihre Deutungsmöglichkeiten, auch ihre Selbstdeutungen, generiert – in einem endlosen Prozeß, dessen einzige stabile Basis übrigens die Substrat-SinnKorrelation (als ›symbolische Prägnanz‹) ist. Allerdings liegt darin auch eine antizipierte und antizipierende Hoffnung, gleichsam eine Spekulation darauf, daß in den generierten Begriffs- und Formangeboten sozusagen eine konsistente Grammatik einsichtig zu machen ist. Die Schwierigkeiten, die hier vorprogrammiert sind, treten zu Tage in der Terminologie, durch welche das Cassirersche Unternehmen selbst charakterisiert werden soll. Die scheinbar äquivoke Benutzung der Termini ›Kulturphilosophie‹ und ›Kulturwissenschaft‹ – letzteres im Singular und Plural und oft synonym mit ›Geisteswissenschaft(en)‹ – kann dabei noch ausgeräumt oder verständlich gemacht werden. Aber wie steht es um die Gegenüberstellung von Kulturwissenschaft(en), gar Kulturphilosophie, einerseits und Naturwissenschaft(en) andererseits, ja, um die Gegenüberstellung eines ›Kosmos der Natur‹ und eines ›Kosmos der Kultur‹, die sich in Cassirers Aufsatzsammlung Zur Logik der Kulturwissenschaften expressis verbis findet. 28 Im Essay on Man ist die Natur (der Naturwissenschaften) ein ›symbolisches Universum‹. Aber das ist doch wohl auch – und erst Recht – die Kultur. Gehören nicht die so genannten Naturgegenstände und die so genannten Kulturgegenstände gemeinsam in das Universum der symbolischen Formen? Und ist nicht ›Kosmos‹ selbst ein Wort, das der Kultursphäre entstammt (wie Cassirer in einer schönen Studie über »Logos, Dike, Kosmos« ja selbst gezeigt hat29 )? Das ›symbolische Universum‹ ist doch wohl eher ein Kulturkosmos als ein solcher der Natur. Am weitesten geht Cassirer, wenn er feststellt: »Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, ›Erscheinungen buchstabieren, um sie als Erfahrung[en] lesen zu können‹; die Kulturwissenschaft lehrt uns Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.«30

Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24, 376. 29 Ernst Cassirer: »Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie« (1941), in: ECW 24, 7–35. 30 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 445. – In Kants Ausdruck ist nicht von ›Erfahrungen‹ im Plural, sondern von ›Erfahrung‹ im Singular die Rede. 28

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Diese Gegenüberstellungen – auch die von Cassirer adoptierte zwischen Natur- und Geisteswissenschaft – scheinen mir nun nicht das letzte Wort Cassirers zu sein. Sie geben allerdings wieder, was die Kultur ihrerseits generiert hat, z. B. auch an Selbstdeutungen bezüglich ihrer wissenschaftlichen Bemühungen. Und diesen – sozusagen kulturwüchsigen – Prozeß von Selbst-Gestaltung und -Umgestaltung nimmt Cassirer ernst, denn er hat durchaus seinen – wenn vielleicht auch nur vorübergehenden – Orientierungswert. Was die Gegenüberstellung des ›Kosmos der Natur‹ und des ›Kosmos der Kultur‹ betrifft, so wird – wie Cassirer gerade zeigen will – an ihr »das Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite sichtbar«, und dieses Problem »umspannt« beide: die sogenannte Natur und die sogenannte Kultur.31 Aber das Problem der Objektivität selbst und im Ganzen ist ein solches der Kultur – im Sinne einer symbolischen Weltverständigung überhaupt.32 So ist auch das ›Buchstabieren der Erscheinungen‹, das Cassirer als naturwissenschaftliches Verfahren dem kulturwissenschaftlichen des ›Symboldeutens‹ – einmal! – gegenüberstellt, letztlich doch nur wiederum ein Fall organisierten Symboldeutens – und muß es auch sein, wenn es denn nicht nur gehandhabt, sondern auch verstanden werden soll. Trotzdem muß man zugeben: es bleibt eine gewisse terminologische Unentschiedenheit. Positiv kann man sie mit dem Hinweis kommentieren, daß Cassirer auf keinen Fall das, was sich im tatsächlichen Kulturprozeß konfiguriert, durch allzu fest gefügte Terminologien überspielen will. Eben deshalb verbindet er sein Denken immer wieder mit geistesgeschichtlich überlieferten, bedeutenden Gestalten und Gestaltungen. Hier bestätigt sich das Theorem von der Homonymie des pros hen und des pollachos legetai to on als Kulturbefund. Aber wozu und zu welchem Ende entfaltet sich nun die Kultur? Ganz formell gesprochen: sie bringt den Sinn der Wirklichkeit zum Ausdruck und zur Geltung und damit zugleich die unvergleichliche Dignität des in dieser Wirklichkeitsbestimmung tätigen und sich etablierenden Menschen. Ein Paradigma für die Charakterisierung dieses Kulturbefundes ist für Cassirer immer wieder die Person und das Werk Goethes. In seiner Göteborger Goethe-Vorlesung von 1940/41 formuliert er: »Dem Augenblick Dauer zu verleihen – das ist das Höchste, was vom Menschen gefordert und was von ihm geleistet werden kann. Diese Aufgabe ist es, die dem

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A. a. O., 376. Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 75–104; Auf Seite 86 wird der Vorrang der Natur des Bildens vor der des Bildes hervorgehoben und die »Objektivität« schlechthin an derjenigen des »künstlerischen Geistes« orientiert. Einsteins Relativitätstheorie gilt als ein besonders gelungenes Paradigma solcher Objektivierung, die sich im »Stil« bekundet (91). 32

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Künstler, dem Denker und Forscher, dem sittlichen Menschen gemeinsam ist. Und das bezeichnet nach Goethe den geistigen Menschen: die ›ideelle Denkweise‹ – so sagt er – ›ist diejenige, die das Ewige im Vorübergehen sehen läßt‹«.33 Im Zusammenhang einer Faust-Interpretation – aber damit eben doch auch das Fazit seines eigenen Kulturverständnisses insinuierend – sagt Cassirer in derselben Vorlesung: »Der geistig-sittliche Prozeß der Menschwerdung ist das Höchste, was den Menschen [!] beschieden ist – und vor diesem nie abbrechenden, in jedem Moment erneuten Prozeß verschwindet der Wert jedes bloßen Produkts.«34 Daß dieser Prozeß zu keinem hypostasierbaren, szs. verdinglichten Abschluß kommt, erläutert Cassirer in seinem Essay »Form und Technik« von 1930, wenn er unter Bezug auf die drei symbolischen Funktionen – Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung – ausführt, »alle Kulturentwicklung« bewege sich zwischen den »beiden Extreme[n]« Ausdruck und reiner Bedeutung und finde in der Kunst (eine Form der ›Darstellung‹) »gewissermaßen das ideale Gleichgewicht«.35 In Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) spricht Cassirer auch von »Oszillation«, von »labilem Gleichgewicht« und einer »Amplitude der Schwingung«, die mit einer sich entwickelnden Kultur »mehr und mehr« wachse. Vor allem habe die Kultur eine »biologische Schranke beseitigt«. »Der ›Geist‹ hat geleistet, was dem Leben versagt blieb«, nämlich durch ›Werke‹ mit jeweils idealer Bedeutung zu überdauern. So werden Monumente »zu Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit« und wirken »zu immer neuen Schöpfungen weiter«. 36 Gelegentlich gibt Cassirer auch zu verstehen, daß er in dem Projekt Kultur so etwas wie eine neue Unsterblichkeit sieht. Im 6. Kapitel des nachgelassenen englischsprachigen Seminartextes »On symbolism and philosophy of language« von 1941/42 aus New Haven wird das sinnfällig dargestellt.37 Es handelt sich dabei nicht um die Unsterblichkeit der Person, sondern um die der symbolischen Formen. Aber die Unsterblichkeit dieser Formen scheint mir eine Voraussetzung zu haben, nämlich die fortwährende Lesbarkeit dieser Formen. Und diese Lesbarkeit setzt nicht nur die monumentale Überlieferung voraus (sozusagen als objektiver Speicherbestand), sondern die Energien lebendiger Subjekte, die lesen wollen und lesen können. So gibt Cassirer auch schon 1939 in seinem Aufsatz »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« hinsichtlich einer dauerhaften »Zukunft der menschlichen Kultur« zu ver-

Ernst Cassirer: Goethe-Vorlesungen (1940–1941), in: ECN 11, 207. A. a. O., 169. 35 Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17. 36 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECN 24, 482–486. 37 Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6, 293 ff. 33 34

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stehen, daß es hier keine letzte Sicherheit gibt, sondern daß »Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzen Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen«.38 Das Ende der Kultur – im Sinne ihres Zusammenbruches – ist dann erreicht, wenn das Bedeuten und Sinnsetzen oder Sinnvernehmen aussetzt, d. h. wenn lebendige Subjektivität verschwunden ist. In diesem Zusammenhang ist es bedenkenswert, daß gerade in Wissenschaften hin und wieder – zumal aus ›methodischen‹ Gründen! – solche lebendige Subjektivität ausgeschaltet wird; Intelligenzentlastung kann dann auch schon einmal zur Intelligenzverleugnung bis hin zu ihrer Ausschaltung führen. Aber die Monumente selbst, darunter auch die Resultate der Wissenschaften, bedürfen, um überhaupt als solche Monumente zu funktionieren, der subjektiven Lesbarkeit. Einen Unsterblichkeitsbeweis dieser personalen, lesenden Subjektivität hat Cassirer nicht erbracht, noch erbringen wollen – etwa auch nur so wie Robert Spaemann es tut mit dem Theorem des ›Ich werde gewesen sein‹, das sozusagen andauernde Subjektivität postuliert. Auch die Husserlsche Argumentation für eine Unsterblichkeit des transzendentalen Subjekts (gegenüber dem biologischen Individuum) übernimmt er nicht. 39 Wohl aber plädiert Cassirer für eine elementare Kulturaufgabe, auf die wir uns alle einigen können, nämlich: Lesefähigkeit und damit Lesbarkeit tätig zu üben - solange Menschen leben. Kultur ohne Subjekt, das diese auf Dauer zu stellen versucht und damit auch Zukunft verspricht, wäre ein Flop. Deshalb entsteht gelegentlich sogar der Eindruck, als impliziere Cassirers Kulturprozeß als Sinnanreicherung so etwas wie den werdenden Gott, den uns Max Scheler ausdrücklich insinuiert.40

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Ernst Cassirer: »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22, 166. 39 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: ders.: Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlaß 1934–1937, Husserliana, Bd. XXIX, hg. von Reinhold N. Smid, Dordrecht/Boston/London 1993, 327–338. 40 Zu dem zunächst anthropologischen Topos vom ›werdenden Gott‹ bei Max Scheler vgl. Guido Cusinato: Il Dio di divenire, Padova 2002.

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Literaturverzeichnis

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik, Leipzig 1919; neu bearbeitet mit dem Untertitel ›Grundlegung der Kulturphilosophie‹, Leipzig 1924 (3. Aufl. 1926) Thomas Mann: Tagebücher 1951–1952, hg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1993 – Tagebücher 1933–1934, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1977 Ernst Wolfgang Orth: »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988 – »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus«, in: Reports on Philosophie 14, 1991 – Was ist und was heißt ›Kultur‹? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000 – Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2004 Wilhelm Perpeet: »Zur Wortbedeutung von ›Kultur‹«, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt/M. 1984 Süddeutsche Zeitung Nr. 251 vom 31. Okt. 2005, 20 Leslie A. White: Art. »Culturology«, in: International Encyclopedia of the SOCIAL SCIENCES, vol. 3, ed. by David L. Sills, New York/London 1968

Massimo Ferrari

Das Faktum der Wissenschaft, die transzendentale Methode und die Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer

In dem abschließenden Teil der zweiten Auflage seines Werkes Kants Theorie der Erfahrung (1885) weist Hermann Cohen darauf hin, indem er den grundlegenden Stein der Marburger Kant-Interpretation legt, daß die transzendentale Methode Kants sich keineswegs auf die Begründung der mathematischen Naturwissenschaft Newtons beschränkt. Sie ziele indessen darauf ab, aufgrund der regulativen Maximen der reinen Vernunft auch der beschreibenden Naturwissenschaft Rechung zu tragen und darüber hinaus die Frage nach den Bedingungen der möglichen Erfahrung kraft einer »methodischen Analogie« auf die Gebiete der Ethik und der Ästhetik zu erweitern.1 Die transzendentale Philosophie wird damit zur Systematik: »Die methodische Einheit der sämtlichen kritischen Grundbegriffe, der Kategorien und der Ideen, fordert, als ihren Ausdruck, das System«.2 Das System beruht demnach auf der kritischen Lehre der (wissenschaftlichen) Erfahrung; und in diesem Zusammenhang erweist sich der kritische Idealismus als wissenschaftlicher Idealismus: »Die Philosophie hat nicht Dinge zu erzeugen […], sondern zunächst lediglich zu verstehen und nachzuprüfen, wie die Objekte und Gesetze der mathematischen Erfahrung konstituiert werden«.3 Ethik und Ästhetik aber sollen sich nach Cohen diese methodische Struktur aneignen und auf die Frage nach der transzendentalen Geltung ihrer Grundbegriffe und Prinzipien eine Antwort geben – diese Antwort ist mit den »Tatsachen der Kultur« eng verbunden und läßt sich erst auf der Basis einer methodischen Verwandtschaft mit der transzendentalen Begründung der Naturwissenschaft formulieren.4 Wenig später, im dritten, der Kantischen Grundlegung der Ästhetik gewidmeten Buch seiner Kant-Trilogie präzisiert Cohen andererseits, daß die methodische Eigenart des transzendentalen Systems als Einheit der verschiedenen Richtungen des Bewußtseins oder, genauer gesagt, des Kulturbewußteins, darin bestehe, das dreigliedrige Fundament der systematischen Einheit der Kultur als

Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, zweite, neu bearbeitete Auflage, Berlin 1885, 511 ff., 579, oder ders.: Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Bd. I/1, Hildesheim/Zürich/New York 1987, 651 ff., 736. 2 A. a. O., 576, oder ders.: Werke, Bd. I/1, 733. 3 A. a. O., 578, oder ders.: Werke, Bd. I/1, 734. 4 A. a. O., 579, oder ders.: Werke, Bd. I/1, 736. 1

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Einheit »von Erzeugungsweisen des Bewußtseins, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt«, zu verstehen.5 Als 1912 Ernst Cassirer seinen Artikel zu »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« verfaßte, waren es eben diese letzten Zeilen aus Kants Begründung der Ästhetik, die er als abschließendes Zitat seines Beitrages wählte. Für den ehemaligen Schüler Cohens im Marburg der Jahrhundertwende stand der Begriff der transzendentalen Methode immer noch im Zentrum der Cohenschen Philosophie und der Erneuerung der Kant-Interpretation. Cohen – so Cassirer – habe «das Faktum der Wissenschaft ohne Einschränkung als Grundlage an[genommen]; aber er verwandelt mit Kant dieses Faktum wiederum in ein Problem». 6 Diese Bindung an die Wissenschaft, nicht aber an irgendwelche »zeitliche zufällige Form« derselben, gilt für Cassirer als Kernpunkt der Cohenschen Revision der transzendentalen Philosophie im Namen der Methode. Diese Methode ermöglicht zugleich, daß auch andere Gebiete der Kultur neben der Wissenschaft, nämlich Ethik und Ästhetik, thematisiert bzw. auf ihre apriorischen Möglichkeitsbedingungen hin befragt werden können. »Zwischen den drei Grundrichtungen des Bewussteins«, so argumentiert Cassirer ganz ähnlich wie Cohen, »besteht nunmehr volle ›Homogenität‹: Die Welt des empirischen, räumlich-zeitlichen Daseins, wie die Welt der sittlichen Werte wird gleich der der Kunst nicht unmittelbar ›vorgefunden‹, sondern beruht auf Prinzipien der Gestaltung, die die kritische Besinnung entdeckt und in ihrer Gültigkeit erweist […]. Das transzendentale System stellt in seiner Allgemeinheit nicht sowohl einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen, als vielmehr einen Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewußtseins dar, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt.«7

Diese noch im Geiste Cohens durchgeführte Kant-Interpretation bedeutet aber keineswegs, daß Cassirer im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein

Hermann Cohen: Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889, 94 f. Vgl. auch 342 f.: »Das System der Philosophie ist das System des Geistes. Und das System des Geistes fordert eine solche Vereinigung der Gebiete des Geistes, daß dieselben als Erzeugnisse ursprünglicher und eigenthümlicher Richtungen des Bewußtseins nachgewiesen werden […] [D]as System des Geistes [ist] das System des erzeugenden Bewußtseins […] Richtungen des Geistes sind Richtungen des Bewußtseins, das will sagen, Richtungen, kraft deren das Bewußtsein den Inhalt und die Objectivität aller Kultur erzeugt.« Unter »Bewußtsein« – darf natürlich keine psychologische Entität verstanden werden, sondern der ›Inbegriff der Ursprünge und Erzeugungspunkte‹ oder der ›der Inhalte erzeugende Richtungsursprung‹«. 6 Ernst Cassirer: »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Hamburg 2001, 120. 7 A. a. O., 137 f. 5

Ferrari · Faktum der Wissenschaft und Kulturphilosophie bei Cassirer

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orthodoxer Cohenianer war. Obwohl Cassirer auch später »das entscheidende Verdienst« Cohens in den Gedanken der transzendentalen Methode sieht und das Prinzip des Ursprungs im Sinne der »freien Selbständigkeit des Geistes« gegenüber jeder Art vom Gegebensein immer wieder akzeptiert8, wird der Marburger Neukantianismus von dem Verfasser der Philosophie der symbolischen Formen transformiert und sozusagen liberalisiert.9 Dies gilt in erster Linie für die hoch dynamische Weise, in die Cassirer die Devise Cohens – »Anfangen mit einem Faktum, um nach der Möglichkeit dieses Faktums zu fragen« – umgestaltet. Zwar hatte schon Cohen die Logik der reinen Erkenntnis auf dem »Werdefaktum der mathematischen Naturwissenschaft« beruhen lassen10, dennoch hat Cassirer die Dimension der Geschichtlichkeit bzw. der Veränderlichkeit eines solchen «Werdefaktums» ganz ernst genommen und hat damit das Schicksal der kritischen Philosophie an ihr Verhältnis zur Entwicklung der exakten Wissenschaften gebunden. Die einzige dauernde Aufgabe der transzendental-methodisch orientierten Fragestellung besteht also Cassirer zufolge darin, eine »ständig erneute Prüfung der wissenschaftlichen Grundbegriffe« zu unternehmen, »die für die Kritik zugleich zu strenger subjektiver Selbstprüfung wird«.11 Ist aber das Faktum der Wissenschaft seiner Natur nach ein geschichtliches Faktum12, dann muß auch die Reflexion über die Erkenntnisformen, die diesem Faktum zugrunde liegen und es ermöglichen, durch eine fundamentale Dynamisierung gekennzeichnet werden – eine Dynamisierung, die die Ausgestaltung der transzendentalen Methode mitbestimmt und zugleich ihre Erweiterung auf alle Gebiete der geistigen Objektivationen involviert. Der Reflexion über die Leistung der transzendentalen Methode bei der Grundlegung des geschichtlichen, wandelbaren Faktums der Naturwissenschaft kommt aber eine bedeutende Rolle nicht nur für den wissenschaftstheoretischen Ansatz Cassirers zu, sondern auch für seine Kulturtheorie, die – wie wir zeigen wollen – die paradigmatische Funktion der wissenschaftlichen Erkenntnis keineswegs in Abrede gestellt hat. Was nun zunächst die historische Dimension der mathematischen Naturwissenschaft und seine Bedeutung für die moderne Kultur angeht, gilt es insbesondere die ersten

8

Vgl. Cassirer: »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie«, EWC 9, 503 f. 9 Dazu erlaube ich mir, auf meinen Aufsatz zu verweisen: Massimo Ferrari: »Ist Cassirer methodisch gesehen ein Neukantianer?«, in: Detlev Pätzold/Christian Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 2002, 103–122. 10 Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, zweite Auflage, Berlin 1914, in: ders.: Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Bd. 6, Hildesheim-New York 1977, 76. 11 Ernst Cassirer: »Kant und die moderne Mathematik« (1907), in: ECW 9, 37. 12 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, 14.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

zwei Bände der großartigen Arbeit Cassirers über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit in Betracht zu ziehen. Im Zentrum des Erkenntnisproblems findet man in der Tat keine Erkenntnistheorie als solche, sondern Erkenntnis, in so fern sie sich historisch in der modernen wissenschaftlichen Forschung realisiert hat. Allein indem sie sich dieses veränderlichen ›Faktums‹ annimmt, kann die »Geschichte der reinen Vernunft« im Sinne Kants wirklich über sich selbst Rechenschaft ablegen und den Begründern der mathematischen Naturwissenschaft die Bedeutung zurückgeben, die die traditionelle Philosophiegeschichtsschreibung ihnen abzusprechen neigt. Cassirer geht es darum, das Marburger Prinzip der Entwicklung und Veränderung des Faktums der Wissenschaft in der unauflöslichen Verbindung, in der es zur Erkenntniskritik steht, in seiner ganzen Fruchtbarkeit zu illustrieren und es in den Rang einer eigenständigen Forschungsleistung zu erheben: Der geschichtliche »Prozeß« ist demzufolge nicht der Zufälligkeit einer simplen Abfolge anvertraut, sondern erscheint als ständig durch die immanente Gesetzmäßigkeit des »modernen Systems der Erkenntnis« geleitet.13 Und für Cassirer, wie übrigens auch für Cohen, folgt daraus die Notwendigkeit, energisch die Kontinuität eines solchen Prozesses hervorzuheben; ist es doch die Kontinuität der Vernunft selbst, die garantiert, daß die wechselhafte Geschichte der Wissenschaft nicht die Universalität der »logischen Funktionen der Erkenntnis« zerstört und sie in einen unaufhaltsamen Relativismus hineinzieht.14 Einerseits insistiert Cassirer daher auf der historischen Dimension, denn »das ›Faktum‹ der Wissenschaft ist und bleibt seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum«; andererseits will er nicht auf die Funktion des Apriori verzichten, welche als dynamische, wandlungsfähige kategoriale Struktur zu verstehen sei, die in ihrer unvermeidbaren Teilhabe am «Leben der Erkenntnis», niemals wie bei Kant ein für alle Mal fixiert werden könne.15 Die Versöhnung dieser beiden Momente wird durch den Begriff der Wissenschaftsgeschichte selbst erreicht, die schon an sich die Idee »der Erhaltung einer allgemeinen logischen Struktur in aller Aufeinanderfolge besonderer Begriffssysteme« impliziere.16 Und unter diesem Blickwinkel müsse sich die transzendentale Methode, wenn sie wirklich ihre Aufgabe erfüllen will, ständig am »Fortschritt der wissenschaftlichen Grundbegriffe« messen und könne nicht bei einem ›toten‹ Gefüge kategorialer Strukturen stehen bleiben: Das Apriori besitzt damit eine ihm eigen-

13

A. a. O., 5. Zur »immanenten Logik der Geschichte« vgl. auch a. a. O., XI. A. a. O., 13. – Eine Kritik dieses Aspekts, der im allgemeinen Cassirers vermutetem Hegelianismus zugeschrieben wird, findet sich bei Joseph Agassi: Towards an Historiography of Science, ‘S-Gravenhage 1963, 34 f. 15 Vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 13 ff. 16 A. a. O., 13. 14

Ferrari · Faktum der Wissenschaft und Kulturphilosophie bei Cassirer

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tümliche Historizität.17 Dies stellt die Forderung nach einer tiefgreifenden Revision und ›Dynamisierung‹ des Kantischen Erbes dar und um es mit den Worten Diltheys zu sagen: »Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken. Nie können sie zerstört werden, da wir durch sie denken, aber sie werden entwickelt«.18 Dennoch hat dieser entscheidende Problemkomplex für Cassirer nicht mit der von Dilthey erhobenen Forderung zu tun, den »ganzen Menschen« anstelle eines abstrakten Subjekts der Erkenntnis zu rekonstituieren19, sondern er bezieht sich auf die Entwicklung, die die »idealistische Logik« durch die Logik der reinen Erkenntnis Cohens vollzogen hat. »Die Urteilsformen«, so Cassirer, »bedeuten ihr nur einheitliche und lebendige Motive des Denkens, die durch alle Mannigfaltigkeit seiner besonderen Gestaltungen hindurchgehen und sich in der Erschaffung und Formulierung immer neuer Kategorien betätigen. Je reicher und bildsamer sich diese Variationen beweisen, um so mehr zeugen sie damit für die Eigenart und Ursprünglichkeit der logischen Funktion, aus der sie hervorgehen.«20

In diesem Zusammenhang bildet die kategoriale, apriorische und sich entwickelnde Struktur der wissenschaftlichen Erkenntnis auch das Zentrum der modernen Kultur, wie sie sich seit der Renaissance ausgestaltet hat. Schon im ersten Band des Erkenntnisproblems rückt Cassirer die kulturelle Bedeutung der modernen Naturwissenschaft in den Vordergrund, indem er auf die »verschiedenen geistigen Kulturmächte« hinweist, die erst durch das »theoretische Selbstbewusstsein« der neueren Wissenschaft »ihre volle Wirkung entfalten können«.21 Diese innere Verflechtung der »Strömungen und [der] Kräfte der allgemeinen geistigen Kultur« mit der Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft wird von Cassirer deutlich betont22; und dieser Aufmerksamkeit für die kulturelle Dimension fügt sich die methodische These hinzu, nach der die Geschichte des Erkenntnisproblems als Darstellung des gesamten Gebietes der Philosophie »unter eine[m] bestimmten Gesichtspunkt« zu lesen sei und zugleich als Orientierungsmittel in der »Geschichte der geistigen Kultur« fungiere.23 Cassirer spricht dabei

17

A. a. O., 12. – Es ist interessant an dieser Stelle zu betonen, daß auf der vorletzten Seite der Einleitung zum Erkenntnisproblem im Kolumnentitel der Ausdruck »Das Apriori und seine Geschichte« verwendet wird. 18 Wilhelm Dilthey: Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XIX, hg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi, Göttingen 1982, 44. 19 So lautet bekanntlich die berühmte Formulierung Diltheys in der »Vorrede« seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, XVIII. 20 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 14 f. 21 A. a. O., IX. 22 A. a. O., XI. 23 A. a. O., 11 f.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

auch vom »Leben der Erkenntnis«24 und dieses Begriffspaar Leben/Kultur zeugt von einer Sensibilität, die Christian Möckel zurecht als im Einklang mit »Diltheyschen Anregungen« beurteilt hat.25 Im allgemeinen läßt sich sagen, daß Cassirer die Entstehung der modernen Naturwissenschaft und ihre Vorbereitung im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance nicht nur im reinen erkenntniskritischen Sinne, sondern auch hinsichtlich ihrer Tragweite für die gesamte Kultur interpretiert. Dieser Standpunkt ist auch später immer wieder präsent und wird zum Ausgangspunkt der Betrachtungen Cassirers über die revolutionäre Bedeutung von Galileis Wissenschaftsbegriff und seine Folgerungen für die »Ethik der Wissenschaft«.26 Es ist natürlich kaum darauf zu bestehen, daß das reifste und glänzendste Ergebnis dieses historisch-systematischen Ansatzes in dem Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance auffindbar ist, das eine neue Perspektive über die Auswirkung der Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft und der Kunsttheorie der Renaissance auf die Moderne eröffnet und eine Art »Parallele« – wie Hans Baron bemerkte – zu Diltheys Darstellung der Weltanschauung und Analyse des Menschen seit der Renaissance-Zeit ausmacht. 27 Hier ist es besonders auffallend, daß Cassirer auf der Analogie von Kunsttheorie der Renaissance und wissenschaftlicher Erkenntnis der Natur insistiert, die in der Suche nach der Form als Ordnung und Auswahl des empirischen Materials übereinstimmen, welche von der Naturwissenschaft initiiert worden ist. 28 Cassirer selbst gesteht mit einer Würdigung des Beitrags von Erwin Panofsky ein, daß »die Bedeutung, die dem ästhetischen Faktor in der Entdeckung des modernen Naturbegriffs zukommt«, im Erkenntnisproblem noch nicht in ausreichender Klarheit erfaßt worden sei. 29 Nun weisen jedoch Theorie der Kunst und Erkenntnis der Natur eine präzise strukturelle Korrespondenz

24

A. a. O., 13. Vgl. Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005, 41 (siehe aber die Seiten 35–42 für diese ganze Thematik, die wir auch im folgenden nachvollziehen). 26 Ernst Cassirer: »Galileo Galilei. A New Science and a New Spirit« (1942), in: EWC 24, 53 und 64. Cassirer verwendet den Ausdruck »Revolution« auch in seinem späten Aufsatz »Mathematische Mystik und moderne Naturwissenschaft. Betrachtungen zur Entstehungsgeschichte der exakten Wissenschaft« (1940), in: EWC 22, 285. 27 Vgl. Hans Baron: »Literaturbericht. Renaissance in Italien«, in: Archiv für Kulturgeschichte XXI, 1930–1931, 113. 28 Vgl. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: EWC 14, 175; 184; 188. – Zur systematischen Bedeutung der Philosophie der Renaissance für Cassirer siehe Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 221–242. 29 Vgl. Cassirer: Individuum und Kosmos, EWC 14, 177, Anm. 1 und 194, Anm. 68. – Von Panofsky ist nicht nur der Aufsatz »Idea« von 1924, sondern auch die ausgezeichnete Studie Galileo as critic of Arts, The Hague 1954, zu vergegenwärtigen, die eine glänzende Darstellung dieses P ` arallelismus´ von Wissenschaft und künstlerischer Anschauung bietet. 25

Ferrari · Faktum der Wissenschaft und Kulturphilosophie bei Cassirer

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auf: Der Übergang vom Raum als Aggregat und substanziellem Substrat zum reinen systematisch-funktionalen Raum verband die Entwicklung der Kosmologie von Cusanus bis Kepler mit der von Panofsky beleuchteten künstlerischen Entdeckung der Perspektive. In diesem Sinne sind Kunst und Wissenschaft für Cassirer zwei verschiedene Manifestationen einer geistigen Energie, eines neuen Lebens- und Wirklichkeitsgefühls.30 Gewinnt damit das einheitliche, auf der Wissenschaft ebenso wie auf der Kunst beruhende Bild der Renaissance eine paradigmatische Rolle für den gesamten Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen, so ist andererseits auch darauf hinzuweisen, daß eine zentrale, vermittelnde Rolle dabei auch vom Begriff des Lebens gespielt wird – denn es ist das Problem des Lebens, das seit dem Buch aus den jungen Jahren über Leibniz ein wenig sichtbares, aber grundlegendes Motiv bei Cassirer bildet.31 Leben heißt zunächst Leben im wissenschaftlichen Sinne, also lebendige Natur und Wissenschaft des Lebens, buchstäblich Biologie; Leben bedeutet aber zugleich geistiges Leben, Form, Ordnung, kurz: eine Gestaltungsfähigkeit, die die Kulturformen wie etwa Sprache und Kunst durchdringt.32 Von der Natur und der beschreibenden Naturwissenschaft ausgehend thematisiert damit die kritische Philosophie das Reich des Geistigen, der Kultur – und eben darum schreibt Cassirer eine immer größere Bedeutung der Kritik der Urteilskraft zu. In seinem Kant-Buch (1918) 33 äußert sich Cassirer diesbezüglich am klarsten: Mit der Kritik der Urteilskraft wird eine Erweiterung des Erfahrungsbegriffs selbst unternommen, die dazu führt, ausgehend von der niedrigsten Ebene der konkreten Individualität der einzelnen Phänomene, die »Einheit des Mannigfaltigen« zu finden. Und vor allem die lebenden Organismen sind es, die Kant – wie Cassirer viele Jahre später im vierten Band des Erkenntnisproblems feststellt – zu dieser entscheidenden »Modifikation des kritischen Objektbegriffs« veranlaßt haben.34 Die Aufmerksamkeit auf das Leben kann aber nicht bei dem Leben im biologischen Sinne stehenbleiben, bei dem Leben der lebendigen Formen, sondern sie muß vielmehr die Formen der Kultur einbeziehen, das Leben anderer ›Organismen‹, das nicht dem Kausalgesetz der mathematischen Physik unterliegt, sondern auf eine zweckmäßige Gesetzlichkeit

Vgl. Cassirer: Individuum und Kosmos, EWC 14, 208–220. Vgl. Ernst Cassirer: Leibniz‹ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: EWC 1, 358 ff. 32 Vgl. dazu Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, 73 ff. – Zur Rolle der Biologie bei Cassirer siehe Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, 257 ff. 33 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8. 34 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5, 138. 30 31

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

verweist: denn wenn – so Kant – dem bestimmenden Urteil die Erklärung des Phänomens entspricht, so kommt es dem reflektierenden Urteil hingegen zu, die Regeln der Beurteilung zu liefern. 35 Nicht nur die biologischen Formen, sondern auch die Formen der Kultur – und es sei vor allem an die Sprache erinnert – können als Teile betrachtet werden, die zu einem Ganzen verbunden werden können, das nicht einfach ihre Summe ist; d. h. als Gestaltungen, die sich kraft eines inneren Bildungstriebs ausfalten, der in der Lage ist, Natur und Kultur, belebte Welt und menschliche Welt zusammenzuführen.36 Zweifellos wäre es irreführend, die Ergebnisse der späteren ›Kulturphilosophie‹ auf eine noch im Übergang befindliche Phase des Cassirerschen Denkens zu projizieren; es ist jedoch offensichtlich, daß gerade die Lektüre des zweiten Teils der Kritik der Urteilskraft für Cassirer den Horizont einer ›pluralistischen‹ Konzeption der Formen öffnete, so daß er den Versuch Kants, die kritische Besinnung auch jenseits des »Anwendungsgebietes« der mathematischen Naturwissenschaft zur Geltung zu bringen, nicht ignorieren konnte.37 Hatte Kant in der Kritik der Urteilskraft versucht, die Einheit der Natur und des Geistes in einem »einzigen Organismus der Vernunft« aufzufinden, so sollte sich die Philosophie für Cassirer nicht mehr mit Objekten, sondern mit den »Grundfunktionen« des Geistes beschäftigen und sie blieb gerade deshalb immer auf das ›Faktum‹ der Kultur in ihrem gesamten Umfang verwiesen: Ihr neuer »Gegenstand« war nun der »Kosmos dieser [geistigen] Kräfte selbst, ihre Mannigfaltigkeit und ihre Gliederung«.38 Dieser pluralistische Begriff der Form und des »Organismus der Vernunft« wäre allerdings ohne Goethe undenkbar – oder, wenn man so will, ohne die Auslegung der Kantischen Philosophie aufgrund von Goethe und die Auslegung des Goetheschen Denkens aufgrund von Kant, die immer mehr den gravierenden Punkt der Cassirerschen Philosophie bilden sollten. Es geht um ein Thema, das schon deutlich in Freiheit und Form auftaucht, in der die Kritik der Vernunft Kants als Philosophie der Freiheit und der geistigen Spontaneität dargestellt wird, so daß »[sich] die logische Systematik weitet und vollendet […] zu einer allgemeinen Systematik des

Vgl. dazu Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Kants gesammelte Schriften, Bd. XX, Berlin 1902 ff., 218. 36 Zum Bildungstrieb vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Kants gesammelte Schriften, Bd. V, § 81, 424 und den kurzen Text Goethes mit dem Titel Bildungstrieb in Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bd. 13, München 1989, 32 ff. – Zur Welt der Kultur als »organic whole« vgl. auch Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: EWC 23, 238. 37 Vgl. Cassirer: Kants Leben und Lehre, ECW 8, 346. 38 A. a. O., 150. 35

Ferrari · Faktum der Wissenschaft und Kulturphilosophie bei Cassirer

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Kulturbewusstseins«.39 Zum ersten Mal stellt damit Cassirer sein eigentümliches Bild von Kant als – um Heinrich Rickerts späteres Buch zu erwähnen – »Philosoph der modernen Kultur« heraus40 : Eine Perspektive, die aber die entscheidende Rolle von Leibniz und die historisch-systematische Einstellung der kritischen Philosophie innerhalb der deutschen Geistesgeschichte von dem Zeitalter der Reformation bis Goethe voraussetzt. Und doch ist Cassirer in diesem Zusammenhang immer mehr davon überzeugt, daß eine derartige »allgemeine Systematik des Kulturbewußtseins« eine erhebliche Modifizierung der noch starren Systemform des Marburger Neukantianismus erfordere, sei es um ein allgemein-dynamisches formgebendes Prinzip der jeweiligen Kulturformen herauszufinden, sei es um die rein funktionelle Einheit der Kultur nicht dadurch zu präjudizieren, daß sie ausschließlich – wie Cohen hingegen immer wieder betont hatte – aus »Logik, Ethik und Ästhetik« bestehe: Das hatte zur Folge, daß für Cohen die »wahrhafte« Kulturphilosophie allein »auf diesen drei Füßen« stehen muß.41 Dieser Umstand ist von höchster Wichtigkeit, denn genau hier, bei der Erweiterung der transzendentalen Methode über das Paradigma der mathematischen Naturwissenschaft hinaus, ergibt sich für Cassirer die Möglichkeit einer »Kritik der Kultur«, die einerseits dem transzendental-methodischen Ansatz noch verpflichtet bleibt und andererseits das Vorbild der Marburger Kulturphilosophie als Kantischer Trias von Logik, Ethik und Ästhetik in Frage stellt. »Für Kant«, so Cassirer 1921 in seinem Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik«, »sind es wesentlich drei große Grund- und Hauptformen, in denen er die […] Spontaneität des Geistigen im allgemeinen beschlossen und erschöpft sieht: Der Autonomie des Logischen, die sich zum Begriff der Natur und der Naturerkenntnis entfaltet, steht die Autonomie des Sittlichen, die sich im Gedanken der Freiheit gründet, gegenüber und beide vermitteln und versöhnen sich miteinander im Bereich der Kunst und der künstlerischen Selbsttätigkeit. Auch diese Dreiteilung erschöpft indessen nicht den gesamten Inbegriff der geistigen Energien und enthält nicht alle seine charakteristischen Gliederungen und Besonderungen. Wir brauchen, um dies zu zeigen, nur auf die Welt der Sprache, als bezeichnendes und prägnantes Beispiel, zu verweisen. Seit Wilhelm von Humboldts

Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: EWC 7, 151. 40 Vgl. Heinrich Rickert: Kant als Philosoph der modernen Kultur, Tübingen 1924. Dazu erlaube ich mir, auf meinen Beitrag zu verweisen: Massimo Ferrari: »Neokantismo come filosofia della cultura: Wilhelm Windelband e Heinrich Rickert«, in: Revue de Métaphysique et de Morale CII, 1998, 367–388. 41 Vgl. Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls (1912), in: ders.: Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Bd. 7, Hildesheim-New York 1982, XI. 39

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Grundlegung der allgemeinen Sprachphilosophie hat sich die kritische »Revolution der Denkart« auch auf diesem Gebiet durchgesetzt. Die Sprache erscheint jetzt nicht mehr als »Ergon«, sondern als »Energeia«; nicht mehr als Wiedergabe eines Vorhandenen, sondern als eine reine Funktion, kraft deren wir uns die Welt von innen her aufbauen und ihr eine bestimmte geistige Prägung geben.«42 Es scheint nicht zufällig, daß Cassirer in einer Studie zu Goethe eine derartige These formuliert. Denn die Berufung auf Goethe und insbesondere auf seine Ansicht der Morphologie kennzeichnet die entscheidende, Anfang der 20er Jahre sich profilierende Phase der Reflexion Cassirers über die Möglichkeit, die Transzendentalphilosophie als allgemeine Theorie der Formen bzw. als »Formenlehre« des Geistes43 im Hinblick auf eine »Kritik der Kultur« zu verstehen. Wie Karl Robert Mandelkow richtig bemerkt hat: »für Cassirer besteht zwischen Kants Denkungsart und Goethes Philosophie eine Analogie, derart, daß dessen Metamorphosenlehre zur »Form« seiner Naturbetrachtung im transzendentalphilosophischen Sinne wird«.44 Dieser Begriff von Form setzt aber voraus, daß Cassirer aufgrund seiner Goethe-Interpretation zugleich einen neuen Begriff von Theorie entwirft und zwar gemäß dem Diktum Goethes, nach dem wir »schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren«.45 Wenn »alles faktische schon Theorie ist«, wie Goethe sich in seinen Maximen und Reflexionen äußert46 , so folgt daraus, daß auch »die Weise des Sehens« theoretische Momente bzw. eine geistige Aktivität involviert – allgemein gesprochen, daß zwischen Idee und Erfahrung, jeder Art der Erfahrung, immer ein eigentümliches »Ineinandergreifen«, eine »Wechselbeziehung« stattfindet.47 Diese Erweiterung des Grundbegriffs der Theorie bedeutet zugleich, daß die Philosophie der symbolischen Formen zwar über die Probleme der Erkenntnistheorie hinausgeht, um »theoretische Formmomente und Formmotive« auch in dem Weltbild der Wahrnehmung und der Anschauung aufzufinden48 , doch bleibt sie einem transzendentalphilosophischen Ansatz noch verpflichtet, obwohl die ursprüngliche Form der

Ernst Cassirer: Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze (1921), in: EWC 9, 302. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) (1923), in: ECW 11, VII. 44 Karl Robert Mandelkow: »Bemerkungen zum Goethebild Ernst Cassirers«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002, 46. 45 Cassirer: Idee und Gestalt, EWC 9, 279. – Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre, in: ders.: Goethes Werke, Bd. 13, 317. 46 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, hg. von M. Eckers, Frankfurt/M. 1976, 116. 47 Cassirer: Idee und Gestalt, EWC 9, 272 ff. 48 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, VII. 42 43

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kritischen Philosophie Kants nicht beibehalten werden darf. So heißt es in »Goethe und die mathematische Physik«: »Der Begriff des Transzendentalen selbst hat sich […] wieder aus der ausschließlichen Beziehung zur Theorie, und insbesondere zu Newtons mathematischer Naturwissenschaft, herausgelöst. Er wird überall dort anwendbar, wo es sich überhaupt um Formen geistiger Gesetzlichkeit handelt, aus denen sich eine objektive Auffassung und ein objektiver Aufbau der «Wirklichkeit” ergibt. Wird aber die Frage wieder in dieser umfassenden Bedeutung gestellt, so weist sie auf einen Problemkreis hin, der innerhalb des Kantischen Systems nicht mehr zur Bezeichnung und Bearbeitung gelangt ist.«49

Es ist andererseits von erheblicher Bedeutung, daß ein entscheidender Impuls in der Richtung der Erweiterung einer funktionellen Auffassung der Erkenntnis auf die verschiedenen Gebiete der menschlichen Erfahrung, aus der erkenntniskritischen Analyse der allgemeinen Relativitätstheorie herstammt. Indem Cassirer die Frage nach dem apriorischen Status der Raumund Zeitbegriffe aufgrund der modernen Physik stellt und sie in dem Sinne auflöst, daß das Kantische Apriori vom irgendwelchem materiellen Inhalt entleert werden muß, damit seine eigentümliche reine Ordnungsfunktion sich als eine Art von relationaler Struktur Leibnizischer Prägung erweisen könne, ergibt sich zugleich die Möglichkeit, die Formen der Erfahrung pluralistisch zu verstehen: So wird z. B. der Raum nicht mehr an eine einzige geometrische »Materie« gebunden, sondern er gewinnt eine völlig pluralistische Gestaltung – nicht nur im Sinne der verschiedenen geometrischen Systeme, die mit einer solchen Form kompatibel sind, sondern auch in dem Sinne, daß verschiedene Räume überhaupt möglich sind, so etwa ein mathematischer, ein physikalischer, ein ästhetischer, ein psychologischer Raum.50 Es ist eben diese »Vielgestaltigkeit«51 der Betrachtungsweisen, die die ›Liberalisierung‹ des Apriori aufgrund der Relativitätstheorie ermöglicht: In dem Moment, in dem die physikalische Realität den letzten Rest substanzieller Gegenständlichkeit verliert und sich in ein bloßes Gewebe aus Gesetzen und Verhältnissen auflöst, ›vervielfältigt‹ sich das gesamte Problem der Wirklichkeit und »befreit sich« »von der Einseitigkeit« der traditionellen Vorstellung von der Welt. Es vervielfältigen sich die ›Bezugssysteme‹, mit denen der Mensch sich der Welt nähert und ihr eine Form aufprägt, während sich auf der anderen Seite die Vorstellung einer vollendeten Bestimmbarkeit des Wirklichen als regulative Idee erweist,

Cassirer: Idee und Gestalt, EWC 9, 302. Vgl. Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10, 69 ff. 51 A. a. O., 112. 49 50

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

als Fluchtpunkt, in dem alle »Formen der Welterkenntnis und des Weltverständnisses«: das »Ganze der symbolischen Formen« konvergieren. 52 Und sowohl am Schluß der Arbeit über Einstein als auch im Aufsatz über »Goethe und die mathematische Physik« versteht Cassirer bereits unter symbolischen Formen neben Erkenntnis, Ethik und Ästhetik auch Sprache, Mythos, Kunst und Religion. 53 Das Ganze der symbolischen Formen muß aber immer noch aufgrund der transzendentalen Methode untersucht werden. So ist z. B. das Gebiet des sprachlichen Ausdrucks bzw. der sprachlichen Form im Sinne Wilhelm von Humboldts als Faktum bzw. als Objektivation des Geistes unter dem Gesichtspunkt der transzendentalmethodischen Fragestellung zu berücksichtigen. 54 Dasselbe gilt auch für den Mythos, dessen Thematisierung im Zusammenhang einer »Kritik der Kultur« erst durchführbar wird, wenn man auch das mythische Denken aufgrund der »Methodik der kritischen Analyse« betrachtet, und zwar mittels des Grundprinzips, nach dem »überall vom »Gegebenen«, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewusstseins« auszugehen ist, um von der »Wirklichkeit des Faktums« auf die »Bedingungen seiner Möglichkeit« zurückzugehen. 55 Die Philosophie der symbolischen Formen als systematische Untersuchung über die verschiedenen Denkfunktionen, die

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A. a. O., 113 f. – Zur Bedeutung eines »Befreiers«, die die Relativitätstheorie unter diesem Blickwinkel für Cassirer erhält, vgl. die Beobachtungen von Wolfgang Marx: »Aspekte der Theorie der Grundlagen wissenschaftlicher Erfahrung E. Cassirers«, in: ders. (Hg.): Determinismus- Indeterminismus. Philosophische Aspekte physikalischer Theorienbildung, Frankfurt/M. 1990, 140. 53 Letztere Formulierung findet sich in Cassirer: Idee und Gestalt, EWC 9, 303; vgl. darüber hinaus ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 113 f. 54 Nach Cassirer besteht nämlich die eigentliche Bedeutung des Humboldtschen Werkes in der Anwendung der transzendentalen Methode auf jenes von Kant völlig vernachlässigte Faktum der Sprache: »Der Grundgedanke der transzendentalen Methode: die durchgängige Beziehung der Philosophie auf die Wissenschaft, die Kant im Hinblick auf die Mathematik und die mathematische Wissenschaft durchgeführt hatte«, so Cassirer, »erschien jetzt in einem ganz neuen Gebiet bewährt.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 106) – Auf der Übernahme der »methodischen Strenge« des kritischen Idealismus durch Humboldt insistiert Cassirer energisch, indem er sich im wesentlichen auf drei grundlegende Aspekte bezieht: in erster Linie auf die kritische Auflösung des traditionellen Objektbegriffs und des Verhältnisses Subjekt-Objekt; in zweiter Linie auf das Verständnis der sprachlichen Ausdrucks als »Arbeit des Geistes«, als Tätigkeit, die sich um die freie »Produktivität des Geistes« dreht; und schließlich auf den ›genetischen‹ Charakter – jedoch im Sinne einer nicht mehr psychologischen, sondern transzendentalphilosophischen Genese der sprachlichen Schöpfung. Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16, 105–133. 55 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 13 f. – Siehe dazu Esther Oluffa Pedersen: Die Mythosphilosophie Ernst Cassirers – zur Bedeutung des Mythos in der Auseinandersetzung mit der Kantischen Erkenntnistheorie und der Sphäre der modernen Politik, Philosophische Dissertation, Kobenhavns Universitet 2007.

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den Kulturformen zugrunde liegen und sie zugleich ermöglichen, stellt somit eine Erweiterung der transzendentalen Methode dar, wie Cassirer selbst im Lauf der Davoser Disputation mit Heidegger bezüglich der Sprache hervorhebt. 56 Dieser methodische Ansatz wird immer wieder in den Vordergrund gerückt und stellt gleichsam das »Dogma« auch der späten Cassirerschen Kulturphilosophie dar, die erst von der Erforschung der Möglichkeitsbedingungen der Kulturfakta überhaupt ausgehen kann. So heißt es zum Beispiel in einem 1936 in London bei dem Warburg Institut gehaltenen Vortrag: »We are no longer studying the works of art, the products of mythical or religious thought, but the working powers, the mental activities, that are required in order to produce these works. If we succeed in gaining an insight into the character of these powers, if we understand them, not in their historical origin, but in their structure, if we conceive in what way they are different from each other and nevertheless cooperating with each other, we have reached a new knowledge about the character of human culture. We can understand the work of human civilisation not only in its historical but also in its systematic conditions; we have entered, so to speak, into a new dimension of thought.«57

Diese »neue Dimension des Denkens« eröffnet sich, wenn die Philosophie den verschiedenen Kulturschöpfungen gegenüber einen Schritt zurück macht, um die geistigen »Funktionen« und die geistigen »Energien«, die der kulturellen Gestaltung zugrundeliegen, anhand der Kantischen Methodik zu begreifen. Es ist in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend, daß Cassirer gleichsam ein kulturphilosophisches Denkexperiment versucht, indem er die Frage nach der kulturellen Bedeutung der Technik in seinem Aufsatz vom Jahre 1930 stellt. Die Technik bildet eine Macht, die eine wahrhafte Stelle innerhalb der Kulturphilosophie noch nicht gefunden habe – und eben darum besteht das Vorhaben Cassirers darin, auch das menschliche Tun der Technik gemäß der transzendentalen Methode anzu-

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So argumentiert Cassirer in seinem Gespräch mit Heidegger: »Ich bleibe bei der Kantischen Fragestellung des Transzendentalen stehen, wie sie Cohen immer wieder formuliert hat. Er sah das Wesentliche der transzendentalen Methode darin, daß diese Methode anfängt mit einem Faktum; nur hatte er diese allgemeine Definition: Anfangen mit einem Faktum, um nach der Möglichkeit dieses Faktums zu fragen, wieder verengt, indem er als das eigentlich Fragwürdige immer wieder die mathematische Naturwissenschaft hinstellte. In dieser Einschränkung steht Kant nicht. Aber ich frage nach der Möglichkeit des Faktums Sprache. Wie kommt es, wie ist das denkbar, daß wir uns von Dasein zu Dasein in diesem Medium verständigen können? Wie ist es möglich, daß wir ein Kunstwerk als ein objektiv Bestimmtes, als objektiv Seiendes, als dieses Sinnvolle in seiner Ganzheit nun überhaupt sehen können?« (Martin Heidegger: »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, fünfte, vermehrte Auflage, Frankfurt/M. 1991, 294–295). 57 Ernst Cassirer: »Critical Idealism as a Philosophy of Culture«, in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979, 81 (Hervorhebung MF).

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

fragen, damit sein Platz im geistigen Horizont der Kultur und des »Prozesses der Gestaltung« bestimmt werden könne. »Will die Philosophie«, so Cassirer, »ihrer Mission treu bleiben, will sie ihr Vorrecht behaupten, gewissermaßen das logische Gewissen der Kultur zu bedeuten, so wird sie – wie sie nach der ›Bedingung der Möglichkeit‹ der theoretischen Erkenntnis, der Sprache, der Kunst fragt – so auch nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ des technischen Wirkens und der technischen Gestaltung fragen müssen. Sie wird auch hier die Seinsfrage und die Rechtsfrage erst stellen können, nachdem sie die Sinnfrage von Grund aus geklärt hat. Aber diese Klärung kann nicht gelingen, solange die Betrachtung im Kreis der technischen Werke, im Bezirk des Gewirkten und Geschaffenen, verharrt. Die Welt der Technik bleibt stumm, solange man sie lediglich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und befragt – sie beginnt erst zu erschließen und ihr Geheimnis preiszugeben, wenn man auch hier von der forma formata zur forma formans, vom Gewordenen zum Prinzip des Werdens zurückgeht.«58

Über die spezifische Frage nach dem Wesen der Technik hinaus kommt dem Begriff von forma formans offensichtlich eine herausragende Bedeutung zu, denn jede Kulturform muß vom Blickpunkt ihrer Formung aus betrachtet werden; und erst daraus entsteht eine dynamische Auffassung der symbolischen Formen qua Formungen, die keineswegs statische Formen sind – sie sind vielmehr »geschichtlich werdende Formen«, die freilich »an funktionalen Konstanten« festhalten.59 Ebenso wie im Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis zielt damit der methodische Ansatz Cassirers auch in bezug auf die Kulturformen darauf ab, »Invarianten« zu ermitteln, die sich aber nach Art und Form nicht auf die Invarianten der wissenschaftlichen Naturerkenntnis reduzieren lassen.60 Anders gesagt, stellt die Kulturwelt eine Modalität der Objektivierung: auch sie besitzt

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Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 142. Vgl. Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007, 152. 60 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff., (ECN), Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. von Klaus Christian Köhnke und John Michael Krois, 108. – Detlev Pätzold hat sich neuerdings von einer solchen These (die ich in meinem in Anm. 9 erwähnten Aufsatz vertreten habe) darum distanziert, weil die wissenschaftstheoretische Invariantentheorie Cassirers keine »dominante« Rolle in seiner späteren Theorie der symbolischen Formen spiele. Vgl. dazu Detlev Pätzold: »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007, 195, Anm. 27. Es ist jedoch mindestens daran zu erinnern, daß Cassirer die Fruchtbarkeit der Invariantentheorie im Sinne Felix Kleins auch in einem seiner letzten Aufsätze am klarsten hervorgehoben hat und zwar in Bezug auf das Problem der Wahrnehmung, d. h. eines Problems, das eine zentrale Stelle in der »Phänomenologie der Erkenntnis« seit dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen einnimmt. Vgl. dazu Ernst Cassirer: «The Concept of Group and the Theory of Perception” (1944), in: ECW 24, 209–250. 59

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»eine echte Objektivität, weil sie zu den Grundmitteln der Objektivierung selbst gehört«.61 In der Sprache der späten Philosophie Cassirers bedeutet dies, daß die Struktur der menschlichen Fähigkeit, Werke zu gestalten, mit den Bedingungen, den Formprinzipien der Objektivierungsleistungen des Geistes zusammenfällt.62 Besonders erhellend sind hier einige Passagen aus den Aufzeichnungen zur Metaphysik der symbolischen Formen, wo Cassirer dies am klarsten behauptet: »Auch [der ›formale‹ Idealismus] geht vom ›Werk‹ aus – und er benutzt dieses Werk, um, rückschauend von ihm, in reiner ›Reflexion‹ auf die Werkgestalt die Formen zu ermitteln, die in ihm investiert sind. So vor allem in der Wissenschaft – sie wird als ein ›Faktum‹ aufgezeigt; aber sie wird nicht in diesem ihrem faktischen Bestand – als ein Inbegriff von Wahrheiten, Erkenntnissen – stehen gelassen – sondern es wird nach ihrer systematischen ›Form‹ gefragt, nach den Prinzipien, Grundsätzen, Axiomen, die sie ›konstituieren‹, die die ›Bedingungen ihrer Möglichkeit‹ ausmachen. Und ebenso wird nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ der Sittlichkeit, der Kunst u.s.f. gefragt […]. Aus dieser kritisch-transzendentalen Fragestellung entwickelt sich die »Philosophie der symbolischen Formen« und auf ihr baut sie auf – Sie ist reine ›Kontemplation‹, nicht einer Einzelform, sondern der Allheit, des Kosmos der reinen Formen – und sie sucht diesen Kosmos auf die ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurückzuführen.«63

Die dauernde Rolle der transzendentalen Methode bei der Grundlegung einer Philosophie der symbolischen Formen bzw. des menschlichen Werkschaffens ist freilich im engeren Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Paradigmas ›von der Substanz zur Funktion‹ zu deuten. Dieses Paradigma wird von Cassirer in dem Sinne ausgearbeitet, daß die Geschichte der reinen Vernunft, von der Kant gesprochen hatte, auch als Geschichte der Selbstbefreiung der Vernunft und zugleich des modernen Menschen gedeutet werden kann. Darauf besteht besonders Cassirer in seinem späten Essay on Man, in dem das Endergebnis der Analyse des Menschen als animal symbolicum in der Entdeckung besteht, daß der Mensch eine »funktionelle Einheit«, keineswegs eine »bloße Substanz« sei. Ein solches Selbstbewußtsein des Menschen wird aber erst erreicht, wenn der Mensch seine eigene Kulturwelt als die Welt der fortschreitenden Selbstbefreiung versteht, d. h. als die Kulturwelt der Aufklärung, als unendliche Aufgabe, als telos der Moderne.64

Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, 151. Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 163–164. 63 A. a. O., 193–195. Zum Faktum der verschiedenen Kulturwissenschaften, die aufgrund der transzendentalen Methode hinsichtlich einer Kritik der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis zu rechtfertigen sind, vgl. auch Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5, 88. 64 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: EWC 23, 238, 244. 61

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Diese allgemeinen kulturphilosophischen und kulturanthropologischen Thesen lassen sich aber erst in Rahmen des Paradigmas ›von der Substanz zur Funktion‹ angemessen einschätzen. Dieses Paradigma wurde sehr früh von Cassirer innerhalb seiner historisch-systematischen Rekonstruktion der Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft und des Erkenntnisproblems in der neueren Zeit formuliert und seitdem hat es eine herausragende Rolle für sein ganzes philosophisches Schaffen gespielt. In der Tat liegt schon das Grundmotiv der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems gerade in der Bestimmung des »Begriffs der Funktion [ … ] als logisches Vorbild«, als immanentes Ziel des modernen Erkenntnisproblems. 65 Es handelt sich um eine mühevolle Errungenschaft, die bei der Kritik der Renaissancephilosophie an den substanziellen Formen ihren Anfang nimmt66 und dann gefolgt wird von dem Kampf der modernen Wissenschaft um die Befreiung der Erkenntnis von der irreführenden Annahme einer Welt der Dinge unabhängig von jeder begrifflichen Voraussetzung, um die vollständige Autonomie der reinen Relationen gegenüber den sinnlichen Daten zu behaupten. 67 Bei Cassirer eliminiert die befreiende Kraft der reinen ideellen Verhältnismäßigkeit in aufsteigender Bewegung des ›Erkenntnisprozesses‹ jeglichen Restbestand des Substantialismus; und die Emanzipation, noch unvollendet in den klassischen Systemen des Empirismus68 , findet ihren mustergültigen Vorkämpfer vor allem in Galilei, dem Begründer des funktionalen Begriffs der Beziehung von Gegebenem und rationaler Struktur, der den Weg für die Philosophie Descartes’ und Leibnizens ebnen wird. 69 Es ist die moderne Wissenschaft, die folglich (nach dem von Cassirer häufig verwendeten Ausdruck) den »Vorrang« des Funktionsbegriffs vor dem Dingbegriff inauguriert, welcher die wahre historische ›Mission‹ der wissenschaftlichen Erforschung der Natur und den Angelpunkt der »Erkenntniskritik« im Sinne des Marburger Neukantianismus ausmacht. 70 Und auf diese Weise fällt die Teleologie der Vernunft, die das Erkenntnisproblem leitet, mit dem zentralen Thema von Substanzbegriff und Funktionsbegriff zusammen: Der Funktionsbegriff als »allgemeine [ s ] Schema und [ … ] Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat«71, erweist sich als »eigentlicher systematischer Mittelpunkt«,

Vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 303. A. a. O., 63. 67 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 10 f., 30. 68 A. a. O., 223 f. 69 Vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 335 f. 70 A. a. O., 343; 349. 71 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 20. 65 66

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der das wissenschaftliche Denken endgültig ›befreit‹ hat, indem er es zur vollständigen »Auflösung des ›Gegebenen‹ in die reinen Funktionen der Erkenntnis«72 oder – wie Cassirer 1940 neuerlich bekräftigt – zum »Primat des Ordnungsbegriffs« führt. 73 Impliziert aber die moderne Physik den »Triumph des kritischen Funktionsbegriffs«74, so hat dies keineswegs eine bloß physikalische Bedeutung, sondern auch eine kulturelle und, noch besser, eine systematische Relevanz für die Philosophie der symbolischen Formen überhaupt. Sich auf die kleine Schrift Goethes – »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« – stützend, hat Cassirer diesen Umstand zum Ausdruck gebracht, indem er »de[n] höchsten Ausdruck der Objektivität«, d. h. die reine symbolische Funktion als Ergebnis des Fortganges der jeweiligen Kulturformen wie etwa Sprache und Kunst charakterisiert und in diesem Zusammenhang die Relativitätstheorie als »den eigentlichen Stil der modernen physikalischen Erkenntnis« definiert. 75 Cassirer will damit hervorheben, daß die Eigentümlichkeit jeder symbolischen Form keineswegs eine völlige, sozusagen strukturelle, Unterscheidung in dem Aufbau der jeweiligen Objektivitätsformen impliziert. So leitet die reine Bedeutungsfunktion die immanente Entwicklung der Kulturformen76 , wenn auch die symbolischen Formen wie Wissenschaft, Sprache, Kunst oder Mythos ihre eigene, innere Balancierung der verschiedenen symbolischen Funktionen zugunsten eines einzigen, einseitigen Schemas nicht opfern dürfen. Erst die Wissenschaft kann aber die endgültige Befreiung von jedem Rest substantieller Gegenständlichkeit versichern und in das Reich der reinen Bedeutungen einziehen. Insbesondere hat die moderne Physik das geleistet, was Cassirer im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen als den Wandel vom »Schematismus der Bilder« zum »Symbolismus der Prinzipien« kennzeichnet.77 In diesem Sinne hat Cassirer in seinem Essay on Man von der Naturwissenschaft als letzter Stufe in menschlicher kultureller Entwicklung gesprochen: »Science is the last step in men’s mental development and it may be regarded as the highest and most characteristic attainment of human culture […] There

Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Zweiter Band, ECW 3, 638. Vgl. auch Cassirer: Kant und die moderne Mathematik, ECW 9, 42 f. 73 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5, 58. 74 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 65. 75 Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 86–89. – Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke, Bd. 12, 32. 76 Zur Rolle der Bedeutungsfunktion vgl. hauptsächlich Ernst Cassirer: »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17, 253–282. 77 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 542. 72

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is no second power in our modern world which may be compared to that of scientific thought. It is held to be the summit and consummation of all our human activities, the last chapter in the history of mankind and the most important subject of a philosophy of man.«78

Dies aber bedeutet in keiner Weise, daß Cassirer eine Art Szientismus vertritt. Denn einerseits ist Cassirers Kulturtheorie nicht naturalistisch oder reduktionistisch gemeint: Sie will hingegen die eigentümliche Richtung und die spezifische Leistung der symbolischen Formen darin sehen, daß sie »an diesem Ziele: an dem Übergang vom Reich der »Natur« in das der »Freiheit« mitarbeiten kann und demnach – wie Birgit Recki betont – einen »Primat des Praktischen« profilieren.79 Andererseits ist Cassirer exemplarisch darum bemüht, sich mit dem Physikalismus des Wiener Kreises und insbesondere Rudolf Carnaps auseinanderzusetzen, indem der Physikalismus die zweite, grundlegende »Dimension« des geistigen Ausdrucks vernachlässigt und nur die erste Dimension der empirischen, durch formale Mittel zu überarbeitenden Basis in Betracht zieht.80 Erst der Ausdruck darf aber die Welt des Lebens, des Geistigen, der Seele thematisieren und eben dadurch wird ersichtlich, »[…] daß die Philosophie es nicht mit der Wissensch[aft] allein zu tun hat, sondern mit allen Formen des ›Weltverstehens‹«.81 Auf Carnaps Logischen Aufbau der Welt anspielend, sagt demzufolge Cassirer, die kritische Philosophie solle dazu streben, den »Aufbau der ›Kulturwelt‹« zu begründen82 – wobei Kulturwelt bedeutet, daß die Naturwissenschaften und die Kulturwissenschaften als gleichwertig zu betrachten sind, obgleich das Paradigma des funktionellen Denkens sich erst durch die moderne Naturwissenschaft etabliert hat. Dabei geht es allerdings um eine Umgestaltung des Marburger Neukantianismus, die aber keinen endgültigen Bruch mit ihm zur Folge hat. Das Erbe des Neukantianismus bildet vielmehr den Hintergrund (oder zumindest einen der möglichen Hintergründe), der in den kritischen Punkt der Philosophie Cassirers Licht bringen kann: d. h. das Verhältnis zwischen dem Faktum der Wissenschaft als Thema der kritischen Frage nach seinen Möglichkeitsbedingungen und der menschlichen Kultur als Inbegriff der

Cassirer: An Essay on Man, EWC 23, 223. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 109. – Siehe auch: Birgit Recki: »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Ursula Renz (Hg.): Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004, 115–134, bes. 122 ff. 80 Zur »viel zu schmal[en]« Basis des Problems in der Sicht des Wiener Kreises vgl. auch Cassirer: Kulturphilosophie, ECN 5, 178. 81 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 118 f. 82 A. a. O., 121. 78 79

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symbolischen Formen, die ganz analog nach ihren strukturellen Gestaltungen befragt werden müssen. Zwar gliedert sich das Ganze der geistigen Energien, die die Voraussetzung jeder Art von Objektivierung und Weltverständnis bilden, in eine Pluralität spezifischer Modalitäten, ohne jedoch einen Bruch zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften oder sogar zwischen »zwei Kulturen« zu postulieren, die keine methodische Verwandtschaft aufzeigen können und sich voneinander dadurch differenzieren, daß sie auf zwei ganz verschiedene »Welten« gerichtet seien. Andererseits bildet die Naturwissenschaft als historisch wandelbares und zugleich als an keine zufällige Form der Naturerkenntnis endgültig gebundenes Faktum ein echtes kulturelles Faktum: Es ist die Basis und der Ausgangspunkt für jede Untersuchung der kritischen Philosophie in Bezug »auf die allgemeine Grundrichtungen der Kultur« und auf die »universellen Prinzipien der »Formgebung« überhaupt«. 83 Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet bleibt Cassirer allerdings ein Kantianer, ein prominenter Fortsetzer des Kantischen Transzendentalismus im 20. Jahrhundert, wenn wir unter Transzendentalismus – um Volker Gerhardt zu zitieren – »die Lehre von der Begründung und Sicherung des Wissens durch menschliche Leistungen« verstehen. 84 Cassirer hat ganz gut begriffen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis und das Ethos der modernen Naturwissenschaft nicht im Gegensatz zu den Geistes- und Kulturwissenschaften stehen, denn sie stellen vielmehr den unentbehrlichen Beziehungspunkt dar, um die Kulturwelt aufbauen zu können – und erst in seiner Kulturwelt darf der Mensch die Selbstbefreiung im Zeichen der Autonomie der Vernunft beanspruchen. Eben darum können wir noch heute Cassirer, den originellsten und genialsten Erben des Marburger Neukantianismus, der aber von Leibniz und Goethe, von der Renaissancephilosophie und der modernen Physik entscheidende Impulse erhalten hat, als den echten modernen Philosophen betrachten – ein Philosoph, der den Weltbegriff der Philosophie im Sinne Kants verwirklicht85 , zugleich aber deshalb zu unserem ideellen Gesprächspartner wird, weil seine Philosophie der wissenschaftlichen Erkenntnis und der symbolischen Formen die hermeneutische, postmoderne oder poststrukturalistische Denkweise vorzeitig in Frage stellt. Denn Cassirer ist nie müde geworden, zu betonen, daß das Faktum der Wissenschaft noch immer, und vielleicht vor allem,

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Ernst Cassirer: »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22, 165. 84 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, 324. 85 »While endeavouring on behalf of the scholastic conception of philosophy, immersed in its difficulties as if caught in its subtle problems, we have all too frequently lost sight of the true connection of philosophy with the world« (Vgl. Ernst Cassirer: »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem«, in: Verene (Hg.): Symbol, Myth, and Culture, 60).

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

ein kulturelles Faktum bildet, das für den modernen Menschen und die moderne Kultur unabdingbar ist. Darin liegt auch seine Aktualität; und wenn wir das übliche Schema der Trennung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie annehmen, so dürfen wir Cassirer – um Michael Friedmans These aufzugreifen – als einen dritten Weg betrachten, d. h. als den Weg der Versöhnung und der Aufhebung dieser voneinander abweichenden Hauptrichtungen unserer philosophischen Gegenwart. 86

Literaturverzeichnis Joseph Agassi: Towards an Historiography of Science, ’S-Gravenhage 1963 Hans Baron: »Literaturbericht. Renaissance in Italien«, in: Archiv für Kulturgeschichte XXI, 1930–1931 Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 1 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: EWC 7 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – »Kant und die moderne Mathematik« (1907), in: ECW 9 – »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« (1912), in: EWC 9 – Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze (1921), in: EWC 9 – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12

Vgl. Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer and Heidegger, Chicago/La Salle (Illinois) 2000. Bezüglich des vermuteten ›Hegelianismus‹ Cassirers verweise ich aber auf meine kritischen Bemerkungen zu Friedmans Interpretation in Massimo Ferrari: »Natur- und Kulturwissenschaften. Cassirer, Hegel und der Neukantianismus«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie XVI, Heft 2, 2007, 67–78. 86

Ferrari · Faktum der Wissenschaft und Kulturphilosophie bei Cassirer

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– Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: EWC 14 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16 – »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17 – »Form und Technik« (1930), in: ECW 17 – »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939), in: ECW 22 – »Mathematische Mystik und moderne Naturwissenschaft. Betrachtungen zur Entstehungsgeschichte der exakten Wissenschaft« (1940), in: EWC 22 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: EWC 23 – »Galileo Galilei. A New Science and a New Spirit« (1942), in: EWC 24 – »The Concept of Group and the Theory of Perception« (1944), in: ECW 24 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois 1995 – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5 – »The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem«, in: Donald Phillip Verene (Hg..): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 – »Critical Idealism as a Philosophy of Culture«, in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, zweite, neu bearbeitete Auflage, Berlin 1885 – Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889 – Ästhetik des reinen Gefühls, Berlin 1912 – Logik der reinen Erkenntnis, zweite Auflage, Berlin 1914 – Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Bd. I/1, Hildesheim/Zürich/New York 1987 – Werke, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Bd. 6, Hildesheim/New York 1977 – Werke, hg. vom Hermann Cohen-Archiv, Bd. 7, Hildesheim/New York 1982 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1979 – Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XIX, hg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi, Göttingen 1982 Massimo Ferrari: »Neokantismo come filosofia della cultura: Wilhelm Windelband e Heinrich Rickert«, in: Revue de Métaphysique et de Morale CII, 1998

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

– »Ist Cassirer methodisch gesehen ein Neukantianer?«, in: Detlev Pätzold/ Christian Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 2002 – »Natur- und Kulturwissenschaften. Cassirer, Hegel und der Neukantianismus«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie XVI, Heft 2, 2007 Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer and Heidegger, Chicago/La Salle (Illinois) 2000 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, hg. von M. Eckers, Frankfurt/M. 1976 – Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Bde. 12 und 13, München 1989 Martin Heidegger: »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, fünfte, vermehrte Auflage, Frankfurt/M. 1991 Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Kants gesammelte Schriften, Bd. XX, Berlin 1902 ff. – Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Kants gesammelte Schriften, Bd. V, Berlin 1902 ff. Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007 Karl Robert Mandelkow: »Bemerkungen zum Goethebild Ernst Cassirers«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 Wolfgang Marx: »Aspekte der Theorie der Grundlagen wissenschaftlicher Erfahrung E. Cassirers« in: ders. (Hg.): Determinismus- Indeterminismus. Philosophische Aspekte physikalischer Theorienbildung, Frankfurt/M. 1990 Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005 Detlev Pätzold: »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007 Esther Oluffa Pedersen: Die Mythosphilosophie Ernst Cassirers – zur Bedeutung des Mythos in der Auseinandersetzung mit der Kantischen Erkenntnistheorie und der Sphäre der modernen Politik, Philosophische Dissertation, Kobenhavns Universitet 2007 Birgit Recki: »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Ursula Renz (Hg.): Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004 Heinrich Rickert: Kant als Philosoph der modernen Kultur, Tübingen 1924 Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997

Gerald Hartung

Critical Monism Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie

Ein zentrales Thema der Kulturphilosophie Ernst Cassirers ist die Markierung der Sprache als spezifische Differenz des Menschen, die ihn von anderen, durchaus intelligenten Lebensformen unterscheidet. Dieser Befund ist nicht neu, aber er ist noch nicht in den Konstellationen des Wissenschaftsdiskurses, auf den Cassirer sich bezieht, das ist insbesondere die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, herausgearbeitet worden. Das aber ist notwendig, um zu verstehen, auf welche Debatten Cassirer sich bezieht, und ob in dieser Bezugnahme Aspekte enthalten sind, die uns auch heute noch beschäftigen, wenn wir uns mit Fragen zur Grenze von Natur und Kultur, zur Entstehung der menschlichen Kultur und zu ihrem »Wesen«, ihrer Struktur und Funktionalität beschäftigen. Um dies tun zu können, sind erst seit kurzem – mit der abgeschlossenen Werkausgabe und der sukzessiv voranschreitenden Nachlaßausgabe Cassirers im Felix Meiner-Verlag – die Voraussetzungen gegeben. Für die Cassirer-Forschung bietet sich hierdurch die Möglichkeit, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und sich im Hinblick auf eine Kontextuierung des Cassirerschen Werks und auf eine Anbindung aktueller Fragestellungen an ebendieses Werk neue Horizonte zu erschließen. Einer dieser Horizonte soll hier beleuchtet und eine Diskussion zum Thema eröffnet werden. Die Überlegungen zur Sprachtheorie und Kulturphilosophie Cassirers gehören nicht bloß in einen werkimmanenten Zusammenhang. Es gibt eine zentrale Linienführung in der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die gleichsam in die philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie Cassirers hineinführt. Verkürzt kann man sagen, daß diese Linie sich in zwei Fragestellungen ausgeprägt hat. Zum einen in der klassisch metaphysischen, dann auch wissenschaftstheoretischen Frage »Wie ist Einheit in Vielheit zu denken?« Und zum anderen in der geschichtsphilosophischen, dann auch ethischen Frage »Wie ist Entwicklung mit Freiheit zusammen zu denken?« Zweifelsohne sind das Fragestellungen, die in dieser Zeit ohne einen Rekurs auf Hegels Philosophie nicht ernsthaft traktiert werden können. Cassirer hat dies gewußt und explizit gemacht – z. B. in der Einleitung zum dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, im vierten Band zur Geschichte des Erkenntnisproblems und in der Abhandlung Zur Logik der Kulturwissenschaften. Immer wieder bekennt Cassirer, daß er

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

für die Behandlung der genannten Fragestellungen die Auseinandersetzung mit Hegel nicht vermeiden kann. So heißt es, um ein weiteres Beispiel anzuführen, im Aufsatz Zur Logik des Symbolproblems (1938), daß die »Philosophie der symbolischen Formen« zwar »den ganzen Kreis des ›Weltverstehens‹ umfassen und die verschiedenen Potenzen, die geistigen Grundkräfte aufdecken [will], die in ihm zusammenwirken. […] Aber es ist klar, daß [diese Aufgabe] nicht mit einem Schlage gelöst werden kann – und daß es sich heute nicht darum handelt, das Problem als Ganzes zu bewältigen, als vielmehr den richtigen Ansatz des Problems zu finden.«1 Die Kulturphilosophie muß, das hat Cassirer mehrfach betont, die Leistungen der Einzelwissenschaften anerkennen, sie muß ihre eigene Stellung als Prinzipienwissenschaft aufgeben und in der Betrachtung der Resultate, die von den Einzelwissenschaften geliefert werden, den Blick auf deren gemeinsamen Ansatz herausarbeiten. Bei Cassirer ist das bekanntlich eine Grundfunktion des menschlichen Geistes; er spricht von der »symbolischen Funktion« oder dem »Formungsprinzip«. Cassirers Kulturphilosophie als eine andere »Logik« der Geistes- und Kulturwissenschaften spielt Hegel gegen Hegel aus. Denn es geht auch ihr um eine umfassende Darstellung des Weltverstehens, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes vorgeführt hat, aber es geht nicht mehr darum, dieses Problem ›mit einem Schlag‹ als ›Ganzes‹ zu lösen. Vielmehr zeigt sich, daß die Beziehung zwischen einer Vielheit in der Erfahrungswelt und dem Einheitsstreben unseres diskursiven Denkens dynamisch, geschichtlich und variabel ist. Das Ganze des Weltverstehens steht in einem Entwicklungshorizont, der unabschließbar ist. Bei der Suche nach einer Einheit des menschlichen Geistes kann es sich dementsprechend auch nur um eine Funktionseinheit − dem Streben nach Vereinheitlichung des symbolischen Formungsprinzips − handeln, die sich in der Durchdringung der Fülle der Erscheinungswelt behauptet. Nur »in dieser Hinsicht« − so heißt es in Zur Logik der Kulturwissenschaften − »kann eine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ den Anspruch auf Einheit und Universalität festhalten, den die Metaphysik in ihrer dogmatischen Gestalt aufgeben mußte. Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus, jedem Versuch des Welt-Verständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Resultat zuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit begreifen.«2

1

Vgl. Ernst Cassirer: »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936–1940), Hamburg 2006, 112–139, hier: 137. 2 Vgl. Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Erste Studie: Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, in: ECW 24, 357–390, hier: 376.

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Das Problem von Vielheit der Erfahrungswelt einerseits und Einheitsanspruch des Weltverstehens andererseits läßt sich mithin nicht prinzipiell lösen. Die Hegelsche Lösung beruhte noch auf einer Bannung des Entwicklungsgedankens mittels der dialektischen Methode und auf der Konstruktion einer Einheit von Sein, Werden und Denken.3 Diese Konzeption hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Weder wollten sich die Einzelwissenschaften weiterhin dem Diktat der Philosophie unterwerfen − wie noch in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) gefordert − noch wollten sie ihre wissenschaftlichen Methoden einer Universalmethode unterwerfen, noch bestand weiterhin die Überzeugung, daß sich Naturgeschichte oder auch Kulturgeschichte in einem Gesamtbild einfangen lassen. Unter dem Einfluß des Entwicklungsgedankens in der Naturforschung, der durch Darwins Lehre ins Rampenlicht der Debatten gerückt wurde, vollzog sich der Abschied von der Geschichtsphilosophie. Denn hier war man schon nach 1860 durchaus bereit, die Entwicklung und Veränderung von natürlichen Organismen oder sozialen Formen zu untersuchen, ohne zuvor die Frage nach dem Muster und letzten Sinn dieses Geschehens geklärt zu haben. Dennoch ist es nicht so, daß auf ein altes Weltbild ein neues folgt, oder – um mit David Friedrich Strauß zu sprechen – auf einen alten Glauben ein neuer folgt. Vielmehr hat die Einsicht in die prinzipielle Unlösbarkeit philosophischer oder ganz allgemein wissenschaftlicher Probleme nicht automatisch dazu geführt, daß das zu lösende Problem für uns gleichgültig wird. Das gilt – wie Kant in den ersten zwei Kritiken gezeigt hat – für die grundlegenden philosophischen Rätselfragen und das gilt auch für die Frage, wie eine Einheit von Natur und Kultur in der zu beobachtenden Vielheit zu denken ist.4 Mindestens ebenso prekär ist es zu fragen, ob eine Entfesselung des Entwicklungsgedankens den Gedanken der Freiheit nicht ad absurdum führt. In diesem Zusammenhang hat schon Wilhelm Dilthey prophezeit, daß unser Weg immer wieder zu Hegel zurückführen wird und »die Zeit kommt […], in welcher auch sein Versuch, einen Zusammenhang von Begriffen zu bilden, der den unablässigen Strom der Geschichte bewältigen kann, gewürdigt und verwertet werden wird.«5 Meint nämlich »Entwicklung« lediglich ein ungerichtetes und zielloses Geschehen in Natur und Kultur, das im Modus eines Kampfes um Ressourcen und einer Anpassung an bloß

3

Vgl. Gerald Hartung: »Noch eine Erbschaft Hegels. Der geistesgeschichtliche Kontext der Kulturphilosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 113. Jg., 2. Halbband, Freiburg/München 2006, 382–396. 4 Grundlegend dazu Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2004. 5 Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), Frankfurt/M. 1981, 137.

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kontingente Gegebenheiten stattfindet, dann ist es mit unserer Vorstellung von Freiheit nicht mehr weit her. Konsequenterweise haben ein kruder Naturalismus und Materialismus seitdem ein anspruchsvolles Konzept von Freiheit im Sinne menschlicher Selbstbestimmung aus dem Naturgeschehen wie auch der Kulturgeschichte hinauszutreiben versucht. Nicht alle sind diesen Weg gegangen. Einige haben eine dualistische Entwicklungskonzeption entworfen und das Konzept von Freiheit aus dem Naturgeschehen herausgenommen, wie z. B. Max Scheler. Andere suchten nach einer Korrelation von Entwicklung und Freiheit. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, von Wilhelm Dilthey und John Dewey bis in unsere Zeit, zuletzt eben noch bei Richard Rorty, der in seinem Essay Dewey zwischen Hegel und Darwin (1994) 6 die hier angedeutete Linienführung unterstreicht und ein Konzept des »evolutionären Denkens« andeutet. Dieser Gedanke ist für die aktuelle Debatte zwischen philosophischer Anthropologie, Soziobiologie und Kulturanthropologie von eminenter Bedeutung. Vor dem Hintergrund der in den letzten zwanzig Jahren geführten Diskussion über Cassirers Werk, die um die Frage einer möglichen Einbindung in einen oder Loslösung aus einem neukantianischen Kontext kreiste, wird es sicherlich Verwunderung erregen, wenn ich Cassirers Arbeiten zur Anthropologie und Kulturphilosophie in diese, von der Biologie als Leitwissenschaft dominierten Überlegungen einordne. Das aber ist auf den zweiten Blick wenig überraschend, wenn wir Cassirers Schriften zum Thema von ihrer sprachtheoretischen Grundlegung ausgehend betrachten und diese in den Diskussionshorizont des 19. Jahrhunderts stellen, wie Cassirer ihn selbst eingehend im ersten Band zur Philosophie der symbolischen Formen (1923) referiert hat. Hier zeigt sich, daß die Sprachwissenschaft, deren Ergebnisse für Cassirer maßgebend waren, eine Mittlerstellung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften einnahm und aus diesem Grund die Wissenschaft vom Menschen war (und heute auch noch ist), in der die Frage nach der Grenze von Natur und Kultur verhandelt wird. An dieser Konstellation hat sich bis heute wenig geändert, wie ein Blick zurück bis zu Herders Sprachursprungsschrift und voraus bis zu den Beiträgen von Chomsky und seiner Schule zeigt. Ernst Cassirers Werk steht inmitten einer Debatte, die vom späten 18. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert reicht. Cassirer hat die Ergebnisse der Sprachforschung seiner Zeit analysiert und kommentiert, er hat sie zu Rate gezogen, als er die Fundamente seiner Symbolphilosophie gelegt hat – und er hat über die Behandlung des »Sprachproblems« den »Ansatz« zur Frage nach ei-

6

Vgl. Richard Rorty: »Dewey zwischen Hegel und Darwin«, in: Hans Joas (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey, Frankfurt/M. 2000, 20– 43.

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ner möglichen Einheit des Weltverstehens gesucht. Um diese Überlegung plausibel zu machen, werde ich die Konstellationen von Sprachwissenschaft und Kulturphilosophie, so wie sie für Cassirer maßgebend war, anhand der Positionen des Darwinismus, Monismus und Kantianismus in den Blick zu nehmen.

I) Sprachtheorie zwischen Darwinismus, Monismus und Kantianismus Zweifellos war das Erscheinen von Charles Darwins The Origin of Species (1859) in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht ein Ereignis. Aber Entwicklungsgeschichte hat man bereits zuvor und danach − und durchaus auf anderen Pfaden als den von Darwin skizzierten − betrieben. Das muß immer wieder hervorgehoben werden, um simplifizierenden Darstellungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Während die Öffentlichkeit überwältigt war angesichts eines Buches von solch »lichtvoller Empirie«,7 waren die Vertreter der Philosophie und Wissenschaften in Deutschland auf Darwins Theorie gut vorbereitet. Trotz einzelner Vorbehalte wurde Darwins Lehre in den 60er Jahren das Maß für Wissenschaftlichkeit, vor allem in der jungen Sprachwissenschaft. August Schleicher, der als Begründer der vergleichenden Sprachforschung eine zentrale Position einnimmt, 8 betreibt mit Enthusiasmus die Trennung von Philologie und Sprachforschung sowie die Annäherung letzterer an naturwissenschaftliche Standards seiner Zeit. Programmatisch ist in diesem Zusammenhang sein »Offenes Sendschreiben an Ernst Haeckel«, den führenden Vertreter des deutschen Darwinismus, das unter dem Titel Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft 1863 in Weimar erschienen ist. Für Schleicher ist der Streit zwischen Kant und Darwin längst zugunsten von Darwin entschieden: »Die Richtung des Denkens der Neuzeit verläuft unverkennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, oder wie man ihn sonst bezeichnen mag, ist für die naturwissenschaftliche Anschauung unserer Tage ein vollkommen überwundener Standpunkt.«9

Friedrich Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen, Bd. 2. Dritte Auflage: Leipzig 1870, 79. 8 Vgl. August Schleicher: Sprachvergleichende Untersuchungen, Bd. 1: Zur vergleichenden Sprachengeschichte, Bonn 1848; ders.: Linguistische Untersuchungen, Bd. 2: Die Sprachen Europas in systematischer Uebersicht, Bonn 1850. 9 August Schleicher: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel, a. o. Professor der Zoologie und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena, Weimar 1863, 8. 7

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Schleicher formuliert seine Forderung an die Philosophie, ein »philosophisches System des Monismus« zu entwerfen. Dieser Anspruch ist weder aus der Luft gegriffen, noch anmaßend. Denn tatsächlich erfordert die enorme Leistungsfähigkeit der beobachtenden Wissenschaften eine Neupositionierung der Philosophie und mit ihr der Sprachforschung. Die Aufgabe lautet: Wie ist Entwicklung zu denken? Also sie weder zu ignorieren noch bloß zu beobachten und zu beschreiben. Das setzt voraus, wie Friedrich Max Müller gesagt hat, daß »kein Sprachforscher […] etwas anderes als Evolutionist sein [kann]; denn, wohin er blickt, sieht er nichts als Entwicklung um sich her.«10 »Darwins Lehre ist eine Nothwendigkeit«, heißt es bei dem Sprachforscher Schleicher, sie bietet den entscheidenden Hinweis auf die Lösung aller »Welträtsel«, wie sein Jenaer Kollege Ernst Haeckel hinzufügt. Im Zentrum ihrer Überlegungen stehen der »Entwicklungsgedanke« und die Vorstellung, daß natürliche und kulturelle Prozesse den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, somit Darwins Lehre das Fundament einer Natur- und Kulturtheorie liefert. Haeckel erklärt in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) ohne Umschweife, daß nach Darwin die Geschichte des Lebens auf der Erde nicht mehr betrachtet werden kann wie zuvor, denn »Entwicklung heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung bringen können.«11 In diesem Sinn ist auch August Schleicher bemüht, Darwins Modell auf die Sprachgeschichte zu übertragen. Dies funktioniert unter der Voraussetzung, daß Sprachen wie lebendige »Organismen« betrachtet werden. »Das was Darwin für die Arten der Thiere und Pflanzen geltend macht, gilt nun aber auch, wenigstens in seinen hauptsächlichsten Zügen, für die Organismen der Sprachen.«12 Die Analogieführung von Sprach- und Naturforschung wird konsequent durchgeführt. So hat es die Glottik (Wissenschaft der Sprache) mit Sprachsippen/Gattungen, Sprachen/Arten, Dialekten/Unterarten, Lautgebilden/Organismen und Sprachwurzeln/ Zellen zu tun. Natur- und Sprachforschung versichern sich wechselseitig der universalen Geltung ihrer Prinzipien: Die Vielfalt der Sprachen, die Schleicher in einem Kompendium zusammenfaßt,13 korrespondiert dem

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Friedrich Max Müller: Das Denken im Lichte der Sprache, Vorrede, Leipzig 1888,

VIII. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1. Teil. Vorwort zur 1. Auflage (1868), in: ders.: Gemeinverständliche Werke, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1924, 4. 12 Schleicher: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, 11. – Dazu Charles Darwin: The Descent of Man, London 1871. 13 Vgl. August Schleicher: Compendium der Vergleichenden Grammatik der Indogermanischen Sprachen. Kurzer Abriß einer Laut- und Formenlehre der Indogermanischen Ursprache, des Altindischen, Alteranischen, Altgriechischen, Altitalischen, Altkeltischen, Altslawischen, Litauischen und Altdeutschen, Weimar/London/Paris 1866. 11

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Artenreichtum in der Natur, der den Südseereisenden Darwin erstaunt und zum Zweifel an der Konstanz der Arten genötigt hat; sie bestätigen gleichsam das Prinzip der »Variabilität« in der Naturgeschichte. Darüber hinaus stützt die Behauptung, daß alles Leben von einer Urform abstammt, die Annahme einer sprachlichen Grundform.14 Und die Naturgeschichte des Lebens gibt Anlaß dazu, auch die Sprachgeschichte im Modus vom »Kampf ums Dasein« zu erfassen. Wie für jeden Anhänger des Entwicklungsgedankens, der im 19. Jahrhundert einer monistischen Philosophie das Wort redet, liegt auch für Schleicher der Sinn von Entwicklung (in Natur und Kultur) in ihrem schlichten Vollzug. Es ist diese Zuspitzung, die den berühmten, in Oxford lehrenden Sprachforscher Friedrich Max Müller zu einer Antwort herausgefordert hat. Seiner Auffassung nach schadet eine fehlende Differenzierung der Forschungsbereiche sowohl der Sprachwissenschaft als auch der Ethnologie. »Die Classification der Raçen und der Sprache sollten voneinander ganz unabhängig bleiben.«15 Ja, der Versuch, ethnologische Klassifikationen auf linguistischen Grundlagen zu versuchen, sei »unwissenschaftlich«, weil ein Volk eine »ideelle Einheit« sei − und »das liegt weit mehr in den geistigen Factoren, in Religion und Sprache, als in Verwandtschaft und Gemeinschaft des Bluts«.16 Aber trotz seiner harschen Kritik an den populären Ansichten der Sprach- und Rassentheoretiker seiner Zeit, ist Müller ein vehementer Befürworter der Ansicht, daß die Einsichten der Lehre Darwins auf die Sprachwissenschaft zu übertragen sind.17 Auch er ist der festen Überzeugung, daß die Sprachwissenschaft sich nur in der Anlehnung an die Erfolge der gegenwärtigen Naturwissenschaft überhaupt als Wissenschaft behaupten kann. Aber er will weder alle Resultate der Lehre Darwins übernehmen, noch die Sprachwissenschaft ohne Vorbehalte in die Zuständigkeit der Naturwissenschaften übergeben. Außer Zweifel erscheint ihm, daß die Sprachwissenschaft zu den physischen Wissenschaften gehört, aus diesen aber – wie sein Verweis auf die Tradition von Humboldt, Grimm und Bopp deutlich macht − aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit der Geistesgeschichte herausragt. Darwins Abstammungslehre liefert Müller vor allem Argumente, um an seiner Hypothese eines gemeinschaftlichen Ursprungs des Menschengeschlechts festzuhalten. Diese Vorstellung bleibt für ihn, wenn auch auf

Vgl. Schleicher: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, 13–14. Friedrich Max Müller: Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Für das deutsche Publikum bearbeitet von Dr. Carl Böttger, Leipzig 1863, 278. 16 Friedrich Max Müller: Über die Resultate der Sprachwissenschaft. Vorlesung gehalten in der Kaiserlichen Universität zu Strassburg. Am XXII. Mai 1872, Straßburg/London 1872, 17. 17 »Wenn Darwinismus im Sinne von Entwicklung gebraucht wird, dann war ich Darwinianer schon lange vor Darwin.« (Müller: Das Denken im Lichte der Sprache, VIII) – Vgl. hierzu Ludwig Noiré: Max Müller und die Sprachphilosophie, Mainz 1879, 14–15. 14

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historischem Weg unbeweisbar und als Teil des Schöpfungsmythos wissenschaftlich unhaltbar, ein wesentlicher Bestandteil seiner Kulturtheorie. Die Grenze zu Darwin liegt dort, wo dieser durch die Abstammungshypothese verleitet wird, alles Leben auf Erden auf ursprüngliche »Moneren« und den Menschen im Prozeß der Entwicklung auf tierische Vorläufer zurückzuführen. Die Auseinandersetzung mit Darwin geht um die Frage, welchen Bedeutungssinn der Begriff »Entwicklung« hat. Vorausgesetzt, daß Darwin Recht hat, wenn er für die Vernunft und Sprache einen Anfang in der Zeit ansetzt, dann kann das nach Müllers Ansicht dennoch nicht heißen, daß Vernunft und Sprache aus Unvernunft und Sprachunfähigkeit entstehen. Hier liegt die Grenze der Entwicklungstheorie und hier scheitert die Darwinsche Lehre, »denn Entwicklung bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Umbildung der geheimen in offen zu Tage liegende Eigenschaften.«18 Entwicklung impliziert bei Müller eine Polygonie der Abstammungslinien, zwischen denen es keine Übergänge gibt. Nur innerhalb dieser »broad lines« findet Entwicklung statt. Ob also eine Gattung von einer anderen abstammt, entscheidet sich anhand des Nachweises, ob alle bei ihr hervortretenden Eigenschaften bei der vorhergehenden Gattung »actuell oder potentiell« bereits vorlagen. Gemäß dem Diktum »natura non facit saltus« kommt Müller auf die aristotelische Naturteleologie in hypothetischer Form zurück und behauptet: Obwohl sich kein Gesamtzweck des Naturgeschehens nachweisen läßt, bleiben gute Gründe zurück, um innerhalb der Abstammungslinien mit den Kategorien Potentialität, Zweckmäßigkeit und Finalkausalität (Bestimmung) zu operieren. Auf diese Weise kommt Müller zu dem Ergebnis, daß die tierische Abstammung des Menschen abzulehnen ist, weil »ich in der Sprache eine Eigenthümlichkeit des Menschen sehe, von der keine Spur weder aktuell noch potentiell jemals bei irgend einem anderen Geschöpf gefunden worden ist.«19 Auf diese Weise zieht der Sprachforscher der Darwinschen Lehre den Nerv. 20 Gleichzeitig bringt er seine Hoffnung zum Ausdruck, auch Darwin zu einem Kantianer bekehren zu können. Möglicherweise ist auch das der

Müller: Das Denken im Lichte der Sprache, 81. A. a. O., 86. 20 Das hat auch Darwin so gesehen. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Müller Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen, Kapitel 3: Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere, in: Ch. Darwin’s gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 31875, 97–98. Sein Fazit lautet: »Aus diesen wenigen und unvollständigen Betrachtungen schließe ich, daß […] die Fähigkeit articulierter Sprache an sich kein unübersteigliches Hindernis für den Glauben dar[bietet], daß der Mensch sich aus irgendwelcher niederen Form entwickelt hat.« (101) – Ebenso sieht dies auch Wilhelm Wundt: »Alle geistigen Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades, nicht der Art« (Wilhelm Wundt: Vorlesungen über Menschen- und Thierseele, Bd. 1, Leipzig 1864, 458). 18

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Sinn seiner Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft, die 1881 in London erschienen ist. 21 Er propagiert zudem eine Art »Kantisierten Aristotelismus«, der ihm zu weitreichenden Überlegungen führt. So verlegt er das Kantische Apriori in die Geschichte des Lebens und verankert die Fähigkeit der Vergeistigung und die Sprachfähigkeit in einer unergründlichen Potentialität des exklusiv Menschlichen. Damit scheint der monistische Entwicklungsgedanke gebannt. Aber dies scheint nur so, denn schon das späte 19. Jahrhundert hat erkannt, daß im Kampf um den Entwicklungsgedanken eine Position, die entweder auf der Vorstellung einer immanenten Teleologie der Naturkräfte (Aristoteles) oder auf einem dualistischen Modell von Entwicklung (Kantianismus) beruht − oder beides gar miteinander verbindet, einer durch die Naturforschung propagierten Evidenz des monistischen Entwicklungskonzepts, also der Abstammungshypothese aller Lebensformen von einfachen Grundformen heillos unterlegen ist. Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit, Entwicklung zu denken − und diese führt uns dann auch näher zu Cassirers Sprach- und Kulturtheorie. Der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal hat die HumboldtRezeption von seiner frühen Abhandlung Die Sprachphilosophie Wilhelm v. Humboldts und die Hegel’sche Philosophie22 bis zu der von ihm veranstalteten Ausgabe Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt23 dominiert. Er ist zweifelsohne »der erste und bedeutendste sprachwissenschaftliche Humboldt-Kommentator des 19. Jahrhunderts.«24 Steinthals Position zeichnet sich dadurch aus, daß er sich standhaft weigert, die Sprachwissenschaft im Sinne Schleichers in eine Naturwissenschaft zu überführen. »Dieses Analogisieren der Sprach- mit der Naturwissenschaft hat mir schon längst missfallen.«25 Dieser Gedanke ist allerdings mißverständlich, denn er impliziert keinen Rekurs auf überkommene Denkmuster, sondern einen Aufruf, die Naturalisierung des menschlichen Geistes − und vice versa: die Vergeistigung der menschlichen Natur − konsequent

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»Mein Glaube an Darwin’s intellectuelle Ehrlichkeit ist so stark, daß ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn er seine Theorie von der Abstammung des Menschen von einem Affen oder irgend einer Thiergattung aufgegeben hätte, nachdem er mit Kant’s Kritik der reinen Vernunft vertraut geworden wäre.« (Müller: Das Denken im Lichte der Sprache, 140) – Darwin starb allerdings schon 1882. 22 Heymann Steinthal: Die Sprachphilosophie Wilhelm v. Humboldts und die Hegel’sche Philosophie, Berlin 1848. 23 Wilhelm von Humboldt: Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt, hg. von Dr. Heymann Steinthal, Berlin 1884. 24 Vgl. Jürgen Trabant: »Ideelle Bezeichnung. Steinthals Humboldt-Kritik«, in: ders./ Achim Eschbach (Hg.): History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, 251–273, hier 261; ders.: Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990, 60–63. 25 Heymann Steinthal: »Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Pott« (1852), in: ders.: Kleine sprachtheoretische Schriften, neu zusammengestellt von Waltraud Bumann, Hildesheim/New York 1970, 139–164, hier 144.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

an ein Ende zu führen. »Der Mensch aber ist schon von Natur mehr als Thier; denn in seiner Natur an sich schon ist die Anlage zur Vergeistigung gegeben; der Geist gehört zu seiner Natur.«26 Es geht bei Steinthal um die Vorstellung, daß zur Natur des Menschen die »Anlage zur Vergeistigung« gehört. Das heißt, der Mensch ist von Natur aus immer schon ein Kulturwesen. Damit ist die Ursprungsfrage dieser Veranlagung aus der allgemeinen Naturgeschichte herausgenommen und in die Natur des Menschen verlegt. Steinthal insistiert dahingehend, daß der Begriff »Naturgeschichte« in Bezug auf den Menschen irreführend sei, weil es innerhalb der Natur zwar bloße Ereignisabfolgen zu beschreiben, aber nicht »Entwicklung« zu denken gibt. Die Natur lehrt uns nichts über uns als Menschen, sondern nur als Tier; das aber ist der Bereich der »Naturkunde«. Was uns als Menschen auszeichnet, das kann jedoch nur in uns selbst entspringen; und das ist der Bereich der Menschheitsgeschichte. Entwicklung ist ein Begriff, der exklusiv auf die kulturelle Entfaltung des Menschen respektive der Menschheit vor dem Hintergrund ihrer naturhaften Disposition bezogen wird. Dieses Konzept von Entwicklung schuldet Steinthal Wilhelm von Humboldt, zu dem er sich zeitlebens in Beziehung gesetzt und dessen Werk er kommentierend weitergedacht hat. Man muß nur einen kurzen Blick in Humboldts Abhandlung Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts werfen, der von Entwicklung als Fortgang der »Vermenschlichung« spricht, um Steinthals Ansatz zu begreifen. 27 Steinthals Einsatzpunkt bei Humboldt ist die Denkfigur der »inneren Sprachform« und dessen Kantische Wendung, insofern er vom Sprachursprung nur noch in transzendentalphilosophischer Hinsicht redet. »D. h. nicht vom zeitlichen Anfang der Sprache können wir sprechen, wohl aber von ihrem ›ewigen‹ Entspringen, von dem, was jedesmal geschieht, wenn wir sprechen.«28 In den Worten Humboldts wird die Sprache als »das bildende Organ des Gedankens« oder »die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen«, erfaßt. 29 Die geistige Entwicklung der Menschheit ist das Produkt dieser Arbeit des Geistes, die keinen zeitlichen Anfang hat, sondern selbst erst die Bedingung der

26

Heymann Steinthal/Moritz Lazarus: »Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« (1860), in: Heymann Steinthal: Kleine sprachtheoretische Schriften, 308–368, hier: 319. 27 Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Albert Leitzmann, Bd. 7.1., Berlin 1907. 28 Vgl. Jürgen Trabant: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München 2006, 263. 29 Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 53 u. 46.

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Möglichkeit von Fortgang, Entwicklung, Entfaltung, Vermenschlichung und Kulturalisierung in sich trägt. Was »zeitlich« vor diesem Anfang war, das ist für uns Menschen sinn-indifferent und gleichgültig. Wie auch immer Humboldt sich selbst positioniert hat, und ob er tatsächlich diese weitreichenden Konsequenzen gezogen hätte, sein Kommentator Steinthal geht diesen Weg und kommt zu folgendem Resultat: »H[umboldt].s Ansicht ist Kantisierter Spinozismus.«30 Mithilfe dieser Zuschreibung integriert er drei Hauptgesichtspunkte: Erstens habe Humboldt die Identität von Sprache und menschlichem Geist erfaßt; zweitens geht auf ihn die »empirische Entdeckung« zurück, daß jede Sprache eine individuelle Form hat, denn »schließlich habe jedes Individuum seine Sprache«; und drittens ist die Sprache auch ein Prinzip der Sozialisierung und Kulturalisierung. Sprache ist eine Form des »objektiven Geistes«, um die Hegelsche Figur anzuführen, die Steinthal und Moritz Lazarus im Sinne von »Sprachgeist« verwenden. Sie bindet die Individuen aneinander und bindet sie zurück an eine Lebenskraft oder ein Formungsprinzip und verstrickt sie zugleich in die Wirklichkeit der Erscheinungen. Das ist durchaus dialektisch gemeint und Steinthal wie sein Lehrer Karl Wilhelm Ludwig Heyse, dessen System der Sprachwissenschaft Steinthal 1856 herausgibt, sind und bleiben Hegelianer in der Sprachphilosophie. Das meint hier, sich die Möglichkeit einer dritten Option zu eröffnen − abseits der Opposition vom Geist-Materie-Dualismus und Materie-Monismus, also jenseits vom unfruchtbaren Streit »Kant oder Darwin?« der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die geistige Entwicklungsgeschichte des Menschen wird am Leitfaden der Sprachentwicklung als Entfaltung der spezifisch menschlichen Natur begriffen. So heißt es bei Humboldt: »Die Hervorbringung der Sprache ist ein inneres Bedürfnis der Menschhheit, nicht bloss ein äusserliches […], sondern ein in ihrer Natur selbst liegendes, zur Entwicklung ihrer geistigen Kräfte […] unentbehrliches.«31 In diesem Sinne ist der »Kantisierte Spinozismus« nichts anderes als ein kritisch reflektierter Monismus der menschlichen Geist-Natur.

30

Heymann Steinthal: »Allgemeine Einleitung in Humboldts sprachphilosophische Arbeiten«, in: Humboldt: Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt, 13– 21, hier 14. 31 Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Abschnitt 4, 294.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

II) Cassirers Sprachphilosophie als »Critical Monism« vor dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Debatte des 19. Jahrhunderts Cassirer hat sich seit dem Zeitpunkt, als er sein Konzept einer Kulturphilosophie auszuarbeiten begann, auch mit sprachphilosophischen Fragen beschäftigt. Ich beziehe mich auf die Abhandlung Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie (1922), die große Analyse der Sprachtheorien im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen (1923) wie auch auf die späteren Arbeiten im Umkreis des Essay on Man in den 40er Jahren. Die Abhandlung zu Humboldts Sprachphilosophie ist vielleicht einer der brillantesten Texte Cassirers aus den 20er Jahren. Hier geht es noch nicht − wie in den 40er Jahren − um eine Auseinandersetzung mit der Evolutionsbiologie. Gleichwohl steht das strategische Ringen um den Entwicklungsbegriff im Zentrum. Humboldt wird von Cassirer aus der sprachgeschichtlichen Forschung herausgehoben, weil er »den Gedanken der dynamischen Entwicklung« zuerst entworfen hat.32 Es war sein Ziel, das empirische Material einer Naturgeschichte der Sprache mit dem transzendentalen Gesichtspunkt, das Sprache eine einheitliche geistige Form sei, zusammenzubringen. Das ist Humboldts philosophische Gesamtanschauung, die bekanntlich für Cassirer maßgebend ist. »Steinthal hat sie [die philosophische Gesamtanschauung Humboldts] als ›Kantisierte[n] Spinozismus‹ bezeichnet. Aber diese bezeichnende und prägnante Formel drückt den Gegensatz, der hier zugrunde liegt, weder nach der systematischen noch nach der geschichtlichen Seite hin vollkommen treffend aus«.33 Die Distanzierung von Steinthal darf nicht überbetont werden. Wenn zwar Steinthal die philosophische Gesamtanschauung Humboldts »nicht vollkommen treffend« bezeichnet hat, so hat er offensichtlich doch einen wichtigen Punkt markiert, denn Cassirer folgt in seiner kommentierenden Ausfaltung der Humboldtschen Sprachtheorie weitgehend den Vorgaben Steinthals. Zwar wendet er gegen dessen Humboldt-Lektüre ein, daß sie das Moment des »Spinozismus« zu stark mache und das Moment des »Kantianismus« unter Wert darstelle, aber gleichwohl geht es Cassirer darum zu zeigen, daß Humboldt ein Problem löst, das Kant nicht formulieren konnte. Gemeint ist die Versöhnung der Gegensätze von Außen- und Innenwelt, Objekt und Subjekt, Materie und Form, Leben und Geist, Na-

32

Ernst Cassirer: »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie« (1923), in: ECW 16, 105–133, hier: 118. 33 A. a. O., 118.

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tur und Kultur in einem Konzept dynamischer Entwicklung. Und dieses Konzept zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es dualistische Positionen unterläuft, die insbesondere dem Neukantianismus so vertraut sind. Für die menschliche Welt jedoch, die sich im Medium der Sprache konstituiert, besteht »die wahre Lösung […] in der Einheit der menschlichen Natur.«34 Dieser Gedanke wird in dem Humboldt-Aufsatz von 1923 nicht weiter ausgeführt. Es handelt sich allerdings um einen Grundgedanken des Steinthalschen Humboldt-Kommentars. So bleibt zu fragen, welches Konzept einer Einheit der Natur Cassirer favorisiert, wenn schon kein spinozistisches und wohl auch kein darwinistisches. Das angezeigte Problem verschärft sich für Cassirer, sobald er sich in den späteren Jahren der Evolutionsbiologie zuwendet. Ausgangspunkt ist eine »Disposition« zur Anthropologie, die sich im Nachlaß befindet. Hier heißt es in einer für Cassirer charakteristischen Suchbewegung seiner unveröffentlichten Aufzeichnungen: »Der Schnitt ist unverkennbar – wenngleich man aus ihm keinen ›hiatus‹, keinen unüberbrückbaren metaphysischen ›Abgrund‹ zwischen den Menschen u[nd] den übrigen Naturwesen zu machen braucht – / In der Reihe der Existenz herrscht völlige Kontinuität zwischen den Menschen u[nd] den übrigen Naturwesen – / u[nd] doch ist der Mensch – dank der Gabe der symbol[ischen] Formen – etwas »wesenhaft« anderes – / er unterscheidet sich durch seine Essenz – / Dies auszuführen […]«35

Cassirer hat sich in einer Vorlesung an der Yale University über Symbolism and Philosophy of Language in verschiedenen Vorträgen der Jahre 1942/43 und in seinen Vorarbeiten zum Essay on Man der Aufgabe gestellt, dieses Grundproblem auszuführen. Wie ist es möglich, zugleich von einer »völligen Kontinuität« in der Welt des Lebendigen und doch von einem »Schnitt«, einer wesenhaften Differenz zu sprechen? Die These der Philosophie der symbolischen Formen lautet bekanntlich: Das Sein des Menschen erschließt sich in seinem Tun. Menschliches Tun ist nicht bloßes Reagieren oder sich Verhalten, sondern schöpferisches Tätigsein. Dieses Tätigsein ist Ausdruck einer geistigen Energie. Aus dieser entspringt alles Gestalten, Formen, jedweder kreative Umgang mit dem, was uns Menschen vermittelt über die Sinnesorgane erscheint. Die geistige Energie ist der Möglichkeit nach in jedem Menschen angelegt und aktualisierbar; sie ist die Potentialität des Menschlichen. Weil sie das Allgemein-Menschliche markiert, kann von ihr auf eine gemeinsame Basis der

34

A. a. O., 125. Vgl. dazu Ernst Cassirer: »[Disposition] Anthropologie«, in: Ernst Cassirer Papers, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Gen Mss 98, Box 36, folder 695, Bl. 10–11. 35

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Funktionsleistungen und eine Einheit des kulturellen Lebens geschlossen werden. Der Begriff der »symbolischen Form« ist das Bindeglied; er bezeichnet das Medium, in dem die Energie fließt und gerichtet ist, und das zugleich Garant für die Einheit der menschlichen Kultur ist. Diese Einheit ist allerdings erst das Resultat von Entwicklung und nicht deren Voraussetzung. »We must try to follow up, step by step, the gradual evolution that leads from the first dawnings of symbolic thought to its achievement, to its most perfect and refined forms. By slowly and patiently pursuing this way we may hope to reach our aim: to come to a philosophical concept of man that comprises the whole of his fundamental faculties and his most characteristic activities.«36

Dieses Nachzeichnen einer graduellen Evolution des symbolischen Denkens impliziert die bereits erwähnte Abkehr vom Geist-Materie-Dualismus und Materie-Monismus, ein Heraustreten aus dem Antagonismus »Kant versus Darwin«. Es impliziert zugleich die Hinwendung zum Konzept des »critical Monism«. Cassirer erwähnt dieses Begriffskonzept in seiner Vorlesung aus dem Jahr 1941/1942, als er in Anlehnung an die Thesen zur Umwelttheorie des Biologen Uexküll sein Konzept des »Symbolismus« entwirft.37 Hier sieht er den »Schlüssel zur Natur des Menschen«, so heißt bekanntlich auch das zweite Kapitel des Essay on Man. In der genannten Vorlesung wird prägnant formuliert, wie der besagte »Schnitt« in der organischen Welt zu beschreiben ist, ohne das Fundament der Evolutionsbiologie, das Entwicklungsmuster eines kontinuierlichen Übergangs zwischen den einzelnen organischen Formen zu bestreiten. Uexküll dient als Gewährsmann. Nach dessen Ansicht verfügt jede Form tierischen Lebens über ihr spezifisches »Merk- und Wirknetz«, das in der je eigenen Weise des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt.38 Das gilt auch für den Menschen, dessen »Sein« sich in seinem »Tun«, also in der Weise erschließt, wie er in der Erfahrung den Horizont seiner Umwelt öffnet (in Raum und Zeit und im diskursiven Denken) und seine kulturelle Welt erobert (durch sprachliche Vermittlung). Das »Merk- und Wirknetz« des menschlichen Organismus ist ein symbolisches Netz. Die Fähigkeit zur vermittelten Wahrnehmung, zum symbolischen

36

Ernst Cassirer: »Seminar on Symbolism and Philos[ophy] of Language (Notes)«, Yale 1941/42, Box 51, folder 1024, Bl. 54. 37 Ernst Cassirer: »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language. Vorlesung New Haven 1941/1942«, in: Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert KoppOberstebrink, Hamburg 2005, 191–343, hier: 251. 38 Vgl. Jakob Johann von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1921, 44–49; ders.: Theoretische Biologie, Kapitel 5: Die Welt der Lebewesen, Berlin 1928, 99–107.

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Denken und zum sprachlichen Ausdruck ist Teil der allgemeinen Entwicklung des Lebens und zugleich das auszeichnende Kriterium der naturgemäßen Entwicklung menschlichen Lebens. »Language is to be regarded as the very focus of all human activities. None of these activities would be possible without its constant help. It may be compared to a spiritual ether that fills the whole space of our human life.«39 Cassirers Konzeption der Sprache als fundamentaler symbolischer Ausdrucksleistung mündet in der These, daß Vergleiche mit vorgeblich vormenschlichen oder außermenschlichen Sprachen die »Sprache« selbst als ein spezifisch anthropologisches Konzept verpassen. Nur im engen Sinne eines spezifisch humanen Konzepts ist Sprache an den Gebrauch von Symbolen gekoppelt, der sich durch Flexibilität und Elastizität im individuellen Verständnis – und im kommunikativen Austausch als Bedingung von Sozialität – durch ein Moment von Spontaneität auszeichnet, das durch ein mechanistisches Reiz-Reaktions-Schema nicht eingefangen werden kann. Nur der Mensch verfügt über die Möglichkeit, einen Gedanken durch verschiedene Symbole auszudrücken und nur er hat die Wahl, das in der Kommunikationssituation jeweils angemessene Symbol zu gebrauchen. »This modificability and adaptability [in the use of symbols] is one of the greatest achievements of human speech; it prepares and makes possible that modificability of thought that is the very basis of all the other human activities.«40 In der Wahl der Termini Modifizierbarkeit (modificability) und Anpassungsfähigkeit (adaptability) zeigt sich die Nähe zur Evolutionsbiologie; nur beschreibt Cassirer eine kulturelle Entwicklung, die seiner Ansicht nach wesentlich eigengesetzlich verläuft. Die Formgesetze der Sprache sind, wie Cassirer nicht müde wird zu wiederholen, keine Naturgesetze. Gegen die Sprachwissenschaft seiner Zeit, von den Darwinianern bis zu den Junggrammatikern, behauptet er die Eigengesetzlichkeit und gesonderte Entwicklung der menschlichen Sprache. Dabei kommt es ihm immer wieder darauf an, »Kontinuität« und »Schnitt« in der Welt des Lebendigen herauszuarbeiten. Nirgends wird das so klar wie in der Differenzierung von Sprechen/speech und Sprache/language, von Ausdruck und innerer Form. Nur der Mensch verfügt über »Sprachfähigkeit« im Sinne einer »inneren Form«. Daran hängt die Entwicklung seiner weiteren geistigen Fähigkeiten, damit zusammen geht die allmähliche Vermenschlichung seiner Welt und die Anpassung der Symbole an die menschliche Umwelt − sprich: der Prozeß der Kulturalisierung. Sprache, so faßt Cassirer seine Erörterun-

39 40

Cassirer: »Seminar on Symbolism«, ECN 6, 304. A. a. O., 341.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

gen zusammen, ist das Zentrum und Medium symbolischer Aktivität des menschlichen Geistes. Zusammenfassend lassen sich aus diesen Überlegungen einige Konsequenzen ziehen, die auch für die aktuelle Diskussion über das Verhältnis von natürlicher und kultureller Evolution, die entweder im Kontrast oder in Korrelation betrachtet werden, von Interesse sind. »Entwicklung« im Sinne des »critical Monism« meint Kontinuität im Naturgeschehen und zugleich Entwicklung, also Differenzierung innerhalb der Welt des Lebendigen, Distanzierung des Menschen von seiner Natur- und Umweltgebundenheit. Unter dem Gesichtspunkt einer Objektivation der Außenwelt im sprachlichen Ausdruck und einer Eroberung der kulturellen Welt im voranschreitenden Objektivationsprozeß − vom mythischen zum wissenschaftlichen Ausdruck − gibt Cassirer − noch einmal − eine Antwort auf Hegels Problemstellung und Darwins Provokation. Er bannt den Entwicklungsgedanken im Medium der Sprache. Die Versprachlichung der Natur ist ihre Vermenschlichung, wie schon Humboldt sagt. Kulturelle Entwicklung meint Vermenschlichung, Objektivation einer wesentlich fremden und sinnindifferenten Außenwelt. Ihr Ziel ist die Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschseins. So heißt es im Essay on Man (1944): »If the term ›humanity´ means anything at all it means that, in spite of all the differences and oppositions existing among its various forms, these are, nevertheless, all working toward a common end.«41 Cassirers Überlegungen zur Sprach- und Kulturtheorie stehen inmitten einer anhaltenden Debatte, die bis zu Herders Sprachursprungsschrift zurückreicht und über Humboldts Werk und den Aufstieg der Sprachwissenschaft als Natur- oder Kulturwissenschaft auf die aktuellen Debatten der Chomsky-Schule hinweisen.42 Die Position eines kritischen Monismus − Michael Landmann spricht von einem »echten Monismus« − ist zweifelsohne ein gewichtiger Beitrag zur Debatte über die Fundamente menschlicher Kultur. In dieser Hinsicht sind Cassirers Überlegungen noch nicht angemessen gewürdigt worden. Im Vergleich mit korrelierenden und konkurrierenden Denkansätzen von Dewey, Mead, Gehlen und Plessner läßt sich bei Cassirer, wie er es selbst formulieren würde, ein »Ansatz« zur Behandlung der Frage nach einer möglichen Einheit menschlicher Wirklichkeitserkenntnis finden. Pointiert gesagt entsteht aus der Konfrontation von Hegel und Darwin, das hat Richard Rorty ganz richtig gesehen, im Begriffsfeld eines

Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 78. 42 Jürgen Trabant hat diesen Zusammenhängen unlängst in seinem Buch Europäisches Sprachdenken eine lebhafte Darstellung gewidmet. 41

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kritischen Monismus ein Forschungsfeld, das wir im Sinne der Sozio-Biologie als »Gene-culture coevolution« (Edward O. Wilson) oder im Sinne der Erkenntnistheorie als Konzept »evolutionären Denkens« (Donald T. Campbell) bezeichnen können. Beide Aspekte liegen auf einer Linie und gegen viele Erwartungen ist Cassirers Ansatz zur Sprach- und Kulturtheorie ein Ausgangspunkt, um den immer noch präsenten »Verwirrungen« (Rorty) eines philosophischen Dualismus von Kultur und Natur entgegenzutreten.

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 16: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Hamburg 2003 – »Zur Logik des Symbolbegriffs« (1938), in: ECW 22 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 – »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language. Vorlesung New Haven 1941/1942«, in: Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert Kopp-Oberstebrink, Hamburg 2005 – [Disposition] Anthropologie, in: Ernst Cassirer Papers, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Gen Mss 98, Box 36, folder 695, Bl. 10–11 – »Seminar on Symbolism and Philos[ophy] of Language (Notes)«, Yale 1941/42, Box 51, folder 1024, Bl. 54 Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen, Kapitel 3: Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere, in: Ch. Darwin’s gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart 31875 – The Descent of Man, London 1871 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), Frankfurt/M. 1981 Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1. Teil: Vorwort zur 1. Auflage (1868), in: Gemeinverständliche Werke, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1924 Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2004 – »Noch eine Erbschaft Hegels. Der geistesgeschichtliche Kontext der Kulturphilosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 113. Jg., 2. Halbband, Freiburg/München 2006 Wilhelm von Humboldt: Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt, hg. von Dr. Heymann Steinthal, Berlin 1884

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

– Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Albert Leitzmann, Bd. 7.1., Berlin 1907 Friedrich Max Müller: Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Für das deutsche Publikum bearbeitet von Dr. Carl Böttger, Leipzig 1863 – Über die Resultate der Sprachwissenschaft. Vorlesung gehalten in der Kaiserlichen Universität zu Strassburg. Am XXII. Mai 1872, Straßburg/London 1872 – Das Denken im Lichte der Sprache, Leipzig 1888 Ludwig Noiré: Max Müller und die Sprachphilosophie, Mainz 1879 Richard Rorty: »Dewey zwischen Hegel und Darwin«, in: Hans Joas (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey, Frankfurt/M. 2000 August Schleicher: Sprachvergleichende Untersuchungen, Bd. 1: Zur vergleichenden Sprachengeschichte, Bonn 1848 – Linguistische Untersuchungen, Bd. 2: Die Sprachen Europas in systematischer Uebersicht, Bonn 1850 – Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel, a. o. Professor der Zoologie und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena, Weimar 1863 – Compendium der Vergleichenden Grammatik der Indogermanischen Sprachen. Kurzer Abriß einer Laut- und Formenlehre der Indogermanischen Ursprache, des Altindischen, Alteranischen, Altgriechischen, Altitalischen, Altkeltischen, Altslawischen, Litauischen und Altdeutschen, Weimar/London/Paris 1866 Heymann Steinthal: Die Sprachphilosophie Wilhelm v. Humboldts und die Hegel’sche Philosophie, Berlin 1848 – »Allgemeine Einleitung in Humboldts sprachphilosophische Arbeiten«, in: Wilhelm von Humboldt: Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt, hg. von Dr. Heymann Steinthal, Berlin 1884 – /Moritz Lazarus: »Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« (1860), in: Heymann Steinthal: Kleine sprachtheoretische Schriften, neu zusammengestellt von Waltraud Bumann, Hildesheim/New York 1970 – »Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Pott« (1852), in: ders.: Kleine sprachtheoretische Schriften, neu zusammengestellt von Waltraud Bumann, Hildesheim/New York 1970 Jürgen Trabant: »Ideelle Bezeichnung. Steinthals Humboldt-Kritik«, in: ders./ Achim Eschbach (Hg.): History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, 251–273, hier 261 – Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990 – Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München 2006 Jakob Johann von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1921, 44–49 – Theoretische Biologie, Berlin 1928 Wilhelm Wundt: Vorlesungen über Menschen- und Thierseele, Bd. 1, Leipzig 1864

Ursula Renz

Rationalität und Symbolizität: Alternative oder ergänzende Bestimmungen des Humanum?

Die im Essay on Man formulierte Aufforderung Ernst Cassirers, man solle den Menschen statt als ›animal rationale‹ als ›animal symbolicum‹ definieren,1 wird in der Cassirer-Forschung oft mit großer Zustimmung aufgenommen. Es ist, als könne man, hat man den Witz von Cassirers Begriff der symbolischen Form erst einmal verstanden, zu keinem anderen Schluß mehr kommen. Daß die Definition des Menschen als ›animal rationale‹ durch jene als ›animal symbolicum‹ zu ersetzen sei, wird als Quintessenz seines kulturphilosophischen Ansatzes wahrgenommen und als die einzig richtige dazu. Ich kann mich dieser Zustimmung nur bedingt anschließen. Mir scheint, daß dieses Ersetzen der Definition des ›animal rationale‹ durch jene vom ›animal symbolicum‹ in gewisser Hinsicht problematisch ist und zwar durchaus in der Logik von Cassirers eigenem Ansatz gedacht. Das schließt nicht aus, daß dieser Schritt in einer anderen Hinsicht sinnvoll war. So ist die Definition des Menschen als ›animal symbolicum‹ in gewisser, nämlich bewußtseinstheoretischer Hinsicht sicher treffender als jene des ›animal rationale‹. Der menschliche Geist und seine Tätigkeit sind angemessener bestimmt, wenn seine Äußerungen als Symbolisierungsleistungen statt als vernünftige Handlungen begriffen werden, und das hat Cassirers Kulturphilosophie in der Tat eindrücklich gezeigt. Meine Skepsis bezieht sich nicht darauf, was Cassirer mit diesem Schritt zu gewinnen sucht und was er damit m. E. auch gewinnt, sondern darauf, was er damit möglicherweise verliert. Schneidet sich Cassirer damit nicht von bestimmten wesentlichen Voraussetzungen seines Ansatzes ab, wenn er den Menschen als ›animal symbolicum‹ statt als ›animal rationale‹ definiert, von jenen rationalitätstheoretischen Voraussetzungen nämlich, die mit seinem kantianischen Ausgangspunkt verbunden sind? In der Folge möchte ich das etwas genauer erörtern. Dazu möchte ich in einem ersten Teil über verschiedene Umwege klären, was Cassirer eigentlich unter Rationalität versteht, bevor ich im zweiten Teil auf das Problem der Funktion einer philosophischen Definition des Menschen zu sprechen komme.

Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 23, Hamburg 2006, 31. 1

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

I) Sprache, Mythos und kantische Vernunft: Annäherungen an Cassirers Rationalitätsverständnis Cassirer hat den Begriff der Rationalität bzw. der Vernunft nirgendwo eigens definiert. Um zu umreißen, was er vor Augen hat, wenn er im Essay on Man von ›rationality‹ oder ›reason‹ spricht, bieten sich gleichwohl mehrere Wege an. Zum einen setzt Cassirer im Essay on Man die beiden Termini in signifikanter Weise zu seiner Sprach- und seiner Mythostheorie in eine Beziehung. Und zum anderen läßt sich einiges über die Struktur und Funktion seines impliziten Rationalitätskonzepts sagen, wenn man einige seiner Ausführungen zu Kant mit seinen Überlegungen zum Status der Philosophie im System der Kultur in Verbindung bringt. In der Folge möchte ich dies eins ums andere erläutern. a) Rationalität als Sprache. Cassirer distanziert sich im Essay on Man klar von einer Position, die – vor dem Hintergrund des griechischen Logos-Begriffs operierend – Rationalität mit Sprache bzw. Sprachfähigkeit identifiziert.2 Allerdings hält er diese Gleichsetzung nicht für falsch, sondern für unzureichend. Es handle sich dabei um eine »pars pro toto«-Bestimmung, die uns einen Teil für das Ganze anbiete.3 Es ist nicht ganz klar, was an der Stelle als Teil und was als Ganzes angesprochen wird. Ist Vernunft nur ein Teil von Sprache oder umgekehrt Sprache nur ein Teil der Vernunft? Vor dem Hintergrund von Cassirers Konzeption von Sprache gesehen, trifft beides zu. Einerseits ist Vernunft nur ein Teil der menschlichen Sprache, denn in dieser kommen, wie Cassirer im Essay on Man betont, auch Vermögen wie emotionale Ausdrucksfähigkeit oder poetische Imagination zum Zuge. Selbst wenn man diese Vermögen nicht von vorneherein als ›irrational‹ abtun will, wird man sie doch nicht als Leistungen der menschlichen Vernunft umschreiben wollen. Rational an der Sprache ist daher nur das, was Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen unter dem Stichwort der Bedeutungsfunktion verhandelt, nicht aber, was Sprache kraft ihrer Ausdrucks- und Darstellungsfunktion leistet.4 Hintergrund dieser Auffassung ist, daß erst

2

A. a. O., 30 f. Man könnte einwenden, daß Cassirer hier nicht das Verhältnis von Rationalität und Sprache, sondern jenes von Rationalität und menschlicher Kultur im Auge hat. Der Text ist an der Stelle nicht eindeutig. Ich fasse diesen Satz deshalb als Aussage über das Verhältnis von Rationalität und Sprache auf, weil daran anschließend auf den Unterschied zwischen konzeptueller und emotionaler Sprache hingewiesen wird. Das schließt jedoch nicht aus, daß Cassirer qua Verhältnisbestimmung von Rationalität und Sprache auch das Verhältnis von Rationalität und Kultur bestimmt haben wollte. 4 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 326 f. Man kann sich hier fragen, ob nicht mit der 3

Renz · Rationalität und Symbolizität

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bei der Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Einheiten die Relationalität sprachlicher Systeme voll zum Tragen kommt. Es sind also letztlich die implizit inferentiellen Relationen zwischen begrifflichen Einheiten und nicht die Expressivität des Sprechens oder der referentielle Objektbezug der einzelnen Wörter, welche die Rationalität von Sprache ausmachen. 5 An dieser Stelle deutet sich eine überraschende Ähnlichkeit von Cassirers Kulturphilosophie mit Robert Brandoms Ansatz an, der ebenfalls von der Annahme ausgeht, daß sich die Bedeutung sprachlicher Einheiten impliziten inferentiellen Relationen verdankt. Allerdings bestehen gerade im Blick auf das Verhältnis von Sprache und Rationalität beträchtliche Unterschiede: Anders als Brandom, der menschliches Sprechen letztlich im wechselseitigen Geben und Nehmen von Gründen aufgehen läßt, geht Cassirer von der Irreduzibilität der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion der Alltagsprache aus und mithin von der These, daß Vernunft nur ein Teil von Sprache ist. Andererseits ist Cassirer zufolge umgekehrt auch Sprache nur ein Teil der Vernunft, denn Sprache ist nur eine symbolische Form unter vielen, die nur zusammen das Denken und Bewußtsein des Menschen ausmachen. Wollte man daher Vernunft mit Sprache gleichsetzen, so müßte man entweder die anderen Formen der Kultur als Modalitäten der Sprache explizieren, was gegen eine von Cassirers Grundthesen spricht, nämlich daß den verschiedenen Kulturformen unterschiedliche Modalitäten der Symbolisierung zugrundeliegen. Oder man müßte die anderen Formen allesamt als nicht-rational auffassen. Das aber widerspräche der anderen Grundthese von Cassirers Ansatz, wonach es ein und dieselbe bewußtseinstheoretische Funktion ist, die sich in allen symbolischen Formen ausprägt. Nun ist diese Argumentation gegen die Reduktion von Vernunft auf Sprache weitgehend austauschbar. Sie könnte genauso gut gegen eine szientistische Gleichsetzung von Vernunft mit Wissenschaft gewendet werden. Doch ein solcher Szientismus ist Cassirer fremd, ja, er ist ihm vermutlich noch fremder als eine einseitige Betonung der Bedeutung der Sprache für das Bewußtsein. Und das nicht zu Unrecht, denn die Gleichsetzung von Vernunft mit Wissenschaft stellt nicht nur eine unzureichende, sondern eine irreführende Antwort auf die Frage dar, inwiefern der Mensch

Darstellungsfunktion Momente von Rationalität ins Spiel kommen, insofern Sprache nämlich schon, wo sie darstellt, Objektivierungsleistungen erbringt. Das ist zweifellos so, allerdings verweist gerade das objektivierende Moment von Darstellungen bereits auf die Bedeutungsfunktion von Sprache. Darstellung und Bedeutung sind hier schwer zu trennen. 5 Auf die Bedeutung inferentieller Verknüpfungen für Cassirers Auffassung der Bedeutungsfunktion von Sprache hat vor allem Plümacher hingewiesen: Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004, 8.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

ein rationales Wesen sei. Sie vernachlässigt nicht nur ganze Bereiche des Mensch-Seins, sondern missachtet ganze Gesellschaften und Epochen. Demgegenüber liefert die tentative Gleichsetzung von Sprache und Vernunft doch mindestens Anhaltspunkte dafür, wonach wir suchen, wenn wir nach der Rationalität des Menschen fragen. Welches diese Anhaltspunkte sind, wird klar, wenn man sich entweder das Kapitel zur Sprache im Essay on Man ansieht oder aber den für Cassirers Sprachphilosophie wichtigen Aufsatz Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt heranzieht. 6 In beiden Texten betont Cassirer, daß wir die menschliche Sprache nur dann richtig begreifen, wenn wir sie als Weise gegenständlichen Vorstellens oder Repräsentierens in den Blick nehmen. 7 Worum es dabei geht, erläutert Cassirer anhand von Pathologien, aufgrund derer Menschen die Fähigkeit, Dinge mit Namen zu versehen, entweder verlieren oder erst verspätet entwickeln. 8 Diesen Menschen geht nicht einfach die Fertigkeit ab, Dinge zu benennen, sondern es mangelt ihnen damit einhergehend auch an der Fähigkeit, Dinge und ihre Eigenschaften strukturiert wahrzunehmen und sie mithilfe von Klassifikationen in eine einheitliche Sicht der Welt einzuordnen. Wesen ohne Sprache oder sprachähnliches Substitut haben keine Möglichkeit, eine theoretische Haltung zu ihrer Umwelt als einer Welt einzunehmen. Mit dem Erwerb von Sprache geht also Cassirer zufolge eine kognitive Ermächtigung einher, die man am ehesten als einen Erwerb von Theoriefähigkeit bezeichnen könnte. Diese Theoriefähigkeit ist nicht zwingend von der Sprache abhängig, wohl aber davon, daß einem Subjekt ein Symbolsystem zur Verfügung steht, das nicht nur Eins-zu-Eins-Beziehungen zwischen Zeichen und Dingen schafft, sondern sich durch Universalität, Variabilität und allgemeine Anwendbarkeit der Zeichen auszeichnet.9 Die Taubblinden Laura Bridgman und Helen Keller, denen ein solches Zeichensystem an die Hand gegeben wurde, konnten daher auch ohne

6

Ernst Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18. A. a. O., 115 f. und Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 126 sowie 142. Auf die Bedeutung, die dieser Aspekt für Cassirers Kulturphilosophie hat, weist insbesondere Hartung an mehreren Stellen hin: Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 8 Vgl. die Ausführungen zu den Farbaphasien in Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, ECW 18, 119 f., sowie zur kognitiven Entwicklung der taubblinden Mädchen Helen Keller und Laura Bridgman in ders.: An Essay on Man, ECW 23, 142. Der Fall Helen Kellers wird in vergleichbarer Weise auch schon im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen verwendet, um den Begriff der Darstellungsfunktion zu erläutern, vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 125. 9 Siehe auch Cassirers Ausführungen zum Prinzip des Symbolismus in Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 40 f. – Vgl. dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, 71. 7

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Sprache Theoriefähigkeit erwerben, während Tiere – immer nach Cassirer – dies nicht können. Genau darin liegt nun auch der Grund dafür, daß der Gleichsetzung von Rationalität mit Sprache bei allen Vorbehalten eine gewisse Berechtigung zugestanden wird.10 Daß ein Wesen über Sprache verfügt oder allgemeiner: seine Gedanken im Medium eines Zeichensystems artikulieren kann, ist nach Cassirer eine unerläßliche kognitive Vorbedingung von dem, was wir gemeinhin als Vernunft ansprechen. Sofern daher Vernunft eine Art Vermögen darstellt, ist Sprache oder ein äquivalentes symbolisches Substitut tatsächlich ein konstitutiver Teil von Vernunft. Trotzdem schreckt Cassirer davor zurück, Sprache – oder auch Sprache plus ihre allfälligen Substitute – als hinreichende Bedingung der Vernunft anzusehen. Der Grund dafür wird sogleich deutlich werden, wenn wir uns dem Verhältnis von Rationalität und Mythos zuwenden. b) Rationalität als Gegenstück des Mythos. Cassirers Plädoyer für die animalsymbolicum-Definition des Menschen macht noch von einem anderen klassischen Begriffspaar Gebrauch, von der auf Platon zurückgehenden begrifflichen Gegenüberstellung von Logos vs. Mythos. Ähnlich wie der Gleichsetzung von Rationalität mit Sprache kann Cassirer auch diesem Gegensatz etwas abgewinnen,11 obwohl er ihn mit Blick auf das Verständnis des Mythos ablehnt. Was mythisches Denken ausmacht, kann nicht begriffen werden, wenn man es einfach als das Andere des Logos betrachtet. Mythen sind nicht chaotisch, sondern sie erbringen eigene Ordnungsleistungen und besitzen eine eigene Systematik.12 Diese Systematik wiederum ist, wie im Kapitel des Essay on Man über den Mythos betont wird, durchaus kohärent und überdies logisch völlig nachvollziehbar, sobald man die Prämissen von mythischen Gedankengebäuden kennt und akzeptiert. Mindestens die Zusammenhänge zwischen einzelnen Elementen mythischen Denkens basieren also genauso auf rationalen Schlussfolgerungen, wie es bei der modernen Wissenschaft der Fall ist.13 Trotzdem weist Cassirer sämtliche philosophischen Übersetzungsversuche, die auf eine Rationalisierung von Mythen oder Mythemen hinauslaufen würden, konsequent zurück. Erstens, so mahnt er immer wieder

Wie Hartung gezeigt hat, kommt der Sprache in der Manuskriptfassung des Essay on Man von 1943 noch eine viel zentralere Funktion zu und sie wird sogar als »distinctive mark of man« angesprochen; zit. nach Hartung: Das Maß des Menschen, 339 ff., Zitat: 341. 11 Siehe dazu insbesondere auch den Myth of the State, in dem Cassirer diesem Gegensatz sogar ein ganzes Kapitel widmet: Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 53–60. 12 Cassirer rekurriert an dieser Stelle des Essay on Man auf seine früheren Analysen, vgl. dazu Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 30; ferner auch 84 ff. 13 A. a. O., 89. 10

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

an, sollen Mythen grundsätzlich nicht rationalisiert werden, weil sie sonst nicht mehr in ihrer Eigenart, Dynamik und – last, but not least – in ihrer Macht begriffen werden können. Letzteres ist insbesondere im Hinblick auf die späte Mythoskritik in The Myth of the State zu betonen. Mythisches Denken ist Cassirers Auffassung zufolge eine ausgesprochen mächtige Form der Symbolisierung, denn Mythen – seien es primitive oder moderne – prägen menschliche Orientierungen von Grund auf. Wer ihre Funktionsweise nicht versteht, hat nichts in der Hand, um politische Manipulationen durch technisch produzierte Mytheme zu kritisieren.14 Zweitens können Mythen nach Cassirer aber auch nicht rationalisiert werden und zwar deshalb nicht, weil die Prämissen, auf denen sie aufbauen, genuin emotionaler Art sind.15 Damit hängt auch die von Cassirer beobachtete Tatsache zusammen, daß mythische Denkmuster im sozialen Leben länger Bestand haben als in den Wissenschaften.16 Denn wenn Gefühle oder Emotionen, wie oft angenommen wird, entscheidende Motivationen von praktischem Handeln und sozialer Interaktionen darstellen und wenn auf der anderen Seite Mythen einen emotionalen Ursprung haben, dann ist klar, daß Mythen gerade in diesem Bereich eine besonders nachhaltige Wirksamkeit entfalten. Das unterscheidet mythisches Denken nicht zuletzt auch von der Religion, insbesondere der monotheistischen Religion, welche nach Cassirer eine Emanzipation vom Mythos durchlaufen hat. Überhaupt ist das Verhältnis von Mythos und Religion, wie es im Essay on Man beschrieben wird, für die Frage von Cassirers Rationalitäts-Konzeption aufschlußreich. Grundsätzlich stehen seine Überlegungen dazu bereits durchaus in einer Linie mit seinen früheren Erwägungen. In verschiedenen Phasen seines Denkens betont er, daß das Verhältnis von Mythos und Religion sowohl von Kontinuität als auch von Differenz geprägt ist.17 Allerdings wird der Vergleich von Mythos und Religion in der frühen Monographie in keiner Weise mit der Frage nach der Rationalität von Mythos bzw. Religion verbunden. Anders verhält es sich im Essay on Man, wo die Frage nach der Rationalität der Kultur trotz der Ablehnung der Definition des Menschen als ›animal rationale‹ im Hintergrund öfters präsent ist. Hier wird der Religion im Unterschied zum Mythos zugestanden, daß sie sich der Natur

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Mehr dazu in Ursula Renz: »From philosophy to criticism of myth: Cassirer’s concept of myth«, in: Synthese 179 (2011), 135–152, 147 ff. 15 Cassirer bestimmt diesen emotionalen Untergrund des Mythos auch näher als Lebensgefühl bzw. »sentiment of life« (Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 89 f.). 16 A. a. O., 85. 17 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 285 und ders.: An Essay on Man, ECW 23, 98 ff.

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von der rationalen und nicht nur von der emotionalen Seite des Menschen her annähere.18 Das wiederum ist vor allem für die Begründung von sozialen und moralisch-praktischen Handlungsorientierungen von Bedeutung. So läßt sich der Unterschied, den Cassirer zwischen Religion und mythischem Denken ansetzt, dahingehend zusammenfassen, daß erst Religion menschliches Handeln auf eine rationale und mithin ethische Basis stellte.19 Konkret sind dabei insbesondere drei Punkte zu erwähnen, die Cassirer allerdings eher andeutet als ausführt: Erstens zielt Religion, und insbesondere der Monotheismus, auf einen Universalismus ab, der sich gegen die im konkreten Lebensgefühl gründende soziale Praxis des Mythos durchsetzt. 20 Zweitens entwickeln sich erst mit der in der Religion stattfindenden Personalisierung des Numinosen Konzepte von Individualität und personaler Identität. 21 Und drittens reguliert der Mythos menschliches Handeln maßgeblich negativ, nämlich durch Tabus und Stigmatisierungen, während mit der Religion eine positive Bestimmung guten Handelns möglich wird. Denn erst im Übergang zum religiösen Bewußtsein, so Cassirer, werde das Ideal der Freiheit entdeckt. 22 Insgesamt kommt mit der Religion fast so etwas wie ein deontologisches Moment ins Spiel. Man kann sich nun natürlich fragen, ob das ein faires Bild der moralischen Substanz mythischen Denkens ergibt, oder ob Cassirer bei dieser Betrachtung der moralischen Seite von Mythen nicht von alten philosophischen Vorurteilen eingeholt wird, die in einer Spannung zu seiner sonst eher auf philosophische Rehabilitation bedachten Sicht auf den Mythos stehen. Da mich hier jedoch weniger Cassirers Sicht auf den Mythos interessiert,23 als vielmehr die impliziten rationalitätstheoretischen Vorgaben, welche dieser Einschätzung zugrunde liegen, möchte ich darauf nicht weiter eingehen, sondern nur auf folgendes hinweisen: Cassirer veranschlagt die Rationalität des Mythos unterschiedlich hoch, je nachdem, ob er sei-

18

Dies wird am explizitesten im Blick auf Zarathustra festgehalten: »This religion is not a product of mythical or aesthetic imagination; it is the expression of a great personal moral will. […] The sympathetic connection that we find in magic and in primitive mythology is not denied or destroyed; but nature is now approached from the rational instead of the emotional side.« (Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 109). Es fällt auf, daß hier die mythische und ästhetische Imagination in einem Zug genannt werden. Womöglich ist das ein Seitenhieb gegen Nietzsches Ästhetisierung der Moral. 19 Vgl. dazu seine Auslegung der Propheten a. a. O., 113. 20 A. a. O., 111. 21 A. a. O., 104 ff. 22 A. a. O., 117 f. 23 Vgl. dazu aber auch Renz: »From philosophy to criticism of myth«, sowie die Ausführungen dazu in Ursula Renz: Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002, 209–216.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

ne konzeptuellen Ordnungsleistungen oder seine soziale resp. moralischpraktische Funktion in Betracht zieht. Während er dem Mythos, als Denkoder Begriffsform betrachtet, durchaus so etwas wie Rationalität und Logik zugesteht, spricht er dem von Mythen geleiteten Handeln jegliche rationale Grundlage ab. Cassirer operiert hier offensichtlich mit zweierlei Maß, was darauf schließen läßt, daß er genuin verschiedene Merkmale menschlichen Kulturbewußtseins als ›rational‹ anspricht. Rationalität liegt zum einen vor, wo wir es mit auf inferentiellen Relationen basierenden Zeichensystemen zu tun haben. Als rational gelten ihm zum anderen aber auch Handlungen, deren Motive nicht bloß dem emotionalen Mutterboden mythischen Bewußtseins entspringen, sondern die auf das Ideal der menschlichen Freiheit bezogen sind und deren Richtigkeit sich deshalb universal begründen läßt. Es stellt sich die Frage, wie diese beiden als ›rational‹ ausgezeichneten Merkmale systematisch zusammenhängen. Klar ist, daß Cassirer hier nicht zwei getrennte Dinge, sondern zwei Aspekte ein- und desselben Reifestadiums menschlichen Kulturbewußtseins vor Augen hat. Man könnte daher auch von der bewußtseinstheoretischen und der ethischen Seite von Rationalität sprechen. Klar ist ferner auch, daß dieser Doppelaspekt von Cassirers Rationalitätsbegriff der kantischen Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft nachempfunden ist. Doch wie genau Kant hier Pate gestanden hat, ist offen, und das läßt sich anhand der eher spärlichen Ausführungen zu Kant im Essay on Man selber auch nicht rekonstruieren. Um dies zu klären, möchte ich daher eine kurze Rückblende vornehmen und auf einige Besonderheiten von Cassirers Umgang mit dem kantischen Vernunftbegriff hinweisen. c) Cassirers Rationalitätsbegriff vor dem Hintergrund seiner Kant-Rekonstruktion. Es gibt einen Schlüsselbegriff, der für Cassirers Rekonstruktion der kantischen Vernunftkritik seit Freiheit und Form bestimmend ist: der Begriff der Autonomie. In diesem Werk tritt Autonomie nicht nur als Begriff von Kants praktischer Philosophie auf, sondern schon die kopernikanische Wende und damit die gesamte theoretische Philosophie Kants wird unter dem Gesichtspunkt der Selbstgesetzgebung der Vernunft begriffen. Auf dieser Linie liegt auch die zu Beginn von Kants Leben und Lehre geäußerte Interpretationsthese Cassirers, daß der eigentliche und tiefste Begriff der Vernunft, wie Kant ihn verstehe, erst vermöge der Beziehung von Kants gesamter Vernunftkritik auf ethische Probleme gewonnen werde.24 Das ist insbesondere im Blick auf das oft betonte Gewicht der Kritik der Urteilskraft für Cassirers eigenen Ansatz zu unterstreichen: So entscheidend Kants

24

Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 224.

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dritte Kritik für die Genese der Kulturphilosophie auch sein mag,25 der Schlüssel für ein genaueres Verständnis von Cassirers Vernunftbegriff liegt in seiner Lektüre der kantischen Ethik, und zwar, so läßt sich präzisierend sagen, im Verhältnis, das Cassirer zwischen Vernunft- und Autonomiebegriff ansetzt. In Kants Leben und Lehre bestimmt er Kants Autonomie-Begriff wie folgt: »Autonomie bedeutet jene Bindung der theoretischen wie der sittlichen Vernunft, in der diese sich selbst als des Bindenden bewußt wird.«26

Mit dieser Formulierung setzt Cassirer zwei Akzente: Erstens spricht er als Autonomie ein Selbstverhältnis der Vernunft – und nicht etwa des Willens – an, und zweitens beschreibt er dieses Verhältnis nicht einfach als einen Akt der Selbstbestimmung, sondern vielmehr als ein Moment der Selbstbewußtwerdung der Vernunft. Letzteres wird etwas weiter unten unterstrichen, wenn er sagt: »In der Selbstbestimmung des Willens weiß und begreift die Vernunft erst sich selbst: und dieses ihr Wissen ist es, was ihren eigentlichen und tiefsten Wesensgehalt ausmacht.«27

Auch hier deutet Cassirer den kantischen Autonomie-Begriff im Lichte des Prozesses der Selbsterkenntnis der Vernunft. Diese Auslegung von Kants Autonomie-Begriff als dem entscheidenden Moment im Prozeß der Selbsterkenntnis der Vernunft liegt im Großen und Ganzen durchaus auf der Fluchtlinie von Kants eigenen Aussagen. Auch bei Kant ist Autonomie oder Selbstbestimmung des Willens nicht vom Bewußtsein vernünftiger Subjekte für ihre eigene Freiheit zu trennen.28 Gleichwohl, so meine ich, rückt Cassirer mit dem Gesichtspunkt der Selbsterkenntnis der Vernunft ein Moment ins Zentrum der Ethik, das zwar auf das Programm von Kants Vernunftkritik insgesamt zutrifft, aber in dessen praktischer Philosophie eher im Hintergrund steht. Es mag, mit anderen Worten, die Quintessenz der ganzen kritischen Philosophie sein, daß die Vernunft sich selbst »weiß und begreift«, nicht unbedingt aber von Kants Ethik. Indem hingegen Cassirer diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund rückt und die zentralen praktischen Implikationen der kantischen Philoso-

25

Vgl. dazu etwa Detlev Pätzold: »Esprit systématique ou esprit de système? Das Bild von Kant und Hegel in Cassirers symbolischem Idealismus und seiner Methode«, in: ders./Christian Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 1998, 89 f. 26 Cassirer: Kants Leben und Lehre, ECW 8, 235. 27 A. a. O., 238. 28 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Bd. VII, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, 155.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

phie im Vollzug dieser Selbsterkenntnis der Vernunft ausmacht, wird Kants kritische Philosophie gleichsam unter der Hand »sokratisiert«. Diese sokratisierende Kant-Rezeption ist nun ihrerseits für Cassirers eigenen philosophischen Ansatz höchst aufschlußreich, denn sie erklärt u. a. die Sonderstellung, welche der Philosophie im Kreis der kulturellen, symbolischen Formen zukommt. Was für einen Status, so fragt sich nämlich, hat die Philosophie im Rahmen von Cassirers Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen? Ist sie selbst symbolische Form, oder ist sie etwas anderes? 29 Klar ist, daß philosophisches Denken genauso wenig wie alle anderen kulturellen Formen unabhängig von jeglichem symbolisch verfaßten Mediums operieren kann. Doch trotz der Annahme, daß auch philosophisches Denken eines Mediums bedarf, begreift Cassirer die Philosophie nicht als symbolische Form. An der einzigen Stelle, an der er sich dazu äußert, gibt er als Rechtfertigung dafür an, daß die Philosophie »als ›Selbsterkenntnis der Vernunft‹ … nicht eine prinzipiell neue Symbolform« schaffe und »keine neue schöpferische Modalität« darstelle.30 Cassirer führt hier zwei Motive für die Sonderstellung der Philosophie an, erstens indem er sie als »Selbsterkenntnis der Vernunft« anspricht und zweitens indem er ihr ein genuin eigenes Medium aberkennt. Was den zweiten Punkt betrifft, so kann man sich m. E. mindestens fragen, wie triftig er im Endeffekt ist. Natürlich stellen die Medien, in denen Philosophie operiert, keine prinzipiell neue Symbolform dar. 31 Doch ist das, so könnte man hier fragen, tatsächlich bei allen kulturellen Erscheinungen gegeben, die Cassirer unter diesem Titel abhandelt? Wie verhält es sich diesbezüglich etwa mit dem Recht und der Wissenschaft? Für die Sonderstellung der Philosophie wichtiger scheint mir daher der erste Punkt: Philosophie hat nach Cassirers Philosophieverständnis genau jene Aufgabe inne, die in seiner sokratisierenden Kant-Lektüre der Ethik zukommt, nämlich Selbsterkenntnis der Vernunft zu sein. Allerdings erfüllt sie diese Aufgabe nicht als Ethik, sondern eben als »Kritik der Kultur«, und zwar besteht diese Kritik der Kultur in einem »Durchschauen des symbol[ischen] Grundcharakters« von Erkenntnis und Kultur. 32

29

Vgl. zu dieser Frage auch meine Erörterungen in Ursula Renz: »Kantisches Denken als Stilgesetz. Kantianismus und Neukantianismus in Ernst Cassirers Kulturphilosophie«, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant Kongresses vom März 2000, Bd. 5, Berlin/New York 2001, 323–330, sowie Renz: Die Rationalität der Kultur, 235–239. 30 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, 264 f. 31 Wie man das Medium der Philosophie bestimmen wollte, wenn es denn eines wäre, ist seinerseits eine Frage, die der Diskussion bedarf. Cassirersche Kandidaten wären sowohl der »Denkstil« bzw. »Stilgesetze des Denkens«, aber auch »Begriffe«. 32 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 265.

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Diese Bestimmung der Philosophie macht auch deutlicher, wie Cassirers implizite Auffassungen von Rationalität Kant nachempfunden sind. Denn was das Verhältnis der Philosophie zu den symbolischen Formen charakterisiert, trifft auch für das Verhältnis von Vernunft und menschlichem Bewußtsein zu: Rationalität realisiert sich in der Reflexion und nicht der Erzeugung von Symbolen. Sie besteht wie die Philosophie in einem Durchschauen der Symbolizität des Geistes. Ferner ist ihr – genauso wie der als »Kritik und Erfüllung« der Kultur verstandenen Philosophie – ein bewußtseinstheoretisches und ein teleologisches Moment eigen. Rationalität ist zum einen eine bewußtseinstheoretische Voraussetzung der Möglichkeit eines kritischen Verhältnisses zur eigenen Weltsicht. Als solche liegt sie vor, wo Subjekte um die symbolische Konstituiertheit von Sinn wissen. Rationalität steht zum anderen für eine vollständige Selbsttransparenz des Bewußtseins und markiert als solche das ideale Ziel der Entwicklung von Symbolsystemen. Zusammenfassend können wir daher festhalten, daß die Begriffe der Symbolizität und Rationalität in Cassirers eigenem Ansatz auf Engste zusammenhängen.

II) Die Funktion einer philosophischen Definition des Menschen Die bisherigen Ausführungen haben klargemacht, daß die Annahme, der Mensch sei ein rationales Wesen oder zur Rationalität befähigtes Wesen, mit einer symboltheoretischen Beschreibung oder Erklärung seiner geistigen Aktivitäten nicht im Widerspruch steht. Hieße daher die im Untertitel des Aufsatzes formulierte Frage »sich ausschließende oder ergänzende Eigenschaften des Menschen«, so wäre die Sache einfach: Die Zuschreibung von Symbolizität und Rationalität ergänzen sich und können einander nicht ersetzen. Ja mehr noch, wie soeben klar geworden ist, stehen Cassirers eigene Begriffe von Symbolizität und Rationalität in einem unauflösbaren Wechselverhältnis. Nun steht aber an der Stelle, wo Cassirer die beiden Begriffe gegeneinander ausspielt, nicht einfach das Verhältnis von Rationalität und Symbolizität schlechthin zur Diskussion, sondern die Frage, welche der beiden Eigenschaften die spezifische Differenz des Menschen darstellt. Und das macht die Sache erst richtig komplex. Es fragt sich nämlich, was eigentlich mit einer philosophischen Definition des Menschen überhaupt bezweckt wird. Cassirer unterstellt hier, daß die Angabe der spezifischen Differenz des Humanums in deskriptiver Hinsicht ertragreich sein muß und die Vielfalt kulturellen Lebens erklären können muß. Daß der Begriff der Symbolizität diesem Erfordernis besser Rechnung trägt als der Begriff der Rationalität ist klar.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Eine solche Zweckbestimmung der Definition des Menschen ist aber keineswegs zwingend, bzw. sie ist nur zwingend, wenn damit eine Alternative zu konkurrierenden deskriptiven Definitionen geschaffen werden soll, wie dies in der Anthropologie-Diskussion der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war. Begreift man hingegen die Aufgabe einer Definition des Menschen in der Tradition der abendländischen Philosophie seit der Antike – und das tut Cassirer, wenn er das Problem, dem er sich in seinem Essay on Man mit der Diagnose einer Krise in der menschlichen Selbsterkenntnis stellt, anheben läßt –, so wird klar, daß es mit der Definition des Begriffs des Menschen in der Philosophie noch eine ganz andere Bewandtnis hat. In dieser Tradition zielen Definitionen des Menschen nicht einfach darauf ab, den Gegenstand anthropologischer Theorien zu bestimmen, sondern sie haben oft auch die Funktion, jenes Merkmal menschlichen Tuns herauszustreichen, in dem sich die normative Dimension unserer Auffassungen vom idealen Mensch-Sein realisiert. Unabhängig davon, was der Mensch alles ist, wird man daher annehmen müssen, daß der Begriff des Menschen nicht nur eine ›natural‹, sondern auch eine ›normative kind‹ bezeichnet. Um das anzuerkennen, muß man nicht soweit gehen wie Hermann Cohen, welcher Ethik als »die Lehre vom Begriff des Menschen« definierte.33 Es reicht, einen Blick auf die in unserer Alltagssprache angelegten Intuitionen zu werfen, in der Adjektive wie ›menschlich‹, aber bisweilen auch das Substantiv ›Mensch‹ oft evaluativ-wertend gebraucht werden. Diesen Intuitionen zufolge hebt sich, wer als »Mensch« bezeichnet wird, nicht nur nicht-menschlichen Tieren und Sachen ab, sondern auch von jenen Artgenossen, die sich in unseren Augen als Unmenschen disqualifizieren. Damit weist der Begriff des Menschen eine normative Dimension auf, die über jene Normativität hinausgeht, die allen Begriffen kraft der Regeln ihres Gebrauchs eigen ist. Diese Intuitionen sind natürlich weder omnipräsent noch sakrosankt. Sie können im Rahmen von biologischen, psychologischen oder auch von in engem Sinne bewußtseinstheoretischen Aussagen ohne Schaden vernachlässigt werden. Wenn aber jemand im Rahmen einer weiter gefassten philosophischen Bestimmung des Begriffs des Menschen darauf verzichtet, diese Intuitionen zu klären oder begrifflich zu entfalten, dann leugnet

Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, in: ders.: Werke, Bd. 7, hg. von Helmut Holzhey, Einführung von Steven Schwarzschild, Hildesheim/New York 1981, 3. Es sei hier am Rande erwähnt, daß Cohen damit nicht einer naturalistischen Moralpsychologie, sondern in Gegenteil einem dezidierten Antinaturalismus im Blick auf das philosophische Verständnis des Menschen das Wort spricht. Siehe dazu auch Andrea Esser: »Autonomie als Aufgabe. Hermann Cohens kritischer Idealismus und sein Beitrag zur Diskussion der Gegenwart«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 227–247, 242 ff. sowie Ursula Renz: »Von Marburg nach Pittsburgh: Philosophie als Transzendentalphilosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 249–270, 268 f. 33

Renz · Rationalität und Symbolizität

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er sie indirekt. Wer das nicht will, kommt daher nicht darum herum, sich über die normativen Aspekte der Rede vom Menschen zu verständigen und ihr allenfalls in der Definition des Menschen Rechnung zu tragen. Diese normative Dimension des Begriffs des Menschen hat Cassirer durchaus gesehen und er hat sie überdies gerade in der Zurückweisung der Definition des Menschen als ,animal rationale‹ betont, wenn er von jenen Philosophen, die diese Formel geprägt haben, sagt, sie seien keine Empiriker gewesen, sondern hätten damit eher einen fundamentalen moralischen Imperativ zum Ausdruck gebracht. 34 Dieser fundamentale moralische Imperativ ließe sich, wie die Ausführungen zu Cassirers implizitem Rationalitätsbegriff zeigten, durchaus auf sein eigenes Programm beziehen, wonach es ein Ideal der Kulturentwicklung ist, den symbolischen Grundcharakter von Erkenntnis und Kultur zu durchschauen. Umso mehr fragt sich, weshalb er diesem normativen Aspekt der Rede vom Menschen in seiner eigenen Definition nicht Rechnung trägt. Es lassen sich mehrere Antworten darauf geben. Ein Grund ist natürlich, daß er die Realisierung seines moralischen Imperativs der Selbsterkenntnis der Vernunft stärker von der Einsicht in die Zusammenhänge zwischen empirischen Sachverhalten abhängig macht, als es in der philosophischen Tradition oft der Fall war. Ferner ist daran zu erinnern, daß Cassirer im ersten Teil seines Essay on Man u. a. auch jene begriffliche Fundierung nachliefert, die Martin Heidegger in seiner Rezension des zweiten Bands der Philosophie der symbolischen Formen nicht ganz zu unrecht vermißt. Mit der Definition des Menschen als einem ,animal symbolicum‹ leistet Cassirer zwar nicht direkt Heideggers Aufforderung zu einer Verankerung der philosophischen Interpretation des Mythos in einer Ontologie des Daseins Folge,35 wohl aber trägt er dem damit verbundenen Desiderat nach einer deutlicheren Explikation des bewußtseinstheoretischen Fundaments seiner Kulturphilosophie Rechnung. Auch eine Kulturphilosophie, die nicht in einer philosophischen Anthropologie aufgeht, bedarf so gesehen eines anthropologischen Grundbegriffs. Diesen stellt der Begriff des ›animal symbolicum‹ dar. Cassirers Präferenz für die ›animal symbolicum‹-Formel ist somit völlig verständlich. Daß er sie als Alternative zur ›animal rationale‹-Definition ausgibt, ist gleichwohl irritierend. Denn zum einen stellt sich Cassirer da-

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»The great thinkers who have defined man as an animal rationale were not empiricists, nor did they ever intend to give an empirical account of human nature. By this definition they were expressing rather a fundamental moral imperativ.« (Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 30). 35 Siehe dazu auch Martin Heidegger: Besprechung: Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, in: Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. von FriedrichWilhelm v. Herrmann. 5. Auflage Frankfurt/M. 1991 (= Martin Heidegger Gesamtausgabe Bd. 3), 255–270, 265.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

mit stärker, als ihm lieb sein kann, in die Nähe einer rein deskriptiven und vor Naturalisierungen nicht gefeiten Anthropologie. Zum anderen bleibt verborgen, daß diese Definition des Menschen nichts anderes ist als eine Konkretisierung des seinerseits auf Rationalität abzielenden Programms seiner Kulturphilosophie. Diese behauptet ja nichts anderes, als daß Menschen erst, indem sie sich selber als ›animales symbolicae‹ begreifen, zu ›animales rationales‹ werden.

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 8 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, in: ders.: Werke, Bd. 7, hg. von Helmut Holzhey, Einführung von Steven Schwarzschild, Hildesheim/New York 1981 Andrea Esser: »Autonomie als Aufgabe. Hermann Cohens kritischer Idealismus und sein Beitrag zur Diskussion der Gegenwart«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 227–247 Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003 Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1991 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Bd. VII, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974 Detlev Pätzold: »Esprit systématique ou esprit de système? Das Bild von Kant und Hegel in Cassirers symbolischem Idealismus und seiner Methode«, in: ders./Christian Krijnen (Hg.): Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 1998 Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004 Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004

Renz · Rationalität und Symbolizität

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Ursula Renz: »Kantisches Denken als Stilgesetz. Kantianismus und Neukantianismus in Ernst Cassirers Kulturphilosophie«, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant Kongresses vom März 2000, Bd. 5, Berlin/New York 2001 Ursula Renz: »Von Marburg nach Pittsburgh: Philosophie als Transzendentalphilosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 249–270, 268 – Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 – »From philosophy to criticism of myth: Cassirer’s concept of myth«, in: Synthese 179 (2011), 135–152.

Philipp Stoellger Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen Zum Imaginären als Figur des Dritten zwischen Symbolischem und Realem

I) Cassirers Sinn für das Imaginäre In seinen Vorarbeiten für den vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen notierte Cassirer: »[D]ie ›Kultur‹ ist […] niemals eine reelle[,] sondern eine komplexe Größe (a + bi)[,] denn sie enthält eine ›imaginäre‹ (Sinn-) Einheit[.]«1 Dies dunkle Wort vom Imaginären findet sich im Zusammenhang des ›Schluß-Kapitels‹ im Abschnitt über ›Lebensphilosophie, Dingsphäre, Sinnsphäre‹. Die Schwäche organologischer Theorien (wie Spenglers Geschichtsphilosophie, die hier genannt wird2 ) sei es, den Übergang von der Lebenssphäre zur Bedeutungs- bzw. Sinn-Sphäre »nicht rein« zu vollziehen.3 Kultur werde ›organologisch‹ nicht als Sinn-Einheit (geistiger Ordnungen) verstanden, sondern nur als Ding- und Lebens-Einheit. Der Übergang zur Bedeutungsfunktion und der Sphäre ›reinen‹ Sinns werde damit verfehlt. »Nicht rein« besagt, die Organologie erhebe sich nicht »zur rein ›symbolischen‹ (›sinnhaften‹) Betrachtung«.4 Die Organologie schaffe es nicht, »das Reich des schematisierbaren Daseins u. des Lebens entschlossen [zu] verlassen«. Eben das sei aber nötig, um »in das Reich der reinen Bedeutung über[zu]gehen«5 . Das ›Reich der reinen Bedeutung‹ birgt offenbar das Geheimnis der Kultur und erst dieser Übergang erschließt daher die Pointe von Cassirers Kulturphilosophie gegenüber den Philosophien von Dasein und Leben. Erst im Reich der reinen Bedeutung zeige sich, daß und inwiefern Kultur »einen prinzipiell unanschaulichen Faktor in sich schließt – (einen reinen Sinnfaktor)«.

Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 1995, 245. 2 A. a. O., 244. 3 A. a. O., 243. 4 Ebd. 5 A. a. O., 245. 1

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Nun heißt es allerdings: »[D]ie ›Kultur‹ […] enthält eine ›imaginäre‹ (Sinn-) Einheit[.]« 6 Die Formulierung ist überraschend. Als maßgebliche Differenz zu einem metaphysischen, psychologischen oder naturalistischen ›Realismus‹, der die Symbolizität der Erkenntnis meine umgehen zu können, und den inkriminierten Organologen würde man eher erwarten, die Kultur ›enthält [oder ist] eine symbolische Sinn-Einheit‹. Die Symbolizität des Sinns wäre die eher zu erwartende Pointe. Warum führt Cassirer dann hier – seltsam plötzlich und unerwartet – den Begriff des Imaginären ein? Es ist im Rahmen seiner Symboltheorie leicht nachvollziehbar, wenn Cassirer sich gegen die Philosophien von Dasein und Leben wendet, insbesondere gegen deren Stilisierung von Dasein und Leben als Geheimnis des Daseins, sei es der Existenz oder der Kultur. Das ist erwartbar und nicht eigens von neuem zu begründen. Daß er aber eine kulturtheoretische Version der ›Zwei-Reiche-Lehre‹ entwirft, ist überraschend: Das Reich des Daseins und Lebens gegenüber dem Reich des reinen Sinns – das hat beinahe mythische Qualität – und provoziert ein gewisses Staunen mit der Nebenwirkung von Verständnisproblemen. Der entscheidende Mangel der Organologen sei, den strikt unanschaulichen Faktor der Kultur »noch ins anschauliche Gebiet hineinzuziehen«7. Demgegenüber insistiert Cassirer auf der Unanschaulichkeit des entscheidenden Faktors – dem reinen Sinnfaktor. In diesem Schibboleth zeigt sich ein bekanntes Problem seiner Kulturphilosophie: eine Nebenwirkung des Stufenmodells, in dem final ein ›reiner Sinn‹ und mit ihm das zweite Reich ›reinen Sinns‹ herrscht. Als würde prinzipiell und final der Sinn sich von aller Sinnlichkeit lösen müssen, um Kultur zu verstehen. Nicht mehr Substanz, sondern reine Relation wird zu einer Differenz, die alle Substantialismen final abstößt. Daraus folgt nicht nur das, leicht etwas dogmatisch klingende, Postulat der Unsinnlichkeit reinen Sinns, es folgt auch eine Antisinnlichkeit und eine gewisse Antimetaphorizität8 seiner kulturtheoretischen Sprache, zumindest ›im Letzten‹, wenn es um »die spezif[ische] Eigenart der ›Kultur‹« geht9. Gegen Daseinshermeneutiker und Organologen ist dieser Einspruch noch nachvollziehbar. Aber als ›prinzipielle‹ These wirkt es agonal übertrieben, als würde Cassirer von dem Überschwang einer Gegenbesetzung

6

Ebd. (Hervorhebung PS) Ebd. 8 Vgl. Philipp Stoellger: »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese«, in: Dietrich Korsch/ Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 100–138. 9 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 245. 7

Stoellger · Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen

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getrieben – in der die Probleme bestimmter Schematisierungen (des Daseins, des Lebens) zu einer prinzipiellen Ablehnung von Schematisierung übersteigert werden, statt seiner Einsicht in die Sinnlichkeit allen Sinns zu folgen. Nun könnte man in dieser Hinsicht mit Cassirer gegen Cassirer für die Sinnlichkeit allen Sinns argumentieren oder mit Blumenberg für die Absolutheit der Metaphorizität oder mit Goodman die Bildlichkeit jeder symbolischen Welterzeugung zur Geltung bringen. Das ist auch schon getan worden und braucht daher nicht wiederholt zu werden. Es wäre der systematische Einwand gegen Tendenzen einer Stufung und Teleologie, gegen eine Sprache der (mystisch gesagt) ›Entbildung‹ und ›Entbildlichung‹ oder des Sinns als ›Entsinnlichung‹. Die irreduzible Sinnlichkeit des Sinns der Kultur scheint mir weiterer Begründung zwar fähig, aber nicht unbedingt bedürftig. Stattdessen sei im folgenden versucht, Cassirers überraschendes Wort vom Imaginären der Kultur etwas näher zu verstehen und systematisch weiterzudenken, genauer: dem imaginären Status ihrer ›Sinneinheit‹. Denn es könnte lohnend sein – für die Cassirerinterpretation wie für die Möglichkeiten einer an ihn anschließenden Kulturphilosophie – das Imaginäre als Figur des Dritten zwischen Symbolischem und Realem zu verstehen. Daß sich im Zeichen des ›Imaginären‹ auch Religion und Kunst anders verstehen ließen als allein im Verhältnis von Symbolischem und Realem, gehört zum Hintergrund dieses Interesses. Methodisch notiert sei vorab: Mit der besonderen Aufmerksamkeit auf das Imaginäre und der Formulierung ›als Figur des Dritten‹ etc. wird eine systematische Unterscheidung an Cassirer herangetragen – auch wenn sich dafür exegetische Evidenzen ergeben werden. Um nicht zuviel zu unterstellen, werden daher andere Theorien des Imaginären weitgehend ausgeklammert (Sartre, Lacan).10 Zur nominalen Klärung des Begriffs wird hier vorausgesetzt: Das Imaginäre ist: 1. eine Funktion des Subjekts oder des Geistes11 ; 2. im Horizont der Kulturtheorie allerdings eine ›objektive‹ Größe, die die ›Vermögen‹ des Subjekts überschreitet oder ihnen vorausliegt, etwa in den sprachlichen Vorgaben. Diese ›Transsubjektivität‹ scheint bereits die ›imaginäre Sinneinheit‹ anzudeuten. Das Imaginäre ist daher 3. eine Figur oder Größe ›sui generis‹, ein ›je ne sais quoi‹. Phänomenologisch (im Anschluß an B. Waldenfels) läßt sich das Imaginäre nominal noch näher bestimmen: Das Imaginäre ist das, was nicht in Ordnung ist, was nicht in Ordnung geht und was außer der symbolischen

›Stattdessen‹ wird versucht, Blanchots Theorie des (starken) Imaginären hinzuzuziehen, um nicht zu große psychoanalytische Hypotheken einzutragen. 11 Nicht nur ein Stadium der Subjektentwicklung (Spiegelstadium). 10

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Ordnung ist und bleibt, das Außen der Ordnung der Symbole. Als solches ist es aber – nie neutral, sondern – zutiefst ambivalent: wohl oder übel, kulturproduktiv oder destruktiv. In diesem Sinne ist es 4. mehr als ein ›etwas‹. Mit Leibniz sind all diejenigen Möglichkeiten, die nicht kompossibel sind mit der Welt, in der wir leben, irreale Möglichkeiten, vorstellbar und denkbar also, etwa in Form der Literatur oder im Bild, aber nie wirklich im Sinne des ›nicht nur Vorgestellten‹.12 Kultur lebt von diesen nicht kompossiblen Möglichkeiten, die für uns (bzw. für eine Kultur) Unmöglichkeiten sind. Das Imaginäre einer Kultur ist ein Horizont irrealer Möglichkeiten, die für unsere Welt Unmöglichkeiten sind. Und vielleicht noch mehr: Was jenseits dieses Horizontes liegt, nicht einmal denkbar oder vorstellbar ist: Absurditäten wie ein ›unendlich großer Kreis‹; das Chaos im Kosmos oder die Einheit von Natur und Freiheit. Es kann sein, daß manche Figuren des Imaginären nicht vorstellbar oder denkbar sind, aber doch sagbar.

II) Antirealismus? Cassirers Hinweis auf das Imaginäre als differentia crucis der Kulturtheorie – und damit die Einführung des Imaginären als signifikanter und symptomatischer Differenzbegriff seiner Philosophie der Kultur – ergibt sich auf dem Hintergrund einer Negation: Kultur nicht substantialistisch, sondern relational zu verstehen. Die Negation darin ist das Anstößige daran. Gelte es doch »das Reich des schematisierbaren Daseins u. des Lebens entschlossen [zu] verlassen«13. Wäre das nicht die Forcierung der ›Krisis der europäischen Wissenschaften‹? Die dezidierte und programmatische Abkoppelung der Kulturphilosophie von den Wirklichkeiten, in denen wir leben und denken? Eine schneidende Dezision, jede Lebensweltrückbindung final hinter sich zu lassen? Damit würde genau das verspielt und verzerrt, was Cassirer von Heidegger unterscheidet: Nicht eine opake Distanz der Eigentlichkeit gegenüber der Verfallenheit in Szene zu setzen, um dann mit einer (nahezu) Privatsprache den eigentlichen Sinn des Seins zu verkünden. Cassirers Distanznahme von den Substantialismen einer Daseinsontologie zielt auf die Transparenz der Genese und Entwicklung der Kultur und damit auf den durchgehenden Zusammenhang der kulturellen Formen.

12

Vgl. Philipp Stoellger: »Die Vernunft der Kontingenz und die Kontingenz der Vernunft. Leibniz’ theologische Kontingenzwahrung und Kontingenzsteigerung«, in: Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.): Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems. Religion in Philosophy and Theology 1, Tübingen 2000, 72–115. 13 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 245.

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Damit ergibt sich aber dennoch eine ambivalente Kehrseite: »Die wahre Konstitution des Kultur-Zusammenhangs« zeige sich erst im Begriff der Kultur als ›Relation‹.14 So plausibel der Relationsbegriff hier eintritt, so prekär ist die zweiwertige Bestimmung als ›wahre Konstitution‹. Sein Entwurf eines relationalen und funktionalen Kulturbegriffs mag erhellender und plausibler sein, mehr und besser erschließen, wie Kultur entsteht und sich entwickelt. Aber ist ein derart überkomplexes Phänomen wie ›Kultur‹ sinnvoller Weise auf einen ›wahren‹ Begriff zu bringen im Unterschied zu den falschen? Wer wäre der Souverän, der über die Wahrheit oder Falschheit einer ›Konstitutionstheorie‹ der Kultur entscheiden könnte? Dieser skeptische Einwand ist nicht relativistisch misszuverstehen, sondern als Epoché gegenüber der Zweiwertigkeit von ›wahr/falsch‹ im Blick auf einen (holistischen) Kulturbegriff. Problematischer noch klingt Cassirers folgende Verdichtung seiner These: »Aller Sinn ist ideal, nicht real –«15 . Leibniz galt das Verhältnis von Ideal und Real bekanntlich als prästabil geordnet, und zwar unvordenklich harmonisch. Das war keine metaphysische Behauptung, sondern eine ›nouvelle hypothèse‹, ein imaginäres Regulativ des Denkens. Schleiermacher folgte dem – nur nicht als basale Grundbestimmung, sondern als finale Orientierung des Prozesses der Kultur. Natur werde Vernunft, Vernunft werde Natur, Ideal und Real konvergierten (so gewiss wie hoffentlich) final.16 Cassirer jedoch setzt hier Sinn als ›ideal‹ ›real‹ entgegen. Das klingt nach einem zumindest latenten Antirealismus (wie sie etwa in den konstruktivistischen Tendenzen in Goodmans Symboltheorie zutage tritt). Verständlich ist diese Formulierung als Antisubstantialismus im Zeichen der Funktionsrelation als ›unanschaulicher‹ Metametapher für die Relationalität der Kultur. Was aber soll die negative These ›nicht real‹ besagen? Antirealismus gilt mittlerweile als philosophisches Erzübel. Es ist der polemische Ausdruck für die Gegner des Realismus. Und in dem Maße, wie die Realismustheorie etwa des späteren Putnam sich zu einem internen und pragmatistischen Realismus sublimiert hat, wird Antirealismus gemeinhin ad absurdum reduziert. Relativisten (wie angeblich Feyerabend) oder Konstruktivisten (wie angeblich Goodman) oder Fideisten (wie angeblich D.Z. Phillips) mögen dergleichen noch vertreten. Haltbar sei er nicht. Als wäre er der unglückliche Gegensatz zum metaphysischen

14

Ebd. Ebd. 16 Philipp Stoellger: »Der Symbolbegriff Schleiermachers«, in: Andreas Arndt/ Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.): Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin. März 2006, Berlin/New York 2008, 109–145. 15

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Realismus, eine tragische Gegenbesetzung, die so falsch wäre, wie ihr Gegenteil. Cassirer ist sicher kein Antirealist in diesem (polemischen) Sinne. Die These von ›ideal, nicht real‹ hat aber einen antirealistischen Aspekt – und das ist auch gut so. Denn die Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn – seine Prägnanzthese also – wird damit entlastet von einem Realismusanspruch, der Synthesis nur als Erkenntnis des (wie auch immer zu bestimmenden) ›Realen‹ anerkennen könnte. Als hätte aller Sinn sein Maß, sein Woher und Woraufhin, im Realen und das hieße in diesem Zusammenhang bei Cassirer in ›Dasein und Leben‹. Wären sie die ultima ratio rationaler Erkenntnis, wäre es nie und nimmer möglich, ihnen etwas entgegenzusetzen. Das Andere des in diesem Sinne ›Realen‹ wäre bloß ›antireal‹ und ›unreal‹ – und das hätte Kurzschlüsse zur Folge. ›Was dürfen wir hoffen?‹ bliebe eine hoffnungslose Frage. Denn sie triebe – unrealistisch – über ›Dasein und Leben‹ hinaus. Auch eine Eigendynamik des Sinns, seine produktive Selbstbeziehung und deren Sinneffekte – gar unter Absehung vom ›Realen‹ in Poesie und bildender Kunst – geriete unter Verdacht ›unrealistisch‹ zu sein, nicht empirisch gesättigt oder belegbar. Hier können einem die Geisteswissenschaften in den Sinn kommen – als ›nur ideal, nicht real‹. Wenn ›Sinn‹ ideal ist – eine Kulturtheorie im Zeichen solchen Sinns nicht substantiell oder empirisch ›real‹ verfasst ist – dann wird damit eine Irreduzibilität von Sinn auf Realität vertreten, zumindest auf Realität als ›Dasein oder Leben‹ oder auf ›Empirie und Natur‹ (was immer das sei). Naturalistische oder empirische Reduktionen sind damit ebenso abgewiesen wie ›pragmatistische oder lebensweltliche‹ Reduktionen. Diese starke Differenz des idealen Sinns gegenüber dem (wie auch immer bestimmten) Realen ist offensichtlich nicht ungefährlich, jedenfalls nicht unproblematisch. Der Vorwurf des ›Unrealistischen‹, wenn nicht des ›Antirealismus‹, liegt nur zu nahe. Aber diese Differenz eröffnet der Philosophie der Kultur die Möglichkeit, nicht nur am Realitätsbezug der symbolischen Formen interessiert zu sein, sondern auch an deren Eigendynamik, an den ›imaginären Sinneinheiten‹. Als These formuliert: Antirealismus ist die Kehrseite eines Sinns für das Imaginäre. Allerdings ist Antirealismus in diesem Sinne nicht die schlechte Negation eines – wie auch immer gearteten – Realismus. Er ist vielmehr die Lizenz des Imaginären, sich an anderem zu orientieren als am ›Realen‹. Mitgesetzt ist hier die These der Irreduzibilität der Kultur auf das Reale (die Substanz oder Natur und Empirie) bzw. die These, daß Kultur zumindest auch aus der symbolischen Energie des Imaginären entsteht und lebt. Wie und inwiefern dem so sein könnte, erfordert eine nähere Klärung, was mit dem Imaginären gemeint sein könnte – bei Cassirer und darüber hinaus. Die weitergehende Vermutung ist: Mit dem Imaginären zeigt sich eine Figur des Dritten zum Symbolischen und zum Realen. Diese Figur

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eröffnet den Horizont des Irrealen und Unmöglichen. Daher ist sie ambivalent: sei es unsinnlich oder übersinnlich, qualifiziert oder wirr. Als Sinn für das, was nicht real ist und was nicht im Symbolischen aufgeht, ist das Imaginäre irreduzibel auf das Verhältnis ›symbolisch – real‹. Es könnte daher von prinzipieller Funktion sein für einen Begriff der Kultur als Relation. Die Relevanz dessen dürfte sich am klarsten zeigen in Fragen der philosophischen Eschatologie und Archäologie – aber nicht erst dort, im Ersten und Letzten.

III) Formen und Funktionen des Imaginären bei Cassirer 1. Imaginäres in der Mathematik Wenn bei Cassirer vom Imaginären die Rede ist, dann nicht primär im kulturtheoretischen Zusammenhang, sondern zunächst begrenzter im Bereich der Mathematik, dort allerdings regelmäßig. Eine ›imaginäre Zahl‹ ist diejenige (postulierte, nicht reale) Zahl, deren Quadrat eine negative Zahl ergibt (bzw. die Wurzel einer negativen Zahl). Das ist im Rahmen einer Mathematik natürlicher Zahlen schlicht Nonsens, eine Unmöglichkeit – daher heißen diese Zahlen imaginäre Zahlen.17 Dieser Begriff des Imaginären ist einerseits naheliegend, andererseits aber auch eine Restriktion auf eine sehr bestimmte und begrenzte Semantik des Begriffs. Bemerkenswert ist, wie Cassirer dezidiert einen übertragenen Gebrauch macht vom mathematischen Begriff des Imaginären. In der eingangs zitierten Bemerkung hieß es: »[D]ie ›Kultur‹ ist […] niemals eine reelle[,] sondern eine komplexe Größe (a + bi)[,] denn sie enthält eine ›imaginäre‹ (Sinn-) Einheit[.]«18 In der Klammer (a + bi) ist mit bi eine imaginäre Zahl notiert – die hier metaphorisch verwendet wird für die ›imaginäre SinnEinheit‹ und damit für das Imaginäre der Kultur. Den hermeneutisch völlig zureichenden Grund für die übertragene Verwendung des Imaginären der Mathematik entfaltet Cassirer in den einschlägigen Ausführungen aus der ›Geschichte des Erkenntnisproblems‹: Die Entdeckung der imaginären Zahlen ist für ihn nicht nur ein epistemisches Avantgardephänomen. Es ist seines Erachtens wegweisend und maßgeblich für die symbolische Form der Wissenschaft und damit auch für die Philosophie der symbolischen Formen selbst:

17

In der Mathematik ist eine imaginäre Zahl eine Zahl, deren Quadrat eine negative reelle Zahl ist. Diese Bezeichnung wurde vermutlich von Cardano geprägt. In seinen Augen konnten solche Zahlen nicht existieren, sie konnten also nur imaginär (eingebildet) sein. 18 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 245.

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»Eine neue Weiterführung empfängt der Zahlbegriff sodann von seiten der Gleichungslehre, indem hier zuerst die Bedeutung des | Negativen und Imaginären sich deutlich darstellt. Freilich kann man gerade an dieser Stelle verfolgen, wie das philosophische Begreifen mit den Fortschritten der mathematischen Einzelerkenntnis nicht gleichen Schritt zu halten vermag: wie nur allmählich und schrittweise das logische Recht der neuen Gedanken erkämpft wird. Die negativen Zahlen gelten anfangs noch schlechthin als ›absurde | Zahlen‹; das Imaginäre wird dem ›Unmöglichen‹ durchweg gleichgesetzt. Es ist – wie Cardano ausspricht – eine ›sophistische Größe‹: ein Gebilde, das lediglich auf formaler Logik beruht, ›da man an ihm nicht, wie an den übrigen Größen, die Rechnungsoperationen ausüben, noch weiterhin fragen kann, was es ist und zu bedeuten hat‹.[19] Wäre die Anwendbarkeit der allgemeinen algebraischen Verfahren und Betrachtungsweisen für das Imaginäre ausgeschlossen, so wäre damit freilich das Verwertungsurteil notwendig, das hier gefällt wird. Die Geschichte der Mathematik aber weist einen anderen Weg: Es galt eine neue Gesamtauffassung des Begriffs zu schaffen, die dem neuen Inhalt gerecht würde. Der Zahlbegriff in seiner Weiterbildung vollzieht daher am klarsten den Bruch mit dem überlieferten Ideal des Erkennens. Wenn wir von den einzelnen Individuen und ›Substanzen‹ ausgehen sollen, um sie in begrifflichen Merkmalen abzubilden, so müssen wir für jeden noch so allgemeinen Begriff zuletzt eine konkrete Entsprechung fordern, so muß jeder Gedanke, der sich nicht derart als mittelbares Abbild vorhandener Gegenstände beglaubigen kann, hinfällig werden. Die neue Denkweise indes lehrt von dieser Forderung absehen: Nicht als Erzeugnis der ›Abstraktion‹ vom Einzelnen, sondern als Erzeugnis der Definition entsteht ihr der Begriff. Die Grundlegung kann vollzogen werden, die Geltung und der Eigenwert unserer ersten gedanklichen Relationen kann entwickelt und ausgebildet werden, unbekümmert darum, ob direkte Gegenbilder für sie in der Welt der dinglichen Wirklichkeit vorhanden sind. Das Beispiel des Imaginären lehrt deutlich, daß man sich den Gehalt der Mathematik nicht verständlich machen kann, wenn man in ihren Begriffen nur direkte oder vermittelte Beschreibungen von Eigenschaften des Wirklichen sieht, statt von der allgemeinen Charakteristik ihrer Erkenntnisfunktion auszugehen und sich von hier den Zugang zu den spezielleren Methoden zu bahnen.[20]«21

»Cantor, Geschichte der Mathematik, Bd. II, 508. – Über die Bezeichnung der negativen Zahlen als ›absurde Zahlen‹, s. a. a. O. (Kap. 62), 442«, zitiert nach Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. [im folgenden ECW], Bd. 2, Hamburg 1999, 364 Anm. 412. 20 »Zum Ganzen vgl. jetzt meine Schrift ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹ (bes. Kap. 2 u. 3), S. 35 ff. u. 88 ff.«, so der Hinweis von Cassirer in: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band, ECW 2, 364 Anm. 413. 21 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band ECW, 2, 363 f. (Hervorhebung PS). – Vgl. auch: »Renouvier hebt wiederholt den symbolischen Sinn der mathematischen Grundbegriffe hervor: Die Begriffe des Unend|lichen und des Unendlichkleinen, die negativen, irrationalen und imaginären Zahlen haben, wie er betont, keinen absoluten, gegenständlichen Sinn, sondern stellen lediglich methodische Ausdrücke zur Bezeichnung komplexer Beziehungen dar.« (Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9, 113). 19

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Wenn mathematische Begriffe nicht die Funktion eines ›Abbilds vorhandener Gegenstände‹ haben – sind es Zeichen, die keine Abbildungsfunktion mehr haben, Zeichen einer Erkenntnis jenseits eines Realitätsbezugs. Damit wären die imaginären Zahlen auch eine Exemplifikation dessen, wonach Goodman sucht, wenn er einen Bildbegriff jenseits der Abbildtheorie sucht. Die Erfindung dieser seltsamen Zahlen ist offensichtlich eine freie Konstruktion der Erkenntnis jenseits der Aufgabe der ›Gegenstandserkenntnis‹. Das sollte man nicht konstruktivistisch nennen, es ist aber ein ›reiner Sinn‹, der nicht erst sinnvoll ist oder wird im Gegenstandsbezug, sondern gleichsam als ›Urzeugung‹ des Geistes. Im Horizont der Ästhetik würde man dergleichen auf die Phantasie beziehen. Wenn es derartig imaginäre Produkte des Geistes gibt, muß man wohl auch nicht nur von einer symbolischen, sondern auch von einer imaginären Energie des Geistes sprechen. Er erzeugt mittels dieser mathematischen Symbole (bi) etwas ›bloß‹ Imaginäres, ohne jedes ›fundamentum in re‹, also ohne Anspruch auf einen wie auch immer gearteten ›Realismus‹ dieser Erkenntnis. Für das Denken wird es auf diese Weise möglich, daß es »ohne durch die Schranken der sinnlichen Darstellbarkeit irgendwie beengt zu werden, insbesondere auch imaginäre und unendlich ferne Elemente, denen keine individuelle geometrische Existenz zukommt, in den Kreis ihrer Betrachtungen zieht«22 . Dergleichen könnte man auch in Cusanus Gedankenexperimenten entdecken – etwa im unendlich großen Kreis23 – also in den Versuchen, das so Unendliche wie ›Unmögliche‹ zu denken, Gott. 24 Es

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 454. 23 Vgl. – ohne Verweis auf Cusanus: »In Wirklichkeit gibt es immer eine bestimmte Grenze und eine bestimmte Anzahl von Punkten und Intervallen: Im Möglichen dagegen zeigt sich nirgends ein Ende. Die abstrakte Betrachtung der Mög|lichkeiten ist es daher, die den Gedanken der Kontinuität und Unendlichkeit einer imaginären Linie in uns erzeugt. Da indessen diese Möglichkeit selbst etwas Ewiges und Notwendiges ist – denn es ist notwendig und ewig wahr, daß physische Punkte mit allen diesen Beschaffenheiten und Modi existieren können –, so ist auch der imaginäre, stetige und grenzenlose Raum etwas Ewiges und Notwendiges; nicht aber etwas Existierendes, sondern die bloße unbestimmte Annahme von etwas, das existieren kann.« (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 433). 24 »Wir sahen, wie von diesem Standpunkt aus auch das Paradoxon der imaginären und unendlich-fernen Punkte sich löste: Sowenig diese Punkte irgendeine geheimnisvolle ›Wirklichkeit‹ im Raume für sich in Anspruch nehmen konnten, so sehr erwiesen sie sich andererseits als Ausdruck gültiger räumlicher Relationen. Ihr Sein erschöpfte sich in ihrer geometrischen Bedeutung und Notwendigkeit.« (Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 136). Aber auch zur Konvergenz von Ethik und Religion: »Der Übergang der reinen Vernunftreligion in die reine Ethik ist gefordert, aber er ist in der Welt der geschichtlichen Erscheinungen niemals vollzogen; noch in ihr jemals tatsächlich vollziehbar. Der Vereinigungspunkt, den wir suchen und an dem wir festhalten müssen, liegt im Unendlichen. Aber er wird dadurch für uns keineswegs zum imaginären Punkt: Er be22

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sind Urteile und Aussagen über ›Nichtwirkliches‹ ›jenseits des Seins‹, die hier dennoch einen bestimmten, unentbehrlichen Erkenntniswert für sich in Anspruch nehmen. 25 Das führt Cassirer zu einer Präzisierung und modalen Bestimmung der Reihentheorie, genauer: der Reihe von Reihen (parallel zum ›Horizont von Horizonten‹): »Die Ableitung der Imaginärzahl beruht dann […] darauf, daß die Gegenstände, die wir untersuchen, nicht mehr als in einer Reihe geordnet zu denken sind, sondern daß es zu ihrer Ordnung der Betrachtung einer Reihe von Reihen und damit der Einführung einer neuen Einheit (+i, -i) bedarf.«26

2. Übertragung: Das Imaginäre als Denken des Unmöglichen27 »Auf allen Einzelgebieten, in denen die Einführung idealer Elemente ihre Bedeutung erwiesen hat, läßt sich dieser charakteristische Prozeß der Ablösung, der logischen Emanzipation verfolgen. Das Denken durfte hier den Weg durch das scheinbar ›Unmögliche‹ nicht scheuen: denn nur durch ihn konnte es zu einem wahrhaft freien und allseitigen Überblick über seine eigenen, in ihm selbst zunächst verschlossenen Möglichkeiten geführt werden. Die Entdeckung des ›Imaginären‹ in der Mathematik und die verschiedenen Versuche, die zu seiner logischen Rechtfertigung unternommen wurden, stellen ein klassisches Beispiel für diese Grundrichtung des mathematischen Denkens dar. Das Imaginäre erscheint, wo es in der Geschichte der Mathematik zuerst auftritt, durchaus als Fremdling und als Eindringling – aber dieser Fremdling erlangt allmählich nicht nur völliges Bürgerrecht, sondern durch ihn wird nun erst ein weit tieferes Wissen von den Prinzipien und von den Fundamenten der mathematischen Staatsverfassung gewonnen.«28

zeichnet vielmehr streng und genau die | Richtung, von der die religiöse Entwicklung nicht abweichen darf, wenn sie nicht ihr Ziel verfehlen will.« (Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 370 f.). 25 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 57. – Vgl. zu Kant: »Raum und Zeit besitzen kein unbedingtes Sein mehr; sie sind, wenn | man sie für sich betrachtet und sie von allen Bedingungen der Erkenntnis loslöst, bloß ›imaginäre Wesenheiten‹.« (Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Zweiter Band, ECW 3, 528) – Vgl. auch: »Wie die Algebra das Symbol der imaginären Zahlen gebraucht, nicht um damit eine wirkliche Größe, sondern um die Unlösbarkeit bestimmter Aufgaben zu bezeichnen, so darf die transzendentale Analyse in analogem Sinne den Symbolbegriff des ›Dinges an sich‹ verwenden. Aber eine Verkehrung des Standpunkts wäre es, diesem Symbol einen bestimmten positiven und realen Inhalt zu geben, ja von ihm die eigentliche Begründung und Bürgschaft jeder objektiven Inhaltlichkeit überhaupt zu erwarten.« (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4, 80). 26 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 58. 27 Vgl. Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005. 28 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 453 (Hervorhebung PS).

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Hier wiederholt sich nicht nur die außerordentliche Hochschätzung der Erfindung des Imaginären in der Mathematik. Es wird auch in seiner Modalität näher bestimmt: es war und schien unmöglich – jenseits des Horizonts denkbarer Möglichkeiten. Das ›Denken des Unmöglichen‹ ist (so formuliert) ein Oxymoron: scharfsinniger Unsinn oder eine ›kalkulierte Absurdität‹.29 Denn das Unmögliche ist gerade dadurch bestimmt, unmöglich zu denken zu sein, also undenkbar zu sein. Ob nun die Wurzel einer negativen Zahl ›denkbar‹ wird, wenn sie als imaginäre Zahl bezeichenbar ist? Es könnte auch sein, daß hier die Sagbarkeit oder Bezeichenbarkeit die Denkbarkeit überholt (wenn nicht unterläuft). Aber wenn die Zeichen mehr vermögen, als das (sprachliche oder vorstellende?) Denken, spricht das nicht gegen die symbolische Energie des Imaginären. Umgekehrt zeigt sich in dieser Erfindung die Eigendynamik dieser eigenartigen Energie des Geistes. Denn kraft dieses Imaginären wird der Horizont der Möglichkeiten real verschoben, erweitert also. Wenn man – in Erinnerung an Leibniz – den Horizont der Möglichkeiten als mit zur Welt gehörig betrachtet, wird damit die Welt erweitert. So gesehen ist die symbolische Energie des Imaginären eine Welterweiterung (und kleine Welterzeugung) im Sinne einer nicht unerheblichen Horizonterweiterung. An dieser wissenschaftsgeschichtlichen Urstiftung seitens der Mathematik wird von Cassirer die symbolische Energie des Imaginären entdeckt und für wegweisend erklärt. Ob diese Entdeckung allerdings der Mathematik vorbehalten war, wäre angesichts von Philosophie wie Theologie wissenschaftsgeschichtlich näher zu untersuchen. Wenn denn das Imaginäre solch eine welterweiternde Wirkung hat, kann die Kultur nie ohne das Imaginäre entstanden sein, geschweige denn, sich weiterentwickelt haben. Alles was einst unmöglich war, aber irgendwann für möglich gehalten wurde und teils sogar wirklich geworden ist, wäre eine Exemplifikation dieser Energie des Imaginären.

3. Übertragungen und Unterscheidungen Die modale Bestimmung als Unmöglichkeit, die möglich wird – also von der Verschiebung des Möglichkeitshorizonts über das zuvor für möglich Gehaltene hinaus ins Reich des Unmöglichen – läßt sich dies- und jenseits der Mathematik zeigen: Die Kunst- und Technik- wie auch die Mediengeschichte sind in ihren weltbewegenden Entwicklungen eine Ermöglichung des (bis dahin) Unmöglichen. Der Drang zur Innovation, das Begehren des

Vgl. Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg u. a. 1991. 29

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Neuen, noch nie Dagewesenen, wird getrieben oder bewegt von dem Regulativ, Imaginäres zu realisieren, Unmögliches möglich zu machen. Das ist eine wohl unstrittig tragende Kraft kultureller Entwicklung. Das Neue ist das ultimative Objekt des Begehrens der Kultur. Daß das nicht nur in neue Welten führt, sondern zutiefst ambigue ist, sei hier nur notiert. So lebensdienlich die curiositas ist, sie kann auch in Abwege führen. Das jedenfalls meinten die Erfinder der Geschichte vom Sündenfall. Daß die Energie des Imaginären nicht nur kulturell wünschenswerte, sondern auch abgründige, gleichsam ›barbarische‹ Folgen hatte und hat, ist wohl kaum strittig. Das Imaginäre ist keine neutrale oder in jedem Fall gutartige ›Energie‹ der Kultur. Zwar gilt – mit Cassirer – das Imaginäre als notwendige Dimension von Kultur, ohne es also keine Kultur30 , aber die Verfehlung oder Zerstörung von Kultur wäre nicht nur der Ausfall des Imaginären, es kann gerade in dessen Zeichen geschehen. Darin gründet die gängige Diskriminierung des Imaginären als ›gefährlich‹. Das Imaginäre ist daher nicht undifferenziert einzuführen als allein kulturproduktiv. Die nicht selten pauschale Ausschließung als ›phantastisch‹ oder ›schwärmerisch‹ und gefährlich wäre jedoch kurzschlüssig. Es würde verkennen, daß Kultur von dieser folie à l’impossible lebt (und sei es, daß sie daran stürbe). Im Begriff des Imaginären besteht noch weiterer Unterscheidungsbedarf. Zunächst sind auch hier ergon und energeia zu unterscheiden: das Imaginäre als Energie des Geistes und das Imaginäre als ergon dessen, wie zum Beispiel die Erfindung der ›imaginären Zahl‹. Damit ist das Imaginäre auch zu unterscheiden von der verwandten Einbildung bzw. der entsprechenden Kraft. Wenn die reflektierende Urteilskraft als freies Spiel bestimmt wird, geht sie doch aus von einem bestimmten Phänomen, auf das sie mehr oder minder geschmackvoll bezogen bleibt. Das Imaginäre ist von der Einbildungskraft darin zu unterscheiden, daß es gewissermaßen ›noch freier‹ ist, überschießend und damit auch zutiefst ambivalent. Wenn im Englischen fancy und imagination auseinandertreten, zeigt das eine Differenz, die der von Imaginärem und Einbildungskraft verwandt scheint. In metaphysischen Fragen wäre das Imaginäre mit Kant vermutlich ›Schwärmerei‹ zu nennen und somit ›jenseits‹, jenseits der Grenzen der kritischen Vernunft. Werden die Begriffe ›über die Grenzen der Sinnlichkeit‹ hinaus ausgeweitet31, gerät man damit in Gefahr, nicht nur Unsinnli-

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Darin liegt auch das prekäre Recht einer kulturtheoretischen Bonisierung des ›Sündenfalls‹ aus dem Anfang von Freiheit. Gershom Scholem veröffentlichte 1937 den erst 1992 im Deutschen erschienenen Band: ›Erlösung durch Sünde‹: Gershom Scholem: Judaica, Bd. 5: Erlösung durch Sünde, hg., aus dem Hebr. übers. und mit einem Nachw. vers. von Michael Brocke, Frankfurt/Main 1992. 31 Zu Kant siehe Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Zweiter Band, ECW 3, 527 ff.

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ches, sondern auch Übersinnliches auf den Begriff zu bringen – und damit nur zu phantasieren, und zwar (so die eigens zu prüfende Unterstellung) nur metaphysische Monster zu produzieren im ›Schlaf der Vernunft‹. Als würde man ›negative Größen‹ reifizieren, ›das nichtende Nichts‹ beispielsweise oder ›das Nichtige‹. Ohne diese Ambivalenz ist das Imaginäre allerdings nicht ›zu haben‹. Es ist für das Leben der Kultur unvermeidlich und notwendig, aber irreal und damit ›je und je‹ kritikbedürftig. Es ist nicht notwendigerweise unrealistisch, aber in bestimmter Hinsicht ›anti-realistisch‹. Denn das Imaginäre ist ein Nicht-Seiendes (nicht real), entweder Noch-nicht- oder Unmöglich-seinKönnendes. Daher stehen die Symbole des Imaginären nicht für einen ›Gegenstand‹. Es tritt zwar nicht symbolfrei auf, ist aber nicht auf das Symbol reduzibel. 4. Focus imaginarius Der andere Topos für die Figur des Imaginären bei Cassirer ist Kants ›focus imaginarius‹. Er ist ebenso wenig ›real‹ zu nennen wie die imaginären Zahlen. Und er wird auf vergleichbar prekäre Weise symbolisiert: in den Vernunftideen, die sc. keine Gegenstandsbezeichnung sind, sondern notwendige imaginäre Regulative für die symbolischen (und organisierenden) Vernunftprozesse. Erstaunlicherweise wird der focus imaginarius bei Cassirer nur wenige Male erwähnt und dann fast ausschließlich im Kantzitat: a) erwartungsgemäß in Fragen des Weltbegriffs als focus imaginarius der Einheit der Erfahrung; b) übertragen auch im Blick auf ›das Atom‹ (mit derselben Zitation Kants); c) darüber hinaus in einer Andeutung zur Theorie des Absoluten; d) ferner als metaphorisches Modell der imaginären Einheit der symbolischen Formen; e) und schließlich als Topos der philosophischen Eschatologie: für die Einheit von Freiheit und Natur. ad a) »Gibt es nicht irgendeinen Weltbegriff, der von allen Partikularitäten frei ist, der die Welt so beschreibt, wie sie sich nicht vom Standpunkt dieses oder jenes, sondern – ›vom Standpunkt von niemand‹ ausnimmt?32 Aber

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»In dieser Weise wird das logische Problem der Relativitätstheorie z. B. von Eddington gefaßt: Sie verfolgt nach ihm das Ziel ›[t]o obtain a conception of the world from the point of view of no one in particular‹; vgl. Space, Time and Gravitation, S. 30 ff. [Zitat S. 30].«, so erläuternd Cassirers Fußnote in ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 555 Anm. 266.

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sofern diese Frage überhaupt zulässig ist, so zielt sie doch in jedem Falle auf einen ›unendlich fernen‹ Punkt hin, der auf keiner gegebenen Stufe der Wissenschaft erreichbar ist. Wir haben es in ihr mit einer echten ›transzendentalen Idee‹ im Sinne Kants zu tun, der keine bestimmte Einzelerfahrung jemals kongruieren kann. Auch dieser Idee werden wir ›einen vortrefflichen und unentbehrlichnothwendigen regulativen Gebrauch‹ zuschreiben müssen: ›nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen‹.«33 Der mittlerweile nur noch als polemischer Topos bekannte view from nowhere tritt hier als imaginärer Standpunkt auf für einen integralen (oder holistischen?) Weltbegriff. Daß dergleichen metaphysisch für Gott behauptet und in dieser Behauptung selber prätendiert wurde, mag als schlechte Metaphysik der Vergangenheit angehören. Daß der imaginäre Entwurf solch eines Standpunktes denkbar ist und möglicherweise sogar gut und nützlich, wird hier bei Cassirer mit Kant immerhin erwogen. Literatur jedenfalls (auch religiöse) oder auch manche Technikphantasie operiert mit solch einer Figur des Imaginären. Wenn solches Phantasieren – ein imaginäres Konstruieren – zulässig wäre (das bleibt hier hypothetisch), operierte es wie die ästhetische Technik der Perspektivenkonstruktion mit einem ›focus imaginarius‹. Der ist selber kein Gegenstand möglicher Erfahrung, genausowenig wie die Welt ›als ganze‹. Aber er ist konstruier-, denk-, vorstell- und sogar darstellbar – im imaginären Begriff. Nicht alles, was ›außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung‹ liegt, ist also Nonsens, auch wenn es irreal sein mag. Es ist für das Denken potentiell notwendig, wenn auch für die Erfahrung unmöglich, für die Imagination allerdings möglich und in diesem Falle sogar wirklich, wenn auch hypothetisch. ad b) »So ist das Atom der Chemie eine ›Idee‹ in dem strengen Sinne, den Kant diesem Terminus gegeben hat – sofern es in der Tat ›einen vortrefflichen und unentbehrlichnothwendigen regulativen Gebrauch‹ besitzt, ›nemlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punct zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punct ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 555 Anm. 267. Hervorhebung PS. – Vgl. auch: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, AkademieAusgabe, Bd. III, B 672. 33

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er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen‹.[218]«34 Was im Großen und Ganzen für den Weltbegriff gilt, gilt vice versa für das Allerkleinste, die imaginäre Größe des Atoms. Auch wenn selbige mittlerweile zum ›Gegenstand wirklicher Erfahrung‹ geworden sind, sind sie als Reflexionsfigur immer noch ein Jenseits möglicher Anschauung. Heute wären vielleicht stattdessen die (m.W. prinzipiell nicht visibilisierbaren) ›strings‹ zu nennen – was immer diese sein mögen. Wieder macht Cassirer übertragenen Gebrauch der Figur des ›focus imaginarius‹ als imaginärem Punkt, der nie ›einzunehmen‹ sein kann, de facto also unmöglich bleibt, aber imaginär doch konstruierbar ist, also so möglich wie wirklich. ad c) Zusammenfassend bestimmt der ›focus imaginarius‹ sogar Cassirers Hinweise auf eine Theorie des Absoluten35: »Der Begriff des ›Absoluten‹ wird in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Grenzbegriff eingeführt und begründet: Er entsteht, indem wir den Gebrauch des Verstandes und einzelner seiner Kategorien von jeder Bedingtheit und Schranke, die ihm innerhalb eines | bestimmten Gebiets der Erfahrung anhaften, befreien und ihn ins Unbedingte erweitern. Aber eben weil das Absolute hier immer nur als Grenze einer unendlichen Reihe gedacht wird, weist es noch

Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 230. »Damit aber hat der Gedanke des ›Absoluten‹ in einem neuen Sinne eine durchaus positive Bedeutung zurückgewonnen. Was zuvor als ein ewig Unbegriffenes erschien, erscheint jetzt als ein Prinzip des Begreifens, als eine Maxime der empirischen Begriffsbildung selbst. Der Gedanke des ›Unbedingten‹ darf nicht preisgegeben werden; aber er soll fortan nicht mehr eine Schranke der Erkenntnis, sondern ihr dauernd fruchtbares Motiv bedeuten. Was der Metaphysik als Endziel galt, das vor ihr lag und das sie doch trotz immer erneuter Versuche niemals wirklich zu ergreifen und festzuhalten vermochte, das erweist sich jetzt als die beständige Triebkraft der Erkenntnis, die sie zu immer neuen Ergebnissen spornt. Die Ideen haben ›einen vortrefflichen und unentbehrlichnothwendigen regulativen Gebrauch, nemlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punct zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punct ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch-möglicher Erkenntniß läge, ausgeschlossen wären (so wie die Objecte hinter der Spiegelfläche gesehen werden), allein diese Illusion (welche man doch hindern kann, daß sie nicht betriegt,) ist gleichwol unentbehrlich nothwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d. i. wenn wir, in unserem Falle, den Verstand über jede gegebene Erfahrung (dem Theile der ge|samten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen.‹« (Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Zweiter Band, ECW 3, 632; in Anm. 274 mit Bezug auf Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 672 f.). 34

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die charakteristische Bestimmtheit auf, die der Reihe selbst zu eigen ist. Nur von den Reihengliedern aus und vermittelst ihrer spezifischen Eigentümlichkeit kann das Grenzglied gedacht werden. So gelangen wir nicht nur zu einer verschiedenen Fassung und Deutung des Absoluten, je nachdem wir es von der ethischen, von der ästhetischen oder theoretischen Sphäre aus erreichen: sondern auch innerhalb dieser letzteren selbst ist eine solche verschiedene inhaltliche Bestimmtheit möglich und notwendig, je nach der Besonderheit der Schlußform, mittels deren wir zu ihm aufsteigen. So ergibt die systematischunbedingte Anwendung der kategorischen Schlußform das Absolute der Seelenidee, die der hypothetischen Schlußform das Absolute der Weltidee, die der disjunktiven Schlußform endlich das Absolute der Gottesidee. Diese qualitative Differenzierung des Absoluten widerspricht, vom Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft aus gesehen, seinem Begriff keineswegs: Denn dieser ist eben nicht der Begriff von einem Dinge jenseits der Erfahrung, sondern von einem methodischen Verfahren der Vernunft, das jedoch an dem verschiedensten empirischen Material ausgeübt werden kann und demgemäß, unbeschadet der eigenen formalen Einheit, zu verschiedenen Ergebnissen führen muß. Schon die Kritik der reinen Vernunft selbst aber weist, indem sie diesen Weg der Ableitung des ›Absoluten‹ beschreibt, zugleich auf die ›natürliche Illusion‹ hin, die mit ihm unausweichlich verbunden ist. ›Die Vernunft‹ bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur und gibt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer größtmöglichen Ausbreitung haben können […] Ich behaupte dem | nach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Aus|breitung zu verschaffen. Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch-möglicher Erkenntnis läge, ausgeschlossen [!, PS] wären, (so wie die Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden), allein diese Illusion, (welche man doch hindern kann, daß sie nicht betrügt), ist gleichwohl unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d. i. wenn wir, in unserem Falle, den Verstand über jede gegebene Erfahrung (den Teil der gesamten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen.«36

Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Dritter Band, ECW 4, 199–201 (Hervorhebung PS), mit Bezug auf Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 671 ff.; zum Ganzen vgl. Bd. II [ECW 3], S. 632 ff. 36

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Es hängt am Gebrauch der erga der imaginären energeia: Sie können ›vortrefflich und unentbehrlichnotwendig‹ gebraucht werden oder aber auch täuschend und betrügend. Den erga selber, den Figuren des Imaginären, eignet eine intrinsische, irreduzible Ambivalenz, der man allerdings nicht blind ausgeliefert ist, sondern die kritisch unterschieden werden kann, um den ›rechten‹ Gebrauch von ihnen zu machen. Der Schein, die Amphibolie ist unvermeidlich, der Betrug allerdings schon. Das ist im Umgang mit Bildern in Kunst, Medien und Werbung bekanntlich nicht anders. Bemerkenswert ist hier darüber hinaus, daß – in erneuter Übertragung des focus imaginarius – Cassirer soweit geht, eine ›dreifaltige‹ Theorie des Absoluten anzudeuten. Wenn auch in Auslegung Kants, so ist doch die absolutheitstheoretische Zuspitzung eine besondere Pointierung. Aber nicht ein großes ›Absolutes‹ ist hier Inbegriff des Imaginären, sondern ›absolut‹ wird prädikativ gebraucht. Es kennzeichnet den irreduziblen Status und die ›unvermeidlichnotwendige‹ Funktion der regulativen Ideen. ›Absolut‹ kennzeichnet bestimmte erga der imaginären energeia. Daß damit zugleich eben diese Energie nicht weniger absolut und notwendig ist, wird damit offenbar schweigend mitgesetzt. ad d) Imaginärer Bildpunkt als Metapher für den Fokus der Philosophie der symbolischen Formen »Fries’ psychologisches Vernunftvermögen, das den Gesamtinhalt der möglichen Erkenntnis in sich schließen soll, ist nur der imaginäre Bildpunkt, der »focus imaginarius« für die gedachte logische Einheit der reinen Vernunftgrundsätze. In dieser Hinsicht ist daher auch Fries, so energisch er den Standpunkt der reinen psychologischen Erfahrung vertritt, von der Grund|tendenz bestimmt, die die gesamte nachkantische Spekulation beherrscht. Auch er bleibt bei der inneren Erfahrung nicht stehen, sondern sucht zu ihrem Grunde im Absoluten, im Gemüt und seiner unmittelbaren Erkenntnis vorzudringen.«37

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A. a. O., 462 f. (Hervorhebung PS). – Vgl. dazu: »Die Annahme unbewußter psychischer Tätigkeiten, die für Fries unvermeidlich wird, nachdem er einmal die Erkenntnis überhaupt als ›Thätigkeit unsers Geistes‹ definiert hat, gehört nicht mehr dem Gebiet der Kritik, sondern dem der Metaphysik an. Um hier den kritischen Standpunkt zu wahren, genügt es, sich gegenwärtig zu halten, daß die ›Erkenntnisse‹, von denen hier die Rede ist, nicht die Bedeutung von realen Geschehnissen, sondern von wahren Sätzen haben, daß sie nicht Tatsachen der inneren Erfahrung bezeichnen, sondern objektive Regeln, ohne welche ein Wissen von Tatsachen – von äußeren sowohl wie von inneren – nicht möglich wäre. In Fries’ eigener Charakteristik der ›unmittelbaren Erkenntnis‹ fällt es auf, daß der Gegenstand, der hier bezeichnet werden soll, nur durch die logischen Relationen, in welchen er steht, nicht aber durch irgendeine bestimmte psychologische Qualität und Beschaffenheit bestimmt werden kann. Die empirische Psychologie weiß in der Tat von einer ›Erkenntnis‹, die weder Anschauung noch Urteil sein soll, nichts zu berichten: Sofern eine solche ›bestehen‹ und gelten soll, kann sie jedenfalls auf dem ihr eigentümlichen Wege empirischer Beobachtung nicht festgestellt werden.« (Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9, 95 f.; mit Bezug auf Anm. 28 ebd.:

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In diesem imaginären Punkt wird etwas (unter bestimmten Bedingungen) Notwendiges symbolisiert, das aber trotz seiner Notwendigkeit irreal ist und bleibt. Es ist aber nicht nur, wie bei den imaginären Zahlen, eine Erweiterung des Kalkulierbaren, sondern ›als Bildpunkt‹ von basaler und alles bestimmender Funktion. Die ›Einheit der reinen Vernunftgrundsätze‹ ist nicht nur notwendig, sondern gewissermaßen ›mehr als notwendig‹: Sie ist die Bedingung der aus den Vernunftgrundsätzen folgenden Notwendigkeiten. Ohne die Einheit derselben würde das ganze Gefüge der (bei Fries ›neuen‹) Vernunftkritik zerfallen. Man kann folgern, dann würde auch die davon abzuleitende Einheit der Formen der Vernunftfunktionen zerfallen: also die Einheit symbolischer Formen nicht mehr anzunehmen sein. Hier zeichnet sich ›mehr‹ als ein übertragener Gebrauch des ›focus imaginarius‹ ab: ein programmatischer und systematischer Gebrauch, indem diese Figur des Imaginären von Cassirer angeeignet und ›unentbehrlichnotwendig‹ gebraucht wird als Modell der imaginären Einheit der symbolischen Formen. Diese systematische Funktion läßt sich als Selbstkennzeichnung bei Cassirer auch belegen: In dem »Focus« (mit c, aber ohne imaginarius) treffen sich die »divergierenden Strahlen« alles symbolisierenden Handelns (wie Cassirer am Anfang des vierten Teils der Philosophie der symbolischen Formen zu ›Geist‹ und ›Leben‹ notiert).38 Er kann daher – wie der

»›Eine Erkenntnis aufweisen‹, so liest man nunmehr in Nelsons letztem Aufsatz, ›heißt: sich ihres Besitzes vergewissern; und dazu ist, wenn die Aufweisung durch Deduktion geschehen soll, Reflexion erforderlich. Nicht erforderlich aber ist es dazu, den Inhalt der aufzuweisenden Erkenntnis ›zum Bewußtsein zu bringen‹. Vielmehr genügt es für den Zweck der Deduktion, den psychologischen Ort des Ursprungs derjenigen Erkenntnisse zu ermitteln, die uns in den metaphysischen Grundurteilen zum Bewußtsein kommen, um so, vermittelst einer Art Topik, jeder dieser Erkenntnisse ihre Stelle im Ganzen der unmittelbaren Erkenntnis zu bestimmen.‹ (Nelson, Inhalt und Gegenstand, 51). Hier tritt es deutlich hervor, daß es sich auch für die Friessche Methode im Grunde nur darum handeln kann, die einzelnen abgeleiteten Erkenntnisse einem idealen Zusammenhang von Wahrheiten einzureihen und ihnen innerhalb desselben ihren systematischen ›Ort‹ anzuweisen. Diese ideelle ›Topik‹ aber wird zuletzt mit der Aufweisung des reellen ›Sitzes‹ und Ursprungs einer Wahrheit im ›Vernunft|vermögen‹ verwechselt. Das psychologische Vernunftvermögen ist nur der imaginäre Bildpunkt, der ›Focus imaginarius‹, für die geforderte logische Einheit der reinen Vernunftgrundsätze. Das Ganze der unmittelbaren Erkenntnis ist – wenngleich wir es uns, wie jeden anderen ›Gegenstand‹ irgendeiner beliebigen Wissenschaft, nur vermittelst psychischer Inhalte zum Bewußtsein bringen können – selbst doch kein psychischer Gegenstand: Da aber – nach Meyerhof – ›der Gegenstand einer Wissenschaft die Art ihrer Untersuchung bestimmt‹ (Der Streit um die psychologische Vernunftkritik, S. 438), so folgt, daß auch die kritische Untersuchung, die auf dieses Ganze gerichtet ist, nicht empirisch-psychologischer Art sein kann.« 38 »Die Einheit, die die fertigen Produkte uns versagen, scheinen wir daher unmittelbar zurückzugewinnen, wenn wir statt ihrer selbst vielmehr die Art ihres Produzierens, ihres Hervorgehens ins Auge fassen. Es ist dieses Hervorgehen, es ist gewissermassen der Akt des Sich-Losreissens von dem einfachen Natur- und Lebensgrund, in dem sich das Wesen des menschlichen Geistes und sein in allen Gegensätzen mit sich selbst identisches

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›blinde Fleck‹ der Perspektive – nur ›umschrieben‹ werden. Es zieht Metaphern auf sich und setzt sie frei. Das zeigt sich, wenn der Focus umschrieben wird als »Brennpunkt der Subjektivität«39, den man sc. nicht vergegenständlichen oder anschauen könnte. ›Ideal, nicht real‹ hieß es oben zur ›imaginären Sinn-Einheit‹ der Kultur. Daher heißt es auch: »Der Blickstrahl des Bewußtseins, der hier auf das Sein fällt und es zu erleuchten und zu durchdringen sucht, […] ist ein rein ideeller Strahl […] So wird in ihm über den Urgrund des ›Lebens‹ zwar hinausgegangen – aber dieser wird damit weder zerstört, noch vergewaltigt«40 . Daß das zu betonen ist, ist allerdings bezeichnend für die potentiellen dunklen Seiten des Imaginären. Cassirer überführt die Unmöglichkeit der Gewärtigung des Ursprungs in eine so metaphernproduktive wie apophantische ›Archäologie‹ der Kultur: »Wir können niemals zu dem Punkte zurückdringen, an dem der erste Strahl des geistigen Bewußtseins aus der Welt des Lebens hervorbricht; wir können nicht den Finger auf die Stelle legen, an der die Sprache oder der Mythos, die Kunst oder die Erkenntnis ›wird‹«41. Dieser nur indirekt, metaphorisch zu symbolisierende ›Ursprung‹ ist die Grundfigur des gutartigen, kulturproduktiven Imaginären – nicht selber Symbol, sondern die kreative Bedingung und Ermöglichung aller Symbolisierung. Wenn dieser Fokus – der zentrale Topos einer philosophischen ›Archäologie‹ – von derart basaler und umfassender Funktion ist, gerät in der Übertragung und Aneignung das Imaginäre zum tragenden Grundbegriff der Kulturphilosophie. Und die bestimmte Figur des Imaginären – der Bildpunkt – wird zum imaginären Regulativ des Ganzen, der ominösen ›Einheit‹ der Kultur: Die geistige Welt »bildet ein in sich geschlossenes Kraftfeld, in welchem alle verschiedenen Einzelkräfte, so sehr sie zu divergieren scheinen, doch auf eine gemeinsame Mitte bezogen und in ihr vereinigt sind«42 . Als diese ›Mitte‹ gilt die »Harmonie innerhalb der Welt des Geistes […], gemäß dem Heraklitischen Wort, als ›doppelstrebige Harmonie, wie die der Leier und des Bogens‹«43 . So valent dieses Imaginäre also ist, so latent allerdings scheint es zu bleiben. Es wird nicht eigens in seiner Bestimmung als Imaginäres expliziert. Ist dieser zwielichtige Status als valente Latenz symptomatisch für

Sein am deutlichsten bezeugt. Die divergierenden Strahlen treffen sich wieder, sobald man sie auf diesen Focus, auf diesen Brennpunkt der Subjektivität bezieht und sie in ihm sich sammeln läßt« (Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 7). 39 Ebd. 40 A. a. O., 28 (Hervorhebung PS). 41 A. a. O., 36. 42 A. a. O., 58 (Schwerpunkt). 43 A. a. O., 59. – Diesen imaginär aufgeladenen paradoxalen Einheitsfiguren wäre metaphorologisch eigens nachzugehen.

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den Latenzschutz der Philosophie der symbolischen Formen? Wird so der symbolproduktive Grund der Kultur (und ihrer Theorie) ›geschützt‹? Eine Philosophie der imaginären Formen oder des Imaginären der symbolischen Formen fehlt jedenfalls (bei Cassirer). Eine sich damit ankündigende Trias von Realem, Symbolischem und Imaginärem gehört allenfalls zur ungeschriebenen Lehre Cassirers. Das ist so überraschend nicht, wie es erscheinen kann. Denn als Bildpunkt tritt dieses basale Imaginäre derart zentral auf, daß es wie der ›blinde Fleck‹ unsichtbar und daher (relativ) unthematisch bleibt. Als hermeneutische Hypothese formuliert: Könnte es sein, daß die Latenz des Imaginären in seiner Valenz als zentraler Bildpunkt gründet? Daß also unthematisch bleibt, was die ›Welt (der symbolischen Formen) im Innersten zusammenhält‹? Das kann natürlich allenfalls mit Einschränkungen gelten: Selbstredend wird von der vorprädikativen Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn, von der symbolischen Prägnanz, immer wieder gehandelt. Aber das ›Daß‹ von Kultur, die Unselbstverständlichkeit der Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn, lebt von der ermöglichenden Bedingung des Symbolprozesses: daß Sinnlichkeit Sinn wird oder Natur Vernunft oder Ding Sprache. Und diese Übertragung von Sein in Sprache lebt von einem Imaginären: von der »imaginären Sinn-Einheit« der Kultur, oder anders: von der symbolischen Energie des Imaginären. So gesehen wird der focus imaginarius zum metaphorischen Modell für den Fokus der Philosophie der symbolischen Formen – und damit für die imaginäre Einheit der symbolischen Formen, also des ganzen der Kultur. ad e) Imaginärer Bildpunkt als Metapher für die Einheit von Freiheit und Natur: Vom Wunder des Imaginären als Grund der philosophischen Eschatologie Damit nicht genug. Cassirer wagt es noch darüber hinaus, sich seiner Imagination zu bedienen: »Wie die Einheit des ›übersinnlichen Grundes‹ sich derart zu spalten vermag, daß sie uns das eine Mal in der Erscheinung der Natur, das andere Mal unter dem Bilde der Freiheit und des sittlichen Gesetzes sich | darstellt: darüber ist uns nicht einmal eine Mutmaßung, geschweige eine theoretische ›Erklärung‹ erlaubt. Aber wenn wir auch alle Spekulation hierüber zurückweisen, so bleibt doch immer ein nicht wegzuleugnendes Phänomen bestehen, in dem die Betrachtung der Natur und die der Freiheit ein völlig neues Verhältnis miteinander eingehen. Dieses Phänomen ist das der künstlerischen Auffassung. Jedes echte Kunstwerk ist völlig sinnlich bestimmt und scheint nichts anderes zu verlangen, als im Kreise des Sinnlichen zu verharren; und jedes reicht doch notwendig über diesen Kreis hinaus. Es enthält einen Ausschnitt aus einem rein konkreten und persönlichen Leben; und es geht nichtsdestoweniger in eine Tiefe

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zurück, in welcher das Ichgefühl sich zugleich als Allgefühl erweist. Das mag, begrifflich betrachtet, ein Wunder heißen: Aber in allen höchsten Kunstschöpfungen (man braucht nur etwa an die höchsten Erzeugnisse Goethischer Lyrik zu denken) ist dieses Wunder wahrhaft vollbracht, so daß die Frage nach seiner ›Möglichkeit‹ verstummen muß. In dieser Hinsicht – aber auch nur in ihr – weist die Tatsache der Kunst, ohne daß wir sie in abstrakte Grübelei auflösen, auf eine neue Einheit von ›Sinnlichem‹ und ›Intelligiblem‹, von Natur und Freiheit hin; ja sie ist der Ausdruck und die unmittelbare Gewähr dieser Einheit selbst. Der Weg, auf dem wir hier zum Gedanken des Übersinnlichen gelangen, entspricht somit durchaus der allgemeinen kritischen Richtschnur: Denn wir beginnen nicht mit dem ›Wesen‹ des Übersinnlichen, um es sodann in seine einzelnen Äußerungen zu zerlegen, sondern seine Idee entsteht uns, indem wir die im Bewußtsein selbst gegebenen Grundrichtungen vereinen und sie in einem ›imaginären Bildpunkt‹, in einem Punkte jenseit[s] der möglichen Erfahrung, sich schneiden lassen.«44 Cassirers Kulturphilosophie hat bekanntlich ein Problem mit demjenigen ›Realen‹, das man Natur nennen kann. Denn Natur als Regulativ, wie in der bloßen Empirie, in der Organologie oder ›Daseinsanalyse‹, wäre eine Figur des Substantialismus, die für eine funktional-relationale Kulturtheorie nicht terminus a quo oder terminus ad quem der Symbolisierung sein kann.45 Hier aber wird dieses Problem aufgegriffen und zumindest therapiert – mit den Mitteln des Imaginären. Der ›imaginäre Bildpunkt‹ als ein Je ne sais quoi ›jenseits aller möglichen Erfahrung‹ ist kein erkennbares aliquid mundi, kein Gegenstand, daher auf ewig ›nicht-seiend‹, ›unmöglich-seinkönnend‹. Aber er ist eine für die Kultur und die Orientierung des Lebens und Denkens notwendige Orientierungsfigur, in der sich zeigt, ›was wir (er)hoffen dürfen‹: die Einheit des ›übersinnlichen Grundes‹, in der ›Natur und Freiheit‹ final konvergieren. Dieses finale Imaginäre – der wohl entscheidende Topos seiner ungeschriebenen philosophischen Eschatologie – ist nicht mehr mathematischer oder epistemologischer Provenienz, sondern hat ästhetische Gestalt (also auch nicht religiöse, etwa biblische, wie in den Gleichnissen vom ›Reich Gottes‹). Die Lyrik vollbringt Wunder, die reale Vergegenwärtigung der verlorenen (?), jedenfalls erhofften Einheit von Natur und Vernunft. Insofern ist sie in Status und Funktion vergleichbar mit Leibniz’ Gottesgedanken und der durch ihn getragenen ›nouvelle hypothèse‹.

Cassirer: Kants Leben und Lehre, ECW 8, 319 (Hervorhebung PS). Er hat dementsprechend auch ein Problem mit bestimmten Formen des ›Irrealen‹, seien es in der Tradition Leibniz die ›irrealen Möglichkeiten‹, oder im Zusammenhang der Literaturtheorie die ›Unmöglichkeiten‹ (Blanchot, Baudrillard, Derrida). 44 45

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Während das mathematische Imaginäre und das dem entsprechende epistemische Imaginäre wesentlich Nicht-Reales, realiter Unmögliches darstellen, ist das ästhetische ein beinahe metaphysisches Imaginäres zu nennen: denn es realisiert das Irreale und Unmögliche. Von daher versteht sich die Emphase des ›vollbrachten Wunders‹. Was nicht von dieser Welt ist, aber in dieser, ist dasjenige Imaginäre, in dem nicht nur Religion und Ethik konvergieren und nicht nur die Einheit der symbolischen Formen sinnfällig wird – alles imaginäre Bildpunkte –, sondern in dem Vernunft und Natur so sinnlich wie sinnhaft eins werden. Hier zeigt sich Cassirers indirekte Antwort auf die Frage ›Was dürfen wir hoffen?‹. Die Pointe dieser eschatologischen Andeutung ist, daß im ästhetischen Symbol das Reale der Natur und ineins damit das Irreale des Imaginären wunderbarerweise ›Gegenstand möglicher Erfahrung‹ werden. So gesehen bekommt die Lyrik Goethes hier eine Offenbarungsqualität – die allerdings nur dem sich erschließen dürfte, der in dessen Lyrik Offenbarungen erwartet und entsprechend erfährt. Damit wird jedoch ein Hinweis gegeben, der über den besonderen Fall ›Goethe‹ hinaus relevant ist. War er doch auch für Cassirer nur ein Beispiel für das (ominöse) ›echte Kunstwerk‹. Das Imaginäre der Kunst ist real (nicht unbedingt ›real gegenwärtig‹) – und damit ein realisiertes Imaginäres oder eine wirkliche Unmöglichkeit. Die prekäre Differenz von ›Realem und Imaginärem‹ wird darin nicht ›aufgehoben‹, sondern paradox nichtidentisch und nicht-indifferent. Bleibt die imaginäre Zahl schlechthin irreal, bleibt der focus imaginarius ebenfalls irreal, aber für alles Symbolisieren maßgebliches Regulativ, so scheint das ästhetische Imaginäre eine Realität am Ort des außerordentlichen Symbols zu sein: eine Antizipation dessen, wovon die Philosophie der symbolischen Formen zu träumen wagt.46

5. Imaginäre Gegenprobe Ob diese wunderbare Hochschätzung der Poesie seitens der Poetologie ratifiziert würde? Das läßt sich sicher nicht im Sinne realer Zahlen durchrechnen. Aber eine exemplarische Gegenprobe scheint möglich und angebracht zu sein. Der Literat und Literaturtheoretiker Maurice Blanchot entwarf

46

Vgl. Kant im Kapitel »Von der unwillkürlichen … vom Traume«: »Nun behaupte ich, daß bey jeder phantasie das Organ gerührt werden müsse, aber von innen; folglich ist das punctum imaginarium nicht ausser dem Korper, sondern in ihm; wird aber im schlaf der Mensch der äußeren Empfindung (des Korpers) unbewust, so [ist] gilt diese Vorstellung wie äusserlich. Wenn das punctum imaginarium äusserlich gekehrt ist (als hyperpresbyta), so ist der Mensch verrükt.« (Immanuel Kant: Anthropologie, AkademieAusgabe, Bd. XV, 157–159, Zitat 159).

Stoellger · Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen

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seine Poetologie ausgehend von der Figur eines schlechthin Unmöglichen. Dazu unterschied er› zwei Versionen des Imaginären‹47: Das schwache Imaginäre ist möglich und realisierbar, etwa in der Vergegenwärtigungskraft einer Sage oder Erzählung. Es ist das potentiell realisierbare Unmögliche. Dazu würde auch Goethes Lyrik in Cassirers Lesart zählen: eine reale und realisierte Möglichkeit, die einmal unmöglich war, aber möglich und wirklich wurde. Darin liegt weniger Wunderbares als Erstaunliches und Bemerkenswertes – kein Grund zur Anbetung also, sondern zur wiederholten Lektüre und Interpretation. Das starke Imaginäre hingegen ist definitiv und ewig unmöglich zu realisieren. Es bleibt eine nicht kompossible Unmöglichkeit, die nie wirklich werden wird. Ein prominentes Beispiel dafür ist bei Blanchot Mallarmés ›absolutes Buch‹, das poetische Buch der Bücher, ohne jeden Zufall, ohne Autor, unpersönlich, namenlos also – das ultimative Buch, nicht mehr der Natur, sondern der Kultur.48 Es wäre diejenige Unmöglichkeit, die Friedrich Schlegel das unendliche oder absolute Buch nannte. Mit Mallarmé gesagt: eine »Chimäre, deren Auftauchen im Denken bezeugt, daß mehr oder minder alle Bücher die Verschmelzung einiger gezählter Wiederholungsansprüche in sich bergen, auch wenn es nur einen einzigen gäbe für die Welt als Satzung – Bibel nach der Vorgabe der Nationen«49. Als Buch ohne Autor – wäre es Kultur ohne Urheber, ohne souveränes Subjekt oder auch eine Gabe ohne Geber. Offensichtlich eine Absurdität – eine Unmöglichkeit, wie eine Chimäre -, aber eine kalkulierte Absurdität, eine Metapher, die den Horizont der poetischen Möglichkeiten sprengt und nie reale Gegenwart werden wird. Darin erinnert sie an Cusanus’ Kreis mit unendlichem Durchmesser, dessen Radius zu einer Geraden würde und dessen Mittelpunkt überall wäre. Dieses starke Imaginäre – im Unterschied zum realisierbaren schwachen – ist wohl noch wunderbarer, als die von Cassirer gepriesene Lyrik Goethes. Es bleibt auf ewig jenseits aller Möglichkeit und Wirklichkeit – und damit der Topos einer poetologischen Eschatologie, die nicht perfektische oder präsentische Eschatologie wäre, sondern uneinholbar futurische (wenn nicht messianische). Mit Blanchot gesagt: »Was die Sprache möglich macht, ist ihr Streben, unmöglich zu sein.«50 Literatur erscheint dann als

Vgl. Maurice Blanchot: »Les deux versions de l’imaginaire«, in: ders.: L’espace littéraire, Paris 2005, 341–355; ders.: »Le sommeil, la nuit«, in: ders.: L’espace littéraire, 357– 362; bzw. auch ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M. u. a. 1988 (Le livre à venir, Paris 1986). – Vgl. Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. 48 Maurice Blanchot: »Das kommende Buch«, in: ders.: Gesang der Sirenen, 302–330, 306. 49 A. a. O., 308. 50 Maurice Blanchot: »Ich bin unglücklich«, in: Claudia Gehrke (Hg.): Ich habe einen Körper, München 1981, 295. Es heißt weiter: »Daher herrscht in ihr auf allen Ebenen ein 47

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

»die gefährliche Gabe, auf das, was ist, mit der unendlichen Vielzahl des Imaginären zuzugehen«51. Das Reale mit dem Imaginären zu konfrontieren, ist gefährlich für das Reale, weil das Imaginäre mehr zu wünschen übrig und anderes hoffen läßt, als sich das Reale träumen ließe. Odysseus oder Ahab wäre Blanchots literarische Version des doppelten Umgangs mit dem Imaginären. In seinem Text »Die Begegnung mit dem Imaginären«52 umschreibt er anhand der Odyssee, wie mächtig und verführerisch das Imaginäre wirkt – und wie gefährlich es ist. Der ›Gesang der Sirenen‹ betört und lockt Odysseus unwiderstehlich auf die Klippen und damit in den Abgrund. Sie locken, den lebensnotwendigen Abstand, die Distanz zum Imaginären zu überschreiten. Diesem Wunderbaren zu nahe zu kommen, hieße, in die gefährliche Nähe von »imaginären Mächten […]: Sang des Abgrundes« zu geraten, der dazu verführt, »in ihm zu verschwinden«.53 Die Ankunft im Imaginären würde einen zum Verschwinden bringen – im Tod. Das ist doch noch etwas anderes als Musils Möglichkeitssinn oder Goethes Italien – es ist die ›dark side‹ des Imaginären, die einem Unmöglichkeitssinn vielleicht noch vorstellbar wäre. Es ist eine Figur gefährlicher Transzendenz, in deren Ansicht man verginge. Dieses starke Imaginäre wäre tödlich, wenn nicht ›der Tod‹, das dunkle Jenseits. Das schwache Imaginäre hingegen ist eine ästhetische Figur, die der Normalisierung, Ordnung und letztlich der Neutralisierung des starken Imaginären dient. Es bannt und bändigt die abgründigen Seiten des starken Imaginären – und läßt einen im eigenen Horizont secundum modum recipientis: »Nach überstandener Prüfung findet sich Odysseus als derselbe wieder, der er gewesen ist, und die Welt findet sich wieder, vielleicht ärmer geworden, aber sicherer und fester.«54 Odysseus »wird alles sein, wenn er eine Grenze einhält und jenen Abstand zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären in Acht nimmt, den zu durchmessen ihn der Gesang der Sirenen gerade verlocken will. Das Ergebnis ist eine Art Sieg für ihn; für Ahab dagegen ein düsteres Verhängnis«. Kapitän Ahab in Melvilles Roman Moby Dick läßt sich vom ungeheuren Wal hinreißen, hinab in die Tiefe – weil er von ihm nicht lassen kann. Er wird

Verhältnis des Protestes und der Unruhe, von dem sie sich nicht lösen kann. Sobald etwas gesagt ist, drängt etwas anderes, gesagt zu werden. Und etwas wieder anderes muß dann gesagt werden, um der Neigung alles Gesagten zuvorzukommen, definitiv zu werden […] Es gibt keine Rast, weder im Stadium des Satzes noch in dem des Werkes […] Die Grausamkeit der Sprache rührt daher, daß sie ohne Unterlaß ihren Tod beschwört, ohne je sterben zu können.« 51 Maurice Blanchot: »Das Unendliche, literarisch gefaßt: das Aleph«, in: ders.: Gesang der Sirenen, 130–134, hier: 134. 52 Maurice Blanchot: Gesang der Sirenen, 11–21. 53 Maurice Blanchot: Gesang der Sirenen, 9–40, hier: 12. 54 A. a. O., 18.

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in die Wirklichkeit des Imaginären hineingerissen und verliert darin sein Leben. Er »findet sich nicht wieder«, sondern verliert sich an den Abgrund, »in das Bild hinein«55 . In dieser – allzu kurzen – Gegenprobe wird die Pointe Cassirers etwas entselbstverständlicht: die Poesie ist nicht (notwendigerweise) eine symbolische Gestalt ›realer Gegenwart‹ der schönsten aller möglichen Welten, des Wunders der Einheit von Natur und Freiheit. Sie kann ›noch unmöglicher‹ sein, keine Präsenzgestalt, sondern Entzugserscheinung bis in den tödlichen Selbstverlust. Das würde jedenfalls davon entlasten, ›echte Poesie‹ unter den Druck ›realer Gegenwart‹ zu setzen oder Offenbarungsereignisse zu erwarten. Mit Blanchots Worten: »Nicht das Ereignis der gegenwärtig gewordenen Begegnung«, sondern der »imaginäre Abstand, worin die Abwesenheit Gestalt empfängt und an dessen äußerster Grenze das Ereignis erst stattzufinden beginnt«. 56 Aber solch ein befremdlich gefährliches Imaginäres, wie Blanchot es andeutet, bleibt der symbolischen Formung seltsam entzogen – auch wenn es deren Gravitationszentrum wäre, das alle Symbolisierung bewegt und orientiert. Das derart starke Imaginäre ist von ungeheurer symbolischer Energie – Mallarmé wie Blanchot sind dafür exemplarisch. Es ist selber aber befremdlich asymbolisch: nicht nur anti-realistisch, sondern auch nie und nimmer in symbolischer Gestalt ›realpräsent‹. Was man nicht symbolisieren kann, davon könnte man auch schweigen. Davon nicht schweigen zu können, zeigt die symbolische Energie dieses Imaginären – in aller Ambivalenz des Hinreißenden.

IV) Ausblick: Das Imaginäre an den Grenzen der Symbolisierung Davon nicht schweigen zu können – rührt an die vorletzten Fragen philosophischer Eschatologie, an Negativität und Tod.57 Es geht schließlich um die ›Grenzen der Symbolisierung‹ (Margreiter58) – angesichts der Realität des Negativen.59 Barbara Naumann meinte so treffend: »Es scheint, daß die symbolische Lektüre nach Cassirer […] mit Ausschließlichkeit den positiven, lebendigen Prozeß des Symbolischen als gelungener Darstellung

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Ebd. A. a. O., 20. 57 Vgl. Georges Didi-Huberman: »Der Tod und das Mädchen. Literatur und Ähnlichkeit nach Maurice Blanchot«, in: Trajekte 9, 2004, 27–37, bes. 33 f. 58 Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997. 59 Das dunkle Asymbolische provozierte bei Cassirer wie bei Blanchot dunkle Symbolisierungen: den Mythos des Staates bei Cassirer, die Schrift des Desasters bei Blanchot. 56

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

in den Blick nehmen kann. Diese Perspektive erzeugt einen blinden Fleck in bezug auf die Negativität, auf die Sphäre jenseits des Symbolischen.«60 Deswegen handelt ihre Studie zu Cassirer und Goethe final vom ›Asymbolischen‹. Wenn der Symbolprozeß wesentlich lebendig ist, also die Lebendigkeit der Kultur ausmacht – wie kann er dann mit Tod und Negativität umgehen? In Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ werde die Zeichenlosigkeit angesichts des Todes als A-Relationales dargestellt und führt zur Kritik an der Universalität des Symbolischen. 61 »Der Tod bringt das Symbolische zum Erliegen« 62 . An diesem ›unmöglichen Gegenstand von Erfahrung‹ erhebt sich die dunkle Frage, wie Cassirer mit dem umzugehen verstand, was für Heidegger den ›Kern und Stern‹ seiner Daseinsanalyse bildete. Gegen Heideggers Vorschlag, aus der Not des Todes eine philosophische Tugend zu machen, entwirft Cassirer in dem kurzen Text zu »Heidegger und das Todesproblem« seine Antwort: 1. Die »antike Lösung« schätzt Cassirer höher als Heidegger: »Stoische Ethik: ataraxia als Gegensatz zur Angst« 63 , denn das heiße ›sterben lernen‹ – nicht im Sinne der christlichen Tradition, sondern der stoischen (die nicht zuletzt die christliche mitbestimmt hat). Aber das wäre ein Umgang mit dem Tod, der ihn zu einem erstaunlich schwachen Imaginären machte – zu einem ›Lernbaren‹. 2. Im Ausgang von Spinoza sei zwar nicht von einer individuellen Unsterblichkeit auszugehen, aber »wer gelernt hat, die Dinge sub specie aet[ernitatis] zu betrachten, der ist der Angst vor dem Tode überhoben.« Denn im »Wissen vom Tode« werde »die bloße Tatsächl[ichkeit] des Todes überwunden – das bloße ›Fatum‹ wird Notwendigkeit – die der Mensch weiß u. anerkennt«64 . So wird der Umgang mit dem Tod nicht weniger normalisiert und der Riß geglättet, ›in Ordnung‹ gebracht – als etwas ›Wissbares‹. Ob dieser Umgang mit dem Tod oder dem Tod der Kultur in der Barbarei plausibel und tragfähig ist, wäre eigens zu bedenken. Bemerkenswert ist aber, wie eminent imaginär die Antwort Cassirers gegen Heidegger ist: Die Ataraxie, die finale Seelenruhe, das imaginäre Ziel von Stoa wie Skepsis, ist nicht weniger ›Jenseits‹ als die Position sub specie aeternitatis: beides sind Figuren des view from nowhere. Beides sind ehrwürdige Topoi, die einen ›imaginären Standort‹ entwerfen, der nie realiter gegeben ist.

Barbara Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998, 179; vgl. auch: 176 ff. 61 A. a. O., 182. 62 A. a. O., 183. 63 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 223. 64 A. a. O., 224. 60

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Anders gesagt: wenn das Reale abgründig wird, im Tod, oder alptraumatisch, wie in der Barbarei des zweiten Weltkriegs – dann gerät die Symbolisierung in die abgründigste aller möglichen Krisen. Es herrscht der symboltheoretische Ausnahmezustand. Angesichts des Abgrundes – des wirklich gewordenen Unmöglichen – lockt nicht, sondern schreckt das tödliche Imaginäre. Angesichts dessen bei einer Position der Souveränität zuflucht zu finden (Ataraxie und aeternitas), ist vermutlich mehr, als man hoffen darf. Es ist gleichwohl nachvollziehbar: Wenn das Reale selber imaginär wird – abgründig, alptraumatisch –, dann ist der Griff zu überschießenden Imaginationen plausibel, auch wenn deren Symbolisierung die Grenzen der kritischen Vernunft überschritte. Die symbolische Energie des Imaginären ist ein passendes Antidot gegen die traumatisierende Energie des Realen. Es scheint, als gerieten hier Imaginäres und Imaginäres in Widerstreit – der am Ort der Symbolisierung ausgetragen wird. Wenn die Lebendigkeit des Symbolprozesses durch den Tod herausgefordert und durch Chaos gefährdet wird, bliebe nur ein Schweigen oder Ausweichen, wenn nicht das Imaginäre noch mehr und anderes hoffen ließe – sei es als ultima ratio oder als das, ›was höher ist als alle Vernunft‹. Das Problem bleibt nur, daß dieser Überschwang des Imaginären die Regel und Ordnung des Symbolischen überschreitet, wenn nicht sogar gefährlich sprengt. Die Figur des Dritten – zwischen Symbolischem und Realem – bleibt ambivalent. Aber an den Grenzen der Symbolisierung wird sie unvermeidlich, wenn nicht Sprachlosigkeit das letzte Symbol sein sollte. Im symboltheoretischen Ausnahmezustand zeigt sich das Imaginäre in seiner doppelten Gestalt – nicht als Figur der Souveränität eines ›Genies‹, sondern im abgründigen Grauen wie im gegenläufigen Dennoch. In dieser Grenzlage könnte die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ selber ein Symbol des Imaginären werden – gegen Symboloklasmus und Aphasie.

Literaturverzeichnis Maurice Blanchot: »Ich bin unglücklich«, in: Claudia Gehrke (Hg.): Ich habe einen Körper, München 1981 – Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M. u. a. 1988 (Original: Maurice Blanchot: Le livre à venir, Paris 1986) – »Das kommende Buch«, in: ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M. u. a. 1988 – »Das Unendliche, literarisch gefaßt: das Aleph«, in: ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M. u. a. 1988 – »Les deux versions de l’imaginaire«, in: ders.: L’espace littéraire, Paris 2005

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

– »Le sommeil, la nuit«, in: ders.: L’espace littéraire, Paris 2005 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. [im folgenden ECW], Bd. 2, Hamburg 1999 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 Georges Didi-Huberman: »Der Tod und das Mädchen. Literatur und Ähnlichkeit nach Maurice Blanchot«, in: Trajekte 9, 2004 Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III – Anthropologie, Akademie-Ausgabe, Bd. XV Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997 Barbara Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998 Gershom Scholem: Judaica, Bd. 5: Erlösung durch Sünde, hg., aus dem Hebr. übers. und mit einem Nachw. vers. von Michael Brocke, Frankfurt/M. 1992 Philipp Stoellger: »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese«, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000 – »Die Vernunft der Kontingenz und die Kontingenz der Vernunft. Leibniz’ theologische Kontingenzwahrung und Kontingenzsteigerung«, in: Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.): Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems. Religion in Philosophy and Theology 1, Tübingen 2000 – »Der Symbolbegriff Schleiermachers«, in: Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.): Christentum - Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin. März 2006, Berlin/New York 2008 Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg u. a. 1991

Ralf Becker

Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus

Der Vater der modernen wissenschaftlichen Nomenklatur für Lebewesen, Carl von Linné, hat den Menschen unter die Anthropomorpha eingeordnet. Bevor er das Taxon in der zehnten Auflage seines Systema naturae (1758) in Primates umbenannte, umfaßte es zunächst (1735) außer der Gattung Homo die Affen und das Faultier, zwischenzeitlich (1740) auch den Ameisenbären, um schließlich (1758) Menschen, Affen, Lemuren und Fledermäuse in einer Verwandtschaft zu versammeln. Linné sah auf der morphologischen Ebene eine so große Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen, daß er sie systematisch zu der einen Gruppe der Menschenförmigen zusammenfaßte. Dies erläuterte er näher in einer Abhandlung, die er für den aus Sankt Petersburg stammenden Studenten Christian Emmanuel Hoppe verfaßt hatte. Im akademischen Schweden des 18. Jahrhunderts war es üblich, daß die Hochschullehrer (»praeses«) kurze Dissertationen für die Graduierenden (»respondentes«) anfertigten, die diese dann verteidigen mußten. Der Titel der von Hoppe am 6. September 1760 disputierten Schrift lautet: Anthropomorpha (das schwedische Originalmanuskript hat Linné mit Menniskans Cousiner überschrieben). Dort erklärt Linné (ich zitiere aus der leicht gekürzten deutschen Übersetzung »Vom Thiermenschen« von 1776): »Zwar mögten viele glauben, der Unterschied des Menschen und Affen sey wie Tag und Nacht. Allein laßt sie eine Vergleichung zwischen dem größten Europäischen Helden, und dem Hottentotten auf dem Vorgebürge der guten Hofnung anstellen: so werden sie eben so schwer zu überreden seyn, daß beyde von einerley Ursprung sind; oder wenn sie eine geputzte artige Hofdame mit einem im Wald sich selbst überlassenen Menschen vergleichen: so würden sie kaum absehen können, daß jene und dieser zu einerley Gattung gehören. Der rohe Mensch, der keine Erziehung erhalten hat, macht mit dem gebildeten Menschen in seinen Sitten einen größeren Abstand, als der Holzapfel mit seinen Stacheln und herben Früchten, von dem Obstbaum, der umgraben im Garten anmuthsvoll grünet.«1 Biologisch

Carl von Linné: »Vom Thiermenschen«, in: ders.: Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Leipzig 1776, 57–70, hier: 58; vgl. ders.: »Anthropomorpha, quae, praeside D.D. Car. Linnaeo, proposuit Christianus Emmanuel Hoppius, Petropolitanus. Upsaliae 1760. Septemb. 6«, in: ders.: Amoenitates academicae, seu dissertationes variae, physicae, medicae, botanicae, Bd. 6, 1

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

gesehen ist der Mensch – wie der Affe – demnach lediglich anthropomorph; zum anthropos wird er erst durch Kultur, die das von Gott in ihn gelegte lumen naturale entzündet. Linnés taxonomische Maßnahme macht aus dem Menschen einen Anthropomorphismus – einen Anthropomorphismus, der sich selbst reproduziert, und zwar nicht nur biologisch, sondern auch kulturell. Denn die Kultur ist der Raum, in dem sich das Anthropomorphon selbst die Gestalt wirklichen Menschseins gibt und immer wieder neu geben muß. Der Mensch ist Subjekt und Objekt einer Humanisierung, die sich im übrigen nicht auf ihn selbst beschränkt, sondern von ihm auf die ganze Welt überfließt – auf die leblose Körperwelt unter, andere Lebewesen neben und das Göttliche über ihm. Der Mensch kann sich daher nie entkommen. Überall begegnet er sich selbst. Für diese exponierte Stellung des Menschen im geistigen Kosmos des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts, die ihn zum Subjekt seiner selbst macht, hat Michel Foucault den prägnanten Ausdruck der »empirisch-transzendentalen Dublette« gefunden,2 mit dem er das »anthropologische Denken« zu charakterisieren versucht: Der Mensch konstituiert einerseits den Organisationsrahmen für Wissensformen und bringt dabei transzendentale Rationalität zur Geltung – anderseits taucht er als privilegierter empirischer Gegenstand ebendieser Wissensformen auf, insbesondere in den sich etablierenden Humanwissenschaften. Es ist genau diese »Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen«3 , die Cassirer mit seinem Begriff eines kritischen Anthropomorphismus in den Blick nimmt. Da Cassirer diesen Begriff nur operativ einsetzt und nicht genauer definiert, möchte ich im folgenden zu seiner Klärung beitragen. Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Zuerst werde ich Cassirers eher beiläufige Unterscheidung von psychologischem und kritisch-transzendentalem Anthropomorphismus kurz vorstellen (I). Die begriffliche Unterbestimmtheit des letzteren macht eine kleine Digression erforderlich, in der ich die Begründung des kritisch-transzendentalen Anthropomorphismus durch Kant und seine Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert umrißhaft skizziere (II). Anschließend wende ich mich sodann erneut der Cassirerschen Spezifikation zu (III).

Leiden 1764, 63–76. Das Originalmanuskript wurde postum publiziert: Ders.: Menniskans cousiner, Uppsala u. a. 1955 (22 S.). Vgl. auch Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/M. 2003, 33–38. 2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1966, 384. 3 A. a. O., 404.

Becker · Dublette Mensch?

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I) Psychologischer und kritisch-transzendentaler Anthropomorphismus In seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen zu Einsteins Relativitätstheorie von 1921 weist Cassirer auf eine Spannung im physikalischen Denken hin. Dieses strebe danach, »in reiner Objektivität nur den Gegenstand der Natur zu bestimmen und auszusprechen«. Dabei spreche es aber »notwendig zugleich sich selbst, sein eigenes Gesetz und sein eigenes Prinzip aus«. Gerade bei der Bemühung um Objektivität, die auf die Ausschaltung alles Subjektiven abzielt, kommt es also – und zwar notwendig – zu einer Selbstinvestition des physikalischen Denkens in seinen Gegenstand. Hierin nun, so fährt Cassirer fort, »bewährt sich wieder jener ›Anthropomorphismus‹ aller unserer Naturbegriffe, auf den Goethes Altersweisheit hinzudeuten liebte. ›Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, d. h. der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins. […] Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß aller Dinge ist.‹ Nur ist, nach allen vorangegangenen Betrachtungen, dieser ›Anthropomorphismus‹ selbst nicht in einem beschränkt psychologischen, sondern in einem allgemeinen, kritisch-transzendentalen Sinne zu verstehen.«4 Was wir genau unter dem ›kritisch-transzendentalen Sinn‹ zu verstehen haben, bleibt vorläufig unklar. Klarer bestimmt ist dagegen jener ›beschränkt psychologische‹ Anthropomorphismus, den Cassirer zurückweist. Zur Verdeutlichung zieht er nämlich Max Plancks Vortrag über »Die Einheit des physikalischen Weltbildes« (1908) heran, in dem dieser die »Emanzipation [der Physik] von den anthropomorphen Elementen« fordert. 5 Damit meint Planck die Loslösung der physikalischen Begriffe

Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff., (ECW), Bd. 10, 111. – Cassirer zitiert Goethe aus einem Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer vom 2. August 1807. 5 Max Planck: »Die Einheit des physikalischen Weltbildes« (1908), in: ders.: Physikalische Rundblicke. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1922, 6; 9; 34. – Cassirer nimmt wiederholt Bezug auf Plancks Eliminationsforderung. Vgl. z. B. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 331; ders.: »Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9, 187 f.; ders.: »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9, 293 f.; ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 36 f., 111; ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 498 f.; ders.: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 99; ders.: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17, 350; ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, 291. – Cassirer erläutert die Reinigung der physikalischen Begriffe von Anthropomorphismen am Beispiel des Raums in der Entwicklung 4

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

von der »Individualität des bildenden Geistes«, 6 zu der er auch die spezifisch menschliche Sinneswahrnehmung zählt. Als Beispiele führt er die Zeit- und Längenmaße sowie Naturkonstanten an, die in der modernen Physik unabhängig von den Bedingungen menschlicher Messung definiert werden und somit auch für »Marsbewohner« verständlich wären.7 Planck möchte unter anderem anhand der stochastisch formulierten Thermodynamik zeigen, daß die physikalische Begriffsbildung systematisch den Anteil eliminiert, den der experimentierende Physiker an ihr hat. Gleichwohl bleibt diese Befreiung vom Subjektiven ein »niemals ganz zu erreichende[s] Ziel«. 8 Das heißt, die vollständige Emanzipation vom Anthropomorphismus ist ein reiner Limes, dem sich die Wissenschaft nur annähern kann. Noch vor der Entdeckung des Unbestimmtheits-Prinzips durch Heisenberg, das die Unauflöslichkeit von subjektiver Beobachtung und objektiv Beobachtbarem im Bereich der Quantenmechanik behauptet, beruft sich Planck auf Kant, »um das Mißverständnis auszuschließen, als ob das Weltbild von dem bildenden Geist überhaupt losgelöst werden sollte; denn das wäre ein widersinniges Beginnen.« 9 Mit dem psychologischen Anthropomorphismus bezieht sich Cassirer also auf die Individualität des bildenden Geistes, von der Planck das physikalische Weltbild loslösen will.10 Transzendental würde dann den bildenden Geist überhaupt bezeichnen, nicht den spezifischen Sinnesapparat oder gar die Persönlichkeit des Physikers, sondern die »physikalische Apperzeption«, die in das Objekt eingeht – »jene allgemeinen Systembedingungen […], auf denen die Eigenart der physikalischen Problemstellung als solcher beruht.«11 Im Gegensatz zum psychologischen Anthropomorphismus, von dem sich die Physik emanzipieren kann, ist der transzendentale Anthropomorphismus unvermeidbar, weil unhintergehbar.12

vom Ausdrucks- über den Darstellungs- hin zum reinen Bedeutungsraum. Vgl. dazu: »Immer energischer werden in ihm [geometrisches/physikalisches Denken] alle rein ›anthropomorphen‹ Bestandteile zurückgedrängt, werden sie durch streng ›objektive‹ Bestimmungen, die sich aus einer allgemeingültigen Methodik des Zählens und Messens ergeben, ersetzt. Und mit dieser Zurückdrängung werden nicht nur alle Elemente, die aus der Gefühls- und Willenssphäre stammen, ausgeschaltet, sondern auch die Bilder, die reinen Schemata der Anschauung werden mehr und mehr beseitigt.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 489). 6 Planck: »Die Einheit des physikalischen Weltbildes«, 34. 7 A. a. O., 25. 8 A. a. O., 34. 9 A. a. O., 35; vgl. auch a. a. O., 36. 10 A. a. O., 34. 11 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 112; 111. 12 Dazu paßt auch eine andere Stelle, die nicht die Physik, sondern die Mathematik betrifft. Hier distanziert sich Cassirer von dem »Anthropologismus« (qua psychologischer Anthropomorphismus) des Phänomenologen Oskar Becker, der die Mathematik mit der »konkreten Subjektivität des Mathematikers« verquickt habe (vgl. Cassirer:

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Gleichwohl wirkt der Begriff des kritisch-transzendentalen Anthropomorphismus alles in allem recht blaß. Hinzu kommt, daß er zunächst den Verdacht erweckt, es könnte eine contradictio in adjecto vorliegen. Denn wie passen die Ausdrücke ›transzendental‹ und ›anthropomorph‹ zusammen? Der erste bezeichnet nach dem Gesagten ja nur »bildenden Geist überhaupt«, der zweite dagegen denjenigen eines spezifischen Wesens. Im Besitz eines bildenden Geistes zu sein, ist kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen – wir können uns auch Wesen denken, die über einen Verstand verfügen (wie Engel, Teufel und Gott), aber keineswegs eine menschliche Gestalt haben. Zuerst müssen wir uns daher dieses hölzerne Eisen ›transzendentaler Anthropomorphismus‹ näher ansehen. Unseren Blick schärfen wir durch die Archäologie des Begriffs, die unter Cassirers Sprachgebrauch zwei frühere Sedimentschichten zu Tage fördern wird. Dann erst können wir genauer ergründen, worin das spezifisch Transzendentale an Cassirers kritischem Anthropomorphismus liegt.

II) Symbolischer und schematischer Anthropomorphismus Ursprünglich fand der Terminus ›Anthropomorphismus‹ ausschließlich in theologischen Debatten Verwendung. Hier diente er vor allem als Kampfbegriff, um den jeweiligen Gegner eines naiven Glaubens an Gott in Menschengestalt zu bezichtigen und ihn damit aus dem Kreis der Rechtgläubigen auszuschließen.13 David Hume wandte den Anthropomorphismus sogar gegen den Glauben an einen Weltschöpfer als solchen. Nicht bloß bestimmte Attribute, sondern Gott selbst galt ihm als eine anthropomorphe Vorstellung.

Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 467 Fn.). – Terminologisch finden wir das Begriffspaar in Cassirers Werken nur noch einmal, nämlich in Kants Leben und Lehre. Demnach kritisiere Kant die »Leibnizsche Anwendung des Zweckbegriffs im Gedanken der ›besten aller möglichen Welten‹« als einen ›Anthropomorphismus‹. »Aber es ist kein Anthropomorphismus psychologischer, sondern ›transzendentaler‹ Art, den er in ihr entdeckt und der daher nach ihm erst durch die Gesamtheit der transzendentalen Analyse und deren Ergebnisse endgültig aus den Angeln gehoben werden kann.« (Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 314 Fn.) Statt ›psychologischer Anthropomorphismus‹ verwendet Cassirer andernorts auch folgende Ausdrücke: »gewöhnlicher Anthropomorphismus« (Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, 354), »naiver Anthropomorphismus« (a. a. O., 89; 190; ders.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, 469; ders.: »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16, 347); »sinnlicher Anthropomorphismus« (Cassirer: Leibniz’ System, ECW 1, 319; ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 36); »grober Anthropomorphismus« (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 83); »krasser Anthropomorphismus« (Cassirer: Leibniz’ System, ECW 1, 431). 13 Vgl. dazu Ralf Becker: »Anthropomorphismus (I)«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 49, 2007, 69–98.

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

Auf die Religionskritik Humes antwortete Kant in seinen Prolegomena mit der Unterscheidung zwischen einem symbolischen von einem dogmatischen Anthropomorphismus. Der dogmatische Anthropomorphismus macht Aussagen über ein höchstes Wesen an sich; der symbolische Anthropomorphismus betrifft dagegen »nur die Sprache und nicht das Object selbst […]. Wenn ich sage: wir sind genöthigt, die Welt so anzusehen, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, so sage ich wirklich nichts mehr als: wie sich verhält eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, so die Sinnenwelt […] zu dem Unbekannten, das ich also hiedurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin, erkenne. […] Eine solche Erkenntnis ist die nach der Analogie, welche nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet. Vermittelst dieser Analogie bleibt doch ein für uns hinlänglich bestimmter Begriff von dem höchsten Wesen übrig, ob wir gleich alles weggelassen haben, was ihn schlechthin und an sich selbst bestimmen könnte; denn wir bestimmen ihn doch respectiv auf die Welt und mithin auf uns, und mehr ist uns auch nicht nöthig.«14 Der symbolische Anthropomorphismus ist eine vierstellige Relation zwischen einem menschlichen Artefakt (Uhr) und dessen Produzenten (Uhrmacher) auf der einen Seite und der Welt der uns bekannten Dinge überhaupt sowie ihrem unbekannten Schöpfer (Gott) auf der anderen. Die Analogie und damit der Anthropomorphismus besteht nun darin, daß behauptet wird, a (Uhr) verhalte sich zu b (Uhrmacher) wie c (Welt) zu x (Gott). Dabei wird die unbekannte Größe x weder zu einem Wesen an sich hypostasiert, noch erhält die Kategorie der Kausalität, die streng auf den Bereich der Erfahrungen restringiert ist, einen hyperphysischen Gebrauch. Wie Hume befindet auch Kant, daß die Erkenntnis eines Unbedingten unmöglich sei. Kant betont jedoch, daß die reine Denkmöglichkeit des Unbedingten in den Ideen der Vernunft ausreicht, um ein Regulativ für die Einheit unserer Erfahrung zu finden. Die Analogie zwischen dem uns bekannten menschlichen und dem uns unbekannten göttlichen Produktionsverhältnis versetzt uns dazu in die Lage, die bloße Idee eines Weltgrundes zu verwenden, um das Feld möglicher Erfahrung als eine systematische Einheit erkennbarer Strukturen zu umgrenzen. Daß Kant diese subtile Form von Anthropomorphismus symbolisch nennt, hängt mit seinem Symbolbegriff zusammen, der für die Versinn-

Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1911, 357 f. (§§ 57 f.). 14

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lichung einer schlechterdings unanschaulichen Vernunftidee gemäß einer Analogie steht.15 Im Falle der Idee eines höchsten Wesens liefert der Mensch nach der beschriebenen Proportionalitätsanalogie die Anschauung, die zwar der Idee Gottes selbst, nicht aber der doppelten Verhältnisbestimmung unangemessen ist. Der symbolische Anthropomorphismus ist eine analogische Repräsentation, die helfen soll, das Unbekannte zu denken. Das Unbekannte ist hierbei die Idee eines Welturhebers, die eine regulative Funktion für die Einheit unserer Erfahrung besitzt. Reserviert Kant den symbolischen Anthropomorphismus für die Versinnlichung regulativer Vernunftideen, so wird er in der Folgezeit auch auf die konstitutiven Verstandesbegriffe ausgeweitet. Damit ergibt sich eine weitere Spezifikation, die ich schematischen Anthropomorphismus nennen möchte, weil sich die Versinnlichung nicht mehr auf die analogische Repräsentation einer Idee beschränkt, sondern bereits den Schematismus der Einbildungskraft einschließt, also die Anwendung der Kategorien auf die Anschauung.16 Der Begriff der Ursache ist als Kategorie des Verstandes demnach nicht bloß transzendental, sondern, sobald er von der Einbildungskraft auf die sinnliche Anschauung bezogen wird, auch anthropomorph.17 Mit anderen Worten, unsere Vorstellungen von Ursache und Wirkung, Kraft und Substanz erzeugen Anthropomorphismen, wenn wir sie den Erfahrungsgegenständen zuschreiben. An die Stelle der zurückhaltenden Proportionalitätsanalogie tritt eine forcierte Attributionsanalogie, von der wir uns kaum befreien können und die – vermittels der Begriffe – unser ganzes Denken über die Welt durchzieht. Grundlage dieses schematischen Anthropomorphismus ist die Identifikation des transzendentalen Subjekts mit dem empirischen Menschen. Am Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts läßt sich belegen, daß die Ausdrücke ›anthropologisch‹ und ›anthropomorph‹ oftmals synonym für ›transzendental‹ verwendet werden. Dahinter steht die Adressierung des Transzendentalen an den Menschen, der als Instanz der Weltstiftung und als Teil

»Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die correspondirende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisiren beobachtet, bloß analogisch ist, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt.« (Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V, § 59, 351). 16 Vgl. dazu im einzelnen Ralf Becker: Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt/M. 2011. 17 Vgl. z. B. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. u. eingel. von Alfred Schmidt, 2 Bände, Bd. 2, Frankfurt/ M. 1974, 576. 15

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

ebendieser Welt zugleich gedacht wird. Die gegenstandskonstituierende Subjektivität hat sich im Menschen immer schon vergegenständlicht. Permanent überträgt er die Formen und Begriffe seines eigenen Denkens auf die Wirklichkeit als ganze, die damit zu einem Reservoir von Anthropomorphismen wird. Ja, der Begriff ›Wirklichkeit‹ ist selbst ein solcher Anthropomorphismus, der die Selbstwahrnehmung des menschlichen Einwirkens auf die Dinge exteriorisiert. Das »anthropologische Denken« (Foucault) transformiert das Kantische Diktum, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung seien zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung,18 indem es Erfahrung mit menschlicher Erfahrung gleichsetzt und daraus die anthropomorphe Gestalt der in ihr fundierten Gegenstände folgert. ›Anthropomorph‹ steht für eine Kritik der konkreten Vernunft, wie sie für die Philosophie des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist: Die Vernunft soll in ihrer konkreten Manifestation erfaßt und expliziert werden, und der Platzhalter für die konkrete Vernunft ist eben – der Mensch. Der schematische Anthropomorphismus bewegt sich in einem Spannungsfeld, das durch die beiden Pole der Kritik und der Affirmation bestimmt wird. Am einen Ende steht beispielsweise Richard Avenarius mit seinem Begriff der reinen Erfahrung, die von allen »anthropomorphistischen Apperzeptionen« – sie fallen mit den Kantischen Kategorien zusammen – befreit werden muß, um Grundlage einer wissenschaftlichen Erkenntnis sein zu können.19 Am anderen Ende findet man den Pragmatisten F.C.S. Schiller, der nicht Desanthropomorphisierung, sondern Reanthropomorphisierung der Wirklichkeit zum Ziel der Wissenschaft ausruft. Dabei sollen nicht die Dinge selbst vermenschlicht werden, sondern die Prinzipien unserer Erklärung sollen dem menschlichen Geist evident sein. Der von Schiller favorisierte ›wahre Anthropomorphismus‹ besteht darin, daß er die Welt dem Menschen einsichtig macht, der dadurch zwar nicht zum Maß aller Dinge, wohl aber zum Maß aller Erkenntnis über Dinge erhoben wird. Deshalb kann Schiller später den Ausdruck ›Anthropomorphismus‹ durch ›Humanismus‹ ersetzen. Statt von einer ›Reanthropomorphisierung‹ möchte er nun von ›Rehumanisierung‹ der Wirklichkeit sprechen. 20 Dies ist eine recht präzise Definition für den schematischen Anthropomorphismus: er betreibt die »Humanisierung der Welt«.21

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III, B 197. 19 Vgl. Richard Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Berlin 21903, 38 f. 20 Vgl. Ferdinand Canning Scott Schiller: Humanism. Philosophical Essays, London 2 1912, XXI. 21 Dieser Ausdruck kommt auch bei Husserl vor: vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß (1929–1935), in: ders.: Husserliana, Bd. 15, hg. von Iso Kern, Den Haag 1973, 391. 18

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III) Hermeneutischer Anthropomorphismus Der kritische Anthropomorphismus unterscheidet sich vom unkritischen dadurch, daß er sich allein auf unsere Beobachtung der Wirklichkeit und nicht auf diese selbst bezieht. Er ist selbstkritisch, weil der endliche Beobachter Umfang und Grenzen seiner Beobachtungen prüft. Wir haben zwei Spezifikationen dieses kritischen Anthropomorphismus kennengelernt: die symbolische und die schematische. Nun gehen wir dazu über, die Cassirersche als eine dritte Spezifikation zu ermitteln.

a) Der Anthropomorphismus der Kulturwissenschaften Wie wir gesehen haben, formuliert Cassirer seinen Begriff vom kritischtranszendentalen Anthropomorphismus im Einstein-Buch durch einen Zusammenschluß von Goethe und Planck.22 Um so irritierender ist es daher, daß er in späteren Schriften den Anthropomorphismus nur noch für die Kulturwissenschaften zu reservieren scheint und für die Abgrenzung von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung wiederum Planck anführt. Im Essay on Man (1944) etwa unterscheidet Cassirer die Geschichtsschreibung von dem physikalischen Weltbild Plancks dadurch, daß sie »nur in der menschlichen Welt« »leben und atmen kann«. »So wie die Sprache oder die Kunst ist auch die Geschichte ihrer Grundlage nach anthropomorph. Die menschlichen Aspekte auszuschließen hieße, ihre Eigentümlichkeit und ihr Wesen zu zerstören. Der Anthropomorphismus des historischen Denkens bedeutet jedoch keine Einschränkung oder Behinderung seiner objektiven Wahrheit. Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis. […] Mit einer paradoxen Formulierung könnten wir sagen, daß die Geschichtsschreibung auf einen ›objektiven Anthropomorphismus‹ zielt.«23 Was Cassirer hier für die Geschichtsschreibung darlegt, gilt auch für jede andere Kulturwissenschaft. Diese Auskunft erteilt uns die dritte Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften: »Naturbegriffe und Kulturbegriffe« (1942): »Die Form der Allgemeinheit [der Naturwissenschaften] ist der Kulturwissenschaft nicht erreichbar. Dem Anthropomorphismus

22

Vgl. auch Cassirer: »Goethe und die mathematische Physik«, ECW 9, bes. 291 f. Cassirer: Versuch über den Menschen, 291 f. – Zum Anthropomorphismus der Sprache vgl. Ernst Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 147; zum Anthropomorphismus im Mythos vgl. Ernst Cassirer: »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925), in: ECW 16, 300 ff. 23

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und Anthropozentrismus kann sie nicht entsagen.«24 Die Kultur ist ein symbolischer Raum menschlicher Wirklichkeitsdeutungen. Die Kulturwissenschaft hat die Aufgabe, die kulturellen Tatsachen25 als Resultate von symbolischen Formungen zu begreifen. In Cassirers eigenen Worten: »Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, ›Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können‹; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.«26 Die Kulturwissenschaften untersuchen die Dokumente menschlicher Kreativität, und weil diese Dokumente (Literatur, Kunst, Recht, Geschichte usw.) die Signatur ihres menschlichen Ursprungs tragen, ist der Anthropomorphismus für die kulturwissenschaftliche Forschung geradezu konstitutiv. Der »objektive Anthropomorphismus« markiert die Selbstdeutung des Menschen in seiner umfassenden kulturellen Produktivität. Doch wie kann Cassirer dann 1921 von einem kritisch-transzendentalen Anthropomorphismus auch in der Naturwissenschaft sprechen?

b) Der Anthropomorphismus der Naturwissenschaften Den Schlüssel für die Antwort auf diese Frage finden wir im Schlußkapitel des Einstein-Buches: »Die Relativitätstheorie und das Problem der Realität«, in dem Cassirer den Umfang der physikalischen Begriffe bestimmt und eingrenzt. Demnach ist es falsch, den physikalischen Raum- oder Zeitbegriff als den eigentlich wirklichen anzusehen. Denn »in den Komplex, den wir unsere ›Welt‹, den wir das Sein unseres Ich und das Sein der Dinge nennen,« gehen Einsteins Raumzeit und unsere unmittelbare Raum- und Zeitanschauung »als gleich unentbehrliche und notwendige Momente ein. Wir können keines von ihnen zugunsten des andern aufgeben und aus diesem Komplex ausschalten, sondern wir können jedem nur die bestimmte Stelle zuweisen, die ihm im Ganzen zukommt.«27 Den physikalischen Raumbegriff kann man nicht gegen den psychologischen ausspielen, weil beide Räumlichkeit aus unterschiedlicher Perspektive beobachten. Es han-

Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24, 434. 25 Vgl. Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006. 26 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 445. Vgl. auch: »Die Geschichte aber will niemals bloß vergangenes Sein vor uns hinstellen; sie will uns vergangenes Leben verstehen lehren.« (A. a. O., 435) – Zu der Bedeutung von Cassirers abgewandeltem KantZitat vgl. Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2004, 355 f. 27 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 122. 24

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delt sich um verschiedene symbolische Modalisierungen, die in ihrer Eigenart zu qualifizieren sind. Die Aufgabe einer Philosophie der symbolischen Formen ist es daher, die »Symbole, die der Mathematiker und Physiker in seiner Schau des Äußeren und die der Psychologe in seiner Schau des Inneren zugrunde« legen, »als Symbole verstehen [zu] lernen.«28 Nicht die Natur selbst, wohl aber unsere Anschauungen und Begriffe von der Natur sowie die Naturwissenschaft sind symbolische Primärdeutungen der Welt durch den Menschen, die damit zu Kandidaten einer Metadeutung durch die (Kultur-)Philosophie werden. 29 Dieser Befund ändert nichts an der spezifischen Differenz zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung.30 Gleichwohl macht auch der Naturwissenschaftler die Erscheinungen, indem er sie buchstabiert, lesbar. Die jeweils konkrete biologische, chemische oder physikalische Lesung der Welt ist ein symbolischer Vorgang, der sich nur in seiner Grammatik, nicht aber in seiner Symbolizität selbst von den Lesungen der kultur- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet. Genau diese ursprüngliche Symbolisierung ist es, die Cassirer anthropomorph nennt. Da Kant den Terminus des symbolischen Anthropomorphismus bereits reserviert hat, möchte ich hier den Ausdruck hermeneutischen Anthropomorphismus wählen, um Cassirers Version des kritischen Anthropomorphismus zu kennzeichnen. Hermeneutisch kann man sie deshalb nennen, weil es darum geht, kulturelle Tatsachen im umfassenden Sinn, der auch die beobachteten Naturphänomene mit einschließt, als Symbole, das heißt als Sinnelaborate, zu erkennen (zu ›buchstabieren‹), die ein Selbst-

A. a. O.,122. Darin liegt der Sinn von Cassirer erkenntnistheoretischen Betrachtungen; vgl.: »Die kritische Erkenntnistheorie, die zwischen den verschiedenen Arten der Erkenntnis nicht zu wählen, sondern die lediglich festzustellen hat, was jede von ihnen ›ist‹ und bedeutet, kann zwischen den gegensätzlichen Aspekten […] keine normative Entscheidung treffen.« (a. a. O., 121) – Vgl. im selben Jahr: »Eine Erkenntnistheorie, die dieser Aufgabe gerecht würde, die nicht nur die Methoden der Erkenntnis im engeren Sinne, sondern die wesentlichen Kategorien und Grundrichtungen des Weltverständnisses überhaupt umfaßte, jede in ihrer Besonderheit begriffe und zugleich ihre Bedeutung und Stellung im Ganzen kenntlich machte,« ist nach Cassirers Auffassung noch ein Desiderat (Cassirer: »Goethe und die mathematische Physik«, ECW 16, 314). 29 Vgl. dazu Cassirers Goethe-Interpretation von 1916: »Was die Philosophie leisten kann, ist, daß sie dem Menschen die Totalität dieser Äußerungen deutet, nicht, daß sie ihn über sie hinaushebt: Aber auch diese Deutung muß, wenn sie für das Individuum wahrhaft fruchtbar werden soll, stets an die besonderen Bedingungen anknüpfen, in denen es steht. Denn der Mensch ist nicht berufen, die Rätsel des absoluten Seins betrachtend und grübelnd zu lösen, sondern er kann nur versuchen, sein eigenes Sein nach all den Richtungen, in denen es ihm vergönnt ist, frei zu entfalten. Indem er hierbei das Gesetz und die Notwendigkeit seines Tuns entdeckt, wird ihm die Summe seines Wirkens zur Summe der Welt.« (Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, 265). 30 Vgl. Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, ECW 17, 352. 28

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und Weltverständnis ausdrücken.31 Anthropomorph sind diese Elaborate, weil der Symbolgebrauch nach Cassirer den Menschen sowohl von den anderen Tieren unterscheidet, die Symbole nicht als Symbole verwenden können, als auch von Engeln, Teufel und Gott, die zur Welterkenntnis gar nicht erst des Umwegs über Symbole bedürfen.32 Der Mensch lebt dagegen in einem symbolischen Universum, in dem er es »statt mit den Dingen […] gleichsam ständig mit sich selbst zu tun« hat.33

c) Der Anthropomorphismus des animal symbolicum Der hermeneutische Anthropomorphismus geht in zweifacher Hinsicht über den schematischen hinaus. Erstens hat er nicht die Struktur einer Zuschreibung, sondern die der symbolischen Prägnanz. Zuschreibung bedeutet, daß einem Substrat Sinn von außen gleichsam »aufgepfropft« wird – geht der Sinn vom Menschen auf ein nichtmenschliches Substrat über, dann erzeugt er Anthropomorphismen. Cassirer beschreibt die symbolische Formung aber nicht als eine solche Sinngebung des Sinnlosen, sondern als einen Prozeß, in dem die »Inkarnation des Sinnes« unhintergehbar ist.34 Genau diese Unhintergehbarkeit des Symbolischen führt zu dem zweiten Punkt, durch den sich der hermeneutische Anthropomorphismus vom schematischen unterscheidet. Die symbolischen Formen sind Anschau-

Zu den Termini ›Hermeneutik‹ und ›hermeneutisch‹ bei Cassirer vgl. Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 9, 123. 32 Zum Anthropomorphismus in der Biologie äußert sich Cassirer 1937 mit Skepsis. Mit Blick auf Fechners Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanze (41908) schreibt er: »Und zugleich wird auf diesem Wege einem schrankenlosen Anthropomorphismus Tür und Tor geöffnet: menschliche Maße und Normen werden unmittelbar in das Naturgeschehen hineingetragen. Aber es gibt ein Gebiet, in welchem der Anthropomorphismus, der freilich jedem Ausdrucksphaenomen als solchem anhaftet, aufhört, ein Mangel und eine Gefahr zu sein und in welchem er statt dessen zu einer positiven Kraft und einem positiven Wert der Erkenntnis wird. Wo es sich um die Deutung der spezifisch-menschlichen Welt und ihrer Leistungen handelt, da hat er sein Recht und seine innere Notwendigkeit. […] Der Behaviourismus bleibt daher, auch wenn man ihn als Dogma ablehnt, stets eine wichtige und eine berechtigte methodische Warnung. Aber es giebt eine Grenze, an der diese Warnung ihre Kraft und ihren Sinn verliert, an der der Einspruch des Behaviouristen hinfällig wird. Sie ist dort erreicht, wo das reine Ausdruckserlebnis nicht mehr auf sich allein steht, sondern in ein Anderes und Neues, in das Bedeutungserlebnis übergeht. In der Beurteilung der Einzelerscheinungen, z. B. der sogen[annten] ›Intelligenzleistungen‹ der höheren Tiere[,] mag diese Grenze oft als flüssig und als strittig erscheinen. Aber sicher ist, daß sie besteht und daß sie einmal überschritten wird – und erst wenn dieser Schritt getan ist, giebt es eine echte, objektive Gewissheit des ›Fremdpsychischen‹.« (Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff., (ECN) Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, 145.) 33 Cassirer: Versuch über den Menschen, 50. 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 105. 31

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ungs-, Begriffs- und Lebensformen, innerhalb derer sich der Mensch orientieren kann. Ohne den Menschen würde es zwar diese Sinndimensionen nicht geben, allerdings gewinnt auch der Mensch jede Anschauung und jeden Begriff von sich selbst nur unter der Voraussetzung einer kulturellen Lebensform, in der er ebenfalls den Charakter eines Symbols annimmt, das es zu verstehen gilt. Der Mensch ist daher in doppelter Bedeutung animal symbolicum: Einerseits ist er das symbolgebrauchende Wesen. Auf der anderen Seite tritt der Mensch in diesem universum symbolicum selbst auf. Cassirer weist immer wieder darauf hin, daß Weltbildung und Menschenbildung miteinander einhergehen. Zu dem Anthropomorphismus der Objekte gesellt sich somit auch ein Anthropomorphismus des Subjekts. Mit einem Wort Heideggers könnte man hier von ›Reluzenz‹ sprechen: Der Anthropomorphismus geht nicht bloß vom Menschen aus, er fällt auch auf ihn zurück – er wirft auf seinen Urheber einen Widerschein. Das Paradigma ›Mensch‹ ist nämlich seinerseits keine feste, vorgegebene Größe, sondern ein Begriff, der immer auch schon entworfen ist. Daher begegnet sich der Mensch in der Morphe eines jeweiligen Selbstverständnisses, das sich in einem historisch und kulturell wandlungsfähigen Menschenbild artikuliert. Ernst Wolfgang Orth hat für diesen Zusammenhang die Formel »Anthropomorphismus gegen den Anthropomorphismus« gefunden, womit er deutlich macht, daß der Mensch als »Quelle des Bildens« nicht »selbst auf ein Bild festgelegt« werden darf.35 Der psychologische Anthropomorphismus vollzieht insofern nicht bloß eine Vermenschlichung des Seienden, sondern – wieder mit einer Formulierung Heideggers – eine »Vermenschung des Menschen«,36 das heißt seine Vergegenständlichung zu einem empirischen Objekt mit spezifischen Eigenschaften, die es auf andere Objekte überträgt. Cassirer behandelt die anthropomorphe Gestalt der Kultur nicht als ein Kausal-, sondern als ein Sinnproblem: »Die ›Ursprungsprobleme‹«, so lesen wir in einem Nachlaßmanuskript aus den dreißiger Jahren, bilden »keine empirisch-mögliche und empirisch-sinnvolle Frage – sie müssen durch Sinnprobleme (Strukturprobleme/Formprobleme) ersetzt werden.«37 Cassirers hermeneutischer Anthropomorphismus ist deshalb antikonstruktivistisch. Gegen ein ›Vico-Axiom‹ der Kulturphilosophie, nach dem der Mensch die Kultur mache, sagt er über das mögliche »›Subjekt‹ der Kultur« in seiner Vorlesung Grundprobleme der Kulturphilosophie, die er im Sommersemester 1929 in Hamburg gehalten hat: »wir finden dieses ›Subjekt‹

35

Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 8; vgl. auch 216 f.; 238; 300;

347. Martin Heidegger: »Besinnung«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 66, hg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1997, 154. 37 Ernst Cassirer: »Form«, in: ECN 3, 234. 36

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nicht, solange wir die Fragestellung rein in der Ebene der ›kausalen‹ Erklärung erhalten – Denn weder der ›Mensch‹ als empirisches Wesen, als die Gattung des ›homo sapiens‹ ist der ›Schöpfer‹ der Kultur[,] noch sind es etwa die einzelnen ›Volksgeister‹ – sondern es ist eher umgekehrt zu sagen: daß erst die Kultur der Schöpfer des ›Menschen‹, wie der Schöpfer des ›Volkes‹ ist[.] (Das spezifische Ich-Bewusstsein entwickelt sich eben erst kraft der Sprache, kraft des Mythos, kraft der Religion usf.[).] […] Auch an diesem Punkte gilt es daher eine prinzipielle Drehung, eine ›Revol[ution] der Denkart‹ zu vollziehen!«38

IV) Zeugenschaft Die »Revolution der Denkart«, die Cassirer im Denken über die Kultur und mit ihr auch über den Menschen, der sich nur »in terms of human culture« definieren läßt,39 anmahnt, macht jene Selbstduplikation rückgängig, von der Foucault gesprochen hatte. Jede Dublette setzt ein Original voraus. Für den Menschen gibt es jedoch keine Blaupause. Dafür kann uns der Hinweis auf Linnés ursprüngliche Wortwahl als Emblem dienen – der Mensch muß sich seine Form erst selbst geben. Er ist in diesem Sinne selbst anthropomorph. Damit kann dann aber auch von einer narzißtischen Widerspiegelung des Subjekts in seinen Objekten keine Rede mehr sein. Vor allem deshalb nicht, weil die Unterscheidung von Subjekt und Objekt keine ontische, sondern eine symbolische Relation ist, deren erstes »Vorbild und Musterbild« das menschliche »Verhältnis von Seele und Leib« darstellt.40 Und eine symbolische Relation läßt sich nach Cassirer »weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken«.41 Genau dadurch zeichnet sich sein hermeneutischer Anthropomorphismus aus: Er beruht weder auf einer empirischen, noch auf einer transzendentalen Dingoder Kausalbeziehung. Darin, daß er nicht Seelenzustände des empirisch bestimmten Menschensubjekts auf die Dinge überträgt, unterscheidet er sich vom psychologischen Anthropomorphismus. Darin, daß er keinen einseitigen Fundierungszusammenhang zwischen der ›menschlichen Vernunft überhaupt‹ und den Erfahrungsgegenständen herstellt, unterscheidet er sich vom schematischen Anthropomorphismus. Und darin, daß er nicht nur das Unbekannte gemäß einer Analogie zu denken versucht, sondern bereits

38

Ernst Cassirer: »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5, 28. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 71–79. 40 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 113. – Vgl. dazu auch Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 347 ff. 41 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 113. 39

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im Bekannten die Selbstbegegnung entdeckt, geht er über den symbolischen Anthropomorphismus hinaus. Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus ist ein Aufruf zur Bescheidenheit. Der Mensch steht den Gegenständen nicht gegenüber, er ist mit ihnen verstrickt. Er ist kein unbeteiligter Zuschauer, sondern ein teilnehmender Beobachter. Sein Verhältnis zu den Dingen ist keineswegs primär das einer Erzeugung, sondern das eines mehr oder weniger authentischen Bezeugens. Er spielt nicht die Rolle eines Schöpfers der Kultur, sondern nur die ihres Kronzeugen.

Literaturverzeichnis Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/M. 2003 Richard Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Berlin 21903 Ralf Becker: »Anthropomorphismus (I)«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 49, 2007, 69–98 Ralf Becker: Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt/M. 2011 Ferdinand Canning Scott Schiller: Humanism. Philosophical Essays, London 21912 Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 1 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – »Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9 – »Goethe und die mathematische Physik« (1921), in: ECW 9 – Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16 – »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925), in: ECW 16

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Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie

– »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis – »Form«, in: ECN 3 – »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1939), in: ECN 5 – »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985 – Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1966 Martin Heidegger: »Besinnung«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 66, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1997 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß (1929–1935), in: ders.: Husserliana, Bd. 15, hg. von Iso Kern, Den Haag 1973 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III, Berlin 1911 – Kritik der Urtheilskraft, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. u. eingel. von Alfred Schmidt, 2 Bände, Bd. 2, Frankfurt/M. 1974 Carl von Linné: »Vom Thiermenschen«, in: ders.: Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Leipzig 1776 – »Anthropomorpha, quae, praeside D.D. Car. Linnaeo, proposuit Christianus Emmanuel Hoppius, Petropolitanus. Upsaliae 1760. Septemb. 6«, in: ders.: Amoenitates academicae, seu dissertationes variae, physicae, medicae, botanicae, Bd. 6, Leiden 1764 – Menniskans cousiner, Uppsala u. a. 1955 Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2004 Max Planck: »Die Einheit des physikalischen Weltbildes« (1908), in: ders.: Physikalische Rundblicke. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1922

Vierter Teil Die Vielfalt der symbolischen Formen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Recht

Esther Oluffa Pedersen

Cassirers Philosophie des Mythos – eine Erweiterung der Sphäre der kritischen Philosophie

Das Ziel dieser Auseinandersetzung mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen liegt darin, zu zeigen, wie Cassirer mit der Einbeziehung des Mythos in die philosophische Untersuchung ein Denken über Kant veranlaßt, um über die festen Grenzen der ursprünglichen Kantischen Philosophie hinauszugelangen. Dabei wird das präzisere Problemfeld deutlich, das Cassirer aus der Kantischen Philosophie aufgreift und warum er sich in die Traditionslinie – ausgehend von Kant – einreiht. Ich interessiere mich folglich für die präzise Verbindung zwischen den Philosophien Cassirers und Kants. Für eine solche Untersuchung bildet die Mythosphilosophie Cassirers ein wichtiges Kriterium zur Nachprüfung, ob und wie die Philosophie der symbolischen Formen als eine Variante der Kantischen Philosophie verstanden werden kann oder soll. Wie Cassirer betont, wird der Mythos meist als eine subjektive Illusion1 ohne philosophische Bedeutung herabgesetzt, und wir dürfen annehmen, daß Kant auch dieser Meinung gewesen ist. Cassirers Einbeziehung vom Mythos in das Projekt der Philosophie der symbolischen Formen stellt eine offensichtliche Ausdehnung des Ansatzes der kritischen Philosophie sowohl in seiner ursprünglichen Kantischen als auch in seiner Neukantischen Gestalt dar. Der Leitgedanke ist folglich, es könne eine wertvolle Bestimmung der Cassirerschen Berufung auf die Kantische Philosophie in der Philosophie der symbolischen Formen ausgearbeitet werden, wenn Cassirers Einbeziehung des Mythos innerhalb derselben als Prüfstein für seine Kant-Interpretation verstanden wird. Auskunft über die Kantischen Wurzeln der Cassirerschen Kulturphilosophie wird auf zwei Ebenen gesucht und gegeben. Zuerst wird eine abstrakte Ebene, die den meta-philosophischen Ausgangspunkt Cassirers charakterisiert, formuliert, um von dort aus auf die konkrete Ebene der Cassirerschen Mythosphilosophie einzugehen. Die Beziehung zwischen dem meta-philosophischen Ausgangspunkt Cassirers und der konkreten Analyse des Mythos als einer symbolischen Form bietet meines Erachtens einen entscheidenden Einblick in das Ver-

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki Hamburg, 1997 ff. (ECW), Bd. 12, X. 1

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

hältnis des Denkens Cassirers zur Kantischen Philosophie. Das heißt, eine Erläuterung der Rolle der Mythosphilosophie könnte die Diskussion über die Bedeutung der Philosophie Kants für die Philosophie der symbolischen Formen erweitern.

I) Die meta-philosophische Position In der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, die den ersten und offiziellen Eingang in Cassirers Kulturphilosophie ausmacht, stellt Cassirer die Philosophie und die Philosophen vor die Entscheidung, »ob wir das Substantielle des Geistes in seiner reinen Ursprünglichkeit, die allen mittelbaren Gestaltungen vorausliegt, suchen – oder ob wir uns der Fülle und Vielfältigkeit ebendieser Vermittlungen hingeben wollen«.2 Es sind die Alternativen der reinen Intuition gegenüber dem symbolischen Denken. In der Terminologie der klassischen Metaphysik stehen wir vor dem Gegensatz zwischen den Fähigkeiten des »intellectus archetypus« und denen des »intellectus ectypus«. Die Entscheidung enthüllt sich als eine radikale Wahl der Perspektive, nämlich die Wahl, ob eine außerweltliche, unendliche und göttliche Perspektive oder eine innerweltliche, endliche und schiere menschliche Perspektive den Maßstab der philosophischen Erkenntnis ausmachen soll. Für Cassirer und die Philosophie der symbolischen Formen stellt das reine Schauen der ursprünglichen Einheit der Welt und des Geistes keine Alternative dar. Der Philosophie steht ausschließlich das diskursiv-symbolische Denken zur Verfügung, weshalb »das Paradies der reinen Unmittelbarkeit«3 verschlossen bleiben muß. Die philosophische Tätigkeit als eine Tätigkeit der Menschen wird nie imstande sein, den Schleier »des bloßen Bedeutens und Bezeichnens [aufzuheben, um] wieder in die ursprüngliche [Sphäre] des intuitiven Schauens zurückzudringen«. Weder eine Nachahmung der göttlichen Perspektive noch eine Suche nach einer substanziellen Einheit hinter der Fülle und Vielfältigkeit der Formen der Wirklichkeit dürfen den Anfangspunkt der philosophischen Untersuchung darstellen. Im Gegenteil: Für die Philosophie bleibt »kein anderer Ausweg, als die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden«. Ziel der Philosophie wird es sein, die Kultur, wie sie sich in der stetigen Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen erweist, »in ihrem gestaltenden

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 47. 3 A. a. O., 49. 2

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Grundprinzip zu verstehen und bewußt zu machen«.4 Die Philosophie bekommt zur Aufgabe, die Grundzüge der Gestaltungen der geistigen Wirklichkeit in ihrer Fülle und Vielfältigkeit sichtbar zu machen.

II) Cassirers Affirmation des Kantischen Ausgangspunktes Genau diese Grundannahme, die Kultur könne nicht als »die ruhende Betrachtung eines Seienden« begriffen werden, sondern um sie zu fassen, müssen wir uns inmitten ihre Aktivität selbst versetzen, um den »Funktionen und Energien des Bildens« nachzugehen, stellt einen entscheidenden Kern des Kantischen Erbe Cassirers dar. Die Entscheidung zwischen dem Ideal des intuitiven Schauens und dem Ideal des diskursiven Denkens schließt die meta-philosophische Entscheidung zwischen einem transzendentalen Realismus und einem transzendentalen Idealismus ein, indem sie auf die Überschneidung der Grundfragen der Ontologie und der Epistemologie hinweist.5 Es bleibt die Frage, ob die wahre Erkenntnis eines Objekts zugleich eine unmittelbare und abseits aller Mitwirkung des begrifflichen Denkens erworbene Erkenntnis bedeutet. Der transzendentale Realismus hat sich zu einer bejahenden Antwort verpflichtet. Die vielen Varianten dieser Affirmation der außerbegrifflichen Übereinstimmung zwischen Objekt und Denken reichen von der rationalistischen Behauptung der klaren und distinkten Ideen, die unvermittelt geschaut werden, über den empiristischen Skeptizismus gegenüber dem Vermögen der menschlichen Erkenntniskräfte bis an die Phänomenologie Husserls und die vielen Varianten der Lebensphilosophien bei Klages, Bergson, Scheler, Heidegger und Simmel, die sich bestreben, die reine Unmittelbarkeit des Lebens greifbar zu machen. 6 Was sie vereinigt, ist die Setzung des Maßstabs für (wahre) Erkenntnis außerhalb der menschlichen Erkenntnistätigkeit. Das Maß ist die Welt, angeschaut sub specie aeternitatis. Im Gegensatz hierzu nimmt der transzendentale Idealismus einen anthropologischen Ausgangspunkt und behauptet folglich ein menschliches Maß der Erkenntnis. Es gibt weder ein reines Schauen noch einen Weg

4

Ebd. Ebd. 6 Die vielen Auseinandersetzungen Cassirers mit der Lebensphilosophie seiner Zeit erhalten meines Erachtens einen theoretischen Rahmen, indem sie als Variante der Auseinandersetzung zwischen transzendentalen Realisten und transzendentalen Idealisten erkannt werden. Siehe besonders den Aufsatz Ernst Cassirer: »›Geist und Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17, wo Cassirer die Reflexion Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist als Illustration des diskursiv-symbolischen Denkens und des sich immer vorwärts ziehenden Weltbezuges einsetzt, hinter denen wir nur Verarmung eben des Weltbezuges finden. 5

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hin zu dem Objekt oder dem Leben an sich. Von der Seite des Bewußtseins her formuliert Cassirer diese Einsicht folgendermaßen: »Damit ist ausgesprochen, daß es ein isoliertes ›bloß sinnliches‹ Bewußtsein, d. h. ein Bewußtsein, das sich ganz außerhalb der Bestimmung durch alle theoretischen Bedeutungsfunktionen hielte und das als selbständiges Datum ihnen allen voraufginge, nicht geben kann.«7 Damit ist auch für das Objekt die Möglichkeit einer unvermittelten Hinnahme seiner Beschaffenheit ausgeschlossen: »Wir finden niemals die ›nackte‹ Empfindung, als materia nuda, zu der dann irgendeine Formgebung hinzutritt – sondern was uns faßbar und zugänglich ist, ist immer nur die konkrete Bestimmtheit, die lebendige Vielgestalt einer Wahrnehmungswelt, die von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist.« 8 Cassirers philosophische Arbeit wird von Anfang bis Ende durch die meta-philosophische Annahme des transzendentalen Idealismus bestimmt, und in diesem Sinne ist und bleibt Cassirer Kantianer. Es ist Kant, der »den Gegensatz zwischen [einerseits] dem intuitiven [und] urbildlichen [Verstand] und anderseits dem diskursiven [und] ›der Bilder bedürftigen‹ Verstand (…) in höchster prinzipieller Schärfe herausgearbeitet« 9 hat. Die Zäsur zwischen transzendentalem Realismus und transzendentalem Idealismus, die Kant in seiner kritischen Philosophie entworfen hat, wird in der Cassirerschen Begriffswelt mit den Termen des Substanzbegriffs gegenüber dem Funktionsbegriff bezeichnet. Mittels dieser Begriffe schließt sich Cassirer der originären Kantischen Formulierung des transzendentalen Idealismus unbeirrt an. In der Einleitung zur Philosophie der symbolischen Formen I bietet er eine Formulierung des Grundprinzips der Erkenntnis, die in den Denkkategorien der anfänglichen Kantischen Unterscheidung zwischen Anschauung und Verstand artikuliert ist. Dort heißt es, »daß sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, [und] das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt«.10 Es sind wir Menschen, die das Besondere anschauen und somit »ein sinnliches Substrat«11 erschaffen, das wiederum als Beispiel des Allgemeinen gedacht und erkannt wird. Erst diese schöpferische Wirklichkeitserkenntnis, die überhaupt eine Welt, eine Wirklichkeit vor uns hervortreten läßt, begründet einen schlüssigen Ausgangspunkt für die Philosophie. Statt nach einer form- und begrifflosen Einheit hinter der Fülle der kulturellen Formen

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 10. 8 A. a. O., 16. 9 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 48. 10 A. a. O., 16 (Hervorhebung EOP). 11 Ebd. 7

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zu suchen, soll die Philosophie die sich entwickelnden Formungsprozesse und Formungsprinzipien der Kultur erforschen. Gestellt vor die meta-philosophische Wahl zwischen den vielen Varianten des transzendentalen Realismus und dem Kantischen Prinzip des transzendentalen Idealismus besteht Cassirer auf der Einsicht Kants. Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen wird sie wie folgt artikuliert: »Einen ›Gegenstand‹ erkennen heißt nichts anderes, als das Mannigfaltige der Anschauung einer Regel zu unterwerfen, die es in Bezug auf seine Ordnung bestimmt. Das Bewußtsein einer solchen Regel aber und der Einheit, die durch sie gesetzt ist: dies und nichts anderes ist der Begriff.«12

III) Cassirers Korrektur an der Kantischen Philosophie Die meta-philosophische Affirmation des transzendentalen Idealismus schließt eine subjektive Wendung in der Philosophie ein: Von dort ausgehend wird betont, daß ausschließlich innerhalb der Art und Weise des menschlichen Erkennens ein Maß der Erkenntnis gesucht werden kann. Es gibt keine außerweltliche Norm, weil eine jede Wirklichkeitserkenntnis immer wieder auf einen menschlichen Gesichtspunkt und eine menschliche Art der Beziehung aufbaut.13 Die brisanten Fragen sind demzufolge, was Cassirer als zum Erkennen eines Gegenstands gelten läßt und wie er eine Regel der Beziehung des Besonderen zum Allgemeinen erfaßt. Zum philosophischen Begreifen der Kultur und »all d[em], was sie in ihrem ständig weiterschreitenden Prozeß der Gestaltung und ›Bildung‹ erschafft«14 , benötigt Cassirer eine Neuformulierung gegenüber der Kantischen Theorie der Erkenntnis. Für eine »Kritik der Kultur«15 , die tiefer und weiter als zu einer Kritik der Vernunft gelangen will, erweist sich die Kantische Erkenntnistheorie und ihre Terminologie als unzureichend. In der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen weist Cassirer darauf hin, daß die Kantische Erkenntnistheorie auf Vor-

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 362. Cassirer akzentuiert genau diesen Punkt besonders deutlich im Abschnitt Begriff und Gesetz in der Philosophie der symbolischen Formen, Teil III, indem er unterschiedliche vorwissenschaftliche Begriffe miteinander und mit wissenschaftlichen Begriffen vergleicht. Ein jeder Begriff stellt Cassirer zufolge eine Art des »Messens« dar, die eine Grundregel der beziehentlichen Denkform ausmacht: »Jede Funktion der ›Darstellung‹ schließt einen Akt der Identifizierung und einen solchen der Unterscheidung in sich – und zwar muß beides nicht als ein bloßes Nacheinander, sondern als echtes Ineinander gedacht, muß die Identitätssetzung in der Unterscheidung, die Unterscheidung in der Identitätssetzung vollzogen werden.« (A. a. O., 361). 14 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 48. 15 Siehe a. a. O., 9. 12 13

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aussetzungen fußt, die »ein Werk der Abstraktion, der logischen Schätzung und Bewertung«16 ausmachen. Kants Variante des transzendentalen Idealismus könne nicht die mannigfaltigen geistigen Wirklichkeiten, die wir erschaffen haben, philosophisch faßbar machen. In diesem Sinne können wir das Projekt der Philosophie der symbolischen Formen als eine Korrektur an der Kantischen Philosophie erkennen. Eine nähere Begründung läßt sich durch eine Analyse der Cassirerschen Philosophie des Mythos aufzeigen.

IV) Der Mythos und die Kantische Philosophie Es ist entscheidend zu bemerken, mit welcher Frage sich Cassirer der »Philosophie der Mythologie«17 nähert. Cassirer fragt nach der »immanenten Strukturgesetzlichkeit« des Mythos oder der besonderen Sichtweise, von welcher aus der Mythos »als eine selbständige, in sich geschlossene ›Welt‹ [hervortritt], die nicht an fremden, von außen herangebrachten Wert- und Wirklichkeitsmaßstäben gemessen werden darf«.18 Diese Fragestellung entleiht er von Schelling, der an erster Stelle den Mythos in seinem einheitlichen Gestaltungsprinzip erforscht hat.19 Dem Gestaltungsprinzip oder der Modalität des Mythos wird von Schelling mittels einer tautegorischen Methode nachgeforscht. Demgemäß werden die Mythologien der Völker nicht verstanden, wenn sie als fantastische Allegorien für wirkliche Ereignisse, philosophische Einsichten oder naive Versuche einer Kausalerklärung interpretiert werden. Schelling betont: »Die mythologischen Vorstellungen, die mit den Völkern selbst entstehen, ihr erstes Dasein bestimmen, mußten

16

A. a. O., 38. »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« ist der Titel eines Aufsatzes Cassirers aus einer Festschrift für Paul Natorp, erschienen 1924; siehe Ernst Cassirer: »Zur ,Philosophie der Mythologie‹« (1924), in: ECW 16. Dieser Aufsatz ist wortwörtlich mit der Einleitung zur Philosophie der symbolischen Formen, Teil II, identisch; vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12. 18 A. a. O., 4. 19 Eine vertiefende Untersuchung vom Verhältnis zwischen Cassirer und Schelling bezüglich ihrer Auffassungen vom Mythos stellt ein aufschlußreiches Untersuchungsobjekt dar, das in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden kann. Die Untersuchung müßte besonders das geschichtliche Modell der Entwicklung des Mythos und der Religion Schellings, wo ein ursprünglicher Urmonotheismus in den Polytheismus umschlägt, um letztendlich in die wahre Erscheinung Gottes im Monotheismus des Christentums zu münden, beachten. Sowohl Cassirers Analyse von der Entstehung des Ichs durch die Entwicklung des Mythos (siehe z. B. a. a. O., 262) als auch seine Anlehnung an das Modell Hermann Useners, wo der eine Augenblicksgott von den vielen Sondergöttern ersetzt wird, um endlich die entwickelte Form des persönlichen Gottes zu erreichen, scheinen weitgehend eine Übernahme vom Schelling‹schen Schema zu sein (siehe z. B. a. a. O., 198). 17

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als Wahrheit, und zwar als ganze, volle Wahrheit, demnach als Götterlehre, auch gemeint sein, und wir haben zu erklären, wie sie in diesem Sinne entstehen konnten.«20 Für Cassirer stellt Schellings Beharren auf die Autarkie und eigene Wahrheit des Mythos den Kern der tautegorischen Methode dar. Jedoch indem sich Schelling die Suche nach dieser Autarkie und Wahrheit des Mythos als eine religiös-metaphysische Frage des Absoluten stellt, sieht Cassirer sich genötigt, einen neuen philosophischen Grund zu erschließen.21 Cassirers Ansatzpunkt ist das Faktum der mythisch-religiösen Lebensform und von dort aus soll sich eine funktionelle Analyse, »eine bloße Analytik« entfalten, die charakteristische Züge der mythischreligiösen Erfahrung darlegt. Seine Aufgabe besteht folglich darin, »die Frage [Schellings] … als solche festzuhalten, sie aber zugleich vom Boden der Philosophie des Absoluten auf den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen«.22 Erst auf Grund einer kritisch-philosophischen Frage läßt der Bereich des Mythos sich für die philosophische Analyse der Kultur eröffnen, die die unterschiedlichen symbolischen Formen – und so auch den Mythos – als Blickrichtungen der einen Kultur erklärt. Auf der Stelle, so betont Cassirer, »scheint es freilich paradox, auch nur eine derartige Frage aufzuwerfen. Denn die transzendentale Problemstellung Kants bezieht sich ausdrücklich auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung.«23 Die vielen verschlungenen Erzählungen des Mythos von göttlichen und dämonischen Mächten scheinen auf keinen Fall die Ansprüche auf Objektivität und Regelmäßigkeit, die in Kants Kritik der reinen Vernunft dem Erfahrungsbegriff gegenübergestellt werden, erfüllen zu können. Die Grundannahme des Mythos, die Unterstellung des göttlichen oder dämonischen Einflusses auf die Geschehnisse der Welt, läuft quer gegen Kants Behauptung, daß ausschließlich die sinnliche Wahrnehmung die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ausmacht. Obwohl auch Cassirer nicht die Unterstellung des übermenschlichen Eingreifens des Mythos gutheißen kann, besteht er darauf, daß der Mythos einem inneren Formprinzip gehorcht. Wonach Cassirer sucht, wenn er innerhalb des Mythos nach »ein[em] rein ›transzendentale[n]‹ Problem, das als sol-

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: ders.: Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, Bd. 6, München 1965, 68. 21 Cassirers »kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins« wird »weder von der Gottheit als einer metaphysischen noch von der Menschheit als einer empirischen Urtatsache ausgehen können, sondern sie wird das Subjekt des Kulturprozesses, sie wird den ›Geist‹ lediglich in seiner Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 16). 22 A. a. O., 12. 23 Ebd. – siehe auch a. a. O., IX für eine ähnliche Formulierung. 20

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

ches einer kritisch-transzendentalen Lösung fähig ist«24 , fahndet, ist eben die »›Form‹ des mythischen Bewußtseins, [die sich in] einer Einheit des geistigen Prinzips […], von dem all seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle sich zuletzt beherrscht zeigen«. 25 Die Fahndung nach einer transzendentalphilosophischen Sicht auf die anscheinend regellose und chaotische Welt des Mythos entspricht einem deutlichen Bruch mit den Ergebnissen Kants. Cassirer tritt in den Gegensatz zu den erzeugten philosophischen Lösungen Kants, dadurch daß er die Vollständigkeit und die Bedeutung des Kantischen Begriffes der Erfahrung in Frage stellt. Cassirers Dissens zur Kantischen Philosophie betrifft nicht den meta-philosophischen Rahmen des transzendentalen Idealismus. Diesen hebt er hervor als die einzige Methode, die die philosophische Untersuchung des Mythos zwischen der Charybdis der Hypostasierung eines ursprünglichen und einheitlichen Absoluten und der Skylla der empiristischen Psychologie wird steuern können. 26 Letztlich stellt die Philosophie der symbolischen Formen eine Erweiterung und Vertiefung des transzendentalen Idealismus dar, weil sie der Enge des Kantischen Erfahrungsbegriffs aus der Kritik der reinen Vernunft die Vielfalt der Erfahrungen in den symbolischen Formen entgegenhält. Cassirer versteht dementsprechend die eigene Mythosphilosophie als eine Erweiterung und Komplimentierung der Kantischen Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung. Dabei versteht er aber auch die Philosophie der symbolischen Formen im Allgemeinen als eine Fortentwicklung der transzendentalphilosophischen Art des Fragens.

V) Spuren des transzendentalen Realismus im Kantischen Erfahrungsbegriff Cassirers Kritik an den philosophischen Lösungen Kants zielt auf die Abstraktion, die sich in dem Kantischen Begriff der Erfahrung verbirgt. Eine Philosophie wie die Kantische Kritik der reinen Vernunft, die als Anfangspunkt das Faktum der Wissenschaften hat, wird vor die Wahl gestellt, entweder alle Formen des menschlichen Tuns, die nicht die Ansprüche der

24

A. a. O., 12. A. a. O., 14. 26 A. a. O., X. – Siehe auch Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 5 f. – Dort entfaltet Cassirer die eigene Fragestellung zum Mythos durch eine Gegenüberstellung zur Metaphysik und zum Empirismus des Mythos. Diese Dreiteilung wird mit den Kantischen Begriffen der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität aus dem Anhang zur transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft erläutert; vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III, B 685 ff. 25

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Objektivität der Wissenschaften einlösen können, als subjektive Illusionen herabzusetzen oder genau diesen Ansatz von Grund auf umzugestalten.27 Die Philosophie der symbolischen Formen stellt einen ambitiösen Versuch dar, das Verhältnis zwischen den wissenschaftlichen und den vor- und außerwissenschaftlichen Formen der Welt- und Wirklichkeitsbezüge in einem neuen Verhältnis zu begreifen. Sie beinhaltet, die doppelte Ambition zu zeigen, wie sich die wissenschaftlichen Begriffe aus vorwissenschaftlichen Vorstellungen entwickelt haben, aber auch, wie schon in den frühesten vorwissenschaftlichen Vorstellungen – z. B. den mythischen Vorstellungen –, eine besondere Art der »Gestaltung zur Welt«28 vonstatten geht. Aus dieser Perspektive erkennt und betont Cassirer eine eigentümliche Ambiguität in der Kantischen Philosophie. Denn bezeichnet Kant mit seinem Erfahrungsbegriff aus der Kritik der reinen Vernunft die allgemeine und alltägliche Art der Erfahrung eines jeden Menschen oder die theoretische Rekonstruktion der Erfahrung in der mathematisch-physischen Wissenschaft? In der Optik der Cassirerschen Philosophie enthüllt sich Kants Erfahrungsbegriff als eine Rekonstruktion des Begriffs der Erfahrung, wie wir ihn im Rahmen der Newtonischen Mechanik verstehen. 29 Kant hat eine »Grundrichtung der Betrachtung«30 der Natur philosophisch erfaßt. Jedoch, würden wir sie als die einzige nehmen, dann wären wir nicht besser als der naive Realismus, der »aus der Gesamtheit der möglichen Wirklichkeitsbegriffe einen einzelnen heraus[löst] und ihn als Norm und Urbild für alle übrigen auf[stellt]. So werden bestimmte notwendige Formgesichtspunkte, unter denen wir die Welt der Erscheinungen zu beurteilen, zu betrachten und zu verstehen suchen, zu Dingen, zum Sein schlechthin, umgeprägt.«31 Diese Kritik wiederholt und verschärft Cassirer in der Einleitung zur Philosophie der symbolischen Formen III, indem er nachweist, wie Kants Unterscheidung aus Prolegomena zwischen individuell-subjektiven Wahr-

Siehe Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 8. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9. 29 Im Buch Zur Einsteinschen Relativitätstheorie aus dem Jahr 1921 – also vor der Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen – betont Cassirer, wie sich mit der Entwicklung der Physik seit den Tagen Kants zugleich der Ansatz der kritischen Philosophie verändern und entfalten muß. Die Relativitätstheorie versteht er als ein neues Problem, »vor welchem auch die kritische Philosophie sich von neuem zu prüfen hat«. (Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10, 5). – Eine logische Folge dieser Auffassung ist, daß der Erfahrungsbegriff, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft beschrieben hatte, allein die Erfahrung, wie sie sich vom Gesichtspunkt der Newtonschen Physik darstellt, einschließt. 30 A. a. O., 113. 31 Ebd. 27 28

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nehmungsurteilen und allgemein-objektiven Erfahrungsurteilen32 ein Versagen innerhalb der kritischen Philosophie darstellt. Die Unterscheidung zwischen schlichten Wahrnehmungsurteilen, die ausschließlich einen subjektiven Erkenntniswert besitzen, und Erfahrungsurteilen, die die objektiv-gültige wissenschaftliche Erkenntnis darstellen, führt zur unhaltbaren Annahme von Teilen der Wahrnehmung, die keinen Platz innerhalb der Erfahrung haben. Indem die Wahrnehmungsurteile außerhalb der Einheitsschaffung der transzendentalen Apperzeption stehen, werden sie und damit der Empfindungsinhalt dieser Urteile aus dem Bereich des Erkennbaren ausgeschlossen. Dementsprechend sieht Cassirer die Berufung der Philosophie der symbolischen Formen in einer Berichtigung des Kantischen Begriffs der Erfahrung. Die naturwissenschaftliche Interpretation von der Kritik der reinen Vernunft hat zu »unlösbaren dialektischen Schwierigkeiten in der Geschichte der Kantischen Philosophie«33 geführt, indem der Umfang der Erfahrung auf die Bausteine der mathematischen Physik begrenzt wird. Erst die Besinnung auf die vielen Richtungen der Erfahrung, die das Wirrwarr der Wahrnehmungen in verschiedene Ordnungsgestaltungen auftreten lassen, begründet einen kritisch-philosophischen Ausgangspunkt, wo die transzendentale Einheit der Apperzeption »keineswegs ausschließlich auf die Logik des wissenschaftlichen Denkens bezogen […] [sei, sondern] die Bedingung, auch jeder möglichen Wahrnehmung‹ [beinhaltet]. […] So wahr die […] Wahrnehmung für ein Ich und Wahrnehmung von etwas sein will: so wahr muß sie an bestimmten theoretischen Geltungscharakteren teilhaben.«34 Es ist die Ambition der Philosophie der symbolischen Formen den Gegensatz zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen zugunsten der »›Mehrdimensionalität‹ der geistigen Welt«35 durch eine Auseinandersetzung mit der Enge des ursprünglichen Kantischen Erfahrungsbegriffs aufzuheben. Der vom Begriff des Wahrnehmungsurteils veranlaßte Ausschluß von großen Teilen der Wahrnehmung aus dem Bereich der Erfahrung und die daraus folgende Absonderung dieser zur bloßen Materie, eröffnet innerhalb Kants kritischer Philosophie eine Flanke, wo der transzendentale Realismus wieder seine Gültigkeit behauptet. Denn, wenn wir nach der Ursprung dieser subjektiven Wahrnehmungen fragen, so scheint es, daß er

Siehe Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademie Ausgabe, Bd. IV, 299. 33 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 8–22. 34 A. a. O., 10. 35 A. a. O., 15; 60. – Die Anführungszeichen um das Wort Mehrdimensionalität markieren, daß es sich nicht um eine ontologische Mehrdimensionalität handelt, sondern um eine Aufteilung der Richtungen der Aufmerksamkeit, die jede Dimensionen der Welterschließung erschaffen, erhellen und erhalten. 32

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»nicht anders begriffen werden [kann] als dadurch, daß er ins schlechthin Unerkennbare zurückgeschoben, daß er durch eine ›Affektion‹ des Gemüts durch die ›Dinge an sich‹ erklärt wird.«36 Dieser verhüllte Stoff der Empfindungen sollte dementsprechend den Anfangspunkt der Wahrnehmung ausmachen, obwohl er nie als solches hervortritt. Entgegen einer solchen Theorie betont Cassirer, die Synthesis zwischen Stoff und Form der Wahrnehmung als eine »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen … in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.«37 Eine Sonderung zwischen Stoff und Form kann nur als eine analytische Sonderung gewahrt werden, weshalb auch Formen der Wahrnehmung und Formen des Weltverstehens, die nicht mit den Kriterien für Objektivität aus dem Weltbegreifen der Wissenschaften übereinstimmen, Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins ausmachen. Es ist entscheidend zu bemerken, wie Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen zwischen Weltverstehen und Weltbegreifen unterscheidet. Wo das Weltbegreifen mit den (natur)wissenschaftlichen Begriffen der Objektivität und Realität übereinstimmt, ist die Aufgabe der Philosophie der symbolischen Formen, die »transzendentale Frage« in einem umfassenderen Sinne zu stellen, weshalb sie auch das außerwissenschaftliche Weltverstehen bezüglich seiner Formung und Objektivität untersucht. Es zeigt sich dabei, »daß das ›Verstehen‹ der Welt kein bloßes Aufnehmen, keine Wiederholung eines gegebenen Gefüges der Wirklichkeit ist, sondern daß es eine freie Aktivität des Geistes in sich schließt.«38 Entsprechend stellt die Analyse des Mythos ein bedeutungsvolles Beispiel einer Form der Wahrnehmung dar, die gegen alle Vorstellungen der Objektivität und Realität der Wissenschaften läuft, die aber dessen ungeachtet einem eigenen Strukturgesetz gehorcht. Gegen die Spuren eines transzendentalen Realismus, die auch innerhalb der Kritik der reinen Vernunft auftauchen, wenn Kants Begriff der Erfahrung in einem engen naturwissenschaftlichen Sinn verstanden wird, stellt Cassirer u. a. die Interpretation des Mythos auf, die das einheitliche Gestaltungsprinzip der mythischen Erfahrung demonstriert. Werden wir Cassirer zugeben, daß der Mythos eine eigene Erfahrungsform darstellt, haben wir folglich auch Cassirers Argument für die Erweiterung der »Kritik der Vernunft auf einer Kritik der Kultur« eine Bestätigung erteilt. In diesem Sinne stellt die Analyse des Mythos als symbolischer Form einen bedeutungsvollen Prüfstein dar, der nicht nur für den Mythosbegriff Relevanz besitzt, der

36 37 38

A. a. O., 8. A. a. O., 105. A. a. O., 14.

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

vielmehr die ganze theoretische Grundlage der Philosophie der symbolischen Formen als einer umfassenden Kulturphilosophie betrifft. Die Frage ist nachfolgend, wie Cassirer die kritisch-philosophische Fragestellung nach der Strukturgesetzlichkeit des Mythos und somit der Einheit der mythischen Erfahrung aufklärt.

VI) Die mythische Blickrichtung Die Untersuchung des Mythos leitet Cassirer mittels eines Prinzips ein, das erklärt, eine »Einheit des Sinnes« zu charakterisieren heißt in teleologischer Hinsicht eine Zielrichtung, die sich in allen Wirklichkeitsbezügen zeigt, festzustellen.39 Der teleologische Zusammenhang des Materials, der durch die Zielrichtung erzeugt worden ist, so betont Cassirer, »hat ein selbstgenügsames ›Sein‹ und einen autonomen Sinn, gleichviel ob wir die Art seiner Entstehung durchschauen und auf welche Weise wir sie uns denken«.40 In dieser Weise deutet Cassirer auf zwei Seiten des Verhältnisses zwischen dem theoretischen Beobachter und der Praxis, die untersucht wird, hin. Erstens ist es nicht der Fall, daß die Praxis, hier der Mythos, lediglich durch den Blick des Theoretikers entsteht. Auch ohne Cassirers Konzeption der symbolischen Form des Mythos würde sich die mythische Lebenswelt durch eine besondere teleologische Zielrichtung entfalten. Zweitens braucht die einheitsschaffende Blickrichtung aber auch nicht innerhalb der Praxis erkannt gewesen zu sein. Bezüglich des Mythos stehen die mythische Blickrichtung und ihre teleologische Ordnung durchaus nicht transparent vor den Menschen, die sich in einer mythischen Lebenswelt befinden. Das Gleiche gilt für die meisten symbolischen Formen. Für die Untersuchung des Mythos – freilich – bedeutet die theoretische Aufhellung der spezifischen mythischen Blickrichtung beifolgend eine Aufhellung der mythischen Praxis, die nicht notwendigerweise mit den Beschreibungen, die innerhalb einer mythischen Praxis geboten werden, übereinstimmt. Die mythische Blickrichtung setzt sich in der Praxis sozusagen hinter den Rücken der Ausübenden durch. Die allgemeinste und durchgehende Blickrichtung des Mythos ist Cassirer zufolge der Grundgegensatz zwischen Heiligem und Profanem.41 Einige Charakteristika dieses Grundgegensatzes sollen hier hervorgehoben werden. Erstens sind die Kategorien des Heiligen und des Profanen wesentlich emotionelle Kategorien, die einer jeden Erfahrung eine Valenz-

39 40 41

Siehe Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 25. Ebd. Siehe a. a. O., 87–97.

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zuschreibung zuteilen. Wenn Phänomene der Erfahrung als entweder heilig oder profan wahrgenommen werden, werden sie zugleich als entweder aufmerksamkeitsziehend, sei es als furchterregend oder als begütigend, gedeutet, womit sie der Kategorie des Heiligen zufallen, oder sie werden als gleichgültig und belanglos ausgelegt, womit sie in die Kategorie des Profanen eingeordnet werden.42 Die Ordnung, die aus der Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem hervorgeht, ist eine Ordnung der äußeren Phänomene durch die Gefühlserregungen der Subjekte. Der Mythos und die mythischen Kategorien nähren sich anfänglich von dem Ausdrucksleben der Menschen. Mit dem Grundgegensatz zwischen Heiligem und Profanem kann Cassirer auf ein Ordnungsprinzip der Erfahrung hinzeigen, das nicht vorzüglich ein intellektuelles Begreifen darstellt, sondern und vielmehr eine emotionale Einstellung gegenüber der Welt aufzeigt. Diese Einstellung gleicht dem intellektuellen Begreifen der Form nach. Denn auch die mythischen Kategorien des Heiligen und Profanen machen eine Synthesis des Besonderen mit dem Allgemeinen aus. Es ist die Modalität dieser Synthesis, die die mythischen und die wissenschaftlichen Kategorien voneinander unterscheidet. Stimmen wir hierin Cassirer zu, dann muß die Vorstellung der einen uniformen menschlichen Erfahrung zugunsten der Vielfalt der Formen der Erfahrungen kapitulieren. Hierbei ist jedoch immer noch nicht eine zureichende Beschreibung des mythischen Grundgegensatzes ausgearbeitet. Der Grundgegensatz zwischen Heiligem und Profanem ist allumfassend, er umfaßt und durchdringt »die Gesamtheit des Seins«.43 Alle Teile, Elemente, Personen, Phänomene und Sachen in einer mythischen Gesellschaft tragen die Zeichen des Heiligen oder des Profanen in sich. Zugleich sind sie aber auch selbst die Zeichen eben des Heiligen oder des Profanen. In dieser komplizierten Bindung des sozialen, natürlichen und geistigen Seins an den sozialen, natürlichen und geistigen Sinn erweisen sich zwei Charakteristika des Mythos. Erstens dürfen wir nicht die mythische Kategorisierung als einen Akt des abstrakten Gedankens verstehen. Im Gegenteil: »Wir müssen das, was am Mythos der theoretischen Vorstellungswelt angehört, was an ihm bloßer Bericht oder geglaubte Erzählung ist, als eine mittelbare Deutung desjenigen verstehen, was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist.«44 Die

42

Siehe a. a. O., 93. – Eine wichtige Quelle zu Cassirers Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem ist der Theologe Rudolf Otto. Cassirer legt Ottos religiös-dogmatisches Buch Das Heilige säkular und phänomenologisch aus. Für eine vertiefende Besprechung dieses Verhältnisses siehe Esther Oluffa Pedersen: »The Holy as an Epistemic Category and a Political Tool«, in: New German Critique, vol. 35/2, Cornell 2008, 104. 43 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 25. 44 A. a. O., 47.

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mythische Vorstellungswelt wird auf Grund des konkreten Tuns entfaltet. Die Kategorisierung hat eine konkrete Angebundenheit an den menschlichen Körper, an die Tätigkeiten der Menschen und an die existierenden natürlichen Umgebungen und die soziale Ordnung. Cassirer beschreibt diese konkrete Affinität zwischen dem praktischen Tun, den natürlichen und sozialen Umgebungen und der Kategorisierung z. B. durch den Aufbau eines Lagers bei den Zuñiindianern und den Römern. Beide Völker gestalten ihre Lager in einer Weise, wo der Grundplan des Lagers zugleich die Grundpläne der sozialen Ordnung und des natürlichen Seins nachzeichnet. Wird der Raum als siebengliedrig vorgestellt, wie es bei den Zuñis der Fall ist, dann beinhaltet der Lagerplan eine minutiöse Widerspieglung der Sozialen Ordnung in den Dimensionen des Raumes.45 Bemerkenswert im Vergleich zwischen den Zuñis und den Römern ist es, wie die Form des Aufbaus der mythischen Kategorisierung durch Einbeziehung von sozialen, natürlichen und geistigen Bedeutungselementen sich widerspiegelt in zwei Kulturen, die sonst wenige Ähnlichkeiten aufzeichnen. Die Kategorisierungsform bzw. die Strukturgesetzlichkeit des Mythos tritt als Orientierungsachse und Organisationsprinzip in kulturellen Zusammenhängen hervor, die wir aus einem oberflächlichen Sichtpunkt als inhomogene und unvergleichbare beteuern würden. Zweitens kommt den mythischen Kategorien die Eigenheit zu, daß überall, wo das mythische Denken eine Beziehung zwischen zwei Gliedern setzt, diese Beziehung als ein Verhältnis der Identität ausgelegt wird. Um bei dem Beispiel der Gestaltung des Lagers zu verweilen, soll diese Ordnung das Identitätsverhältnis zwischen dem besonderen Teil des Lagers, der Himmelsrichtung und der sozialen Gruppe stützen. Das klassische Beispiel stellen die Zuñis dar: »Die eigentümliche Form der ›Septuarchie‹, der Siebengliederung des Stammes der im Denken der Zuñi eine genaue Siebengliederung des Raumes und der Welt entspricht, tritt schon in ihrer äußeren Lebensweise deutlich hervor. Das Dorf, das sie bewohnen, ist in sieben Gebiete abgeteilt, die den sieben Raumgegenden entsprechen […] Durch diese Form der Einteilung ist […) das gesamte politische und religiöse Leben des Volkes völlig systematisiert. […] Auch in das Gebiet der unmittelbaren praktischen Betätigung setzt sich diese Grundauffassung fort: so haben z. B. die Zuñi […] beim Ackerbau die größte Sorgfalt darauf verwendet, die Farben ihrer Körner so zu entwickeln, daß diese mit den Farben der Hauptgegenden übereinstimmen.«46

45

Siehe a. a. O., 121. Ernst Cassirer: »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16, 27–28. 46

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Die Erschaffung von Identitätsverhältnissen zwischen dem sozialen, natürlichen und geistigen Sein bezeichnet Cassirer mit dem Begriff der Konkreszenz oder des Mythos konkretes Denken. Der Prozeß der Identitätsgründung des mythischen Denkens kann ganz nah nachgespürt werden, wenn wir uns der rituellen Darstellung zuwenden. Im mythischen Ritual ist der Tänzer, der einen Gott vorstellt, in diesem Augenblick der Gott.47 Es handelt sich dabei nicht »um die bloße Spiegelung, um eine analogische Abbildung eines äußeren Geschehens […], sondern [schlingen …] hier das menschliche Tun und das kosmische Werden sich unmittelbar ineinander«.48 Das Ritual bewirkt eine Intensivierung der affektiven Bedeutung der Szene, die die Verschmelzung von Darsteller und Dargestelltem durch Formung und Steigerung der Gefühle hervorruft. Die Teilnahme an das Ritual fordert die volle Hingabe zu den Geschehnissen sowohl emotionell als auch praktisch durch tanzen, singen und wirken. In diesem Sinne erweist die Konkreszenz des mythischen Denkens sich in der Verschlingung zwischen dem Gefühlsleben der Individuen, ihrem Tun und der physischen Umgebung. Der Aufbau einer mythischen Weltordnung, wie verschieden sie sich auch in unterschiedlichen mythisch-religiösen Systemen entfalten mag, zeigt eine konkrete Einheit auf, die eine Spiegelung des Inneren im Äußeren und umgekehrt entfaltet. Es gibt keinen Zufall, und nichts fällt aus der Ordnung heraus. Obwohl es innerhalb der gegebenen Ordnung keinen Platz für Zufall gibt, ist es auf eine Weise zufällig, wie diese Ordnung konkret aussieht, das heißt, welche Identitäten zwischen verschiedenen Beziehungen aufgestellt werden. Beispielsweise akzentuiert Cassirer, wie die Erde entweder als »Mutter« oder als »Vater« verehrt werden kann.49 Es kann somit nicht hauptsächlich eine substanzielle und von natürlichen Ähnlichkeiten getriebene Beziehung zwischen Erde und Mutter oder Erde und Vater bestehen, die die Identifikation zwischen den zwei Gliedern hervorruft. Im Gegenteil: Die Beziehung ist eine funktionelle, wo das Material des Sinnlichen es ermöglicht, daß sich die geistigen Grundfunktionen manifestieren können. 50 Es ist eine Bevorzugung in der spezifischen Kultur, die dazu

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 279. A. a. O., 223. – Im ersten Text zum Mythos beschreibt Cassirer dieses konkrete Denken mit dem Bild eines Kristalls, der die gleiche Struktur aufweist, egal wie klein oder groß das Stück ist, das davon erforscht wird. Siehe Cassirer: »Die Begriffsform im mythischen Denken«, ECW 16, 40. 49 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 223. 50 In der Einleitung zur Philosophie der symbolischen Formen Teil I, beschreibt Cassirer in abstrakter Weise genau diesen Punkt: Dort heißt es: »Denn es handelt sich nicht mehr [in der Philosophie der symbolischen Formen, EOP] um ein Voraufgehen oder Nachfolgen des ‹Sinnlichen‹ gegenüber dem ›Geistigen‹, sondern um die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 45.) 47 48

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führt, daß die Erde entweder als feminin oder als maskulin verehrt wird. Die Uitoto in Südamerika haben einen Kult für die Erde erschaffen, wo die Erde als Wohnort des Vaters verstanden wird. Bei ihnen bedeutet die Erde deshalb nicht die Basis eines Fruchtbarkeitskults, wie wir es aus unserem eigenen Kulturkreis kennen, sondern die tiefe Erde ist die Stelle, wo es eben keine Fruchtbarkeit gibt. Es ist folglich für die Cassirersche Mythosphilosophie von größtem Belang, daß eingesehen wird, daß die natürliche Welt keinen Schlüssel bietet, der die richtigen Identitätsbeziehungen hervorrufen kann, obwohl sie den Grund für alle Identitätsausbildungen ausmacht. Es gibt Cassirer zufolge kein fundamentum in re, das sich als das absolute und feste Grundmuster für unsere Kategorisierung der phänomenalen Welt darbietet. 51 Mit einem Begriff Bourdieus kann das konkrete Denken als ein feinmaschiges Erzeugungsschema für Homologien verstanden werden. 52 Die Erschaffung von Identitätsbeziehungen zwischen Sachen, Personen, Tätigkeiten, Hierarchien usw. innerhalb des Raumes legt eine Objektivierung eben dieser Beziehungen dar, womit sich die mythische Blickrichtung in jedem kleinen Element kundgibt und folglich eine Einheit der mythischen Erfahrung erschafft. Durch die konkrete sinnliche Verbindung zwischen der mythischen Kategorisierung, durch die Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem und der natürlich-sozialen Umgebung entsteht ein einheitlicher Welt- und Wirklichkeitsbezug.

VII) Cassirers Erweiterung der kritischen Philosophie – neu bedacht Gehen wir von Cassirers konkreten Analysen des Mythos als Lebensform aus, scheint es, als ob die Grundannahmen des Kantischen Begriffs der Erfahrung entwertet sind. Es gibt nichts innerhalb des Mythos, das als Beispiel eines synthetischen Satzes a priori dienen könnte. Vielmehr hat Cassirer ausdrücklich betont, wie die Erschaffung von Identitätsbeziehungen zwischen Ausdrücken und Phänomenen, zwischen Zeichen und Bezeichneten eine eigene Variabilität und Zufälligkeit besitzt. Innerhalb des Systems des Mythos können wir nicht auf notwendige Beziehungen hinzeigen, weil kein fundamentum in re für den theoretischen Blick nachweisbar ist. Das System des Mythos, d. h. die Kategorisierung der Welt aus dem Grundgegensatz

Siehe Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 228; auch ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 413 und 486 sind erhellend für Cassirers Auseinandersetzung mit dem Realismus des Begriffs fundamentum in re. Dort sind das inhaltliche Thema jedoch die Naturwissenschaften. 52 Siehe Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft, Original 1980: Le Sens Practique, übersetzt von Günter Seib, Frankfurt/M. 1987. 51

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zwischen Heiligem und Profanem, jedoch macht eine Notwendigkeit für die Blickrichtung des Mythos aus. Für eine mythische Sicht auf die Welt ist das mythische System der Kategorisierung eine Bedingung der Möglichkeit. Dabei erhalten aber auch die emotionelle Gefühlssteigerung in der Aussonderung aller Phänomene als entweder Heiliges oder Profanes, die konkrete Identitätssetzung zwischen Phänomen und Wort und die Verdichtung des Ganzen im Besonderen ihre eigene Notwendigkeit. Die mythische Logik ist unausweichlich innerhalb des Mythos. Sie erweist sich aber als Illusion, sobald wir nicht die Welt aus der Blickrichtung des Mythos betrachten. Aus der ursprünglichen Stabilität der Bedingungen der Möglichkeit der einen Erfahrung ist durch Cassirers Fortentwicklung der Transzendentalphilosophie eine Vielfalt der Blickrichtungen durch die symbolischen Formen entstanden. Kants Synthesis der Sinnlichkeit und der Begriffe, die uns lehrt, »die Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können«53 , gestaltet Cassirer wortwörtlich ab der Philosophie der symbolischen Formen in einen Plural der Erfahrungen um. 54 Dabei löst er sich von Kants Ausführung und Lösung der transzendentalphilosophischen Fragestellung. Aber er reißt sich nicht vom Boden des Transzendentalen Idealismus los. Im Gegenteil: Cassirer verschärft und verallgemeinert die Reichweite des Kantischen Begriffs der Diskursivität. Die Diskursivität findet nicht ausschließlich oder vorzüglich im Bewußtsein statt. Vielmehr entfaltet die Diskursivität sich u. a., wie wir es innerhalb der symbolischen Form des Mythos gesehen haben, in der Gestaltung des sozialen, natürlichen und geistigen Seins. Sie ist nicht mehr ein Geschehnis im Bewußtsein, sondern eine Prägung zum Sein, die nur durch das konkrete Tun der Gemeinschaft entsteht. Diskursivität, wenn wir den Begriff im Bezug auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen verwenden, drückt das Faktum aus, daß jede symbolische Form ihre Art der Sinnerfüllung des Sinnlichen gestaltet. In diesem Sinne kündigt Diskursivität die Differenz und den Gegensatz zur Unmittelbarkeit der Anschauung an und bezeichnet die Medialisierung einer jeden Form des Weltverstehens oder Weltbegreifens. Aus Kants ursprünglichem Begriff der Erfahrung bleibt demzufolge allein der Begriff der Synthesis nach Cassirers Auseinandersetzung übrig. Und auch sie muß eine Reformulierung ertragen. Cassirer zufolge kann

Kant: Prolegomena, 312. In Zur Einsteinschen Relativitätstheorie zitiert Cassirer Kant korrekt mit Quellenhinweis und Anführungszeichen; siehe Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 97. Die Philosophie der symbolischen Formen beinhaltet drei Passagen, wo Cassirer das Kant-Zitat mit und ohne Quellenhinweis anführt, die jedoch alle dadurch gekennzeichnet sind, daß er von Erfahrungen im Plural spricht. Siehe ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 54, ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 218 und 502. 53 54

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die symbolische Prägnanz, die mit Kants Begriff der Synthesis verbunden ist, nicht »durch die Rückführung auf rein ›diskursive‹ Akte des Urteilens und Schließens erklärt werden«. 55 Die symbolische Prägnanz als »reine Beziehung« tritt dem Bewußtsein als wesensmäßig Erstes hervor. 56 Es ist der Primat des symbolischen Prozesses vor den einzelnen Teilen, es ist die teleologische Zielrichtung des Bewußtseins als Anfangspunkt, es sind die vielen Blickrichtungen des Subjekts und der Kultur, die Cassirer gegenüber Kants Begriff der Synthesis und seiner einheitlichen Erfahrung entwirft. Diese dürfen meines Erachtens als eine konsequente Weiterentwicklung des Kantischen Ausgangspunktes verstanden werden.

Literaturverzeichnis Henry Allison: Kant’s Transcendental Idealism, Harvard 2004 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft, Original 1980: Le Sens Practique, übersetzt von Günter Seib, Frankfurt/M. 1987 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 10 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Die Begriffsform im mythischen Denken« (1922), in: ECW 16 – »Zur ›Philosophie der Mythologie‹« (1924), in: ECW 16 – »`Geist und Leben´ in der Philosophie der Gegenwart«(1930), in: ECW 17 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademie Ausgabe, Bd. IV Esther Oluffa Pedersen: «The Holy as an Epistemic Category and a Political Tool«, in: New German Critique, vol. 35/2, Cornell 2008 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: ders.: Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, Bd. 6, München 1965

55 56

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 231. A. a. O., 232.

Michael Bongardt

Wider die Sprachlosigkeit Zur Bedeutung der Religion in Ernst Cassirers Kulturphilosophie

»Eine Theorie, die mit dem Prozeß der Symbolisierung zugleich den humanen Sinn von Zivilisierung überhaupt aufklärt, leistet schon von Haus aus, was eine philosophische Ethik leisten soll.«1 Dieses Lob erfuhr Ernst Cassirer aus der Feder von Jürgen Habermas. Offenbar erkennt Habermas in Cassirer einen Verbündeten für sein zentrales Anliegen, die Zivilisierung der Gesellschaft mit dem Ziel wachsender Humanität zu sichern und voranzutreiben. So liegt es nahe, in Cassirers Philosophie auch nach Hinweisen zu suchen, wie sich ein von Habermas seit einiger Zeit energisch benanntes Problem bearbeiten ließe. Dieses Problem besteht, so Habermas, darin, daß die säkulare, vor allem die wissenschaftlich-technische Vernunft die Fähigkeit verloren habe, mit der Religion respektive den Religionen in ihrer faktischen Vielfalt zu sprechen. »Der Riß der Sprachlosigkeit«, der nicht erst seit dem 11. September 2001 die westlich-säkularen von muslimisch geprägten Kulturen trennt, »entzweit auch das eigene Haus.«2 Dies wäre nicht weiter besorgniserregend, wenn die Säkularisierung in absehbarer Zeit zum Verschwinden der Religion führte. Dann wäre gelassene Geduld die angemessene Strategie. Doch diese Erwartung, von der Soziologie eine Zeitlang gehegt, scheint sich nicht zu erfüllen.3 Angesichts einer »postsäkularen« Gegenwart, in der Religionen lebendig sind, sieht Habermas für die demokratische Gesellschaft und den freiheitlichen Rechtsstaat die dringende Aufgabe, daß die säkulare Vernunft und die Religionen das Gespräch miteinander lernen. Nur ein solches Gespräch vermag die Humanität und den erreichten Stand von Zivilisierung zu bewahren und die gemeinsame Verpflichtung auf ethische Verbindlichkeit zu gewährleisten. Es verlangt allerdings beiden Seiten einiges ab: der säkularen Vernunft das Ernstnehmen der Religion; der Religion die Anerkennung der Regeln eines freiheitlichen

1

Jürgen Habermas: »Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg«, in: Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 79–104, hier: 102. 2 Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt/M. 2001, 12. 3 Als Überblick über die aktuelle religionssoziologische Diskussion vgl. Christina von Braun/Wilhelm Gräb/Johannes Zachhuber (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007.

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Diskurses, allem voran die Verabschiedung von gewaltsam durchzusetzenden Wahrheitsansprüchen.4 Habermas erhofft sich von einem solchen Gespräch nicht nur eine Befriedung der Konflikte zwischen Religion und Moderne. Er sieht darin für die säkulare Vernunft auch die Chance, in den Religionen noch »verkapselte Bedeutungspotentiale«5 zu entdecken und sie durch Übersetzung für die säkulare Gesellschaft fruchtbar zu machen. Bei aller Wirkung, die diese – für viele überraschende – Zuwendung von Habermas zur Religion gezeigt hat, ist die von ihm energisch eingeschärfte Aufgabe noch weitgehend unerledigt. 6 Auch in seinen eigenen Schriften setzt Habermas seine Forderung, die säkulare Vernunft solle sich zentrale Gehalte der religiösen Traditionen durch Übersetzung aneignen, nur sehr begrenzt um. Er verweist in der Regel lediglich auf seines Erachtens bereits erfolgreich vollzogene Übersetzungen7 oder auf ethische und sinnkritische Fragestellungen, die einer solchen Aneignung noch harren. 8 Mit den folgenden Sondierungen im Werk von Ernst Cassirer soll – weit davon entfernt, seine vielfachen und vielfältigen Auseinandersetzungen mit der Religion umfassend darzustellen oder auch nur zu berücksichtigen – gezeigt werden, daß und wie dort Wege geebnet werden, auf denen das erforderliche Gespräch möglich wird. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die über das Werk verstreuten, nicht vollständig konsistenten und in mancher Hinsicht auch defizitären Äußerungen zur Religion so gelesen werden, daß ihre Verbindung zum Gesamtentwurf von Cassirers Kulturphilosophie deutlich wird.9 Dann wird um so klarer, was Cassirer im

Jürgen Habermas: Glauben und Wissen, 13. Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005, 116. 6 Vgl. zur seitdem geführten Diskussion neben den beiden schon genannten Publikationen von Habermas: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg u. a. 2005; Rudolf Langthaler/Herta Nagl-Docekal: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas, Wien 2007; Michael Reder/ Josef Schmidt: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2008. 7 So vor allem Kants Idee einer sich selbst unbedingt verpflichteten Freiheit, die nach Habermas die religiöse Überzeugung von Gottes unbedingter Forderung, das Gute zu tun, säkular einholt. Vgl. Habermas: Glauben und Wissen, 23; ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, 219–225. 8 So fragt Habermas: Glauben und Wissen, 29–31, etwa angesichts der Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin, wie sich die in der religiösen Vorstellung von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen festgehaltene Unverfügbarkeit entstehenden Lebens in säkularem Verständnis sicherstellen läßt. 9 In der Cassirerforschung des vergangenen Jahrzehnts hat diese Frage zunehmende Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. z. B. Markus Tomberg: Der Begriff von Mythos und Wissenschaft bei Ernst Cassirer und Kurt Hübner, Münster 1996; Thomas Stark: Symbol. Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Würzburg 1997; Thomas Vogl: Die Geburt der Humanität. Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer, Hamburg 1999; Michael Moxter: Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000; Michael Bongardt: Die Fraglichkeit der Offenbarung. 4 5

Bongardt · Religion in Cassirers Kulturphilosophie

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Blick auf die Religion fordert und für möglich hält: Eine Philosophie der Kultur muß bereit sein, die Religionen zu beachten und sie als autonome Weise des Weltverstehens anzuerkennen; und in den Religionen muß sich eine Kultur des Philosophierens etablieren, die sie davor schützt, in die dem Mythos eigene, prinzipielle Intoleranz zurückzufallen. Beides ist für Cassirer nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Aufgabe, die er mit seinem philosophischen Denken selbst übernimmt. Bei ihm verbindet sich die Anerkennung der Religion durch eine Philosophie der Kultur mit der wachen Aufmerksamkeit für alles Philosophieren in der Religion. Um einen Zugang zu Cassirers Religionsverständnis zu eröffnen, soll im Folgenden zunächst aufgezeigt werden, welche Rolle er der Religion im »Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«10 zuschreibt (I). Dieser positiven Würdigung der Religion ist notwendigerweise die Kritik an einer Religion, die diesen Prozeß abbricht oder gar umkehrt, anzufügen. Dabei wird nicht zuletzt die Frage virulent werden, ob diese Begrenzung der Freiheit nur eine mögliche Gefährdung oder eine zwingende Ingredienz der Religion ist (II). Diese beiden Abschnitte beleuchten eher den Hintergrund des hier interessierenden Problems der Sprachlosigkeit zwischen säkularer Vernunft und Religion als das Problem selbst. Zu dessen Lösung trägt Cassirer bei, wenn und wo er sich in seiner kulturphilosophischen Perspektive mit jenen religiös-theologischen Entwürfen befaßt, die ihrerseits den behaupteten Hiatus von Freiheit und Glaube, von Philosophie und Theologie zu überwinden suchen. Der von Cassirer favorisierte Ansatz einer »immanenten Religion« steht deshalb im Zentrum der folgenden Überlegungen (III). Abgeschlossen werden sie durch eine zusammenfassende Rückbindung an die von Habermas formulierte Übersetzungsaufgabe (IV).

Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000; Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000; Oswald Schwemmer: »Die symbolische Existenz des Göttlichen. Mythos und Religion bei Ernst Cassirer«, in: Markus Knapp (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, Berlin u. a. 2001, 56–84; Hermann Deuser (Hg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur. Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg 2002; Claudia Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen 2004. 10 Im englischen Original lautet die Definition von Kultur, die am Ende von Cassirers Denkweg steht: »the process of man’s progressive self-liberation«. (Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 23, Hamburg 2006, 244; dt.: ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1990, 345).

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

I) Das Freiheitspotential der Religion: Die Überwindung des Mythos Ein Grundanliegen Cassirers ist es, die verschiedenen Weisen menschlichen Weltverstehens gegen den Superioritätsanspruch des vermeintlich einzig objektiven (natur-) wissenschaftlichen Denkens zu verteidigen. Dies galt in besonderer Weise im Blick auf den Mythos, der ja nicht nur in natur-, sondern auch in geisteswissenschaftlicher Perspektive gern als jene dunkle Folie des Primitiven konstruiert wurde und wird, vor der die eigene Vernunft umso heller strahlen soll.11 Cassirer gelingt es eindrucksvoll, die mythische Weltsicht in ihrer Konsistenz und Wahrheitsfähigkeit darzustellen. Die Welt erscheint ihr als umfassende Einheit, als eine Einheit des Wirkens und Empfindens.12 In ihr werden zwar in anderer Modalität, aber keineswegs in geringerer Intensität und Geschlossenheit kausale Zusammenhänge erkannt, Zeit und Raum als Lebenswelt strukturiert.13 Die Anerkennung dieser Eigenständigkeit des Mythos hindert Cassirer allerdings nicht daran, auch dessen Grenzen zu benennen – wie er es im Blick auf alle symbolischen Formen fordert, die oft Autonomie, aber nie Autarkie für sich behaupten können.14 Der Mensch in der mythischen Welt, so Cassirer, erkennt nicht seine eigene, aktiv-gestaltende Funktion in der Konstituierung des mythischen Weltverstehens. Alles Begegnende – vom Baum, der vom Blitz getroffen brennt, über die alltäglich wahrzunehmende Lebendigkeit der Natur bis hin zum Stein, der als Gottesbild aufgestellt wurde – ist ihm unmittelbarer Ausdruck jener Welt, zu der die Götter als integraler Teil gehören. Der Mensch selbst ist nichts als der passive Empfänger, dem sich dieser wahrgenommene Ausdruck einprägt und so zum bestimmenden Eindruck wird.15 Doch die Dynamik –

11

Hier ist nicht nur an die umfassenden Geschichtsdeutungen von Hegel und Schelling bis hin zu Auguste Comte zu denken, sondern auch an all jene Bestimmungen des Mythos als des Irrationalen, die aus der Perspektive einer – vermeintlich einzig vernünftigen – Naturwissenschaft getroffen werden. Vgl. dazu Cassirers Einleitung zum zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen in: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 1–34, sowie ders.: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 7–51. 12 Eine prägnante Zusammenfassung der ausführlichen Erörterungen über die Struktur des mythischen Weltbildes im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen gibt Cassirer in seinem Essay on Man, 80–100. Die mythische Weltsicht ist laut Cassirer getragen von der »confidence in the solidarity, the unbroken and indestructible unity of life«. (Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 95). 13 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 74–86; vor allem 74: »Nicht die Beschaffenheit, die Qualität dieser Kategorien, sondern ihre Modalität ist es, worin der Mythos und die empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis sich unterscheiden«. 14 Zu dieser treffenden, bei Cassirer so nicht vorfindlichen Unterscheidung vgl. Richard Schaeffler: Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989, 92–96. 15 Schon in der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen

Bongardt · Religion in Cassirers Kulturphilosophie

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Cassirer spricht von der Dialektik – des Mythos läuft mit zunehmender Kraft gegen diese Grenze an und muß sie irgendwann sprengen. Der vielfältige Wechsel der mythischen Bilder treibt die Frage nach deren Urheber hervor; die Riten magischer Weltbeeinflussung kommen nicht aus ohne den, der sie vollzieht und früher oder später über sich selbst nachdenken muß.16 Hier nun setzt Cassirer eine Unterscheidung, die er als typologischideelle, nicht als historisch klar zu erkennende Scheidelinie verstanden wissen will.17 Die Grenze ist überschritten, sobald Menschen sich der Tatsache bewußt werden, daß die Bilder des Mythos sich ihrer Formung verdanken. Und jenseits dieser Grenze liegt, so Cassirer, die Religion. »Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ›hinweisen‹, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.«18 Religion verdankt sich also der Einsicht in die aktive Formungskraft des Menschen. Deshalb trägt sie ein befreiendes Potential in sich und zur Befreiung von den Banden der mythischen Welt bei. Diese Befreiung aus dem Bann des Mythos wird von Cassirer in verschiedenen Richtungen verfolgt, die sich hier nur andeuten lassen: Ihrer Freiheit und Gestaltungskraft bewußt, können Menschen jenseits der Versuche magischer Einflußnahme ihrem Wirken auf die Welt Ziele setzen und diese mit Hilfe von Werkzeugen und Technik zu erreichen suchen.19 Ihre Freiheit ist Möglichkeit und Pflicht, nach dem Guten zu suchen und dieses zu tun. Jenseits der Tabu-Systeme wird die Ethik zum entscheidenden Kriterium auch der Gottesbeziehung der Einzelnen. 20 Und schließlich eröffnet die Einsicht in die Freiheit des jeweiligen Formens und Verstehens der Welt auch die Möglichkeit, andere symbolische Formen in ihrer berechtigten Eigenständigkeit anzuerkennen. 21

bezeichnet es Cassirer als das Ziel aller kulturellen Entwicklung, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden«. (Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 10. 16 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 275–280; dazu Vogl: Die Geburt der Humanität, 134–140. 17 »All this could only be attained by a slow and continuous development of religious thought and feeling«. (Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 111). 18 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 280. 19 Vgl. a. a. O., 235–257. 20 Ausführlich bei Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 108–118. 21 Gerade weil der Mythos jede andere Form des Weltverstehens ausschließt oder zumindest diskreditiert, ist er, so Cassirer, »in a sense invulnerable. It is impervious to

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Wie schon angedeutet, hält es Cassirer nicht für möglich und nicht für nötig, die Grenze zwischen Mythos und Religion historisch eindeutig zu verorten. Aber es ist für ihn feststellbar, wo sie eindeutig überschritten ist: Im »ethischen Monotheismus« der Propheten des Alten Testaments. Sie benennen und kritisieren die Götzenbilder als Menschenwerk; sie fordern ethisches Verhalten gemäß göttlicher Weisung als den wahren Gottesdienst. 22 All das muß hier nicht weiter ausgeführt werden. Die befreiende Funktion der Religion, die in der Überwindung der Fesseln des Mythos die menschliche Kraft zur Weltgestaltung freigesetzt hat, die zu den Motoren und Motiven der Weiterentwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins zählte, ist kaum zu bestreiten. 23 Ebenso ist hinreichend bekannt, daß die konkreten Religionen diese Aufgabe nicht nur häufig nicht erfüllten. In jeder Befreiung zur Autonomie steckt auch die Gefahr, ein instrumentelles, selbst- und weltzerstörerisches Verständnis der Vernunft zu befördern. 24 Dafür stehen auch die vielen Beispiele einer Instrumentalisierung von religiösen Überzeugungen zu Herrschaftszwecken.

II) Freiheitsbeschneidung durch Religion: Gott als Grenze Interessanter als der beschriebene Übergang vom Mythos zur Religion ist die Frage nach dem Schicksal der Religion selbst. Führt der Prozeß der Selbstbefreiung des Menschen an den Punkt, an dem auch die Religion überwunden werden muß oder – wie der Mythos – aufgrund ihrer eigenen Dynamik über sich hinausführt? Das bisherige faktische Fortbestehen der Religionen beantwortet diese Frage nicht. Auch der Mythos kann gegen besseres Wissen lebendig bleiben, ja sogar revitalisiert werden, wie Cassirer in seiner Analyse des Nationalsozialismus deutlich macht.25 Die Frage nach einem möglichen Ende der Religion muß in der gleichen ideellen, transzendental-hermeneutischen Perspektive gestellt werden, in der Cassirer den Übergang vom Mythos zur Religion diagnostizierte. Irritierend und viel diskutiert in diesem Zusammenhang ist der Abschluß des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen. Dort

rational arguments; it cannot be refuted by syllogisms.« (Cassirer: The Myth of the State, ECW 25, 290). 22 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 280– 282. 23 Vgl. Vogl: Die Geburt der Humanität, 160–170. 24 Die Ambivalenz der Technik, deren Entwicklung, wie oben erwähnt, zur Überwindung des Mythos beiträgt, behandelt Cassirer ausführlich in seiner Abhandlung über »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 139–183. 25 Vgl. Cassirer: The Myth of the State, ECW 25, bes. 273–294.

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stellt Cassirer, nachdem er ausführlich den Übergang vom Mythos zur Religion untersucht hat, die Religion der Kunst an die Seite und ihr gegenüber. Die Religion, heißt es dort, sehe »sich immer wieder an einen Punkt geführt, an dem die Frage nach ihrem Sinn- und Wahrheitsgehalt in die Frage nach der Wirklichkeit ihrer Gegenstände umschlägt, an dem sich, hart und schroff, das Problem der ›Existenz‹ vor ihr aufrichtet. Das ästhetische Bewußtsein erst läßt dieses Problem wahrhaft hinter sich.«26 Es scheint, als würde hier für Kunst und Religion nicht – wie bei allen anderen symbolischen Formen außerhalb des Mythos – ein ergänzendes Nebeneinander angenommen. Eher wird hier der Schluß nahe gelegt, die Dynamik, die vom Mythos in die Religion führte, komme erst durch den Übergang von der Religion zur Kunst an ihr Ziel. Eine Klärung dieser Aussage Cassirers ist nicht möglich ohne Berücksichtigung der Funktionen, die er im menschlichen Bewußtsein ausmacht und in eine notwendige Entwicklungslinie der symbolischen Formen einschreibt. Cassirers vielfältige Hinweise auf die Dreiheit von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion scheinen auf den ersten Blick von einer erheblichen Inkonsistenz. Doch dieser Eindruck schwindet, wenn man die mit diesen Begriffen bezeichnete Entwicklungslogik streng auf einen einzigen Aspekt begrenzt: auf das im jeweiligen Verstehen explizite Bewußtsein von der Aktivität und Freiheit der jeweils Verstehenden. Daß jedes Verstehen – jede symbolische Formung – Ausdruck der formenden Energie des Geistes ist, steht für Cassirer fest. Nur zeigte sich bereits in der Darstellung des Mythos, daß mit dem stets aktiven Verstehen das entsprechende Selbstbewußtsein keineswegs verbunden sein muß. Dieses entwickelt sich vielmehr erst in der Entwicklung der Kultur, der – wie die Dialektik des mythischen Bewußtseins zeigte – eine Logik zugrunde liegt. Sie führt von der Passivität dessen, der sein Verstehen als reinen Eindruck der sinnlichen Wahrnehmung begreift, über die Form der Darstellung, die sich eines eigenen Anteils am je konkreten Verständnis bewußt ist, hin zu jener Ausdruckshandlung, die alle Passivität hinter sich gelassen hat und ihr Verstehen als je eigenes Deuten – als Ausdruck »reiner Bedeutung« versteht. 27

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 305. Vgl. dazu etwa die Ausführungen Cassirers in seinem Vortrag über »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17, 253– 282, bes. 256–264. – Der erwähnte Verdacht, Cassirers Theorie symbolischer Formung sei an dieser Stelle inkonsistent, entsteht dadurch, daß er – auch im gerade genannten Text – vor allem den Begriff »Ausdruck« in doppelter Perspektive verwendet. Er kann ihn sowohl auf den jeweils Verstehenden wie auf den Gegenstand des Verstehens anwenden. Auf letzteren angewandt bezeichnet Cassirer als Ausdruckswahrnehmung alle Formen des deutenden Verstehens, die den Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung als Ausdruck eines formenden Subjektes, einer Person deuten. So besonders ausführlich in den Schriften 26 27

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Erkennt man diese Dynamik an, stellt sich in der Tat die Frage, ob ein religiöses Weltverständnis in der Lage ist, diesen letzten Schritt zu vollziehen. Lebt es nicht in der Tat davon, sich als Darstellung zu verstehen, die sich auf die göttliche Wirklichkeit bezieht? Muß sich ihm nicht, wie Cassirer im oben angeführten Zitat formuliert, »hart und schroff das Problem der ›Existenz‹« Gottes stellen? Hemmt die Religion damit nicht zwangsläufig die Entwicklung zu einem immer umfassenderen Verständnis und zu einer immer weiter greifenden Praxis und Anerkennung menschlicher Freiheit? Und würde sie sich in dem Moment, in dem sie diese Hemmung hinter sich ließe, nicht in die Kunst aufheben? Auffällig an dem angeführten Zitat ist immerhin zweierlei: Zum einen spricht Cassirer präzisierend vom Problem der »Existenz«, nicht nur von »Wirklichkeit«. Darauf wird zurückzukommen sein. Und er läßt zumindest offen, ob es nicht sowohl ein religiöses Verständnis der Ästhetik als auch ein ästhetisches Verständnis der Religion geben kann, die den Schritt in die Bedeutungsfunktion vollziehen und dennoch eine Unterscheidung von Kunst und Religion erlauben. Sollte sich, so sei hier schon angedeutet, eine solche wechselseitige Übersetzung zwischen Religion und Kunst als möglich erweisen, hätte dies eine Bedeutung, die weit über den engen Rahmen des Verhältnisses dieser beiden Bereiche menschlicher Kultur hinausginge. Wäre doch dann paradigmatisch deutlich geworden, unter welchen strukturellen Bedingungen ein Gespräch zwischen verschiedenen Weisen des Weltverstehens möglich wird, das die von Habermas beklagte Sprachlosigkeit überwindet. Doch sieht Cassirer einen solchen Weg? Das knappe Schlußkapitel des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen erlaubt es nicht, darauf eine tragfähige Antwort zu geben. Vielmehr ist es notwendig, die religions- und theologiegeschichtlichen Untersuchungen Cassirers zu berücksichtigen. Denn in ihnen wird immer wieder sein Interesse an einer Form von Religion deutlich, die nicht nur im Bewußtsein ihrer Freiheit gründet, sondern diese Freiheit auch sichert und fördert. Dabei geht es ihm nicht um die Frage, ob die Religion sich endgültig von den Bildern verabschieden kann, also um das Verhältnis von Bild und Sinn. Daß sie der Bilder nicht entraten kann, weil sie anders den Ausdruck des Göttlichen nicht wahrnehmen und nicht darstellen kann, steht für Cassirer fest. 28

Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24, 357–486, wo er, 391–413, zwischen der nach Gesetzmäßigkeiten suchenden »Dingwahrnehmung« und der nach Sinn fragenden »Ausdruckswahrnehmung« unterscheidet. Wird dagegen nicht der Gegenstand des Verstehens, sondern das Verstehen bzw. die symbolische Formung – wie etwa im künstlerischen Stil – selbst als »Ausdruck« verstanden, ist dieses sich seiner Bedeutungsfunktion bewußt. 28 Vgl.: »In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit ebendieser Welt liegt ein Grundmoment des

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Umso wichtiger ist es ihm, vor allem in der christlichen Theologiegeschichte zu untersuchen, ob und wie in ihr das Bewußtsein vom menschlichen Ursprung aller religiösen Vorstellungen und Bilder festgehalten oder aber – um den Preis eines Rückfalls in die mythische Identifizierung von Bild und »Gegenstand« – verabschiedet wird. Es lohnt, die Aufmerksamkeit zunächst auf jene Beispiele zu richten, bei denen Cassirer einen solchen Rückfall befürchtet oder gar konstatiert. Wiederholt fallen bei ihm in diesem Zusammenhang zwei Namen: Augustinus und Luther. Ihnen ordnet er auch Calvin und den englischen Puritanismus zu. Augustinus hat in der Konsequenz seines dramatischen Lebens- und Denkweges die menschliche Freiheit radikal depotenziert. Sie ist in seinen Augen aufgrund der Sünde unfähig, das Gute zu erkennen, zu wollen und zu tun. Erst wo Gott statt des Menschen im Menschen wirkt, ist diese Ohnmacht überwunden. Augustinus »fühlte sich ergriffen von einer jenseitigen übermächtigen Gewalt, die ihn mit einem Schlage unterjocht. Und seitdem steht ihm fest, daß der ›Friede Gottes‹ nur auf diesem Wege dem Menschen zuteil werden kann; daß der Sinn der religiösen Erlösung weder im Denken noch im Tun, sondern im Erleiden besteht«. 29 Die Frage nach der Existenz Gottes beantwortet sich für Augustinus, indem er die Begegnung mit Gott als Vernichtung jeder Eigenständigkeit und Freiheit seiner eigenen Existenz versteht. Martin Luther30 steht einem solchen Verständnis auf den ersten Blick radikal entgegen. Stellt er sich doch massiv gegen alle Herrschaftsansprüche der Kirche, die sich in deren Durchsetzung nicht zuletzt auf Augusti-

religiösen Prozesses selbst.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 295) – Was hier speziell für die Religion und ihr Verhältnis zu den Bildwelten des Mythos gesagt wird, gilt unter den Voraussetzungen von Cassirers Philosophie für jedes Verstehen: Wenn sich dieses nur als symbolische Formung – und damit als Gestaltung der im Bewußtsein vorgegebenen Verbindung von sinnlichem Zeichen und geistiger Bedeutung – vollziehen kann, ist ein Verstehen ohne Bild oder Zeichen prinzipiell unmöglich. Dies gilt auch und gerade, weil sich jede Verbindung von Zeichen und Bedeutung als überholbar, gar als notwendig unzureichend erweist. In der christlichen Theologiegeschichte wurde dieses Problem in den verschiedenen Phasen des so genannten »Bilderstreits« ausgetragen, zu dem es auch in anderen Religionen Äquivalenzen gibt. 29 Ernst Cassirer: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14, 223–380, hier: 291. – Die Auseinandersetzung mit Augustinus findet sich dort, 290–295. Zu den Hintergründen und Entwicklungen der Gnadentheologie und des Freiheitsverständnisses von Augustinus vgl. Kurt Flasch: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397, Mainz 1990; Otto Hermann Pesch/ Albrecht Peters: Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981, 15–54; Karl-Heinz Menke: Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003, 24–75. 30 Zum differenzierten Luther-Verständnis Cassirers vgl. Vogl: Die Geburt der Humanität, 166–168. – In Cassirers Werk ist für die Deutung Luthers besonders wichtig der entsprechende Abschnitt in Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, 11–21.

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nus beruft. Und setzt er doch in bis dahin unbekannter Deutlichkeit das Individuum und sein persönliches Gottesverhältnis in seine Rechte ein – gegen alle Nivellierung durch die Einbindung in die kirchliche Gemeinschaft und Hierarchie. Doch im Hintergrund von Luthers reformatorischer Kritik steht eine an Augustinus geschulte Paulus-Lektüre. Auch für Luther steht, in Übernahme der Erbsündenlehre Augustins, die vollkommene Bedeutungslosigkeit der Freiheit des Menschen für sein Gottesverhältnis fest. Auch bei ihm findet sich ein expliziter Prädestinationsglaube, die Überzeugung von der grundlosen Gnadenwahl, in der Gott einzelne Sünder rettet – ein Glaube, der bei Calvin ins Zentrum der Theologie rückt.31 Und mit der Etablierung der Schrift als höchster Autorität in Glaubensdingen löst Luther zwar den Machtanspruch des kirchlichen Lehramts ab, aber beharrt auf der Geltung einer äußeren Autorität.32 So wird nach Cassirer bei Augustinus wie bei Luther eine transzendente Existenz in einer Weise behauptet, die menschlicher Freiheit entgegensteht und mit ihr nicht mehr vermittelt ist. Luther wie Augustinus sehen sich gezwungen, die menschliche Freiheit zu destruieren, um die Freiheit Gottes zu sichern. 33 Cassirer kann ihnen deshalb vorwerfen, daß sie sich, das Vermögen der Freiheit zum Guten prinzipiell bestreitend, in kulturphilosophischer Perspektive eines Selbstwiderspruchs schuldig machen – ist es doch ihr aktives Verstehen, das sich auf diese Weise selbst verleugnet. So wie Augustinus seine Bekehrung als Widerfahrnis beschreibt, an dem er keinen aktiven Teil hat, verkennt Luther, daß ja auch die als Heilige Schrift gelesene Bibel sich menschlicher Urheberschaft, symbolischer Formung, verdankt, daß auch jede Lektüre der Bibel sich als aktives Verstehen vollzieht, für das menschliche Freiheit die Bedingung der Möglichkeit ist. 34

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Vgl.: »Der reformatorische Glaube bleibt, seinem Ursprung wie seinem Ziel nach, von den religiösen Idealen des Humanismus getrennt. Der Kern diese Gegensatzes läßt sich mit einem Worte bezeichnen: Er liegt in der radikal verschiedenen Stellung, die Humanismus und Reformation zum Problem der Erbsünde einnehmen. […] Die Platonische Lehre vom Eros und die stoische Lehre von der Autarkie des Willens werden [vom Humanismus, MB] gegen die Augustinische Grundanschauung von der radikalen Verderbtheit der menschlichen Natur und von ihrer Unfähigkeit, sich von sich aus zum Göttlichen zurückzuwenden, aufgerufen.« (Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (1932), in: ECW 15, 145) – Zur Entwicklung der Erbsündenlehre bei Augustinus vgl. Hermann Häring: Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Gütersloh 1979. 32 Vgl. Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 18 f. 33 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1988, 205–233, sieht den Gipfel einer theologischen Lehre von der Freiheit Gottes bei Wilhelm von Ockham erreicht. Nach Blumenbergs Ockham-Deutung wandelt sich hier die Freiheit Gottes in eine potentielle Willkürfreiheit, der gegenüber der Mensch sich und seine Welt nur durch seine strikte Betonung der eigenen Autonomie retten kann. Darin liegt für Blumenberg die »Legitimität« der Neuzeit begründet. 34 Zur Lehre über die von Luther postulierte »Klarheit der Schrift« vgl. dessen zeit-

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Die nicht zuletzt lebenspraktischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, in die ein von der Diskreditierung menschlicher Freiheit in der Tradition des Augustinus, von Prädestinationsglauben und Schriftprinzip geprägtes Christentum führen kann, illustriert Cassirer am Beispiel des englischen Puritanismus.35 Nur am Rande sei bemerkt, daß Cassirer in seinen Schriften die katholische Theologie der Neuzeit nicht einmal streift. Drei Jahre nach der Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit geboren, hätte er zu seinen Lebzeiten das Christentum römisch-katholischer Provenienz kaum als Religion der Freiheit wahrnehmen können: Der lehramtliche Machtanspruch, vor allem aber ein der autonomen Vernunft des Menschen widersprechender Offenbarungspositivismus standen bewußt nicht nur der Anerkennung einer in Freiheit gründenden Gesellschaft, sondern auch einer religiösen Toleranz entgegen. Cassirer hätte also nur ein weiteres Beispiel für religiös begründete Unfreiheit finden können.36

III) Religion der Freiheit: Die Immanenz jeden Glaubens Mit diesen Hinweisen auf ebenso pointierte wie wirkungsvolle Stationen der christlichen Religions- und Theologiegeschichte scheint die Frage entschieden. Will man im Sinne Cassirers am Ziel einer von Freiheit geprägten Gesellschaft und Kultur festhalten, gilt es, die Religion zu überwinden. Denn wo immer sie dem »Problem der ›Existenz‹« ihres Gegenstandes, der Existenz Gottes begegnet, scheint sie nicht nur daran gebunden, ihn darstellend anzuzielen, ohne ihn je erreichen zu können37; sie steht auch in der beständigen Gefahr, diese Existenz mit einer bestimmten geschichtlichen oder natürlichen Gegebenheit so zu identifizieren, daß sie sich in den Mythos zurückwendet und die menschliche Freiheit diskreditiert oder gar

genössische Auseinandersetzung mit Erasmus: Erasmus von Rotterdam: Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. IV, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1995, bes. Ib3 – Ib9 (26–35); in Entgegnung dazu Martin Luther: Vom unfreien Willen, in: Die Werke Luthers in Auswahl, Bd. III, hg. von Kurt Aland, Göttingen 1991, 151–334, hier 160–164. Näheres bei Ulrich H.J. Körtner: Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 75–79, 343–346. 35 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 276–283. 36 Vgl. zum so genannten Antimodernismus der katholischen Kirche Hubert Wolf (Hg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, Paderborn 1998; zu den höchst problematischen Entwürfen der deutschen katholischen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch eine theologische Legitimation von (institutioneller) Macht gezeichnet waren, vgl. Thomas Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn 1994. 37 Vgl. das oben bereits ausführlich interpretierte Zitat aus Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 280.

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leugnet. Und wie soll auch Religion darauf verzichten können, in dieser Weise die Frage nach der Existenz Gottes zu beantworten? Wer Cassirer als den nüchternen, in Religionsdingen agnostisch anmutenden Philosophen kennen und schätzen gelernt hat, mag überrascht sein, in seinem Werk immer wieder Hinweisen zu begegnen, daß ihm ein anderes Selbstverständnis von Religion möglich scheint. Mehr noch: daß er sich ausführlich mit religiösen Denkern befaßt, die für die Wirklichkeit eines solchen Selbstverständnisses einstehen. An erster Stelle ist hier Cusanus zu nennen, dessen Bedeutung für Cassirer kaum überschätzt werden kann.38 Wichtige Ansätze findet er sodann im 16. Jahrhundert bei der so genannten Schule von Cambridge, bei Erasmus von Rotterdam und Shaftesbury39, in jüngerer Zeit schließlich bei Friedrich Schleiermacher und Hermann Cohen.40 Es ist hier nicht der Ort, die von Cassirer herausgearbeiteten historischen Entwicklungslinien eines solchen Religionsverständnisses nachzuzeichnen. Vielmehr soll in systematischer Form skizziert werden, welche Möglichkeiten für eine Religion, die das Bewußtsein menschlicher Freiheit entwickelt und festhält, Cassirer bei den genannten Autoren entfaltet sieht. Dies soll gelingen anhand von vier Schlüsselbegriffen, die sich bei Cassirer finden und sein Verständnis einer philosophisch verantwortbaren Religion charakterisieren. 1. Festzuhaltender Ausgangspunkt für dieses Verständnis ist die Freiheit, die Menschen gerade im Übergang vom Mythos zur Religion entdeckten,

Seine vierbändige Studie über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit beginnt Cassirer mit einem ausführlichen Cusanus-Kapitel: ders.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, 17–50. Gleiches gilt für die 20 Jahre später erschienene Abhandlung Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14, wo die Beschäftigung mit Cusanus nicht nur die ersten 70 Seiten des Bandes füllt, sondern diesem auch noch eine Übersetzung des Liber de mente durch Heinrich Cassirer angefügt ist. 39 Vgl. Vogl: Die Geburt der Humanität. 40 Mit dem Religionsbegriff seines Lehrers Hermann Cohen hat sich Cassirer wiederholt auseinandergesetzt: vgl. die Texte in: Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9, 119–138; 487–509; ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926) in: ECW 16, 480–486; ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), in: ECW 17, 283– 290; ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), in: ECW 18, 255–264; ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), in: ECW 24, 161–173. Von besonderer Bedeutung für die folgenden Überlegungen ist Cassirers Vortrag über »Cohen’s Philosophy of Religion« von 1935, zuerst veröffentlicht in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 5, 1996, 89–104. – Mit Schleiermacher hat sich Cassirer deutlich weniger auseinandergesetzt. Wichtig ist aber die Aufnahme des Begriffs der »immanenten Religion« im o.g. Vortrag über Cohens Religionsphilosophie, 94, der im Folgenden eine zentrale Rolle spielen wird. Zur inhaltlichen Verwandtschaft und Unterschiedenheit von Schleiermacher und Cassirer vgl. vor allem die Studie von Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. 38

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die Freiheit, mittels derer sie sich auf Gott beziehen. Der von Augustinus gegen Pelagius forcierte und lehramtlich zugunsten des Augustinus entschiedene Streit um die menschliche Freiheit führt im Christentum zu der über Jahrhunderte dauernden Überzeugung, daß menschliche Freiheit und göttliche, frei gewährte Gnade in einem direkten Konkurrenzverhältnis stehen, daß die eine nur auf Kosten der je anderen wachsen kann. Dieses Verständnis wird erst überwunden, wenn die Freiheit als von Gott gewollte und eröffnete Freiheit verstanden wird. In dieser Freiheit sind die Menschen, so Cusanus, Ebenbilder des schöpferischen Gottes, ihrerseits mit Kreativität begabt. Sie sind als Abbilder des göttlichen Urbildes fähig, Bilder hervorzubringen, in denen sie nicht nur der Welt, sondern auch Gottes ansichtig werden.41 Das Bewußtsein, daß diese Bilder der Wirklichkeit Gottes nie vollständig gerecht werden, ist für Cusanus – wie für Cassirer – kein Grund, sie gering zu schätzen: repräsentieren sie doch als Bilder die Wirklichkeit, auf die sie verweisen. Darin gleichen sie jeder symbolisch vermittelten, also jeder menschlichen Erkenntnis.42 Doch der Wert, den die Begrenztheit jedes Symbols, jeder Vorstellung von Gott hat, reicht noch weiter: Er liegt für Cusanus vor allem in der Möglichkeit, ja der Pflicht, auch andere solcher Symbole als angemessen anzuerkennen, also Toleranz gegenüber religiösen wie nicht religiösen Formungen zu üben.43 2. Ein zweiter wichtiger Begriff für Cassirer, für den er sich auf Schleiermachers Reden bezieht, ist die »immanente Religion«. Mit diesem Begriff werden zwei Aspekte von Schleiermachers Theologie benannt: Zum einen die Grundbestimmung der Religion aus dem von ihm so genannten Gefühl. Mit diesem Begriff beschreibt er die Selbsterfahrung menschlicher Freiheit, die sich als Selbstbestimmung gleichwohl nicht selbst gesetzt hat, in deren Bewußtsein also Unabhängigkeit und Abhängigkeit in eins fallen. In dieser

Vgl. Nicolaus Cusanus: Idiota de mente. Der Laie über den Geist, in: ders.: Philosophischtheologische Schriften, Bd. III, hg. u. eingef. von Leo Gabriel, Studienausgabe, Wien 1967, 479–611, vor allem Nr. 74–79. 42 Ähnlich wie die von Cassirer untersuchten Autoren der Schule von Cambridge steht Cusanus an der Schwelle zu einem neuzeitlich geprägten, selbstreflexiven Verständnis menschlicher Freiheit. Und ähnlich wie diese gelangt er an die genannte Schwelle durch den Rückgriff auf das platonische Bildverständnis, das er den aristotelisch geprägten theologischen Debatten seiner Zeitgenossen entgegenhält. Der Unterschied zwischen dem platonischen Bild- und dem autonomen Formbegriff ist – bei allen Parallelen in der Intention – mit Cassirer festzuhalten. Vgl. dazu Cassirer: Individuum und Kosmos, ECW 14, 44–53. – Ausführlich Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt/M. 1998, 270–317. 43 Vgl. Nicolaus Cusanus: De pace fidei. Über den Frieden im Glauben, in: ders.: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. III, 705–797. Dort führt Cusanus den Begriff der »religio una in rituum varietate« ein (710 f.). Die Schrift dient dem Nachweis, daß der Vielfalt der religiösen Bekenntnisse als Bedingung ihrer Möglichkeit ein gemeinsames Verständnis von Gott und Menschen zugrunde liegt. 41

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– welt-, näherhin subjektimmanenten – Erfahrung gründet für Schleiermacher die Religion.44 Zum anderen betont er, daß Religion insofern als immanent zu bezeichnen ist, als sie sich in ihrer konkreten Form menschlicher Anschauung, Reflexion und Gestaltung verdankt. Mit letzterem Aspekt wird aus der Perspektive der Religion eine für die Philosophie der symbolischen Formen selbstverständliche Einsicht formuliert. Ihr zufolge verdanken sich alle Formen, in denen Religionen Gestalt gewinnen, menschlicher Formung. Als solche sind sie streng immanent: Teil der vom Menschen hervorgebrachten Welt. Sie sind, wenn man mit Ernst Wolfgang Orth die »Welt des Menschen«45 mit »Kultur« gleichsetzt, Kulturtatsachen. Das gilt für alle Riten, Bilder und Symbole. Das gilt für das gesamte Feld religiöser Lebensformen. Das gilt nicht zuletzt für die als heilig angesehenen Schriften, ja sogar für die je geglaubte Offenbarung. Auch die Offenbarung kommt nicht anders zur Welt als durch Menschen, die sie bezeugen.46 So weiß die jüdische Tradition bereits im 4. Jahrhundert u. Z. paradox zu formulieren: »Gott spricht: Wenn ihr mich nicht bekennt, bin ich nicht«47. Cassirer sieht keinen Grund, der Religion als einer so verstandenen menschlichen Formung ihren Wahrheitsanspruch zu bestreiten – sie muß sich nur an den gleichen Kriterien wie jede andere symbolische Form messen lassen: Sie muß in sich konsistent und in der Lage sein, die Mannigfaltigkeit möglicher sinnlicher Zeichen in ihrem Horizont mit Bedeutung zu verknüpfen.48 3. Aus dieser energischen Einbindung der Religion in die Kultur leitet Cassirer allerdings nicht die Forderung ab, die Religionen sollten ihre Frage nach der Wirklichkeit Gottes verabschieden. Er spricht sogar in überraschender Eindeutigkeit von einer solchen Wirklichkeit. Die oben zitierte Formulierung aus der Philosophie der symbolischen Formen49 aufnehmend und präzi-

Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1958, 37 f. 45 Ernst Wolfgang Orth: Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2004, 7. 46 Vgl.: »In his [Cohens, MB] view religion must be founded on the activity of the human mind. Man cannot find his way to religion, his way to God without trusting in this activity and without bringing it to its highest degree.« (Cassirer: Cohen’s Philosophy of Religion, 95). 47 Pesikta de Rab Kahana XII, 6 (B. Mandelbaum (Hg.), Pesiqta de Rav Kahana. According to an Oxford Manuscript, 2 Bde., 2. Aufl. 1987); vgl. dazu Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988, 203, und Bongardt: Die Fraglichkeit der Offenbarung, 159–164. 48 Vgl. Ernst Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs« (1929), in: ECW 17, 342–359, bes. 356–359. 49 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 305. 44

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sierend unterscheidet Cassirer dabei zwischen »Realität« und »Existenz«. Der Begriff der Existenz ist für ihn gebunden an jene sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten, die die Naturwissenschaft auf dem Wege des Experiments zum Anlaß und Ziel ihres Formwillens nimmt. Die Realität des religiösen Gegenstands hingegen vergleicht Cassirer mit der Wirklichkeit und Wirksamkeit etwa ethischer Normen und Orientierungen.50 Damit wird nicht nur – mit den Religionen – Gott von der Sphäre des Materiellen entschieden getrennt. Dieses Verständnis öffnet auch die Möglichkeit, ein Wirken Gottes zu denken. Es kann und muß strikt als vermitteltes Wirken verstanden werden – vermittelt über die Menschen, die von ihm sprechen, ihr Leben und Handeln an je ihrem Gottesverständnis orientieren.51 4. Diese Aspekte einer in der Freiheit des Menschen gründenden Religion werden von Cassirer zusammengefaßt in dem von Cohen übernommenen Begriff der Korrelation. Für Cohen macht die Korrelation zwischen Gott und Mensch das Wesen der Religion aus, in der Gott und der einzelne Mensch erst wirklich werden.52 So wird auch für Cassirer erst in Kult und Sprache die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, ohne die eine solche Korrelation nicht möglich wäre, konstituiert.53 Religion, so läßt sich also formulieren, ist eine Ausdruckshandlung von Menschen, deren spezifische Eigenart darin besteht, daß von den Glaubenden die so entstehende Ausdrucksgestalt als Ausdruck Gottes selbst gedeutet werden kann. Wieder einmal steht Cusanus Pate für den Gedanken: In seiner Schrift »De visione Dei« beschreibt er, daß und wie sich der Blick des Betrachters zunächst auf eine Christusikone richtet und plötzlich unvermittelt umgekehrt wird: Der Betrachter erfährt sich seinerseits durch das – von Menschen geschaffene

Vgl. Cassirer: Cohen’s Philosophy of Religion, 96–99. – Sein Referat der Auffassung Cohens von der Existenz Gottes beschließt Cassirer mit einem Rückbezug auf Kant: »But, in the language of Kantian philosophy God is not a phenomenon, he is a Noumenon. To speak strictly, therefore, not speak of his existence, – although we may continue to speak of his reality«. 51 Besonders prägnant wird dieses Verständnis vertreten von Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M. 1987. 52 Vgl. Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Nachdruck der 2. Aufl., Darmstadt 1966, 99–108. 53 Cassirer übernimmt diesen Gedanken der korrelativen Hervorbringung von menschlichem Selbstbewußtsein und Gottesvorstellungen in seine Darstellungen der Entwicklungsgeschichte von Mythos und Religion. Das Bewußtsein dieser Korrelation entfaltet sich nach Cassirer mit dem Freiheitsbewußtsein des Menschen. Vollkommen klar erscheint es erstmals in der Mystik. – Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 235–273. Dort 272 f.: »Im Verhältnis von Mensch zu Gott gibt es für sie [die Mystik des Mittelalters, MB] kein bloßes Auseinander mehr, sondern nur noch ein Mit- und Füreinander. Hier ist Gott ebenso notwendig und unmittelbar auf den Menschen wie dieser auf jenen bezogen. […] was zuvor als rein physische oder ideelle Vermittlung erschien, das hebt sich jetzt in eine reine Korrelation auf, in welcher sich der spezifische Sinn des Göttlichen wie der des Menschlichen erst bestimmt.« 50

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– Bild Christi angeblickt54: Korrelation, die sich der freien Symbolkraft des Menschen verdankt; Religion, die in Freiheit gründet.

IV) Religion im Gespräch Bleibt abschließend zu prüfen, welche Bedeutung die hier vorgestellten Einsichten Cassirers für jenes Gespräch zwischen Religion und Wissenschaft haben können, das Habermas einfordert. Da bisher jedoch nahezu ausschließlich von Cassirers Religionsverständnis die Rede war, ist zunächst noch jene grundlegende Unterscheidung zwischen den Formen menschlicher Wahrnehmung und Weltdeutung einzuführen, die Cassirer in seinen Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften55 präzise getroffen hat. Denn sie macht deutlich, daß die empirisch arbeitenden Wissenschaften einem ganz anderen Modus menschlichen Weltverstehens zuzurechnen sind als die Religionen. Es ist etwas anderes, ob das Begegnende, sinnlich Wahrnehmbare, »nomothetisch« erfaßt oder nach seinem Wert und Sinn gefragt wird. 56 Im ersten Fall geht es um die Konstruktion von Gesetzmäßigkeiten, mit deren Hilfe zu begreifen und vorherzusehen ist, wie Gegenstände und Kräfte aufeinander wirken. Die wichtigsten Instrumente solcher Wissenschaft sind Experiment und Beobachtung, anhand derer sich prüfen läßt, ob menschliches Denken mit dem Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen ein Bild der Wirklichkeit entworfen hat, das der umfassenden Orientierung in der ihm begegnenden Wirklichkeit dienlich ist. Dieses Verstehen kann – und muß, wenn Naturwissenschaften ihrem Ziel treu bleiben wollen – auf alle sinnlichen Wahrnehmungen angewandt werden. Auch menschliches Denken und Deuten ist, insofern es als Hirnfunktion sichtbar ist, davon nicht auszunehmen, sondern kann und muß so beobachtet werden. 57 Doch so umfassend die Naturwissenschaft den Kreis um die sie interessierenden Gegenstände zieht, so beschränkt bleibt die Perspektive, in der sie diesen Kreis betrachtet. Der Naturwissenschaftler mag sich immer wieder Fragen nach dem Sinn des von ihm beobachteten Existierenden

Vgl. Nicolaus Cusanus: De visione Dei. Die Gottes-Schau, in: ders.: Philosophischtheologische Schriften, Bd. III, 93–219, Vorwort (94–99) und Kapitel VI (112–117). – Eine aktuelle Aufnahme dieses Gedankens findet sich bei Jean-Luc Marion: »Der Prototyp des Bildes«, in: Alex Stock (Hg.): Wozu Bilder im Christentum?, St. Ottilien 1990, 117–135. 55 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), ECW 24, 357–486. 56 So Cassirer in Anlehnung an Windelband und Rickert, a. a. O., 393 f. 57 So hat sich Cassirer selbst ausführlich mit den hirnphysiologischen Voraussetzungen befaßt, ohne die menschliches – das heißt für ihn: symbolisch vermitteltes – Verstehen gar nicht erst möglich ist. Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 234–322. 54

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oder auch dem Sinn seiner Beobachtung selbst stellen. Doch er kann diese Fragen nicht naturwissenschaftlich stellen. Denn sie lassen sich im Modus dieses Denkens weder formulieren noch beantworten. 58 Diese Grenze zwischen dem wissenschaftlichen und dem im weitesten Sinne »kulturellen« Denken gilt es zu berücksichtigen, wenn nach den Möglichkeiten des Gesprächs zwischen beiden gefragt wird. Die Religion in der Vielfalt gewachsener Religionen ist nicht die einzige, aber bis heute wohl einflußreichste Form, in der die Fragen nach dem Woher und Wozu des Seienden, vor allem der menschlichen Existenz gestellt und Antworten auf sie formuliert werden. Den Religionen treten mit der Ausdifferenzierung von Kulturbereichen zunehmend andere, sich nicht (mehr) religiös verstehende Formen zur Seite, unter denen vor allem die Philosophie und die Kunst Cassirers Interesse auf sich gezogen haben. Solches – religiöse wie nicht religiöse – Sinnverstehen unterscheidet sich nicht nur in seiner Fragestellung, sondern auch in einem Aspekt seiner Antworten fundamental von dem empirisch-naturwissenschaftlichen Blick auf die Wirklichkeit: So sehr es – wie die naturwissenschaftliche Erkenntnis – menschliche Erfahrung formt und ermöglicht, so wenig läßt es sich durch sinnliche Wahrnehmung verifizieren oder falsifizieren. Denn Wertungen und Sinngebungen erheben nicht den Anspruch, ein funktionales Modell des Begegnenden zu sein, sondern geben ihm Bedeutung. So fundamental diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Weisen des Weltverstehens ist, so deutlich kann Cassirer zeigen, daß sie doch auf einem gemeinsamen Fundament stehen: auf der Freiheit der Menschen59, in der sie ihre Wirklichkeit formen, sei es als naturwissenschaftlich organisierte, sei es als religiös entworfene Welt. Nur weil es dieses gemeinsame Fundament gibt, kann das Gespräch zwischen den sich zunehmend ausdifferenzierenden, nicht selten in Widerspruch zueinander tretenden Weltverständnissen gelingen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, daß Menschen sich dieser Freiheit bewußt werden, die ihrem je aktuellen Verstehen der Welt zugrunde liegt. Genau darin – im Übergang vom Gefühl des »passiven Eindrucks« zum Bewußtsein des »aktiven, freien Ausdrucks« 60 – liegt für Cassirer das Movens und Ziel kultureller, zivilisatorischer Entwicklung. In der Entdeckung dieser Freiheit, wie immer diese Entdeckung selbst wiederum zum Ausdruck gebracht wird, liegt zugleich der ethische Anspruch, die in fremder – und nicht selten befremdlicher – Weltdeutung sich verwirklichende Freiheit anderer anzuerkennen. 61

Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941–1946), ECW 24, 398–400. Vgl. a. a. O., 380 f. 60 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band I, ECW 11, 10. Vgl. zum Folgenden vor allem Cassirer, An Essay on Man, ECW 23, 28–31. 238–244. 61 Im Gedanken der Verpflichtung der Freiheit auf sich selbst, wie ihn Kant im Begriff 58 59

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Cassirer bleibt bei der philosophisch begründeten Forderung nach einem solchen Gespräch nicht stehen. Gerade seine Forschungen zur Geschichte von Mythos, Religion und Theologie geben Hinweise darauf, wie dieses notwendige Gespräch gelingen kann. Im Blick auf die Religionen ist ihm jene Entwicklung besonders wichtig, die schon in der Überwindung des Mythos ihren Anfang nahm: das Wachstum des Bewußtseins davon, daß sich auch die Religion in all ihren wahrnehmbaren Elementen – dem Kult, dem Dogma, dem Ethos – menschlicher Formung verdankt. Cassirer sieht es am deutlichsten entfaltet in jenem Verständnis einer »immanenten Religion«, die sich als Ausdruck menschlicher Freiheit versteht. Die Problemstellung, aus der heraus sich ein solches Religionsverständnis entwickelt, läßt sich für Cassirer besonders deutlich bei Schleiermacher erkennen: Es ist das Bewußtsein der Freiheit, sich als Freiheit nicht selbst gesetzt zu haben, sondern immer voraussetzen zu müssen. Menschliche Freiheit ist nicht selbstursprünglich – und steht deshalb in der unaufhebbaren Spannung zwischen ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung – nur als solche ist sie Freiheit – und ihrer Angewiesenheit darauf, sich gegeben zu sein. In der Religion nun entwerfen Menschen kraft dieser Freiheit eine Antwort auf die Frage nach dem Woher und Wozu ihrer Freiheit. Solange diese Antwort in Form des Gottesgedankens streng als Entwurf – als Sinnentwurf – der Freiheit selbst gedacht wird, ist sie eine religiöse, metaphysische, aber streng immanente Antwort. 62 In dieser Perspektive muß es Cassirer als ein Rückschritt erscheinen, wenn Schleiermacher in seiner Glaubenslehre diesen Entwurf an das kirchliche Dogma zurückbindet. 63 Denn damit setzt Schleiermacher das als

der Autonomiefreiheit formuliert hat, liegen der ethische Ernst und Anspruch von Cassirers Denken. Zwar wird von ihm selbst diese Verpflichtung auf die Freiheit selten expliziert – am ehesten noch in seiner Studie über Axel Hägerström; siehe Ernst Cassirer: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: ECW 21, dort vor allem 74–80. – Dennoch kann Habermas, wie am Beginn meines Beitrags zitiert, Cassirer zu Recht bescheinigen, er leiste, »was eine philosophische Ethik leisten soll«. – Ausführlicher dazu: Birgit Recki: »Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte«, in: Frede/Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung, 58–78. 62 Die philosophische Möglichkeit, ausgehend von der transzendentalen Reflexion auf die menschliche Freiheit den Begriff einer vollkommenen, das heißt material wie formal unbedingten Freiheit zu entwickeln, hat Krings erwiesen. Vgl. Hermann Krings: »Freiheit. Ein Versuch, Gott zu denken«, in: ders.: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/München 1980, 161–184. In der christlichen Theologie wird dieser Gedanke aufgenommen, um von einem solchen Freiheitsverständnis aus die Bedeutung der geglaubten Selbstoffenbarung Gottes in Christus zu erheben. Vgl. vor allem Thomas Pröpper: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1991, 182–194. Dem Glauben ist die – allerdings nur ihm erkennbare – Offenbarung dann Erweis der transzendenten Wirklichkeit Gottes. 63 Vgl. Cassirer: Cohen’s Philosophy of Religion, 94 f., mit Bezug auf Friedrich

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Freiheitsbewußtsein definierte religiöse Bewußtsein der Gefahr aus, sich entweder in einer idealistischen Identifizierung von Begriff und Wirklichkeit oder in einem heteronomen Offenbarungsglauben zu verlieren. 64 Cohens striktes Korrelationsdenken ist, so Cassirer, vor einer solchen Gefahr eher gefeit als die christliche Tradition. Mit der Hervorhebung der Möglichkeit eines solchen Selbstverständnisses der Religion führt Cassirer die Religion denkbar nah an die Grenze, jenseits derer nicht-religiöse Sinnentwürfe stehen, wie sie etwa – aber keineswegs nur – in der Kunst zu finden sind. Auch solche Entwürfe werden früher oder später auf die eigentümliche Gestalt menschlicher Freiheit, die ihr zugrunde liegende Spannung von Selbstbestimmung und Abhängigkeit, stoßen und ihre Antwort darauf zu formulieren haben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß auch die Behauptung der Absurdität und Nutzlosigkeit menschlicher Freiheit eine Antwort auf genau diese Frage darstellt, die der Mensch sich selber ist. 65 Es stehen sich dann im Gespräch in ihrer konkreten Gestalt unterschiedliche Selbstverständnisse menschlicher Freiheit gegenüber, die aber strukturell darin übereinstimmen, in dieser Freiheit gründende Sinnentwürfe zu sein. Dies gilt – so ist im Blick auf die aktuelle mind-brain-Debatte anzumerken – auch für die Naturwissenschaftler, die sich in die Debatte um den Menschen und seine kulturelle Welt einschalten. Denn sobald sie z. B. die Ergebnisse ihrer Hirnforschungen mit dem Anspruch in die Diskussion einbringen, diese würden nicht nur cerebrale Funktionen beschreiben, sondern damit auch die Frage nach dem Sinn dieser Funktionen beantworten, überschreiten sie die Grenze des in der Naturwissenschaft Frag- und Sagbaren. Sie begeben sich mit dieser These in das Feld des Sinnverstehens, in dem diese dann als eigene Position neben anderen, religiösen und nicht-religiösen Selbstdeutungen menschlicher Freiheit steht. 66

Schleiermacher: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Martin Redeker, Berlin 1960, § 4. 64 Hier zeigt sich besonders deutlich Cassirers Nähe zu Kant. Dessen Kritik der reinen Vernunft mündet in die Auflösung des »transzendentalen Scheins«, dessen Fehler es ist, jene Differenz zwischen Idee und Existenz aufheben zu wollen, die zu überwinden die Möglichkeiten menschlicher Vernunft prinzipiell übersteigt. – Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bde. III und IV, B 642–648.670–697, A 614–620.642–669; dazu Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 144–150, 370 f. 65 Vgl. etwa Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1990, 29–46; Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1989, 770. 66 In diesem Hinweis soll die Freiheit des Menschen nicht als eine geistige Wirklichkeit ohne materielles Äquivalent behauptet werden. Selbstverständlich vollzieht sich auch menschliches Nachdenken über die Freiheit mittels des Gehirns – und ist entsprechend zu beobachten. Doch diese materielle Grundlage von Kultur und Freiheitsbewußtsein macht die Unterscheidung zwischen allen Versuchen, menschlichem Handeln und

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Nachdem auf diese Weise religiöses und nicht-religiöses Sinnverstehen denkbar nah aneinander gerückt sind, stellt sich die Frage, was die beiden Seiten angesichts so weit reichender Gemeinsamkeiten überhaupt noch trennt. Hier bleibt Cassirers Hinweis auf das für die Religion »harte und schroffe Problem der Wirklichkeit ihres Gegenstandes« wichtig. Mit aller gebotenen Vorsicht und dem Wissen um die Unschärfe dieser Definition läßt sich wohl in der Tat sagen, daß Religionen sich durch ihre Überzeugung auszeichnen, sich mit allem, was sie ausmacht, auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die nicht nur der sinnlichen Erfahrung, sondern auch der vollständigen begrifflichen Erfassung entzogen bleibt und sie übersteigt. 67 Doch gerade diese Unerreichbarkeit ihres letzten Horizontes verweist auch die religiösen Menschen auf sich selbst zurück: auf ihre Kraft, ihre Welt im Licht dieses von ihnen entworfenen Horizontes zu deuten, und damit in jene »Welt des Menschen«, die sie mit denen teilen, denen der Glaube an eine transzendente Wirklichkeit im Sinne der Religionen fehlt. In dieser Welt stehen die von Menschen geformten Sinnentwürfe zur Debatte, die auch dann menschliche Entwürfe bleiben, wenn sie von Gott sprechen. Zweifellos sind in den religiösen Traditionen Verständnisse von Welt und Menschen entwickelt worden, die zur Zivilisierung und Humanisierung der Kultur Erhebliches beigetragen haben. Was dort über Wert und Würde des Menschen, über seine Freiheit und Begrenztheit, über Verbindlichkeit und Fehlbarkeit gedacht wurde und wird, enthält, wie Habermas überzeugend darlegen kann, Potentiale, die von den säkularen Formen menschlichen Selbstverständnisses noch nicht ausreichend wahrgenommen und rezipiert worden sind. Die Grenze, an der sich die Aufgabe weiterer Übersetzung stellt, hat Cassirer klarer bestimmt als Habermas. Für diesen ist der Graben extrem breit und tief, der die funktional ausdifferenzierte moderne Gesellschaft und deren vor allem naturwissenschaftlich-technisch operierende Vernunft von den Religionen trennt, die er mehr oder weniger stark in ihrem Offenbarungspositivismus gefangen sieht. 68 Die geforderte Übersetzung erscheint deshalb schwierig, nahezu unmöglich. Cassirer dagegen macht

Denken einen Sinn zuzusprechen, und der Beobachtung des Gehirns eines Menschen, der diese Versuche unternimmt, nicht hinfällig. – Vgl. Ottfried Höffe: »Der entlarvte Ruck. Was sagt Kant den Gehirnforschern?«, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M. 2004, 177–182. 67 Um diese Grenze zwischen der Religion und anderen Weisen menschlicher Weltdeutung wird schon seit langem in der Religionswissenschaft erbittert gestritten. Vgl. dazu z. B. Detlef Pollack: »Was ist Religion? Probleme der Definition«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3, 1995, 163–190. 68 Vgl.: »Gläubige verstehen sich hingegen als Interpreten einer in der Vergangenheit offenbar gemachten, nicht revisionsfähigen Wahrheit.« (Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, 267).

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deutlich, wie nah sich die Bewohner der beiden Ufer in Wirklichkeit sind: Auf der einen Seite stehen die säkularen Sinnentwürfe, die zwar als solche nicht naturwissenschaftlich sein können, sich aber häufig auf naturwissenschaftliche Einsichten berufen. In ihnen drücken sich vielfältige menschliche Selbstverständnisse aus, die nicht zuletzt in konkrete ethische, politische und gesellschaftliche Handlungsanweisungen münden. Sie stehen umso näher an der Grenze zur Religion, je expliziter sich bei ihnen Reflexionen auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Freiheit finden. Auf der anderen Seite sind die religiösen Menschen zu finden, die sich der Grenze zum säkularen Weltverständnis in dem Maße nähern, in dem sie ihre religiösen Sinnentwürfe als Ausdruck menschlicher Freiheit, die sich auf die Wirklichkeit Gottes ausrichtet, verstehen. Auch für sie folgen aus ihrem Selbstverständnis praktische Forderungen. 69 Und über die Grenze hinweg gilt es, sich zumindest über die Formen des Zusammenlebens zu einigen, bestenfalls zu gegenseitiger Anerkennung zu finden. Dies wird umso leichter sein, je deutlicher den Gesprächspartnern zu Bewußtsein kommt, daß sie nicht nur vor den gleichen Fragen stehen, sondern daß ihre Antworten die gleiche Struktur aufweisen, indem sie in Freiheit geformte Sinnentwürfe sind. Sicher hat Habermas Recht, wenn er betont, daß es säkular ebenso wie religiös sich verstehenden Menschen als eine »Zumutung«70 erscheint, sich dieser Grenze zu nähern. Cassirer aber macht deutlich, daß von beiden Seiten weniger die Verabschiedung lieb gewonnener, nicht selten als verbindlich angesehener Positionen verlangt werden muß; vielmehr ist von ihnen ein höheres Maß an Selbstreflexivität und Selbstbegrenzung zu fordern. Das mag die genannte Zumutung entschärfen und die Chancen für ein gelingendes Gespräch erhöhen. Daß es ein leichtes Gespräch werden wird, hätte auch Cassirer nie behauptet. Wußte er doch nicht nur durch philosophisches Nachdenken, welcher Anstrengung die Wahrung von Humanität bedarf.

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Von Theologen wird diese Immanenz gelegentlich so stark betont, daß sie die Frage nach einer Existenz Gottes als für die Religion irrelevant bezeichnen und stattdessen nach der von der Religion eröffneten Lebensform fragen. So etwa Wilhelm Gräb: »Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluß an Ernst Cassirer«, in: Korsch/Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur, 229–248, hier 248. 70 Vgl. Habermas: Glauben und Wissen, 21 f.; ders.: Zwischen Naturalismus und Religion 268–272.

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– »Cohen’s Philosophy of Religion« (1935), in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 5, 1996 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Nachdruck der 2. Aufl., Darmstadt 1966 Nicolaus Cusanus: De pace fidei. Über den Frieden im Glauben, in: ders.: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. III, hg. u. eingef. von Leo Gabriel, Studienausgabe, Wien 1967 – De visione Dei. Die Gottes-Schau, in: ders.: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. III, hg. u. eingef. von Leo Gabriel, Studienausgabe, Wien 1967 – Idiota de mente. Der Laie über den Geist, in: ders.: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. III, hg. u. eingef. von Leo Gabriel, Studienausgabe, Wien 1967 Herrmann Deuser (Hg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur. Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg 2002 Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt/M. 1998 – Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397, Mainz 1990 Wilhelm Gräb: »Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluß an Ernst Cassirer«, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000 Jürgen Habermas: »Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg«, in: Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997 – Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt/ M. 2001 – Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005 – /Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg u. a. 2005 Hermann Häring: Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Gütersloh 1979 Ottfried Höffe: »Der entlarvte Ruck. Was sagt Kant den Gehirnforschern?«, in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M. 2004 Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M. 1987 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III u. Bd. IV Ulrich H.J. Körtner: Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001 Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000 Hermann Krings: »Freiheit. Ein Versuch, Gott zu denken«, in: ders.: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/München 1980 Rudolf Langthaler/Herta Nagl-Docekal: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas, Wien 2007

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Martin Luther: Vom unfreien Willen, in: Die Werke Luthers in Auswahl, Bd. III, hg. von Kurt Aland, Göttingen 1991 Jean-Luc Marion: »Der Prototyp des Bildes«, in: Alex Stock (Hg.): Wozu Bilder im Christentum?, St. Ottilien 1990 Karl-Heinz Menke: Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003 Ernst Wolfgang Orth: Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2004 Otto Hermann Pesch/Albrecht Peters: Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981 Pesikta de Rab Kahana XII (B. Mandelbaum (Hg.), Pesiqta de Rav Kahana. According to an Oxford Manuscript, 2 Bde., 2. Aufl. 1987) Detlef Pollack: »Was ist Religion? Probleme der Definition«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3, 1995 Thomas Pröpper: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1991 Birgit Recki: »Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte«, in: Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997 Michael Reder/Josef Schmidt: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2008 Claudia Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen 2004 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988 Erasmus von Rotterdam: Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. IV, hg. von Werner Welzig, Sonderausgabe, Darmstadt 1995 Thomas Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn 1994 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1989 Richard Schaeffler: Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1958 – Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Martin Redeker, Berlin 1960 Oswald Schwemmer: »Die symbolische Existenz des Göttlichen. Mythos und Religion bei Ernst Cassirer«, in: Markus Knapp (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, Berlin u. a. 2001 Thomas Stark: Symbol. Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Würzburg 1997 Markus Tomberg: Der Begriff von Mythos und Wissenschaft bei Ernst Cassirer und Kurt Hübner, Münster 1996

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Thomas Vogl: Die Geburt der Humanität. Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer, Hamburg 1999 Hubert Wolf (Hg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, Paderborn 1998

Edward Skidelsky

Cassirer on Science and Religion

What room remains for the sacred in a world whose every contour has been mapped by science? This question has troubled western minds ever since the scientific revolution of the seventeenth century. Two answers dominate current discussion: The first – let us call it liberal Protestant – grants science a monopoly on «the facts» while reserving for religion the sphere of meaning and value. Science and religion are, in Stephen Jay Gould’s formula, «non-overlapping magesteria», each with its own distinct «domain of teaching authority.»1 This solution appears even-handed, but in fact imposes the greater sacrifice on religion, whose traditional factual claims must now all be reinterpreted as metaphors for inward, spiritual truths. Faith is banished from the public world into the privacy of poetry and prayer, becoming at last little more than a cultural attitude. Fundamentalism resists this process of privatisation; it reasserts religion in what it takes to be its original, strictly factual sense. But it too bears the imprint of its rival, insofar as it conceives the facts of faith as similar in kind those of physics and biology. Religion becomes a competitor to science, differing only in its canons of evidence, not in its general conception of reality. The result is not only bad science, but also bad theology. The obsessive concentration on religion’s factual surface obscures its spiritual depth. The first book of Genesis is turned into science-fiction, the resurrection into a magic trick with bones. Fundamentalism is in fact a backhanded tribute to the dominance of science. It is proof that even science’s enemies must now speak its language. But for all their antagonism, liberal Protestantism and Fundamentalism both share a basic common assumption. Both view the realm of facts as unique and indivisible, disagreeing only as to whether or not to cede this realm to science. But what if the facts themselves come in different and incommensurable kinds? What if there are religious and scientific facts, corresponding to different points of view, different methods of construction? We could then recognise the rights of both religion and science without infringing on the content of either. The two old rivals might even be

Stephen Jay Gould: Nonoverlapping Magisteria, in: Natural History 106, March 1997, 16–22. 1

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persuaded to co-exist peacefully, on condition that each renounce its claim to describe the world «as it really is». This optimistic vision is that of Ernst Cassirer. His philosophy is founded upon the conviction that there exists a plurality of «symbolic forms», each of them framing a distinct conception of the facts. Even within natural science, we must distinguish the «fact» of physics from that of biology or chemistry. And when we broaden our gaze to take in art, myth, religion and natural language, the diversity grows greater still. «The ‹nature› of Goethe is not the same as that of Newton, because there prevail, in the original shaping of the two, different principles of form, types of synthesis …. Where there exist such diversities in fundamental direction of consideration, the results of consideration cannot be directly compared and measured with each other.»2 If we apply this principle to science and religion, we arrive at a position different from both liberal Protestantism and Fundamentalism. We can acknowledge that religion is just as factual as science without thereby concluding that it is in competition with science, for what is meant by «the facts» differs radically in each case. We can, in Cassirer’s words, accept that «a manifold of nature-concepts is possible without the objectivity of one absolutely abolishing and destroying that of the others.»3 Cassirer does not, I should add, dispute the existence of tension between the various symbolic forms. «We do not deny», he said in his Yale lectures on philosophical anthropology, «the strong oppositions, nay, the contradictions and antinomies that appear in the development of human thought and human culture.»4 His claim is simply that such contradictions are not directly factual in nature, but more akin to those that might exist between the worldviews of two novelists or painters. They can be, if not resolved, then at least mediated by a recognition of their origins in our own symbolising activity. Just as a cultivated taste might enjoy both Tolstoy and Dostoevsky, so might a philosophically reflective intellect move freely between religious and scientific worldviews without hoping to reduce them to a common denominator. Such flexibility of mind was precisely what Cassirer cherished in his beloved Goethe. «This is the inner

Ernst Cassirer: Einstein’s Theory of Relativity, in: Substance and Function and Einstein’s Theory of Relativity, trans. William Curtis Swabey and Marie Collins Swabey, Chicago 1923, 447. 3 Ernst Cassirer: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist. Fünf Aufsätze, in: ECW 9, 307; my translation. 4 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer [im folgenden ECN], Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert Kopp-Oberstebrink, Hamburg 2005, 246. 2

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freedom and ‹irony›», he wrote a propos of the poet, «which is proper to the observer, and which keeps him from ossifying in a uniform conceptual scheme.»5 At this point, the voice of common sense pipes up in protest. «This is all very subtle and interesting», it says, «but surely there are points of direct factual conflict between science and religion. Either Christ rose from the dead or he didn’t. The Christian religion says he did; science says he couldn’t have done. We cannot hold both opinions simultaneously.» But Cassirer is not so easily deterred. The above disagreement might appear to concern the facts, he would argue, but in fact it concerns two very different ways of constructing the facts. Confronted with a man risen from the dead, a scientist must assume a) that this is a hallucination, b) that the man in question was not really dead or c) that an apparently universal law of nature is not in fact universal, but admits of certain exceptions. What he cannot do is praise God for a miracle, for to do so would be to abandon the basic assumptions of his profession. Science, in short, is obliged to construct «the facts» in accordance with its own fundamental a priori, namely that all events take place according to universal laws. Religion is under no such obligation, because its world is not fundamentally a realm of law, but one of signs, seemaia, in which God’s intentions are made visible to man. Neither view of the world, religious or scientific, can refute the other – for what could count as a refutation? It remains possible for a single intellect, equipped with a good measure of Goethean irony, to move freely between the two without ever committing anything as gross as a direct violation of the law of non-contradiction. It is certainly an enchanting vision. But it is also, one feels, a somewhat idealistic one – in the popular as well as in the philosophical sense of the term. I will return to this point later. First, though, I want to say a bit more about Cassirer’s thinking on science and religion. What, according to him, are the distinguishing features of these two «symbolic forms»? Religion or myth – Cassirer sees the former as a refinement of the latter – is based upon the perception of the world as expressive, as the locus of intentions, meanings, values. This basic intuition is at the heart of all its myriad forms, from the worship of rocks and trees to the Judeo-Christian doctrine of creation. It underlies those complex systems of symbolism beloved of Aby Warburg and his colleagues, in which animals, plants and elements are treated as emblems of the virtues and vices. It is also implicit in Aristotle’s view of material objects as animated by «final causes» – which

Ernst Cassirer: Freiheit und Form: Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1922, 370; my translation. 5

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is why his philosophy proved so serviceable to theologians. Religion, in short, does not draw the sharp distinction between fact and value central to the modern scientific consciousness. It views facts as laden with value, values as incarnate in fact. Science’s founding achievement, according to Cassirer, was to drain the natural world of expressive qualities and to reconfigure it in purely quantitative terms. «The book of nature», in Galileo’s famous phrase, «is written in numbers.» Wherever it can, science replaces words denoting sensory or expressive qualities with measurements. And even when it inherits terms belonging to a pre-scientific vocabulary – terms such as, for example, «space», «time», «cause» and «nature» – it reinterprets them in a new and strictly quantitative sense. Mathematics, not experimental method, is the soul of modern science, for it is only on the basis of a prior mathematisation of nature that experiment in the true sense – analysis of functional dependencies – is first made possible. The alchemists, notes Cassirer, performed endless «experiments», but because they formulated their results in the descriptive language of occult qualities they never made any systematic progress. It was only in the eighteenth century that Lavoisier succeeded in bringing chemistry within the orbit of mathematics, thereby establishing it as a rigorous science. Ever since Descartes, philosophers have struggled mightily to reconcile religious and scientific worldviews. Yet they could make no headway, argues Cassirer, so long as they conceived the problem as one of integrating two different domains of being. For how can two such categorically different kinds of entity as spirit and matter ever be brought into connection? It was the achievement of Kant and his successors to recast the whole problem in the critical mode, to show that we are dealing here not with different domains of being, but with different methods of constructing being. The dilemma now appears in a more tractable light. Instead of a cleavage within reality itself, we are faced merely with a tension between different cultural points of view – a tension which can be, if not finally overcome, then at least held in abeyance through philosophical reflection. Cassirer doesn’t just advance this critical perspective on a priori grounds; he views it as implicit in the development of religion and science themselves. Both systems progress by becoming conscious of their own symbolic status. Myth, in its original form, treats its own symbols as objective powers; it ascribes to them a literal, magical efficacy. It is only in the higher religions – Christianity, Buddhism, and above all prophetic Judaism – that this naivety is overcome. Religion «takes the decisive step that is essentially alien to myth: in its use of sensuous images and signs it recognizes them as such – as means of expression which, though they reveal a determinate meaning, must necessarily remain inadequate to it,

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which ‹point› to this meaning but never wholly exhaust it.»6 This insight into the symbolic character of religion was lost in the medieval church, with its dogmatic realism, but later recovered by mystics such as Eckhart and Boehme and absorbed into German idealism. Symbolic self-reflection is, then, an impulse inherent in religion itself, not one imposed on it from without by philosophy. In science, too, argues Cassirer, we see a gradual progression from dogmatic realism to self-reflective idealism. Space and time have evolved from the absolute «vessels» of Newtonian physics into abstract relational systems, a process culminating in Einstein’s theory of relativity. Force has shed its primitive meaning of «impulse» or «push» and come to be viewed in purely functional terms. Both religion and science appear, then, to be moving towards an increasingly sophisticated understanding of themselves as «symbolic forms,» thereby laying the ground for their eventual reconciliation. If in the past a dogmatic materialism confronted a dogmatic spiritualism, now both sides can acknowledge themselves as facets of a pluralistic human culture. Well – it hasn’t happened quite like that. The seemingly unstoppable rise of religious fundamentalism has been met by a reinvigorated scientific fundamentalism, represented in the UK by Richard Dawkins and in the US by Daniel Dennett. The conflict between religion and science remains, at least on the popular level, as bitter as ever. What has gone wrong? Why has the reconciliation foretold by Cassirer failed to occur? Cassirer himself would no doubt have attributed the persistence of religious and scientific dogmatism to the tenacity of primitive, «mythical» modes of thought. He held that the progress of symbolic self-consciousness is always threatened with relapse into symbolic self-forgetfulness. «The naïve realism of the ordinary world-view, like the realism of dogmatic metaphysics, lapses always and repeatedly into this mistake», he wrote in his work on Einstein. «It separates out a single one from the totality of possible concepts of reality and erects it as a norm and model for all the rest.»7 Such «one-sidedness» may be progressively overcome in the course of cultural evolution, but it can never be entirely eliminated. It is a primordial reflex of the human mind, always ready to burst forth anew and overwhelm the precarious achievement of Goethean irony. I fear, however, that this is still too optimistic a view of our predicament. The barrier to cultural harmony lies not just in the atavistic tendencies of the human mind, but in the internal dynamic of the symbolic forms

Ernst Cassirer: Philosophy of Symbolic Forms (1925), vol. 2: Mythical Thought, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1955, 239. 7 Ernst Cassirer: Einstein’s Theory of Relativity, in: Michael Friedman: Parting of the Ways: Carnap, Cassirer and Heidegger, Chicago 2000, 97. 6

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themselves. Cassirer misinterprets this dynamic. The continual unmasking of anthropomorphism which he discerns at the heart of both religion and science is not, as he claims, evidence of an increasingly self-conscious ideality. On the contrary, what drives each step of this process is the striving for a new and deeper reality, in comparison to which all prior «realities» are revealed as illusions. This metaphysical thirst – as strong in Einstein as it is in Eckhart – constitutes science’s chief inheritance from monotheism. Only science gives it a new and original twist. Ultimate reality no longer appears in the guise of a personal, compassionate God, but in that of an impersonal, indifferent nature. Between two such worldviews no «ironic» mediation is possible, for that would demand of each that it renounce the metaphysical hunger, the striving for absolutes, which is its motive force. It would demand a retreat, so to speak, behind the aesthetic veil. Harmony might be achieved, but at the expense of depth. Cassirer wants it both ways. He wants both harmony and depth. There are, he claims, «different standards and measures of profundity. (…) There is a scientific depth that teaches us to understand the laws and principles of things, a practical depth that teaches us to use them in the right way, and an artistic depth that teaches us to see them in their true shape.»8 But the question inevitably intrudes itself: which depth is deeper? The search for ultimates cannot, by its nature, be confined to a single cultural domain. The quest for the «one true world» cannot be arbitrarily circumscribed. Science and religion must, in fidelity to their own motive principle, seek to assert their own superior «depth» and to downgrade their rival as, if not false, then of merely pragmatic significance – a useful social institution or technical devise. And that is just what they do. Materialists debunk religion as the projection of human hopes and fears upon an in itself indifferent universe; spiritualists disparage science as a mere technique for prediction and control, without metaphysical significance. Between Athens and Jerusalem, between «the life of free enquiry» and «the life of obedient love,» there is no easy reconciliation.

Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6, 449–450. 8

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Bibliography Ernst Cassirer: Freiheit und Form: Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1922 – Einstein’s Theory of Relativity, in: Substance and Function and Einstein’s Theory of Relativity, trans. William Curtis Swabey and Marie Collins Swabey, Chicago 1923 – Philosophy of Symbolic Forms (1925), vol. 2: Mythical Thought, trans. by Ralph Manheim, New Haven 1955 – Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist. Fünf Aufsätze, Darmstadt 1971 – Einstein’s Theory of Relativity, in: Michael Friedman: Parting of the Ways: Carnap, Cassirer and Heidegger, Chicago 2000 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer [im folgenden ECN], Bd. 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert Kopp-Oberstebrink, Hamburg 2005 Stephen Jay Gould: Nonoverlapping Magisteria, in: Natural History 106, March 1997

Marion Lauschke

Scheitern des Synthesevermögens oder Kontinuum des Formbegehrens? Das Erhabene bei Ernst Cassirer1

Eine Tagung mit dem Untertitel »Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert« setzt einen deutlichen Akzent auf die Erforschung der Aktualität der Philosophie Ernst Cassirers, die es gegenüber ihrer Klassizität oder gar Historizität zu erweisen gilt. Für die Ästhetik ist dies auf den ersten Blick kein ganz einfaches Unterfangen, denn es gibt, abgesehen von der Abhandlung über Thomas Manns Lotte in Weimar, keine einzige Auseinandersetzung mit einem Werk zeitgenössischer Kunst in Cassirers Œuvre; seine Vorliebe für klassische Literatur, insbesondere für Goethe, ist bekannt. Die Ästhetik und Kunstphilosophie Cassirers sind bislang von der Forschung vernachlässigt worden, und einer der Gründe dürfte in ebendieser fehlenden Auseinandersetzung Cassirers und dem daraus erwachsenen Vorurteil der mangelnden Aktualität liegen. Da sich die Aktualität eines Denkers jedoch nicht ausschließlich und wohl nicht einmal in erster Linie an der Neuheit der Gegenstände, die er untersucht, erweist, sondern viel mehr in der Avanciertheit seiner Methoden liegt, ist die Beschäftigung mit Ernst Cassirer unter diesem Gesichtspunkt möglicherweise dennoch lohnend. Ein anderer Grund für die Vernachlässigung der Kunstphilosophie Cassirers könnte, obwohl dies kontraintuitiv anmutet, in seiner dezidiert metaphysikkritischen Einstellung liegen, die jedoch in als »nachmetaphysisch« sich begreifenden Zeiten als ein deutliches Kennzeichen von Aktualität angesehen werden muß. Ich möchte dies am Begriff des Erhabenen zeigen. Es ist wenig erstaunlich, daß dieser Begriff in der Cassirerforschung bislang nicht diskutiert worden ist, denn zum einen thematisiert Cassirer ihn ausführlicher nur an zwei Stellen seines Gesamtwerkes – im Essay on Man, der den ausführlichsten Abschnitt seiner Kunstphilosophie enthält, kommt der Begriff gar nicht vor: Cassirers Ästhetik ist eine Ästhetik des Schönen. Er begreift das Schöne als »eine spezifische Grundrichtung, eine reine Energie und eine urtümliche Funktion des Geistes«2 ; und es

Überarbeitete Fassung eines Abschnitts meines Buches Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die Ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007. 2 Ernst Cassirer: Philosophie der Aufklärung (1932), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff., (ECW), Bd. 15, 337. 1

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kommt daher sogar als ein möglicher Kandidat für eine symbolische Form in Frage.3 Zum anderen scheint der Begriff des Erhabenen und das sich dahinter verbergende wahrnehmungstheoretische Konzept mit Cassirers Philosophie nicht kompatibel zu sein: Die Erfahrung von Formlosigkeit und Cassirers Theorie symbolischer Formung verhalten sich auf den ersten Blick wie Feuer und Wasser zueinander. Zu der Überzeugung, daß das »Geistgefühl« des Erhabenen dennoch eine wichtige Bedeutung für die Philosophie der symbolischen Formen hat oder sogar, da es mit den Begriffen der Freiheit und der Individualität in enger Verbindung steht, seine Symboltheorie grundiert, bin ich auf einem Umweg gelangt, den ich im folgenden kurz darstelle. Zur Beantwortung der Frage, ob die Kunst, die Cassirer in seinen Monographien und Aufsätzen zur Symbolphilosophie häufig als symbolische Form anführt, aber nicht hinreichend begründet, in die Philosophie der symbolischen Formen integrierbar ist oder nicht, ist es nötig, zunächst die Kriterien, die ein Phänomenbereich erfüllen muß, um als symbolische Form zu gelten, zu fixieren und die Phänomene sodann – wie Cassirer es für die Sprache, den Mythos und die Wissenschaft bereits geleistet hat – an ihnen zu prüfen. Cassirer entwickelt für die Bestimmung und Differenzierung von Kulturgebieten und Gestaltungsweisen verschiedene Kriterien: 1. die Bestimmung ihres Strukturzusammenhangs als Erfahrung (im kantischen Sinne) bzw. als erfahrungsanaloge Integrale, 2. ihre Genese aus verschiedenen »Urteilungen«, aus denen sich verschiedene Funktionen ergeben, 3. ihre Differenzierbarkeit über unterscheidbare, jedoch in jeder einzelnen symbolischen Form einheitliche Modalitäten der Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl, sowie 4. durch verschiedene Subjekt-Objektverhältnisse, die er als Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung klassifiziert, und 5. durch je spezifische Relationen von Präsentation und Repräsentation. Ein Teil der Prüfung kunstästhetischer Phänomene an diesen Kriterien wirft zunächst ein Problem auf: der ästhetische Umgang bzw. die künstlerische Gestaltung der Zahl. Cassirers Äußerungen dazu sind spärlich. Und dennoch kommt der »Zahl« bzw. der Kategorie der Quantität auch in der Kunst eine besondere Funktion zu. Sie besteht in der spezifisch ästhetischen Strukturierung von Zeit und Raum sowie der Bedeutungserzeugung durch Einzelstellung oder Wiederholung etc., zeigt sich aber auch in der künstlerischen Adaption mythischer bzw. religiöser Zahlensymbolik oder in Anleihen bei der Geometrie. Die Bedeutung der Zahl als Kategorie erschöpft sich nicht in ihrer begrifflichen Fassung und Funktion für abstrakte Rechenoperationen in der Konstruktion von Gebäuden oder

3

Vgl. hierzu Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen, 201–207.

Lauschke · Das Erhabene bei Ernst Cassirer

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in der seriellen Musik; Cassirer hat auch ihre nichtbegrifflichen Strukturierungsmodalitäten im Blick: »In der Tat scheint, lange bevor im Bewußtsein des Menschen die ersten festen Begriffe über die objektiven Grundunterscheidungen der Zahl, der Zeit und des Raumes sich bilden, diesem Bewußtsein die feinste Empfindlichkeit für jene eigenartige Periodik und Rhythmik innezuwohnen, die im Leben des Menschen waltet. Wir finden schon auf den niedersten Kulturstufen, bei Naturvölkern, die es kaum bis zu den ersten Anfängen des Zählens gebracht haben und bei denen daher von irgendeiner quantitativ exakten Auffassung der Zeitverhältnisse keine Rede sein kann, dieses subjektive Gefühl für die lebendige Dynamik des zeitlichen Geschehens oft in überraschender Schärfe und Feinheit durchgebildet.«4 Anhand der sprachlichen Entwicklung des Zahlenbegriffs weist Cassirer auf eine ursprünglichere Weise der Bedeutungserzeugung hin, die in Sprache und Kunst gleichermaßen zur Anwendung kommt: »Die einfache Wiederholung des Lautes ist das zugleich primitivste und wirksamste Mittel, um die rhythmische Wiederkehr und die rhythmische Gliederung eines Aktes, insbesondere einer menschlichen Tätigkeit, zu bezeichnen.«5 Daß dem Empfinden von Schönheit ein Zählen zu Grunde liege, bei dem Geist nur nicht merke, daß er zähle, ist ein topos in der Geschichte der Philosophie, den Cassirer des öfteren anführt. Die Funktion der Zahl für die Quantifizierung bzw. Synthetisierung und Gliederung des Mannigfaltigen ist in der Kunstphilosophie jedoch auch unter einem weiteren Aspekt relevant, der weniger offensichtlich, für die gegenwärtige Diskussion jedoch nicht minder bedeutsam ist; denn sie hat auch da noch Bedeutung, wo das Zählen aufhört. Es handelt sich um das »Erhabene«, das unter Berufung auf Kant, wenn auch nicht unbedingt immer in Einklang mit seiner Fassung des Begriffs, in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die ästhetische Theoriebildung dominiert hat und primär als ein Scheitern des menschlichen Synthetisierungsvermögens begriffen wird. Unter dem Begriff des Erhabenen diskutiert Kant in der Kritik der Urteilskraft die Dialektik der Konfrontation mit »Phänomenen«, die von außerordentlicher Größe sind, angesichts derer der Prozeß des Zählens bzw. der Prozeß der Synthetisierung eines Mannigfaltigen an kein Ende kommt: das Erhabene ist zunächst einmal das, »was schlechthin groß ist« 6 , »was über alle Vergleichung groß ist«7 und somit die Grenze unseres Vermögens der »Größenschätzung« aufzeigt. Als »erhaben« wird jedoch im

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 128. 5 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 200. 6 Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, § 25. 7 Ebd. 4

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weiteren Verlauf der Kantischen Argumentation nicht ein Gegenstand bezeichnet8 – der »Gegenstand« wäre das Ergebnis einer gelungenen Synthetisierung –, sondern das Gefühl des Subjekts, das sich einstellt, wenn es, angetrieben durch das Scheitern der Einbildungskraft, zu der Idee der Unendlichkeit (im Falle des Mathematisch-Erhabenen) oder, angesichts des schlechthin Mächtigen, zu der Einsicht in seine moralische Überlegenheit (Dynamisch-Erhabenes) gelangt. Die Idee des schlechthin Großen überfordert die Einbildungskraft, aber sie macht dem Subjekt sein unendliches geistig-moralisches Vermögen bewußt und provoziert es zu weiteren Symbolisierungsversuchen. Die Bestimmung des Erhabenen erfüllt sich, so Cassirer, »wenn der Maßstab vom ›Objekt‹ in das ›Subjekt‹ verlegt, wenn er nicht mehr in einem einzelnen räumlich-gegebenen Ding, sondern in der Allheit der Bewußtseinsfunktionen gesucht wird. Wenn jetzt dieser Allheit ein ›Unmeßbares‹ gegenübertritt – dann stehen wir nicht mehr vor der bloßen Endlosigkeit der Zahl, die zuletzt nichts anderes als die beliebige Wiederholbarkeit des Zählverfahrens, also einen Fortgang ins Unbestimmte bedeutet: sondern dann hat sich aus der Aufhebung der Begrenzung für uns eine neue positive Bestimmung des Bewußtseins ergeben. So wird hier das Unendliche, das sich für die theoretische Betrachtung, sobald sie es als gegebenes Ganzes zu fassen versuchte, in eine dialektische Idee verflüchtigte, zu einer gefühlten Ganzheit und Wahrheit gebracht.«9 In der Philosophie Cassirers nimmt der Begriff des Erhabenen keine herausragende Stellung ein. In Kants Leben und Lehre erörtert er ihn knapp, in der Philosophie der Aufklärung etwas ausführlicher10 , und hier, im Unterschied zu Kant, nicht nur in bezug auf die Natur, sondern auch im Hinblick auf die Kunst: »Nicht nur das«, schreibt Cassirer, »was wir innerlich in reiner Anschauung gestalten und begrenzen, wirkt auf uns; sondern auch das, was sich jedem derartigen Versuch entzieht, was uns überwältigt, statt von uns geformt und bewältigt zu werden. Nirgends werden wir stärker als von diesem Ungreifbaren ergriffen; nirgends erfahren wir die Macht der Natur und der Kunst so sehr, als wenn sie uns dem ›Ungeheuren‹ gegenüberstellt.«11 Zwar begreift Cassirer das Erhabene als »Lockerung« bzw. »völlige Auflösung der Form«12 , die Darstellung des »Ungeheuren« in der Kunst kann jedoch nicht selbst eine solche Auflösung der Form sein, da sich Kunst stets

8

Kant bezeichnet es als eine »Subreption«, wenn auch er selbst zunächst von einem »erhabenen Gegenstand« spricht, vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, § 27. 9 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 316 (Hervorhebung ML). 10 A. a. O., 314–318 und ders.: Philosophie der Aufklärung, in: ECW 15, 342–345. 11 Cassirer: Philosophie der Aufklärung, ECW 15, 343. 12 Ebd.

Lauschke · Das Erhabene bei Ernst Cassirer

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einer subjektiven Formung verdankt.13 In der Kantischen Begriffsbestimmung hat das Erhabene keine großen Chancen, zum Kernbestand einer Kunstphilosophie nach Cassirer zu werden, »[d]enn durch die Beziehung des Erhabenen auf die Idee der Selbstgesetzgebung und der freien Persönlichkeit scheint es, indem es sich von der Natur loslöst, ganz dem Gebiet des Sittlichen anheimzufallen. Sein eigentümlicher ästhetischer Charakter und sein selbständiger ästhetischer Wert aber wäre in dem einen Falle so gut wie in dem andern aufgehoben. In der Tat zeigt auch die Ausführung von Kants Analyse sogleich, wie nahe wir hier dieser Gefahr stehen.«14 Der ästhetische Status des Erhabenen ist problematisch, denn die Sinneserfahrung wird für Cassirer in der Kunsterfahrung gerade nicht verlassen, sondern intensiviert. Indem das sinnlich Erfahrbare den Ausgangspunkt des erhabenen Gefühls bildet, in der Folge jedoch transzendiert wird, scheint das Erhabene zu einer Grenze des Symbolischen zu werden. Während die Erfahrung des Schönen den Menschen in eine intensive Verbindung mit der Welt des Sinnlichen bringt, verläßt er es im Erhabenen. Im folgenden sollen dennoch einige Aspekte der unter dem Stichwort des Erhabenen intensiv diskutierten ästhetischen Phänomene thematisiert werden, um auszuloten, welchen Beitrag Cassirers Symbolphilosophie für diese Diskussion leisten kann. Es handelt sich dabei 1. um das Problem der Ontologisierung eines Denk-, aber nicht Darstellbaren durch Kant und Jean-François Lyotard, 2. die Isolierung der scheiternden Synthetisierung des Mannigfaltigen durch Lyotard und Karl Heinz Bohrer und 3. den Begriff des Nichtidentischen bei Heidegger und Adorno in der Interpretation von Bohrer und Wolfgang Welsch. 1. Angeregt durch Barnett Newmans 1948 erschienenen Essay »The sublime is now« hat Lyotard dem Begriff des Erhabenen, der einen zentralen Terminus seiner ästhetischen Theorie bildet, in den 80er Jahren zu überragender Popularität verholfen. In seinem 1982 erschienenen Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?« bestimmt Lyotard die Erfahrung des Ungenügens von Darstellungsfähigkeiten als ein »erhabenes Verhältnis zwischen Darstellbarem und Denkbarem«15 und unterscheidet zwei verschiedene Modi des künstlerischen Umgangs mit dieser Erfahrung: »Der Akzent kann auf die Ohnmacht des Darstellungsvermögens gelegt werden, auf die Sehnsucht nach einer Anwesenheit, die das menschliche Subjekt

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Vgl. Birgit Recki: »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹? Kritische Anmerkungen zu einer Kantischen Metapher bei Jean-François Lyotard«, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 30/31, Hamburg 1989, 26–39. 14 Cassirer: Kants Leben und Lehre, ECW 8, 317. 15 Jean-François Lyotard: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: Tumult 4, 1982, 140.

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empfindet, auf den dunklen und vergeblichen Willen, der es trotz allem beseelt. Der Akzent kann aber auch auf das Denkvermögen […] und auf die Steigerung des Seins und den Jubel, die Erfindung neuer Spielregeln, bildnerischer oder künstlerischer oder ganz anderer gelegt werden.«16 Die erste Variante bezeichne eine Verfahrensweise der modernen Ästhetik, die das »Nicht-Darstellbare« als »abwesenden Inhalt« mitführe, in eine erkennbare Form integriere und nach Lyotard »nicht das wirkliche Gefühl des Erhabenen« treffe. Dieses komme in der postmodernen Ästhetik zum Ausdruck, die zwar ebenfalls das Gefühl dafür wachhalten wolle, »daß es ein Undarstellbares gibt«, und auf dieses anspiele, es jedoch bereits in einer Form der Darstellung realisiere, die »den Trost der guten Form« verweigere.17 Lyotard geht von einer »Grenze der Repräsentierbarkeit« aus, an der sich die Kunst, in dem Wunsch, die »Schuld einer Präsenz zu begleichen, die immer verfehlt wird«, abarbeite.18 Gelegentlich ist ihm der Vorwurf gemacht worden, einer metaphysischen Tradition verhaftet zu bleiben, der er doch opponieren will,19 oder es sind ihm zumindest »Motive von Transzendenz und Vertikalität«20 unterstellt worden – Lyotard scheint diese Zweifel nicht unbedingt ausräumen zu wollen, wenn er selbst seine Vorstellungen als »mythisch« und rätselhaft bezeichnet, da sie sich auf »das Geheimnis des Seins« beziehen. 21 An dieser Stelle möchte ich den substantivierten Formen des »Erhabenen« und des »Nicht-Darstellbaren«, mit denen Lyotard ein fühlbares Verhältnis umschreibt, auf den (Kantischen) Grund gehen und untersuchen, ob der immanente Ansatz der Cassirerschen Symbolphilosophie Lösungsansätze für das ›Metaphysikproblem‹ bereithält. Das Dilemma der Konzeption von Vernunftbegriffen, die sich denken, aber nicht darstellen lassen, findet sich bereits bei Kant, nicht erst bei Lyotard, der versucht, die Kantische Konzeption des Erhabenen für die moderne Ästhetik fruchtbar zu machen. Den Konflikt zwischen der Einsicht, daß »alles Denken auf Anschauung abzweckt« und »Begriffe ohne Anschauung blind« sind, und dem Bedürfnis, dem dennoch über das in Raum und Zeit Gestaltbare hinausstrebenden Denken Orientierung zu ge-

16

Ebd. Alle Zitate a. a. O., 141 f. 18 Christine Pries: »Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries«, in: dies. (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, 323. 19 Vgl. Karl Heinz Bohrer: »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, in: ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/M. 1994, 139 f. 20 Vgl. Wolfgang Welsch: »Adornos Ästhetik: eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, in: Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. 21 Jean-François Lyotard: »Der Augenblick, Newman«, in: ders.: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, 20. 17

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ben, aber den »Ideen«, die dies leisten sollen, keine Anschauung bzw. Darstellung geben zu können, hat Kant nicht gelöst. Es ist die Unbestimmtheit ihrer Form, die zu denken gibt. Die etwas abenteuerliche Bezeichnung des »Geistgefühls« für das erhabene Gefühl bringt die Formulierungsnot zum Ausdruck, löst jedoch nicht das Problem, das er sich mit der Behauptung, Vernunftideen lassen sich »denken«, einhandelt. Dieser Konflikt macht bei Lyotard als das »Undarstellbare« Karriere, das dennoch »denkbar« sein soll. In den Prolegomena hat Kant ein Denken, dem keine Anschauung entsprechen kann, als einen Halt auf der Grenze22 beschrieben und diese Grenze als ein »Sinnbild« bezeichnet23 , was anzeigt, daß das »bestimmende« Denken hier nicht in seinem Element ist. Es ist ein »problematisches Denken«, das Zuflucht in die figurative Sprache nimmt: Ein Sinnbild oder Symbol muß bezeichnen, was sich bestimmt nicht denken läßt, ist jedoch »nur ein Mittel, die Intellection zu befördern«24 , und keines, sie in einer adäquaten diskursiven Formulierung zu beenden. Selbst der Begriff, der durch »viele dunkle Vorstellungen«25 bedroht wird, steht für Kant »niemals zwischen sicheren Grenzen«26 und teilt somit damit das Schicksal alles Symbolischen. 27 Für das erhabene Gefühl gilt dieses Problem (wie für alle Gefühle) in potenzierter Form; es ist einzig durch wiederholte Symbolisierungsversuche notdürftig zur Mitteilung zu fixieren. Gefühle offenbaren einen Zustand des Subjekts, und es ist leicht einzusehen, schreibt Kant, »daß Lust und Unlust, weil sie keine Erkenntnißarten sind, für sich selbst gar nicht können erklärt werden, und gefühlt, nicht eingesehen werden wollen; daß man sie daher nur durch den Einfluß, den eine Vorstellung vermittelst dieses Gefühls auf die Thätigkeit der Gemüthskräfte hat, dürftig erklären kann«. 28 Die Transformation dieses Zustandes in eine Vorstellung – das Ziel der symbolischen Formung – kann nicht vollständig gelingen, denn Gefühlen ist eigen, daß sie wesentlich gefühlt werden müssen und nur sekundär vorgestellt werden können. Das Problem bei Lyotard ist,

22 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, § 57. 23 A. a. O., § 59. 24 Immanuel Kant: Vorlesungsnachschrift Metaphysik von Pölitz, Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII, 238 (154). 25 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III, B 756. 26 Ebd. 27 »Folgte man Lyotard, so wäre nämlich nicht nur jedes Kunstwerk, sondern überhaupt alles erhaben – denn wo wollte man schließlich etwas finden, das sich unseren Anstrengungen, es auf den Begriff zu bringen oder ins Bild zu setzen und es uns dadurch gleichzumachen, nicht in der beschriebenen Weise entzöge?« (Recki: »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹?«, 37). 28 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, erste Fassung der Einleitung, in: AkademieAusgabe Bd. XX: Handschriftlicher Nachlass 7, Berlin 1942, 232.

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daß die »Grenze der Repräsentierbarkeit«, obwohl er zur fröhlichen Überschreitung aufruft, zuweilen als ein Fixum erscheint, das zwei abgesteckte Bereiche: den Bereich des »Denkbaren«, aber »Nicht-Darstellbaren«, und den Bereich des »Darstellbaren« trennt. Cassirer erkennt eine solche Grenze aus zweierlei Gründen nicht an, denn erstens sind für ihn Gefühle nicht per se asymbolisch. Sie sind der Rohstoff des Symbolisierens. Insbesondere in der Kunst geht es um die Integration eines Gefühls in eine Sicht, bei der die unmittelbare Wirkung des Gefühls nicht gänzlich verloren geht bzw. verloren gehen soll. Zweitens würde er bestreiten, daß es ein nicht symbolisierbares Denkbares oder ein »konstitutiv Anästhetisches«29 gebe – zumindest könnten wir von ihm nicht wissen. Die Verbindung, die Kant zwischen der Anschauung und dem Begriff knüpft, nimmt er – wenngleich er den Begriff der »Anschauung« weiter faßt – in der Hinsicht sehr ernst, daß er auf einer sinnlichen Materialität alles Vorstellbaren beharrt, die sich in den verschiedenen symbolischen Formen zeigt. Auch »Ideen« sind für Cassirer nicht von ihrer sinnlichen Gestalt zu trennen. Seine radikal pluralistische Konzeption des Geistbegriffs wird bspw. im Verhältnis zwischen philosophischer Idee und literarischer Gestalt deutlich, das bei Cassirer explizit nicht hierarchisch ist. Die künstlerische Gestalt ist keine Rekonstruktion eines Begriffs in einem anderen Medium, sondern ein irreduzibel Besonderes. Die Konstruktion eines nicht darstellbaren Denkbaren hingegen privilegiert den (formlosen?) Gedanken vor der Form. Und so muß Lyotard sich den Vorwurf Karlheinz Bohrers gefallen lassen, das Erhabene zu ontologisieren und nicht strikt ästhetisch zu denken.30 Für Cassirer gibt es zwar den Bereich des Subjektiven, der sich nicht oder nicht vollständig objektivieren läßt und in unmittelbarer Selbstgewißheit besteht; und es gibt für ihn das Gefühl des Unbehagens am unzureichenden Ausdruck, von dem es keine Erlösung, sondern nur den Trost der Unabschließbarkeit von Symbolisierungsprozessen gibt. Der Sinn dieser in »Werken« vergegenständlichten Prozesse ist nicht, daß in ihnen ein Denkbares ein für allemal festgehalten wäre, sondern daß sie – ganz im Kantischen Sinne der »Förderung der Intellection« – weitere Symbolisierungsprozesse »entzünden«. Das vollständige Aufgehen des Geistigen im Sinnlichen würde für Cassirer das Ende aller geistigen Spannung und das Ende der Dynamik der Kultur bedeuten. Seine Konzeption eines Kontinuums des menschlichen Formbegehrens widersteht der Versuchung, angesichts der grundsätzlichen »metábasis eis allo genos«31, die jeder Dar-

29

Vgl. Welsch: »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, 209. Bohrer: »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie«, 140. 31 Ernst Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (19259 «, in: ECW 16, 227–311, 302. 30

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stellung inhärent ist, zu resignieren, und birgt somit ein Moment des Erhabenen. Dieser immanente, metaphysikkritische Kulturbegriff, der kein asymbolisches Außerhalb zuläßt, ist Cassirer zum Vorwurf gemacht worden. 1984 stellt Donald Phillip Verene in der »Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie« fest, daß Cassirer »den leeren Raum metaphysischer Argumentation umgehen möchte«, wirft ihm jedoch zugleich vor, keine »Perspektiven auf das Jenseits« zu öffnen,32 das Symbol nicht als ein Medium zu begreifen, das sichtbar macht, was unsichtbar ist,33 sondern die Grenzen dessen, was durch es bedeutet werden kann, mit den Grenzen des Erfahrbaren zusammenfallen zu lassen. Es gebe bei Cassirer »keinerlei Möglichkeit einer transzendenten Dimension des Symbols in dem Sinne, daß es ein Jenseits teilweise ansprechen könnte«34 . Als Gegenentwurf zu dieser »immanenten« Symbolik setzt Verene das »Bild«, das für die poetischen und mythischen Aspekte des Symbols stehe. Im Bild artikuliere sich die Imagination, die eine vom Begrifflichen unterschiedene Kraft des Bewußtseins darstelle. Im Bild könne das Jenseits »ergriffen« bzw. »reflektiert« werden.35 Cassirer hingegen sei unfähig, diese zweite Bedeutung des Symbols zu erfassen, denn sein Begriff des Symbols sei ein Instrument, um »Bedeutungen gänzlich innerhalb der Erfahrung herauszufinden«.36 Cassirer hat sich zu diesem »romantischen« Kunstbegriff im Essay on Man explizit geäußert: Kunst ist für ihn eine immanente, keine transzendente Symbolik. 37 Sie als symbolische Darstellung des Unendlichen zu begreifen, lehnt er ab, da sie zu einer Ignoranz gegenüber diesseitiger Schönheit führt. Auch Hazard Adams stellt in seinem 1983 veröffentlichten Aufsatz »Thinking Cassirer«38 fest, daß Cassirer das Symbol innerhalb eines Systems von Relationen konzipiere. Dieses Verständnis teile er mit dem Strukturalismus, der für den Cassirerschen Begriff der »Relation« den der »Differenz« setze. Im Gegensatz zu Verene würdigt Adams jedoch den Cassirerschen Ansatz an dieser Stelle. Ein mögliches Motiv für die gelegentliche Ablehnung des Cassirerschen Symbolbegriffs, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren (1949 in dem Aufsatz von Fritz Kaufmann Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology) zum Ausdruck gekommen

Donald Phillip Verene: »Cassirers Kulturphilosophie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2, 1984, 13. 33 A. a. O., 15. 34 Ebd. 35 A. a. O., 17. 36 Ebd. 37 Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 170. 38 Hazard Adams: »Thinking Cassirer«, in: Criticism: A Quarterly for Literature and the Arts 25/3, 1983, 181–195. 32

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sei, sieht Adams in seinem dezidiert säkularen Charakter. Cassirers Philosophie, schrieb Kaufmann, »suffers from too much light«39. Es fehle »the need for devine mercy« und die Anerkennung einer höheren Realität. Bei Cassirer werde, so Adams, auch die Religion innerhalb des menschlichen Geistes verortet. Während Heidegger, dessen Ästhetik auch in der Nachkriegsphilosophie auf eine steile Karriere zurückblickt, die Kunst der Religion unterordnet, ist sie für Cassirer eine unabhängige Form, ein Teil der Erzeugung von Kultur und kein Präludium zu einer negativen Theologie. Jeffrey Barash weist in seinem Aufsatz »Metacritical Reflections on Paul Ricœur’s Interpretation of Cassirer’s Concept of the Symbol« am Beispiel Ricœurs darauf hin, daß die Herausforderungen, die der Cassirersche Symbolbegriff beinhaltet, bislang weder von der Hermeneutik noch von der Phänomenologie hinreichend angenommen worden seien, was er ebenfalls auf die Dominanz Heideggers in der Forschung und die Neukantische Etikettierung Cassirers zurückführt, die er jedoch in Frage stellt.40 Denn während Kant die ›traditionellen Erwartungen‹ an den Begriff des Symbols bedient, indem er das Schema, das »lends intelligibility to particular sense impressions by plazing them in a temporal structure ruled by general concepts«41, vom Symbol trennt, welches auf dem Wege der Analogiebildung eine höhere, übersinnliche Idee repräsentiere, liege die Originalität der symbolischen Form Cassirers darin, daß sie schematisierende und symbolisierende Funktion in sich vereine: »Far from representing the unseen by way of analogy, symbolic forms are identified with the schematizing functions that are themselves embodied in the myriad ways in which human beings costruct reality through language, art, myth, religion, and science.«42 2. Einen zweiten Aspekt, unter dem sich Lyotards Ausführungen zum Erhabenen, aber auch Karl Heinz Bohrers Theorie des »Plötzlichen«, das er ebenfalls unter dem Rubrum des Erhabenen einführt, in einen fruchtbaren Disput mit Cassirers Symbolphilosophie bringen lassen, stellt die Isolierung des Momentes der scheiternden Synthese durch die Einbildungskraft dar. Lyotard bezieht sich in seiner Konzeption des Begriffs ausdrücklich auf Kant, von den beiden Phasen oder Elementen, die bei Kant das Erhabene charakterisieren – 1. das Scheitern der Synthetisierungsversuche der

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Felix Kaufmann: »Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology«, in: Paul Arthur Schilpp: The Philosophy of Ernst Cassirer, Evanston 1949, 841. 40 Jeffrey Andrew Barash: »Metacritical Reflections on Paul Ricœur’s Interpretation of Cassirer’s Concept of the Symbol«, in: Journal Phänomenologie 21, 2004, 10 (Anm. 1), 11. 41 A. a. O., 12. 42 A. a. O., 13.

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Einbildungskraft, 2. das »sekundäre Dennoch-Synthetisieren«43 in der gefühlten, erhabenen Vernunftidee –, gewichtet er jedoch gelegentlich das erste über.44 Der »Wahnidee der einigenden Kraft des Geistes«45 versucht Lyotards Begriff des Erhabenen ein Schnäppchen zu schlagen, indem er die Möglichkeit einer »nicht einmal durch die elementarste synthetische Aktivität vermittelte[…], unmittelbare[…] Beziehung zur Materie« in der Rezeption postmoderner Werke unterstellt.46 Einen Zugang, der keinen Umweg über eine etwaige Bedeutung nimmt, sondern – ein alter (frommer) Wunsch – in »direkten« Kontakt tritt zu etwas, »das sicher im Gegebenen da ist«47, gewährleiste beispielsweise die Farbe in der Malerei Newmans, der mit Materie arbeite, die nicht »in eine Form gebracht werden muß«48 . Sie entwickle eine Art »Anwesenheit«, in der der Geist abwesend sei. Aus der Sicht der Wahrnehmungstheorie Cassirers (der dem Form/ Inhalt-Problem in der Geschichte der Philosophie das vierbändige Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit gewidmet hat) müssen solche Formulierungen schlicht groben Unfug darstellen, denn die Sichtbarkeit eines Phänomens ist nicht »außerhalb einer bestimmten Form der ›Sicht‹ und unabhängig von ihr zu denken«49. Das zentrale Theorem seiner Symbolphilosophie besteht in der »symbolischen Prägnanz«, die zum Ausdruck bringt, daß alles Wahrgenommene als sinnvoll wahrgenommen wird und daß alles Wahrgenommene augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen wird. 50 Wie kann, läßt sich mit Cassirer fragen, etwas wahrgenommen werden, wenn der Geist abwesend ist, wie etwas in unser Bewußtsein treten, ohne irgendeine Verbindung einzugehen? »Aber

Christine Pries: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, 25. 44 Vgl.: »Der eigentliche transzendentale oder kritische Inhalt dessen, was Kant das Erhabene nennt, ist viel eher das Unvermögen zur Synthese, und man kann sich sehr wohl vorstellen, daß Künstler entweder durch Abstraktion oder Minimal Art versuchen, etwas hervorzubringen, was diese Formsynthesen zum Scheitern bringt und deshalb mit der transzendentalen Essenz des Erhabenen bei Kant ziemlich genau übereinstimmt.« (Pries: »Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch«, 322) – Siehe zu dieser Verkürzung durch Lyotard die Kritik bei Recki: »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹?«. 45 So Jean-François Lyotard in: »Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean-François Lyotard«, in: Walter Reese-Schäfer (Hg.): Lyotard zur Einführung, Hamburg 1988, 138. 46 Ebd. 47 A. a. O., 139. 48 Ebd. 49 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 228. 50 Vgl. hierzu auch Birgit Recki: »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Ursula Renz (Hg.): Ethik oder Ästhetik. Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004, 122. 43

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nehmen wir einmal an«, schreibt Cassirer (frappierend ist es, wie unmittelbar sich Cassirers Ausführungen in einen Diskurs einfügen lassen, der 30 Jahre später stattgefunden hat), »daß das Wunder sich begeben könnte – daß der ›Gegenstand‹ in dieser Weise in das ›Bewußtsein‹ hineinwandern könnte. Dann bliebe offenbar immer noch die Hauptfrage ungelöst; denn wir wüßten nicht, wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, auch als solche gewußt werden könnte.«51 Die »Anwesenheit«, die Lyotard als eine Unterbrechung der Aktivität des Geistes konzipiert, muß von diesem wahrgenommen werden, indem er sich in ein Verhältnis zu dem setzt, was sich seinem Zugriff widersetzt. Geht man weiterhin davon aus, daß es sich bei Newmans Who’s afraid of red, yellow and blue III – Lyotard argumentiert an diesem Bild – um ungeformte Materie handelt, müßte man darüber hinaus fragen, was ein Bild Barnett Newmans in der Lyotardschen Deutung von einem ausgekippten Farbeimer unterscheidet. Insbesondere in den Studien Zur Logik des Kulturbegriffs hat Cassirer einen naturalistischen Blick auf Kulturphänomene kritisiert und sich für eine Unterscheidung von Objekten der physischen Natur und Kulturphänomenen eingesetzt. Max Imdahl hat in seiner subtilen Betrachtung des Newmanschen Bildes gezeigt, daß Who’s afraid of red, yellow and blue III, obwohl es sich in einem gewissen Sinne als »antikompositionell«52 bezeichnen läßt, dennoch erstens hinsichtlich der Maltechnik nicht auf »reine Materie« reduzierbar ist, sondern seine Wirkung u. a. durch unterschiedliche Sättigungen der Flächen erziele und somit eine »Bedeckungsstruktur« aufweise. Zweitens ist es die Komposition – Newmans 2,45 m mal 5,44 m großes Bild weist eine zentrale rote Fläche auf, die links und rechts durch einen schmalen gelben bzw. blauen Streifen begrenzt wird –, die bewirkt, daß die rote Farbe in ihrer Dominanz wahrgenommen werden kann: »Die Ausgedehntheit des Rot ist, so sehr sie sich der Ausgedehntheit des Bildfeldes verdankt und diese nicht nur legitimiert, nicht die Ausgedehntheit des Bildes selbst. Vermöge dieser (nur so denkbaren) Differenz zwischen Rot und Bild erscheint die Farbe nicht ans Bild gebunden […] Indem die seitlichen Randzonen das Rotkontinuum vom Bildkontinuum befreien, ist dieses selbst in das befreite Kontinuum des Rot transformiert. Das Bildkontinuum ist eine Funktion des Rotkontinuums.«53 Das Rotkontinuum kann, so Imdahls Schluß, »nur eine illusionistische Erscheinung sein«54 , die, möchte ich ergänzen, durch die antikompositionelle Kompositionsweise Newmans bzw. die »an-

51

Ernst Cassirer: »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: ECW 24, 467. Max Imdahl: »Barnett Newmann. Who’s afraid of red, yellow and blue III«, in: Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, 236. 53 A. a. O., 241, Hervorhebung ML. 54 Ebd. 52

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tikompositionelle Binnenstruktur«55 des Bildes ermöglicht wird. Die an diesem Beispiel zum Ausdruck kommende »konsequente Hinwendung« zu den heterogenen »immanenten Tendenzen des Materials«, die Wolfgang Welsch in den aktuellen Tendenzen der Ästhetik und ihre Profilierung des Erhabenen erkennt,56 deckt sich durchaus mit einem Anliegen Cassirers, der in der Pluralisierung der Idiome des Geistes die Differenzen des Mediums keinesfalls vernachlässigt, Kunst jedoch als Gestaltung von Material begreift. Für Newman selbst geht sein Bild in der zunächst desorientierenden Wahrnehmung einer überdimensionalen Farbfläche nicht auf, sondern müsse »in metaphysischen Begriffen diskutiert werden«57, denn sie vermitteln »the reality of the transcendental experience«58 . Seine Bilder repräsentieren nichts, sondern lösen Emotionen aus, konfrontieren den Betrachter mit einem zunächst amorph erscheinenden Etwas, um ihm – und darin sind sie wiederum eine hervorragende Illustration des Kantischen Erhabenen – »a new kind of totality«59 spürbar zu machen: »I became involved with the idea of making the viewer present: the idea that ›Man is present‹«. 60 »Die Konfrontation mit dieser Totalität [der großformatigen Bilder]«, interpretiert Imdahl, »soll den Beschauer emotionieren und ihn zu sich selbst bringen, sie soll die innere Struktur (›inner structure‹) des Beschauers gegen das faktisch gegebene, konventionelle Äußere freisetzen und den Beschauer zur moralischen Person erheben. Der Zusammenhang zwischen Erhabenheitserlebnis und Moralität ist gar nicht zu bezweifeln. Kunst soll ›Ethik, nicht Ästhetik‹ sein (Newman).« 61 Lyotard findet die Formulierungen Newmans unglücklich, denn im »Ereignis« seien »weder die Bedeutung noch die Totalität noch die Person im Spiel«. 62 Es ist jedoch das Kennzeichen des Erhabenen (nach Kant), daß die Versuche, die »Totalität« bzw. die »Person« wiederherzustellen, auf die Verunsicherung durch den erschütternden Eindruck folgen. Indem Lyotard das Bild interpretiert und in seine Theorie integriert, holt er im Kommentar nach, was er dem Betrachter des Bildes unterschlagen zu wollen scheint: sich in ein Verhältnis zu dem zunächst Irritierenden zu setzen. Karl Heinz Bohrer hat es wie Lyotard auf Präsenzeffekte abgesehen, läßt jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, daß er rezeptionsästhetisch ar-

55 56 57

A. a. O., 247. Welsch: »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, 208. Zitiert nach Imdahl: »Barnett Newmann. Who’s afraid of red, yellow and blue III«,

249. 58 59 60 61 62

A. a. O., 234. A. a. O., 239. A. a. O., 237. A. a. O., 249. Lyotard: »Der Augenblick, Newman«, 20.

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gumentiert und an einem »Geheimnis des Seins« nicht interessiert ist. Ihm gehe es ausschließlich um die »Modalität des ästhetischen Bewußtseins«. 63 Mit seinen Überlegungen zur Plötzlichkeit stellt er sich jedoch in die Reihe derjenigen, die in ihrem Begriff des Erhabenen – den Bohrer im Ausgang von Heideggers »Ereignis« und Adornos »Nicht-Identischem« entwickelt – das Moment der scheiternden Synthetisierung übergewichten bzw., wie in seinem Fall, isolieren. Das »Ereignis« (bzw. in Bohrers Terminologie die »Plötzlichkeit«) versucht er in seiner »kontingenten ästhetischen Phänomenologie« zu fassen. Die ästhetische Erfahrung sei im wesentlichen eine »Erregung« oder »Schrecken« des Rezipienten, eine »Unterbrechung des pragmatisch Gelebten« 64 , die er unter Verweis auf Nietzsches Definition des »Bewußtseinsverlusts im dionysischen Akt« erläutert. 65 Neben dem oben bereits diskutierten Problem, eine Erfahrung unter Bewußtseinsverlust zu machen, ist fraglich, ob Bohrer das Spezifikum der ästhetischen Erfahrung an Kunstwerken hinreichend beschreibt. Zwar ist Cassirers Ansatz dem Bohrerschen nur bedingt kompatibel, da es ihm um eine Phänomenologie der Kunst geht, die auch, aber nicht nur, die ästhetische Erfahrung untersucht. Die ästhetische Erfahrung ist für ihn jedoch stets eine reflexive. Kunstrezeption läßt sich nicht als Zerstreuung oder Unterhaltung begreifen, sondern ist im Erfassen von Gestalten konstruktiv66 und unterscheidet sich somit von »desintegrierten Formen von Erfahrung [wie] Hypnose, Rausch oder Traum«. 67 3. Die Begründung, die Bohrer für die »erhabene Präsenz« der Dichtung aus der Repräsentationskritik Heideggers und Adornos ableitet, deckt sich jedoch mit der Ablehnung einer Mimesistheorie der Kunst durch Cassirer und der radikalen Pluralität der symbolischen Formen. Zentral für Heideggers Versuch, »das Kunstwerk gegen die traditionelle Auffassung neu zu fassen«, sei, so Bohrer, »das Theorem, daß sich in ihm nicht Vorgegebenes abbilde«, sondern »etwas noch nicht Vorgegebenes ›ereigne‹«.68 In der Setzung des künstlerischen Aktes vollziehe sich etwas, »das in seinem Ereignischarakter von allen anderen Weisen von Dasein sich unterscheidet«.69 Abgesehen von der Privilegierung der Kunst, die er nicht gelten lassen würde, decken sich diese Äußerungen mit den Ansichten Cassirers. In jeder symbolischen Form werden ursprüngliche Setzungen vollzogen,

63

Bohrer: »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie«, 141. Ebd. 65 A. a. O., 139. 66 Vgl. Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 177–179. 67 A. a. O., 181. 68 Karl Heinz Bohrer: »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne: Martin Heideggers und Theodor W. Adornos Ästhetik«, in: ders.: Das absolute Präsens, 96. 69 A. a. O., 98. 64

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für die es keine Vorbilder gibt. Der Ereignischarakter, den Heidegger und Bohrer hervorheben, eignet auch den Cassirerschen Urteilungen. Subjekt und Objekt bilden sich in der symbolischen Formung, und in diesem Sinne tradieren symbolische Formen Ereignisse. Die Skepsis bspw. gegenüber der Kategorie eines Textsubjektes, die Heidegger nach Bohrer »vorweggenommen« habe, würde (wenngleich seine Formulierung weniger pathetisch ausfiele) auch Cassirer teilen können: »Das Gedichtete ist keineswegs dasjenige, was Hölderlin von sich aus in seinem Vorstellen meinte, es ist vielmehr Jenes, was ihn meinte, als es ihn in dieses Dichtertum berufen hat. Streng genommen wird der Dichter von dem, was er zu dichten hat, allererst selbst gedichtet.«70 Nach Bohrer kritisiert Heidegger die allegorische Deutung der Kunst, die in der »Versinnbildlichung eines Anderen«71 besteht. Auch Cassirer hat sich stets gegen eine allegorische und für eine tautegorische oder symbolische Interpretation ausgesprochen. 72 Heidegger sei an dieser Stelle jedoch nicht konsequent, da er auf eine ontologische Referenz des ästhetischen Ereignisses nicht verzichtet und Kunst in den Dienst der »Enthüllung« von etwas »Verborgenem« stellt. 73 Der »möglichen Selbstreferenz des ›Scheins‹« werde Heidegger, so Bohrer, nicht gerecht74 – wohl aber Cassirer, möchte ich einfügen, der den Scheincharakter sowie die immanente Relationalität eines jeden geistigen Produktes hervorgehoben hat. 75 Durch die Verabschiedung der Abbildtheorie nicht nur der Kunst hat sich in seinen Augen der Begriff des Bildes selbst verändert. Auch für die Grundbegriffe der Wissenschaft läßt sich der Ausdruck »Scheinbilder« verwenden. 76

Martin Heidegger: »Hölderlins Hymne ›Andenken‹«, in: Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt/M. 1992, 13, zitiert nach Bohrer: »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, 109. 71 Bohrer: »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, 106 f. 72 Kunst als Symbol zu begreifen, ist gegenwärtig jedoch in Verruf geraten und von ihrer allegorischen Deutung ablöst worden. Nach Eva Schaper liegt dies an einem Begriff des Symbols, der auf die Romantik, insbesondere auf Schelling zurückgeht: »With Schelling in particular, who as a philosopher approached the subject of symbolic suggestiveness, the symbol conception lost the incisiveness and distinction which it had in Goethe’s formulation. The symbol concept became mystically exaggerated.« (Eva Schaper: »The Art Symbol«, in: The British Journal of Aesthetics 4, 1964, 235) Für Schaper hingegen gelte es, eine Betrachtungsweise der Kunst als »symbolic presentation to its present complexity« zu entwickeln, die bei Goethe und Cassirer anknüpfe. Für Goethe »the symbol is […] that which is and means at the same time.« (234). Die sinnliche Präsenz und Konkretheit des Symbols könne nicht als Sprungbrett für eine übersinnliche Bedeutung benutzt werden, sondern ist auf ihre Weise bedeutsam. 73 Bohrer: »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, 107. 74 A. a. O., 98. 75 Vgl. z. B. Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 90; zur »Wirklichkeit des Scheins« vgl. das Kapitel über »Symbolische Prägnanz« in: ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 219. 76 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 4; 15. 70

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Symbolische Formen müssen in ihrem Scheincharakter verstanden und ernst genommen werden. Die »Selbstreferenz des Scheins« besteht für Cassirer jedoch nicht in ihrem Erregungspotential, sondern in der spezifischen Gesetzlichkeit ihrer Formung: »Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr.«77 Obwohl Adorno nach Bohrer durch seine geschichtsphilosophische Konzeption ebenfalls daran scheitere, die reine »Phänomenalität des Ästhetischen« zu erfassen,78 verfahre er in seinem Begriff des Nichtidentischen, der ebenfalls in einer Repräsentationskritik begründet sei, konsequenter als Heidegger, der, so Bohrer, durch Ontologie gebremst werde. Die Nichtidentität (und Erhabenheit) der Kunst bestehe nach Adorno in ihrer Uneinholbarkeit durch den philosophischen Begriff. Wolfgang Welsch, der Adornos Ästhetik als eine »implizite Ästhetik des Erhabenen« bezeichnet, weist auf ihren »immanenten« Charakter hin, durch den sie sich von derjenigen Lyotards unterscheide. Überzeugend skizziert er den Konflikt, in den Adorno gerate, wenn er auf der einen Seite die Unbegrifflichkeit der Kunst als Befreiung von Herrschaft konzipiere, auf der anderen Seite jedoch auf einen »Ausgriff auf Einheit« nicht verzichten möge, »damit im Gegenzug gegen ihn, die Divergenz der Impulse sich überhaupt bekunden kann«79. Gegen die einseitige Privilegierung des Moments scheiternder Synthesis (und damit gegen Bohrer und Lyotard) läßt sich Adornos Kritik an »abstrakter Feindschaft gegen Einheit« 80 lesen. Eine Kunst, die, so Welsch, »das Mannigfaltige bloß frei ließe, würde zugleich das Unterschiedene, auf dessen Artikulation es ihr doch ankomme, preisgeben«. 81 Als eine Philosophie des Nichtidentischen läßt sich auch die Philosophie der symbolischen Formen begreifen, die den Gedanken von etwas, »das sicher im Gegebenen da ist«, verabschiedet und auf der Nichtidentität des Faktischen gründet: »Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ›Bedeutung‹, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt;

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Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form«, ECW 16, 94. Bohrer: »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie«, 137. 79 Welsch: »Adornos Ästhetik: eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, 195. 80 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, 285, zitiert nach Welsch, 193. 81 Welsch: »Adornos Ästhetik: eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, 193. 78

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für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. […] Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ›Wirklichen‹.«82 Als plurale Formen des Geistes lassen sich symbolische Formen nicht ineinander übersetzen, 83 und auch innerhalb einer symbolischen Form ändern sich die Interpretationen des »Faktums«. Als eine »Preisgabe des Unterschiedenen« würde auch Cassirer den Verzicht auf die Formungsleistung des Geistes begreifen. Ein generelles Absehen von der Bildung von Relationen wäre für ihn der Verzicht auf Unterscheidung. Die Differenzierung eines von einem anderen, d. h. die Profilierung von etwas vor einem Hintergrund, ist für Cassirer die Bedingung von Wahrnehmung überhaupt; der Moment, in dem wir uns als von dem Gegenstand affiziert erfahren, uns und ihn zugleich fühlen, ist darüber hinaus konstitutiv für die ästhetische Erfahrung. Es ist schon relativ »gedankenlos«, anzunehmen, es gäbe uns als wahrnehmende und als solche formende Subjekte in der ästhetischen Erfahrung nicht. 84 Mit Cassirer läßt sich mangelndes Fassungsvermögen bzw. mangelnde Fassungsbereitschaft nicht als Herrschaftsverzicht feiern. Seine Haltung, trotz komplexer Anforderungen, vor die das moderne Subjekt gestellt ist, und in dem Wissen, der wechselhaften Dynamik des Kulturprozesses nicht entgegnen zu können, auf die gestaltende Kraft des animal symbolicum zu setzen, birgt ein Moment des Erhabenen. Man sollte an dieser Stelle nicht den Fehler machen, Cassirer Blindheit oder Ignoranz gegenüber den Katastrophen seines Jahrhunderts zu unterstellen, die die Konzeptionen des Erhabenen in den letzten Jahrzehnten motiviert haben. Cassirers Optimismus ist nicht Ideologie oder System, sondern eine Haltung; sein Optimismus hat praktische Funktion, aber keine ideologische Grundlage. Wenn Cassirer in seinem Aufsatz »Das Problem Jean-Jacques Rousseau« von 1932 den Optimismus Rousseaus zu beschreiben versucht, schimmert etwas von seiner eigenen Lebenshaltung und philosophischen Überzeugung von der Verantwortung des Menschen durch: »[W]enn Rousseau […] die Gabe der ›Perfektibilität‹, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, beklagt, so weiß er doch andererseits, daß nur durch sie die endliche Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 7. Zum problematischen Status der Philosophie in diesem Konzept vgl. jedoch Oswald Schwemmer: »Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Zu Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, in: Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, 48–57. 84 Vgl. dazu Recki: »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹?«, 38. 82 83

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Rettung kommen kann. Denn durch sie allein, nicht durch göttliche Hilfe und Erlösung, erwächst dem Menschen zuletzt die Freiheit, die ihn zum Herren seines Geschickes macht«. 85 Die Perfektibilität oder Erhabenheit des Menschen ist für Cassirer die Quelle der Kultivierungsdynamik.

Literaturverzeichnis Hazard Adams: »Thinking Cassirer«, in: Criticism: A Quarterly for Literature and the Arts 25/3, 1983 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970 Jeffrey Andrew Barash: »Metacritical Reflections on Paul Ricœur’s Interpretation of Cassirer’s Concept of the Symbol«, in: Journal Phänomenologie 21, 2004 Karl Heinz Bohrer: »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, in: ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/M. 1994 – »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne: Martin Heideggers und Theodor W. Adornos Ästhetik«, in: ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/M. 1994 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997ff (ECW), Bd. 8 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Philosophie der Aufklärung (1932), in: ECW 15 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Das Problem Jean-Jacques Rousseau« (1932), in: ECW 18 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: ECW 24 Martin Heidegger: Hölderlins Hymne ›Andenken‹, in: Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt/M. 1992 Max Imdahl: »Barnett Newmann. Who’s afraid of red, yellow and blue III«, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989

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Ernst Cassirer: »Das Problem Jean-Jacques Rousseau« (1932), in: ECW 18, 3–82, hier: 40.

Lauschke · Das Erhabene bei Ernst Cassirer

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Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademie-Ausgabe, Bd. IV – Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. III – Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe, Bd. V – Vorlesungsnachschrift Metaphysik von Pölitz, Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII – Kritik der Urteilskraft, Erste Fassung der Einleitung, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 2006, in: Akademie-Ausgabe, Bd. XX, Berlin 1942 Felix Kaufmann: »Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology«, in: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Ernst Cassirer, Evanston 1949 Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die Ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007 Jean-François Lyotard: »Der Augenblick, Newman«, in: ders.: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986 – »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: Tumult 4, 1982 – in: »Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit JeanFrançois Lyotard«, in: Walter Reese-Schäfer (Hg.): Lyotard zur Einführung, Hamburg 1988 Christine Pries: »Einleitung«, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989 – »Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries«, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989 Birgit Recki: »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Ursula Renz (Hg.): Ethik oder Ästhetik. Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004 – »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹? Kritische Anmerkungen zu einer Kantischen Metapher bei Jean-François Lyotard«, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 30/31, Hamburg 1989 Eva Schaper: »The Art Symbol«, in: The British Journal of Aesthetics 4, 1964 Oswald Schwemmer: »Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Zu Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, in: Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997 Donald Phillip Verene: »Cassirers Kulturphilosophie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2, 1984 Wolfgang Welsch: »Adornos Ästhetik: eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989

Fabien Capeillères

Filling a Gap Cassirer’s Interpretation of Wölfflin and Art as a Symbolic Form

«In many years of work on the fundamental problem of art I have found the new view of symbolization and meaning (…) highly developed in Cassirer’s Philosophie der symbolischen Formen indispensable; it served as a key to the most involved questions. But this symbol concept, as it emerges in use, in the course of work – which after all is the most authentic source of all concepts – cannot be defined in terms of denotation, signification, formal assignment or reference. The proof of a pudding is in the eating, and I submit that Cassirer’s pudding is good; but the recipe is not on the box.»1 It is in such paradoxical words that perhaps the most Cassirerian of all philosophers, Suzanne Langer, describes her experience with the philosophy of symbolic forms and it is specifically relevant here given that «the most involved questions» in which symbolization is at work designates primarily her involvement in the field of aesthetics. Although Langer criticizes Cassirer’s general conception of symbolization, when restricted to art her point might be more understandable. For Cassirer constantly counts art among his enumerations of symbolic forms, and since the very beginning of the project, he contemplated to write a volume on art. As John Michael Krois has shown, Cassirer wrote in a letter of May 13, 1942 to Paul Arthur Schilpp: «Schon im ersten Entwurf der Phil. d. s. F. war ein besonderer Band über Kunst vorgesehen - die Ungunst der Zeiten hat aber seine Ausarbeitung immer wieder hinausgeschoben.»2 Furthermore, a very important number of pages are dealing explicitly and directly with art – more than two hundred if we set aside essays and chapters on Kleist, Goethe or Schiller, but if we count the draft version of the chapter on Art in An Essay on Man.3 However, none of these various treatments delivers

Suzanne Langer: Philosophical Sketches, Baltimore 1962, 58–59. Letter to Paul Arthur Schilpp, May 13, 1942. The special collections section of Southern Illinois University Library, Carbondale, Illinois, quoted by John Michael Krois in his Presentation to Ernst Cassirer’s «Écrits sur l’art», in: Fabien Capeilleres/Heinz Wismann (eds.): Œuvres, vol. XII, Paris 1995, 7. 3 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 23, Hamburg 2006. Unless otherwise mentioned, Cassirer’s works are quoted either from the original edition or from ECW, as well as Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von J. M. Krois und O. Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN). 1 2

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

the technical and detailed analysis Cassirer offered for myth, language and theoretical knowledge. It hence seems that for art as well as for many other forms like law and even, more importantly, history, we are left with two kinds of writings: on the one hand polemic ones, like the essay on Axel Hägerström4 , where the thematization of the problems are mainly negative, on the other hand, the popular or exoteric surveys given in texts like An Essay on Man. And it should be noted that in this last type, the developments are also mainly negative, Cassirer spending most space to explain what the treatment of the problems should not be. It is therefore undeniable that Cassirer’s exposition of his system lacks a positive analysis of a few symbolic forms, among which art. This situation leads to several criticisms of the philosophy of symbolic forms similar to Langer’s. The less harsh consist in the affidavit of the incompleteness of the system. On this basis, two problems may nonetheless rise. First, when trying to assess the cause of that incompleteness, rather than blaming the «Ungunst der Zeit» – and since 1933, in Europe in general and in Germany specifically, times have indeed been unfavorable – it is the philosophy of symbolic forms as such that can be call into question. At least two philosophers, while reading Cassirer in the perspective of a philosophy of art, where lead to such conclusion: Suzanne Langer, as we saw, but also Nelson Goodman. After having define his use of the term «symbol» as «very general» and having made clear that «Languages» in my title – Languages of art – should, strictly, be replaced by ‹symbol systems›», Goodman nonetheless wrote «I am by no means aware of contribution to symbol theory by such philosophers as Peirce, Cassirer, Morris and Langer;»5 Indeed secondary literature followed up. For instance Rainer Rochlitz, in his review of a volume collecting most of Cassirer’s essays and manuscripts on art, concluded: «Thus what lacks in Cassirer as well as in Panofsky is the elaboration and differentiation of the key concept to which Cassirer owes most of his fame: the concept of symbol.»6 I claim that Cassirer so to speak wrote the «recipe» for the symbolic function on the top of the box, and that concerning what Langer would call the Art-pudding, he listed most of the essential ingredients. As I will further explain, it reads: «In an enlarged Marburg neo-Kantian frame, put Wölfflin’s fundamental concepts, add a bit of transcendental, and so on.» I will therefore start with a brief explanation of the structure of a symbolic form and of the process of symbolization (I), I will then examine

Ernst Cassirer: Axel Hägerström. Eine Studie zur Schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: ECW 21. 5 Nelson Goodman: Languages of Art, Hackett 1976, Preface. 6 Rainer Rochlitz: Le philosophe des historiens de l’art, in: Critique 586, 1996, 219. 4

Fabien Capeillères · Cassirer’s Interpretation of Wölfflin

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how far Cassirer went in his exposition of art as a symbolic form (II). In a third and last part, I will suggest that Wölfflin’s Kunstgeschichtliche Grundbegriffe were considered by Cassirer as fundamental elements in the constitution of art as a symbolic form, and that they consequently fill one of the gaps in Cassirer’s system. In order to asses the status and completeness of this addition to Cassirer’s system, I will conclude with a brief examination of Panofsky’s conception of perspective in order to show that, far from being a symbolic form, it can be considered as one of the elements constitutive of art as a symbolic form. Such developments tend to show that although Cassirer’s reflection on art seems de facto limited to a rather narrow field and period, namely the Weimarer Klassik, this limitations were inherent to Cassirer’s specific interests rather then to the philosophy of symbolic forms.

I) The general «recipe» for a symbolic form As the General Introduction to The Philosophy of Symbolic Forms explains, the structure of a symbolic form involves at least two fundamental components, qualities and modalities of the pure relations constitutive of a form: «As first moment, we encounter here a difference, which we may designate as the difference between the quality and the modality of the forms. By the ‹quality› of a given relation we here understand the particular type of connection by means of which it creates, within the whole of consciousness, series whose members are subject to a special law of order.»7 Space (juxtaposition), time (the principle of succession), the conceptual connections (called, in a Kantian vocabulary, categories) and number constitute the qualities of relation, the formal relationships fundamental to symbolization. What then is a modality of relation? «We see then, that in order to characterize a specific form of relation in its concrete application and concrete meaning, we must not only state its qualitative attributes as such, but also the whole system in which it stands. If we designate schematically the various kinds of relations – such as the relations of space, time causality etc. – as R1, R 2 , R 3 …, we must assign to each one a specific «index of modality» μ1, μ 2, μ 3 …, denoting the global context [Zusammenhang] of function and meaning in which it is to be taken. For each of these global contexts of signification, language as well as scientific cognition, art as well as myth,

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 29; trans. 95. References for the translation of the Philosophy of symbolic forms are: Ralph Manheim, Yale University Press, 1955–57 (often amended without mention). 7

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possesses its own constitutive principle which set its seal [Siegel], as it were, on all the particular figures within it.»8 Qualities and modalities of relations constitute the fundamental structural elements of a symbolic form. But to conceive of symbolization, we have to explain their dynamic unity. Cassirer conceptualizes this unity of a symbolic form as a spiritual energy under the name of symbolic pregnancy; it is «this relativity of the determined phenomenon of perception, given here and now, to a characteristic totality of meaning.»9 This dynamic process of symbolization is conceived like a process of differential (integration and derivation).10 So to answer the kind of problem Langer raised and use her metaphor, I claim that the general recipe is on the top of the box, the General Introduction to The Philosophy of Symbolic Forms. And the published volumes offered a detailed explanation for three specific treats: Language, Myth and Science. Let’s now see if we can bake Art.

II) Negative advice, genealogy of the dish and the fragmentary recipe for art Given this elucidation of a symbolic form, if art had been analyzed like myth for instance, we would have had an exposition of the qualities and the modality of constitutive relations of this symbolic form, possibly studied in chapters progressing from art’s form of thought to its form of intuition then to its forms of life and ending by an examination of the dialectic process by which art separates itself from myth and religion. But the volume was never written and we have to supply for this lack. Nonetheless, Cassirer gives many indications that can be summarized in three classes. First, what should not be done in order to conceive art? Second, he writes several chapters for a history of the philosophy of art, and third, he gives several clues regarding the modality and the qualities of the relations for the form art. Let’s start with the negative advice. In most cases Cassirer relies on the study of the paradigms of knowledge he performed in Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit.11 Concerning

Loc.cit., 31; trans. 39–40; see also Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 17; trans. 26. 9 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 231; trans. 202. 10 For a detailed explanation of this process and its mathematical paradigm see my Essay: Fabien Capeillères: «Philosophy as Science: «function» and «energy» in Cassirer’s «complex system» of symbolic forms», in: The Review of Metaphysics 61, December 2007, 317–377. 11 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster bis vierter Band, in: ECW 2–5. 8

Fabien Capeillères · Cassirer’s Interpretation of Wölfflin

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the Logik der Kulturwissenschaften12 , the three main paradigms where the natural sciences, psychology and history. In the case of art we should also add metaphysics, meaning by this term dogmatic or speculative metaphysics (that is, for Cassirer, Hegel and Schelling). Cassirer’s claim is that none of these paradigms can offer an accurate account of any of the symbolic forms. The history of aesthetics and of philosophy of art brushed by Cassirer forms a very large picture, starting with Plato and ending with the late nineteenth century (Hippolyte Taine for instance). This history is teleologicaly orientated towards the spiritual autonomy of art, its liberation of all kind of theories of imitation and its inscription in the system of the Kulturwissenschaften. In other words it participate the phenomenology of knowledge that forms the backbone of Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. All these developments are so to speak the anteroom to the positive conceptualization of art as a symbolic form and the exposition of its modality and its qualities. It is on these elements that I would like to focus now. What is the modality of art as a symbolic form? Cassirer stated that the modality of art is sensible intuition: «We may say that what we find in myth is imaginative objectification, that art is a process of intuitive or contemplative objectification and that language and science are conceptual objectification».13 What does it mean? It means that the world art builds is a world of concreteness, of intense sensible qualities: «Language and science are abbreviation of reality; art is an intensification of reality. Language and art depend upon the same process of abstraction; art may be described as a continuous process of concretion.»14 In another characteristic paragraph the philosopher describes the aesthetic experience: «I have now entered a new realm – the realm not of living things but of «living forms». No longer in the immediate reality of things, I live now in the rhythm of special forms, in the harmony and contrast of colors, in the balance of light and shadow. In such absorption in the dynamic aspect of form consists the aesthetic experience.»15 That is why Cassirer writes: «The real subject of art

Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24. English translation by Steve G. Lofts: The Logic of the Cultural Sciences, New Haven/ London 2000. 13 Ernst Cassirer: «Langage and art II», in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979, 187. – See also Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 168. 14 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 143. 15 Loc.cit., 152. 12

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[…] is to be sought in certain fundamental structural elements of our sense experience itself – in lines design, in architectural, musical forms16 .» In order to constitute this world, productive imagination needs fundamental relations: «In the field of artistic intuition, it becomes quite clear that any determination in the sensible world of an aesthetic form is possible only because we produce in imagination the fundamental elements of form».17 We are hence lead to the following question: what are the qualities of relation of art as a symbolic form? It is the answer to that question that constitutes the biggest lack in Cassirer’s developments on art. But I would like to suggest that concerning the visual arts, Cassirer gave a very precise hint through a reference to Wölfflin. In other words I believe that Wölfflin’s fundamental concepts of the history of art offer some of the pure qualities of the constitutive relations of art as a symbolic form. To make this point clear I would like now to examine Cassirer’s interpretation of Wölfflin.

III) Wölfflin’s ingredients: the pure forms of presentation The first important reference made by Cassirer to Wölfflin appears in 1939, in his Axel Hägerström.18 In the last chapter Cassirer wants to assert the necessity of a «logic of the Geisteswissenschaften» but, indeed, claims that this logic is neither a logic of concepts and laws, nor a sheer description of the feelings and affects. It is a transcendental logic of forms, and the Philosophy of symbolic forms endeavors to set the grounds for such a logic. Wölfflin intervenes a solution to an antinomy opposing concept and feeling: if we cannot satisfy ourselves with the determination of an objectivity only by mean of the concept, are we doomed to err in the ocean of feelings? Art – or rather: aesthetics – is the privileged battlefield of this classic antinomy. And the Kunstgeschichtliche Grundbegriffe19 shows de facto the solution to this antinomy: a logic of forms. Two terms deserve to be noticed. First, that, in the course of the general development of this chapter, Wölfflin’s work is described as a part of a «logic» built on fundament relations of forms. This characterization is made in contraposition to Dilthey’s «geisteswissenschaftlicher Psychologie» erected on the concept of «Erlebnis»; second that it is more specifically comprehended – side to side with Lessing! – under the concept of

16

Loc.cit., 157. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 19; trans. 30. 18 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 113. 19 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1991; trans. by Marie Donald Hottinger, London 1932. 17

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a «Phänomenologie der Kunst», a phenomenology of art in opposition to a psychological analysis of artistic feelings. The progression from one characterization to the other seems clear, in that it takes into account Husserl’s distance towards Dilthey, more specifically his criticism of psychologism, quoted by Cassirer p. 26 in the same essay. 20 And, in turn, this reference gives more strength to the concept of «logic»: as a transcendental logic, it is a pure logic of relations, similar (but not identical…) to Hermann Cohen’s and Paul Natorp’s. The reference to phenomenology denotes here the Cassirerian enlargement of the Marburgian conception of the a priori, limited to the normativity of the law, to that of the form: «The direction of the «objective» coincides for Natorp with that of the «necessary» and of the «universally valid» – and this last in turn with that of «legal». Thus for him the law represents the highest and more general concept for all objectification in general – regardless of the form and stage. But even if we were to grant that this applies without restriction to the ethics, aesthetics and philosophy of religion – does it therefore also apply to the spiritual content on which they rely, is it valid for morality, art, and religion themselves? Do they too move in the sphere of laws or does the «objectification» peculiar to them not follow a very different guide – do they not seek an objectivity of form rather than of law?»21 Wölfflin’s Kunstgeschichtliche Grundbegriffe therefore appears to be embedded in a very rigorous concept of philosophy that determines an extremely strict conception of aesthetics. In other words, Cassirer understands Wölfflin’s Grundbegriffe as a pure logic of aesthetical forms, a transcendental logic of visual intuition that is to complement our understanding of the pure forms of other symbolic forms in the all-embracing philosophy of the sciences of culture. A second text clarifies this logic of visual intuition. The second occurrence of Wölfflin in Cassirer’s work dates from the same Swedish period, and occurs in the same general problematic, as the title of the essay tells: Zur Logik der Kulturwissenschaften. But in this context Cassirer addresses a more specific topic: «The logical character of the concepts of [the science of] culture» (dem logischen Charakter der Kulturbegriffe) 22 . He highlights the fact that the three paradigms that have been used to explain the foundation of conceptualization in the cultural sciences, natural sciences (geometry, algebra, physics, biology), history and psychology are partly successful since each of them is involved in the concept of a cultural object. But none of them is in itself sufficient: «The

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Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 26. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 62; trans. 56. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 414; engl. trans. 56.

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specific signification of this object remains nevertheless obscure as long as we isolate these elements from each other, instead of grasping them in their reciprocal relations, in their mutual ‹penetration›. Each of these aspects – the physical, the psychological, the historical – is as such necessary; but none of them can yield the complete picture that we are looking for in the sciences of culture.»23 Wölfflin intervenes here as an illustration of the inaccuracy of Bade’s (Windelband, Rickert) logic of the Kulturwissenschaften, build on the distinction between the nomothetic concepts of the Naturwissenschaften and the ideographic concepts of the Geisteswissenschaften. Roughly put: the distinction between nomothetic and ideographic is build on the Kantian distinction between the determining and the reflecting use of faculty of judgment and the kind of universal we deal with. A nomothetic concept presents a universal, a law, from which one can deduce individual phenomena; an ideographic concept remains in the field of the individual and its historicity and when the general intervenes it is not a law but a value. Since in such a context it is history that constitutes the leading paradigm, Cassirer examines the kind of historiography at play in Wölfflin’s Kunstgeschichtliche Grundbegriffe and shows that a) knowledge is here produced by a constant dialectics (in Platonic meaning) between reflection and determination b) that concepts of forms such as linear and painterly are not concepts limited to history but that they offer a fundamental structural analysis of visual intuition, and c) that even though they result from an analysis of individual and historical pictures, they are figures of universality that are not thought of as values, but rather as descriptive concepts that reveal transcendental structures of intuition. Thus this second text specifies the first one by explaining why Wölfflin’s ten categories constitute a transcendental logic of the forms of visual intuition. What I would like to emphasize now is Cassirer’s transcendentalization, if I may say so, of Wölfflin. Wölfflin, indeed, aimed at a history of art that would deserve the name of Kunstwissenschaft, science of art. But Cassirer puts this claim under a Kantian motto: «Wölfflin’s work does not want to provide a history of art properly speaking; rather, it presents a «prolegomena to any future history of art» that will be capable of appearing as a science»24 . This Kantian allegiance is not totally foreign to Wölfflin; his dissertation was precisely written under a massive reference to the same authority, but the prolegomena he published in 1886 were Prolegomena to a psychol og y of architecture. So at the time, if there was a neo-Kantianism of Wölfflin, it could only be a psycho-physiological neo-Kantianism, not the Husserlian and Marburgian

23 24

Loc.cit., 415; trans. 57–58. Loc.cit., 418; trans. 60.

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transcendental neo-Kantianism. Given Wölfflin later evolution, lets leave open the possibility of such a neo-Kantianism twenty years later, in the 1915 Kunstgeschichtliche Grundbegriffe and proceed with the examination of the transcendental status of the fundamental concepts. In order to transcend the sheer historical character of Wölfflin’s categories (and therefore to deny their possible ideographic character) Cassirer follows Wölfflin’s legitimization in terms of class logic: the categories are of a different type than the imbrications of individual styles, school styles, national styles and period styles. Without such a rupture of continuity writes Wölfflin, «would not the novelty be that the section was cut lower down, the phenomena, to a certain extend, reduced to a greater common denominator?»25 This rupture shows that the concepts do not describe a new historical class but belong to a different and more fundamental field. And Cassirer to conclude: «The history of style can arrive at a certain fundamental layer of concepts that refer to ‹presentation as such›»26 . This expression, «Darstellung selbst», is indeed in Wölfflin’s text and in fact, Cassirer’s sentence should be between brackets since it is the beginning of the sentence he quotes! Cassirer uses it in order to show that Wölfflin’s kunstgeschichtliche fundamental concepts are not essentially kunstgeschichtlich! He reminds his reader that «Wölfflin’s work does not want to provide a history of art properly speaking»27 ; that «In this general frame, Wölfflin sets the ideal of a history of art that would be a ‹history of art without names›. It would not require any names since, rather than to something individual, its questions would be addressed to some principles, and therefore to something ‹anonymous›: to the changes of spatial vision and to the consequent modifications of the optical feeling of form and space.»28 Cassirer’s claim is that Wölfflin’s categories are, rather than strictly historical, «the pure structural concepts of the science of art.»29 Therefore they lead Wölfflin from the field of aesthetics «to the completely universal «science of forms»»30 and that is why he could accurately and legitimately use linguistic metaphors such as in this sentence: «Naturally, in the course of time, art manifests very various contents, but that does not determine the variation its appearance; speech itself changes as well as grammar and syntax»31 (first page of conclusion).

Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 30; trans. 17. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 419; trans. 61. 27 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 418; trans. 60. 28 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 419; trans. 61; Cassirer’s emphasis. 29 Ibid.; trans. 62; Cassirer’s emphasis. 30 Ibid.; ibid. 31 Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 263; trans. 226. 25 26

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

Two elements are crucial in Cassirer’s interpretation of Wölfflin’s concept of Darstellung: As a matter of fact, Cassirer relies on an ambiguity in Wölfflin’s conception of «presentation» in order to spiritualize what is in fact psychoorganic and than to transcendentalize this idealized term. Wölfflin does not maintain a difference between Darstellung and Vorstellung: he speaks of Vorstellungsformen as well as Darstellungsformen and means by that the actual shape of given elements in a picture. Second, for Wölfflin the fundamental concepts and their explanatory function are grounded in physiology and are correlated to a psychology that would further explain their expressive values. The foundational role of physiology appears in the synonymy between «forms of presentation», «optical categories» and «categories of vision» in the Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Sometimes, Wölfflin even writes «the eye» and he refers the eye and vision to an organic meaning. This is the ambiguity that Panofsky criticized in 1914. But Cassirer obviously transforms this insufficiently thematized cleavage in a methodological correlation that would allow for a transcendental conception of the optical. He writes: «In each of these moments [the categories] a definite global orientation expresses itself, a spiritual adjustment of the eye as it where.»32 This geistige Einstellung des Auges says it all about Cassirer’s interpretation: the preeminence is here given to the spirit. Once this accomplished, it is quite easy to read Wölfflin’s concepts in transcendental terms: one only has to interprets Wölfflin’s claim of the preeminence of the fundamental concepts, often phrased in terms of «conditions of …», as transcendental conditions of possibility. Wölfflin’s and Cassirer’s concepts of «Darstellung» are therefore different in that they belong to different strata of a systematic theory of knowledge. Cassirer’s is an essential function in a pure logic of visual intuition and it stays within the tradition of Kant’s concept of pure exhibitio. Wölfflin’s obeys the same function but depends on a psychology. Could we nonetheless speak of a Wölfflinian Kantianism? I do think so and Wölfflin himself had seriously addressed this question. Concerning the fundamental concepts and their designation as categories he writes: «In this breadth, the whole process of imagination has been reduced to five pairs of concepts. We can call them categories of vision without danger of confusion with Kant’s categories. Although they manifest a similar direction, they are still not derived from one principle»33 . It should be

Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 420; trans. 62; my emphasis. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 264; trans. 227. It is interesting to notice that it is when referring to Kant that Wölfflin used «Kategorie» instead of the usual «Begriffe» for his concepts. Panofsky, in his study of Wölfflin, will speak of a «system of categories» («Kategoriensystem», 25.) 32 33

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noticed that the distance towards Kant is taken neither in regards of the fundamental situation of these concepts, nor regarding their function, but only regarding the systematicity of the deduction. So I think it does no violence to Wölfflin to consider that there is definitely some Kantian elements in his reflection but that his neo-Kantianism is characteristic of the psycho-physiologic trend. The second crucial element in Cassirer’s interpretation of Wölfflin’s concept of Darstellung is that despite the polemic with Bade against the strictly historical status of the fundamental concepts of the science of art, Cassirer’s transcendentalization of these concepts preserves their historical accuracy and function, the fact that they depict essential changes in style through periods of history. For Cassirer, on the objective side of the study, they indeed grasp historical changes in the construction of the intuition of the world, just as well as, on the subjective side, they testify for an evolution in the transcendental structure of the pure intuition of vision. In other words: this interpretation is only possible because of Marburg historicization of the transcendental and it is precisely in this context that Cassirer’s interpretation is quite interesting since it offers in art an example similar to the ones we find in science with, for instance, the developments of geometry. Finally, the last step in Cassirer’s lecture of Wölfflin in Zur Logik der Kulturwissenschaften consists in asserting, again against Rickert, that they are not concepts of value. The point seems quite easy, since, on the one hand, it is completely conform to Wölfflin’s claims and texts, and on the other hand, that once asserted the transcendental and phenomenological status of these pure forms of presentation, to claim they sheer descriptive function is tautological. But behind this rather obvious aspect stands the possibility of a misunderstanding. Rickert’s concept of value applied to art neither means nor implies that a given set of presentation forms makes a work of art or a period more valuable than another, which is what Wölfflin and Cassirer deny in fact in agreement with Rickert; it rather means that the whole field of art belongs to the realm of value, a claim that should be addressed by a different discussion. We can conclude that besides its negative function – Rickert’s refutation – the positive function of Cassirer’s interpretation of Wölfflin is that the five couples of categories, linear and painterly, surface and depth, open or closed shape, plurality or unity, relative or absolute brightness provide a missing element in Cassirer’s philosophy of symbolic forms, namely some of what he calls the qualities of relation for the intuition of forms in art as a symbolic form. These qualities of relation, these fundamental and elementary forms of the act of intuition are originally unified in art and they constitute its specific objectivization. A note in Cassirer’s Nachlaß describes this unity:

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«Aber die funktionelle (– echt und nur symbolische) Auffass[ung] der Kunst ändert diese Auffassung von Grund aus – dem nach ihr ist die Kunst ein Schlüssel und ein Weg – ein Strahl, der von der bildenden Tätigkeit ausgeht – und in der reinen Energie dieses Sehstrahls, Blickstrahl[s] wird uns jeweils ein neuer Inhalt von «Welt» sichtbar – Die «Gestalt» der Welt «ist» nicht praeexistent, um nachher sichtbar gemacht zu werden sondern im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt[.] Die Kunst ist ‹reine Sehe›»34

This Cassirerian integration of Wölfflin’s categories is methodologicaly very interesting. It provides an example of Cassirer’s use of the given fields of knowledge and a lively illustration of his application of the transcendental method. But it is also quite problematic. One of the questions we should ask concerns the completeness of the forms of intuition that Cassirer is able to enunciate through this reference to Wölfflin. Do Wölfflin’s concepts provide all the qualities of relation constitutive of art as a symbolic form? Using Erwin Panofsky conception of perspective, I would like to suggest a direction for further research regarding this question.

IV) Conclusion: could there be a Hamburgian variation of this Berliner recipe? It is well known that with his 1924–25 Perspektive als symbolische Form, Panofsky claimed «to make available for art history the expression fortunately coined by Ernst Cassirer».35 This adoption led to several speculations regarding the relations of Panofsky’s theory to Cassirer’s. For instance Katharine Gilbert wrote that one may assume that Panofsky’s «rich iconographical studies in the main illustrate what Cassirer would like to have understood as the application of his theory of art to painting and sculpture».36 More recently, Hubert Damisch claimed that

Ernst Cassirer: «Manuscript Basisphänomene», Box 31, Folder 605, 141. This passage belongs to the pages alpha-numbered K1 etc. (Kapa, for Kunst) that are not edited in ECN 1 (see 294) but are found in ECN 3. The quotation is p. 248–248. 35 Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ‹symbolische Form›«, in: Fritz Saxl (Hg.): Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. IV (1924–1925), Leipzig/Berlin 1927. Reed. in: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer and Egon Verheyen, Berlin 1974, 108; trans. Christopher Wood, 40. 36 Katharine Gilbert: »Cassirer’s placement of Art», in: The Philosophy of Ernst Cassirer, ed. by Paul Arthur Schilpp, Illinois 1949, 624. 34

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Panofsky could «conceive his research on perspective as a critique contribution to the philosophy of symbolic forms.»37 However, it is generally agreed that perspective cannot be a symbolic form in a strictly Cassirerian meaning. 38 A symbolic form denotes a more general synthesis than the spatial synthesis. It is the more embracing «form of thought», which determines the forms of intuitions (among which space), that expresses most adequately a symbolic form, because it formulates its constitutive principle.39 It is also difficult not to notice that when Cassirer had an opportunity to make clear an eventual agreement with Panofsky’s interpretation of aesthetical space, in the conference «Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum» (1931) and the discussion that followed it, he did not make any reference to his colleague, neither in the talk nor in the discussion. The main reasons that allowed for the confusion are that first Panofsky enlarges the concept of perspective to the structure of space as such (instead of the narrow meaning: the optical tri-dimensional system born during of the Renaissance) and that second, in the visual arts, space is the all-embracing form. So if not a symbolic form, what is it? Another quality of relation, another of these fundamental forms of presentation. In order to understand my claim, an understanding of the origin of Panofsky’s conception of perspective will be helpful since I believe this origin is partly to be found in Wölfflin.

Hubert Damisch: L’origine de la perspective, Paris 1987, 29. In recent literature, an interesting attempt should be mentioned: Babu Thaliath: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer, Würzburg 2005. The author claims that if we focus less on perspective as a structure but as an act of symbolic constitution of spatial intuition, then it appears as a characteristic and fundamental symbolic formation. One should nonetheless notice first that perspective is then an original «modality» of symbolization only if we use the concept of modality in a non Cassirerian meaning, which implies that perspective is not a symbolic form stricto sensu, and second that perspective concerns in fact one of the «schema» for the constitution of spatiality. For further discussion see for instance John Michael Krois: «Philosophy and Iconology», Cassirer Studies Vol. 1, Napoli 2008. 39 See for instance Ernst Cassirer: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: ECW 17, 411–432. «There is no universal, firmly fixed intuition of space, but space first gets its determined content and its specific construction only through the order of meaning, in which it acquire its configuration. […] Space first acquires its structure through the general organization of meaning in which its construction is accomplished. The function of meaning is the original and determining one, the structure of space is the secondary and dependant one […] But this pure formal possibility undergoes very different modes of its effectivity, its actualization and its concretization. First, concerning mythical space, it comes on the one side out of the characteristic form of mythical thought, on the other side, from the specific feeling of life that inhabits all the constructions of myth and that gives them their specific tone». (Loc.cit., 419 f.; translation is mine.) 37 38

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It is important to notice that Panofsky, in his early works (up to his exile) was relying on a strong philosophical background which was essentially neo-Kantian. He therefore was on common ground with Cassirer. This aspect of his thought has been underscored, particularly in the Anglo-American literature, even after Michael Ann Holly’s Panofsky and the foundations of art history, a book that do not fail to mention this debt.40 Neo-Kantianism pervaded Panofsky’s vocabulary, influenced the kind of problems he addressed and the types of solution he offered. For our present problem, two steps are essential. First, in his 1915 discussion of Wölfflin, Panofsky accomplished for the «science of art» the critique of physiology neo-Kantianism operated in philosophy in the late 1870’s. He hence upheld an understanding of Wölfflin that was extremely close to the interpretation Cassirer will develop more than a decade later. Second, in his 1920 debate with both Wölfflin and Riegl, it is the critique of psychology that is accomplished.41 This double step, characteristic of both neo-Kantianism and Husserlian phenomenology, aimed the establishment of a «transcendental-scientific methodology» and a «transcendental philosophy of art»42 . On this basis, Panofsky was addressing a typically neoKantian problem, the question of the Kategorienlehre, here in the scope of art history, and that was how he considered both Wöfflin’s concepts and Riegl’s concept of Kunstwollen. The conception of perspective as a symbolic form came from a systematization of this question of the aesthetic categories. The problem was already somehow formulated by Wölfflin. Any serious reader of Wölfflin’s book would have asked herself the question the author raised in the conclusion: «It is possible that other categories would be set up – as for me I do not know which ones».43 But Panofsky may have linked this sentence and the one that followed just six pages later: «Medieval design is not the perspective, spatial design of recent times, but a more abstract one, plane one which only at the end breaks into the recessions of three dimensional

Michael Ann Holly: Panofsky and the foundations of art history, New York 1984. This double critique was not noticed by Hubert Damisch when he wrote, about Panofsky’s treatment of perspective «if he [Panofsky, FC] was naive, it was the common character of a whole period which, to refer to Husserl’s critique, uphold the claim of psychology to constitute for the sciences of the spirit the fundamental abstract discipline», in: Damisch: L’origine de la perspective, 24. Damisch quoted Krisis, published in 1936, while in fact the critique of psychology was partly accomplished in the Logical researches dated 1900–1901 and then in the Ideen; this critique was initiated by Hermann Cohen in 1871 and carried on by Paul Natorp, who played a significant role for Husserl. 42 See: »Der Begriff des Kunstwollens« (1920), in: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer and Egon Verheyen, Berlin 1974, 38; and note 19, according to which Riegl «founded a transcendental philosophy of art». 43 Wöllflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, trans. 227. 40 41

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pictures. We cannot apply our categories immediately to that development, but the total movement obviously runs parallel.»44 Riegl’s categories of haptic and optic already offered an interesting complement to and a possible systematization of Wölfflin, and Panofsky took care to notice how Wölfflin missed this completive character when he reduced Riegl’s concepts to those of «plastic» and «pictural.» In addition, the idea of haptic and optic spaces presented a scheme for the historical genesis of representations of space. With his conception of perspective, Panofsky went one more step into «formalism». He realized that once freed from its narrow understanding (the optic geometrical system born with the Renaissance) the concept of perspective could be used to describe the structure of space. The so-called «formalism» is in fact an as usual as inappropriate qualification of a category that belongs to an a priori and transcendental sphere. For Panofsky’s understanding of perspective as a «symbolic form» carries at least two fundamental significations, a content matter one and a strictly methodological one. Regarding the former signification, it means that, in the visual arts, perspective conceived as the structuration of space stands as the all-embracing form. In the system of aesthetic categories that Panofsky was considering in the Twenties, it is the architectonic category. In addition, Panofsky saw in the pictorial structuration of space the particular expression of a more general conception of space common to all arts and to the sciences of a given period. In other words, Panofsky’s study is not so much an essay in art history than a milestone in the wonderful Warburgian context of the spiritual history of the Kulturwissenschaften. The methodological meaning of this qualification of perspective as a symbolic form is that it gives it a transcendental status. Which, in turn has two main advantages: first it is an attempt to make Kunstwissenschaft a «strenge Wissenschaft», to use Husserl’s 1911 expression and radicalize the claim made by Panofsky in 1914 and 1920; second, perspective can be used as category of reflection for the art historian’s research within the context of the Geistesgeschichte. This philosophical status allows for an integration of perspective to Cassirer’s conception of art as a symbolic form. But what place could perspective hold? It is that of a schema for the construction of space, a schema which is always in itself determined by the original meaning commanding the construction of the symbolic form. Despite this limitation, Panofsky somehow fulfilled his goal for if we try to reorganize the elements suggested by Cassirer concerning the constitution of art as a symbolic form, Wölfflin’s concepts, conceived of as qualities of relations, are indeed

44

Loc. cit., 232.

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submitted to the spatial schema, a claim that was essentially Panofsky’s. Furthermore, perspective also becomes an important element in the philosopher’s reconstitution of the Kulturwissenschaften.

Bibliography Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4 – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, Hamburg 2001 (References for the translation of the Philosophy of symbolic forms are: Ralph Manheim, Yale University Press, 1955–57) – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – «Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum», in: ECW 17 – Axel Hägerström. Eine Studie zur Schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: ECW 21 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 (English translation by Steve G. Lofts: The Logic of the Cultural Sciences, New Haven/ London 2000) – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois and Oswald Schwemmer Hamburg 1995 ff. (ECN) – »Langage and art II», in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979 – »Manuscript Basisphänomene», Box 31, Folder 605 Fabien Capeillères: »Philosophy as Science: ‹function› and ‹energy› in Cassirer’s ‹complex system› of symbolic forms», in: The Review of Metaphysics 61, December 2007 Hubert Damisch: L’origine de la perspective, Paris 1987 Katharine Gilbert: «Cassirer’s placement of Art», in: The Philosophy of E. Cassirer, ed. by Paul Arthur Schilpp, Illinois 1949 Nelson Goodman: Languages of Art, Hackett 1976 Michael Ann Holly: Panofsky and the foundations of art history, New York 1984.

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John Michael Krois: »Écrits sur l’art«, in: Fabien Capeilleres/Heinz Wismann (eds.): Œuvres, vol. XII, Paris 1995 John Michael Krois: »Philosophy and Iconology«, in: Cassirer Studies Vol. 1, Napoli 2008 Suzanne Langer: Philosophical Sketches, Baltimore 1962 Erwin Panofsky: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in: Fritz Saxl (Hg.): Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. IV (1924–1925), Leipzig/Berlin 1927. – Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer and Egon Verheyen, Berlin 1974 Alois Riegl: »Der Begriff des Kunstwollens«, in: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer and Egon Verheyen, Berlin 1974 Rainer Rochlitz: «Le philosophe des historiens de l’art», in: Critique 586, Mars 1996 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1991; trans. by Marie Donald Hottinger, London 1932

Barbara Naumann

Versteckte Korrespondenzen Ernst Cassirer als Leser der Literatur

Angesichts der eindrücklichen Schriften Cassirers zu Goethe und der Kommentare zu anderen Autoren wie Schiller, Kleist und Hölderlin drängt sich die Frage auf, warum Cassirer in der Literaturwissenschaft so wenig wirksam geworden ist. Eine sich auf Cassirer beziehende literaturwissenschaftliche Diskussion – Goethe sei einmal ausgenommen – existiert nicht und auch die Goethe-Schriften Cassirers haben deutlich mehr Spuren im philosophischen und kulturtheoretischen Kontext denn in der Literaturkritik hinterlassen. Es gilt erst einmal festzuhalten, daß der Leser Ernst Cassirer, der eine intensive Auseinandersetzung mit der Literatur um 1800 gesucht hat, ein Leben lang weitgehende Zurückhaltung gegenüber jüngerer Literatur bewahrte. Mit Ausnahme eines einzigen, und nicht unproblematischen, Aufsatzes zu Thomas Manns Goethe-Roman »Lotte in Weimar«, in dem Cassirer Schwierigkeiten mit Manns ambivalenter und ironischer Haltung gegenüber Goethe kaum verbergen kann, finden sich keine Äußerungen des Philosophen zur Literatur seiner Zeit. Die Frage, was Cassirers Zurückhaltung gegenüber der Moderne motiviert haben mag, findet nur allzu leicht eine biographische Antwort: Toni Cassirer verweist in ihrer Autobiographie1 auf das Mißtrauen des Philosophen gegenüber dem ihm zu bohèmehaft erscheinenden Künstlerkreis um den Verlag und die Galerie seiner Vettern Bruno und Paul Cassirer. Und ebenso leicht läßt sich erkennen, daß diese und ähnliche Hinweise Cassirers Schweigen zur Moderne nicht klären. Über Cassirers persönliche Affinitäten und Aversionen gegenüber der Kunst der Moderne sind die Auskünfte oberflächlich und bleiben daher allzu spekulativ. Stattdessen könnte vielleicht aber ein Blick auf die Art und Weise, wie Cassirer als Leser der klassisch-romantischen Literatur das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie entwirft, zur Klärung der Frage beitragen, welche Konsequenzen die fehlende Auseinandersetzung mit der künstlerischen Moderne für Cassirers Philosophie und für deren Rezeption hat.

1

Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg, 2004.

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I) Zu Heinrich von Kleist Kleists Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«2 sei ein »wahrhaft theoretisches Meister- und Kabinettstück«, so läßt Cassirer in seinem – einzigen – Kleist-Aufsatz »Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie«, erschienen im Band »Idee und Gestalt« (1921; 21924)3, vernehmen. Was mag Cassirer zu diesem begeisterten Diktum stimuliert haben? Diese Frage drängt sich auf, weil der Text über Kleist darauf selbst keine deutliche Antwort gibt. Im ganzen setzt und verfolgt er die Polarität zwischen Kleist, dem Dichter, und Kleist, dem Theoretiker: »Die breite Diskussion theoretischer Einzelprobleme […] verschwindet in dem Maße, als Kleist sich mehr und mehr als Dichter erkennt und die neuen künstlerischen Pläne und Aufgaben von ihm Besitz nehmen.«4 Angesichts des Kleistschen Œuvres ist diese Opposition zweifelhaft, denn sie tritt deutlich in Widerspruch zu dem, was Kleist in beinahe allen seinen Texten - seien es die Briefe und theoretischen Skizzen, seien es die Anekdotensammlungen, seien es vor allem die Erzählungen und Dramen – beschäftigt hat. Kleists Werk zeichnet sich aus durch intrikate und witzige Sprachspiele, durch Überdetermination beinahe jeden Wortes und Begriffs und gleichzeitiges Festhalten an der Wortwörtlichkeit, durch Faszination an Chaos und Verwirrung, durch unabsehbare Turbulenzen der Handlung und Sprachführung. Zudem durchzieht eine ausgeprägte Fall-, Sturz- und Auflösungsmetaphorik Kleists Werke; sie verweist nicht zuletzt auf eine geradezu gewaltsame Erschütterung geläufiger metaphysischer Vorstellungen, wie auch der des Gegensatzes von Dichter und Denker. Prägnant opponiert denn auch der Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« der Vorstellung, daß Denken und Wissen unabhängig von ihren Äußerungs- und Darstellungsformen entwickelt, in einen quasi theoretischen und einen imaginär-vortheoretischen Aspekt aufgespalten werden könnten. Die Gedanken entstünden vielmehr aus einer »dunklen Vorstellung«5, aus der ungerichteten Bewegung des Sprachklangs und der Rede. Das vorab unabgemessene Reden hat seine eigene Ökonomie, führt es doch den Denker auf jene Bahnen, die ihn bemerken lassen, daß »die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist.«6 Der Satzbau,

2

Heinrich von Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bände, hg. von Helmut Sembdner, Bd. 2, München 9. Aufl. 1993, 319–326. 3 Ernst Cassirer: Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze (1921), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki 1997 ff. (ECW), Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Hamburg 2001, 243–435, hier: 389–435. 4 A. a. O., 420. 5 Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, 319. 6 A. a. O., 320.

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die Grammatik, die Sprachökonomie erweisen sich als konstitutive Determinanten für den Gang des Denkens. Es kommt darauf an, dem Denken der Sprache Raum und Zeit zu geben. »Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungsworte in die Länge […] und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Ideen auf der Werkstätte der Vernunft«, heißt es bei Kleist. Vollends aber gelingt die Gedankenbewegung erst unter der Androhung einer Unterbrechung, die etwa von der im Raume anwesenden Schwester ausgehen könnte: »Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, […] noch um einen Grad höher gespannt.«7 Damit gibt Kleist deutliche Hinweise auf die zugleich linguistische und situative Umwegigkeit des Denkens, auf Aspekte wie Sprachklang, Laut, Rhythmus, auf die Rolle von akustischen bzw. sprachmusikalischen, physiologischen und grammatischen Anteilen, auf die produktive Diskontinuität bei der Verfertigung der Gedanken. Nicht zuletzt aber schildert er ein agonales Geschehen, ein Drama antagonistischer Kräfte, das sich selbst wie auf einer Bühne aufführt. Kleists Essay läßt sich auf die begriffliche Konstellation von »Idee und Gestalt« insofern kritisch zurückbeziehen, als Kleist vor allem die Ununterscheidbarkeit beider unterstreicht. Im Prozeß der Gedankenformation geht er gerade nicht von einer vorgängigen Idee und einer nachträglich gefundenen Gestalt aus. Der dialektische Schematismus von Form und Inhalt wird von ihm suspendiert. Im Unterschied zu diesem Schematismus ermöglicht die allmähliche Verfertigung eine Art der Selbstbeobachtung des Denkens in seinem Vollzug. Kleist läßt das Denken in einem fortwährenden Übertragungsprozeß der Sprache immer deutlichere Konturen gewinnen. Wie in einer sprachlichen Experimentierstube (»Werkstätte«), in der Erprobung des Ungerichteten und Unfertigen, geht dieses Denken vonstatten, und es sind keineswegs nur sprachliche Momente allein involviert bei der Entfaltung dessen, was am Ende als ein differenzierter, geordneter und bestimmter Gedanke zu erkennen ist. Der Begriff der Performanz drängt sich in Bezug auf Kleists Darstellung geradezu auf. Kleist legt die physiologisch-physiognomische Dimension des Denkens frei; das Denken gewinnt im assoziativen Reden gewissermaßen eine eigene, sichtbare Physiognomie. Zugleich mit der Physiognomie tritt die prozessuale, zeitliche Struktur des Denkens hervor. Um Gestalt anzunehmen, benötigt der Gedanke Zeit und die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim

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Ebd.

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Reden, der diskursivierende Verlauf der Rede, gibt dem Gedanken die Zeit, die er benötigt. Im Werden des Gedankens sind zugleich sprachliche und vorsprachliche, dingliche und körperliche, im weiten Sinne kulturelle und anthropologische Momente wirksam, die ein Szenario konkurrierender Vermögen, Ziele und Ablenkungen bilden. Sie fallen sich sozusagen gegenseitig ins Wort – und tragen gerade dadurch zur Schärfung des Gedankens bei. Man erkennt hier, daß jene Momente des symbolischen Prozesses, die Cassirer im ersten Band der »Philosophie der symbolischen Formen« mit zwei symbolischen Funktionen, der »Funktion des sprachlichen Denkens« und der Funktion »der künstlerischen Anschauung« bezeichnen und der sogenannten »reinen Erkenntnisfunktion« 8 zur Seite stellen wird, bei Kleist in einer engen Verbindung, als diskursivierender Verlauf der Rede, in Erscheinung treten. Zudem spricht Cassirer von einem »Widerstreit«9, der sich von Kants kritischem Denken an immer zwischen Anfang und Ende, zwischen (logischer) Potenz und konkretem Akt einer jeden geistigbegrifflichen Entfaltung finde und einem »Stilgesetz« dieser Philosophie angehöre. Einen solchen inneren Widerstreit reflektiert das von Kleist mehrfach inszenierte agonale Moment des Redens, es reflektiert seinen Geltungsanspruch und Widerstreit im Durchgang durch verschiedene Perspektiven und Positionen. Cassirer möchte in seinem Kleist-Aufsatz den Spuren der Auseinandersetzung Kleists mit der Anthropologie Kants nachgehen und zugleich einen intertextuellen Bezug zu Fichtes radikal subjektivistischer IchKonzeption in dessen »Bestimmung des Menschen« (1800) aufdecken.10 Andere Einflußspuren führen ihn bis zu Rousseaus Philosophie zurück. Gleichwohl räumt Cassirer ein, daß mit einer solchen Untersuchung lediglich »der fundamentale Wandel in der theoretischen Grundanschauung« Kleists zu entdecken sei.11 Die eigentliche Beziehung zur Literatur selbst bleibt gänzlich unberührt. Neben der motivisch orientierten Einflußforschung, die hier am Werke ist, läßt sich bemerken, daß Cassirer in diesem Text bereits eine embryonale, noch nicht voll entwickelte Version des Konzepts der symbolischen Formen vorlegt. Damit zusammen hängt eine deutliche Aufmerksamkeit für die allmähliche Verfertigung immer komplexerer und abstrakterer Zusammenhänge aus einem aisthetisch, d. h. sinnlich bestimmten Wahrnehmungs- und Reflexionsprozeß, für die Momente des Übergangs und der abstrahierenden Bewegung. In Kleists selbst-

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 9. 9 A. a. O., 8. 10 Vgl. Cassirer: Idee und Gestalt, 404. 11 A. a. O., 419. 8

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reflexiver Geste spielen diese Momente in der Tat eine wichtige Rolle. Aber sie erscheinen bei Kleist nicht als ein wohlgeordneter Übergang im Sinne einer »stufenweisen« Abstraktion. Vielmehr sind es Abschweifungen, Brüche, Verfehlungen, Rückschritte, die Kleist zur Sprache bringt. Es ist eine grundsätzlich konflikthafte Struktur, die den Gedanken in Bewegung versetzt. Die »Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« stellt nicht nur die Inszenierung der These von der Interdependenz von Denken und Sprache dar. Der Essay wendet sich ebenso der Zusammengehörigkeit von Sinnlichkeit und Sinn zu und er unterläuft damit die Trennung von Idee und Gestalt, an der Cassirer hier noch festhält. Hypothetisch ließen sich direkte Bezüge von Cassirers symboltheoretischer Grundfrage – wie dem Sinnlichen Sinn zukommt – zu Kleists Text knüpfen.12 Allerdings vollzieht Kleists Text auch Gedankengänge, die sich jenseits des symboltheoretischen Paradigmas bewegen, insofern nämlich, als er an keiner Stelle eine begriffliche Synthesis, sondern den Widerstand des Denkens sucht. Mit der Abschweifung, der Unterbrechung, dem agonalen Prinzip benennt er allesamt Momente, die das Interesse auf das dynamische Potential des Widerstands lenken. Vor allem aber nennt Kleist diese Momente nicht einfach, integriert sie auch nicht in eine begriffliche Ordnung, sondern er entfaltet sie unablösbar von und in der fiktiven, selbstreflexiven Struktur des Textes, die eben dadurch seine Poetik und Rhetorik zugleich beschreiben und in der Tat vorführen. Cassirer zitiert unter anderem mehrere Passagen aus Fichtes »Bestimmung des Menschen«, einer Abhandlung, die er als einen Hintergrundtext für Kleists Erkenntniskrise benennt. Fichte bindet darin die Selbstbefragung des Ich in ein Modell des umwegigen, bildhaften, des symbolischen Wissens: »Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, daß du auf deinem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als – wovon du wissen wolltest? […] Nun suchst du denn doch etwas außer dem bloßen Bilde liegendes Reelles – mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiß – und eine andere Realität […] Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie durch dein Wissen und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntnis zu umfassen.«13 Diese und ähnliche Stellen projiziert Cassirer auf die in Kleists Briefen zur Sprache kommenden Erkenntniszweifel und Lebensprobleme und er folgert: »Denken wir uns Kleist als Leser dieser Sätze – […] Sein Schmerz, seine Verzweiflung und Vernichtung wären jetzt völlig geklärt.«14 Hier nun läßt sich eine an Dilthey angelehnte Argumentation

Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 319; sowie ders.: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 75–104, hier: 81 f. 13 Hier zitiert nach Cassirer: Idee und Gestalt, 404. 14 A. a. O., 405. 12

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vernehmen, die die Lektüre Fichtes und Kants in der Perspektive des »Erlebnisses« denkt und als lebensweltliche und biographische Begründung für die Dichtung herbeizitiert.

II) Cassirers Verfehlung der Poetik Kleist aber schreibt vor allem einen literarischen Text, einen Text, der die Poetik und Rhetorik unübersehbar als Teil seines Arguments in Szene setzt, d. h., als solche benennt und zugleich ins Spiel bringt. Dieser Umstand, diese besondere »Art des Meinens«15, wie eine bündige Formulierung Walter Benjamins das literarische Verfahren bezeichnet, hätte auch Cassirer Anlass geben können, über die Suche nach philosophisch-begrifflichen Einflüssen auf Kleist hinaus zu gehen. Die »Art des Meinens« eines Textes ist dasjenige Moment, an dem sich zunächst eine – in Cassirers Worten – »Funktion der künstlerischen Anschauung«16 verfolgen ließe. Kleist spielt in seinem Gedankenexperiment, das nicht als ein Essay, sondern formal als Brief an den Freund Rühle von Lilienstern verfaßt und zudem noch als ein Textfragment gekennzeichnet ist (es endet mit den Worten: »Die Fortsetzung folgt«17), ganz offensichtlich mit einer Reihe etablierter literarischer Gattungen und Topoi. Zu letzteren gehören unter anderem die zahlreichen Anspielungen auf die Konversationskultur der aufgeklärten französischen Salons des 18. Jahrhunderts. Auch finden sich Hinweise auf narrative Gattungen, z. B. Anekdoten über die französische Revolution, die den Topos des Kampfes (Agons) wieder aufgreifen, und eine Nacherzählung einer Fabel Lafontaines. Des weiteren macht Kleist Anleihen bei philosophischen, pädagogischen und militärischen Diskursen. Mit den genannten Gattungen und Topoi ist das Spektrum der textuellen Varianten in Kleists Fragment noch nicht einmal erschöpft. Der Text bildet ein Geflecht genuin fiktionaler und semi-fiktionaler literarischer Gattungen, die sich gegenseitig spiegeln, brechen, kommentieren. Ein Brief als Essay, ein Essay als Nacherzählung und Anekdote, als Traktat und als freie Assoziationsfolge. Die formale Vielseitigkeit, Gattungsmischung und diskontinuierliche Dynamik des Textes legen einen deutlichen Akzent auf die Widerständigkeit des Gedankens und auf die dadurch erzwungene Umwegigkeit und Temporalität, auf die Allmählichkeit des aus der Rede hervorgehenden Denkens. Dabei schließt sich diese Denkbewegung nicht. Der Anfang – weder der Anfang des Textes, nämlich des Briefs, noch der der Gedankenbewegung, die ja noch vor

Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1. Frankfurt/M. 1980, 14. 16 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9. 17 Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, 324. 15

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dem aufgeschriebenen Gedanken begonnen haben muß – läßt sich nicht auf das noch ausstehende, aber versprochene Ende zurückbiegen. Der Text vollzieht die Bewegung einer stets neu ansetzenden Verfehlung. Hier sollen diese kurzen Hinweise auf die poetologischen und performativen Züge von Kleists »Allmählicher Verfertigung …« genügen, geht es doch vor allem darum zu zeigen, daß Kleists Text mit Cassirers Bezeichnungen »Prosa-Aufsatz« und »Abhandlung«18 unzureichend beschrieben und vor allem um die genuin literarischen Aspekte, um die – in Cassirers Worten – eigentliche »Funktion der künstlerischen Anschauung«19 verkürzt wird. Cassirer zeigt kein Interesse an der genuin literarischen Darstellungsweise, an der Poetizität der Schrift, an der Untrennbarkeit von Ausdruck und Inhalt, an Mehrdeutigkeit, Verfremdung, Selbstreferenz und Rekurrenz – um nur einmal die Roman Jakobsonschen Kriterien des Poetischen in Erinnerung zu rufen. 20 Im Falle von Kleists Texten – gleich welcher Gattung – ließe sich die Jakobsonsche Liste zumindest noch um die Begriffe Ambivalenz, Doppeldeutigkeit, Sprachspiel und Metaphorik verlängern. 21 Cassirer jedenfalls scheint das Poetische oder Literarische der Literatur nicht als eine Herausforderung der Philosophie anzuerkennen. Vielmehr sucht er sich am begrifflichen Gehalt der im engeren Sinne begrifflich-philosophisch argumentierenden Passagen zu orientieren. Cassirer will nämlich die »Bedeutung der intellektuellen Krise für das Ganze [von Kleists, BN] Künstlerschaft« festhalten. 22 Dies führt zu einer besonderen perspektivischen Verzerrung, gewinnt man doch den Eindruck, Kleist habe mit seiner Formulierung von Erkenntniskrisen bestimmte Aspekte der Transzendentalphilosophie für die Literatur fruchtbar machen wollen. Unter dieser Perspektive muß die Literatur als ein abgeleitetes, defizitäres Medium der Philosophie erscheinen. Das Gegenteil ist aber der Fall: Wo immer Kleist in Briefen und Textfragmenten seinem Erkenntniszweifel Ausdruck

Cassirer: Idee und Gestalt, 420. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9. 20 Vgl. Roman Jakobson: Poetik, Frankfurt/M. 1979. – Zur »Poetizität« siehe darin das Vorwort von Elmar Holenstein, 7 ff., und Jakobsons Aufsätze »Linguistik und Poetik« und »Der grammatische Parallelismus und seine russische Spielart«. 21 Auch hierzu ein Beispiel aus dem zitierten Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«: Kleist spricht dort u. a. von der Explosion einer »Kleistischen Flasche«. Hier liegt, neben der Diskussion eines naturwissenschaftlichen Experiments, eine offensichtliche Selbstreferenz vor, die jedoch im Kontext nicht als solche markiert ist. Gemeint ist die sogenannte »Kleistische oder Leidener Flasche«, eine Art früher Kondensator des Erfinders E. J. von Kleist, ein innen und außen mit leitenden Belägen versehenes Glasgefäß. – Vergleichbare Sprach- und Namensspiele durchziehen Kleists gesamtes Werk. 22 Cassirer: Idee und Gestalt, 409. 18

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gegeben hat, sind seine Motive in einem kreativen Sinne vielfältig und diffus – bestimmt aber nicht einsinnig auf eine Restitution philosophischer Argumente in der Literatur gerichtet. Didaktisch-pädagogische Absichten seiner Verlobten gegenüber mischen sich mit dem narzißtischen Bedürfnis einer souveränen Selbstdarstellung und zugleich mischen sich Berichte über die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebens- und Bildungslage mit Einsichten in die grundsätzliche Unmöglichkeit von objektiver Erkenntnis. Der Wortlaut der berühmtesten, und einschlägigen, Briefstelle zur sogenannten »Kant-Krise« Kleists macht dies auf eindrückliche Weise deutlich: »Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.«23

Diese Passage und besonders einige Bemerkungen Kleists aus den »Berliner Abendblättern« veranlassen Cassirer zu dem Schluß, daß es »die Motive und Grundzüge der Kantischen und Fichte-Schellingschen Philosophie« seien, »die hier überall die latente Voraussetzung bilden und denen Kleist freilich […] eine neue Bedeutung abgewinnt.«24 Diese neue Bedeutung wird an dieser Stelle nicht näher beschrieben, vermutlich deshalb, weil sie in Cassirers Argument ja nur als eine Reduktion der Transzendentalphilosophie auf die erkenntniskritische Skepsis zu erfassen wäre. Allerdings weist Cassirer zum Schluß seines Kleist-Aufsatzes dem Dichterischen dann doch einen besonderen und vom philosophisch-begrifflichen Denken gesonderten Ort zu. Er begründet diese Abspaltung damit, daß in Kleists Dichtung sich Krisenmomente immer durch ein »Gefühl des Daseins selbst, de[m] bloße[n] Lebenstrieb als solcher« darstellten. 25 Kleists Dichtung könne letztlich »immer nur seiner Individualität selbst, nicht der allgemeinen Entwicklung der deutschen Geistes- und Bildungsgeschichte« entnommen werden. 26 Einmal davon abgesehen, daß hier wieder eine deutliche Orientierung an der lebensphilosophisch-biographischen Argumentation in Diltheys schon 1906 erschienenem Werk »Das Erlebnis und die Dichtung« vernehmbar wird, wirkt dieser Schluß zugleich wie eine Antiklimax zu den Thesen des ganzen Aufsatzes. Dessen Verdienst ist ja gerade der Entwurf eines umsichtigen, vielfältigen Bezugsmusters mög-

Heinrich von Kleist: Brief vom 22. 3. 1801 an Wilhelmine von Zenge, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, 634. 24 Cassirer: Idee und Gestalt, 423. 25 A. a. O., 429. 26 A. a. O., 434. 23

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licher philosophischer Texte für Kleist –, wenn man so will, eine Abwertung der so genannten Kant-Krise und eine Aufwertung des Philosophen Kleist. Immerhin ist Cassirer mit seinen Hinweisen auf Fichte, Rousseau, Schelling u. a. der germanistischen Forschung um Jahre voraus, die noch lange Kleists »Kant-Krise« allzu wörtlich nehmen sollte. 27 Cassirer fällt jedoch darauf zurück, die von ihm so feinsinnig nachgezeichneten Linien von Kleists komplizierter, mitunter verworrener Bezugnahme auf die Philosophie wieder zu relativieren und die Dichtung ganz und gar zur Spielwiese potentiell irrationaler Individualität zu erklären. Daß und warum Kleist durch die Literatur die Philosophie als unzureichend und beengt kritisierte, daß er die Literatur favorisierte, weil ihm die Philosophie wenig bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken behilflich war und den Darstellungsansprüchen der sich in der Tat vollziehenden Genese des Gedankens nicht gerecht wurde –, diese grundsätzlich in die Moderne weisenden Einsprüche gegen die Philosophie zu Kleists Zeit hat Cassirer noch nicht wahrgenommen.

III) Literatur der Moderne – ohne Cassirer Man könnte sich mit diesem Befund enttäuscht abwenden und Cassirer als einen Philosophen verstehen, der letztlich den Herausforderungen der Literatur an die Philosophie – mit der Ausnahme von Goethes Werken – nicht gerecht zu werden wußte. Zumal die anderen Aufsätze des Bandes »Idee und Gestalt« in dieselbe Richtung weisen und die Dichtung Schillers, Hölderlins und selbst die Goethes mehr oder weniger auf deren philosophisch-begriffliche Aspekte reduzieren wollen. Nach der Abfassung der »Philosophie der symbolischen Formen« hat sich Cassirer nicht wieder ausführlicher zu Kleist geäußert, so daß man auf eine mögliche Modifikation seiner Lektüre durch die entfaltete Symboltheorie nur spekulieren kann. Cassirers übrige Äußerungen zur Literatur lassen allerdings, mit der Ausnahme von Goethes Werken, eine solche Perspektivenveränderung nicht erwarten.28 Deshalb ist der Umstand zu bedenken, daß Cassirers Philosophie die Anerkennung des Literarischen als einer genuinen Form der Darstellung und so des Weltverhältnisses doch – zumindest im Allgemeinen – fordert:

Vgl. Bernhard Greiner: »Die Wende in der Kunst: Kleist mit Kant«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 64, 1990, 96–117. 28 Unter den Äußerungen des Philosophen zur Literatur neben Idee und Gestalt und der Philosophie der symbolischen Formen sind zu erwähnen Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, und »Schiller und Shaftesbury« (1935), in: ECW 18, 333–352. 27

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»Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht«, so fordert er im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen. 29 Ergänzend ließe sich sagen, daß gerade auch Kleists Literatur sich durch die Doppeltheit von sprachlichem Denken und künstlerischer Anschauung auszeichnet. Kleists Texte weisen eine Reihe von Merkmalen auf, die sie als Vorläufer der literarischen Moderne lesbar machen. Dazu gehören die unhintergehbare Vielfalt und Perspektivierung von Wahrnehmungen und die diskontinuierliche, mitunter agonale Entfaltung von Bedeutungsschichten ohne einen letzten, vereindeutigenden Sinn –, um nur zwei Aspekte zu nennen. Zugleich bietet Kleist gewissermaßen eine, wenn auch von Cassirer nicht erkannte, Illustration der Hauptthese der Philosophie der symbolischen Formen über die Validität der Funktion künstlerischer Anschauung. In der Tat haben Kleists Werke erst im 20. Jahrhundert eine Rezeption erfahren, die ihrer internen widerständigen Dynamik gerecht zu werden suchte. Vor allem aber mobilisieren Kleists Werke das untrennbare Ineinander von Sprachdenken, artistischem Verfahren und kultureller Handlung als Kritik an den Grundlagen der transzendentalen Philosophie. Man weiß, daß sich diese Kritik in der klassischen Moderne – von Rainer Maria Rilke und Robert Musil zu Franz Kafka, von Henry James zu James Joyce, von Charles Baudelaire bis Marcel Proust – verstärken wird. Solche Aspekte sind es allerdings nicht, die Cassirer im Werk Kleists – oder in den Werken der anderen von ihm untersuchten Autoren wie Hölderlin und Schiller – entdeckt oder gar zum Gegenstand seines Urteils macht. Er spannt Kleists Text noch einmal in eine Form-Inhalt-Debatte ein, die dieser Text doch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu suspendieren sucht. Und die Literatur der Moderne, wie auch die bildende Kunst und Musik seiner Zeit, sind praktisch gänzlich verbannt aus dem symboltheoretischen und kulturphilosophischen Œuvre Cassirers. Dieser Umstand verleiht seinem Werk einen deutlich kulturkonservativen Gestus. Cassirer meinte, in der Literatur um 1800 schon alles Wesentliche über die künstlerische Anschauung vorzufinden und daher ohne Rücksicht auf die Künste seiner Zeit eine zeitgemäße Kulturphilosophie entwerfen zu können. Dies ist umso erstaunlicher, als die Philosophie der symbolischen Formen ja einen kulturell informierten Erkenntnisanspruch besitzt, der die von den Künsten geforderte Sensibilität für die artistische Funk-

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Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9.

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tion für unhintergehbar hält. Marcel Proust – um nur ein kurzes Beispiel der zu Cassirer zeitgenössischen Literatur zu nennen – formulierte den Übergang in die literarische Moderne am Beispiel der Grammatik Flauberts nicht zufällig mit Bezug auf Kant: »J’ai été stupéfait, je l’avoue, de voir traiter de peu doué pour écrire, un homme qui par l’usage entièrement nouveau et personnel qu’il a fait du passé défini, du passé indéfini, du participe présent, de certains pronoms et de certaines prépositions, a renouvelé presque autant notre vision des choses que Kant, avec ses Catégories, les théories de la Connaissance et de la Réalité du monde extérieur.«30

Die Zurückhaltung Cassirers gegenüber der zeitgenössischen Kunst macht auch einen der Gründe offenbar, warum sein Einfluß in der Literaturwissenschaft nahezu inexistent blieb und warum dies selbst jetzt noch der Fall ist, da die Kulturphilosophie an Aufmerksamkeit gewonnen hat und ein neues Licht auf die symbolische Ordnung und die kulturelle Pluralität der Literatur gefallen ist. Gerade in der Literaturwissenschaft hat die Kulturphilosophie, die sich teilweise ja auf Cassirer beruft (Clifford Geertz, Michel Foucault), ein breites Echo gefunden und neue Lektüren stimuliert. Nicht zufällig haben viele Literaturwissenschaftler sich jedoch bevorzugt solchen philosophisch informierten Autoren der Cassirer-Generation wie etwa Walter Benjamin zugewandt, die die Literatur als ein eigensinniges Darstellungsmedium nicht nur benennen, sondern sich von deren konkreten Formen zur Literaturkritik haben herausfordern lassen. Benjamin allerdings, der wie Cassirer sprachphilosophische Interessen verfolgte und die Untrennbarkeit von Gedanke und sprachlicher Form als »Art des Meinens«31 prägnant bestimmte, sah die Literatur weniger im Zeichen einer mit sich selbst versöhnten Wendung zur Welt, denn als Organon der Verlustund Kontingenzbewältigung. Benjamins Insistenz auf den Wahrheitsanspruch der Literatur beruft sich unter anderem auf Proust, Baudelaire und Kafka. Cassirers Verhältnis zur literarischen oder künstlerischen Moderne jedenfalls ist nahezu inexistent, obgleich in vielerlei Hinsicht eine solche Bezugnahme nahe zu liegen scheint. Hypothetisch gesprochen: Hätte

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»Ich war konsterniert, wie ich gestehen muß, einen Mann als schreibunbegabt behandelt zu sehen, der doch durch den vollkommen neuen Gebrauch des Passé défini (einer grammatischen Vergangenheitsform, BN), des Partizips Präsens, bestimmter Pronomen und Präpositionen unsere Wahrnehmung der Dinge auf ähnliche Weise erneuert hat, wie einst Kant mit seinen Kategorien, mit seinen Theorien der Wahrnehmung und der Wirklichkeit der äußeren Welt.« (Marcel Proust: »A propos du ›style‹ de Flaubert«, zuerst in der »Nouvelle Revue Francaise«, Januar 1920. Wieder in: ders.: Contre Sainte-Beuve, hg. von Pierre Clarac/Yves Sandre, Paris 1984, S. 586 ff. – Übersetzung BN). 31 Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1., 14.

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Cassirer von seiner Philosophie aus einmal auf die zeitgenössische Literatur geblickt, er hätte nicht wenige Autoren entdecken können, die Verfahren der symbolischen Perspektivierung des Alltags und der Kultur in den Vordergrund rücken. Zahlreiche Texte der Moderne akzentuieren die Unmöglichkeit unmittelbarer Erkenntnis; sie machen insbesondere eine durch inkommensurable Erfahrungen erzwungene Pluralisierung der Wahrnehmung zum Ausgangspunkt neuer Darstellungsformen und ungewöhnlicher Sprach-Bilder. Aber die Potentiale dieser Hypothese sind von Cassirer nicht entfaltet worden. Zur literarischen Moderne unterhält die »Philosophie der symbolischen Formen« allein versteckte Korrespondenzen. Zum Schluß sei ein Beispiel und eine Hypothese erlaubt: Mit großer Subtilität hat beispielsweise Henry James in seinen Erzählungen und Romanen das Thema der unhintergehbaren Vielfalt und Perspektivierung kultureller Wahrnehmung und Differenzierung entwickelt. Die Erzählung »The Figure in the Carpet« (1896) 32 kreist um das Problem der Unmöglichkeit direkter Wahrnehmung. Zug um Zug demonstrieren die Jamesschen Protagonisten (nicht nur dieser Erzählung), daß die notwendige Umwegigkeit des Sehens von etwas als etwas die unhintergehbare Voraussetzung einer Orientierung zur Welt darstellt und das Sehen insofern symbolisch verfaßt ist. Es geht um ein Muster im Teppich, das als solches von niemandem erkannt wird. »Nobody sees anything!«, ruft Miss Poyle in »The Figure in the Carpet«, als ein Streit darum entbrennt, ob »das Eigentliche« einer Kunst überhaupt jemals zur Darstellung kommen könne.33 Alle Figuren der Erzählung scheitern in der Kunst und im Leben, da sie nicht einsehen, daß die Umwegigkeit symbolisch verfaßter Darstellung den einzig gangbaren Weg einer Erkenntnis der Kunst oder in der Kunst bildet. Das Muster ist im Teppich – und nicht dahinter. Die Suche nach einem Dahinter, einer Welt »hinter« der prägnanten Darstellung, läuft bei Henry James stets ins Leere. In diesem Sinne ließe sich sagen, daß die Kunst der Moderne ein Muster im Teppich der Symbolphilosophie bildet. Es wurde von Cassirer nicht gesehen.

Henry James: »The Figure in the Carpet«, in: Complete Stories 1892–1898, New York 1996, 572–608. 33 A. a. O., 577. 32

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Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. [ECW 7] – Idee und Gestalt. Fünf Aufsätze (1921), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – »Schiller und Shaftesbury« (1935), in: ECW 18 Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg, 2004 Bernhard Greiner: »Die Wende in der Kunst: Kleist mit Kant«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 64, 1990 Roman Jakobson: Poetik, Frankfurt/M. 1979 Heinrich von Kleist: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bände, hg. von Helmut Sembdner, Bd. 2, München 9. Auflage 1993 Marcel Proust: »A propos du ›style‹ de Flaubert«, zuerst in der »Nouvelle Revue Francaise«, Januar 1920. Wieder in: ders.: Contre Sainte-Beuve, hg. von Pierre Clarac/Yves Sandre, Paris 1984 Henry James: »The Figure in the Carpet«, in: Complete Stories 1892–1898, New York 1996, 572–608

Gert Mattenklott †

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Kein zweites philosophisches Œuvre des 20. Jahrhunderts korrespondiert so anhaltend und produktiv mit einem literarischen Werk wie dasjenige Cassirers. Keinen anderen Philosophen hat Goethe so tief geprägt wie den Autor der Philosophie der symbolischen Formen. Gewiß, beschäftigt hat sich Cassirer auch mit Schiller, Kleist und Hölderlin, so wie dieser, Hebel und Trakl bei Heidegger eine Rolle spielen; noch einmal Goethe und Hölderlin auch bei Adorno, Musil bei Nicolai Hartmann, Kafka bei Blanchot und Lyotard. Cassirers Berufung auf Goethe betrifft bekanntlich aber nicht nur gewisse Themen und Motive, wie in den Lektüren von Heidegger und Adorno, Hartmann, Blanchot und Lyotard, sondern den Kern seines eigenen Philosophierens. Jedenfalls gilt das spätestens seit seiner Begegnung mit den Wissenschaftlern des Warburg-Instituts. Seit den Forschungen von Barbara Naumann wissen wir darüber vermutlich das Wichtigste.1 Goethe ist der bedeutendste literarische Pate dieses Werks. Ist er womöglich aber auch dessen Grenzwächter? Kein Teilhaber aus der ersten Generation der Warburg-Schule hat den historischen Horizont der eigenen Forschung in einem wesentlichen Sinn über die Renaissance hinaus ausgedehnt, ungeachtet des Interesses, das Warburg selbst der Technikgeschichte sowie der Entwicklung neuer Medien bis in die eigene Gegenwart entgegenbrachte. Das Programm einer Erforschung des Nachlebens der Antike blieb auf deren Renaissancen im engeren Sinne beschränkt. Edgar Wind mit seinen Arbeiten über Kunst und Anarchie – nicht nur bei Goethe, sondern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – ist eine Ausnahme2, in der Literaturwissenschaft allenfalls E.R. Curtius, doch stehen dessen Veröffentlichungen zum 19. und 20. Jahrhundert kaum mehr unter dem Einfluß Warburgs und seiner Schule.3 Man könnte annehmen, daß Cassirer mit den Künsten der eigenen Gegenwart prinzi-

S. Barbara Naumann: Poetik und Philosophie des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998 [Habil. Berlin 1996]; danach vor allem Barbara Naumann und Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002. 2 Edgar Wind: Kunst und Anarchie, Frankfurt/M. 1963. 3 Vgl. dazu Peter Philipp Riedl: Epochenbilder. Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860–1930, Frankfurt/M. 2005, hier insbesondere Kap. 2.2., 58 ff. 1

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piell weit weniger Probleme gehabt haben könnte als etwa Curtius, dessen perspektivische Ausrichtung der Moderne im Sinn von Nachfolge oder Abfall vom Humanismus der Alten Welt eine entsprechend restringierte Wahrnehmung der Künste seiner Zeit nahelegte. Doch ist es Curtius, der den Weg zu Gide, Proust und Joyce für sich und eine Generation deutscher Leser bahnt, nicht Cassirer, so wie Edgar Wind – in mancher Hinsicht ein Cassirer-Schüler – sich durch Mallarmé und Alfred Jarry herausfordern ließ und Erwin Panofsky während seines Exils in den USA durch den Hollywood-Film, nicht aber der Autor der Philosophie der symbolischen Formen, der zu alledem schwieg. Die Frage nach Cassirers Ansichten über den ästhetischen Modernismus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint mir nicht nur für die Reichweite von dessen philosophischem Denken allgemein, sondern speziell auch für die Geltung seines Denkens in unseren Jahrzehnten von erheblichem Gewicht zu sein. In einer philosophischen Landschaft, deren Parameter zumindest außerhalb der engen Grenzen der akademischen Disziplin durch die Kritik ästhetischer Erfahrung in allen Lebensbereichen geprägt ist – Kritik im Kantischen Sinn des Begriffs –, verliert ein Philosophieren an Aufmerksamkeit, das für diese Dimension zwar einerseits so prädisponiert zu sein scheint wie kaum ein anderes im 20. Jahrhundert, andererseits aber für die Reflexion der ästhetischen Ausdrucksformen dieser Zeit, einschließlich derjenigen der Künste, so wenig Angebote bereitzuhalten scheint wie dasjenige Cassirers. Von Wittgenstein und Heidegger, Benjamin und Adorno, Derrida und Lyotard bis Nelson Goodman, Richard Rorty und Hayden White reicht eine Staffel von Autoren, die am Ende des 20. Jahrhunderts mit ihren Analysen und Thesen über die Bedeutung ästhetischer Phänomene für den Aufbau der Kultur hegemoniale Deutungsmacht beanspruchen. Die Aufmerksamkeit für Cassirers Philosophie für unsere Zeit ist gemindert durch ein Defizit auf diesem Feld. Worin ist es begründet? Mit der Beziehung zum Werk Goethes dehnt Cassirer den Horizont seiner Paradigmen bereits ungewöhnlich weit in die Moderne aus. Liegt seine Zurückhaltung der künstlerischen Gegenwart gegenüber in der Konsequenz des Klassizismus? Ist sie das Resultat einer normativen Haltung gegenüber einer Entwicklung, die sich diesen Normen verweigert? Selbst wenn es so wäre, kann sie begründen, warum es nicht einmal negative Äußerungen gegenüber der zeitgenössischen Kunstentwicklung gibt? Kaum irgendwo in seinem noch von ihm selbst veröffentlichten Werk hat der Philosoph sich über Autoren, bildende Künstler oder Musiker diesseits der historischen Romantik geäußert. Es ist kaum denkbar, daß sich dieser Befund durch die Publikation des Nachlasses noch wesentlich verändert. Man denke zum Vergleich nur an Simmels Aufmerksamkeit für Rodin, sein Interesse an Stefan George. Bei Cassirer finden weder Baudelaire, Stendhal

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oder Balzac Erwähnung – Flaubert, Zola und Mallarmé wenige Male und dann aus zweiter Hand –, weder Rodin, Cézanne oder Van Gogh, kein Debussy und Wagner, von Gustav Mahler und der Zweiten Wiener Schule insgesamt zu schweigen. An Hölderlin, durch den Georgeaner Norbert von Hellingrath für die Ästhetik des 20. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg neu entdeckt, ist zwar auch Cassirer lebhaft interessiert, in den Heidelberger Jahren bestärkt vermutlich durch seinen Freund Friedrich Gundolf. Doch anders als dieser und in fast ostentativem Kontrast bleibt Cassirer mit seinem eigenen Interesse Geschichtsschreiber, der mehr an der geistesgeschichtlichen Konstellation des deutschen Idealismus im Tübinger Stift interessiert ist als an dem Dichter der späten Hymnen. Auf vergleichbare Weise überwiegend philosophiehistorisch bestimmt, bleibt sein Verhältnis zu dem anderen »Modernisten« des frühen 19. Jahrhunderts, Heinrich von Kleist. Er scheint die Künste als Vollzugsformen der sich erweiternden Kluft, die sich in der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert zwischen dem individuellen Gesetz und den objektiven Ordnungen auftut, als urbaner Teilhaber ihrer Entwicklung zwar wahrgenommen zu haben. Ästhetisch oder philosophisch gewürdigt hat er sie nicht. Außer der Distanz des Goetheaners wirkt hier offenkundig auch die des Historikers der Geistesgeschichte. Doch auch »Goetheaner« unter den zeitgenössischen Künstlern kommen nicht vor: weder Paul Klee noch Hofmannsthal. Gewiß, eine Korrespondenz mit Thomas Mann und ein Aufsatz über ihn, doch dieser bezeichnenderweise über »Thomas Manns Goethe-Bild«.4 Sollte das Storm-Zitat in Freiheit und Form (›Der Eine fragt: Was kommt danach? / Der Andre fragt nur: Ist es recht? – Und also unterscheidet sich / Der Freie von dem Knecht.‹) 5 – sollte dies die aktuellste Lektürefrucht zeitgenössischer Literatur in dem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk Cassirers sein? 6 Vor derart eiligen Schlußfolgerungen warnen einige andere Beobachtungen. Über Cassirers Lesebiographie und die des Musik- und Kunstliebhabers ist damit nämlich noch nichts gesagt. Thomas Meyer zitiert einen Brief, der Cassirers Lektüre Maeterlincks belegt, andere Zeugnisse betreffen Fontane, Strindberg, die Russen. In Schweden ist man überrascht, daß der Philosoph bereits vor seiner Ankunft Selma Lagerlöf im Original gelesen hat. Gustav Mahler hat er schon früh gemeinsam mit seiner späteren Frau

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Ernst Cassirer: »Thomas Manns Goethe-Bild: Eine Studie über Lotte in Weimar«, The Germanic Review, Nr. 20, New York 1945, 166-194. 5 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 7, 158. 6 Selbst Referenzen auf Sekundärquellen sind selten. Der Literarhistoriker Georg Brandes wird mit Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert gelegentlich zitiert, für die bildende Kunst Zolas Causeries littéraire et artistiques mit seinen Bemerkungen über Manet.

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begeistert gehört, und mit der aktuellen Kunst war er durch die Aktivitäten seiner Vettern Bruno und Paul vertraut. Cassirers öffentliche publizistische Zurückhaltung darf also durchaus nicht als generelle Ignoranz oder gar Ressentiment gegenüber der Moderne seiner Zeit ausgelegt werden. 7 Dessen publizistische Enthaltsamkeit, die also von der des Teilhabers am kulturellen Leben seiner Umgebung durchaus zu unterscheiden ist, muß bei einem Philosophen besonders erstaunen, der mit seinen Studien über Albert Einstein und die Rezeption zeitgenössischer Soziologie und Ethnologie die wacheste Aufmerksamkeit für die intellektuellen Avantgarden seiner Zeit an den Tag legt. Hat Cassirer sich eine derartige Stellungnahme zu den Künsten aufsparen wollen für ein eigenes Werk? Andeutungen in dieser Richtung scheint es zu geben. Sind sie wirklich triftig? Vielleicht wird die Veröffentlichung der Nachlaßbände darüber Aufschluß geben. Vorerst sind wir also auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen, wie sie sich aus der Konstellation des Publizierten ergeben. In drei Annäherungen an mein Thema möchte ich – statt einer spekulativen Erörterung – eine Auswahl der seltenen Beispiele für Cassirers Wahrnehmung künstlerischer Modernität geben. Vielleicht geben sie Aufschluß über die Gründe für die erstaunliche Zurückhaltung eines Philosophen der eigenen künstlerischen Gegenwart gegenüber, der sich gegenüber der ästhetischen Tradition so offen wie kaum ein anderer gezeigt hat. Die Würdigung von Geschichtsschreibern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Niebuhr, Ranke, Mommsen) durch den Autor von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 ff.) 8 ist mein erstes Exempel; das zweite eine Auseinandersetzung mit einer Publikation von Max Brod und Felix Weltsch in der Philosophie der symbolischen Formen9 ; das dritte das Kapitel über die Künste in dem späten Essay on Man.10

I) In den nachgelassenen Fragmenten Friedrich Nietzsches zu seinen Basler Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) findet sich der leidenschaftliche Goethe-Verehrer Theodor Mommsen – neben Gutzkow, Julian Schmidt, Gustav Freytag und Berthold Auerbach – als ein Beispiel

Siehe die Belege bei Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2007, 20; 40; 218 und öfter. 8 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922) bis Vierter Band (1957), in: ECW 2–5. 9 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster bis Dritter Teil (1923, 1925, 1929), in: ECW 11–13. 10 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23. 7

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für die »Verehrung des Wirklichen, als Gegensatz zu der Zucht des Klassischen«. Es fehle an einer »imperativischen Behörde der Kultur«, die derartige Entgleisungen eines Autors zensieren könnte, und weiter: »Wer die römische Geschichte durch ekelhafte Beziehung auf klägliche moderne Parteistandpunkte und deren ephemere Bildung lebendig macht, der versündigt sich noch mehr an der Vergangenheit als der bloße Gelehrte, der alles todt und mumienhaft läßt. (So ein in dieser Zeit oft genannter Historiker, Mommsen.).«11 Cassirer ist Nietzsches Verdikt nicht gefolgt, im Gegenteil. Er hält sich an den Goetheaner Mommsen, auch ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Literatur. Nicht nur, daß er am aktualisierenden Stil Mommsens keinen Anstoß nimmt – er fügt sich ihm vielmehr in das Bild eines Autors, der seinen Ort zwischen Wissenschaft und Kunst finde, zugleich der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Propädeutik, glänzender Analytiker und kunstvoller Erzähler: »Er verlangte nicht nur die Sicherung der Fundamente der Geschichtswissenschaft, sondern auch die Verbreiterung der Fundamente. Er hat die römische Inschriftenkunde, die Epigraphik, die Numismatik, die Rechtsgeschichte erst wissenschaftlich organisiert und von hier aus ein ganz neues Bild von römischer Kultur und vom römischen Staat gezeichnet. Erst in seinem ›Römischen Staatsrecht‹ vom Jahre 1871–75 steht dieses Bild wahrhaft vor uns; denn die Form der Erzählung, der historischen Darstellung, die Mommsen in der ›Römischen Geschichte‹ angewandt und sofort zu voller Meisterschaft entwickelt hatte, wird hier durch die Analyse ergänzt und vertieft. Erst diese Analyse vermochte das Dauernde im Wandel der Zeiten und im Wechsel der staatlichen Einrichtungen ans Licht zu ziehen. Sie schuf die wissenschaftliche Grundlage für jene Synthese, die Mommsen von Anfang an vorschwebte.«12 Der Würdigung des Analytikers schließt sich eine ausführliche Charakterisierung des »Zaubers« an, den der Schriftsteller Mommsen auf den Leser übe: kein ruhiger Beobachter wie Ranke, sondern selbst ein Akteur im Drama der Weltgeschichte: »So subjektiv diese Haltung oft erscheinen muß, so ist doch ebendiese Subjektivität zugleich ein bewußtes Kunstmittel, durch das wir mitten in das Geschehen selbst versetzt werden.«13 In seinem Lob geht Cassirer noch weiter. Mommsen habe dem Gebot nach historischer Objektivität des Wissenschaftlers einen neuen Sinn ge-

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Nr. 710 und 1176 (zwischen Herbst 1869 bis Herbst 1872), in: ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 3, Bd. 3, Berlin/New York 1978, 67 und 92. – Vgl. hierzu und zum Folgenden Gert Mattenklott: »Mommsens Prosa. Historiographie und Literatur«, in: Alexander Demandt/Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen/Theodor Mommsen (Hg.): Wissenschaft und Politik im Kaiserreich, Berlin 2005, 163–181. 12 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 303. 13 A. a. O., 305. 11

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geben: »Die Persönlichkeit kann ihm immer nur von der Persönlichkeit erfaßt werden – und das ist ohne innere Teilnahme, ohne Liebe und Haß nicht möglich. Hier muß der Geschichtsschreiber sein Gefühl und seine Phantasie frei walten lassen – und er mag darin so weit gehen, daß sich die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst zu verwischen scheint. In dieser Hinsicht verzichtet Mommsen darauf, für die Geschichte einen strengen Wissenschaftsanspruch zu erheben. ›Der Schlag […] der tausend Verbindungen schlägt, der Blick in die Individualität der Menschen und der Völker‹, so paraphrasiert er Goethe in seiner Rektoratsrede, ›spotten in ihrer hohen Genialität alles Lehrens und Lernens. Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.‹«14 Cassirer zitiert Mommsen, der Goethe zitiert: eine sehr mittelbare Legitimation für eine Auffassung, die nicht nur den Kunst-Begriff erweitert, sondern auch die Gestaltung der Wissenschaft verändert, wie der Autor wenig später ohne eigenen Einspruch konstatiert. Sicherung der historischen Fakten und Analyse der historischen Prozesse einerseits und andererseits eine gestaltgebende Darstellung, die dem Perspektivismus des Forschers Rechnung trägt, diese ausgewogene Balance von sachlicher Forschung und persönlichem Gestaltungsvermögen, objektiven und subjektiven Momenten, begründet für Cassirer Mommsens Genialität. Der ästhetische Anteil an der Historiographie ist hier nicht als eine nachträgliche Überformung zu verstehen, die formende Gestalt vielmehr als eine »Synthese«, die dem Forscher Mommsen »von Anfang an« vorgeschwebt habe, indessen erst in quasi absteigender Linie erarbeitet und, wo nötig, revidiert werden mußte. Dem Webstück der Römischen Geschichte liege ein historiographischer Entwurf zugrunde, dessen Muster, Farben und Rhythmen, dessen Materialien aus den dokumentierten Quellen entnommen werden müssen. Die historischen Fakten begegnen nicht im Modus unvermittelter Wahrnehmungen und Erlebnisse, sondern im Medium von Sinnentwürfen. Mit dieser Vorstellung ist die Richtung vorgegeben, in der Cassirer sich später auf Voßlers Sprachdenken als das Modell seiner »Philosophie der symbolischen Formen« beruft: »erst Stilistik, dann Syntax und Lautlehre«15 , in einer noch weiter reichenden Konsequenz einer aller Wahrnehmung vorgängigen und sie organisierenden »Sinnfügung«

14

Ebd. – Das Mommsen-Zitat: Theodor Mommsen: »Rede bei Antritt des Rektorates« (1874), in: ders.: Reden und Aufsätze, 3. Abdruck, Berlin 1912, 3–16, hier: 11. Cassirer kommt darauf zurück im Essay on Man. 15 Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 76. Julia Clemens merkt zu diesem vermeintlichen Voßler-Zitat an, daß vermutlich der folgende Satz Voßlers aus einem Aufsatz von 1904 (»Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprach-philosophische Untersuchung«) gemeint sei: »Also erst Stilistik, dann Syntax!«

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mit seiner Theorie der »symbolischen Prägnanz«.16 Wir werden sehen, wie eben dieses Modell der Sprache noch wieder die ästhetischen Überlegungen Cassirers auch im Essay on Man bestimmt. Mit der pointierten Schätzung Mommsens als eines literarischen Autors ist Cassirer nicht allein, ja dessen ausführliche Würdigung in diesem Sinn mag durch ein Ereignis zum mindesten befestigt, wenn nicht angeregt worden sein, das für die im engeren Sinn literarischen Autoren deutscher Sprache von Gerhard Hauptmann über die Brüder Mann bis zu George und Hofmannsthal als Herausforderung empfunden werden mußte: die Verleihung des Nobelpreises für Literatur – des ersten in dieser Sparte an einen deutschsprachigen Autor überhaupt – an den Historiker der Römischen Geschichte im Jahr 1902.17 Die Stockholmer Laudatio bei dieser Gelegenheit enthält bereits alle Momente von Cassirers Würdigung: »Mommsen’s Römische Geschichte, which has been translated into many languages, is distinguished by its thorough and comprehensive scholarship as well as its vigorous and lively style. Mommsen combines his command of the vast material with acute judgment, strict method, a youthful vigour, and that artistic presentation which alone can give life and concreteness to a description. He knows how to separate the wheat from the chaff, and it is difficult to decide whether one should give higher praise and have more admiration for his vast knowledge and the organizing power of his mind or for his intuitive imagination and his ability to turn carefully investigated facts into a living picture. His intuition and his creative power bridge the gap between the historian and the poet.«18 Wir wissen nicht, ob Cassirer den Text dieser Laudatio mit dem Lob von Mommsens »lebenden Bildern» und seiner schöpferischen Kraft, die den Graben zwischen Historiker und Dichter überbrücke, gekannt hat. Ausdrücklich beruft er sich für seine wissenschaftsgeschichtliche Perspektivierung mehrfach auf Goochs (seinerzeit noch nicht auf Deutsch erschienenes) Standardwerk über Geschichte und Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, dessen Hochschätzung Rankes und Mommsens er ohne

Vgl. dazu John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Form and History, New Haven/ London 1987, insbesondere 56, und Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. 17 Der Vorschlag für den Preis kam nicht aus der literarischen Szene, sondern von einer Gruppe von Historikern der Berliner Universität ohne Anteil von Autoren oder Literaturwissenschaftlern, die – weil es einen Nobelpreis für Historiker nicht gab und gibt – den Umweg über eine literarische Würdigung nehmen mußten. Zur Reaktion auf die Preisverleihung s. Hans Heinrich Sträuli: Theodor Mommsens Römische Geschichte, Diss. Zürich 1948. 18 Presentation Speech by Carl David af Wirsén, Permanent Secretary of the Swedish Academy on December 10, 1902, in: Nobel Lectures. Literature 1901–1967, Amsterdam 1969. Die Rede ist auf Englisch im Internet publiziert (zuletzt eingesehen: 20. August 2008): http://nobelprize.org/literature/laureates/1902/press.html. 16

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Vorbehalt teilt.19 Hier ist einem Mißverständnis vorzubeugen, das nicht nur durch die historischen Romane von Walter Scott bis Gustav Freytag schon seinerzeit nahegelegen zu haben scheint. Weder Gooch noch Cassirer reden einer belletristischen Erweichung der Historiographie das Wort, wenn sie diese als einen Brückenschlag zur Kunst auffassen. Unmißverständlich kommt das in der Kritik zum Ausdruck, die Cassirer an Auguste Renans Auffassung des Urchristentums übt. Wie weit dieser auch mit seinem Verständnis des Mythos als eines »unentbehrliche(n) Organon(s) der historischen Erkenntnis« gekommen sei, so habe er doch eine Ästhetisierung auf Kosten der Historie betrieben, wie Cassirer sie mit Renans Ausruf zu Wort kommen läßt: »Poésie est tout que je veux.« Dergestalt habe Renan auch den Mythos »in einem milderen, poetisch-verklärten Licht« wahrgenommen. 20 Während Renan die Geschichte poetisiert habe, so läßt sich Cassirers Unterscheidung zusammenfassen, habe Mommsens Prosa das Mythische und Poetische an ihr musterhaft zum Vorschein gebracht. Im Poetischen sieht Cassirer an dieser Stelle die Gewähr, daß die »Individualität von Menschen und Völkern« in ihren vielfältigen Verknüpfungen von Konstellationen ebenso zum Vorschein kommt wie die historische Gestalt, zu der sie für einen heute Lebenden zusammentreten. Vielleicht angestoßen durch Cassirers Aufmerksamkeit für die Ästhetik der Geschichtsschreibung hat die Heidelberger Philosophische Fakultät 1914 seine Geschichte des Erkenntnisproblems mit der goldenen Kuno-FischerMedaille gewürdigt. Die Medaille wird für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsprosa vergeben. Tatsächlich ist in dieser Schrift das Verhältnis von Historiographie und Ästhetik nicht nur bei Gelegenheit Mommsens sowohl Thema wie Bewegungsform der Darstellung. Es darf als ein roter Faden betrachtet werden, den der Autor als solchen auch deutlich markiert. Bereits die Charakterisierung von Niebuhrs Verhältnis zur Geschichte und dessen Aufnahme durch Ranke gibt darauf die deutlichsten Hinweise: der Historiker als Archäologe, dieser als Analytiker des kulturellen Gedächtnisses in einem Freudianischen Sinn. Niebuhr vergleiche »den Historiker mit einem Mann in einem dunklen Raum, dessen Augen sich allmählich so an das Dunkel gewöhnt haben, daß er Gegenstände wahrnehmen kann, die ein Neueintretender nicht nur nicht zu erblicken vermag, sondern die er auch für unsichtbar erklärt.[…] Für Platon steht es fest, daß der, der einmal die Höhle verlassen und das Tageslicht erblickt hat, nicht mehr im Anblick bloßer Schatten befangen ist, sondern statt dieser zur echten Erkenntnis,

19

George Peabody Gooch: History and Historians in the nineteenth century, London

1913. 20

Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 356 f.

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zur Geometrie als der Erkenntnis des Immer- | Seienden, gelangt ist, nur ungern in seine frühere Wohnung zurückkehren, daß er es nicht der Mühe für wert halten wird, mit ihren Bewohnern in der Unterscheidung und Deutung der Schatten zu wetteifern. Niebuhr aber verlangte, daß wir diese Gabe nicht nur walten lassen, sondern daß wir sie aufs höchste ausbilden und verfeinern sollen; er hat einmal die Arbeit des Historikers ausdrücklich als ›die Arbeit unter der Erde‹ bezeichnet. […] Er darf und er muß somit jene Organe pflegen, die ihm das Werden sichtbar machen können – er muß mitten in diesem Zwielicht und Dämmerlicht des Werdens bestimmte Gestalten erblicken und herauslösen können. Wer hierzu nicht imstande ist, der ist nicht zum Historiker berufen.«21 An der Historiographie Rankes bemerkt Cassirer noch eine andere, wiederum in der Nähe zu Goethe erkennbare Intention, eine Ästhetik des Umwegs und der expressiven Selbstdarstellung: »Die Geschichte soll nach ihm weder direkt belehrend sein, noch soll sie erbaulich wirken; sie erreicht den Zweck der Belehrung und Erbauung um so besser, je weniger sie ihn unmittelbar anstrebt. Denn sie darf beanspruchen, durch ihr einfaches Sein, durch die Wucht der Tatsachen und die Wucht der Ideen zu sprechen, ohne daß der Historiker, durch ständige persönliche Einrede, ihr Worte verleiht. […] Wenn Goethe sagte, das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, sei Wahrheitsliebe – so muß man sagen, daß Ranke dieses Erste und Letzte wie nur wenige geniale Geschichtsschreiber besessen hat. Man darf in dieser Hinsicht seine historische Leistung derjenigen an die Seite stellen, die Goethe im Bereich der Naturbetrachtung für sich in Anspruch nahm. ›Mein ganzes inneres Wirken‹, so sagt Goethe von sich, ›erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.‹ Auch Rankes gesamte Forschung ist von der Ahnung einer solchen ›unbekannten Regel‹ erfüllt und geleitet; und was ihr ihren geistigen Gehalt und ihr Gepräge gibt, ist weniger das objektive Material, das sie erarbeitet hat, so gewaltig dasselbe auch ist, als die ›lebendige Heuristik‹, die Art des Suchens und Findens, die Ranke in sich verkörpert und die er als Musterbild aufgestellt hat.«22 Die Schrift über das Erkenntnisproblem resümiert zum einen ein Kapitel Wissenschaftsgeschichte im Sinn der bei Cassirer häufigen geradezu enzyklopädischen Vergegenwärtigung der Tradition, der er so große Anteile seines Werks gewidmet hat: ein verantwortungsvoller Buchhalter der europäischen Aufklärung im Zeichen Kants, zeitgleich mit deren riskanter Revision in der philosophisch-ästhetischen Neuromantik, deren Zeuge er

21 22

A. a. O., 268 f. A. a. O., 272 f.

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im Umkreis der Avantgarden von Lebensphilosophie und Ästhetizismus in München und Berlin geworden war. Deren Insistenz auf der freien poetischen Imagination stellt Cassirer Goethes »lebendige Heuristik« gegenüber, die er bei den Historikern des 19. Jahrhunderts im Sinn einer synthetisierenden Einbildungskraft am Werk sieht, die jederzeit bereit ist, sich durch die »Wucht der Tatsachen und Ideen« korrigieren zu lassen. Indem Cassirer der Darstellungsform seiner Protagonisten so starke Aufmerksamkeit widmet, rückt seine Verneigung vor Niebuhr, Mommsen und Ranke deren Leistung nicht nur in einen philosophisch-wissenschaftsgeschichtlichen, sondern zugleich auch besonderen ästhetischen Kontext. Für die Frage seiner Haltung gegenüber der künstlerischen Moderne liegt hier ein wichtiger Fingerzeig. Es könnte sein, daß er den heuristischen Visionen der Geschichtsschreibung und der plastischen Prosa ihrer Vergegenwärtigung als Produkten von literarischem Realismus eine Bewunderung entgegenbrachte, die er für die Ästhetik der künstlerischen Zeitgenossen samt und sonders nicht aufbringen konnte. Eingedenk von Niebuhrs Einsicht in die Gesetze des Werdens aus der Archäologie des Unbewußten, von Rankes »Wucht der Tatsachen und Ideen« in der Ahnung »unbekannter Regeln« sowie der an Goethes Wissenschaftslehre orientierten morphologischen Konzeption von Mommsens »Kulturkreisen« erhellt aber auch, wie eng Cassirer mit seiner Charakterisierung der wissenschaftlich-künstlerischen Leistung des Historismus an der Ästhetik Goethes orientiert bleibt – allen Ansprüchen der poetischen Avantgarden seiner Zeit zum Trotz. Es ist allerdings ein Verständnis Goethes, das sich nicht an die im engeren Sinn klassizistische Ästhetik des Dichters in der Propyläen-Phase seiner Zusammenarbeit mit Schiller hält, sondern den Ahnungen des Unbewußten, des »Inkommensurablen«, Zufälligen und Apokryphen im Verhältnis zu den Naturgesetzen Rechnung trägt. Noch einmal also und dennoch: Ist Goethe damit zum Grenzposten gegenüber den künstlerischen Avantgarden seiner Zeit geworden? Statt einer schnellen Antwort wähle ich zunächst einen weiteren Zugang zu meinem Thema.

II) Im renommierten Kurt Wolff Verlag in Leipzig erscheint 1913 eine umfangreiche philosophische Abhandlung zweier Autoren aus dem engsten Freundeskreis von Franz Kafka. Ihr Titel: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung.23 Ihre Verfasser sind Max Brod und

Max Brod und Felix Weltsch: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, Leipzig 1913. 23

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Felix Weltsch. Den einen, Brod – Romancier, Dramatiker, Philosoph und zionistischer Publizist –, hat man den Eckermann Kafkas bis über dessen Tod hinaus genannt; der andere, Weltsch, Philosoph, Jurist, Bibliothekar, Herausgeber der zionistischen Zeitschrift »Selbstwehr« und Autor von Beiträgen über das Werk Kafkas, ist seit seiner Prager Schulzeit mit Max Brod und seit 1903 auch lebenslang mit Kafka befreundet. Die Monographie über Anschauung und Begriff ist erklärtermaßen »zwischen« Husserls Phänomenologie und dem Neukantianismus von Natorp und Cassirer angesiedelt, zwischen Psychologie als Erfahrungswissenschaft im Horizont einer umfassenden Daseinsanalyse auf der einen sowie der epistemologischen Analyse und ethisch-kulturellen Funktionsbestimmung von Begriffsbildung auf der anderen Seite. Anwendungen auf ästhetische Fragen werden in der Abhandlung zwar nur beiläufig gegeben, dann jedoch dezidiert. Das heute bibliothekarisch sehr seltene und antiquarisch zur Zeit verschollene Werk findet sich in der Bibliothek Sigmund Freuds, den die Autoren mit einer Alternative zu dessen Traumdeutung herausgefordert hatten. 24 Fritz Mauthner berücksichtigt es zustimmend in seiner Sprachphilosophie25 , Henry J. Watt, mit seiner Dissertation über Experimental Contribution to a Theory of Thinking (1904), ebenfalls ein Kritiker Freuds und später ein prominenter Philosoph und »Denkpsychologe« der Würzburger Schule, rezensiert es kritisch in der angesehenen Oxforder Review »Mind«26 ; Kafka erwähnt das Unternehmen der beiden Freunde gelegentlich, indessen ohne einen Kommentar zur Sache. 27 Ernst Cassirer schließlich, auf dessen Substanzbegriff und Funktionsbegriff Brod und Weltsch eingehen, setzt sich in der Philosophie der symbolischen Formen mit ihnen auf mehreren Seiten ausführlich auseinander. Worum geht es den beiden? Sie glauben eine Sphäre anschaulicher von wissenschaftlicher Begriffsbildung unterscheiden zu können. Anders als der wissenschaftliche Begriff, der subsumiere, logifiziere, dem Kausalitätsdenken gehorche und es auf stabile Bedeutungen und Sinnzuschreibungen absehe, konstituiere sich der »anschauliche Begriff« in einer Sphäre des Vagen, Unartikulierten und »Verschwommenen«. »Verschwommenheit« ist hier ein zentraler Begriff, der ein Unbewußtes der Wahrnehmung meint, das mit dem gleichnamigen Sigmund Freuds nichts zu tun hat. Dieses Unbewußte konstituiert sich zwar auch aus undeutlichen Erinnerungsbildern, doch ist es

24

Siehe die Zusammenstellung des Freud-Zentrums www.uchtspringe.de/freud. htm; zuletzt aufgesucht am 25.8.2008. 25 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Sprache und Grammatik, Bd. 3: Zur Grammatik und Logik, Stuttgart 1913: »Unbestimmtheit der Kategorien«. 26 Henry J. Watt: »Critical Notices: Anschauung und Begriff …«, in: Mind, New Series, Vol. 25, No. 97, Januar 1916, 103–109. 27 Franz Kafka: Brief an Max Brod vom 10.7.1911; Brief an Felice Bauer vom 6. zum 7.2.1913.

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durch kein aufgeklärtes Bewußtsein zu ersetzen. Es hält sich neben dem unendlich unterscheidenden und untergliedernden, dem atomisierenden wissenschaftlichen Begriff und gleitet in diesen Modus verschwommener Erinnerungsbilder nach jeder klärenden Fokussierung wieder zurück. Aus diesem Halbschlaf läßt es sich bei veränderter Aufmerksamkeitsverteilung jederzeit wieder aktivieren. Der »anschauliche Begriff« ist nicht »vorbegrifflich« und weder temporal noch modal eine Vorstufe wissenschaftlicher Begriffsbildung. Er ist ein Konstrukt, das sich aus einem Allgemeinen A und einem jeweils unbestimmten Einzelnen x zusammensetzt, das als Inbegriff möglicher besonderer Anschauungen verstanden werden kann. Solche (A+x)-Gebilde ergeben sich als Fortbildungen des Anschaulichen im gewöhnlichen Leben. Daß der Appell an das sinnliche Vorstellungsvermögen das Vermögen zur Abstraktion nicht ausschließt, sondern voraussetzt, ist die besondere Pointe dieser Konzeption. ›Abstrakt‹ und ›anschaulich‹ sind für die beiden Autoren keine Gegensätze. Vielmehr ist jede Anschauung infolge ihrer »Verschwommenheit« mehr oder minder abstrakt. A ist die Anschauung, x Inbegriff eines Verschwommenen, das auf einer gleitenden Skala im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu A steht. X ist Bedingung von Vieldeutigkeit. Die Vielfalt von Bedeutungen ergibt sich aus der Menge möglicher Aufmerksamkeiten auf diese oder jene Wahrnehmung sowie auf die vielfältigen Relationen, die solche Fokussierungen mit sich führen. Am deutlichsten und der sprachlich-ästhetischen Sphäre am nächsten tritt die konzeptualistische Intention von Brod und Weltsch in ihrer Theorie der Aufmerksamkeiten zutage: »Wir denken in AufmerksamkeitsKulminationspunkten. Die einzelnen Begriffe stehen innerhalb dieser größeren Zusammenhänge in geringerer Aufmerksamkeit. Das Herausgreifen eines Wortes bedeutet mithin eine Aufmerksamkeitsverstärkung, Aufmerksamkeitsverschiebung. Es ist nun nicht zu verwundern, daß diese zarten (A+x)-Gebilde, die man ja recht eigentlich als Kinder der Aufmerksamkeit bezeichnen kann, einer Verschiebung in ihrer mütterlichen, zeugenden Sphäre nicht gleichgültig gegenüberstehen. Ein solches (A + x), das nur durch eine bestimmte Formation der Aufmerksamkeit entstanden ist, verträgt eine neue Lagerung der Aufmerksamkeit nicht, beginnt sofort sich zu zersetzen, sobald die Aufmerksamkeit sich steigert. Solange es im Schatten der Aufmerksamkeitslosigkeit liegt, verhält es sich verhältnismäßig ruhig. Wird es aber von der Aufmerksamkeit nur berührt, gestreift – und das geschieht in hohem Maße, sobald man es betrachten will – so beginnt es sich zu rühren, zu zucken, es versucht in unregelmäßiger Weise Einzelvorstellungen zu sprühen. Es windet sich unter dem Lichte der Aufmerksamkeit und versucht alle möglichen Verwandlungen, schnell wechselnd, manchmal die Verwandlung nicht beendend und rasch zu neuem Versuche sich zurückziehend, manchmal in einer Individualge-

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stalt verharrend, gleichsam als ob nun die richtige Gestalt gefunden wäre, urplötzlich wieder in eine neue Form hinüberschlüpfend. Die Aufmerksamkeit verträgt eben nichts Verschwommenes und wirkt sofort bildend auf dasselbe ein, in den Grenzen, die dem x vom A gesteckt sind und in den Richtungen, die vom gegenwärtigen Stand des Bewusstseins abhängen.«28 Liest sich diese Passage nicht wie eine Paraphrase zur Verwandlung von Kafkas Gregor Samsa? 29 Brod und Weltsch erläutern ihre Konzeption durch Analogie zur Sprache. Der allgemeine »verschwommene« Zusammenhang bestehe in der Latenz erinnerter Vorstellungsbilder im Corpus einer Sprache, ehe bestimmte grammatische Satzverknüpfungen, sodann konkrete Worte die Aufmerksamkeit fokussieren: »Den Mechanismus des Denkens hätte man sich sonach so vorzustellen, dass durch jedes Wort das (A+x) des nachfolgenden Wortes gerade zu derjenigen Zuckung angeregt wird, die im Satz gebraucht wird; das vorangehende Wort ist Aufmerksamkeitsmotiv und stört die Ruhe des nachfolgenden (A+x) nur in der Richtung, die dem vorangehenden Wort selbst, also dem Satzzusammenhang, entspricht«. 30 Eben auf diesen Teil des Buches von Brod und Weltsch bezieht sich Fritz Mauthner, wenn er schreibt: »Wir wissen, dass es der Sprache wesentlich ist, unbestimmt und nebelhaft zu sein. Auch der konkreteste Begriff ist noch verschwommener als die Wirklichkeit, das heißt als die Sinneseindrücke, welche wir von ihr empfangen. Um wie vieles unbestimmter müssen dann die Formen der Grammatik sein, welche allesamt Abstraktionen sind. Wundern darf uns das nicht, die wir das Schwebende in allen Begriffen der Sprache erkannt haben. Neuerdings haben übrigens M. Brod und F. Weltsch (»Anschauung und Begriff« 1913, besonders im 3. Kapitel)

Brod/Weltsch: Anschauung und Begriff, 146 f. In den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches aus den frühen siebziger Jahren finden sich Einträge, die bereits in einer Brod und Weltsch vergleichbaren Weise den Schein der Kunst nicht im Sinn von Täuschung und Fiktion, sondern von »Undeutlichkeit« und seine Wahrnehmung in einer Graduation verschiedener »Aufmerksamkeiten« bestimmen: »Auf der Ungenauigkeit des Sehens beruht die Kunst. Auch beim Ohr Ungenauigkeit in Rhythmus, Temperatur usw. darauf beruht wiederum die Kunst. Es ist eine Kraft in uns, die die großen Züge des Spiegelbildes intensiver wahrnehmen läßt, und wieder eine Kraft, die | den gleichen Rhythmus auch über die wirkliche Ungenauigkeit hinweg betont. Dies muß eine Kunstkraft sein. Denn sie schafft. Ihr Hauptmittel ist weglassen und übersehen und überhören. Also antiwissenschaftlich: denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse. Das Wort enthält nur ein Bild, daraus der Begriff. Das Denken rechnet also mit künstlerischen Größen. Alles Rubriziren ist ein Versuch zum Bilde zu kommen. Zu jedem wahren Sein verhalten wir uns oberflächlich, wir reden die Sprache des Symbols, des Bildes: sodann thun wir etwas hinzu, mit künstlerischer Kraft, indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen.« (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 bis Ende 74, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, Abt. 3, Bd .4, 28 f. 30 Brod/Weltsch: Anschauung und Begriff, 150. 28 29

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die Verschwommenheit auch der vorbegrifflichen Vorstellungen in scharfsinniger Weise nachgewiesen.«31 Die Abhandlung der Autoren aus dem Umkreis Kafkas gehört in den Zusammenhang der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und ihrer psychologischen Ausprägung des Konzeptualismus. Ästhetische Fragen streifen sie ausdrücklich nur am Rande, doch lassen einzelne Beispiele immer wieder an literarische Verfahrensweisen zeitgenössischer Literatur denken, etwa wenn sie die Wahrnehmung einer mythologischen Figur durch phantasierende Ergänzungen aus Erinnerungsbildern thematisieren. Unwillkürlich stellt sich dabei der Anfang von Kafkas 1913 fertig gestelltem Amerika-Roman (»Der Heizer«) mit der Wahrnehmung der New Yorker Freiheitsstatue – fälschlich als Justitia – ein. Brod und Weltsch nennen schließlich, um die Affinität ihrer »anschaulichen Begriffe« zu poetischen Verfahrensweisen von Zeitgenossen anzudeuten, nicht ihren Freund, den seinerzeit wenig bekannten Kafka, als Gewährsmann32 , sondern Hugo von Hofmannsthal. Sie erinnern an eine »meisterhafte Beschreibung des von uns dargestellten ›anschaulichen Begriffs‹«33 , indem sie Hugo von Hofmannsthals Rede »Der Dichter in dieser Zeit« von 1906 zitieren. Darin verständigt sich der Autor mit seinen Lesern darüber, was ein Dichter sei, in ausdrücklicher Abgrenzung von wissenschaftlicher Rede. Hofmannsthal entwirft den Dichter an der zitierten Stelle als ein undeutliches Sprachbild, in dem Goethe, Hölderlin und Shakespeare ebenso wie Pindar und Byron ihre Spur hinterlassen haben: »Sie denken ›Shakespeare‹ und daneben ist für einen inneren Augenblick alles andere verloschen, aber der nächste Augenblick stellt das unendlich komplexe oszillierende Gedankending wieder her und Sie denken ohne zu trennen ein amalgamiertes Etwas aus Dante, Lenau und dem Verfasser einer rührenden Geschichte, die Sie mit vierzehn Jahren gelesen haben.«34 Hofmannsthals Begriff vom Dichter sei ein »anschaulicher Begriff«, indem er ein »Gewebe aus den Erinnerungsbildern der subtilsten Erlebnisse« darstellt, ausdrücklich von jedem wissenschaftlichen Begriff unterschieden, »dem Lebendigen« verbunden. 35 Begriffe sind Konzepte. In der Wissenschaft kommen sie zustande und erfüllen eine andere Funktion als lebensweltlich. Im »anschaulichen Be-

Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Wichtige Texte Kafkas sind zeitgleich mit der Abhandlung von Brod und Weltsch 1913 erschienen: »Betrachtung« mit 18 Prosatexten, u. a. mit: »Der Ausflug ins Gebirge«, »Der plötzliche Spaziergang«; »Das Urteil«; »Der Heizer«, das erste Kapitel des Romanfragments »Der Verschollene«. 33 Brod/Weltsch: Anschauung und Begriff, 191. 34 Hugo von Hofmansthal: »Der Dichter und diese Zeit«, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. 8: Reden und Aufsätze 1, Frankfurt/M. 1979, 54–81, hier: 55. 35 Ebd. 31

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griff« von Lebenswelt und Ästhetik wird die sinnliche Vorstellung von Abstraktionen und Konstellationen – in wechselnden Anteilen – durchzogen. Ihr Verhältnis ist weder vorwissenschaftlich (im Sinn »noch nicht« szientifischer Begriffsbildung) noch allegorisch (und nachwissenschaftlich), sondern modal gleich geordnet: eine »Verschwommenheit« sui generis im Erkenntnisprozeß, die Tür und Tor für eine Vielfalt von Deutungen öffnet. In den »verschwommenen Begriffen« lasse sich eine Analogie zur Sprache als dem Inbegriff von Möglichkeiten der Fokussierung durch Grammatik und Wortbildung erkennen, zugleich aber auch ein Modell für das Verständnis ästhetischer Vieldeutigkeit. Verlängern wir die Fluchtlinien, die Brod und Weltsch für das Verständnis ihrer »anschaulichen Begriffe« vorschlagen, bis zu Kunstwerken, so bieten diese sich zumal in ihrer modernen Gestalt als jene zwischen sinnlicher Anschaulichkeit und Abstraktion chamäleonhaft sich ständig wandelnden Gebilde, »zuckend« unter dem Licht wechselnder Aufmerksamkeiten. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Begriffen, die dem Bedürfnis nach unendlich ausdifferenzierender und letztlich atomisierender Unterscheidung gehorchen würden, sieht das Prager Autorenduo in den (A+x)-Gebilden Statthalter für die Vorstellung eines Ganzen, dem »Verschwommenheit« wesentlich ist. Ich übergehe an dieser Stelle die kritischen Anmerkungen, die die Autoren von Anschauung und Begriff zu Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff notieren, und wende mich gleich Cassirers ausführlicher Auseinandersetzung mit den Pragern im III. Band der Philosophie der symbolischen Formen zu. Seine Skepsis ist fundamental, und er bringt sie noch vor Einwänden gegen die Argumentation im Einzelnen zur Sprache: »sollte es wirklich eine ›Rettung‹ vor der unendlichen Vielfältigkeit und Zersplitterung der Einzelausdrücke sein, wenn wir uns vor ihnen in die Verschwommenheit einer Gesamtvorstellung flüchten?«36 Die Vorstellung von einer prinzipiellen Besonderheit »anschaulicher« von wissenschaftlichen Begriffen weist er mit dem Hinweis auf die logische Grundfunktion von Begriffen überhaupt zurück. Hatte er die Beschreibung solcher Funktionen in dem 1910 erschienenen Substanzbegriff und Funktionsbegriff 37 nur erst auf die wissenschaftliche Begriffsbildung bezogen, so gilt sie ihm nun für das Repräsentationsphänomen ausnahmslos und damit auch als Voraussetzung aller anderen Formen des Symbolischen. So seien die »anschaulichen Begriffe« von Brod und Weltsch keine Sonderform von Repräsentation, sondern lediglich »Vorstufen und Keimzellen des theoretisch-

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 356. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6. 36 37

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wissenschaftlichen Begriffs«. 38 Der »anschauliche Begriff« Farbe sei keine Vorstellung, in welcher die unterschiedlichen Farbigkeiten bis zu einer Aufmerksamkeitszuwendung auf eine einzelne Farbe »verschwimmen« würden, vielmehr würde durch ihn »aus dem Ganzen der sinnlichen Erlebnisse ein charakteristisches Gebiet herausgehoben und durch ein bestimmtes Relationsmoment, durch die Beziehung zum Licht und durch die zum Auge ›definiert‹.«39 Die »Verschwommenheit« des »anschaulichen Begriffs« bei Brod und Weltsch nivelliere in Wahrheit die Differenzen statt diese aus dem Allgemeinbegriff zu erklären. Das Beispiel der Farbe stellt sich hier für den Goetheaner Cassirer, wie sich gleich zeigen wird, nicht ganz zufällig ein. Die Farbe sein kein Allgemeines, zu dem die sinnliche Wahrnehmung eines Besonderen – von rot oder blau, grün oder gelb – hinzugefügt würde, wie die Formel (A+x) suggeriere. Das »gemeinte« Allgemeine und das »gegebene« Besondere stünden in keinem additiv aggregativen Verhältnis zueinander, sondern in dem eines symbolisch-korrespondierenden Repräsentationsgefüges, das der Autor »organisch« nennt. Leicht könnten wir die Schlußverse von Fausts Eingangsmonolog im Zweiten Teil des Dramas als Exempel nehmen: der Regenbogen als »farbiger Abglanz« des Lichts40 und die Farben in diesem Sinn als dessen »Taten«, im Hintergrund Goethes wissenschaftliche Arbeiten zur Optik. Goethe kommt schließlich ungenannt und dennoch ausdrücklich zur Sprache, wenn Cassirer dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen als »ein echtes Ineinander« mit den Worten charakterisiert: »Für diese Art der ›Systole‹ und ›Diastole‹, der ›Synkrisis‹ und der ›Diakrisis‹ der Begriffe versagen alle Analogien, die von der Dingwelt und von dem Geschehen und Wirken in ihr hergenommen sind«.41 Nr. 1132 der Maximen und Reflexionen lautet: »Wer zuerst aus der Systole und Diastole, zu der die Retina gebildet ist, aus dieser Synkrisis und Diakrisis, mit Plato zu sprechen, die Farbenharmonie entwickelte, der hat die Prinzipien des Kolorits entdeckt.«42 Fundamental ist Cassirers Kritik vor allem, indem er den Prager Autoren eine Art Begriffsrealismus unterstellt: »Denn was wir beständig zu bekämpfen hatten, war ebendiese Annahme, daß der symbolische Gehalt einer Vorstellung, daß das, was ihr eine bestimmte Bedeutung verleiht, sich überhaupt als etwas an ihr selbst, als ein reeller unterscheidbarer Teil von ihr aufweisen lasse.«43 Wer auf diese Weise den einheitlichen »geistigen

38 39 40 41 42 43

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 356. Ebd. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Vers 4725. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 361. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 1132. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 358.

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Grundakt« des Meinens in Teile zerlege und diese im sinnlich gegebenen Dasein wiederzufinden meine, trete »aus dem Umkreis [des] Sinnes« heraus »zu einem bloßen Dasein, von welchem aus in die Sphäre des Sinnes kein Weg mehr zurückführt.«44 Tatsächlich hatten es die Prager Autoren auf ein derartig schattenhaftes »bloßes Dasein« in der lebensweltlichen Wahrnehmung abgesehen, das sich jedem Versuch, seines Sinnes begrifflich habhaft zu werden, entzieht. Die Schwäche ihrer Konstruktion dieses begrifflich Unbewußten liegt aber in der Tat zumindest darin, daß sie dieses unbewußte Ganze im Modus sinnlich darstellender (verschwommener) Repräsentation erfassen zu können glauben statt als eine Weise des Ausdrucks, der vergeblich nach einem angemessenen Begriff sucht. Wovon hier die Rede ist, bezeugen die Künste bereits in den Publikationsjahren der hier zitierten Schriften mit Gebilden, deren Formen im Bann einer von Cassirer »physiognomisch« genannten Weltsicht stehen. Apollinaire, Schwitters, Gertrude Stein und andere Zeugen »absoluter« Dichtung sind Zeitgenossen. Cassirer hat das an anderer Stelle der »Philosophie der symbolischen Formen« durchaus konzediert: »Der Zusammenhang mit dem primären Ausdruckserlebnis reißt in der Sprache, wie weit sie auch in der Richtung auf die ›Darstellung‹ und auf die reine logische ›Bedeutung‹ fortschreiten mag, nirgends ab. Auch in ihre höchsten intellektuellen Leistungen verweben sich noch ganz bestimmte Ausdruckscharaktere.«45 Als Beispiele für eine derartige Rückbindung und Versuche, das »Gesicht der Dinge« einzufangen, nennt er an dieser Stelle melodisch-rhythmische Ausdrucksqualitäten, Onomatopöie sowie demonstrative und appellative Sprachakte. Im »Essay on Man« wird er die mediale Bindung der ästhetischen Symbolisierung in Farbe, Material, Klangereignissen betonen, die dazu anhalten, nicht bloß abstrakt vom expressiven Charakter der Künste zu sprechen, sondern deren mediale Brechung zu beachten. Der Hinweis Cassirers auf Arbeiten des Denkpsychologen und Begründers der Würzburger Schule Karl Bühler, die ihm im ersten Band der »Philosophie der symbolischen Formen« noch nicht bekannt gewesen seien, läßt die Irritation durch eine handlungstheoretische Sprachtheorie erkennen, die neben der Darstellungsfunktion die Ausdrucks- und Appellfunktion der Sprache besonders exponiert, ohne sie als einen quasi mythischen Restbestand zu relativieren. Anders als Bühler will Cassirer dennoch darauf bestehen, daß gegenüber der Ausdruckssphäre der Eintritt in die Sphäre der Darstellung »immer ein spezifisch-Neues, einen entscheidenden Wendepunkt« in der Geschichte der Gattung und jedes einzelnen Menschen darstelle: »Der Moment, in dem irgend ein einzelner

44 45

A. a. O., 361. A. a. O., 122.

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sinnlicher Eindruck symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden wird, ist immer wie der Anbruch eines neuen Weltentages.«46

III) Die Ästhetik Cassirers, sollte er sie ernsthaft erwogen haben, ist ungeschrieben geblieben. Ob es in seinem Denken Einsatzstellen für ihre systematische Behandlung gibt, die den Autor »auf dem Weg zu einer Ästhetik« zeigen, ist deshalb eine naheliegende, verschiedentlich positiv beantwortete Frage.47 Das IX., der Kunst gewidmete Kapitel seines Essay on Man steht nicht für eine Ästhetik, sondern an deren Stelle und mit einer Rahmung, die aus dem Untertitel des Essays ihre Konturen erhält: An Introduction to a Philosophy of Human Culture.48 Dementsprechend überwiegen in den rund 35 »Art« überschriebenen Seiten – neben dem einführend propädeutischen Charakter der Schrift – Bestimmungen einer allgemeinen philosophischen Kulturanthropologie. Wie in den zuvor besprochenen Texten kann es also auch bei diesem nicht darum gehen, Derivate und Defizite zu konstatieren, die prinzipiell außerhalb des Genres liegen, in dem der Autor sich mitteilt. Der Essay kartographiert vielmehr die Kulturgeschichte in den diversen Feldern der Kultur am Leitfaden des Wissens über die menschliche Gattung und ihr Selbstverständnis. So kommen die Anteile an der und die Differenzen zur Tiernatur zur Sprache, das Vermögen der Symbolbildung und deren Erscheinungsformen in Mythos und Religion, in der Sprache und den Künsten, in Geschichte und Wissenschaften. Der Abschnitt über Kunst orientiert sich dementsprechend nicht an der Kunstgeschichte, sondern an der ästhetischen Reflexion über die Kulturfunktion der Künste von Aristoteles über Baumgarten, Goethe, Schiller und die Kunstphilosophie der Romantik bis zu Bergson und Ortega. Für unser Thema einer philosophischen Reflexion der künstlerischen Moderne enthält der Essay dennoch eine Reihe einschlägiger Bestimmungen und vor allem charakteristischer Akzentuierungen. Zu diesen gehört die dezidierte Analogie der Kunstfunktionen und -leistungen zu denen der Sprache. Im Verlauf einer Analyse von Goethes »Von deutscher Baukunst« (1773) interpretiert Cassirer die Abkehr von der imitatio-naturae-Theorie zugun-

46

A. a. O., 125. Vgl. Michaela Hinsch: Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Würzburg 2001 sowie Birgit Recki: »Lebendigkeit als ästhetische Kategorie, in: Naumann/Recki (Hg.): Cassirer und Goethe, 150–219. 48 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23. Dt.: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007. 47

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sten einer handlungstheoretischen Produktionsästhetik als entscheidenden Sprung in die Moderne: »Art is formative, long before it is beautiful […]«. Cassirers »formative« übersetzt Goethes »bildend«. Diese »bildende« Funktion, eine Umschreibung der subjektiven Ausdrucksenergie zugunsten »charakteristischer« (= physiognomischer) Kunst, entspreche dem Zugriff der Sprache auf einen spezifischen Sinn jenseits der Darstellung von Besonderheiten. Selbst in dieser subjektivistischen Periode seiner Kunstproduktion habe Goethe aber auf der Objektivität solcher »Gesichte« bestanden: »Art indeed is expressive, but it cannot be expressive without beeing formative.«49 Die Pointierung von Farben, Rhythmen, Intonationen, diese Sphäre vermeintlich sinnfreien Ausdrucks (und später Tummelplatz »absoluter Kunst«), sei bei Goethe »formative« (»bildend«) aufgrund einer Sinnhypothese, die in absteigender Linie auch dieses sinnliche Material symbolisch werden läßt: »for a great painter, a great musician, or a great poet, the colors, the lines, rhythms and words are not merely a part of his technical apparatus; they are necessary moments of the productive process itself.«50 Noch einmal also die fast trotzige Insistenz auf dem determinierenden Prinzip »erst Stilistik, dann Syntax und Lautlehre« – absteigend von der Hypothese eines Allgemeinen über die logisch geordnete Grammatik dieser Hypothese bis hinab zu den Materialien ihrer Anschauung. Kunstphilosophisches Neuland, wenn auch, wie stets, in den Spuren Goethes, betritt Cassirer mit seiner Aufmerksamkeit für die Symbolfunktionen der Materialien. In Abgrenzung von Croces Idealismus, der diesen eine eigene ästhetische Bedeutung nicht zugestehen mochte, faßt er dabei den Materialbegriff – in Analogie zu den sprachlichen Zeichen – so weit wie irgend möglich, nämlich als Inbegriff ästhetischer Semiose im Wahrnehmungsfeld der Sinne. Ohne Zweifel ist diese Pointierung durch die Beobachtung moderner Kunstgebilde mit ihrer Tendenz zur Verselbständigung solcher Materialien zumindest gefördert worden. Hier ist der einzige Ort, an dem Cassirer einen Autor der ästhetischen Avantgarde seiner Zeit zitiert – übrigens aus einer amerikanischen Publikation über Lyrik –: »›Poetry‹, wrote Mallarmé, ›is not written with ideas, it is written with words.‹«51 Konsequent ergibt sich diese Pointierung aber auch aus der Analogisierung von Kunstproduktion und Sprache. Beide begreift er als »konstruktive Prozesse« einer lückenlosen Determination in absteigender Linie: »The moment of purposiveness is necessary for linguistic and artistic expression. In every act of speech and in every artistic creation we find a definite teleological structure. An actor in a drama really ›acts‹ his part.

49 50 51

Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 153. A. a. O., 154. A. a. O., 155.

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Each individual utterance is a part of a coherent structural whole. The accent and the rhythm of his words, the modulation of his voice, the expression of his face, and the postures of his body all tend to the same end – to the embodiment of human character. All this is not simply ›expression‹; it is also representation and interpretation.«52 Cassirers Ästhetik symbolischer Verkörperung bindet und objektiviert allen freien Ausdruck im Material, das dergestalt lückenlos bedeutend wird. Die Künste stellen es nicht dar im Sinn einer imitatio naturae, sondern sie entdecken und begreifen es in seiner menschlichen Bedeutsamkeit. Anstelle der vermeintlichen Abbildlichkeit künstlerischer Nachahmung sieht Cassirer ein physiognomisches Sehen am Werk, eine Wiederentdeckung der »Gesichte«, die der junge Goethe im Gefolge Lavaters wahrnimmt. Dessen Physiognomien sind keine naturalistischen Reproduktionen, sondern Entdeckungen anthropologischer Befunde durch die Wahrnehmung ihrer sinnlichen Zeichen. Die entscheidende Differenz, durch die Cassirer die Funktionen künstlerischer Symbolbildung von denen der Sprache und der Wissenschaften gesondert sieht, liegt zwischen der deduzierenden Generalisierung sprachlicher und wissenschaftlicher Begriffsbildung einerseits und dem intuitiven Begreifen von Formen in den Künsten andererseits: »Language and science depend upon one and the same process of abstraction; art may be described as a continuous process of concretion.«53 Gemeinsam sei beiden die begreifende Objektivierung und die teleologische »Konstruktion« ihrer Gebilde, klassifizierend und vereinfachend in der Begriffsbildung der Wissenschaftssprachen, verdichtend und konzentrierend in den Künsten. Es könnte sein, daß dieser Konstruktionsbegriff gewiß von den Abstraktionsleistungen moderner Kunst angestoßen worden ist. 54 Freilich, wie derartig organisierte Konstruktionen mit Intuition in den Künsten zusammengehen kann – der deutsche Sturm und Drang nimmt dafür das Genie als einen »Spürhund Gottes« in der Natur in Dienst –, gehört an dieser Stelle zu den offen bleibenden Fragen. Einen Anlauf zu ihrer Bearbeitung nimmt Cassirer – wie schon in seiner Schrift über die »Philosophischen Probleme der Relativitätstheorie« von 192055 – in der Berufung auf das individualisierende künstlerische Temperament als Bedingung dafür, das trotz aller künstlerischen Objektivierung kein Werk dem anderen gleiche, auch wenn das sujet dasselbe wäre: »Émile Zola defines the work of art as ›un coin de la [nature] vu à travers un tempérament‹«.56

52

Ebd. Ebd. 54 Thomas Schirren hat mich auf diesen möglichen Zusammenhang hingewiesen. 55 Ernst Cassirer: »Philosophische Probleme der Relativitätstheorie« (1920), in: ECW 9. 56 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 155. 53

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Anders als in den Säftetheorien von der Antike bis ins 17. Jahrhundert sind die Temperamente hier keine biologisch nachweisbaren Essentialien, sondern in ihrer Gesamtheit Repräsentation einer Einheit und Kontinuität des Lebens, das in den konkret individualisierten Formen der Kunst ihre Zeichen finde. Dergestalt rücken der Parthenon-Fries und ein Oratorium von Bach, die Sixtinische Kapelle und ein Gedicht von Leopardi, eine Sonate von Beethoven und ein Roman von Dostojevskij im Sinn symbolischer Repräsentation zusammen, und die Gedichte von Goethe und Hölderlin, Wordsworth und Shelley sind nicht »disjecti membra poetae«, sondern in ihrer Gesamtheit symbolische Form eines »konkret« konstruierten Allgemeinen oder, wie Cassirer im Anschluß an Goethes »Diderot’s Versuch über die Mahlerei« schreibt: Die Fixierung der »höchsten Momente des Daseins« in den Kunstwerken »is neither an imitation of physical things nor a mere overflow of powerful feelings. It is an interpretation of reality – not by concepts but by intuitions; not through the medium of thought but through that of sensuous form.«57 Kein Zweifel, daß die Festschreibung der Kunstautonomie, das Hervorheben sinnlicher Expressivität und der medialen Formbestimmtheit der Symbolisierungen die Möglichkeit bieten, auch Kunstentwicklungen der Moderne zu thematisieren. Ebenso deutlich aber auch Cassirers Orientierung an der Werkhaftigkeit der Künste, die der Zuwendung zu weiten Provinzen moderner Kunstentwicklung a priori Grenzen zieht. Welche Begriffe er hier auch immer findet – ob »sensous form«, »Gesicht« oder »Gestalt« – das Kunst-Kriterium ist allemal das Werk. In der Tat: »In Cassirers Theorie der Kunst steht […] in spezifischer und prägnanter Fassung der Werkbegriff im Zentrum, um den sich seine Theorie des kulturellen Symbolismus dreht […].«58 Alle drei hier präsentierten Beispiele zeigen den Autor im Bann von Goethes Ästhetik und in dem Bemühen, die Einheit der Künste im Sinn einer symbolischen Form neben anderen Gliederungen des Bewußtseins zu erweisen. Ob in der Beurteilung von Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst (Niebuhr, Ranke, Mommsen), in der kritischen Abweisung einer vermeintlichen Repräsentation »bloßen Daseins« in den ebenso »anschaulichen« wie »verschwommenen« Begriffen von Brod und Weltsch oder in der Anlehnung an die Physiognomik der deutschen Genieästhetik – an keiner Stelle ist das Territorium der Künste für Cassirer lediglich ein Transitraum des Bewußtseins, wie bei Hegel. Dafür bürgt u. a. die Analogisierung von Sprache und Kunst als jeweils eigenständige Formen der

57 58

A. a. O., 159. Recki: »Lebendigkeit als ästhetische Kategorie«, 203.

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

Entdeckung, Repräsentation und Interpretation des Lebens, allemal »Konstruktionen«, die einer Logik sui generis gehorchen. Das Standbein von Cassirers ästhetischem Denken, so haben sich frühere Untersuchungen bestätigt, ist aber das Gestaltdenken der klassischen deutschen Ästhetik. Wie stark auch immer die handlungstheoretischen Impulse der neukantianischen Kulturphilosophie in der Betonung des Entdeckens und Erschließens sowie der funktionalen Relationen künstlerischer Tätigkeit zur Geltung kommen – in der aktuellen Diskussion wären hier die »performativen« Merkmale ästhetischen Agierens angesiedelt –, so stabil ist für Cassirer die Kunstsphäre an der Ganzheitlichkeit einer gestalthaften Form orientiert. Er nimmt sie nicht notwendig für das einzelne Produkt, zumindest aber für die Sphäre der Kunst als einer symbolischen Form in Anspruch. – Vielleicht in der Wahrnehmung von Kunstentwicklungen der eigenen Zeit, gewiß aber in der Auseinandersetzung mit Theorien wie der von Brod und Weltsch und der Würzburger psychologischen Schule, bildet er ein theoretisches Spielbein seines ästhetischen Denkens aus, indem er – in Analogie zur Sprache – die künstlerische Semiose auch auf die Medien der Symbolisierung, etwa das »Material« der Kunst: Farben, Rhythmen, Stil etc., ausdehnt. Gleichwohl bleibt die künstlerische Moderne in Cassirers Philosophie sprachlos, und man muß vermuten, daß dieses Defizit auch einer der Gründe für die Sperrigkeit seines Denkens im Feld der aktuellen Diskurse darstellt. Ich möchte es rundheraus sagen: Cassirers ästhetisches Denken ist normativ an die Ganzheits- und Gestaltvorgaben der deutschen Klassik gebunden. Hierin liegt seine Herausforderung, aber auch seine Grenze. Die Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert vollzieht sich ausdrücklich – oder nicht einmal mehr im Modus eines solchen dezidierten Widerspruchs – abseits der klassischen Repräsentationsvorstellungen. Anstelle von Ganzheitlichkeit und Kontinuität, von ausdeutendem Begreifen und Sinn-Hypothesen haben die dekonstruierenden Dementis von Sinn und der Zufall, hat das Ephemere, haben Registratur und Mapping anstelle organischer Konstruktionen, haben Gesten und Aktionen die Oberhand gewonnen. Cassirer hat sich gehütet, diese auch seinerzeit bereits deutliche Dynamik mit trivialen kulturpessimistischen Kommentaren zu begleiten: ein taktvoller Autor.

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Literaturverzeichnis Max Brod und Felix Weltsch: Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, Leipzig 1913 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 5 – »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 – Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7 – »Philosophische Probleme der Relativitätstheorie« (1920), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23 – »Thomas Manns Goethe-Bild: Eine Studie über Lotte in Weimar«, in: The Germanic Review, Nr. 20, New York 1945 – Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil – Maximen und Reflexionen Michaela Hinsch: Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Würzburg 2001 Hugo von Hofmansthal: »Der Dichter und diese Zeit«, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. 8: Reden und Aufsätze 1, Frankfurt/M. 1979 John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Form and History, New Haven/London 1987 Gert Mattenklott: »Mommsens Prosa. Historiographie und Literatur«, in: Alexander Demandt/Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen/Theodor Mommsen (Hg.): Wissenschaft und Politik im Kaiserreich, Berlin 2005 Fritz Mauthner: »Beiträge zu einer Kritik der Sprache«, in: Sprache und Grammatik, Bd. 3: Zur Grammatik und Logik, Stuttgart 1913 Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2007 Theodor Mommsen: »Rede bei Antritt des Rektorates« (1874), in: ders.: Reden und Aufsätze, Berlin 1912 Barbara Naumann: Poetik und Philosophie des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998 [Habil. Berlin 1996] – /Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Nr. 710 und 1176 (zwischen Herbst 1869 bis Herbst 1872), in: ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 3, Bd. 3, Berlin/New York 1978. – Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 bis Ende 74, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, Abt. 3, Bd. 4, Berlin/New York 1978. George Peabody Gooch: History and Historians in the nineteenth century, London 1913 Peter Philipp Riedl: Epochenbilder. Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860–1930, Frankfurt/M. 2005 Birgit Recki: »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie«, in: Barbara Naumann/ Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997 Hans Heinrich Sträuli: Theodor Mommsens Römische Geschichte, Diss Zürich 1948 Henry J. Watt: »Critical Notices: Anschauung und Begriff …«, in: Mind, New Series, Vol. 25, No. 97, Januar 1916 Edgar Wind: Kunst und Anarchie, Frankfurt/M. 1963 Carl David af Wirsén: Permanent Secretary of the Swedish Academy on December 10, 1902, in: Nobel Lectures. Literature 1901–1967, Amsterdam 1969

Brigitte Falkenburg

Wissenschaft und Technik als symbolische Formen

Die Wissenschaft ist für Cassirer in mancher Hinsicht die höchste symbolische Form. Sie steht im Zentrum von Substanzbegriff und Funktionsbegriff, einem Werk, das etliche Thesen mit Paul Natorps ebenfalls 1910 erschienener Logik der exakten Wissenschaften gemeinsam hat. Die philosophischen Konsequenzen der Abkehr von der klassischen Physik arbeitet Cassirer in den Schriften zur modernen Physik heraus, in der Abhandlung Zur Einsteinschen Relativitätstheorie von 1921 und der 1936 im Exil entstandenen, bis heute noch zu wenig rezipierten Auseinandersetzung mit der Quantentheorie, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen von 1929 behandelt dann die exakten Wissenschaften ausgehend von der Mathematik. Der Technik ist dagegen nur der Aufsatz Form und Technik von 1930 gewidmet. Dort hebt Cassirer die zentrale Bedeutung der Technik für die menschliche Kultur hervor, und er stellt sich der Aufgabe, den systematischen Ort der Technik im System aller symbolischen Formen zu bestimmen. Aus heutiger Sicht – in der wissenschaftlich-technischen Lebenswelt, deren Technisierung global geworden ist – sind am Technik-Aufsatz vor allem zwei Punkte interessant: die Zusammenhänge von Wissenschaft und Technik, die Cassirer dort am Rande behandelt; und die Beziehung zwischen Technik und Wirtschaftsgeschehen, der er einige Kapitalismus-kritische Bemerkungen widmet, ohne diese Beziehung jedoch näher zu untersuchen. Im folgenden skizziere ich kurz (I) Cassirers Theorie der symbolischen Formen, (II) die Hauptmerkmale, die er den exakten Wissenschaften im Rahmen dieser Theorie zuspricht, sowie (III) die jeweiligen Besonderheiten von Mathematik und Physik. Danach wende ich mich (IV) Cassirers Technik-Aufsatz zu, wobei es mir vor allem um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Naturwissenschaft und Technik geht, die Cassirer sieht. Zuletzt mache ich (V) einige Bemerkungen zu Cassirers rudimentärer Auseinandersetzung mit den ethischen Aspekten der Technik in der kapitalistischen Wirtschaft.

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

I) Grundzüge von Cassirers Theorie der symbolischen Formen Meine Charakterisierung von Cassirers Theorie der symbolischen Formen muß sich hier auf einige knappe Merkmale beschränken. Dabei ist mir bewußt, daß schon der Gebrauch des Terminus Theorie Cassirers eigenen Intentionen strenggenommen zuwiderläuft. Seine Lehre von den symbolischen Formen ist umfassend angelegt und inhaltsreich, bei so disparaten Gegenständen, wie es die Erzeugnisse menschlicher Kultur nun einmal sind. Sie hat nichts Starres an sich; im Gegenteil, Cassirer betont wiederholt den dynamischen Charakter aller symbolischen Formen. Sie beruht nicht auf Axiomen und daraus ableitbaren Theoremen; Cassirer vermeidet sogar tunlichst alle begriffsschärfenden Definitionen. Die symbolischen Formen sind für ihn im Fluß, und das philosophische Denken, das ihre Gestalten nachzeichnet, ist es ebenfalls. In Kantischer und Hegelscher Tradition stehend, verbindet Cassirer jedoch mit der Philosophie der symbolischen Formen klarerweise einen systematischen Anspruch; und insofern ist der Gebrauch des Terminus Theorie gerechtfertigt. Ich erinnere nur daran, daß es nach dem Architektonik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft für Kant das Systematische in der Erkenntnis ist, was eine Wissenschaft ausmacht; wobei sich ein System vom Aggregat, von einer bloßen Ansammlung getrennter Einzelerkenntnisse, dadurch unterscheidet, daß es nach einem einheitlichen Prinzip erzeugt ist. Das zentrale Prinzip der philosophischen Erkenntnis liegt nach Kant darin, die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis aufzusuchen; und dies sind die Bedingungen, unter denen der menschliche Verstand seine Erkenntnisgegenstände konstituiert. Hegel betrachtet wie Kant die Philosophie als das System des Denkens und somit als Wissenschaft. Er kritisiert jedoch Kants erkenntnistheoretische Bindung der Philosophie an die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Verstandes. Aus Hegels Sicht arbeiten sich die Begriffe in einer selbsttätigen Denkbewegung, die sich nach der dialektischen Methode vollzieht, aneinander ab. Das Grundprinzip seiner Philosophie ist die dynamische Begriffsentwicklung. Hegel entfaltet sie in seiner Logik ausgehend von der unbestimmten Kategorie des Seins zu einem vollständig ausdifferenzierten Ganzen von Denkbestimmungen, der absoluten Idee; diese Denkbewegung vollzieht sich in seinem philosophischen System angefangen mit der Logik dreimal: erstens im Element des reinen Denkens; zweitens in der Natur; drittens in der Sphäre des Geistes, der menschlichen Kultur. Cassirer folgt Kant und Hegel in wesentlichen Punkten – und nimmt sich dabei die Freiheit, zentrale Aspekte beider Philosophien miteinander zu verbinden, ohne diese Verbindung, wie es ein durchgängig systematischer Anspruch verlangt hätte, wiederum strikt aus einheitlichen Prinzi-

Falkenburg · Wissenschaft und Technik als symbolische Formen

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pien zu begründen. Die Leitidee seiner Theorie der symbolischen Formen ist die Annahme, daß der menschliche Geist in allen seinen Tätigkeiten und Erzeugnissen »nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt«, sondern tätig ist, wobei Kunst und Wissenschaft, Religion und Mythos, aber auch Sprache und Technik ihre Gestalten »nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen«1, das jeweils für diese Gestalten formgebend ist. Cassirer betrachtet die formgebenden Prinzipien der symbolischen Formen im Anschluß an Kant als transzendental in dem Sinne, daß sie jeweils für eine bestimmte Art von Gegenständen konstitutiv sind. Im Gebiet der Erkenntnis, in den Wissenschaften, bedeutet dies, die Bedingungen herauszuarbeiten, die konstitutiv für objektive Erkenntnis sind. Cassirer verallgemeinert diesen Ansatz, indem er auch andere symbolische Formen an Bedingungen der Formgebung oder Gestaltung von Gegenständen festmacht. Es geht ihm darum, »alle Gebiete des Geistes überhaupt nach dem Gesetz ihrer Formung zu befragen und die gegenständlichen Strukturen, die in ihnen sichtbar werden, aus diesem Gesetz zu verstehen«. 2 Die Theorie der symbolischen Formen soll »– wie sie nach der ›Bedingung der Möglichkeit‹ der theoretischen Erkenntnis, der Sprache, der Kunst, fragt –, so auch nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ des technischen Wirkens und der technischen Gestaltung fragen«.3 Im Anschluß an Hegel sieht Cassirer die symbolischen Formen dabei als konkrete Manifestationen des menschlichen Geistes; sie sind »die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt«.4 Darüber hinaus fordert Cassirer, »das, was wir den Gegenstand nennen, nicht in der Art einer festen und starren forma substantialis, sondern als Funktionsform zu fassen«,5 d. h. als etwas, das nicht als Bestandteil einer unveränderlichen Wirklichkeit gegeben wäre, sondern nur im Rahmen menschlicher Kultur und Praxis seinen symbolischen Wert besitzt. Die Wirklichkeit selbst ist für Cassirer insofern durch den menschlichen Geist erzeugt; hierin ist er Idealist. Die verschiedenen symbolischen Formen – Sprache, Kunst, Mythos bzw. Magie, Religion, Wissenschaft und Technik – haben jeweils drei »Dimensionen«, in denen sie sich entfalten und die eine Art Koordinatensystem des Symbolischen aufspannen:

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 11, 7. 2 Ernst Cassirer: »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17, 270. 3 Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 142. 4 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 7. 5 Cassirer: »Das Symbolproblem«, ECW 17, 270. 1

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Die Vielfalt der symbolischen Formen

(i) die Ausdrucksfunktion, (ii) die Darstellungsfunktion, (iii) die Bedeutungsfunktion. Um sie zu erläutern, möchte ich an die eben zitierte Textstelle über den Gegenstand als Funktionsform anknüpfen. Bei allen symbolischen Formen ist der Gegenstand zunächst einmal ein konkretes Zeichen oder Symbol; etwa der Ruf: »Halt!«; eine Folge von Geigentönen; ein Regentanz; ein Gebet; die Schrödinger-Gleichung; oder ein Mobiltelephon, um Beispiele für die Sprache, Kunst, Magie, Religion, Wissenschaft und Technik zu nennen. Der geistige Inhalt, für den das Symbol steht, liegt dabei jeweils im Zusammenwirken der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion.6 (i) Zum Ausdruck eines Symbols gehören die subjektiven Empfindungen, die man sinnlich erlebt, wenn man ein Symbol wahrnimmt: Der Ruf »Halt!« kann schrill sein; die Tonfolge gut phrasiert; der Regentanz intensiv; das Gebet innig; die Schrödinger-Gleichung für Nicht-Physiker unverständlich; das Mobiltelephon handlich. (ii) Dagegen zielt der Darstellungsaspekt eines Symbols auf einen objektiven Sachverhalt – die Gefahr, vor der man warnt; die Partitur von Bach; den ersehnten Regen; den Inhalt der Bitte an Gott; die Elektronenübergänge im Wasserstoffatom; den Anruf, den man von unterwegs machen kann. (iii) Die Bedeutung eines Symbols schließlich liegt in seiner Beziehung zu anderen Symbolen. Sie ist abstrakt und relational, betrifft die Strukturgesetze, denen Symbole unterliegen, d. h. ihre Stellung im entsprechenden Symbolsystem: die Grammatik des Imperativs; Tonart, Rhythmus und Harmonien der Bach-Partitur; die Tanzfiguren; die Praxis einer Glaubensgemeinschaft; die quantenmechanische Wellenfunktion des Atoms; das Funktionieren der Mikrochips im Mobiltelephon. Verglichen mit den Symboltheorien der analytischen Philosophie, die auf Frege und Leibniz zurückgehen, ist an Cassirers Theorie der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion vieles bemerkenswert, was hier nur am Rande erwähnt werden kann. Die Ausdrucksfunktion kommt bei anderen Symboltheoretikern kaum vor; nicht einmal bei Goodman, der sich explizit auf Cassirer beruft. Aus sprachanalytischer Sicht dürfte sie als psychologistisch gelten, doch für das Verständnis von Kunstwerken ist sie allemal unverzichtbar. Die Darstellungsfunktion hat nach Cassirer einen anschaulichen Zug und einen intentionalen Aspekt; ersterer knüpft an Kants Auffassung von objektiver Realität an, letzterer an Husserls Phänomenologie. Neben der Anschaulichkeit und der Intentionalität

6

Vgl. a. a. O., 262.

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umfaßt sie die Referenz, also das, was Frege »Bedeutung« nennt. Cassirers Bedeutungsfunktion dagegen kommt in ihrer Abstraktheit und Relationalität dem nahe, was bei Frege »Sinn« heißt, soweit es sich um den Sinn von Begriffen handelt, die intensional durch die Angabe einer Satzfunktion definiert werden7, oder aber »implizit« durch ein abstraktes Axiomensystem, wie die Grundbegriffe der Geometrie nach Hilbert. 8 Das Verhältnis dieser drei Dimensionen ist nicht starr, sondern dynamisch. Cassirer hebt hervor, daß sich jede symbolische Form, von der Sprache über die Kunst und Wissenschaft bis zur Technik, vom Konkreten, Ausdruckhaften über die anschauliche Darstellung zu einem immer abstrakteren, unanschaulichen Bedeutungsgefüge hin entwickelt; er bezeichnet diesen Prozeß als Distanzierung. Dieser Prozeß läßt sich nicht nur für jede symbolische Form einzeln verfolgen, sondern auch quer durch die symbolischen Formen hindurch: die Sprache wurzelt nach Cassirer in der Lautmalerei, dem reinen Ausdruck, von dem sie sich dann entfernt; die Schrift fängt mit der bildlichen Darstellung an, mit Hieroglyphen; die neuzeitliche exakte Wissenschaft schließlich beruht auf abstrakten mathematischen Funktionen.

II) Der symbolische Charakter der exakten Wissenschaften Die exakten Wissenschaften Mathematik und Physik haben es beim eben erwähnten Distanzierungsprozeß von allen symbolischen Formen am weitesten gebracht, denn sie benutzen mathematische Funktionen, Strukturen und Gesetze. Ihr formgebendes Prinzip ist der mathematische Funktionsbegriff; den Cassirer als konstitutiv für die Gegenstände der Mathematik und Physik betrachtet. Der Funktionsbegriff ist für ihn der Träger von abstrakter, relationaler Bedeutung par excellence. In der Mathematik bedeutet er die abstrakte Zuordnung von Symbolen zu Symbolen; eine Funktion ist eine Abbildung von Zahlen auf Zahlen oder, noch abstrakter gefaßt, von Mengen auf Mengen. Für Cassirer dürfte darüber hinaus der genetische Aspekt des Funktionsbegriffs zentral gewesen sein; im Technik-Aufsatz hebt er hervor, daß die symbolischen Formen grundsätzlich nicht als etwas Starres aufgefaßt werden dürfen, sondern als »Weise und Grundrichtung des Erzeugens« zu verstehen sind.9 Der mathematische Funktionsbegriff drückt danach eine Vorschrift aus, aus Zahlen auf wohldefinierte Weise andere Zahlen zu erzeugen.

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 349. 8 Cassirer: »Das Symbolproblem«, ECW 17, 261 f. 9 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 148 f. – Vgl. auch Paul Natorp: Logische Grundlagen der exakten Wissenschaft, Leipzig/Berlin 1921, 11 ff. und 144. 7

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In der Physik benötigt man meistens die Lösungen von Differentialgleichungen als mathematische Funktionen, welche die Zustandsänderungen physikalischer Systeme beschreiben. Die Anwendung des Funktionsbegriffs in der Physik zielt insofern immer schon auf dynamische Vorgänge anstelle der starren Substanzen der rationalistischen Metaphysik; dies hatte Cassirer schon im Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff als die größte Errungenschaft der exakten Wissenschaften betont. Wie vorhin schon angedeutet, sind die exakten Wissenschaften aus Cassirers Sicht selbst ein Produkt des Distanzierungsprozesses, den die symbolischen Formen seit der Entstehung von Sprache und Mythos in der Kulturgeschichte durchlaufen haben. Für die Mathematik und ihre Anwendungen spielt die Ausdrucksfunktion keine Rolle mehr, soweit man von ästhetischen Aspekten etwa der mathematischen Symmetrien absieht, die innerwissenschaftlich irrelevant sind. Die Darstellungsfunktion ist in der euklidischen Geometrie noch präsent; ähnliches gilt schon für die Arithmetik nur, soweit man mit kleinen, überschaubaren Zahlen rechnet. Der mathematische Funktionsbegriff ist schon so abstrakt, daß er Nichtwissenschaftlern erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ganz zu schweigen von seiner Anwendung in der Physik. Die Axiomatisierung in Hilberts Sinn, auf die sich Cassirer öfters bezieht, ersetzt schließlich auch in der Geometrie Euklids anschauliche Begriffe von Punkt, Line und Fläche durch ein abstraktes Axiomensystem, das auf vielerlei Weisen interpretiert werden kann und das sich nach Cassirer auf die reine Bedeutungsfunktion reduziert. Ist Cassirer in seinem Denken von positivistischen Kontrahenten wie Carnap infiziert, wenn er die exakten Wissenschaften als die avancierteste, also in gewissem Sinn höchste symbolische Form betrachtet? Ich denke, nein. Hier ist es aufschlußreich, Cassirers Bemerkungen zur Emanzipation der Mathematik von der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion mit verwandten Ausführungen zu vergleichen, die Max Planck in seinem berühmten (und Cassirer sicher bekannten) Vortrag über Die Einheit des physikalischen Weltbilds von 1908 macht. Planck hebt hervor, daß der Preis für die immensen Vereinheitlichungs- und Erklärungsleistungen der modernen Physik die Ablösung von der menschlichen Sinneserfahrung ist; der physikalische Kraftbegriff ist abstrakt, er hat überhaupt nichts mehr mit unserem Empfinden eines Kraftaufwands zu tun; die Ergebnisse physikalischer Experimente und ihre theoretische Deutung sollen auch nicht von der Individualität des Forschers abhängen. Der Lohn dafür sind wissenschaftlicher Universalismus sowie der Zugang zu einer tieferen Realität: »[…] die Signatur der ganzen bisherigen Entwicklung der theoretischen Physik ist eine Vereinheitlichung ihres Systems, welche erzielt ist durch eine gewisse Emanzipierung von den anthropomorphen Elementen, speziell den spezi-

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fischen Sinnesempfindungen. […] Fürwahr, es müssen unschätzbare Vorteile sein, welche einer solchen prinzipiellen Selbstentäußerung wert sind!«10 »Das konstante einheitliche Weltbild ist aber gerade, wie ich zu zeigen versucht habe, das feste Ziel, dem sich die wirkliche Naturwissenschaft in allen ihren Wandlungen fortwährend annähert […] Dieses Konstante, von jeder menschlichen, überhaupt von jeder intellektuellen Individualität Unabhängige ist nun eben das, was wir das Reale nennen.« 11

Die zunehmende Distanzierung der symbolischen Formen von ihrem ursprünglichen, sinnlich geprägten Ausdruckscharakter, die Cassirer feststellt, ist nichts anderes als die Entanthropomorphisierung und Entsinnlichung der Physik, die Planck beschreibt. Dabei kann man dem Positivismus kaum ferner stehen als Planck, der Rationalist und metaphysische Realist mit seiner fast platonistischen Sicht einer physikalischen Realität, die in den mathematischen Strukturen »hinter« den Phänomenen liegt. Der zitierte Vortrag kritisiert in aller Schärfe Ernst Machs empiristische Sicht der Physik, nach der physikalische Gesetze einzig und allein der Denkökonomie dienen. Cassirer macht in der Philosophie der symbolischen Formen analoge Bemerkungen zur Differenz von natürlicher und wissenschaftlicher Sprache: »Die Sprache […] ist niemals Aussage schlechthin, sondern immer lebt in ihr zugleich ein Modus, eine individuelle Form des Sagens, in der das sprechende Subjekt sich selbst ausspricht. […] Die Rede dieses ›Gefühlstons‹ entkleiden zu wollen, hieße ihren Herzschlag, ihren Puls und ihren Atem zu vernichten. Aber andererseits gibt es freilich ein Stadium des Geistes, in dem eben dieses Opfer von ihm gefordert wird. Er muß zu einer reinen Erfassung der Welt fortschreiten, in der alle Besonderheiten, die sich aus der Rücksicht auf den Erfassenden selbst ergeben, getilgt sind. […] Und mit diesem Übergang erschließt sich das Gebiet der eigentlichen, der strengen ›Wissenschaft‹. In ihren symbolischen Zeichen und Begriffen ist alles ausgelöscht, was irgendwie bloßen Ausdruckswert besitzt. Hier soll kein einzelnes Subjekt mehr, sondern hier soll lediglich die Sache selbst ›zur Sprache kommen‹«.12

Cassirer ist so wenig Positivist wie Planck, auch wenn er dessen metaphysischen Realismus nicht teilt, sondern eine eher konstruktivistische Sicht der Physik hat. Den Positivismus von Mach kritisiert Cassirer andernorts ebenfalls; im Aufsatz »Form und Technik« betont er, wer die theoretische

Max Planck: »Die Einheit des physikalischen Weltbildes«, in: Physikalische Zeitschrift 10, 1909, 62–75. Zitiert nach: Max Planck: Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1965, 28–51, hier: 31. 11 A. a. O., 49. 12 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 389 f. 10

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Wahrheit auf einen bloßen Sonderfall des Nutzens reduziere, der verkehre das Verhältnis von Theorie und Praxis.13

III) Die Ordnung des Wirklichen Wenn Cassirer die Mathematik im Anschluß an Leibniz einmal als die Ordnung des Möglichen bezeichnet14, so formuliert die Physik offenbar die Ordnung des Wirklichen. Die Ordnung oder Form der physikalischen Wirklichkeit wird durch die mathematischen und experimentellen Methoden der Physik konstituiert. Zentral für Cassirer ist, daß er die Begriffe der Physik konstruktiv versteht; es ist nicht so, daß physikalische Begriffe eine vorgegebene Struktur der Wirklichkeit erfassen, sondern die physikalische Wirklichkeit wird durch sie erst strukturiert, nach Maßgabe der Mathematik. Mathematische Konzepte machen die physikalische Wirklichkeit erst möglich, indem sie die Grundlage dafür sind, Naturerscheinungen in Maß und Zahl zu fassen. Deshalb unterschreibt Cassirer die folgende Auffassung, welcher romantische Denker wie Schelling oder ähnlich Bergson eine ganzheitliche Naturauffassung entgegensetzen wollten: »Der Mensch vermag auf die Welt nicht anders zu wirken, als indem er sie zerstückelt – indem er sie in einzelne Aktionskreise und Aktionsobjekte zerlegt«.15Die romantische Illusion, Naturerkenntnis sei auf andere Weise zu haben, betrachtet Cassirer als radikale »Absage gegen den Wert und gegen das Recht aller symbolischen Formung«.16 Angesichts der Quantenphysik hebt er in derselben Stoßrichtung hervor: Statt zu klagen, daß wir das »Innere der Natur« nicht einsehen, müssen wir uns klar machen, daß es kein anderes »Innere« für uns gibt als dasjenige, das sich uns durch Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen erschließt.17 Die exakte Naturerkenntnis beruht auf »Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen«, auf dem, was der Quantenphysiker Niels Bohr als »experimentelle Analyse« bezeichnet hat. Bei diesem analytischem Vorgehen greifen mathematische und experimentelle Verfahren mit dem Ziel ineinander, die Naturerscheinungen in Komponenten zu zerlegen und diese der kausalen Analyse zu unterwerfen.Galilei hatte dieses Vorgehen, das eng mit den analytisch-synthetischen Methodenidealen der

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Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 140 f. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 394. 15 A. a. O., 41. 16 A. a. O., 42. 17 Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937), in: ECW 19, 162 f. 14

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frühneuzeitlichen Philosophie zusammenhängt,18 auch als resolutiv-kompositive Methode bezeichnet.Leider bespricht Cassirer die experimentelle Methode und die Weise, wie sie die Mathematisierung der Phänomene ermöglicht, nirgends im Detail; doch er erwähnt sie im Hinblick auf den Zusammenhang von Naturwissenschaft und Technik, auf den ich später zurück-komme. Dagegen arbeitet Cassirer in seinen Schriften zur Physik heraus, welche Stufen der Begriffs- bzw. Urteilsbildung die physikalische Wirklichkeit strukturieren. Zentral für ihn ist die Unterscheidung von Maßaussagen, Gesetzesaussagen und Prinzipien. Dabei handelt es sich nach Cassirer um Aussagen erster, zweiter und dritter Stufe über ein physikalisches Geschehen. (i) Die Maßaussagen konstatieren die Ergebnisse physikalischer Messungen, sie ordnen einem experimentellen Phänomen oder einer Beobachtung den Messwert einer physikalischen Größe zu – Größenwerte für Ort und Zeit, Geschwindigkeit, Masse, Energie, Temperatur, Ladung, elektrische und magnetische Feldstärke. Die Maßaussagen sind nach Cassirer individuell, insofern sie ein Geschehen an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt konstatieren. Cassirers »Maßaussagen« entsprechen in etwa den »Protokollsätzen« des logischen Empirismus, mit dem Unterschied, daß Cassirer ihren mathematischen Charakter hervorhebt. Sie ordnen einem Phänomen eine Zahl zu, den gemessenen Wert einer physikalischen Größe. Dabei sind sie relational, insofern dieser Größenwert auf eine physikalische Größenskala und somit indirekt auf andere Phänomene desselben Typs bezogen ist. (ii) Die Gesetzesaussagen konstatieren die funktionalen Abhängigkeiten von Messgrößen, die man in Experimenten gewinnt, wenn man Messreihen aufstellt – etwa für den Zusammenhang von Strom, Spannung und Widerstand bei einer Messung, die das Ohmsche Gesetz zum Resultat hat. Dabei werden üblicherweise die Versuchsbedingungen variiert – man verstellt bei der Messreihe die Stromstärke und den Widerstand; in Abhängigkeit davon wird der Spannungswert gemessen. Die Gesetzesaussagen sind Aussagen zweiter Stufe, denn sie verknüpfen die einzelnen Messwerte, die den Phänomenen durch die Maßaussagen zugesprochen werden, zu Funktionsverläufen; beim Ohmschen Gesetz handelt es sich um den linearen Zusammenhang U = RI von Strom und Spannung bei konstantem Widerstand. Die Gesetzesaussagen sind generell, d. h. sie gelten für alle RaumZeit-Punkte; sie sind unabhängig vom Ort und Zeitpunkt der Messung (oder sie sollten es sein, sonst kann man kein Gesetz für die Messreihen

Brigitte Falkenburg: Particle Metaphysics. A Critical Account of Subatomic Reality, Heidelberg 2007, 2. Kapitel. 18

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aufstellen). Sie sind das »Konstante, von jeder menschlichen, überhaupt von jeder intellektuellen Individualität Unabhängige«, was Max Planck im obigen Zitat »das Reale« nennt. Nach Cassirer hat die physikalische Wirklichkeit, die in den Gesetzesaussagen konstatiert wird, eher konstruktive Züge. (iii) Die Prinzipien der Physik fassen wiederum die Inhalte der Gesetzesaussagen zusammen. Physikalische Prinzipien wie das Trägheitsgesetz, das Kraftgesetz, der Energieerhaltungssatz oder Einsteins Relativitätsprinzipien sind für Cassirer universelle Aussagen 3. Stufe, die metatheoretischen Charakter haben und der »Tieferlegung der Fundamente« der Physik im Hilbertschen Sinn dienen19, der Vereinheitlichung der Gesetzesaussagen. Sie zielen auf die Einheit der Physik. Cassirer betont, daß diese drei Stufen physikalischer Aussagen keine schlichte Hierarchie mit den Maßaussagen als Basis und den Prinzipien als Spitze sind; alle drei Typen von Aussagen sind miteinander verschränkt, denn alle Messungen sind theoriegeladen – was für Cassirer aber nicht heißt, daß ihre Messergebnisse willkürlich sind. Messdaten sind keine schlichten Fakten, aber sie sind auch kein beliebiges Konstrukt. Die Wirklichkeit der Physik ist nicht gegeben, sondern aufgegeben: »Das ›Sein‹ der Physik, ihr empirischer Gegenstand, ist freilich niemals fertig-gegeben, weil er nie zu Ende bestimmt ist«20 – viel mehr sagt Cassirer nicht zu dem schwierigen Problem der Theoriegeladenheit der Messungen, das die Wissenschaftsphilosophie bis heute beschäftigt. Jedenfalls betont er hiermit den prozessualen, unabschließbaren Charakter der physikalischen Naturerkenntnis. Die Unabschließbarkeit der Physik ist nach Cassirer auch darin begründet, daß physikalische Beobachtungsinstrumente und Messungen Bereiche jenseits der Sinneserfahrung erschließen – par excellence durch das Fernrohr, Teleskop oder Mikroskop, heute auch durch Elektronenmikroskop und Teilchenbeschleuniger: »Der Übergang von der unmittelbaren sinnlichen Auffassung zur experimentellen Beobachtung und ihrer methodisch-systematischen Auswertung stellt […] eine außerordentliche Bereicherung unseres Wissens dar. Von den zufälligen Schranken, die in unserer Organisation, in der Bindung an die einzelnen Sinnesorgane gegeben sind, werden wir in diesem Übergang befreit. Man kann versuchen, diese Erweiterung geradezu als den wesentlichen Fortschritt und als den eigentlichen Sinn der physikalischen Forschung zu erklären.«21

Cassirer: Determinismus und Indeterminismus, ECW 19, 55. A. a. O., 159. – Dieselbe Auffassung vertrat Paul Natorp: Logische Grundlagen der exakten Wissenschaft, 16 ff. 21 Cassirer, a. a. O., 41. 19

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Cassirer betrachtet diese Erweiterung der physikalischen Wirklichkeit als gegenläufig zur Vereinheitlichung in der Physik; und er sieht sie in engem Zusammenhang mit dem Charakter der Technik als einer symbolischen Form, die darauf zielt, den Wirkungsradius unserer Organe mithilfe von Werkzeugen zu erweitern.

IV) Die Technik als symbolische Form Die Philosophie der symbolischen Formen unterläßt es, den systematischen Ort der Technik in der Kultur, im System aller symbolischer Formen zu bestimmen; dies versucht der Aufsatz »Form und Technik« nachzuholen. Als formgebendes Prinzip der Technik betrachtet Cassirer dabei den menschlichen Gestaltungswillen: »[…] denn das ›Sein‹ der Technik läßt sich selbst nicht anders als in der Tätigkeit erfassen und darstellen. Es tritt nur in ihrer Funktion hervor; es besteht nicht in dem, als was sie nach außen hin erscheint […], sondern in der Art und Richtung der Äußerung selbst: in dem Gestaltungsdrang und Gestaltungsprozeß, von dem diese Äußerung Kunde gibt.«22

Cassirer hebt (unter Bezugnahme auf Humboldt) hervor, daß dies eine »genetische« Definition der Technik ist; und dies sei die »einzig wahrhafte« Art von Definition, die dem gesetzgebenden Charakter und den Erzeugnissen des menschlichen Geistes angemessen ist: die symbolischen Formen »können und dürfen nicht als ein »totes Erzeugtes«, sondern sie müssen als eine Weise und Grundrichtung des Erzeugens verstanden werden.«23Um das Spezifische der Technik als einer Weise des Erzeugens zu bestimmen und zugleich ihr Verhältnis zu den anderen symbolischen Formen zu klären, vergleicht Cassirer sie sodann mit Sprache, Magie, Wissenschaft und Kunst. Zentral für den Vergleich ist, daß die Technik und die anderen symbolischen Formen nach dem obigen Zitat schon immer gemeinsam haben, Weisen des Erzeugens zu sein. Die Erzeugnisse der symbolischen Formung sind die konkreten Symbole, die jeweils eine Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion haben. Vorhin habe ich das Verhältnis dieser drei Dimensionen zueinander erläutert, jetzt kommt es mir auf den funktionalen Aspekt an, den sie miteinander teilen und den Cassirer überhaupt für jedes Symbol als charakteristisch betrachtet. Symbole sind Instrumente; sie sind die Werkzeuge, die sich der Geist erschafft, um seine Inhalte zu konkretisieren und sie dadurch erst mitteilbar zu machen:

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Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 147. A. a. O., 148.

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»Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt sich selbst herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.« 24

Die Sprache hat deshalb schon immer den Werkzeugcharakter ihrer Symbole mit der Technik gemeinsam (Cassirers Sprachphilosophie ist also pragmatistisch; sie steht den Gebrauchstheorien der Bedeutung nahe, die auf den späten Wittgenstein zurückgehen.). Die Parallele zwischen Sprache und Technik geht aber noch weiter; die Technik durchläuft einen ähnlichen Distanzierungsprozeß wie die Sprache. Wie der sprachliche Ausdruck in der Lautmalerei wurzelt, so die Technik in der Arbeit mit bloßen Händen; hier ist die Ausdrucksfunktion der Technik nach Cassirer primär, insofern die Arbeit vom Bewegungsrhythmus getragen ist.25 Analog zur Sprache entfernt sich sodann auch die Technik zunehmend von ihren organischen Grundlagen. Die Darstellungsfunktion wird mit dem Werkzeug erreicht, insofern beim Werkzeuggebrauch »das Tun in die Form der Mittelbarkeit übergeht«.26 Insofern Werkzeuge nur den Organgebrauch erweitern und der Mensch bei der Arbeit »mit dem Werkzeug, das er gebraucht, mehr und mehr ›verwächst‹«,27 ist der Werkzeuggebrauch noch anschaulich. Am Ende des Distanzierungsprozesses macht sich der Werkzeugbau jedoch von allen organischen Vorbildern frei und die Arbeit wird mithilfe von Maschinen ausgeführt. Mit dem Maschinengebrauch ist die Ebene der abstrakten Bedeutungsfunktion erreicht; nun ist nicht mehr das Werkzeug in die menschliche Tätigkeit eingespannt, sondern der Mensch in die maschinelle Produktion, wobei der erlebbare Zusammenhang der individuellen Tätigkeit mit dem fertigen Werkstück zerbricht: »Der Zusammenhang von Arbeit und Werk hört auf, ein in irgendeiner Weise erlebbarer Zusammenhang zu sein. Denn das Ende des Werks, sein eigentliches Telos, ist jetzt der Maschine anheimgegeben, während der Mensch, im Ganzen des Arbeitsprozesses, zu einem schlechthin Unselbständigen wird – zu einem Teilstück, das sich mehr und mehr in ein bloßes Bruchstück verwandelt.«28

Ob Cassirer den Chaplin-Film »Moderne Zeiten« einmal gesehen hat, der dies nachdrücklich veranschaulicht? Wie dem auch sei; es ist aus Cassirers Sicht sicher kein Zufall, daß dieses abstrakteste Stadium der Technik etwa zum selben Zeitpunkt in der Kulturgeschichte erreicht wird wie das

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Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 16. Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 170 f. A. a. O., 171. Ebd. A. a. O., 171 f.

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abstrakteste Stadium der Sprache, die Logik und Mathematik, die der exakten Naturwissenschaft zugrunde liegen. Bevor ich diesem Zusammenhang nachgehe, sollen aber noch kurz die Unterschiede der Technik zur Kunst und zur Magie erwähnt werden. Die Kunst ist nach Cassirer eng verwandt mit der Technik, aber bei ihr handelt es sich um eine andere Art von Objektivierung geistiger Gestalten. Insbesondere bleibt der Ausdruckscharakter in Kunstwerken immer erhalten; charakteristisch für die Kunst ist, daß sich Ausdrucks- und Bedeutungsfunktion noch dort die Waage halten, wo keine anschauliche Darstellung mehr vorliegt. Umgekehrt sind die ästhetischen Aspekte bei technischen Produkten zweitrangig; der Ingenieur wird nie so hoch bewertet wie der Künstler; abstrakte Funktionalität ist in der Technik wichtiger als Ausdrucksmäßiges. 29 Die Magie wiederum unterscheidet sich von der Technik wie der Wunsch vom Willen. In magischen Ritualen wird die Natur beschworen, ihnen liegt noch der Glaube an die Kraft menschlicher Wünsche zugrunde. Dagegen beruht die Technik auf dem menschlichen Gestaltungswillen und auf der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. Eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von Technik ist es, Naturzusammenhänge zu verstehen, damit man sie beherrschen lernt – hier zitiert Cassirer Bacon. In Bezug auf die Auseinander-Setzung des Menschen mit der Natur bringt Cassirer wieder seinen Distanzierungsgedanken ins Spiel; dabei klingt aber auch die Thematik der Anerkennung nach Hegels Dialektik von Herr und Knecht an: »An Stelle des zauberischen Zwanges tritt die »Entdeckung« der Natur, die in jedem technischen Verhalten, in jedem noch so einfachen und primitiven Werkzeuggebrauch enthalten ist. […] An die Stelle des bloß triebhaften Begehrens ist erst jetzt ein echtes, bewußtes Willensverhältnis getreten – ein Verhältnis, das Herrschen und Dienen, Fordern und Gehorchen, Sieg und Unterwerfung in eins faßt.« 30

Die enge Beziehung von Naturerkenntnis und Werkzeuggebrauch ist danach für jede Technik konstitutiv; aber erst in der Wissenschafts- und Technikentwicklung der Neuzeit greifen beide symbolischen Formen vollends ineinander. Die neuzeitliche Einheit von theoretischer Naturforschung und technischer Praxis zeigt sich bei den Künstler-Ingenieuren der Renaissance, und par excellence bei Leonardo da Vinci; Cassirer weist darüber hinaus auf Galileis ausgiebige Beschäftigung mit technischen Instrumenten hin.31

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A. a. O., 177 ff. A. a. O., 157 f. A. a. O., 174 f.

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Ohne das leistungsfähige Fernrohr, das Galilei gebaut hat, hätte er nicht die Venusphasen und die Jupitermonde entdeckt; und ohne seine Beschäftigung mit der Waffentechnik vermutlich auch nicht das Fallgesetz.32 Cassirer ist klar, daß der Unterschied von Naturerkenntnis und Technik nicht in den Methoden liegt – beide beruhen auf der Kombination von Mathematik und Messung. Techniker und Physiker benutzen dieselben Differentialgleichungen sowie dieselben physikalischen Größenmaße und Meßgeräte, etwa Instrumente zur Messung von Strom und Spannung. Der enge Zusammenhang von theoretischer Naturerkenntnis und Technik hört erst bei den Zielen beider symbolischer Formen auf; das Ziel der Physik ist die theoretische Erkenntnis des Wirklichen, das Ziel der Technik dagegen die praktische Verwirklichung des Möglichen.33Cassirers verstreute Bemerkungen zur Beziehung von Physik und Technik zeigen, daß er dieses Ineinandergreifen als entscheidenden kulturgeschichtlichen Sprung betrachtet. Die mathematischen Methoden der Physik und Technik sind extrem abstrakt und unanschaulich; die experimentelle Methode zerstückelt die Natur durch Zergliederung der Phänomene; technische Beobachtungs- und Messinstrumente erschließen eine Wirklichkeit weit jenseits der Grenzen der Sinneswahrnehmung. Der Kreis schließt sich in der Technisierung der menschlichen Arbeit, bei der nicht mehr Werkzeuge in den Rhythmus der menschlichen Bewegung eingespannt sind, sondern Bewegungsabläufe der Menschen in den Rhythmus von Maschinen. All dies bedeutet nach Cassirer eine extreme Distanzierung des Menschen von der Natur, insbesondere auch von der eigenen Ausdrucksnatur oder Sinnlichkeit. Physik und Technik stehen dabei in krassem Gegensatz zur Kunst als symbolischer Form: »Wenn man als die beiden Extreme, zwischen denen die Kulturentwicklung sich bewegt, die Welt des Ausdrucks und die Welt der reinen Bedeutung bezeichnen kann, so ist in der Kunst gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen erreicht. Die Technik hat dagegen mit der theoretischen Erkenntnis, der sie eng verschwistert ist, den Grundzug gemein, daß sie mehr und mehr auf alles Ausdrucksmäßige Verzicht leistet, um sich in eine streng »objektive« Sphäre reiner Bedeutsamkeit zu erheben.« 34

Cassirer weist auf Leonardo Olschki hin: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, Bd. 3, Leipzig 1927. Lesenswert zum Thema ist auch die GalileiBiographie von Albrecht Fölsing: Galileo Galilei – Prozeß ohne Ende, München 1983. 33 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 176 f. 34 A. a. O., 180. 32

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V) Technik und Wirtschaft Von der Diagnose der Distanzierung des Menschen von der Natur in der neuzeitlichen Technik zur Deutung dieser Distanzierung als Entfremdung ist es nicht weit. Cassirers zentrale Frage ist im Technik-Aufsatz denn auch, ob die Technik den Menschen von sich selbst als einem geistigen Wesen entfremdet, indem sie den Geist insgesamt, also alle anderen symbolischen Formen, der Technik unterwirft, oder ob die Technik der menschlichen Freiheit dient. Wie etliche andere Technikphilosophen kritisiert Cassirer die Verselbständigung der Technik, die so symptomatisch für die Industriegesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, die er vor Augen hatte, wie sie für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts ist, in dem wir stehen. Cassirer sieht allerdings nicht in der modernen Technik selbst das Übel, sondern für ihn ist »die Wirtschaft, die sie aus sich heraus geschaffen hat und die sie mit ihren Mitteln aufrechthält, das eigentliche Faß der Danaiden«35; dabei läßt er keinen Zweifel daran, daß er – mit Rathenau, den er in diesem Zusammenhang zitiert – hierbei nur die Bindung der Technik an die kapitalistische Wirtschaftsform vor Augen hat, die aus seiner Sicht aber »nicht aus dem Geiste der Technik stammt«.36 Was die Trennbarkeit der modernen Technik von der kapitalistischen Form der Produktion betrifft, ist Cassirer meiner Auffassung nach leider viel zu optimistisch; und dies liegt m.E. daran, daß er die Wirtschaft als symbolische Form nirgends analysiert. Er hat zwar im Zusammenhang mit seiner Kritik an Machs Positivismus hervorgehoben, daß Philosophie und Technik im Ökonomieprinzip der Machschen Erkenntnistheorie eine unheilvolle Allianz eingegangen sind, die dazu führt, die Wahrheit nur noch als Sonderfall des Nutzens zu betrachten – aber weiter ging er nicht.37 Hätte er dieses Ökonomieprinzip dagegen als weitere symbolische Form betrachtet, so hätte er bemerkt, daß Technik und Wirtschaft ebenfalls ein zentrales symbolisches Prinzip miteinander gemeinsam haben: Technisches und ökonomisches Handeln sind gleichermaßen auf Zweckmäßigkeit angelegt, genauer gesagt: auf Nutzen und Effizienz. Bei allen bedeutenden technischen Innovationen greifen technische Effizienz und ökonomischer Nutzen ineinander, sonst setzen sie sich gar nicht erst nicht durch. Diese Gemeinsamkeit der Technik mit jeder Wirtschaftsform hat Heidegger in seinem Technik-Aufsatz von 1962 hervorgehoben, Cassirer hat sie nicht bemerkt.

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A. a. O., 181. A. a. O., 182. A. a. O., 141.

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Sowenig es heute ein »Zurück« zur steinzeitlichen Natur, zur vorindustriellen Technik oder zu einer »ganzheitlichen« Naturwissenschaft geben kann, sowenig gibt es eine Wirtschaftsform, die nicht auf Nutzenmaximierung angelegt wäre; und die bei der Nutzenmaximierung nicht den technischen Fortschritt als ganz zentrale Triebkraft einbeziehen würde. In der wissenschaftlich-technischen Lebenswelt ist hier meistens der monetäre, in Kapital gemessene Nutzen gemeint, denn die einzige ökonomische »Meßgröße« eines Guts ist sein Preis. Darum besteht wenig Grund zu Cassirers Hoffnung, die Technik lasse sich von der kapitalistischen Wirtschaftsform ablösen. Es ist aber nicht die Technik, sondern das ökonomische Denken, das heute alle anderen symbolischen Formen dominiert und die menschliche Freiheit bedroht. Insofern sollte es zentrales Anliegen jeder heutigen Philosophie symbolischer Formen in Cassirers Geist sein, die hier skizzierten systematischen Zusammenhänge von Naturwissenschaft und Technik sowie das Zusammenspiel der letzteren mit der Ökonomie besser zu verstehen.

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Zur Phänomenologie der sprachlichen Form (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17 – »Form und Technik« (1930), in: ECW 17 – Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937), in: ECW 19 Brigitte Falkenburg: Particle Metaphysics. A Critical Account of Subatomic Reality, Heidelberg 2007 Leonardo Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, Bd. 3, Leipzig 1927 Paul Natorp: Logische Grundlagen der exakten Wissenschaft, Leipzig/Berlin 1921 Albrecht Fölsing: Galileo Galilei – Prozeß ohne Ende, München 1983 Max Planck: »Einheit des physikalischen Weltbildes«, in: Physikalische Zeitschrift 10, 1909 (zitiert nach Max Planck: Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1965)

Christian Bermes

Technik als Provokation zur Freiheit Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik

I) Einführung Niklas Luhmann kürzte sozusagen den Weg ab, um zur Technik zu kommen. Er bemerkte, daß man »den Begriff der Technik von jeder humanistischen Gegenbegrifflichkeit ablösen«1 müsse, um überhaupt das Phänomen des Technischen in den Blick zu bekommen. Technik funktioniert schlicht,2 zur Erklärung derselben ist es nicht nötig, sie auf den Menschen zu beziehen. Obwohl sich die Vertreter der Systemtheorie zuweilen auch auf Cassirer berufen, um das eigene Recht von kulturellen Systemen zu beweisen, so können sie doch in dessen Philosophie keinen verständigen Gesprächspartner finden. Denn Cassirers These bezüglich der Philosophie der Technik ist eindeutig: Eine Philosophie der Technik ist nur als Anthropologie der Technik zu konzipieren. In jeder Kritik, in jeder Auseinandersetzung mit der Technik, so führt Cassirer mehr als deutlich aus, »muß stets die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Bedeutung und ›Bestimmung‹« »im Mittelpunkt« stehen.3 Um die Konturen dieser Anthropologie der Technik wird es im folgenden gehen. In einem ersten Abschnitt wird der systematische Rahmen skizziert, in dem sich Cassirers Überlegungen entwickeln. Dabei wird deutlich, daß jede konsequentialistische Interpretation der Technik in den Hintergrund treten muß, um an ihre Stelle eine Rechtfertigung

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»Man muß nur den Begriff der Technik von jeder humanistischen Gegenbegrifflichkeit ablösen, denn diese Veränderung des Begriffs soll ja gerade die Möglichkeit bieten, neue Zusammenhänge zu sehen.« (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1998, 528) Und weiter heißt es: »Deshalb führen Technikbegriffe, die im Gegenbegriff auf Natur oder auf Geist oder Mensch abstellen, heute nicht weiter. Die eigentlich spannende Frage ist vielmehr, ob die Errungenschaften der Technik nach einer Logik der Evolution irreversibel sind und jeder Ausfall nur durch neue Techniken kompensiert werden kann; oder ob Technik wie ein Vorrat von Möglichkeiten zu begreifen ist, auf die man bei Bedarf jederzeit wieder zurückgreifen kann.« (535). 2 »Daß technische Arrangements in der gesellschaftlichen Evolution präferiert werden, scheint vor allem damit zusammenzuhängen, daß sie, obwohl es um artifizielle Objekte geht, Konsens einsparen. Was funktioniert, das funktioniert. Was sich bewährt, das hat sich bewährt.« (A. a. O., 518). 3 Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 17: Aufsätze und Kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, 139–183, hier: 165.

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der Technik durch Verweis auf den anthropologischen Grund der Technik zu etablieren. Cassirer präsentiert in diesem Sinne, so könnte man es zugespitzt formulieren, eine Technikfolgenabschätzung eigener Art: Die erste und prominente Folge der Realität der Technik ist die Idee des Menschen. Dieser Gedanke wird in einem nachfolgenden, zweiten Abschnitt vertieft, um Cassirers grundsätzliches Anliegen deutlicher hervortreten zu lassen. Zu diesem Zweck werde ich terminologisch und systematisch zwischen der Konzeption einer Technikanthropologie (wie sie etwa bei Gehlen und anderen auftritt) und der Konzeption einer Anthropologie der Technik bei Cassirer unterscheiden und diese an die Cassirersche Methodologie zurückbinden. In einem daran anschließenden dritten Abschnitt sollen dann die Grundzüge der Cassirerschen Konzeption unter diesem Gesichtspunkt skizziert werden, um deutlich zu machen, wie Cassirer in seinen Überlegungen zu einem qualitativen Begriff des Menschen kommt. In diesem dritten Abschnitt geht es um das adäquate Verständnis der Freiheit als Bestimmung des Menschen im Kontext der Technik. In einem abschließenden, resümierenden Teil, soll schließlich deutlich werden, daß Cassirer mit seiner Anthropologie der Technik nicht einfach eine Spezialanthropologie in den Raum stellt, sondern die Fundamente einer philosophischen Anthropologie im allgemeinen bereitet. Dieser Gedanke gründet in den Überlegungen, die Cassirer immer wieder anführt, wenn er auf die Technik zu sprechen kommt und hier besonders auf die Verknüpfung von Sprechen und Schaffen: »Alle geistige Bewältigung der Wirklichkeit ist an diesen doppelten Aspekt des ›Fassens‹ gebunden: an das ›Begreifen‹ der Wirklichkeit im sprachlich-theoretischen Denken und an ihr ›Erfassen‹ durch das Medium des Wirkens; an die gedankliche wie an die technische Formgebung.«4 Doch bevor der Cassirersche Gedanke einer Anthropologie der Technik in den Mittelpunkt gerückt und diskutiert wird, ist es hilfreich, auch dasjenige zu nennen, was im folgenden notwendig außerhalb des Blickes bleiben muß und was nicht oder allenfalls nur am Rande thematisiert werden kann. So wird die immanente Entwicklung des Cassirerschen Denkens bezüglich einer Philosophie oder Anthropologie der Technik nicht rekapituliert, obwohl in der nachfolgenden Diskussion selbstverständlich auch immer wieder auf andere Schriften zurückgegriffen wird. Dies bedeutet zugleich, daß die Überlegungen Cassirers im Mythos des Staates, besonders das abschließende Kapitel zur Technik der modernen Mythen, nicht in den Vordergrund rücken können. 5 Auch werde ich aus Platzgründen nicht auf die Unterscheidung von Technik und Kunst oder Wissenschaft

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Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 150. Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25.

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und Technik als symbolische Formen eingehen. Und schließlich bauen die nachfolgenden Bemerkungen auf bereits vorliegenden Studien auf, ohne daß diese hier detailliert und im einzelnen referiert werden könnten; hinzuweisen ist z. B. auf die Arbeiten von John Michael Krois zur Technik im Kontext der Sozialphilosophie, die Studien von Ernst Wolfgang Orth zur Technik bei Cassirer und Heidegger oder die Analysen von Oswald Schwemmer zur Technik als ›Realitätsprinzip‹ des Menschen. 6 Meine Darlegungen stehen nicht quer zu den genannten Studien, sie fokussieren nur einen besonderen Aspekt – nämlich denjenigen der explizit anthropologischen Dimension der Technik.

II) Technikfolgenabschätzung anders: Der Mensch als ›Folge‹ der Technik Wohl in keinem anderen Fall ist es schwieriger, an die Stelle der Vorurteile Urteile zu setzen. Zu sehr scheint die Frage nach der Technik von unseren Alltagserfahrungen mit Apparaturen und Geräten verschiedener Art dominiert zu werden. Dabei entstehen diese Vorurteile nicht selten aufgrund von Ignoranz oder schlicht Faulheit. Diejenigen, die über das Versagen ihres Notebooks klagen, haben in nicht wenigen Fällen wieder und wieder die falsche Taste gedrückt oder aber schlicht das Handbuch nicht gelesen. Zu diesem Phänomen gesellt sich zudem eine Lust an der grenzenlosen Universalisierung der eigenen Unwissenheit, die etwa in Sätzen folgender Art zum Ausdruck kommen kann: Wenn schon mein Handy nicht ordentlich funktioniert, wie soll dann erst ein Flugzeug oder gar das Space Shuttle fliegen können? Würde man darauf antworten, daß dieser Vergleich so sinnvoll ist, wie derjenige des Handys mit der Toilettenspülung,

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Vgl. John Michael Krois: »Ernst Cassirers Theorie der Technik und ihre Bedeutung für die Sozialphilosophie, in: Phänomenologische Forschungen 15, 1983, 68–93; Ernst Wolfgang Orth: »Der Begriff der Technik bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: Phänomenologische Forschungen 20, 1987, 91–122; ders.: »Technikphilosophie oder Kulturphilosophie. Eine unbewältigte Alternative«, in: Akihiro Takeichi (Hg.): Das Bild von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert. Zur neuen Philosophie der Politik, Gesellschaft, Technologie und Natur, Kyoto 1995, 127–146; Oswald Schwemmer: »Mittel und Werkzeug. Cassirers Philosophie der Technik und Hegels Reflexion auf die Teleologie im Vergleich«, in: Rüdiger Bubner/Walter Mersch (Hg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, Stuttgart 2001, 361–382; ders.: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. Vgl. weiterhin Reinhard Margreiter: »Gestell, Geviert und symbolische Form. Zur Fortschreibung der Heidegger – Cassirer – Kontroverse«, in: ders. (Hg.): Heidegger. Technik, Ethik, Politik, Würzburg 1991, 77–88; Johannes Rohbeck: »Technik und symbolische Form bei Ernst Cassirer«, in: Peter A. Schmidt/Simone Zurbuchen (Hg.): Grenzen der kritischen Vernunft. Festschrift für Helmut Holzhey zum 60. Geburtstag, Basel 1997, 197–212; Peter Fischer: Philosophie der Technik. Eine Einführung, München 2004, 35–58.

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da schließlich in beiden Fällen Tasten zu drücken sind, so würde man wohl nicht verstanden werden. Technik, so darf man wohl sagen, entlarvt Unvermögen – und das Eingeständnis des eigenen Unvermögens macht Technik für viele unheimlich, geheimnisvoll. 7 Die weit verbreitete Angst vor der Technik ist nicht einfach nur eine Angst vor den Resultaten der Technik, sie ist ebenso eine Furcht, vielleicht auch ein Erschrecken vor der eigenen Unwissenheit bzw. eine Furcht vor dem Eingeständnis dieser Unwissenheit. Dies aber bedeutet umgekehrt – und jetzt ins Positive gewendet – auch das folgende: Technik fordert den Menschen in dem Sinne, wie sie die Welt des Menschen formt. Vermittels der Technik wird nicht einfach nur etwas Außermenschliches gestaltet, es wird zugleich der Gestalter selbst auf die Probe seines eigenen Seins gestellt. 8 Gerade dies zeichnet den Doppelaspekt des Werkzeugs aus, auf den Cassirer stets verweist: »Die Grundkraft des Menschen offenbart sich vielleicht nirgends so deutlich als in der Sphäre des Werkzeugs: Der Mensch wirkt mit ihm nur dadurch, daß er in irgendeinem, wenn auch anfangs noch so bescheidenen Maße auf dasselbe wirkt. Es wird ihm nicht nur Mittel zur Umgestaltung der Gegenstandswelt, sondern in eben diesem Prozeß der Verwandlung des Gegenständlichen erfährt es selbst eine Wandlung und rückt von Ort zu Ort. Und an diesem Wandel erlebt nun der Mensch eine fortschreitende Steigerung, eine eigentümliche Potenzierung seines Selbstbewußtseins.« 9 Vermittels des Werkzeugs wird die Welt des Menschen gestaltet, und in der Gestaltung wird der Mensch in, aber auch zu seinem Mensch-Sein gefordert, ja er wird dazu herausgefordert, sein Mensch-Sein zu realisieren, da dieses nun als Idee thematisch wird. Pointiert könnte man sagen: Die Technik ist eine natürliche Provokation des Menschen, um zu seinem eigenen Sein als Mensch zu kommen. Oder noch kürzer: Die Realität der Technik provoziert die Idee des Menschen – und zwar die Idee des Menschen, die es als eine Aufgabe zu realisieren gilt.

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Diese Einsicht hat insbesondere Gehlens sozialpsychologische Studien motiviert, vgl. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/M. 2004, 1–140. 8 Damit unterläuft Cassirer die Dichotomie von Praxis und Poiesis, was ihm sehr wohl bewußt war, wie er es am Beispiel Leonardo da Vincis herausstellt, bei dem »›Praxis‹ und ›Poiesis‹ sich in einem ganz anderen Maße als je zuvor miteinander durchdringen«. (Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 174). 9 A. a. O., 162 f. – Vgl. hierzu ebenfalls die Bemerkungen: »Es gehört zum Wesen und zu den Grundbestimmungen des Geistes, daß er auf die Dauer keine schlechthin äußere Determination erträgt und erduldet«, daß er vielmehr der Forderung nachkommt, diese Mächte zu erkennen und sich darin auf sich zu besinnen: »Indem der Geist sich auf die Mächte, die ihn äußerlich zu bestimmen scheinen, besinnt, schließt ebendiese Besinnung schon eine eigentümliche Rückwendung und Innenwendung in sich.« (A. a. O., 139 f.).

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Solche schlagkräftigen Thesen erwarten – vielleicht aber auch: irritieren – den heutigen Leser des in vielerlei Hinsicht beeindruckenden Essays »Form und Technik« aus dem Jahr 1930. Cassirer fragt in diesen Ausführungen nicht nach den gegenständlichen Ergebnissen der Technik, nach den technischen Produkten oder nach den Wirkungen bzw. Nebenwirkungen technischer Veranstaltungen. Jeder konsequentialistische Interpretationsversuch, der den Kern der Technik in den Folgen derselben zu erkennen meint, wird im Ansatz verworfen.10 Cassirer konfrontiert vielmehr den Menschen mit sich selbst: Das Resultat der Technik ist nicht einfach nur dieses oder jenes Artefakt, das Resultat der Technik ist vielmehr das disziplinierte und damit seine Grenzen erkennende Ich, das seine mythische »Allmacht« als Homo divinans im und mit dem technischen Werkzeuggebrauch verloren hat. Die Allmacht eines mythischen Ichs wird durch die Technik gesprengt, an ihre Stelle tritt eine Subjektivität, die um ihre Grenzen weiß und sich als eine Aufgabenstellung begreift. Diese Subjektivität erkennt andere als natürliche Abhängigkeiten und damit Verpflichtungen neuer Art. Der Homo faber, und dies ist die bis heute fruchtbare und provozierende These Cassirers, ist kein stumpfsinniger Handwerker der natürlichen Welt oder des menschlichen Seins, er ist nicht notwendig ein bornierter Weltenbauer, der sich und das Sein im Gestell stellt oder auch verstellt, er ist demgegenüber derjenige, der seine Existenz gestalten kann, da er die Idee des Menschen zu fassen gezwungen ist; und er ist darüber hinaus durch die Technik dazu aufgerufen, seine Existenz mit anderen gemeinsam zu formen. In diesem Sinne entlarvt Technik nicht nur Unwissenheit und wirft damit den Menschen auf sein eigenes Sein als eine zu realisierende Idee zurück, Technik konstituiert gleichzeitig eine neue, nämlich nun moralisch bestimmte Form von Sozialität oder Gemeinschaft. Wir sind notwendig auf die anderen angewiesen, wenn es um Technik geht, da wir nicht alles – und erst recht nicht vieles gleichzeitig – beherrschen. Natürliche Beziehung wird im Falle des Menschen natürlicherweise durch künstliche Bindung ersetzt, die weit über familiäre oder gewachsene Beziehungen hinausreicht und eine neue Dimension von Gemeinschaft etabliert. Dabei sind wir nicht so sehr von der Technik selbst abhängig, um mit anderen in Kontakt zu treten, wir sind vielmehr besonders von denjenigen abhängig, die die Technik in Gang halten. Genau dies bedeutet die Rede Cassirers, daß die Technik vor der Willensgemeinschaft eine Schicksalsgemeinschaft etabliert: Technik, so heißt es geradezu pathetisch am Schluß des Essays, »schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensge-

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Dies bedeutet nun keineswegs, daß Cassirer die Folgen leugnen würde, im Gegenteil, er beharrt jedoch darauf, daß die Folgen nicht das Wesen der Technik bezeichnen.

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meinschaft, eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind. So kann man mit Recht als den impliziten Sinn technischer Arbeit und technischer Kultur den Gedanken ›Freiheit durch Dienstbarkeit‹ bezeichnen.«11 Es ist dieser Bogen, der sich von der Technik als Herausforderung des Menschen zu seinem eigenen Sein bis zur Technik als Schicksalsgemeinschaft einer im (technischen) Werk geeinten Sozialität spannt, in dem sich die Überlegungen Cassirers im Jahr 1930 entwickeln. Sie beinhalten im Ganzen eine Anthropologie der Technik, die durchaus auch auf antiken, nicht zuletzt platonischen Motiven gründet, deren Ziel es aber ist, von der Frage nach der Technik als Ursache für bestimmte Folgen auf die Frage nach der Technik als Grund des Menschen-Seins umzustellen. Dies scheint mir in systematischer Hinsicht das entscheidende und auszeichnende Merkmal der Cassirerschen Anthropologie zu sein. An die Stelle der Analysen von Folgen tritt die Auslegung der Technik als Grund menschlicher Selbstbestimmung. Deutlich wird diese analytische Achsendrehung von Ursachen und Wirkungen einerseits auf Gründe, andererseits in mehreren Bemerkungen in »Form und Technik«: Es genügt nicht, »den verderblichen Wirkungen des rational-technischen Geistes, die offen zutage liegen, andere erfreuliche und wohltuende Folgen gegenüberzustellen und aus dieser Gegenüberstellung eine erträgliche oder günstige Bilanz zu ziehen, eine bestimmte ›Lustsumme‹ zu errechnen. Denn die Frage richtet sich nicht auf die Folgen, sondern auf die Gründe.«12 Wir kennen alle das Spiel nur allzu gut, das im Falle der Technik besonders gerne, fast automatisch, gespielt wird. Man stellt einer wirklich oder vermeintlich schädlichen Folge eine wohltuende Wirkung gegenüber und bilanziert dann die Summe: Der elektrische Aufzug erlaubt eine rasche Überbrückung von Stockwerken, doch unser Bewegungspotential wird nicht ausgeschöpft, wir dürfen nicht mehr nach unten oder oben laufen, verbrennen also weniger Energie, so daß die Gefahr des Übergewichts steigt. Soll man vielleicht nicht doch die Aufzüge wieder abschaffen und die Menschen laufen lassen? Cassirer versagt sich solchen Betrachtungen der Technik, da diese einzig auf Folgen aufgebaut ist, Gründe jedoch übersehen oder negiert werden. Doch es sind die Gründe, die nach Cassirer eine Anthropologie der Technik auszeichnen. Gründe nämlich bestimmen den Menschen direkt und unmittelbar. Mit der Angabe von Gründen bestimmen wir uns als ein Selbst in einem qualitativen Sinne und nicht als etwas anderes. Wer beispielsweise meint, die Nutzung des Telephons anstelle des Morsetelegraphen könne damit gerechtfertigt werden, daß mit

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A. a. O., 183. A. a. O., 165.

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dieser neuen Technik mehr Zeichen übermittelt werden, bilanziert seinen Kommunikationshaushalt nach einem Prinzip von ›mehr oder weniger‹; damit ist aber noch nicht gesagt, was die Kommunikation für dieses Subjekt bedeutet. Wer in diesem Sinne nach Gründen fragt, möchte wissen, als was wir uns verstehen, wer wir sein wollen, wie wir uns selbst begreifen möchten. Wer Gründe angibt, bestimmt den Menschen, keine Sachen (auch nicht den Menschen als eine Sache). Und so heißt es denn auch konsequent bei Cassirer, wenn er die Umstellung von Folgen auf Gründe einfordert, daß bei jeder Analyse der Technik die Bedeutung und Bestimmung des Menschen auf dem Spiel steht.13 Wer nach der Technik fragt, fragt nach dem Menschen – jedoch nicht in dem eher schlichten, aber auch problematischen Sinne, den beispielsweise auch Gehlen in seiner Anthropologie immer wieder anführt,14 daß nämlich überall dort, wo man Werkzeuge gefunden hat und Technik vermuten darf, man auch vom Menschen sprechen dürfe, sondern in dem anspruchsvollen Sinne, daß überall dort, wo Werkzeuge im Gebrauch waren und sind, sich die Frage nach dem Menschen in einem neuen Sinne stellt, nämlich in dem Sinne, daß die Motive des menschlichen Seins thematisch werden, daß die Realisationsform des Menschen von Bedeutung ist, daß es um die Idee des Menschen geht. Nicht daß er ist, ist in diesem Kontext entscheidend, sondern als was sich der Mensch versteht, wie er sich realisiert, ist von Bedeutung. Angesichts solcher Überlegungen ist es für die Bestimmung der Technik geradezu sekundär, daß der Mensch seine Umwelt gestaltet, im Vordergrund steht vielmehr, als was er sich selbst in dieser Gestaltung begreift – und genau danach fragt Cassirer.

»Solche funktionale Betrachtung und Analyse ist es, von der jegliche Kritik eines bestimmten Kulturinhalts und Kulturgebiets ausgehen muß. Im Mittelpunkt dieser Kritik muß stets die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Bedeutung und ›Bestimmung‹ stehen.« (A. a. O., 165). 14 »Die Technik ist so alt wie der Mensch, denn aus den Spuren der Verwendung bearbeiteter Werkzeuge können wir bisweilen bei Fossilfunden erst mit Sicherheit schließen, daß wir es mit Menschen zu tun haben.« (Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, 6). 13

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III) Technikanthropologie vs. Anthropologie der Technik. Vom Nutzen der Technik zum Wert des Menschen Ein solcher Ansatz mag irritieren,15 doch er erhebt sich keineswegs in einem spekulativen Blindflug über die oder eine eigentliche technikphilosophische Fragestellung. Allerdings fordert Cassirers Philosophie ähnlich wie die Phänomenologie Husserls eine Blickwendung, eine Reduktion, um den Kern der Technik freizulegen. Darauf kommt er selbst zu sprechen, wenn er explizit die »Freiheit des philosophischen Blicks«16 auch für die Analyse der Technik einfordert, die damals wie heute nicht leicht zu verwirklichen ist. Bei dieser Blickwendung handelt es sich um eine Neujustierung der philosophischen Analytik in einem modernen transzendentalphilosophischen Sinne, die Cassirers gesamtes Philosophieren prägt: Der Nullpunkt der philosophischen Analytik ist nunmehr das Phänomen des Sinns. So ist es einmal die Reduktion von Wert auf Sinn, zum zweiten die Reduktion von Sein auf Sinn sowie drittens die Reduktion von Gewordenem auf Sinn, die Cassirer vollzieht. In diesen drei Reduktionen wird das Sinnphänomen selbst wiederum nach drei Aspekten hin thematisch: erstens als Funktion, zweitens als gegliedertes Ganzes sowie drittens als Prozeß. Diese drei Reduktionen zeichnen selbstverständlich nicht nur Cassirers Zugang zur Technik aus, sondern qualifizieren auch seine Auslegung anderer Kulturformen. Im Falle der Technik werden sie nun aber folgendermaßen ausbuchstabiert: 1. Vom Wert als Nutzen zum Sinn als Funktion. Cassirer betont im Falle der Technik, daß er die Wertfrage zurückstellen möchte, daß er sich zuerst der Sinnfrage stellen wolle. Bezogen auf die Inhibierung einer vorschnellen Bewertung der Technik bemerkt er: »Das Eigentümliche der Sinnfrage, die uns hier entgegentritt, droht immer wieder verdunkelt, ihre Grenzen drohen immer wieder verwischt zu werden, indem sich dieser Frage andere Motive nicht nur zugesellen, sondern sich ihr allmählich und unvermerkt unterschieben. Eine solche Unterschiebung ist es schon, wenn man glaubt, die Sinnfrage mit der Wertfrage gleichsetzen und sie von ihr aus zur eigent-

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Vgl. etwa die Bemerkung Friedrich Rapps mit Bezug auf Cassirer, daß bei Cassirer »die Technikdiskussion auf ein hohes, vielleicht allzu hohes Abstraktionsniveau gehoben« werde: »Der Blick wird von den Tagesproblemen und den persönlichen, individuellen Wünschen weg auf weitgespannte, allgemeine historische Zusammenhänge gelenkt.« Friedrich Rapp, »Ernst Cassirer. Form und Technik«, in: Christoph Hubig/Alois Huning/ Günter Ropohl (Hg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 22001, 108–110, hier: 110. 16 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 147.

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lichen Lösung bringen zu können.«17 Cassirer klammert zwar die Wertfrage ein, doch diese Wertfrage ist eine bestimmte, eine ausgezeichnete: Es ist die Frage nach dem Nutzwert der Technik, die inhibiert wird. Will man der Technik gerecht werden – und zwar im positiven wie im negativen Fall –, so ist eine solche Einklammerung des Nutzens nach Cassirer dringend geboten: »Man mag die Technik segnen oder ihr fluchen – man mag sie als eines der höchsten Besitztümer des Zeitalters verehren oder sie als dessen Not und Verderbnis beklagen – immer pflegt in diesen Urteilen ein Maß an sie angelegt zu werden, das ihr nicht selbst entstammt.«18 Das Werten nach Nutzen greift in diesem Sinne auf Kriterien zurück, die die Technik selbst nicht bereitstellt, die ihr fremd sind. Aus diesem Grund fordert Cassirer eine Blickwendung vom Wert als Nutzen auf den Sinn des Phänomens, um die immanente Funktion der Technik in den Blick zu bekommen und darin die Qualifikationskriterien der Technik zu finden. 2. Von einer Seinstotalität auf den Sinn als gegliedertes Sinnganzes. Die Reduktion von Sein auf Sinn kennzeichnet in »Form und Technik« das Wesen der Philosophie als »logische[s] Gewissen der Kultur«.19 Die Philosophie kann sich gemäß der transzendentalphilosophischen Grundauffassung nicht darauf beschränken, für die Technik irgendeinen Raum in der Kultur zu bereiten, ihr einfach »einen bestimmten ›Platz‹ anzuweisen«. Denn dieser Platz der Technik neben anderen Kulturerscheinungen wie Wirtschaft, Staat, Sittlichkeit, Recht, Kunst und Religion ist ein bloßer – wie Cassirer es nennt – Platz in einem »Aggregat-Raum«.20 Durch die bloße Aneinanderstückung einer zusätzlichen Kulturerscheinung an eine andere ist noch nichts gewonnen, sie ist nicht verstanden, da schlicht zwei Dinge desselben Seinstyps nebeneinandergestellt werden. Erst wenn die hier zugrunde liegende allumfassende Seinsbehauptung einer dogmatischen Metaphysik durch die Frage nach dem Sinn einer transzendentalen Analytik geläutert wird, ist der Raum der Kultur kein Aggregat-Raum mehr, sondern ein »System-Raum«, d. h. ein gegliedertes Ganzes. Diese zweite Reduktion stellt dementsprechend um von einer dogmatischen Seinstotalität auf ein gegliedertes Sinnganzes, in dem die Kulturformen sich gegenseitig ausdifferenzieren, sich darin aber auch zugleich bestimmen. 3. Vom Gewordenen zum Sinn als Werden. Schließlich ist vom Gewordenen auf das Werden umzustellen, um die eigene und eigentümliche Funktion der Technik philosophisch in den Blick zu bekommen: »Denn das ›Sein‹

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A. a. O., 145. A. a. O., 147. A. a. O., 142. Ebd.

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der Technik läßt sich selbst nicht anders als in der Tätigkeit erfassen und darstellen. Es tritt nur in ihrer Funktion hervor; es besteht nicht in dem, als was sie nach außen erscheint und als was sie sich nach außen gibt, sondern in der Art und Richtung der Äußerung selbst: in dem Gestaltungsdrang und Gestaltungsprozeß, von dem diese Äußerung Kunde gibt.«21 Die dritte Blickwendung klammert das Ergebnis ein, um den Sinnprozeß in der Gestaltung zu erfassen und zu begreifen. Es sind diese drei Reduktionen, die Cassirers Anthropologie der Technik auszeichnen und von anderen – wie ich sie nun nennen werde – Technikanthropologien unterscheiden. Wenn beispielsweise Ortega y Gasset darauf hinweist, daß unter Technik diejenige Anstrengung zu verstehen sei, die es uns erlaubt, Anstrengung zu sparen resp. zu vermeiden,22 wenn Gehlen immer wieder darauf insistiert, daß aufgrund der Mängelhaftigkeit der menschlichen Existenz – ich erinnere an die Stichworte sinnesarm, waffenlos, nackt, embryonisch, verunsichert – Technik diese Defekte im organischen Bereich gleich dreifach kompensiert, nämlich durch Organersatz, Organentlastung und Organübertragung,23 oder wenn Spengler die Technik »als die Taktik des ganzen Lebens«24 betrachtet, dann antworten diese Theorien auf die Frage nach dem Wert der Technik für den Menschen. Doch keine dieser Theorien qualifiziert den technisch handelnden Menschen direkt. Dies ist das gemeinsame Merkmal der von mir so genannten Technikanthropologien. Sie antworten auf die schlichte Frage: Welche Bedeutung hat die Technik für den Menschen? Eine Anthropologie der Technik im Cassirerschen Sinne aber fragt nicht nach dem Wert der Technik für den Menschen, sondern nach dem Wert des Menschen, der sich die Technik zunutze macht. In diesem Sinne führen die drei Reduktionen, die Cassirer vollzieht, zu einer Anthropologie in dezidiert moralischer Perspektive.25 Denn in Frage steht der Wert des technisch agierenden Menschen. Und dieser Wert ist ein ganz eigener, wie Cassirer zeigen kann, wenn er die Verfassung des Homo faber diskutiert.

21

A. a. O., 147. »Halten wir daher fest, daß die Technik zunächst die Anstrengung ist, Anstrengung zu sparen, oder, anders ausgedrückt, sie ist das, was wir tun, um ganz oder teilweise das zu vermeiden, was unsere Umwelt uns in erster Linie zu tun auferlegt.« (José Ortega y Gasset: »Betrachtungen über die Technik« (1933), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. IV, Stuttgart 1978, 7–69, hier: 24). 23 Vgl. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, 6 f. 24 Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, 5. 25 Zur Verbindung von Anthropologie und Moralphilosophie bei Cassirer vgl. Christian Bermes: »›Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein…‹ Expressivität und Personalität bei Cassirer«, in: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ›Nachgelassenen Manuskripten und Texten‹, Hamburg 2008, 117–136. 22

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IV) Die Verfassung des Homo Faber. Cassirers Anthropologie der Technik als Anthropologie der Freiheit Bereits im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen geht Cassirer detailliert auf den Unterschied zwischen dem mythischen und dem technischen Gebrauch des Werkzeugs ein, um schon an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, daß es nie ausschließlich um eine »Formung der Außenwelt«26 gehen kann. In »Form und Technik« wird die durch die Technik bewirkte Formierung des Menschen nun detailliert beschrieben – und Cassirer hält auch nicht mit Pathos zurück, wenn er bemerkt, daß sich mit der Technik eine »neue Weltstellung und eine neue Weltstimmung« des Menschen27 ankündigt, daß sich »ein neuer Sinn des Ich« ergebe. Aufgrund des technischen Gebrauchs von Werkzeugen ist der Mensch nämlich in der, wie Cassirer jetzt bemerkt, »eigentümlichen« Lage, nicht einfach nur ein Ziel zu verfolgen, sondern es »in die Ferne zu rücken, und es in dieser Ferne zu belassen, es in ihr ›stehenzulassen‹«28 : »Im Werkzeug und seinem Gebrauch wird […] gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm ›abzusehen‹ – und ebendieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. Diese Form des Sehens ist es erst, die das ›absichtliche‹ Tun des Menschen vom tierischen Instinkt scheidet. Die ›Ab-Sicht‹ begründet die ›Voraus-Sicht‹; begründet die Möglichkeit, statt auf einen unmittelbar gegebenen Sinnenreiz hin zu handeln, die Zielbestimmung auf ein räumlich Abwesendes und zeitlich Entferntes zu richten.«29 Der schlichte Gebrauch des Werkzeugs ist nicht das Entscheidende, um Mensch und Tier zu differenzieren, es ist – und dies erinnert selbstverständlich an Hegels Theorie der gehemmten Begierde – die damit einhergehende Isolierung und Fixierung von identifizierbaren Zielen, die den Menschen in dem Sinne auszeichnen, daß er seine überbordenden Wünsche bändigen und zurückhalten muß, um überhaupt etwas erreichen zu können. Was Hegel zur Arbeit des Knechts ausführt, ist Cassirers These zum Werkzeuggebrauch des Menschen: Die negative, weil vermittelte Beziehung zum Gegenstand wird, wie es bei Hegel heißt, »zur Form desselben, und zu einem Bleibenden«.30

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»Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäß einen neuen Schritt nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formierung seines Selbstbewußtseins.« (Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 254). 27 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 163. 28 A. a. O., 157. 29 A. a. O., 159. 30 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), hg. von HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, 135.

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Gleichzeitig und auf der Gegenseite gewinnt in der Technik die Natur erst ihr eigenes Sein. Ist die Natur nach Cassirer im Mythos dem Zwang des Wünschens und Wähnens bedingungslos unterworfen, wird die Natur im Mythos durch ein allmächtiges Ich beherrscht und gebändigt, so wird sie gerade in der Technik nicht einfach »gefügig« gemacht, sie wird vielmehr erst als ein »selbständiges charakteristisches ›Gefüge‹«31 sichtbar. Ganz im Gegensatz zu der üblichen Manier, die Technik als Beherrscherin der Natur zu verstehen, sieht Cassirer in der Technik eine Naturhermeneutik am Werk, wenn er ausführt: »An die Stelle des zauberischen Zwanges tritt die ›Entdeckung‹ der Natur, die in jedem technischen Verhalten, in jedem noch so einfachen und primitiven Werkzeuggebrauch enthalten ist. Diese Entdeckung ist Aufdeckung: ist das Erfassen und Sichzueigenmachen eines wesenhaften und notwendigen Zusammenhangs, der zuvor verborgen lag.«32 In dieser, wie es im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen heißt, »Krisis«33 oder auch »Auseinandersetzung« zwischen einem sich angesichts entfernter Ziele disziplinierenden Ich und einer dem mythischen Wähnen enthobenen und sich dann erst entbergenden Natur kann man sicherlich einen wesentlichen Beitrag Cassirers zur Anthropologie der Technik erkennen. Der Aufweis dieser Krisis ist jedoch nur ein erster Schritt, um dasjenige zu begreifen, worauf Cassirer letztendlich verweisen möchte, wenn er bemerkt, daß der Mensch durch diese Krisis auf »einen an sich grenzenlosen Weg des Schaffens verwiesen« wird, »der ihm kein schlechthin endgültiges Ziel, keinen letzten Halt- und Ruhepunkt mehr verspricht«. Es setze stattdessen »für sein Bewußtsein […] eine neue Wert- und Sinnbestimmung ein«. Denn der »eigentliche ›Sinn‹ des Tuns« »ist die reine Form des Tuns, es ist die Art und Richtung der gestaltenden Kräfte als solcher, wonach

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Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 157. A. a. O., 157. Genau hier liegt auch der markanteste und folgenreichste Unterschied zur Gehlenschen Systematik verborgen. Während Cassirer den mythischen und technischen Werkzeuggebrauch unterscheidet, er zwischen Homo divinans und Homo faber differenziert, spielt Gehlen mit der Gleichsetzung der beiden Ebenen, indem er sich auf die Technikdefinition Pradines’ bezieht: »Maurice Pradine nennt die Magie ein ›Unternehmen, Veränderungen zum Vorteil des Menschen hervorzubringen, indem man die Dinge von ihren eigenen Wegen zu unserem Dienst hin ablenkte‹. Wenn man sich diese Definition ansieht, so bemerkt man, daß sie sowohl die Magie als auch die eigentliche Technik umfaßt, also die übernatürliche Technik und die natürliche.« (Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, 13 f.). 33 »Denn in dem Augenblick, in dem der Mensch auf die Dinge, statt durch bloßen Bild- oder Namenzauber, durch Werkzeuge einzuwirken sucht, ist für ihn […] eine geistige Scheidung, eine innere ›Krisis‹ eingetreten. Die Allmacht des bloßen Wunsches ist jetzt gebrochen: Das Tun steht unter bestimmten objektiven Bedingungen, von denen es nicht abweichen kann.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 252). 32

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sich dieser Sinn bestimmt«. 34 Diese Bemerkung markiert die Schlüsselstelle des Cassirerschen Essays zur Technik, denn es wird letztendlich darauf aufmerksam gemacht, daß ein qualitativer Begriff des Menschen nur gewonnen werden kann, wenn die Kriterien seines Seins weder in den Folgen seines Tuns noch in beliebigen Spezifika seiner natürlichen Verfassung, sondern in den Gründen seines Handelns gesucht werden. Die neue »Wertund Sinnbestimmung« des Menschen, von der Cassirer hier spricht, ist die Bestimmung eines Ziels menschlichen Sollens, das zugleich als Grund und damit als Form seines Seins wirksam ist. Genau dies aber ist die Freiheit als Form und Ziel menschlichen Daseins, zu der Cassirer ausführt, »daß es die Idee der Freiheit selbst ist, die [der Technik] die Richtung weist und die dazu berufen ist, in ihr zuletzt zum Durchbruch zu kommen«.35 Diese Freiheit, von der Cassirer hier spricht, ist nicht einfach eine Folge der Technik in dem Sinne, daß technische Errungenschaften den Menschen von seiner natürlichen Gebundenheit oder von anderen Zwängen bloß befreien. Technik schafft nicht einfach nur Freiheit, so daß man nun in der Lage ist, dies oder jenes zu tun, was vorher nicht der Fall war, also beispielsweise zum Frühstück nach Paris zu jetten und zum Abendessen nach Mailand, anstatt bloß mit der Kutsche nach Lübeck. Ein solcher Begriff der Freiheit im Sinne der Beseitigung von Schranken ist nicht ausreichend, um Cassirers These zu umfassen. Die hier thematisierte Freiheit meint mehr, sie bezieht sich darauf, daß Freiheit als eine Qualität und damit als Grund menschlichen Handelns angesehen wird. Erst dann wird verständlich, mit welcher Sympathie Cassirer die in den 20er Jahren übliche Rede von der »Ethisierung der Technik« aufgreifen und implizit als eine »Technik der Ethisierung« verstehen kann. So stellte etwa, um an einige Thesen jener Jahre zu erinnern, die Cassirer selbst vor Augen hatte, Coudenhove-Kalergi in seiner Apologie der Technik die »Schicksalsfrage der europäischen Kultur« mit folgenden Worten: »Wie ist es möglich, eine auf den engen Raum eines kalten und kargen Erdteils zusammengedrängte Menschheit vor Hunger, Kälte, Totschlag und Überanstrengung zu schützen und ihr die Freiheit und Muße zu geben, durch die sie einst zu Glück und Schönheit gelangen kann?«36 Und er antwortet schlicht: »Durch Entwicklung der Ethik und der Technik.«37 Ähnlich formuliert Viktor Engelhardt in seiner Schrift unter der Überschrift Weltanschauung und Technik den schlichten, aber schlagkräftigen Satz: »Die Technik mündet in die Ethik.«38

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Cassirer: »Form und Technik«, 164. A. a. O., 173. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi: Apologie der Technik, Leipzig 1922, 10. Ebd. Viktor Engelhardt: Weltanschauung und Technik, Leipzig 1922, 64.

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Genau in diese undurchsichtige Gemengelage von Technik und Ethik, in der zumeist ein diffuses Folgeverhältnis zwischen beiden angenommen wird, bringt Cassirer Licht, wenn er deutlich macht, daß Technik nicht in dem Sinne Freiheit bewirkt, daß willkürliches Handeln möglich wird, sondern daß Technik in dem Sinne Freiheit ermöglicht, daß verantwortliches Handeln gefordert wird. Dies erinnert an den Begriff der Freiheit, den Kant im Anschluß an die transzendentale Freiheit als »Freiheit im praktischen Verstande« bezeichnet und der nicht nur »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«39 meint, sondern gleichzeitig »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein«40 umfaßt. Dieser Begriff der Freiheit beinhaltet die Forderung bzw. Verpflichtung, daß der Mensch für sein Sein verantwortlich ist, daß er sich als Mensch nicht aus der Verantwortung stehlen kann. Genau um diese Freiheit als Verpflichtung des Menschen geht es auch Cassirer im Falle der Technik. In Cassirers Fragment gebliebenen Überlegungen zu den Basisphänomenen wird daraus gleichsam ein Imperativ der technischen Vernunft: »[E]rkenne Dein Werk und erkenne ›dich selbst‹ in Deinem Werk; wisse, was Du tust, damit Du tun kannst, was Du weisst. Gestalte Dein Tun, bilde es aus dem bloßen Instinkt, der Tradition, Konvention, der Routine … um zum ›selbstbewußten‹ Tun – zu einem Werk, in dem Du Dich, als seinen Schöpfer und Täter erkennst.«41 Wenn Cassirer seinen Essay »Form und Technik« mit dem Hinweis beendet, daß der »implizite Sinn technischer Arbeit und technischer Kultur« in dem Gedanken »Freiheit durch Dienstbarkeit« zu suchen sei, so betont er gleichzeitig, daß dieser Gedanke sich nur wahrhaft auswirken könne, wenn »er mehr und mehr seinen impliziten Sinn in einen expliziten verwandelt« – und dies bedeutet: »daß das, was im technischen Schaffen geschieht […] ins geistige und sittliche Bewußtsein erhoben wird. Erst in dem Maße, als dies geschieht, wird die Technik sich nicht nur als Bezwingerin der Naturgewalten, sondern als Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen erweisen.«42 Technik, um es noch einmal zu sagen, befreit den Menschen nicht einfach von seiner Umweltgebundenheit, sie bindet ihn zugleich – sie bindet ihn an die Idee des Menschen und damit an die Verpflichtung, seine Freiheit zu realisieren: Technik ist für Cassirer eine Provokation zur Freiheit.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Akademie-Ausgabe, Bd. III, B 561 f. 40 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 214. 41 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois 1995, 190. 42 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 183. 39

Bermes · Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik

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V) Technik und Sprache. Cassirers Konzept der Anthropologie Sicherlich hat Cassirer nicht alle Fragen beantwortet, die sich im Umfeld der Technik stellen. Allerdings sollte man ihm nicht, zumindest nicht voreilig, vorwerfen, daß er die Folgen der Technik übersehen hat. Ein solcher Vorwurf entlarvt sich nämlich selbst: Denn eine der wichtigsten ›Folgen‹ ist schlicht der Mensch, von dem Cassirer durchweg handelt. Es sind vielleicht andere Aspekte, die er nicht detailliert analysiert hat, wie etwa die Unterscheidung zwischen demjenigen, der als Ingenieur agiert und Apparaturen entwirft und demjenigen, der sie benutzt. Auch wäre noch einmal die These zu prüfen, die Cassirer von Rathenau übernimmt und die besagt, daß es nicht die moderne Technik, sondern die Verbindung »mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsordnung«43 sei, die zu den Verwerfungen und Brüchen in modernen Gesellschaften führe. Doch abgesehen von diesen und sicherlich auch anderen Fragen ist es das bleibende Verdienst Cassirers, daß er allen vorschnellen Technikverurteilungen den Spiegel vorhält und die analytische Betrachtung umstellt von Wirkungen technischen Agierens auf Gründe menschlichen Handelns. Die Technik, so die These Cassirers, provoziert den Menschen zu seinem eigenen Sein – einem Sein, worin die Freiheit zum qualifizierenden Merkmal und zur Verpflichtung des Menschen gegenüber sich selbst wird. Dabei bleibt die hier vorgestellte Anthropologie der Technik nicht einfach eine Spezialanthropologie, sie ist zugleich Teil der Anthropologie schlechthin. In dem Fragment zur Geschichte der philosophischen Anthropologie, das 1939/1940 entstanden ist und als Vorlage für eine Vorlesung in Göteborg diente, wird dies mehr als deutlich. Cassirer erläutert, daß die klassischen Disziplinen der Philosophie – er bezieht sich auf die Einteilung Physik, Logik und Ethik – nicht ausreichen, um das Recht und die Bedeutung der philosophischen Anthropologie zu erfassen. Zwei zusätzliche Momente seien hierfür konstitutiv, und er nennt Werkzeug und Sprache, als die »deutlichsten Kennzeichen« zur Bestimmung des Menschen. Resümierend heißt es dann, daß die Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, »nicht allein der Logik, Physik und Ethik, sondern der Philosophie der Technik und der Sprachphilosophie zu entnehmen sei«.44 Hier nun fungieren Technik und Sprache als Grundlegungen für die philosophische Anthropologie im allgemeinen. Die Technikphilosophie wird nicht nur anthropologisch gelesen und verstanden, sondern auch umgekehrt ergibt sich für Cassirer aus der Technikphilosophie der Rahmen einer Anthropologie,

43 44

6, 6.

A. a. O., 182. Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN

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allerdings im Verbund mit der Sprache. In einem ebenfalls nachgelassenen Fragment aus den späten 30er Jahren ist vielleicht die Begründung dafür zu erfahren, warum dies nicht anders sein kann, weshalb die Sprache für die philosophische Anthropologie eine besondere Rolle spielt: »Das ›SichWissen‹ und das ›Sich-gegenseitig-Erkennen‹ beginnt erst, wo die Subjekte nicht nur in einem gemeinsamen Werk begriffen sind – sondern wo sie sich zur ›Vorstellung‹ des Werks erheben.« »Nicht die Aktion als solche, sondern die ideelle Aktion (die durch die Sprache vermittelte Aktion) ist die Bedingung dafür, daß die einzelnen Subjekte sich selbst, in dem gemeinsamen Werk, erkennen.«45 Dies erinnert fast wörtlich an die Formulierung in Form und Technik, die ich eingangs zitierte: »Alle geistige Bewältigung der Wirklichkeit ist an diesen doppelten Aspekt des ›Fassens‹ gebunden: an das ›Begreifen‹ der Wirklichkeit im sprachlich-theoretischen Denken und an ihr ›Erfassen‹ durch das Medium des Wirkens; an die gedankliche wie an die technische Formgebung.«46 Doch in der späteren Aussage wird die Sprache noch einmal stärker in den Vordergrund gerückt – und dies wohl mit Recht. Denn es gilt sicherlich, was Cassirer in den Basisphänomenen im Anschluß an Goethe sagt: »Im Erstarren kann der Mensch nicht sein Heil finden – er muß gestalten.«47 Doch es gilt ebenso, daß dieses Gestalten auf gemeinsame Ziele hin entworfen werden muß, ansonsten wird aus der Schicksalsgemeinschaft, die, wie Cassirer zeigt, die Technik begründet, nie eine Willensgemeinschaft werden können.

Literaturverzeichnis Christian Bermes: »›Das Ausdrucksproblem greift tief in das Gebiet der Ethik ein …‹ Expressivität und Personalität bei Cassirer«, in: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ›Nachgelassenen Manuskripten und Texten‹, Hamburg 2008 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 12 – »Form und Technik« (1930), in: ECW 17 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 1995

Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5, 124. 46 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 150. 47 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 209. 45

Bermes · Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik

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– Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929–1941), in: ECN 5 – Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6 Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi: Apologie der Technik, Leipzig 1922 Viktor Engelhardt: Weltanschauung und Technik, Leipzig 1922 Peter Fischer: Philosophie der Technik. Eine Einführung, München 2004 José Ortega y Gasset: »Betrachtungen über die Technik« (1933), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. IV, Stuttgart 1978 Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/M. 2004 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), hg. von HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Akademie-Ausgabe, Bd. III Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Ausgabe, Bd. VI John Michael Krois: »Ernst Cassirers Theorie der Technik und ihre Bedeutung für die Sozialphilosophie«, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 15, 1983 Reinhard Margreiter: »Gestell, Geviert und symbolische Form. Zur Fortschreitung der Heidegger – Cassirer – Kontroverse«, in: ders. (Hg.): Heidegger. Technik, Ethik, Politik, Würzburg 1991 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998 Ernst Wolfgang Orth: »Der Begriff der Technik bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 20, 1987 – »Technikphilosophie oder Kulturphilosophie. Eine unbewältigte Alternative«, in: Akihiro Takeichi (Hg.): Das Bild von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert. Zur neuen Philosophie der Politik, Gesellschaft, Technologie und Natur, Kyoto 1995 Friedrich Rapp: »Ernst Cassirer. Form und Technik«, in: Christoph Hubig/Alois Huning/Günter Ropohl (Hg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 22001 Johannes Rohbeck: »Technik und symbolische Form bei Ernst Cassirer«, in: Peter A. Schmidt/Simone Zurbuchen (Hg.): Grenzen der kritischen Vernunft. Festschrift für Helmut Holzhey zum 60. Geburtstag, Basel 1997 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997 – »Mittel und Werkzeug. Cassirers Philosophie der Technik und Hegels Reflexion auf die Teleologie im Vergleich«, in: Rüdiger Bubner/Walter Mersch (Hg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, Stuttgart 2001 Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931

Volker Gerhardt

Menschwerdung durch Technik Ernst Cassirers Theorie des Geistes

1. Das Problem der Anthropologie. Von Ernst Cassirer stammt der wichtigste Beitrag zur Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Die Feststellung gilt auch, wenn man die bedeutenden Leistungen von Paul Alsberg, Max Eyth, Friedrich Dessauer, Max Scheler, John Dewey, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Maurice Merleau-Ponty, Konrad Lorenz und Hans Blumenberg in Rechnung stellt. Cassirer hat seine Leistung nicht unter dem disziplinären Rubrum einer »Anthropologie« erbracht, sondern er hat, ganz klassisch und doch modern, als Theoretiker der Erkenntnis angesetzt, um, völlig konsequent, zu einer Theorie der Kultur überzugehen, die eine Theorie der Technik in sich schließt. Wer so vorgeht, braucht nicht ausdrücklich vom Menschen zu sprechen; gleichwohl ist er thematisch unablässig mit ihm befaßt. Denn Erkenntnis, Technik und Kultur sind Leistungen des Menschen, in denen er sich bildet und in denen er gegenwärtig bleibt. Da es diese Leistungen sind, die für ihn charakteristisch sind, kann man, wenn man denn will, aus Gründen der Sparsamkeit auf eine disziplinäre Auszeichnung der auf den Menschen ausgerichteten Untersuchung als »Anthropologie« verzichten. Damit läßt sich dem für zeitgemäß gehaltenen Streit über Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer philosophischen Anthropologie entgehen. Cassirer sah dazu allerdings keinen Grund. Er war, wie wir aus dem Essay on Man wissen, auch in der Lage, seine (Epistemologie und Techniktheorie umfassende) Kulturphilosophie unter dem Titel einer Anthropologie zu präzisieren – ohne sie in Anthropologie aufzulösen. Mit Blick auf das Ergebnis meiner Betrachtung liegt mir an der Tatsache, daß im Zentrum von Cassirers Anthropologie die Beschäftigung mit dem Wissen steht. Letztlich sind es die Leistung und die umgreifende Funktion des Wissens, die dem Menschen seine einzigartige Stellung im Kontext aller Lebewesen gibt. Wer erfassen will, worin die Eigentümlichkeit des Menschen liegt, kommt nicht umhin, der Erkenntnis – ihrem Erwerb, ihrer Vermittlung und ihrem Ertrag – seine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nur über sie gelangt man zur Welt, als deren Teil und deren Gegenüber sich der Mensch begreift. Erst im Wissen kommt es zur Objektivierung der Gegenstände, über deren angemessene technische und wissenschaftliche Behandlung dann ein qualifizierter Streit entstehen

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kann. Erst im Medium des Wissens ist man bei Sachverhalten, die alles Reden (auch das Reden über das angebliche »Ende« der Moderne, der Philosophie, des Menschen oder der Anthropologie) möglich machen. In der Beschäftigung mit dem Wissen bleibt man notwendig bei dem Lebewesen, das sich nur unter den Bedingungen des Wissens zu seiner heutigen Form entwickeln konnte, ganz gleich, ob es sich später einmal definitiv als sein Verhängnis erweist. Nietzsches Diktum von der »schrecklichsten Minute der Weltgeschichte«, in welcher das Erkennen erfunden wurde, führt in einen glatten Selbstwiderspruch, wenn es den eben damit erfolgenden Tod der Menschheit behauptet.1 Bis zum Augenblick dieser Behauptung hat sich die Erkenntnis als das genaue Gegenteil erwiesen: Es hat die Lebens- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen exponentiell gesteigert. Solange es also die Menschheit noch gibt, bleibt das »Erkenntnisproblem« die Drehscheibe aller Wissenschaften, und es macht bewußt, daß sich alle Wissenschaften letztlich als Wissenschaften vom Menschen auffassen lassen. Das entfällt erst dann, wenn sie eines Tages gar keine Wissenschaften mehr sein sollten. Das Entspannende dieser Einsicht ist, daß wir allen Streit über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Anthropologie, erst recht jedes Orakeln darüber, was in der Moderne alles angeblich nicht mehr geht, auf sich beruhen lassen können. Allerdings kann man auch die Prioritäts- und Hierarchiefragen auf sich beruhen lassen: Man muß nicht klären, ob der Anthropologie ein Vorrang zukommt. Vorrang hat immer das, was im Vordergrund des Interesses steht. Und ganz gleich, was dies ist: Der Mensch kann sich immer nur zeitweilig (z. B. in der methodischen Absicht der epoché) aus dem Blick geraten. Im Augenblick der Besinnung aber ist er notwendig bei sich. Also kann er die Anthropologie getrost als eine Disziplin unter vielen anderen bezeichnen. Man nimmt ihr dadurch nichts von ihrer alle philosophischen Fragen tangierenden Bedeutung. 2. Das Erkennen des Erkennens. Erkenntnis erschließt sich nicht primär in der selbstreflexiven Analyse der an einem selbst zu beobachtenden Vollzüge des erkennenden Bewußtseins, sondern in den faktisch erbrachten und allgemein erkennbaren Leistungen des Erkennens, das heißt: im gegebenen Wissen und in den anerkannten Wissenschaften – und dies wiederum primär in dem, was sie im menschlichen Dasein leisten. Es ist der Ertrag im Aufbau der menschlichen Kultur, an dem wir erkennen, was Erkennen ist. Auch die Phänomenologie kann nur erfolgreich sein, wenn sie diesen

Friedrich Nietzsche: Fünf Vorreden. Ueber das Pathos der Wahrheit (1873), in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Berlin/New York 1980, 759 f. 1

Gerhardt · Menschwerdung durch Technik

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Sachverhalt anerkennt. Ihr gehen somit Geschichte und Kultur voraus. Die methodisch herbeigeführte Unmittelbarkeit vorbehaltloser Beobachtung ist Folge einer unerhörten Abstraktion. Sie macht den szientifischen Primat der Phänomenologie zunichte, ändert aber nichts daran, daß intelligente phänomenologische Einsichten jederzeit willkommen, weil nicht selten überaus aufschlußreich sind. Daß Erkenntnis nicht von ihren Erträgen zu lösen ist, hat sich Ernst Cassirer in einer beispiellos gründlichen und umfassenden Aneignung der Geschichte des Erkenntnisproblems bewußt gemacht. Seine Studien über Leibniz und Kant, später auch über die Renaissance und die Aufklärung kamen hinzu. Darüber wurde er nicht nur zum Theoretiker der Wissenschaft, sondern zugleich zum Philosophen der Kultur. Denn Wissenschaft hat ihre Bedeutung immer erst im Kontext einer Kultur, die sie gleichermaßen ermöglicht und benötigt. Mit dieser Einsicht ist nicht allein die Grenze zwischen Wissenschaftstheorie und Kulturphilosophie übersprungen; sie sperrt sich auch gegen jeden Versuch, die Probleme der Theoretischen Philosophie von denen der Praktischen Philosophie zu separieren. In Freiheit und Form hat Cassirer denn auch die disziplinären Hürden der Schulphilosophie weggeräumt und für alle späteren Arbeiten kenntlich gemacht, daß er sich nicht als Bereichsphilosoph versteht, der aus der Not und dem Glück der Arbeitsteilung ontologische Gebietsabgrenzungen herleitet, die nur mit dem Passierschein einer herrschenden Methode überschritten werden können. Ernst Cassirer hat die Spezialprobleme der Wissenschafts- und der Kulturphilosophie als offene Beiträge zu den elementaren philosophischen Fragen behandelt, in denen es, kurz gesagt, um den Welt- und Selbstbegriff des Menschen geht. Mit dieser Ausrichtung steht Cassirer in der großen Tradition des metaphysischen Denkens von Platon über Aristoteles bis hin zu Leibniz, Kant und Hegel. Er folgt ihr auch darin, daß er zwar zwischen theoretischen und praktischen Fragen trennt, deren Beantwortung aber nur in Anerkennung ihrer wechselseitigen Beziehung unternimmt. Sein Begriff von Kultur bringt dieses Ineinander von theoretischer Perspektive und praktischer Konsequenz zum Ausdruck. Er nimmt den Gedanken auf, den der späte Kant in der Suche nach einem Übergang von der Natur zur Kultur zu entwickeln suchte und den Hegel in der geschichtlichen Selbstbewegung des Geistes auf den Begriff gebracht sah. Vor diesem Hintergrund muß es als ein kurioses Mißverständnis angesehen werden, daß Interpreten meinen konnten, Ernst Cassirer habe keine praktische Philosophie geschrieben und die Ethik sei keine symbolische Form. Freilich, das Mißverständnis kann entstehen, weil sich der Autor in souveräner Nüchternheit primär an den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften orientiert. Er weiß, daß die Natur nicht dort zu Ende

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ist, wo die Kultur beginnt und sieht daher auch keinen Anlaß, die Natur zu vergessen, nachdem erkannt ist, daß ihre Erkenntnis unter kulturellen Prämissen steht. Im Bewußtsein dieses Zusammenhangs stehen bereits seine weitestgehend wissenschaftstheoretisch angelegten Studien zum Übergang vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff in der Tradition der Metaphysik, mit dem bemerkenswerten Ergebnis, daß hier weniger eine Epochenschwelle als eine Qualitätsdifferenz zwischen schlechter und guter Metaphysik2 – oder sagen wir besser: zwischen einer bloß an den Oberflächen bleibenden und einer auf Gründe ausgerichteten Metaphysik beschrieben wird. Mit der Hinwendung zu den Problemen der Sprache und des Mythos kommen die Methodenfragen des geschichtlichen Erkennens hinzu. Cassirer nimmt auf breiter Front die Ergebnisse der Ethnologie, der Psychologie, der Psychiatrie, der Linguistik sowie der Kunstwissenschaften auf. Aber der Anspruch seines Denkens zielt auf nichts Geringeres als auf eine Erste, den Grund für alles Weitere legende Philosophie – um den von den auf Aktualität abonnierten Tagesphilosophen immer wieder mit neuen Mißverständnissen überhäuften Begriff der Metaphysik zu vermeiden. Doch wie immer wir das elementare Denken benennen: Die Philosophie der symbolischen Formen versichert sich in allen wesentlichen Fragen der Verbindung mit den großen Denkern und prüft sie im Licht der Herausforderungen, die durch Vico, Herder und Wilhelm von Humboldt neu an sie ergangen sind, und auf die Goethe immer irgendwie schon eine Antwort zu haben scheint. 3. Denken in Problemen. Daß Cassirer Nietzsche nicht nennt, entspringt, wie John Michael Krois wahrscheinlich gemacht hat, der vornehmen Rücksicht auf die Empfindlichkeit Hermann Cohens. Gleichwohl nimmt Cassirer die geistesgeschichtliche Provokation der Tragödienschrift auf. Das belegt schon das Gewicht, das Cassirer auf die Stellung des Mythos legt. Niemand ist Nietzsche auf dessen eigenem Terrain so weit entgegen gegangen wie Cassirer, um ihm dann aus nächster Nähe entschieden zu widersprechen. Auch hier dominiert die Sachlichkeit in der historisch ausgewiesenen, aber systematisch ausgerichteten Analyse. In einer Zeit des philosophischen Sensationalismus, der auf »Wirbel und Wendepunkte« (wie Nietzsche mehrfach sagte), also auf »Revolutionen«, »Umwertungen«, auf zu »Kehren« aufgewerteten Kurven oder wenigstens auf die große »Ausnahme« setzte, mußte das befremdlich erscheinen. Nichts kennzeichnet den trostlosen Zustand des Denkens im 20. Jahrhundert so sehr wie das Wort

2

Diese Unterscheidung stammt von Peter Frederick Strawson.

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jenes selbsternannten kritischen Theoretikers, der meinte sagen zu müssen, Cassirer sei langweilig.3 In der Tat, wer es ablehnt, sachliche Probleme zu haben, weil in ihnen bereits der Verrat an der Unmittelbarkeit des existenziellen Erlebens und damit der Terror der reinen Begrifflichkeit zum Ausdruck kommt, der muß so schreiben, daß möglichst auch seine Leser vom Nachdenken über Probleme abgehalten werden. Er muß alles langweilig finden, was nicht den Augenblick des totalen Umschlags vom falschen Ganzen ins wahre Nichts aufblitzen läßt. Zum Anti-Sensationalismus Ernst Cassirers gehört die Bescheidenheit in der Präsentation seines Denkens. Der Titel seines Hauptwerks Philosophie der symbolischen Formen ist vielleicht das größte publizistische understatement in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Denn sein eminentes Problem besteht in der Frage, worin und wodurch überhaupt etwas Bedeutung für den Menschen erlangt? Was macht, daß da eine Welt ist, die nicht nur in ihren einzelnen Bestandteilen, sondern auch in ihrem Ganzen den Menschen etwas angeht? Wie kommt es, daß darin überhaupt etwas ist, und woran liegt es, daß wir in ihr spezielle und generelle Bedeutungsräume unterscheiden, die wir als objektiv begreifen und die uns dennoch unter divergierende Ansprüche stellen, so daß es zu begrifflich erfaßbaren geschichtlichen Bewegungen kommt? Ein berühmterer Zeitgenosse, der in seinem Erkenntnisanspruch vielleicht nicht ganz so umfassend war wie Cassirer, ihn im metaphysischen Ehrgeiz aber schon deshalb bei weitem übertraf, weil er alles Bisherige übertrumpfen wollte, hat sich in der Titelgebung als das bessere Verkaufstalent erwiesen. Sein und Zeit weckt die höchsten Erwartungen und läßt im Prinzip gar nichts aus. Da scheint es schließlich sogar verzeihlich, daß der Autor selbst an seinem eine Halbheit gebliebenen Hauptwerk scheitert. An »großen Aufgaben zugrunde zu gehen« war nach Nietzsche ohnehin das höchste Signum menschlicher Größe.4 Cassirer hingegen hat sein in strikter Sachlichkeit benanntes Vorhaben in drei Bänden ausgeführt. Inzwischen wissen wir, daß er über genügend Einsichten verfügte, um es mit Blick auf die Grundfragen von Leben und Geist noch weiter auszubauen. Seine unmittelbar nach Abschluß der Philosophie der symbolischen Formen publizierten Studien zur Technik, zu Sche-

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Das besagt wohl die Briefstelle bei Theodor W. Adorno in einem Schreiben an Horkheimer, in dem Adorno dessen Sorge, der Schützling könne in Oxford in Cassirers Einflußbereich geraten, mit der beflissenen Versicherung beschwichtigt, Cassirer sei »völlig vertrottelt«. (Theodor W. Adorno: Brief an Max Horkheimer vom 13. Mai 1935, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd.15: Briefwechsel 1913–1936, Frankfurt/M. 1995, 350. 4 Heidegger kannte diese Stelle aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen, die er als einzige Schrift Nietzsches in Sein und Zeit (1927) zitiert.

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lers Anthropologie, zur Abgrenzung von Heideggers Kant-Interpretation und sein in den Staaten geschriebener Essay on Man haben ja schon lange ahnen lassen, welche Richtung Cassirers Denken nach 1930 nahm. Nicht auszudenken, welche Wirkungen es auf den expressionistischen Zeitgeist gehabt hätte, wenn das Buch unter dem Titel »Die Welt als Symbol« oder »Die symbolische Funktion der Realität« erschienen wäre. Als passionierter Ernüchterer hätte Cassirer auch von der »Repräsentation des Daseins« oder, völlig unterkühlt, von »Form und Funktion« oder gar von der »Funktion der Welt« sprechen können. Doch lassen wir die Kritik an einer Zeit, in der die Enttäuschung über das Leben offenbar so groß war, daß der größte Ehrgeiz darauf gerichtet war, ihm philosophisch aus dem Weg zu gehen, und freuen wir uns, daß wir heute das große Werk eines wahrhaft großen Denkers, der in seiner sachlichen Leistung alle – ich sage »alle«, und vergesse dabei Husserl und Russell, Whitehead und Wittgenstein, Jaspers und Plessner sowie Popper und Quine keineswegs5 – , der sie alle überragt, in einer neuen Ausgabe lesen und dabei zunehmend auch auf dessen Nachlaß zurückgreifen können. 4. Geist und Bewußtsein im Medium der Kultur. Die Philosophie der Gegenwart versteht sich zu großen Teilen als philosophy of mind. Sie ist Theorie des Geistes und des Bewußtseins, wobei man in Deutschland, angesichts der von Kant und Fichte vorgegebenen Probleme, am liebsten von einer Theorie des Selbstbewußtseins spricht.6 Dem haben sich inzwischen, durchaus auch unter dem Eindruck einer verstärkten Kant-Rezeption, führende Autoren in der anglo-amerikanischen Debatte angeschlossen.7 Es ist zwar strittig, ob man eine Selbstwahrnehmung des eigenen Bewußtseins8 oder vielleicht auch nur des eigenen Körpers benötigt,9 erörtert wird auch, in wie weit der Gebrauch der Personalpronomina »ich«, »mich« oder »mir« irrtumsanfällig sein darf oder nicht. Doch im Großen und Ganzen hat sich –

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In diesem Zusammenhang ist an die Rede von Jürgen Habermas zu erinnern, der Cassirer in seiner 1989 gehaltenen Hamburger Rede als letzten Universalgelehrten bezeichnet hat (Jürgen Habermas: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990). In der 1998 veröffentlichten Dresdner Rede über Gehlen und Cassirer geht Habermas auch näher auf die philosophische Leistung Cassirers ein. Wenn man die darin genannten sachlichen Verdienste Cassirers zu gewichten sucht, dürften in seinen Augen wenig andere zu finden sein, die in ihrer sachlichen Leistung dem Universalgelehrten überlegen sind (Jürgen Habermas: »Zeit der Übergänge«, in: ders.: Kleine Politische Schriften, Bd. IX, Frankfurt/M. 2001). Dazu: Enno Rudolph: Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003. 6 Ich verweise pauschal auf die Arbeiten von Dieter Henrich und Manfred Frank. 7 Peter Frederick Strawson war hier entscheidend. 8 Sydney Shoemaker: Identity, Cause, and Mind, Cambridge/Mass. 1984. 9 Donald Davidson, Hilary Putnam u. a.

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gerade auch bei den Externalisten wie Hilary Putnam und John McDowell – die Rede vom Selbstbewußtsein des Individuums durchgesetzt. Dazu hat die seit den fünfziger Jahren vordringende Präferenz einer Bezugnahme auf die Intentionen eines Sprechers oder eines Täters beigetragen. Nachdem, durch die späten Arbeiten von Paul Grice begünstigt,10 der Glaube an die bestimmende Kraft vorgegebener semantischer Strukturen an Boden verlor und statt dessen die Pragmatik situativen Handelns an Bedeutung gewann, verstärkte sich die systematische Stellung des individuellen Bewußtseins, so daß es Robert Brandom – unter Berufung auf die älteren Arbeiten von Wilfrid Sellars und jüngere Untersuchungen von John McDowell – schließlich zum Ansatz- und Ausgangspunkt normativer Ansprüche machen konnte, die zwar an die Regeln so genannter »Sprachspiele« gebunden sind, ihre Verbindlichkeit aber nur zur Geltung bringen können, wenn das Individuum sie im Fordern und Geben von Gründen anerkennt.11 Hier wird das Selbstbewußtsein gerade auch in den epistemischen und semantischen Fragen zur entscheidenden Instanz. Das Individuum, dessen ontologische Relevanz 1959 durch Strawson noch einmal bekräftigt worden war,12 wurde damit auch in der Folge sprachanalytischer Interpretationen zunehmend in seine alten Rechte eingesetzt, die seit je her die Selbsterkenntnis zur via principalis philosophischer Welterkenntnis gemacht hatten. Robert Brandoms philosophischer Expressionismus, der mit dem weltanschaulichen Sensationalismus der deutschen Weltkriegsphilosophie nicht das Geringste zu tun hat (obgleich der deutsche Titel seines Werkes ihn in bedenkliche Nähe dazu bringt),13 hat seine Bedeutung auch darin, daß er dem Bereich gesellschaftlicher Anerkennung einen hohen kognitiven Rang zuweist. Es sind die normativen Gehalte der Kultur, die das Individuum veranlassen, sich den Gepflogenheiten des Fragens und Antwortens zu unterwerfen. Hier entstehen die Erwartungen, die mit dem Fordern und Geben von Gründen verbunden sind. Nur unter den Konditionen einer menschlichen Kultur kann das gleichermaßen präskriptive und logische Vokabular entstehen, das, wie Brandom sagt, »unser pragmatisch-semantisches Selbst-Bewußtsein ermöglicht«. Philosophie, so heißt es, zeichne sich »durch Verantwortung für den Schutz und die Pflege jeder Art von Selbstbewußtsein aus«.

Paul Grice: Studies in the Ways of Words, Cambridge/Mass. 1989. Robert Brandom: Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/Mass./London 1994. 12 Peter Frederick Strawson: Individuals: An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959. 13 In der Übersetzung lautet Robert Brandoms Making it Explicit mehr als mißverständlich: ders.: Expressive Vernunft, Frankfurt/M. 2000. 10 11

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Es gehört zu den positiven Momenten in der Entwicklung der jüngeren Philosophie, daß dieser Anerkennung sozialer und kultureller Faktoren im Selbstverständnis des Menschen auch von einigen – keineswegs von allen, wie wir in Deutschland wissen, aber immerhin von einigen – Neurophysiologen und Psychologen zugestimmt wird. Am auffälligsten ist das bei dem am Queen’s College in Ontario lehrenden Merlin Donald, der in seiner Theorie der Evolution des menschlichen Bewußtseins der kulturellen Verbindung individueller Akteure die größte Bedeutung zuweist: »The relationship between consciousness and culture is a reciprocal one.«14 Zu dieser wechselseitigen Verknüpfung von Bewußtsein und Kultur kommt es nach Merlin Donald durch die Leistungen der von ihm so genannten symbolic technology,15 also einer der allmählich wachsenden technischen Kapazitäten des Menschen. Sie hat ihre Anfänge im ersten Werkzeuggebrauch, braucht dann Jahrtausende, um in der Arbeit des Menschen an seiner imitativen Gestik und Mimik schließlich so weit zu gelangen, daß er sich rituell bewegen, tanzen, sich schmücken, sich kleiden, sich damit auch mehr oder weniger zeigen sowie in kontrollierten Lautfolgen verständigen kann.16 Zu den Techniken gehört die Ausbildung sozialer Verhaltensmuster, der Aufbau von Hierarchien gesellschaftlicher Verfügung, gehört die Arbeitsteilung, die Sicherung von Erfahrung durch geordnete Lernprozesse, die Domestizierung von Tieren oder die Bestattung der Toten. Eine der höchsten Stufen in der Entwicklung kultureller Techniken ist (dem ein breites empirisches Material heranziehenden Autor zufolge) die Erklärung des Naturgeschehens durch Mythen, die für ihn unmittelbar auf der Schwelle zur modernen Kultur aufkommt, mit ihrer externalisierten Universalsymbolik, ihrem Formalismus, ihren durch theoretische Vorarbeit erzeugten Artefakten und ihren institutionell ausgelagerten Formen des Wissens. In einer brillanten Deutung des gleichermaßen mit Gewalt wie auch mit größtem Einfühlungsvermögen initiierten Lernprozesses von Helen Keller zeigt Merlin Donald,17 wie die symbolische Technik die Verbindung zwischen dem individuellen Bewußtsein und den äußeren Beziehungen des Menschen regelt, so daß er am Ende zu der wahrhaft bemerkenswerten Konsequenz gelangt, Thomas Nagel irre, wenn er das Selbstbewußtsein des Menschen als a priori subjektiv bezeichne. Donalds These lautet in den

Merlin Donald: A Mind so Rare. The Evolution of Human Consciousness, New York 2001, 254. 15 A. a. O., 259. 16 A. a. O., 260 ff. 17 A. a. O., 232 ff. 14

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Worten von Lev Semenovich Vygotsky: »Representation is public first, private second.«18 5. Verzeihliche Versäumnisse. An McDowells, Brandoms und Merlin Donalds Ausführungen habe ich eigentlich nur eines auszusetzen: Daß diese Autoren die Philosophie der symbolischen Formen nicht kennen. Auch den Essay on Man haben sie nicht gelesen. In ihren Büchern ist keines dieser Werke präsent; der Name des Autors kommt nicht vor. Als ich den Neuropsychologen aus Kanada (nach einem Vortrag 2007 in Berlin) nach Cassirer fragte, gab er, erkennbar schuldbewußt, zu, er sei schon einmal von einem Kollegen auf dessen Arbeiten aufmerksam gemacht worden, habe sie aber noch nicht gelesen. Brandom kennt natürlich Kant und Hegel sowie das Anerkennungstheorem der jüngeren Frankfurter Schule. Und von John McDowell wissen wir, daß er Karl Marx und Hans-Georg Gadamer für die bedeutendsten Kulturtheoretiker und Anthropologen im deutschen Sprachraum hält. Ein Versuch, ihn wenigstens mit Helmuth Plessner vertraut zu machen, scheiterte kläglich.19 Nun wäre es kleinlich, sich mit den Lektüre-Versäumnissen Anderer wichtig zu machen. Man weiß ja selbst, was einem alles entgeht – ganz abgesehen von dem, von dem man erst gar nicht weiß, daß man es nicht weiß. Es sollte uns vielmehr freuen, daß die Wissenschaft, auch ohne Cassirer zu kennen, zu Resultaten kommt, die sich bereits seit achtzig Jahren bei ihm nachlesen lassen. Und es sollte uns ermutigen, in Kenntnis seiner Schriften zu prüfen, ob wir mit seiner Hilfe nicht noch ein Stück über die aktuelle Debatte hinaus gelangen können. Dazu will im Folgenden eine Anregung geben, wobei ich mich aus zeitlichen Gründen auf einen einzigen Punkt beschränke, den ich kaum mehr als markieren kann, um abschließend zu fragen, ob er im Anschluß an Brandom und Donald eine systematische Perspektive bietet, in der wir mit Cassirer – unter Aufnahme neuer lebenswissenschaftlicher Einsichten – systematisch ein Stück weiter kommen. 6. Die Objektivität des Selbstbewußtseins. Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, der den Titel Phänomenologie der Erkenntnis trägt, referiert Cassirer, im Anschluß an seine Deutung der jähen Einsicht Helen Kellers in den begrifflichen Charakter der ihr über den Tastsinn übermittel-

Zitat aus dem Berliner Vortrag, Juli 2007. Lev Semenovich Vygotsky: Thought and Language, Cambridge/Mass. 1986 (zit. n. Merlin Donald). 19 Aus dem Disput mit Hans-Peter Krüger/John McDowell: »The Second Nature of Human Beings: An Invitation for John McDowell to Discuss Melmuth Plesser’s Anthropology«, in: Philosophical Explorations 1 (2), 1998, 107–125. 18

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ten Zeichen, die Auffassung eines deutschen Autors, den heute in Deutschland so gut wie niemand mehr liest: nämlich Richard Hönigswalds.20 Nach Hönigswald, so Cassirer, gebe es »keinen Gedanken ohne primären Wortbezug; kein Denkerlebnis, dessen ›Möglichkeit‹ nicht an die Bedingung einer möglichen Zuordnung zum Wort geknüpft ist. Denn wer immer ›etwas‹ denkt, der greift schon in der Setzung dieses Etwas in eine Sphäre des objektiven Seins und der objektiven Geltung hinaus: Er präsumiert, daß das Gedachte für alle dasselbe sei oder doch sein solle.«21

In der Deutung dieser von ihm des Näheren geschilderten Position kommt Cassirer zu einer bemerkenswerten Weiterung: »Die[…] Intention (sic!) auf Gegenständliches ist keineswegs allein dem Denken als logischem Urteilen und Schließen vorbehalten, sondern sie ist bereits dem Wahrnehmen oder Anschauen eigentümlich. Auch in ihnen soll (sic!) ›etwas‹ wahrgenommen, ›etwas‹ angeschaut werden.«22

Der normative Gehalt der epistemisch-semantischen Ausrichtung auf »etwas«, ist ein wichtiges Indiz für die praktische Dimension selbst eines rein »theoretisch« ausgerichteten Bewußtseins. Cassirer nimmt wahr, daß in der alltäglichen wie in der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit keine kategoriale Trennung zwischen deskriptiven und präskriptiven Momenten vorgenommen werden kann. Das Element der Verantwortung ist anwesend, wann immer ein Individuum sich ernsthaft um etwas bemüht. Mit Blick auf Hönigswald ist Cassirer jedoch stärker an der affektivemotiven Dimension der auf »etwas« gerichteten Aufmerksamkeit interessiert. Das sollte jene aufhorchen lassen, die meinen, die klassische Philosophie habe noch nichts von den epistemischen Leistungen des Gefühls gewußt. 23 Den bedeutenden Denkern ist im Gegenteil stets bewußt gewe-

Richard Hönigswald: Die Grundlagen der Denkpsychologie. Studien und Analysen, Leipzig/Berlin 1925. 21 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 13, 132. 22 Die hier von Hönigswald angezeigte Verbindung zwischen faktischer Regel und normativem Anspruch wird von Cassirer übernommen. So kommt es, daß in seinem Verständnis von Geist, Vernunft oder Rationalität deskriptive und präskriptive Elemente nicht nur nicht eindeutig getrennt werden können, sondern bewußt in ihrer in einander übergehenden Wirksamkeit und Geltung aufgenommen werden. Darin liegt ein systematisches Motiv für Cassirers Desinteresse an der Ausbildung einer eigenständigen Sphäre der Normativität. – Dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C.II: Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat des Praktischen keine Ethik schreiben konnte, 151–171. 23 Das ist inzwischen durch die Sammlung von Hilge Landwehr/Ursula Renz (Hg.): 20

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sen, daß die sinnlichen Anteile des Wissens auch die Anlässe und Antriebe umfassen, die zum Wissen führen. Für Cassirer jedenfalls steht das außer Zweifel. Deshalb stellt er am Ende der zitierten Passage fest: ›Denken‹ bedeute bei Hönigswald »nicht mehr die einzelne Klasse psychischer Phänomene, der andere Klassen – wie das Empfinden oder Anschauen, das Fühlen oder Wollen – gegenüberstehen, sondern es ist das psychische Grundphänomen schlechthin. […] ›Denken‹ wird hier der universelle Ausdruck für alle Sinnbezogenheit und alle Sinnhaftigkeit des Erlebnisses überhaupt: Und ebendiese Sinnhaftigkeit […] wird durch die ›Worthaftigkeit des Sinns‹ wahrhaft konstituiert.«24

Mit diesem Anschluß an einen anderen Autor sucht Cassirer den für ihn entscheidenden Charakter dessen deutlich zu machen, was er die »Darstellung« des Geistes nennt: Mit der »Darstellung« geht der dem Denken wesentliche »Ausdruck« in die allgemein nachvollziehbare »Gestaltung« über. Sie ist der Träger von Sinn, in dem ein Individuum immer schon mit – wie auch immer bestimmten – Sachverhalten verbunden ist.25 Schon die Rede vom Denken als »Ausdruck« sollte es verbieten, die auf »etwas« ausgerichteten begrifflichen Aktivitäten als bloß »innerlich«, als lediglich »subjektiv« aufzufassen. Mit der Überführung des Ausdrucks in die gestaltete Darstellung ist es aber ebenfalls ausgeschlossen, von einer rein »externen« Geltung zu sprechen. Der Gegensatz von Internalismus und Externalismus verfehlt das Phänomen der bewußten Aktivität des Geistes, die sich als Produktivität im offenen Übergang vom »Inneren« zum »Äußeren« wie auch vom »Äußeren« zum »Inneren« zu erkennen gibt und dabei gerade die scheinbar von ihm gewahrte Trennung zwischen Sinnlichem und Begrifflichem, Individuellem und Universellem aufhebt. Darin liegt die Pointe der »Darstellung«. Der Geist hat seinen Auftritt nicht im Kopf, sondern im Symbol. 7. Geist verweist. Das Symbol mag für sich selbst noch so interessant sein: In seinem Auftritt zeigt sich etwas, das selbst nicht auftritt. Es ist eine Darstellung von etwas, das selbst nicht anwesend zu sein braucht, im Symbol aber zur Darstellung kommt. Darstellung ist Repräsentation im Kontext.26

Klassische Emotionstheorien, Berlin/New York 2008 eindrucksvoll belegt. Dazu: Christoph Demmerling/Hilge Landwehr (Hg.): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007. 24 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 133. 25 Man beachte die Differenzierung zwischen Wert und Sinn, auf die Cassirer in »Form und Technik« aufmerksam macht: Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 145 f. – Vgl. auch ders.: »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17, 185–206, hier: 190. 26 Dazu den grundlegenden Vortrag Cassirers aus dem Jahre 1927: Ernst Cassirer:

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Abgesehen davon, daß sich in und mit ihr ein Individuum auf »etwas« so bezieht, daß es mit diesem Bezug schon aus der Sphäre rein subjektiver Bedeutung herausgetreten ist, weil es in und mit ihm auf (gegenständlich) Anderes seiner selbst so verweist, daß die Darstellung auch für Andere Bedeutung haben kann – abgesehen also von der in jedem mentalen Akt ursprünglich angelegten Beziehung auf Gegenstände, die mit diesem Bezug auch anderen Individuen in gleicher Ursprünglichkeit zugänglich sind, ist eine Darstellung immer schon mit anderen Darstellungen verknüpft. Denn sie alle sind Repräsentationen in einem auf etwas bezogenen und für Andere zugänglichen Sinn nur insofern, sie auch unter einander wechselseitig ersetzbare Positionen und zwar nach Regeln, die allen präsent sind, die in der Lage sind, sich selbst der sie mit den Dingen wie mit den Personen verbindenden Regeln zu bedienen. Ich sage dies bewußt und ausnahmsweise in langen Sätzen, um das Beziehungsgeflecht kenntlich zu machen, in dem jeder geistige Gehalt als solcher steht. Er ist selber weder nach Art eines Dinges vorzustellen, noch ist er wie eine Substanz anzusehen. Er ist eine »Funktion«, wie Cassirer gerne sagt. Es gibt ihn nur als »Gebilde« und »Verknüpfung«,27 er ist »gestaltete Ganzheit«28 und kommt nur in hergestellten »Beziehungen« vor, in denen er als »seelische Ganzheit« erfaßt wird, die selbst wiederum nur als »selbständige Lebensäußerung« zu verstehen ist. 29 In jedem Fall kann ihm »eine praktische, eine biologisch bedeutsame (sic!)Leistung zugesprochen« werden.30 Geist ist somit etwas, das sich nur in der lebendigen Äußerung in einer mit Anderen geteilten und von ihnen allen in ihren weltbezogenen Aktivitäten benötigten Sphäre gemeinsamer sachförmiger Bezüge zeigt. Geist verweist – und zwar auf etwas, von dem man im Verweis davon überzeugt ist, daß es als anderes auch von Anderen wahrgenommen werden kann. Der Geist tritt in aktiv hervorgebrachten, gestalteten Repräsentanten hervor, die nicht nur einfach »dastehen«, um in dieser Statik etwas für etwas zu bedeuten, sondern sie stehen, wie Cassirer sagt, »füreinander« ein, so daß sie »wechselseitig auf einander hinweisen und sich in bestimmtem Sinne vertreten können«.31 Für den heutigen Leser braucht man nunmehr nur noch hinzuzufügen, daß Cassirer diese Leistung mindestens dreifach verschränkter Repräsen-

»Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927), in: ECW 17, 253–282. 27 A. a. O., 136 u. 141. 28 A. a. O., 158. 29 A. a. O., 228. 30 A. a. O., 219. 31 A. a. O., 132.

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tationen mit der Funktion der »Mitteilung«32 verbindet, die ihrerseits nicht nur von Bedürfnissen des Lebens, nicht allein von den Erfordernissen des gesellschaftlichen Handelns getragen ist, sondern auch den »Gebrauch« einschließt, den jedes Individuum in der Mitteilung nicht nur von seinen Kräften und Fähigkeiten, sondern darin auch von sich selbst als Ganzes macht.33 Mit diesem Hinweis wird augenblicklich klar, wie weit die Assoziationskette reicht, die sich von Cassirer über den späten Wittgenstein bis hin zu den Autoren erstreckt, die in der aktuellen Debatte bestimmend sind. Denn alle Elemente der epistemischen, der semantischen und der logischen Verknüpfung sind in den Symbolen als den Repräsentanten von Bedeutung überhaupt präsent. In der sinnlichen Gegenwart des Einleuchtenden und Einsichtigen, das auch die Objekte von Begierden, die Gegenstände affektiver Bezüge umfaßt, sind die lebenspraktischen Momente performativer, kommunikativer und technischer Akte wirksam. So gesehen, ist das Bewußtsein selbst ein organisierendes, in seinen symbolischen Leistungen allgemein gegenwärtiges Medium der menschlichen Kultur. In ihm erfolgt die »Linienführung« und, wie es auch heißt, die »innere Organisation« von Prozessen, in denen etwas eine Bedeutung gewinnt, die im Prinzip von jedem Menschen erfaßt werden kann. Das Bewußtsein, so möchte ich Cassirer ergänzen, hat seinen Ort nirgendwo anders als in der Öffentlichkeit. 34 In ihm sind nicht nur Wissenschaft und Politik, sondern alle Elemente der Kultur verschränkt. Ihre formale Einheit aber haben alle diese Öffentlichkeit erzeugenden und Öffentlichkeit benötigenden Leistungen des Darstellens, der Organisation, der Repräsentation und des verständigen Gebrauchs darin, daß sie Mittel zu Zwecken verknüpfen und darin Technik sind. 8. Technik und Organisation. Jeder Leser weiß, wie wenig mit diesen Bemerkungen über die Philosophie der symbolischen Formen gesagt ist. Es muß gleichwohl ausreichen, um noch Zeit für eine abschließende Betrachtung zu haben, die kenntlich machen soll, daß wir mit Cassirer nicht nur im Zentrum gegenwärtiger Theoriebildung stehen, sondern mit ihm ein Stück darüber hinaus gelangen können. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer einen Aufsatz über »Form und Technik«

A. a. O., 135. Er spricht auch von der »Funktion des Weisens« (138). Siehe dazu Volker Gerhardt: »Mitteilung als Funktion des Bewusstseins. Eine experimentelle Überlegung«, in: Detlev Ganten/Volker Gerhardt/Jan Christoph Heilinger/ Julian Nida-Rümelin (Hg.): Funktionen des Bewusstseins, Berlin/New York 2008, 103–118. 34 Dazu Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, 10. Kapitel. 32 33

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(1930) publiziert. Der Text ist ein Paradestück mustergültiger Argumentation: gelehrt, scharfsinnig, in klarer gedanklicher Ordnung und auf der Höhe eines Themas, das bis dahin die Schwelle akademischer Erörterungen noch nicht überschritten hatte. Cassirer aber kennt die älteren, jüngeren und jüngsten Publikationen zu der im Entstehen begriffenen Technikphilosophie und stellt sie in souveräner Einschätzung vor. Am Beispiel der Technik verdeutlich Cassirer den systematischen Ertrag seiner Philosophie des Geistes als des Prinzips lebendiger Organisation. Er referiert die Ansätze zu einer Philosophie der Technik, zeichnet den geschichtlichen Gang der Entfaltung technischer Fertigkeiten nach, hebt ihre eminente Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Kultur hervor und arbeitet einige der anthropologischen Bedingungen heraus, die kenntlich machen, warum die Technik als eine Elementarbedingung der menschlichen Kultur angesehen werden kann. Dabei geht es ihm vor allem um die Parallele im Prozeß der sprachlichen und der technischen Evolution: In der geschichtlichen Entwicklung der Sprache werden die naturnahen onomatopoetischen Ausdrücke allmählich überwunden und durch unspezifische, von der Nachahmung entlastete Lautgestalten ersetzt. Das ist der Übergang von der bloßen »Lautmetapher« zum »reinen Symbol«, in welchem der Geist allererst zu seiner »freien Gestalt« gelangt.35 Es ist von einiger Bedeutung, daß Cassirer die ersten Leistungen der Technik nicht allein an den dinglichen Werkzeugen illustriert, sondern Laut-Leistungen des menschlichen Körpers heranzieht, in denen die Technik menschlicher Mitteilung Eigenständigkeit gewinnt. Wenn nämlich das Artikulieren von Lauten eine Technik – eben eine Sprach- und Sprechtechnik – ist, dann wird man auch andere Leistungen der menschlichen physis zu den Techniken rechnen müssen. Doch auf das Ineinander von physis und techné geht Cassirer leider nicht ein, so nahe der Gedanke im Anschluß an die Technik der Lautgestaltung auch liegt. Im Kontext von Form und Technik hat es offenbar Vorrang, den endogenen Prozeß der Gestaltung zu betonen, aus dem die Technik hervorgeht und der auch ihren Einsatz lenkt. Wenn aber die Technik als ein von innen her organisiertes Geschehen angesehen werden kann, dann tritt nicht nur ihre Nähe zum organischen Werden, sondern auch zum Selbstbewußtsein des Individuums und zum Selbstverständnis des Menschen hervor. Dann ist die Technik nicht erst in ihrer Funktion, sondern bereits in ihrer Konstitution dem Geist verwandt. Sie ist ihm weder fremd noch äußerlich, ist vor allem auch nichts Zusätzliches, nichts, das – nach der Leistung eines Instruments – dem Geist verstärkend zu Hilfe kommt. Der

35

Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 170.

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Geist ist vielmehr in seiner Gestalt gebenden, formenden, Sinn stiftenden, etwas zur Einheit und zum Abschluß bringenden Leistung selbst eine Technik, genauer: er kann selbst nur nach Art einer Technik begriffen werden, die wir als solche– und zwar in allen ihren Formen – immer nur als etwas geistig Organisiertes verstehen können. Dieses Ineinander von Geist und Technik, von Organisation und Sinn, von Leistung und Bedeutung, von Darstellung und Mitteilung, ja auch von physiologischem Ausdruck und intelligiblem Begriff gibt zu erkennen, wie Cassirers Skizze einer Philosophie der Technik mit der Konzeption der symbolischen Formen verbunden ist. Sie macht deutlich, daß mit dem Thema des Lebens, welches in den Nachlaßnotizen besondere Aufmerksamkeit erfährt, kein neues Themenfeld erschlossen wird. Vielmehr ist das Leben bereits in der Form, in der sinnlich-sinnhaft-sinnvollen Gestalt, in der bedeutungsvollen Einheit wirksam und tritt dort in besonderer Wirksamkeit hervor, wo sich einzelne Mittel aus dem organischen Zusammenhang des leibhaftigen Lebensvollzugs lösen und als für sich bestehende Instrumente und Maschinen Effekte erzeugen, die zwar nicht unabhängig von dem in ihnen zwecksetzend tätigen Geist zustande kommen, sich aber verselbständigen und sogar gegen ihren Urheber richten können. 9. Das Dilemma der zwei Formen der Technik. Es spricht für das wache zeitkritische Bewußtsein Ernst Cassirers, daß er sich in Form und Technik eindringlich auch mit den Gefahren befaßt, die mit der Verselbständigung technischer Prozesse verbunden sind. Zugleich kann er, anders als die Kulturkritik seiner und unserer Zeit, eine systematische Disposition für einen ethisch-praktischen Umgang mit der entfesselten Technik angeben. Nur folgt er seiner eigenen systematischen Konzeption nicht konsequent, so daß er dem Dilemma der populären Kulturkritik verfällt, obgleich er sie andernorts scharfsinnig kritisiert hat.36 Nach Cassirer sollen sich nämlich zwei Formen der Technik unterscheiden lassen: eine »organische«, in der Mensch und Werkzeug noch eine Einheit bilden, und eine sich im Gegenzug behauptende, gleichsam gegen die lebendige Natur gerichtete Konstruktion, mit der sich der Mensch von den ihn einbindenden Naturprozessen emanzipiert. Dazu beruft sich Cassirer auf das von Marx formulierte »Gesetz« der »Emanzipation von der organischen Schranke«. Die zweite Form der Technik kann, so Cassirer, vornehmlich im Verein mit den modernen Naturwissenschaften verheerend wirken. Sie stützt sich zwar auf die mathematisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten (und

Dazu Recki: Kultur als Praxis, Kap. C.III: Das Ethos der Freiheit. Ernst Cassirers ungeschriebene Ethik und ihre Postulatenlehre, 172–188. 36

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ist insofern sowohl auf Natur gegründet wie auch von Natur gelenkt), zerreißt jedoch den Zusammenhang mit den organischen Lebensbezügen und führt zu jener »Entfremdung«, die, wie im Anschluß an die Kulturkritik von Walther Rathenau eindringlich geschildert wird, die »völlige Entseelung und Mechanisierung der Arbeit« zur Folge hat. 37 Der »Geist der Technik« so lautet die im Anschluß an Rathenau formulierte These, steht im Widerspruch zu den ethischen Ansprüchen der Kultur.38 Es ist nicht leicht zu sehen, wie Cassirer dieses Ja zu einer Kulturkritik, die den Geist in Gegensatz zur Technik stellt, mit seiner vorangehenden Analyse in Einklang bringen will. Wenn der Geist das innere Formprinzip der Technik sein soll, obgleich sie aus nichts anderem als aus Natur hervorgehen kann, ist mehr als fraglich, wie die Technik überhaupt in die behauptete prinzipielle Opposition zur Natur geraten können soll. Ist nicht alle Technik ein Eingriff in die Natur? Wie soll man zu einem Faustkeil kommen, wenn nicht durch gewaltsame Zurichtung eines Steins? Und wie wird er eingesetzt? Es geschieht gewiß im Einklang mit den Gesetzen der Natur. Der Stein, mit dem der Stein des Werkzeugs behauen wird, muß härter sein als der behauene. Aber der Effekt des Einsatzes des im Einklang mit der Natur hergestellten Faustkeils ist ein zerbrochener Knochen, ein verteiltes Wild oder ein getöteter Feind. Die »Emanzipation von der organischen Schranke« findet somit schon im ersten Werkzeug statt und nicht erst im Maschinenwesen der angeblich seelenlos gewordenen Gesellschaft. Dennoch übernimmt Cassirer die Unterstellung von Marx und Rathenau. Damit ist ihm die Hoffnung auf eine sich aus dem Leben selbst ergebende, gleichsam evolutionäre Lösung verstellt. Also vertraut er auf eine andere, aus anderen (nicht materiell-technischen) Quellen gespeiste, sagen wir: auf eine ethische Kraft des Menschen. Durch sie scheint die Kontinuität unterbrochen, die sich in der gemeinsamen Evolution von Geist, Kultur und Technik in Cassirers Werk abzeichnet. Für eine ethische Kraft, die sich der Technik entgegenstellen können soll, muß ein ganz anderer Ursprung angenommen werden. Gleichwohl bleibt die Moral in ihrer Wirkung auf die Verknüpfung beider Technikformen angewiesen. Also kommt es durch den affirmativen Bezug auf Marx und Rathenau zu einem Bruch in Cassirers Argumentation. Doch wie dem auch sei: Cassirer hat die Hoffnung, die entfesselte Technik lasse sich unter moralische Ansprüche stellen. Wenn es dem Menschen gelingt, sich maßvolle Ziele zu setzen und sich zu einer »Freiheit durch

37

Cassirer: »Form und Technik«, a. a. O., 181; das Zitat bezieht sich auf Walther Rathenau, Die Mechanik des Geistes, Berlin 1913. 38 A. a. O., 182.

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Dienstbarkeit« zu erziehen, könne es ihm möglich sein, die Technik auch in ihren gegen die Natur gerichteten Kräften zu beherrschen. Dann, so schreibt er, könne sich die Technik »nicht nur als Bezwingerin der Naturgewalten, sondern als Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen selbst« erweisen. 39 In der ethischen Selbstbeschränkung soll es dem Menschen möglich sein, die in der Fremdherrschaft über die Natur entwickelten Fähigkeiten auf sich selber anzuwenden. Das aber dürfte dem Menschen nur möglich sein, wenn er, trotz der erworbenen kulturellen Kompetenz, ein Naturwesen bleibt. Wie anders sollte er das, was er im technischen Umgang mit der Natur gelernt hat, auf sich selber anwenden können? Er muß Natur geblieben sein, wenn die Techniken der Steuerung äußerer Naturprozesse auch zu seiner Selbststeuerung taugen sollen. Nur wenn Mensch, Technik und Kultur in jeder ihrer Entwicklungsformen immer auch Natur bleiben, kann es die moralisch geforderten Lernprozesse geben. Nur dann kann man hoffen, eine »entfremdete« Technik in die organischen Lebensprozesse einzubinden und zu einem produktiven Element der Kultur werden zu lassen. Die ebenfalls denkbare Lösung, nach der man die entfessele Technik einfach sich selbst überläßt, weil man, wie auch bei den gesellschaftlichen Gegensätzen, erwartet, sie werde durch ihre Herausforderung die antagonistischen Kräfte der Kultur befördern und so durch Zuspitzung des Kampfes im Inneren der Gesellschaft zu deren Steigerung betragen, paßt zwar zu Cassirers Naturauffassung und läßt sich auch mit einem Kulturverständnis verbinden, für das er gern die Ansichten Goethes zitiert – diese Lösung hätte den ethischen Appell zu einer »Freiheit durch Dienstbarkeit« aber erst gar nicht nötig gemacht. Spätestens an den von Cassirer nicht bewältigten Folgen zeigt sich die Fragwürdigkeit der Unterscheidung zwischen einer organischen und einer – sagen wir: mechanischen Form der Technik. Wenn der moralische Umgang mit den aus ihr erwachsenen Gefahren Erfolg haben soll, muß die Differenz schließlich doch wieder überwunden werden. Da trifft es sich gut, daß die kulturkritisch zunächst so effektvoll erscheinende Unterscheidung bereits im Ansatz nicht überzeugen kann. Was ist an einem Faustkeil, mit dem sich ein Schädel zertrümmern läßt, »organisch«? Warum sollte man ein durch eine Schraube angetriebenes Schiff nur deshalb »mechanisch« nennen, weil wir diesen Antrieb nicht schon bei Fischen finden? Kann die chemisch-organische Reaktion des Schießpulvers Anlaß geben, einen Vorderlader »organisch« zu nennen? An einer Kernwaffe oder einem Atomreaktor scheitert die Abgrenzung von vornherein.

39

A. a. O., 183.

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Deshalb lasse ich die Unterscheidung zwischen organischer und mechanischer Technik auf sich beruhen und frage abschließend, ob sich aus Cassirers ingeniöser Deutung der Technik nicht eine ganz andere und viel weiter reichende systematische Konsequenz gewinnen läßt, eine Konsequenz, die schließlich auch dem Anspruch auf eine moralische Selbststeuerung des Menschen eine verläßlichere Erfolgschance gibt. Ich stütze mich wesentlich auf Cassirers eigene Analyse, setze aber insofern einen anderen Akzent, als ich in der Verbindung von Geist und Technik eine spezifische Form der Beziehung von Natur und Technik erkenne. Diese Überzeugung gründet sich auf die von Cassirer unterstellte, aber nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit vorgetragene Einsicht, daß der Mensch selbst in seiner elaborierten kulturellen Existenz ein Naturwesen bleibt. 10. Die Formgebungsmanufaktur des Denkens. Was steht eigentlich hinter der produktiven Aufbauleistung des Geistes? Was reguliert den »Gebrauch« der »Mittel« zu wechselnden »Zwecken«, in deren Beweglichkeit sich die Überlegenheit des Bewußtseins zeigt? Was macht aus dem »Rohstoff« der Empfindungen40 den allen Sinn tragenden symbolischen Ausdruck? Was erlaubt es der Natur in einem unablässigen Prozeß der Selbstvermittlung ihrer individuierten Kräfte individuierte Gestalten hervorzubringen, in denen ihnen eine von ihnen selbst produzierte Universalität entgegentritt, in der sie sich allererst selbst verstehen? Die Antwort liegt in einem eher antiquiert erscheinenden Ausdruck, der sich in der Philosophie der symbolischen Formen findet und der mit einem Schlag den ganzen technischen Apparat im Hinter- und Untergrund der kulturellen Produktion symbolischer Formen hervortreten läßt: Cassirer spricht von einer »›Formgebungsmanufaktur‹ des Denkens«,41 also einem durch und durch technischen Prozeß, der überdies offenkundig macht, daß in ihm die Natur kontinuierlich in Kultur übergeht. Es ist die Technik der Produktion von Darstellungen, Gestalten und symbolischen Formen, aus der nicht nur die Bedeutung und der Sinn menschlichen Handelns und Begreifens hervorgehen, sondern in alledem auch der Mensch selbst, der sich erst unter diesen Konditionen als Mensch versteht. Damit ist es die Technik, in der sich die Natur in Kultur transformiert. Der Ursprung des Geistes liegt in einer selbstgeschaffenen kulturellen Sphäre. Die aber steht der Natur nicht wie ihre geschichtliche Antithese gegenüber, sondern sie gehört ihr als deren eigene, in allem immer auch Natur bleibende Gestaltung zu. Mitten in der Natur tritt sie in den von

40 41

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 223. A. a. O., 222.

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der Natur entlehnten Zweck-Mittel-Relationen hervor und im Erfinden, Erweitern und Verbessern der auf diesem Weg entstehenden Techniken wächst der Mensch heran, indem er sich der Techniken bedient. Technik ist eine Form der Organisation, die immer schon im Menschen wirksam ist. Der organische Zusammenhang kann selbst nur als Technik beschrieben werden. In und aus ihr geht die (Technik der) Lautbildung und des bedeutungsvollen Sprechens hervor. Wenn die Technik des Sprechens erst einmal ausgebildet ist, wird in ihr (auch das füge ich vorab hinzu) die Technik des Denkens und Erinnerns erkennbar. Dann wirkt das, was wir in den menschlichen Leistungen als Technik bezeichnen und was nach Cassirers Darstellung bereits in deren Voraussetzungen als Technik wirksam ist: Denn hinter jeder menschlichen Leistung, so abstrakt und mechanisch sie auch immer sein mag, steht als organisierendes Moment die lebendige Natur. Alles, was der Mensch hervorbringt, ist Ertrag seiner organischen »Organisation«. Die aber kann er nach Art eines technischen Prozesses betrachten. Mehr noch: Ein Organismus ist der Inbegriff einer technischen Einheit. In ihm wird von der Gesamtheit seiner Organe eine Leistung erbracht, die im Organismus selbst hervortritt. Der Lebensvollzug des Organismus kann aber selbst als eine technikanaloge Leistung im Dienst an seinen Organen betrachtet werden. In ihm werden von seinen Organen Leistungen für das Ganze der Organisation des Organismus erbracht, während man dieses Ganze als die immer auch technische Kondition für das Funktionieren der einzelnen Organe ansehen kann. Jeder Organismus kann als eine Summe von Instrumenten gelten, das selbst nach Art eines Instruments begriffen werden kann. Das ist deshalb der Fall, weil die in unablässiger Rückkopplung wirksame Gesamtorganisation des Organismus niemals bloß auf ihn selbst bezogen ist. Seine Lebenstechnik bezieht auch die äußeren Bedingungen des Daseins ein, die ihrerseits als technische Konditionen der Selbsterhaltung des Organismus angesehen werden können. Und sobald wir das Zusammenleben eines Organismus in seinem sozialen Verband betrachten, kann jedes einzelne Wesen selbst wieder als ein technisch-organisierendes Element in einem gesellschaftlichen Ganzen angesehen werden. Dann sind, um nur wenige Beispiele zu nennen, zur Fortpflanzung disponierte Paare die technischen Mittel zur »Reproduktion« der Gattung; ein Alphatier ist das Instrument der Ordnung und Steuerung einer einzelnen Gruppe; jeder Lehrer, selbst jeder ganz auf seine Personalität vertrauende Autor ist ein Instrument in der generativen Reorganisation des gesellschaftlichen Wissens und er nimmt diese sozialtechnische Aufgabe umso besser wahr, je mehr er sich dabei als einzigartiges Individuum versteht. Und in diesem Kontext ist die Sprache ein immer auch technisch zu verstehendes Mittel der Verständigung, das der Ordnung und Steuerung der Gruppe

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dient – und zugleich eine größere gesellschaftliche Eigenständigkeit der Individuen ermöglicht. Gesetzt, das könnte für die Sprache gelten, gibt es kein Argument, diese Mittelfunktion nicht auch dem Bewußtsein und dem Geist zuzuerkennen. Auch Geist, Vernunft und Selbstbewußtsein erfüllen eine Funktion im Mitteilungsgeflecht eines gesellschaftlichen Geschehens. Sie spezialisieren, präzisieren und objektivieren die Verständigung über etwas, das durch sie als unabhängig von einzelnen Individuen aufgefaßt werden kann, wodurch sich uno actu der Grad möglicher Unabhängigkeit der Individuen von den Sachverhalten und zugleich von ihres gleichen erhöht. Geist und Bewußtsein wären in ihrer technischen Leistung in einem Wirkungszusammenhang des gesellschaftlichen Lebens beschrieben und eben darin als etwas ausgewiesen, was die Individualisierung der Einzelwesen erhöht. Mit dem Geist kann somit die Steigerung der technischen Rückbezüglichkeit bis zum Akt der Selbstzwecksetzung verfolgt werden, wenn das Instrument, welches ein Ganzes als in seiner Einheit sichert, vor allem anderen selbst gesichert werden muß.42 Cassirer hat die biologischen Grundlagen der symbolischen Funktionen stets exponiert. Wenn wir seine Kulturphilosophie mit den Mitteln seiner eigenen Technikphilosophie ergänzen, können wir zeigen, welches naturphilosophische Potential sie enthält, das uns zu erkennen erlaubt, wie sehr auch das animal symbolicum, so frei und emanzipiert es sich erfährt, nach wie vor zu den Naturwesen gehört und selbst mit den größten Fortschritten der Kultur ein Naturwesen bleibt. Für dieses Naturwesen gilt, daß es sich – unter den vorgefundenen Regularitäten der physischen, biologischen und sozialen Natur – selbst erzeugt, sobald es seinen eigenen Einsichten folgt und sich dabei der technischen Mittel bedient, denen es sich bereits in der Funktionsweise seiner eigenen Einsichten unterstellt. Die Menschwerdung vollzieht sich in und mit der Technik, die in der Intelligibilität des menschlichen Verhaltens zum Ausdruck kommt. Wenn dieser Zusammenhang von Natur, Technik und Geist nicht wäre, wäre die Kultur ein Verhängnis, dem wir uns so schnell wie möglich entziehen sollten.

42

Dazu Gerhardt: »Mitteilung als Funktion des Bewusstseins«, 103–118.

Gerhardt · Menschwerdung durch Technik

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Michael Moxter

Recht als symbolische Form?

In den drei Bänden der Philosophie der symbolischen Formen ist vom Recht nur en passant die Rede, so daß das Fragezeichen in meinem Titel einerseits Ausdruck einer extemporierenden Annäherung an eine ungeschriebene Lehre ist1. Cassirer spricht im Vorwort des zweiten Bandes von der »Genesis der Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein«2 und zählt dabei das Recht erläuternd auf als einen weiteren Bereich des »objektiven Geistes«, an dem sich das grundlegende Verhältnis von Kultur und Mythos aufweisen lasse. Nimmt man die Anführungszeichen, die der Begriff des objektiven Geistes bei Cassirer selbst erhält, als Ausdruck für den Abstand, der zwischen der Philosophie der symbolischen Formen und einer Theorie sozialer Institutionen besteht, so gewinnt das Fragezeichen im Vortragstitel andererseits einen grundsätzlicheren Sinn. Es kann keineswegs als ausgemacht gelten, daß eine am Prozeß der Symbolsetzung orientierte Kulturtheorie überhaupt über die systematischen Mittel verfügt, die für den Aufbau einer Rechtstheorie benötigt werden. Wo die Tätigkeiten des animal symbolicum in der Vielzahl seiner Weltzugänge beschrieben werden, mag die Kulturanthropologie auch das Recht in den Blick nehmen, aber die umfassende Zuständigkeit rechtfertigt noch nicht die Erwartung einer systematischen Grundlegung des Rechtsbegriffs. Insofern wundert es nicht, daß die Frage, wie sich in der Perspektive einer Philosophie der symbolischen Formen eigentlich das Recht ausnimmt, zunächst nur mit der Bemerkung beschieden wird, alle Anfänge der Kultur (eben auch die Rechtskultur) seien auf eine Stufe zurückzuführen, »in der sie alle noch in der unmittelbaren und ungeschiedenen Einheit des mythischen Bewußtseins ruhen. Aus dieser Umschließung und Verklammerung lösen sich die theoretischen Grundbegriffe der Erkenntnis, die Begriffe von

Vgl. aber bereits die einschlägigen Studien von John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/Conn. u. a. 1987, und Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004. – Erst nach Abschluß des Vortragsmanuskripts war mir Deniz Coskuns umfassende Studie zugänglich: Deniz Coskun: Law as Symbolic Form. Ernst Cassirer and the Anthropocentric View of Law, Dordrecht 2007. 2 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 12, XI. 1

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Raum, Zeit und Zahl, oder die Rechts- und Gemeinschaftsbegriffe, wie etwa der Begriff des Eigentums, […] nur ganz allmählich los«.3 Die Stichworte ›noch unmittelbar‹ bzw. ›noch ungeschieden‹ und ›nur ganz allmählich lösend‹ verweisen auf die Eigenart seiner Theorie des mythischen Bewußtseins, dieses als Schwelle der kulturellen Entwicklung zu denken. Nach Cassirer gehört es zum Begriff der Vernunft bzw. der rationalen Kultur, das mythische Bewußtsein überschritten zu haben, andererseits aber zur Struktur symbolischer Formen und ihrer Geschichte, den Mythos nicht nur als das Andere des Logos und darum auch nicht ausschließlich als längst überwundenen Ausgangspunkt begreifen zu können. Das mythische Bewußtsein ist nämlich selbst der produktive Grund derjenigen Ausdifferenzierung kultureller Formen, die über es hinausführen. Die Überwindung des mythischen Bewußtseins beginnt mit diesem selbst, sie vollzieht sich aber ›nur ganz allmählich‹, so daß es auch in der hochtechnisierten Gegenwart zu den, den Kulturboden erschütternden, Vulkanausbrüchen der Rückkehr des Mythischen kommen kann.4 Die Metapher der Schwelle der Kulturentwicklung5 läßt auch offen, wieviel vom ›Anfang des Rechts‹ im gegenwärtigen Recht eigentlich noch präsent ist. Aus Gründen, die in Cassirers Theorieanlage verankert sind, kann man sich nie sicher sein, daß die Rechtsentwicklung eine solche Stabilität erreicht hat, um im Bewußtsein durchschrittener Distanz vom positiven Recht entspannt auf die ersten Anfänge zurückzuschauen. Denn die symbolische Rationalität entfernt sich nur in dem Sinne vom Mythos, daß sie auf dessen Boden heranwächst. Abständigkeit und Nähe sind daher gleichwesentliche Bestimmungen – wie in jedem kontinuierlichen Prozeß. Insofern sind Cassirers Bemerkungen in der Philosophie der symbolischen Formen zur Rechtskultur nicht nur beiläufig, sondern ganz auf die Ursprungsfrage ausgerichtet. Das Recht als symbolische Form zu betrachten, erscheint daher als ein Unternehmen, das sich dem Recht gerade nicht ›juristisch‹, sondern von einer äußeren (historischen und kulturanthropologischen) Seite aus nähert. Der Vorwurf, in symboltheoretischer Perspektive komme das Recht nur von seiner zirkushaften Seite in Betracht, ist

3

Ebd. (Hervorhebung MM). Vgl. Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 294. 5 Zur Schwellenmetapher Cassirers vgl. Michael Moxter: »Magie als Schwellenphänomen. Eine Revision der Doppelgängerthese im Licht der Religionsphilosophie Ernst Cassirers«, in: Hans Günter Heimbrock/Heinz Streib (Hg.): Magie. Eine theologische und religionstheoretische Kontroverse um die Kraft des Wortes, Kampen 1994, 227–246; ders.: »Formzerstörung und Formaufbau. Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer«, in: Matthias Jung/Michael Moxter/Thomas Schmidt (Hg.): Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg 2000, 165–182. 4

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darum gegenüber aktuellen kulturtheoretischen Rechtsstudien6 schnell zur Stelle: eine Kultursemiotik mag die rituelle Selbstinszenierung von Gerichten, die Architektur der Gerichtsräume, die Gesten oder die Verwendung von Erhabenheitsformeln, die Richter ›im Namen des Volkes‹ sprechen lassen, untersuchen – wo es dagegen um die Geltung des Rechts und die Entscheidung normativer Konflikte durch Urteilsfindung geht, betritt man erst den eigentlichen Bereich der Rechtslehre. Das Fragezeichen meines Titels bezieht sich also nicht allein auf die Quellenlage innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen, in der es einen Band über das Recht nun einmal nicht gibt, sondern auch auf das systematische Problem, ob nicht jeder Versuch einer Kulturtheorie des Rechts den paradoxen Effekt haben müßte, die juristische Rationalität an Phänomenbereiche zurückzubinden, zu denen die Rechtswissenschaft auf Distanz zu gehen pflegt. Nun muß man aber daran erinnern, daß Cassirer der neuzeitlichen Entwicklung des Rechtsverständnisses und der Begründung unveräußerlicher Rechte bei Leibniz und Kant7 stets besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat und zwar sowohl in seinen historischen Studien wie auch in systematischer Absicht, etwa in seiner Entfaltung der Idee der republikanischen Verfassung. 8 Die Genese des Naturrechts und dessen Transformation in ein allgemeines Vernunftrecht vollzieht sich Cassirer zufolge als »Anwendung der allgemeinen Methodik des Rationalismus auf das Sondergebiet der sittlichen und rechtlichen Probleme«9 und erschöpft sich durchaus nicht in dem Anspruch einer Deduktion vermeintlich übergeschichtlicher Normen. Mag die Aufklärung zunächst mit einer solchen Programmatik operiert haben, die ihr die historische Rechtsschule alsbald als Hypertrophie eines ungeschichtlichen Vernunftanspruchs ankreidet, so ist doch nach Cassirer das Projekt der Aufklärung nicht auf ein solches Vernunftverständnis festgelegt. Entscheidend sei der neuzeitliche Wille, hinsichtlich der »Begründung aller Inhalte des Wissens«10 einheitlich zu verfahren. Nicht das konkrete Paradigma (etwa die Begeisterung für eine Begründungsordnung more geometrico, wie sie bei den Vordenkern der Naturrechtstradition zu

Gerd Roellecke: »Schön ist es, heutzutage auf der Welt zu sein«, in: FAZ vom 1. März 2004, 37; vgl. ders.: »Warum Kultur den Wilden verschlingt«, in: FAZ vom 25. September 2006, 37. 7 Vgl. z. B. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, 403 ff.; ders.: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 359 ff.; ders.: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, 319 ff. 8 Ernst Cassirer: »Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928« (1928), in: ECW 17, 291–307. 9 Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 329. 10 Ebd. 6

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beobachten ist) definiert die Tragweite des Unternehmens. Vielmehr sei der omnipräsente Rekurs auf die Mathematik »Repräsentant eines weiteren Zusammenhangs; […] Symbol für eine schlechthin universelle geistige Funktion«11, im Grunde also nur ein Platzhalter für rationale Verfahren überhaupt. Der Anspruch auf Einheitlichkeit gilt für Cassirer als eigentliche Stärke der Naturrechtstradition und zielt auf eine »immanente Begründung des Rechts«.12 Diese kommt erst in den Transformationen recht zum Zug, die im Übergang vom Rationalismus der Aufklärung zur selbstreflexiven ›Kritik der reinen Vernunft‹ Kants und schließlich zu Cassirers eigener ›Kritik der Kultur‹ führen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß eine kulturphilosophische Behandlung des Rechts im Sinne Cassirers sich nicht auf externe Perspektiven verengt, sondern gerade der Präzisierung der Autonomie des Rechts dienen soll. Das Recht als symbolische Form zu denken heißt nichts anderes als: die Vernunft im Recht mit den Mitteln der Symboltheorie zur Darstellung zu bringen. Es ist darum in der Tat nicht zufällig, daß Cassirers Weiterentwicklung neukantianischer Theoriebildung den rechtsphilosophischen Diskurs früh beeinflußt hat. Sie fand also nicht erst unter den diffusen Bedingungen eines allgemein gewordenen cultural turn das Interesse der Rechtstheorie. Schon Felix Kaufmanns Rechtsphilosophie13 , die unter dem Titel Logik und Rechtswissenschaft 1922 erschien und die Arbeit eines Autors darstellt, der wie Adolf Reinach und Gerhart Husserl im Ausgang von der Phänomenologie die Begründungsfragen der Rechtswissenschaft neu bearbeiten wollte, aber im Unterschied zu beiden Kelsenschüler war, zeigt das. Kaufmann begründet seine eigene Form einer reinen Rechtslehre zunächst mit der von Hermann Cohen übernommenen Überzeugung, nur die Reinheit der Erzeugung verbürge die Vernunft des Rechts. Was an außerrechtlichen Begriffen noch immer in das positive Recht hineinrage, müsse durch konsequente Anwendung der Rechtserzeugung auf das bestehende Recht allmählich abgearbeitet werden. So sei der Begriff des Eigentums kein reiner Rechtsbegriff, sowenig wie der Begriff einer Flasche ein Begriff der Physik sei, nur weil diese Verfahren kenne, um ihr Volumen zu messen. Rechtliche Ausführungen zum Eigentum machten diesen natürlich vorgegebenen Sachverhalt darum noch nicht zu einem Rechtsbegriff. Vielmehr könne als Rechtsbegriff nur gelten, was allein durch die Rechtsnorm bestimmt wird. Folglich sei der Zielpunkt rechtswissenschaftlicher Theoriebildung »die Reduktion der Rechtsbegriffe auf ein ajuristisches Minimum« hin. Kaufmann

11

Vgl. Ernst Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18, 203–227, hier: 206. 12 A. a. O., 208. 13 Felix Kaufmann: Logik und Rechtswissenschaft. Grundriss eines Systems der reinen Rechtslehre, Tübingen 1922.

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nennt diesen Prozeß »in Anlehnung an die Terminologie der Marburger Schule« die »Auflösung der Dinggebenheit in Rechtssatzrelationen« – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ernst Cassirers Losung vom Übergang des Substanz- in den Funktionsbegriff.14 Eine entsprechende Form der Cassirerrezeption findet sich bereits bei Kelsen selbst und begegnet innerhalb der Rechtsphilosophie der zwanziger Jahre auch bei anderen Autoren.15 Sie erklärt sich aus der zeitgenössischen Wahrnehmung, die in Cassirers Ausführungen die avancierteste Theorie des Marburger Neukantianismus erkennt. Natürlich war die weitere Umformung der Philosophie Cassirers in Richtung auf eine Kulturanthropologie symbolischer Formen in den frühen zwanziger Jahren noch nicht absehbar, aber die Erwartung, daß diese für die rechtstheoretischen Diskurse mehr zu bieten habe als allein den Blick auf die mythischen Ursprünge, erscheint nicht unbegründet. Cassirer war in den zeitgenössischen Debatten der Rechtslehre präsent. Die Debatte, die er ausgelöst hat, findet ihr Echo auch im anderen Lager der Politischen Philosophie der Neuzeit, das nicht legitimitätstheoretisch, sondern souveränitätstheoretisch denkt. Nach Carl Schmitt verschiebt sich der Themenkreis öffentlicher Debatten Anfang der zwanziger Jahre gerade im Umkreis der Demokratieerfahrungen vom Recht auf den Staat. Immer deutlicher trete (etwa bei Wolzendorff) der Begriff der Rechtsform im substantiellen Sinn in den Vordergund: »Die Macht der Ordnung an sich wird so hoch bewertet, und die Garantiefunktion ist etwas so Selbstständiges, daß der Staat nicht mehr nur [als] der Feststeller oder ›äußerlich formale‹ Umschalter der Rechtsidee« gedacht werde. Die Form des Rechts zu bestimmen, heißt hier – gegenläufig zum Liberalismus – auf den substantiellen Sinn und das Moment souveräner staatlicher Entscheidung zu achten. Aus dieser Perspektive bleibt die Fokussierung auf die ästhetische Form eines Befehls oder dessen Einbettung in Gesten und Rituale, bloß äußerlich. »Die Verwirrung, die sich in der Philosophie um den Begriff der Form verbreitet, wiederholt sich […] besonders unheilvoll in der Soziologie und der Jurisprudenz. Rechtsform, technische Form, ästhetische Form und schließlich der Formbegriff der transzendentalen Philosophie

14

A. a. O., 127. Vgl. Hans Kelsen: »Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik«, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 2, 1921, 453–510, 464 ff. [wiederabgedruckt in: Hans Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck (Hg.): Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd.1, Wien, 1968]; ders.: »Gott und Staat«, in: Logos, Bd. XI, 1922/23, 261–284, bes. 283. – Wie sehr das Schlagwort von der Auflösung des Substanz- bzw. Dingbegriffs in den Relations- bzw. Funktionsbegriff als Charakteristikum neukantianischer Theoriebildung wahrgenommen die rechtsphilosophischen Debatten organisiert, zeigt sich auch bei Siegfried Marck: Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, 3 f. – Vgl. Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 163 und Coskun: Law as Symbolic Form, 325 f. 15

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bezeichnen wesentlich verschiedene Dinge«.16 Auch in diesem Echo zeigt sich, daß der Denktitel ›Recht als symbolische Form‹ Fragen nach dem Verhältnis von symbolischer Form, Rechtsbegriff und Ordnungsmacht aufwirft. Zur Diskussion steht, ob und gegebenfalls wie die eigentümliche Form des Rechts im Horizont einer Philosophie der symbolischen Formen bestimmt werden kann. Ob eine Philosophie der symbolischen Formen einen Beitrag zu den Grundlegungsfragen leisten kann, entscheidet sich an der Spannung zwischen Geltung und Faktizität, zwischen vernünftigem Gehalt und ordnender Gewalt. Gewiß sind damit weitreichende Fragen angesprochen, aber sie bilden den Horizont für die Analyse des schmalen Textbestandes, dem ich mich im ersten Abschnitt zuwende.

I) Explizit stellt sich Cassirer der Ausarbeitung einer Rechtsphilosophie auf der theoretischen Basis seiner Philosophie der symbolischen Formen Ende der dreißiger Jahre im Zusammenhang seiner Bemühung, im schwedischen Exil heimisch zu werden und also auch an die Ausrichtung der Philosophie anzuknüpfen, die dem Land damals eigentümlich und ihm zuvor unbekannt war. In der daraus entstehenden Veröffentlichung17 verbindet er sein freimütiges Bekenntnis zum eigenen Nachholbedarf mit dem Hinweis auf eine Lücke in seinem Hauptwerk. Darum führt seine Auseinandersetzung mit Hägerström, die das erste Desiderat exemplarisch erfüllt, im vierten Kapitel zur Rechtsphilosophie und zur Ethik und damit zu dem Eingeständnis, daß »es zu einer Darstellung der Rechtsprobleme im Rahmen der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ bisher nicht gekommen ist. Diese Lücke suche ich im Folgenden zu ergänzen«.18 Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift »Recht und Mythos« – was sowohl im Blick auf die in ihm diskutierten Hägerströmtexte wie auch aus der Perspektive der drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen einleuchtet. Will man aber den Eindruck einer ausschließlichen Fokussierung auf das Verhältnis des Rechts zum mythischen Bewußtsein korrigieren, so ist es hilfreich, die beiden Lücken, die Cassirer zu schließen versucht, in ihrem internen Verhältnis zu betrachten. Cassirers erneute Annäherung an die Rechtsphilosophie muß im Horizont dessen betrachtet werden, wovon er kritische Distanz sucht. Nur so lassen sich die Perspektiven extrapolieren, die seine

Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922, 37. 17 Ernst Cassirer: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: ECW 21, 1–116. 18 A. a. O., 82, Anm 1. 16

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Rechtstheorie systematisch leiten. Insgesamt liest sich seine Darstellung als eine behutsame und freundliche, in der entscheidenden Hinsicht aber kritische Demontage der Philosophie Hägerströms, die zugleich die Grundmotive der Philosophie der symbolischen Formen plausibilisieren will. Mit Hägerströms Werk steht Cassirer die Kontrastfolie einer radikalen Metaphysikkritik zur Verfügung, die im Übergang zur praktischen Philosophie nicht nur den stolzen Namen des absoluten Geistes, sondern auch den Begriff des objektiven Geistes aufgibt und damit »den Gordischen Knoten der Metaphysik zerhieb, statt ihn zu lösen«.19 Ihr radikaler Kritizismus zeige sich vor allem darin, daß sie zwar in der theoretischen Philosophie jeden Subjektivismus austreibe, diesem aber in der Praktischen Philosophie im Sinne eines Relativismus letzter Wertsetzungen freien Raum lasse und alle Versuche einer rationalen Begründung der Ethik verabschiede. Gegen die auf diese Weise entstehende geradezu klassische Verbindung von empiristischem Szientismus und praktischem Agnostizismus will Cassirer angehen und dabei an frühere Überzeugungen Hägerströms anknüpfen, mit denen der Autor offenbar inzwischen gebrochen habe: Cassirer will die praktische Realität des Pflichtbegriffs bzw. die objektive Gültigkeit bestimmter Sollensforderungen und die Rationalität der Idee einer äußeren Verpflichtung verteidigen. 20 Die konkreten Ausführungen zum Verhältnis von Recht und Mythos stehen daher im Horizont der abzuwehrenden Behauptung, die quasi-objektiven Ansprüche und Ausdrucksformen in Moral und Recht seien überhaupt nichts anderes als ein Nachleben animistischen Aberglaubens, das Vertrauen in die Rechtsordnung und der Glaube an die verbindende Kraft der Gesetze ließen sich als gegenwärtige Gestalten mythisch-magischer Bindungen beschreiben, deren Macht gerade daraus resultiere, daß sie sich jeder rationalen Explikation widersetzen. Im Gegenzug zu dieser Überzeugung entwickelt Cassirer seine eigene Darstellung der Genese der symbolischen Form des Rechts, die darum im Horizont der Geltungsfrage steht. Es ergibt sich ein Plädoyer für einen Begriff des objektiven Geistes, so daß Cassirer mit dem Rechtsthema auch eine Theorie der Institution, gleichsam die auch empirisch-pragmatisch beschreibbare Daseinsseite symbolischer Rationalität in den Blick nimmt – was sich im bisherigen Gang der Philosophie der symbolischen Formen ja keineswegs von selbst verstand. 21

19

A. a. O., 59. Ebd. 21 Vgl. zur diesbezüglichen Kritik Matthias Jung: »Der Ausdruckscharakter des Religiösen. Zur Pragmatik der symbolischen Formen bei Ernst Cassirer«, in: Hermann Deuser/Michael Moxter (Hg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg 2002, 119–124, hier: 121 f. 20

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Um zum einzelnen überzugehen, ist es m.E. hilfreich, mehrere Argumentationsstrategien Cassirers voneinander zu unterscheiden. Cassirer formuliert zunächst den bedeutungstheoretischen bzw. sinnkritischen Einwand, daß sich unter dem scharfen Instrumentarium der Begriffsanalyse Hägerströms der Realitätsgehalt praktischer Urteile auflöse und in bloße Worte verwandele. Fehlt den Werturteilen eine objektive Basis, so bleiben sie expressive Anmutungen, jedes ›Sollen‹ ist dann als ein kaschiertes ›Wollen‹ zu interpretieren, das mit einem in der Regel aus dem sozialen Verband stammenden ›Müssen‹ verbunden ist. Unter dieser Bedingung werde dem objektiven Werturteil nicht nur rationale Begründbarkeit bestritten, sondern zugleich »jeder faßbare Sinn«22 abgesprochen. Die Differenz zwischen Sollen, Wollen und Müssen werde getilgt. Daß wir etwas tun müssen, besage nur, daß wir einem Zwang unterliegen, im Blick auf den man zwar zwischen äußeren und inneren Aspekten unterscheiden könne, der den Begriff einer Selbst-Verpflichtung aber nicht zulasse. Zwischen eigenem und fremdem Wollen bleibt für ein Sollen bzw. für eine freie Anerkennung einer für den Willen verbindlichen Regel, wie er im Begriff des Sollens liegt, kein Platz. Die zweite Strategie ist damit verwandt. Cassirer meint, es sei »[s]chon rein phänomenologisch« unangemessen, die subjektive Stellungnahme, die ein Werturteil nach Hägerström konstituiert, auf das faktische »Dasein bestimmter Gefühle […] zurückzuführen«. 23 Gerade das typisch subjektive Werturteil hänge nämlich nicht von einzelnen Gefühlen, von hier oder dort auftretenden Stimmungen, sondern »vom Ganzen der ›Persönlichkeit‹, von der Grundrichtung ihres Fühlens und Wollens […] ab«. 24 Das ›Subjektive‹ sei mithin immer schon reichhaltiger bestimmt, als es die Rede vom ›bloß subjektiven Urteil‹ nahelegt und vor allem zuläßt. Es ist mit der Geschichte des Handelnden vermittelt, bildet sich mit und in der Kontinuität seiner Lebenszeit und setzt den Aufbau eines reflexiven Selbstverhältnisses voraus. Schon daß wir überhaupt über moralische Fragen streiten, zeige, daß wir faktisch mehr unterstellen, als der Skeptiker theoretisch zugibt und in der natürlichen Einstellung auch selbst in Anspruch nimmt25 . Man kann in der Einschätzung der Überzeugungskraft dieser Gegenargumente geteilter Meinung sein; interessant wird es m. E. erst auf der nächsten Ebene, auf der ihnen Cassirer eine andere Wendung gibt. Gestritten werde in den alltäglichen praktischen Diskursen nicht nur um adäquate Anwendungen aufgrund gegebener Regeln, sondern zugleich um diese selbst und zwar im Lichte allgemeinerer Prinzipien, die selbst nicht gegeben sind, aber von der Urteilskraft in An-

22 23 24 25

Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 61. A. a. O., 62. Ebd. A. a. O., 63.

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spruch genommen werden. Den praktischen Streit dirigiere eine Einheitsunterstellung, mit der sich ein bestimmter ethischer Wille, ein subjektiver Charakter und eine eigene Folgerichtigkeit im Handeln erst konstituieren. Es sei die Aufgabe, dieses Phänomen zu verstehen und philosophisch zu rekonstruieren – nicht aber es zu leugnen und im Theorieaufbau unsichtbar zu machen. Dieses letzte Argument steht in einer klar definierbaren Beziehung zur Grundlegung der Philosophie der symbolischen Formen. Denn Cassirers Hauptwerk setzt – wie dessen Einleitung klarstellt – voraus, daß die »verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole« insoweit auf die »Aktivität des Geistes« bezogen sind, als »alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten«. 26 Die je eigentümliche Bedeutung dieser Symbolsysteme müsse verstanden27 werden, was nicht am Leitfaden der Abbildung gegebener Gegenstände, sondern nur aus ihrer je anders bestimmten konstitutiven Funktion gelingen könne. 28 Der vorausgesetzte Objektivitätsanspruch darf also in der Tat nicht im Sinne eines naiven metaphysischen Realismus interpretiert werden. Darin stimmt Cassirer mit Hägerström überein. Aber die innere Form der unterschiedlichen Symbolsysteme, die von ihnen jeweils konstituierte Wirklichkeit und also die Explikation ihrer Bedeutung folgt einer Logik, wie sie Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff bei der Diskussion der Regeln von Reihenbildungen entfaltet hat. Nach ihr erkennt man die Regel einer Reihe nicht an einzelnen Reihengliedern für sich betrachtet und findet sie auch nicht immer als unabhängige und vorausgesetzte Konstruktionsregel vor, die nur appliziert werden müßte. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht vielmehr der Fall, in dem das Prinzip der Reihe nicht nach dem Muster eines deduktiven Übergangs vom bekannten Allgemeinen zum Besonderen, sondern rekonstruktiv im Durchgang durch die Reihe erfaßt werden muß. Der Unterschied besteht darin, daß in diesem Fall im Licht des letzten Gliedes einer Reihe die Reihenregel als ganze überhaupt erst prägnant wird. So ist die Reihe »…, 3, 5, 7« noch unbestimmt, weil erst mit der Hinzufügung des nächsten Gliedes identifiziert wird, ob es sich um eine Reihe der ungeraden Zahlen oder der Primzahlen handelt – und solange man das Beispiel einfach hält, ist gut vorstellbar, daß das Hinzutreten weiterer Reihenglieder noch einmal ein anderes Bildungsgesetz zum Vorschein bringen könnte. 29 Mithin entscheidet erst Kontinuierung

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 19. 27 Vgl. a. a. O., 7. 28 A. a. O., 9. 29 Die Reihe »…, 3, 5, 7, 11, 13, 19, 23« folgt der Regel: Bilde die Reihe der Primzahlen und lasse dabei das erste, siebte, vierzehnte Glied aus. 26

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über Identität. Im damit gegebenen Abstand von allen apriorischen Identitätsunterstellungen scheint mir die ursprüngliche Pointe des Übergangs vom Substanz- zum Funktionsbegriff zu liegen. Dem logischen Vorsprung der Funktion vor dem Gegenstand entspricht im zeitlichen Verfahren der Erkenntnis daraus ein Ausgang vom Gegebenen. Dieses ist ein Erstes für uns, das als solches zu substantialistischen Mißverständnissen beiträgt. Die Rolle der Prinzipien besteht gerade darin, in der Weise immer schon angewandt zu sein, daß nur im Ineinander von Prinzip und Gegenstand die konstituierende Funktion rekonstruktiv erschlossen werden kann. Der Logik der Reihe und im übrigen auch der regressiv-rekonstruktiven Eigenart Kantischer Transzendentalphilosophie30 entspricht daher ein methodischer Grundsatz der Analyse symbolischer Sinnsysteme, der ihre Eigenart erst aus der bereits geleisteten Hervorbringung erkennen kann: »Was die theoretische Form selbst ›ist‹, und worin ihre spezifische Bedeutung und Geltung besteht: dies ließ sich, auf dieser Stufe der Betrachtung [sc. der vorausliegenden Stufe eines natürlichen Weltbegriffs, MM], nicht anders als an ihrem Produkt sichtbar machen. Ihre Prinzipien blieben in diesem Produkt gewissermaßen eingeschmolzen – sie wurden nicht in abstracto, nicht losgelöst und ›an sich‹ bestimmt, sondern sie konnten nur an einer bestimmten Ordnung von ›Gegenständen‹, von objektiven Gebilden der Anschauung aufgewiesen werden«.31 Diese Erkenntnisordnung gibt dem Bedeutungswandel eine zentrale Stellung innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen. An der Veränderung zeigt sich die Kraft der inneren Form, die sich nie an einzelnen Fakten, sondern nur als Faktor der Kulturentwicklung identifizieren läßt. Blumenbergs gegen Rothacker gerichtete Bemerkung, die Zeit schleife die Prägnanzen geprägter Formen nicht ab, sondern hole »aus ihnen heraus, ohne daß man hinzufügen dürfte: ›was darin ist‹«32 , charakterisiert die von Cassirer als Arbeit des Geistes beschriebene Veränderungsdynamik gut. Wenn man sich diese für die Grundlegung der Philosophie Cassirers zentralen Überzeugungen in Erinnerung ruft, erkennt man in den Argumenten, die Cassirer gegen Hägerström vorträgt, die mögliche Ausrichtung einer Rechtsphilosophie auf dem Boden der Philosophie der symbolischen Formen: Alles hängt an der These, die Einsicht in die mythischen Ursprünge symbolischer Formen könne noch keinen »Einblick in die Bedeutung der verschiedenen Kulturfunktionen verschaffen«.33 Für die Rekonstruk-

Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akadademie-Ausgabe, Bd. IV, §5, 276 Anm. 31 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 323. 32 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, 79. 33 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 86. 30

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tion des Kultur- bzw. Rechtsbewußtseins komme es vielmehr darauf an, den »im Lauf der Entwicklung« sich vollziehenden »charakteristische[n] Bedeutungswandel« zu erkennen: »es handelt sich dann nicht nur darum, was diese Funktionen, was die Sprache, die Kunst, das Recht ursprünglich gewesen sind, sondern was sie kraft dieses Bedeutungswandels geworden sind«.34 Wesen ist sozusagen nicht, was gewesen ist, sondern was geworden sein wird, sobald man dem immanenten Prinzip der Entwicklung hinreichend Zeit zur Realisierung gelassen hat.35 Den eingetretenen Bedeutungswandel auszublenden und allein auf die Herkunft bzw. die Präsenz der Ursprünge zu schauen, ist in Cassiers Sicht der zentrale Fehler Hägerströms, der es verunmöglicht, dem Sinn der rechtlichen Grundbegriffe gerecht werden zu können. Das Argument deckt sich mit der religionstheoretischen Generalthesis Cassirers, die Religion partizipiere zwar in vielen Dimensionen an den mythischen Bilderwelten, aber diese semantische Nachbarschaft dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Grammatik bzw. die Pragmatik des Bildergebrauchs in der Religion tiefgreifend gegenüber dem mythischen Bewußtsein gewandelt habe. Insofern ist Cassirer mit Hägerström in der Überzeugung einig, das Recht nehme im Mythos den Ausgangspunkt seiner Entwicklung, er bestreitet aber, daß man diesen Sachverhalt als eine Wirkungsgeschichte bloßer Retardierung und als ein Nest von Regressionen angemessen beschreiben kann. Darum ist auch der skeptische Hinweis auf die hier und jetzt faktisch divergierenden moralischen Urteile für Cassirer gerade kein Indikator für die faktische Leistungskraft der Vernunft in Sachen Moral oder Recht. Das Recht als symbolische Form zu betrachten heißt zu allererst: die konstitutive Funktion zu identifizieren, die es für das Zustandekommen der Einheit von Erfahrung hat. Für alle symbolischen Formen gilt ja: »Die Einheit der Form begründet als Einheit der Verknüpfung die Einheit des Gegenstandes«36 , und diese Logik muß sich bewähren, wenn das Recht als symbolische Form begriffen werden soll. Im Blick auf das Recht gilt freilich das Charakteristikum, daß es in ihm nicht um die Einheit von Wahrnehmungen am Leitfaden der Verstandeskategorien geht, sondern um die Einheit von Handlungen37 bzw. um die Einheit der sozialen Erfahrung38 . Das zieht auch eine andere Stellung des Realismusproblems nach

34

A. a. O., 87. Der Gedanke einer immanenten Entwicklung einer Reihe von Erscheinungen, die sich in ihrem letzte Glied manifestiert, bestimmt Cassirers Diskussion der idealistischen Geschichtsphilosophie und ihrer romantischen Verkürzung, vgl. Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 384; 367 f.; 374. 36 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 106. 37 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 93. 38 A. a. O., 95. 35

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sich. Die Frage nach dem realen Gegenhalt von Moral und Recht und mit ihr die Frage nach deren wirklicher Bedeutung für die menschliche Lebenswelt zielt auf die Rekonstruktion einer Ordnung, die sich erst allmählich herausbildet und darum nur rekonstruktiv-prospektiv ermittelt werden kann. Cassirer operiert mit dieser Grundüberzeugung in einer impliziten Nachbarschaft zu Ernst Troeltschs Leitthese, Wesenserkenntnis sei nur als Wesensgestaltung möglich. 39 Um es zugespitzt zu formulieren: Den Bedeutungswandel des Rechts angemessen zu rekonstruieren, heißt bereits: die rechtliche Sphäre auf bestimmte Weise zu gestalten, nämlich im Sinne genau der Prinzipien, die den Wandel als vernünftigen Wandel darstellbar machen. In diesem Sinne verschiebt Cassirer die Frage nach einer objektiven Begründung moralischer oder rechtlicher Normen auf die Frage nach den Prinzipien der Entwicklung, die das Handeln des animal symbolicum bereits stabilisiert haben und zukünftiges Handeln möglich machen. Der Begriff des Rechts ist nichts anderes als eine »logische Ordnungsform«40 , die ihre Legitimität gerade aus der Leistung gewinnt, die sie für die Sphäre menschlicher Handlungen faktisch hat. Werden also die menschlichen Angelegenheiten unter dem Begriff des Rechts betrachtet, so entsteht eodem actu eine neue Bedeutungsdimension. Es ist der Preis jeder naturalistischen Betrachtung, sich zu ihr immer nur reduktionistisch verhalten zu können. Es zeigt sich also, daß Cassirer unter der Überschrift »Recht und Mythos« nicht nur die Ursprünge des Rechts diskutiert, sondern den Objektivitätsbegriff seiner Philosophie der symbolischen Formen ausformuliert. Das Recht als symbolische Form zu betrachten, ist deshalb kein Denktitel, der symboltheoretische Nebenschauplätze der Rechtssphäre aus kulturanthropologischer Perspektive beschreibt. Im Gegenteil handelt es sich um einen Theorievorschlag, der auf eine transformierte Gestalt metaphysischer Anfangsgründe der Rechtslehre zielt.

39

»Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung. Sie ist Herausarbeitung der wesentlichen Idee des Christentums aus der Geschichte so, wie sie der Zukunft leuchten soll […] Die jeweilige Wesensbestimmung ist die jeweilige historische Neugestaltung des Christentums«. (Ernst Troeltsch: Was heißt »Wesen des Christentums?, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, NA Aachen 1962, 386–451, 431. 40 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 95.

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II) Unter den von Cassirer beschriebenen Phänomenen im Umkreis von Mythos, Religion und Recht, von fas und ius, verdient das Verhältnis von Recht und Sprache besondere Aufmerksamkeit. Im Zentrum steht dabei die These, das Recht entringe sich »der unbedingten Herrschaft des Mythos«, indem es »umso stärker unter die Herrschaft einer anderen Macht: unter die Macht der Sprache«41 gerate. Dieser Machtwechsel wird als Schritt in die Freiheit und Autonomie des Rechts begriffen. Er vollzieht sich in Nachbarschaft zur Versprachlichung des Sakralen als Positivierung des Rechts. Die mythisch-religiöse Bindung lockert sich in dem Maße, in dem »die Verkündigung«42 des Rechts beginnt – zunächst im ausgesprochenen und insofern ausdrücklich werdenden Gebot oder Verbot, dann in deren schriftlicher Fixierung. Mit der vollständigen Positivierung des geltenden Rechts entstehen schließlich sozusagen autoreferentielle Formen der Entwicklung von Recht, also Verfahren der Gesetzgebung. In Entsprechung zu den in Cassirers Sprachphilosophie vorgesehenen unterschiedlichen Phasen entwickelt sich also auch das Recht vom bloßen Ausdruck über die Darstellung zur (selbstreflexiven) Bedeutung. Während der Mythos Einheitsstiftung durch die Kraft des Bannes stiftet, wird mit der Versprachlichung der sozialen Bindekräfte zugleich »ein[] neue[r] Weg der Objektivierung beschritten«43 . Den Prozeß der Versprachlichung denkt Cassirer als Verflüssigung starrer, gleichsam ritualisierter Formeln und als Überführung diffuser sozialer Ansprüche in einen klaren propositionalen Gehalt. Mit der Bestimmtheit des sprachlichen Ausdrucks eröffnet sich folglich eine andere Wirklichkeit. Der soziale Zusammenhalt vermittelt sich in der Folge über Richt- und Urteilssprüche, die über eine Vielzahl von Fällen entscheiden und die als (sprachliche) Sätze (zu rechtlichen) Satzungen werden. Die Positivität des Rechts wird mithin als dessen bestimmtheitsgenerierende Seite gedacht. Rechtspositivierung ist keineswegs bloß äußere Einkleidung eines zuvor schon bestehenden Anspruchs, der sozusagen nur ›ausgedrückt‹ oder abgebildet würde. Auch hier gilt vielmehr wie für das Verhältnis von Sprache und Denken insgesamt: Artikulation führt Unterschiede ein und ermöglicht so erst Objektivität und Bestimmtheit. Dem entspricht die

41

A. a. O., 99. Ebd. – Es mag Zufall sein, daß Cassirer diesen Begriff wählt und nicht terminologisch klarer von ›Verkündung‹ des Rechts spricht. Gerade so bringt er aber den Zusammenhang zwischen Religion und Recht in der Differenz zum Mythos und in Nachbarschaft zur Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs zur Geltung. 43 Ebd. 42

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theoretische Funktion der Sprache, die nicht den fertigen Gegenständen Zeichen umhängt, sondern die Grenzen zieht und Verknüpfungen allererst ermöglicht.44 Im Blick auf die praktische Wirklichkeit und also auf die Sphäre menschlicher Handlungen ergibt sich freilich eine neue, bereichsspezifische Rolle der Sprache, die in ihrer performativen Funktion gründet. Cassirer denkt die Funktion der Sprache für die Rechtsentwicklung und die Konstitution sozialer Einheit aus ihrer zeitlichen Dimension: »Das ›Sprechen‹ soll nicht einfach einen hier und jetzt gegebenen Tatbestand festhalten und als solchen zum Ausdruck bringen, sondern es richtet sich auf die Zukunft: Es wird zum ›Versprechen‹«.45 Cassirer operiert damit in Nachbarschaft zu Adolf Reinachs einschlägiger Vorwegnahme der Sprechakttheorie, wie sie in dessen Buch Zur Phänomenologie des Rechts. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts von 1913 erkennbar wird.46 Schon einige Jahre vor seiner Auseinandersetzung mit Hägerström hat Cassirer den zentralen Gedanken in seinem Vortrag »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« entwickelt. Nicht der natürliche Trieb zur Vergemeinschaft mache die Eigenart der menschlichen Gesellschaft aus, vielmehr sei der Mensch als das animal symbolicum zugleich »das Tier […], das versprechen kann«.47 Während das animalische Leben soziale Formen um der Selbsterhaltung willen ausbilde, bestehe das Novum menschlichen Lebens darin, daß der Mensch seinem »Leben eine feste und dauernde Form gibt, daß er es in der Idee des Rechts als einer bindenden und verpflichtenden Norm, sich selbst objektiv und sich selbst bewußt macht«.48 Die Sprache, die nicht mehr wie im magischen Wort des mythischen Bewußtseins durch den Bann Einheit herstellt oder Exklusion aus der Gemeinschaft erzwingt, sondern »bindet«, bahnt so den menschlichen Handlungen eine neue Richtung. Im Versprechen wird die Bindung zur freien Selbstverpflichtung, und damit wird eine neue Stufe sozialen Lebens erreicht. Insofern zählt Sprache zu den »Quellen, aus de[nen] das ›Rechtsbewußtsein‹ fließt«.49 Was 1932 im Hamburger Vortrag über das Naturrecht noch im Zusammenhang einer

Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 251. Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 100. 46 Vgl. Kevin Mulligan (Hg): Speech Act and Sachverhalt. Reinach and the Foundations of Realist Phenomenology, Dordrecht u. a. 1987; Armin Burkhardt: Soziale Akte, Sprechakte und Textillokutionen. Reinachs Rechtsphilosophie und die moderne Linguistik, Tübingen 1986. 47 Zur Aufnahme Nietzsches durch Cassirer vgl.: Ernst Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18, 223. – Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. VI/2, Berlin/New York, 257–430, bes.: 307. 48 Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts«, ECW 18, 223. 49 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 100. 44 45

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Grotius-Paraphrase dargelegt wird, macht Cassirer 1939 in Schweden zu seinem eigenen Argument. 50 Man kann den Gedankengang so zusammenfassen: Der Anteil der Rechtsentwicklung an der Rationalisierung der Kultur geht mit ihrer sprachlichen Gestalt und näherhin mit der Positivierung des Rechts einher. Die Kraft der Versprachlichung treibt aus den sakral-mythischen Gestalten heraus und eröffnet im Ursprung des Rechts mit der Distanz zum Mythos zugleich einen Sinn für die Zukunft: »Solange der Mensch einfach in der Gegenwart lebt und in seinem Tun lediglich der Gewalt der gegenwärtigen Eindrücke unterliegt, kann es für ihn zwar etwas wie eine Bindung an Brauch und Sitte geben […] aber der Gedanke einer Rechtsordnung […] entsteht erst, wenn das Denken sich dazu erhebt, das hier und jetzt Gesetzte über den einzelnen Moment der Setzung zu erweitern und es, im Prinzip, über die Zukunft auszudehnen […] Das Recht als Kulturfaktum beruht auf dieser Antizipation, auf der Vorwegnahme der Zukunft in der Gegenwart«. 51 Wer Hermann Cohens Ausführungen über die Genese des zeitlichen Bewußtseins aus der messianischen Verheißung der Prophetie in Erinnerung hat52 , sieht in diesen Ausführungen Cassirers noch unausgelotete Dimensionen im Verhältnis von Religion und Recht. Hinsichtlich der zeitlichen Strukturierung expliziert Cassirer das Versprechen als eine prospektive Ausrichtung, die neben der vergangenheitsbezogenen Erinnerung und neben der präsentischen Wahrnehmung für die Einheit des Bewußtseins unabdingbar ist. Insofern der Wille als Rechtswille bzw. das Sprechen in Gestalt des Versprechens zukünftige Tätigkeiten bindet, wird er zu einer eigentümlichen Form der Bestimmung des Unbestimmten, die eine konstitutive Funktion in der Philosophie der symbolischen Formen erhält, ja im Grunde zu den Bedingungen der Möglichkeit der Kultur und damit des wirklichen Selbstbewußtseins zu rechnen ist. 53 Angesichts dieser weitreichenden Behauptungen wundert es also nicht, daß Cassirer seine Ausführungen zum Recht als Transformation einer transzendentalen Überlegung präsentiert.

50

Axel Hägerström geht dagegen von einer ursprünglichen Verbindung zwischen Versprechen und sakralem Akt im römischen Recht und einer vollständig gewandelten naturrechtlichen Deutung aus, die eine Willenstheorie dem Recht zugrundelegt und in der Idee des Versprechens eine (irrationale) mystische Grundlage in Anspruch nimmt. – Vgl. Axel Hägerström: Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages nach römischer und naturrechtlicher Anschauung (1934), hg. von Karl Olivecrona, Uppsala 1965, 30, 74. 51 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 101 f. 52 Vgl. Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919; Nachdruck der zweiten Auflage, hg. von Bruno Strauss, Wiesbaden 1978 (=1929), 290 ff.; 305 mit: »Diese Kraft der Antizipation der Zukunft ist überhaupt die Kraft des Zeitbewußtseins« (435). 53 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 105.

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Die symbolische Form des Rechts hat im Gefüge der symbolischen Formen freilich erst dann eine wesentliche Stellung, wenn eine prägnante Funktion identifiziert werden kann, die sie unvertretbar erfüllt. Dies ist auch der Fall. Allein im Recht werden eine Handlung (das gegebene Versprechen) und das »Nichtgegebene[] Zukünftige[]«54 unter der Einheit einer Regel verbunden. »[D]ie Möglichkeit, daß eine hier und jetzt getroffene Entscheidung über den Einzelfall hinauswachsen, daß sie künftige Fälle ›präjudizieren‹ kann«,55 und mit ihr die Eigenart des Gesetzes, kann nur verständlich gemacht werden, weil die prospektive Dimension in der Intentionalität des (Kultur-)Bewußtseins unhintergehbar ist. Insofern er dies zur Geltung bringt, betrachtet Cassirer das Recht nicht allein unter der Perspektive, welche Anfänge in ihm repräsentiert sind. Vielmehr macht er deutlich, daß menschliches Bewußtsein nur unter der Bedingung etwas repräsentiert, daß es selbst zeitlich verfaßt und darin wesentlich auf Zukunft bezogen ist. Kurz: Keine Repräsentation ohne Zeitlichkeit; Zeitlichkeit aber nur unter dem Primat der Zukünftigkeit, in der die Idealität der rationalen Bestimmung gründet. Cassirers Erweiterung der Kritik der reinen Vernunft zu einer an der Mehrdimensionalität symbolischer Formen orientierten Kritik der Kultur sucht die synthetischen Leistungen im Aufbau der Erfahrung nicht allein in Kategorien oder Verstandeshandlungen, sondern spricht in umfassenderem Sinne von konstitutiven ›Tätigkeiten‹. Das ermöglicht es ihm, auch den Rechtsbegriff in eine transformierte Gestalt der Transzendentalphilosophie einzubeziehen. Hägerströms skeptischen Realismus, der im Recht nichts anderes als ein Konglomerat aus Macht, Furcht, Interesse und archaischen Einheitswünschen entdeckt, führt Cassirer – wenn ich richtig sehe – dazu, erneut die kantisch-transzendentalphilosophische Ausgangsposition seiner Kulturphilosophie zu akzentuieren. Mit der Ausarbeitung der Rechtsphilosophie tritt neben »die Einheit von Wahrnehmungen« die Einheit von Handlungen: »Die Rechtsbegriffe haben die gleiche Aufgabe der ›Synthesis‹ zu vollziehen, aber ihre Einheitsbildungen haben einen ganz anderen Charakter, da sie sich nicht auf eine Einheit von Wahrnehmungen, sondern von Handlungen beziehen«.56 Man begreift die systematische Absicht, die freilich keine vollständige Ausarbeitung gefunden hat, und man fragt sich, ob mit dieser Integration von theoretischer und praktischer Philosophie das Cassirersche Theorieprogramm nicht einen Fluchtpunkt erhält, der es in eine größere Nachbarschaft zu Fichtes Transformation kantischer Transzendentalphilosophie gebracht hätte. Recht wird zur Bedingung der Mög-

54 55 56

A. a. O., 104. Ebd. A. a. O., 93.

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lichkeit eines Selbstbewußtseins, das theoretische Erkenntnis haben und eine gemeinsame Welt mit anderen teilen kann.57

III) Zeigt sich an der Verknüpfung mit der Rechtsphilosophie Kants und Fichtes der historische Horizont, in dem Cassirer den Denktitel ›Recht als symbolische Form‹ verankert, so sollen nun abschließend im Zusammenhang aktueller Diskussionen zwei Leitbegriffe besonders betrachtet werden: einerseits noch einmal der Objektivitätsbegriff, andererseits der Begriff der Repräsentation. Beide sind natürlich nicht unabhängig von einander, sondern implizieren sich als unverzichtbare Bestimmungen der Grundbegriffe einer Philosophie der symbolischen Formen wechselseitig. Cassirers zentrale Definition des Begriffs der symbolischen Prägnanz: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt«58, stellt auf die Untrennbarkeit von Sinn und Sinnlichkeit ab, die den Begriff der symbolischen Form durchgängig auszeichnet: immer geht es in ihm um die Korrelation von ›Sinnlichem‹ und ›Geistigem‹, die sich auf keiner Stufe der Kulturdynamik in einseitige Abhängigkeit auflösen läßt.59 Die Definition rekapituliert darum zugleich die Perspektive, mit der sich die Philosophie der symbolischen Formen von einem naiven Realismus, dem Sensualismus oder einem Positivismus der Empfindungsdaten abgrenzt. Objektivitätsansprüche sind nur unabweisbar, insofern das Gegebene immer schon durch Bedeutungsgebung und also auch durch Sinnüberschüsse gegenüber dem bloßen Datenmaterial bestimmt ist. In der These einer unhintergehbaren subjektiven Sinnsetzung in jedem Bezug auf Gegenstände liegt die Nachbarschaft von Cassirers Bewußtseinstheorie zu Husserls Intentionalitätsbegriff60 und die beide verbindende Abwehr des Positivismus. Fragen wir also, wie sich das symboltheoretische Objektivi-

57

Darin liegt die Pointe der Deduktion des Begriffs vom Rechte, die Johann Gottlieb Fichte 1796 im ersten Hauptstück der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre gibt (vgl. in: Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, Bd. III, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845, 1–385, 7 ff.). – In Freiheit und Form gipfelt die Darstellung des Verhältnisses von ›Freiheitsidee und Staatsidee‹ in Fichtes Rechtsphilosophie, der gegenüber Schelling und Hegel der Vorzug gegeben wird (vgl. Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 354–366; 385). Die zentrale Stellung Fichtes wird weder bei John Michael Krois, Birgit Recki noch Deniz Coskun (s. Anm. 1) berücksichtigt. 58 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 231. 59 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 299 f. 60 Vgl. Michael Moxter: Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000, 115–127.

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tätsverständnis im Zusammenhang der Rechtslehre auswirkt, konkret: nach Cassirers Verhältnis zum Rechtspositivismus. Das Moment der Sinnlichkeit, das zu jeder symbolischen Form in unterschiedlichen Modifikationen gehört, erscheint als Positivität des Rechts und diese ist (wie in allen anderen Korrelationen von Sinn und Sinnlichkeit auch) das Medium und Organ der weiteren Formentwicklung. Angesichts der vollständigen Kodifizierung des Rechts im Prozeß der (kontinentaleuropäischen) Modernisierung drängt sich der Eindruck auf, mit der Durchsetzung des positiven Rechts würden alle Reste des alteuropäischen Naturrechts aus der »heutige[n] Gestalt der Rechtswissenschaft und des Rechts« 61 systematisch ausgeschlossen. Mag das neuzeitliche Naturrecht für den Prozeß der Verselbständigung des Rechts von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein, so gilt aufs Ganze gesehen doch die Feststellung: »Das Gerüst durfte und mußte abgetragen werden, nachdem der Bau errichtet war«. 62 Ihr entspricht die sich aus dem begrifflichen Aufbau der Philosophie Cassirers nahelegende Frage, ob der Übergang in die reine Bedeutungsphäre63 im Bereich des Rechts nicht gerade dort erreicht wäre, wo mit der Autonomie und der autopoietischen Struktur des Rechts alle noch an externe Voraussetzungen, an vorgegebene Unmittelbarkeiten gebundene Vorstellungen, und so auch die moralische Idee einer natürlichen Gerechtigkeit, funktionslos werden. Cassirer diskutiert diese Frage, um sie sowohl aus prinzipiellen Gründen wie auch aufgrund konkreter rechtsphilosophischer Erwägungen zu verneinen. Unter der Voraussetzung des Theorems der symbolischen Prägnanz stellt sich die sinnliche Seite des Rechts als dessen Gesetztsein und Durchsetzbarkeit und also in den Momenten der Entscheidung und des Zwangs dar. Zur »Form des Rechts« 64 gehört Erzwingbarkeit. Normen sind überhaupt nur rechtliche Normen, wenn sie mit konkreter Geltung und d. h. mit Rechtskraft ausgestattet sind. 65 Zugleich aber ist gegenüber soziologischen oder realistischen Rechts- und Machttheorien, die diese Seite zum einzigen Fokus einer Analyse des Rechts machen, derselbe Einwand zu erheben, den Cassirer gegenüber dem Sensualismus formuliert: sie operieren »symbolblind« und »eben damit auch wahrnehmungsblind«. 66 Dem Begriff der symbolischen Prägnanz entspricht rechtstheoretisch die Doppelseitigkeit von unver-

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Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts«, ECW 18, 215. Ebd. 63 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 326 mit ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 128. 64 Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 363. – Der Begriff »Form des Rechts« ist älter als der Begriff der symbolischen Form. 65 Vgl. Gerhart Husserl: »Recht und Welt« (1929), in: ders.: Recht und Welt. Rechtsphilosophische Abhandlungen, Frankfurt/M. 1964, 67–114, hier: 83. 66 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 220. 62

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zichtbarer Positivität und zurückgewiesenem Positivismus. Man kann sie durch die Formel beschreiben: Rechtssetzung enthält immer schon mehr, als im bloßen Akt der Positivierung liegt. Wie jedes einzelne Sinnesdatum im Zusammenhang der Wahrnehmung bzw. der Erfahrung und wie alles Gegebene im Horizont von Bedeutungen steht, so hat auch das positive Recht seinen Horizont eines Sinnüberschusses. Als bloß positives Recht wäre Recht »überhaupt kein Recht«. 67 Cassirers Rechtsphilosophie hat ihre Pointe daher in der Aufgabe, Positivität und Bedeutungshorizont in der Explikation des Rechtsbegriffs gleichursprünglich zur Geltung zu bringen. Wenn er im Blick auf die Krisenlagen seiner Gegenwart die »Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit« des Positivismus des 19. Jahrhundert für überwunden erklärt und die Gesinnung zu stärken versucht, aus der Grotius ein allgemeines Völkerrecht forderte, scheint er auf bloßen Idealismus bzw. auf Moralappellation zu setzen. Sieht man indes genauer hin, dann zeigt sich, daß er zwischen positivem Recht und mitgesetzter Bedeutung in einem Sinne unterscheidet, der durch Dworkins Hinweis auf die gerade in Rechtsnormen gegebenen Rechtsprinzipien68 systematisch interpretiert und rekonstruiert werden könnte. Cassirer erklärt: »Das Meiste und Beste, vielfach das eigentlich Entscheidende, entnehmen wir nicht den geschriebenen Rechtssätzen, sondern wir folgern es unmittelbar aus den für das Rechtsgebiet maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien, aus dem Wesen der Institute, aus den Legitimitätsvorstellungen der Zeit und der Gemeinschaft, in denen wir leben«. 69 Während man in diesem Zitat den Hinweis auf das Gerechtigkeitsprinzip auch im Sinne eines Primats des Moralischen auslegen und die Legitimitätsvorstellung der Gemeinschaft als korrumpierbare Größe betrachten kann, hat der Hinweis auf die Institutionen einen anderen Charakter. Diese gehören dem Gebiet des Rechts selbst an und enthalten ihren Überschuß gegenüber den expliziten Normen und Rechtssätzen auf immanente Weise. Den expliziten Rechtssätzen treten – so möchte ich den Zusammenhang interpretieren – die durch sie hervorgebrachten Anerkennungsverhältnisse gegenüber.70 Folgt man dieser These, so eröffnet sich aus dem entfalteten Begriff der symbolischen Form die Schnittstelle für eine Theorie des objektiven Geistes. Auch wird unter dieser Voraussetzung die

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Um eine Formulierung von Liebrucks aufzugreifen: Bruno Liebrucks: »Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel«, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, hg. von Manfred Riedel, Frankfurt/M. 1975, 13–51, hier: 24. 68 Vgl. Ronald Dworkin: Taking Rights seriously (dt.: Bürgerrechte ernstgenommen), Frankfurt/M. 1984, 54 ff., 130 ff. 69 Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), ECW 18, 225. 70 Die Unterscheidung von Rechtssatz und Rechtsverhältnis stammt aus Cassirers Fichtedarstellung, vgl. Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 359. Von ihr aus wäre auch das Rechtsprinzip der Gerechtigkeit zu entfalten.

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Möglichkeit einer Kritik des positiven Rechts erkennbar, die gerade nicht aufgrund rechtsexterner moralischer Prinzipien oder aufgrund politischer Interessen, sondern in Extrapolation der rechtlichen Wirklichkeit erfolgt. Kurzum: gerade der Vorrang des Rechts vor der Moral schließt das Wissen ein, sich »niemals beim geschriebenen Recht allein beruhigen« zu können. 71 Ein auf die Spitze getriebener, im obigen Sinne des Wortes symbolblinder, Rechtspositivismus wäre für Cassirer der präzise Ausdruck jener Form immanenter Totalisierung, die bei allen symbolischen Formen auftreten kann72 und die Konflikte der Kultur hervortreibt. Dies führt zu der zweiten Bemerkung. Am Verhältnis von Recht und Mythos bzw. von Recht und Religion hängt immer auch diejenige Präsenz von Gewalt, die seit Walter Benjamin als die andere Seite auch des Rechts identifiziert wird: als Gewalt, die nicht nur Kantische ›Befugnis zu zwingen‹ also nicht nur Abwehr des Unrechts ist, sondern Inbegriff souveräner Entscheidung und Verfügung über das Leben. 73 Die Präsenz der Gewalt in den kulturellen Formen ist ein Moment ihrer Gewaltabwehr. 74 Cassirers Beschreibung des Mythischen als einer »Urschicht alles Bewußtseins«75 legt vor diesem Hintergrund den Gedanken nahe, im Recht bzw. im Kulturbewußtsein repräsentiere sich die mythische Gewalt in ähnlicher Weise, wie das Unbewußte nach Freud seine Repräsentanzen im Bewußtseinsleben hervortreibt. Entsprechend läßt sich für das Gefüge der Kultur sagen: Recht kann nur um den Preis an die Stelle mythischer Gewalt treten, daß es selbst Gewalt einbindet, bereithält und – wenn nicht ausübt, so doch – symbolisiert. Es handelt sich bei solchen Überlegungen um eine Erweiterung des Symbolbegriffs, die man auch als Verschiebung des Repräsentations- auf den Repräsentanzbegriff beschreiben kann. 76 Auf andere Weise akzentuiert auch Ulrich Haltern unter dem Titel Recht als symbolische Form Cassirers Grundbegriff neu, indem er Repräsentation und Inkarnation verknüpft. Haltern interpretiert den modernen Verfassungsstaat vor der Folie der römischen Kirche (also in Anschluß an Carl Schmitt und gemeinsam mit Paul W. Kahn) als säkularisierten »Staat der Transsubstantiation und des Wunders«77, woran sich die religiöse Ein-

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Cassirer: »Vom Wesen und Werden des Naturrechts«, ECW 18, 227. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 10 f. 73 Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders.: Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt/M. 1991, 179–203; Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. 74 Vgl. Dietrich Harth: »Literatur und Terror«, in: Jan Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Konflikt, Frankfurt/M. 1990, 345–372. 75 Cassirer: Axel Hägerström, ECW 21, 81. 76 Vgl. zum Begriff Sigmund Freud: »Die Verdrängung«, in: ders.: Das Ich und das Es. Und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt/M. 1988, 61–67, hier: 62 f. 77 Ulrich Haltern: »Unsere protestantische Menschenwürde«, in: Petra Bahr/ Hans Michael Heinig (Hg.): Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. 72

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bettung allen Vertrauens auf das Recht zeige. Haltern diagnostiziert eine Krise im Rechtsverständnis, die aus dem Schwund von präsentischer souveräner Macht zugunsten bloßer Repräsentation (auch das ein Übergang von der Substanz zur Funktion) resultiere. Beide hier nicht weiter diskutierbaren kulturtheoretischen Perspektiven auf das Recht bringen Voraussetzungen zur Geltung, gegenüber denen sich Cassirers Verständnis von Repräsentation vergleichsweise karg ausnimmt. Nicht die Re-Präsentation des Heiligen im Politischen Körper bildet das entscheidende Paradigma seiner Symboltheorie des Rechts und auch nicht eine Repräsentation, die im Grunde Durchbruch des Wilden in den Ordnungen ist, sondern derjenige Grundbegriff, der von Leibniz zu Kant und Fichte führend als Repräsentation der Menschheit im Einzelnen gedacht wird, dominiert Cassirers Leitbegriff. Schon in seiner frühen Schrift Freiheit und Form bindet er den Repräsentationsbegriff an den Begriff der Regel und mit ihm an die Repräsentation des Einzelnen im Allgemeinen. Wie auch immer es um die Genese der Gesetzgebung stehen mag, ihre praktische Bedeutung bewähren Gesetze nur unter der Bedingung, daß sich die Individuen in ihnen nicht nur als Objekte, sondern als Subjekte des Rechts wiedererkennen können: »Wie im Sittlichen die freie Persönlichkeit in dem allgemeinen Gesetz, dem sie sich unterwirft, nur die Notwendigkeit ihres ›Selbst‹ wiederfindet: so muß ein Volk den gesetzlichen Willen, der es bindet, als den eigenen zu erkennen imstande sein«. 78 Wie in Cassirers Philosophie durchgängig, gilt auch hier, daß sich Können oder Nicht-Können, und damit auch Zustimmung oder ihre Verweigerung, nicht an der Herkunft, sondern allein an der Fortbestimmung entscheidet, an den zuvor noch nicht erschlossenen, aber in geschichtlichen Situationen prägnant werdenden Möglichkeiten vernünftiger Selbstbestimmung.

Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, Tübingen 2006, 93–124, hier: 94. 78 Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 342.

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Literaturverzeichnis Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: ders.: Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt/M. 1991 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979 Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 1 – Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7 – Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – »Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928« (1928), in: ECW 17 – »Vom Wesen und Werden des Naturrechts« (1932), in: ECW 18 – Axel Hägerström. Eine Studie zur Schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in: ECW 21 – The Myth of the State (1946), in: ECW 25 Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919, Nachdruck der zweiten Auflage, hg. von Bruno Strauss, Wiesbaden 1978 (=1929) Deniz Coskun: Law as Symbolic Form. Ernst Cassirer and the Anthropocentric View of Law, Dordrecht 2007 Ronald Dworkin: Taking Rights seriously (dt.: Bürgerrechte ernstgenommen), Frankfurt/M. 1984 Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, Bd. III, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845 Sigmund Freud: Die Verdrängung, in: ders.: Das Ich und das Es. Und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt/M. 1988 Axel Hägerström: Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages nach römischer und naturrechtlicher Anschauung (1934), hg. von Karl Olivecrona, Uppsala 1965 Ulrich Haltern: »Unsere protestantische Menschenwürde«, in: Petra Bahr/Hans Michael Heinig (Hg.): Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, Tübingen 2006 Dietrich Harth: »Literatur und Terror«, in: Jan Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Konflikt, Frankfurt/M. 1990 Gerhart Husserl: »Recht und Welt« (1929), in: ders.: Recht und Welt. Rechtsphilosophische Abhandlungen, Frankfurt/M. 1964

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Matthias Jung: »Der Ausdruckscharakter des Religiösen. Zur Pragmatik der symbolischen Formen bei Ernst Cassirer«, in: Hermann Deuser/Michael Moxter (Hg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg 2002 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1903/11 Felix Kaufmann: Logik und Rechtswissenschaft. Grundriss eines Systems der reinen Rechtslehre, Tübingen 1922 Hans Kelsen: »Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskri tik«, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 2, 1921 (wiederabgedruckt in: Hans Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck (Hg.): Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd.1, Wien 1968) – »Gott und Staat«, in: Logos, Bd. XI, 1922/23 John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/Conn. u. a. 1987 Bruno Liebrucks: »Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel«, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, hg. von Manfred Riedel, Frankfurt/M. 1975 Siegfried Marck: Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen, 1925 Michael Moxter: »Magie als Schwellenphänomen. Eine Revision der Doppelgängerthese im Licht der Religionsphilosophie Ernst Cassirers«, in: Hans Günter Heimbrock/Heinz Streib (Hg.): Magie. Eine theologische und religionstheoretische Kontroverse um die Kraft des Wortes, Kampen 1994 – »Formzerstörung und Formaufbau. Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer«, in: Matthias Jung/Michael Moxter/Thomas Schmidt (Hg.): Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg 2000 – Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000 Kevin Mulligan (ed.): Speech Act and Sachverhalt. Reinach and the Foundations of Realist Phenomenology, Dordrecht u. a. 1987; Armin Burkhardt: Soziale Akte, Sprechakte und Textillokutionen. Reinachs Rechtsphilosophie und die moderne Linguistik, Tübingen 1986 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. VI/2, Berlin/New York Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004 Gerd Roellecke: »Schön ist es, heutzutage auf der Welt zu sein, in: FAZ vom 1. März 2004 – »Warum Kultur den Wilden verschlingt«, in: FAZ vom 25. September 2006 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922 Ernst Troeltsch: »Was heißt »Wesen des Christentums?««, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tbingen 1913, NA Aachen 1962

Fünfter Teil Fragen des Stils?

Roger H. Stephenson Ernst Cassirers Stilbegriff zwischen Philosophie und Literatur*

Works of art are no mere realistic representations; they are symbolic forms, expressive of a way in which the artist has felt and perceived his subject. (Dorothy Emmet)

Als Cassirer ›die Ambivalenz seines frühen Schreibens‹ hinter sich zu lassen begann, blieb die ›symbolische Prägnanz‹ der ›expressiven‹ Symbolik – der originellste Aspekt von Cassirers Theorie1 – der fundamentale Gedanke seiner gesamten Theorie. Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten, wie etwas Sinnliches zum Bedeutungsträger werden könne, entwickelte Cassirer eine Theorie der Symbolik, die in all ihren wichtigen Aspekten den Schlüssel-Vorstellungen Goethes und Schillers bemerkenswert nahe kommt. Das Leib-Seele-Verhältnis ist für Cassirer (wie für Goethe – und Herder) der Prototyp der Symbolisierung: Der Körper ist (wie für Goethe und Alfred North Whitehead) ›der Sitz der Bedeutung‹.2 In teilweiser Anlehnung an die Gestalt-Psychologie (die ihrerseits tief in Goethes und Schillers Schuld steht) entwickelt Cassirer eine generelle Theorie des Bildes im ursprünglichsten Sinne, der wahrnehmbaren Gestalt, in kaum ins etwa Englische zu übersetzenden Ausdrücken, die stark an Schillers Formulierung der ›lebendigen Form‹ des ästhetischen Symbols erinnern: »[…] die spezifische Besonderung der Prägnanz begründet und ermöglicht erst die spezifische Verschiedenheit der ›Gestalten‹; alle Vergegenwärtigung ist immer Vergegenwärtigung in einem bestimmten Sinne.«3

* Dieser Aufsatz ist ein Resultat des ›Arts-and-Humanities-Research-CouncilLargeResearch Projekts‹, das 2002–07 im Centre for Intercultural Studies an der Universität Glasgow unternommen wurde. Der Titel des Projekts lautet »Ernst Cassirer’s Conception of Cultural Study«, und seinen Schwerpunkt könnte man wohl als »Whatever Happened to Weimar Classicism?« (etwa »Sag’ mir, wo die Weimarer Klassik ist?«) bezeichnen. 1 John Michael Krois: »Cassirer’s ›Prototype and Model‹ of Symbolism: Its Sources and Significance, in: Science in Context 12, 1991, 531–547, hier: 534 und 543. Krois bemerkt, daß »die Idee der ›Prägnanz‹ und des ›prägnanten Augenblicks‹ in der deutschen Literaturtheorie, bei Lessing, Herder und Goethe, eine lange Geschichte hat«. Siehe Roger H. Stephenson: Goethe’s Conception of Knowledge and Science, Edinburgh 1995, 8, 10 und 13, für eine Erörterung der Rolle dieses Konzepts in Goethes Denken. 2 Krois: »Cassirer’s ›Prototype and Model‹ of Symbolism«, 532 und 537. 3 Zitiert nach Krois, a. a. O., 535, aus ›einem noch nicht veröffentlichten Text‹ und von

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Fragen des Stils?

Cassirer sah auch Sprache und andere ›symbolische Formen‹ als Ableitungen von solchen echten expressiven Symbolen. Und Spuren der doppelten Struktur der ästhetischen Theorie der Weimarer Klassik lassen sich bei Cassirer finden, wie auch die Implikation, daß Symbolismus durch eine Hierarchie von immer größerer Verfeinerung umgewandelt wird. Cassirers voll entwickelte Philosophie der symbolischen Formen entspricht dieser Theorie und übertrifft sie sogar noch: »In der Wahrnehmung erreicht das Sinnliche verschiedene Grade und Arten symbolischer Prägnanz; es erscheint als ein Zeichen, so daß das Sinnliche ›sich darstellt‹ als mehr als es ist.«4

Auch in seinem Bewußtsein der Grenzen diskursiver Sprache bewegt sich Cassirer nahe an Goethe und Schiller; wie auch in seinem Glauben an eine fundamentalere, ›natürliche‹ Symbolik; seinem Interesse an dem erfaßbaren Körper des expressiven Symbols, mit »einer Bedeutung, die er darstellt«; und darin, daß er körperliche Gefühle für ›symbolisch prägnant‹ hält – und zwar im klassischen Sinn von ›voller Gehalt‹.5 Die folgende Zusammenfassung von Cassirers Standpunkt ließe sich gleichermaßen auf das anwenden, was die Weimarer Klassik als ihre fundamentale Voraussetzung von Herder ableitete: »[…] Wahrnehmung ist im Ursprung expressiv […] .Daher ist das körperliche Fühlen, unsere elementare Selbsterkenntnis, ein Verstehen von Bedeutung. Das ist der Prototyp aller symbolischen Verhältnisse.«6

Ob man nun die Betonung auf die Logik der Theorie der symbolischen Formen einerseits oder andrerseits auf die sinnliche Präsenz der ›symbolischen Prägnanz‹ legt, in jedem Fall ist Cassirers Verdienst unverkennbar, sich Goethe und Schiller ausdrücklich zu eigen gemacht zu haben. Die Darstellung der Doppelstruktur der Bedeutungszuweisung, die im Zentrum der Kulturtheorie der Weimarer Klassik steht, insbesondere wie er sie in Goethes Schriften beschrieben fand, versuchte Ernst Cassirer mit seinen eigenen Begriffen der ›symbolischen Form‹ und der ›symbolischen

ihm wie folgt übersetzt: »The specific particularization of ›Prägnanz‹ is what first founds and makes possible the specific differences among ›Gestalten‹, all representation is always representation in a specific ›sense‹«. Für Schiller über lebende Gestalt siehe Friedrich Schiller: Ästhetische Briefe, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe, XX, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, 355. 4 Krois: »Cassirer’s ›Prototype and Model‹ of Symbolism«, 539. – Siehe Stephenson: Goethe’s Conception of Knowledge and Science, 88–90, für eine Erörterung von Goethes Sicht der symbolischen Progression. 5 Krois: »Cassirer’s ›Prototype and Model‹ of Symbolism«, 532; 534; 539. Siehe auch ders.: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven 1987, 5–9; 53–54; 57–62; 80–81; 86–88. 6 Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 57.

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Prägnanz‹ auszudrücken. Aber gibt es hier nicht Probleme mit Cassirers systematisch ausgearbeiteter Version der Weimarer Theorie der Symbolik? Wie kann man die Kunst und was Cassirer ›symbolische Prägnanz‹ nennt, gleichermaßen ansehen als (a) Beispiele elementaren Ausdrucks und doch (b) als irgendwie auch auf einer höheren Ebene (der Abstraktion) als bloße Form? 7 Anders ausgedrückt, enthüllt nicht Cassirers Interpretation von Kunst einen Mangel an Konsistenz in seiner Philosophie der ästhetischen Formen, wie seine Kritiker so oft behaupten? Denn wie kann Kunst zugleich Ausdruck und Repräsentation sein? Mit einem Wort: Wie kann Cassirer dem ›Stil‹ so viele, sich scheinbar widersprechende Begriffe zuschreiben? Cassirer ist die typisch neoplatonische Scham, sich in einem Körper zu befinden, gänzlich fremd – trotz (wie Dorothea Frede in diesem Band betont) seiner Dankesschuld bei Platon und Plotinus, bei denen er einige seiner Einblicke bestätigt fand. Sehr im Geiste von Schillers Ermahnung An den Dichter 8 betont Cassirer, sowohl theoretisch als auch praktisch, die (offen zugegebene) Beschränkung sinnlicher Medien, um den Dingen Ausdruck zu verleihen, die sonst unausgedrückt blieben. In einem von Goethe verworfenen Prolog zu seinem Theaterstück Der Triumph der Empfindsamkeit stellt der Dichter folgende Frage: »Wo wären wir, ohne des Leibes Liebesleben?« Der Erfolg, mit dem Cassirer in seinen Schriften jene Symbolisierung des Selbsts in Natur und Kunst die »Anschauung« gewährt, wieder zum Leben erweckt, geht zum Großteil auf seine gelungene Herbeiführung jener Art von Goetheschem/Schillerschem ›aufrichtigem Schein‹ in dem Körper der Sprache zurück, von dem die beiden Weimarer Klassiker behaupteten, er sei das entscheidende Merkmal ästhetischer Erfahrung (siehe Mattenklott in diesem Band). Denn in seinem ›aphoristischen‹ Stil besteht die Absicht Cassirers darin, zumindest bis zu einem gewissen Grad die subtile Feinheit der Verbundenheit (zwischen den Dingen, die im menschlichen Denken oft scheinbar Gegensätze sind), welche die Vorgänge und Erlebnisse in der Natur als auch der Kunst charakterisiert, sprachlich wiederzugeben (wobei beide unweigerlich aus sozio-kultureller historischer Sicht gesehen werden). Indem er also die Welt als ein ›ästhetisches Phänomen‹ betrachtet, entscheidet sich Cassirer weder für die ewigen platonischen Ideen, noch für die zum Scheitern verurteilten Lockeschen individuellen Elemente. Statt dessen werden in seinen Schrif-

7

Für eine Zusammenfassung dieser Einwände siehe Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/ Weimar 2003, 26; 31–33; 99; 127; 192 und 273. 8 »Laß die Sprache dir seyn, was der Körper den Liebenden: er nur / Ist’s, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint«. (Friedrich Schiller: »Tabulae Votivae«, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe, I, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1943, 302.

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Fragen des Stils?

ten Gegensätze für einen scheinbar gegenwärtigen Augenblick miteinander koordiniert. Die Form und somit die Bedeutung von Cassirers Stil und Stilbegriff wird uns erst verständlich, wenn wir die gleiche prägnante Unterscheidung gelten lassen, die Goethe in seinem Essay über Dante – ebenfalls von Cassirer übernommen – getroffen hat: Nämlich jene zwischen der rein stimulierenden Wirkung der Rhetorik einerseits und der mittels ästhetischer Gestaltung gewährten Genugtuung andererseits.9 Denn (siehe Gerhardt in diesem Band) die Rhetorik wird seit Quintillian als Technik verstanden, die den Verstand (besonders das iudicium) durch die Ausnutzung der Bedeutung der Begriffe ins Spiel bringt. Ästhetische Beziehungen hingegen nutzen in gleichem Maße sowohl Bedeutung als auch Aussehen und Gestalt von Wörtern, Phrasen und Sätzen, ja sogar Absätzen, und ordnen Letzteres keineswegs dem Ersten unter, wie das manchmal bei der Rhetorik der Fall ist. Wie Goethe in seinem von Cassirer so oft zitierten Essay »Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Stil« aus dem Jahr 1789 behauptet, beruht Stil auf den tiefsten Fundamenten des Erlebnisses, ja sogar auf den Dingen selbst, insofern es uns erlaubt ist, sie als sichtbare und greifbare Formen zu erkennen.10 Was der ästhetische Stil Cassirers zu erreichen versucht, ist jene »höchste Frucht gleicher Gesinnungen«, von der in »Die Metamorphose der Pflanzen« die Rede ist, nämlich die ›gleiche Ansicht der Dinge‹. Sicherlich ist es die Wiederbelebung durch die Präsenz der kraftvoll ästhetischen Sprache Cassirers, die es dem Leser möglich macht, allzu allgemein bekannte Prinzipien in zutiefst gefühlte Gesinnungen zu verwandeln. Cassirer benützt typischerweise die didaktischen Eigenschaften des ›kurzen, bündigen Satzes‹, die Francis Bacon in seinem Advancement of Learning so hoch lobte. Bacon forderte seine Mitgelehrten bekanntlich dazu auf, sich kurz angebunden, ja lapidar, auszudrücken, damit sie aktives, dynamisches Denken hervorlocken, im Gegensatz zu den monolithischen Systematisierungen der Scholastik. In kurzen Formulierungen zu denken stimuliere den Geist dazu, seine eigenen Verbindugen innerhalb der etablierten Denkmuster zu suchen, und auf diese Weise sei geistige Tätigkeit gewährt: »He thought also, that knowledge is uttered to men as if everything were finished […] whereas antiquity used to deliver the knowledge which the mind of man had gathered, in observations, aphorisms, or short and dispersed sen-

Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz (HA), Bd. 12, Hamburg 1948 ff., 340. 10 A. a. O., 30–34. 9

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tences […] which did invite men, both to ponder that which was invented, and to add and supply further.«11

Dieser aphoristische Stil, provokativ und bündig, ist bei Cassirer überall zu finden, oft in seine ausführlichen Expositionen eingebettet. Cassirers Denkstil beruht bekanntlich auf einer dreigeteilten Hierarchie der Symbolik, von grundlegenden Ausdrucksfunktionen an einem Ende zu den ›reinen‹ mathematischen Abstraktionen am anderen. In seiner Analyse der Lebenswelt im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen12 stellt Cassirer dieses dreifache Schema ganz unzweideutig vor: »Schon jene Sphäre, die wir als die des Ausdrucks, und mehr noch die Sphäre, die wir als die der Darstellung bezeichneten, griff über [die] Unmittelbarkeit hinaus – sofern beide nicht im Kreise der bloßen ›Präsenz‹ verharrten, sondern aus der Grundfunktion der ›Repräsentation‹ entsprangen. Aber erst innerhalb der reinen Bedeutungssphäre gewinnt diese Funktion nicht nur an Ausbreitung, sondern hier erst tritt das Spezifische ihres Sinnes in voller Klarheit und Schärfe hervor. Jetzt kommt es zu einer Art der Ablösung, der ›Abstraktion‹, die die Wahrnehmung und Anschauung noch nicht kannten. Die Erkenntnis löst die reinen Beziehungen aus der Verflechtung mit der konkreten und individuell bestimmten ›Wirklichkeit‹ der Dinge heraus, um sie sich rein als solche in der Allgemeinheit ihrer ›Form‹, in der Weise ihres Beziehungscharakters zu vergegenwärtigen.«13

Für die »Einheit von Sinnlichem und Sinn«14, die das Symbol mit Ausdrucksfunktion charakterisiert, erfand Cassirer den Begriff ›symbolische Prägnanz‹15; er deckt die vorgegebene, unmittelbare, konkrete Natur solch direkter Wahrnehmung ab, die die äußerste Grenze der Symbolisierung kennzeichnet. Solche Elemente existieren vorsprachlich16; Sprache in ihrer mimetischen Modalität beginnt erst mit der unbewußten Imitation solcher Phänomene.17 Und sie sind die eigentliche Grundlage aller Erfahrung18; sie

James Spedding/Robert Leslie Ellis/Douglas Denon Heath (Hg.): The Collected Works of Francis Bacon, 14 Bde., London 1857–1874, 499. 12 Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 58, weist darauf hin, daß Cassirer glaubte, »daß Heidegger in seiner Analyse von Dasein die Weltbeziehung aufdeckte, die Cassirer unter der Rubrik des Ausdrucks untersucht«. 13 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (ECW), Bd. 13, Hamburg 2002, 326. 14 A. a. O., 137 f., 150. 15 A. a. O., 231. 16 A. a. O., 266 f. 17 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 136. 18 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff., (ECN), Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, 97. 11

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bilden, wie Cassirer betont – mit einem Begriff aus Goethes »Urworte. Orphisch« – ›geprägte Form‹ (›imprinted form‹): ›eine vorlogische Strukturierung‹, die der Welt der Sprache und der Kunst (und implizit allen symbolischen Formen) zugrunde liegt.19 Am anderen Ende dieses dreifachen Schemas steht die echte, bewußte Repräsentation: »die Darstellung eines Inhaltes in einem anderen und durch einen anderen […] eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und Bedingung seiner Formeinheit«. 20 Und Repräsentation besitzt Vektor-Eigenschaften21 : Sie bewegt sich auf Abstraktion zu, weg von der Konkretisierung, um auf das zu verweisen, was nicht präsent ist – nicht durch Kopieren, sondern durch die Bildung von Konzepten. 22 Und innerhalb eines solchen abstrakten, philosophischen Kontexts ist alles Sein repräsentierend23 , »rein begrifflich« (»purely conceptual«).24 Wie Cassirer in seinem Essay on Man betont, betreten wir mit der repräsentierenden Art des Symbols den Bereich der Theorie.25 Und wirklich verdankt die Philosophie der symbolischen Formen ihren Ursprung Cassirers Erkenntnis, daß wissenschaftliche Konzepte eine (sehr abstrakte) Ebene der Symbolisierung darstellen, wie aus dem ersten Gebrauch des Begriffs ›symbolische Form‹ in seinem 1921 erschienenen Essay über Einsteins Relativitätstheorie hervorgeht. Seit der Veröffentlichung von Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) blieb Mathematik für ihn ein Paradigma dieser Art der Symbolik. Zwischen diesen beiden kontrastierenden Arten der Symbolik steht der Mythos, durch seine doppelte Ausgerichtetheit einmal hin zur Konkretisierung, dann wieder zur Abstraktion, eine eigentümlich Janus-gesichtige symbolische Form. Obwohl der Mythos eigentlich, in all seinen Erscheinungsarten von Ritus, Ritual und – vor allem – Narration, ein Sich-Wegbewegen von der ›symbolischen Prägnanz‹ der Begegnung mit ursprünglichen Phänomenen kennzeichnet (der erste Schritt dazu ge-

19

Ernst Cassirer: »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17, 17–72, hier: 20. – Vgl. Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 86 ff., insbes. 86 f.: »Der fühlende Körper eher als das denkende Bewußtsein ist das Subjekt bei der Wahrnehmung des Ausdrucks«; und Birgit Recki: »Cassirer and the Problem of Language«, in: Cultural Studies and the Symbolic I, 2003, 1–20, insbes. 10–17 (17: »[…] es gibt Denken ohne Sprache«). Für eine Interpretation von Goethes »Urworte. Orphisch« als das ›Medium‹ für Cassirers Denken, siehe John Michael Krois: »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 297–324, hier: 298. 20 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 39. 21 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 383. 22 A. a. O., 376. 23 A. a. O., 158. 24 A. a. O., 262 f. 25 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven/London 1946, 58.

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schieht in mimetischem Ausdruck) hin zu dem Bruch zwischen Signifikant und Signifikat, welcher die Repräsentation ausmacht, bleibt das dem Mythengläubigen verborgen. Diese ›Naivität‹, um einen Ausdruck Schillers zu gebrauchen, ist für die mythologische Handlungs- und Denkweise unabdingbar; jene Art von kritischer ›sentimentalischer‹ Bewußtheit einer Diskrepanz zwischen Schein und Sein, die die Repräsentation voraussetzt, würde zur Zerstörung der participation mystique führen, in welcher die soziale Welt (des Stammes/ der Gemeinschaft), unbewußt, projizierte Natur ist – zum ›Ausdruck‹ befähigt, wie Ludwig Klages den Begriff definiert. 26 Der Mensch, der an der mythischen Erfahrung Teil hat, muß sich von dem, was er wahrnimmt, ›ergriffen‹ fühlen27 : Totemistische Narration, zum Beispiel, muß inhärent expressiv und auf keinen Fall repräsentativ erscheinen (obwohl sie es natürlich ist), denn »Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden, ist weit ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen.« Der Eigentümlichkeit der Dinge wird die Eigenschaft eines ›mana‹ zugesprochen, und die Bewußtheit eines repräsentativen Bezugs ist für diesen mythischen Sinn fatal. 28 Die Aussagekraft dessen, was eigentlich eine (radikale) Metapher ist, wird aufgenommen, als wäre sie eine wirkliche Kraft: Rituelle Tänzer glauben nicht etwa, daß sie die Götter repräsentieren, sondern daß sie zu ihnen geworden sind. 29 In der modernen Gesellschaft wird dieses Gefühl der ›Schicksalsbestimmtheit‹ unter anderem durch die unpersönliche Macht der Technik wieder nachgeladen. Denn in Zeiten der Verwirrung, wenn man sozio-politische und kulturelle ›Bewegungen‹ nicht mehr begreifen kann – wenn diese nach Schiller ›erhaben‹ werden –, dann sucht man Zuflucht im Mythos und greift zu mythologischen Denkweisen als eine erste Möglichkeit der Auseinandersetzung mit einer scheinbar überwältigenden Realität. 30 Mythos ist denen, die daran Teil haben, unbewußt dennoch einer »der verschiedenen Schritte, die der Mensch in seinem Bewußtsein, in sei-

26

Für Cassirers Betonung der sozialen Funktion von Ritual und Kultus siehe a. a. O.,

81 f. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 83. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12, 98; vgl.: »Sobald man ein Bild als etwas ansieht, das etwas anderes darstellt, das heißt in einer referenziellen Beziehung zu etwas anderem, ist seine Funktion repräsentativ.« (Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 81; meine Übersetzung, RS). – Vgl. auch Birgit Recki: »Cassirer über Geist und Bewußtsein«, in: Ralph Schumacher (Hg.): Idealismus als Theorie der Repräsentation, Paderborn 2001, 271–284. 29 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 48. 30 Friedrich Schiller: »Über das Erhabene«, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe, XXI, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1961, 49; Ernst Cassirer: The Myth of the State, New Haven/London 1946, 277 f. Siehe John Michael Krois: »Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer«, in: Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos, Berlin 1979, 199–217. 27 28

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ner reflektierenden Interpretation des Lebens gemacht hat«. 31 Und wie bei allen anderen symbolischen Formen hilft Sprache, wenn sie über die mimetische Phase hinausgekommen ist, das repräsentative Potential des Mythos zu entfalten, bis er auf der einen Seite der Religion und auf der anderen dem theoretischen Verständnis weicht. Aber der Mythos überdauert, denn er kommt einem menschlichen Grundbedürfnis entgegen: dem für kontextuellen Sinn in der Lebenswelt unterhalb der Ebene der (verhältnismäßig engen) theoretischen Klarheit. Die drei hauptsächlichen Ausdrucksweisen der Sprache – »sinnlich, anschaulich und rein begrifflich« – überdauern auch32 , um die drei hauptsächlichen menschlichen Verständnisweisen auszudrücken, die sich vor allem durch sie entwickeln konnten. Mit der Rückkehr zum Bereich der sinnlichen, konkreten Realität in seiner Darstellung der Kunst, in der Bedeutung sich in den intuitiven Symbolen individueller Bilder ausdrückt, bewegt sich Cassirer in typischer Spiralform, einer Gedankenfigur, die er an Goethes Denkprozeß sehr bewunderte.33 Aber wenn Cassirer behauptet, daß Kunst im Primitiven verwurzelt sei, meint er nicht, daß zum Beispiel die Beschwörungsformeln ritueller Magie sich nicht von dem ›physiognomischen Ausdruck‹ der Dichtung unterscheiden ließen.34 Was er eigentlich sagen möchte, wenn er Kunst als »eine Interpretation der Wirklichkeit […] durch Intuitionen […] durch [das Medium] sinnlicher Formen«35 bezeichnet, ist, daß Kunst den bewußten Genuß der ›symbolischen Prägnanz‹ darstellt (in der ästhetischen Manipulation eines konkreten Mediums, was er nach Goethe ›Stil‹ nennt). Wenn Mythos die unbewußte Übernahme von Repräsentation ist, dann ist Kunst die bewußte Schaffung von symbolischer Prägnanz. So läßt uns Kunst ›Lebendigkeit‹ (»the dynamic process of life itself«) fühlen.36 Aber das sollte uns nicht blind machen gegenüber der Tatsache, daß Kunst trotz allem eine besondere Art von Abstraktion ist, die vom Schaffenden

31

Ernst Cassirer: »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16, 227–313, hier: 296. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 262 f. 33 Siehe Barbara Naumann: »Umschreibungen des Symbolischen. Ernst Cassirers Goethe«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002, 3–23, insbes. 16 und 23, wo Naumann auf das interdisziplinäre Potenzial solcher zyklischen Denkmodelle hinweist; vgl.: »Symbolismus nennt Cassirer manchmal das Prinzip des »Wiederfindens«.« (John Michael Krois »Die Goethischen Elemente«, in: Naumann/Recki (Hg.): Cassirer und Goethe, 167). 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 110. 35 Cassirer: An Essay on Man, 146. 36 A. a. O., 148. – Siehe auch Birgit Recki: »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«, in: Naumann/Recki (Hg.): Cassirer und Goethe, 195–219, insbes. 218 f. 32

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wie vom Rezipienten gleichermaßen Distanz fordert.37 Denn alle Kunst braucht als Grundvoraussetzung eine sorgfältige Wahl des Materials und die überlegte Stilisierung zu einer effektiven Form.38 Unter ›symbolischen Formen‹ verstand Cassirer Formen der Repräsentation, die verschiedene ›Wahrheiten‹ in verschiedenen Kulturbereichen ausdrücken. Das »Symbolsystem des menschlichen Lebens«39 hat sich seit vorgeschichtlicher Zeit in eine offene Pluralität ausgeformt, in Sprache, Mythos, Kunst, Technik, Wissenschaft, usw. – wobei klare Gesetze regeln, wie Bedeutung innerhalb des jeweiligen Bereichs ausgedrückt wird. Wenn eine symbolische Form sich einmal manifestiert hat, kann sie weder zu irgendeiner anderen reduziert werden, noch kann irgendeine andere symbolische Form von ihr abgeleitet werden40 – obwohl symbolische Formen sich in ihrer Entwicklung gegenseitig behilflich sein können: wie in den Teilen einer Pflanze ist eine jede in dem ›Keim‹ der »unmittelbaren konkreten Präsentation« der symbolischen Prägnanz enthalten41 und kann Gestalt annehmen – oder auch nicht – je nach den (historischen) Gegebenheiten der Zeit und des Ortes. Deshalb ist »alle Erscheinung […] untrennbar von ihrer repräsentativen Funktion«42 ; und »Wahrnehmung selbst ist Repräsentation«.43 Sprache, obwohl keineswegs die grundlegende symbolische Form, ist die mächtigste, denn sie ist die ausgefeilteste symbolische Form, die uns unsere Kultur anbietet; und sie wird ständig auf die unterschiedlichste Art und Weise benutzt, um den spezifischen Gehalt nahezu aller anderen symbolischen Formen zu verstärken. Nur in diesem Sinne ist die Sprache, wie Lofts betont44 , das sine qua non ihrer unendlichen Entfaltung. Nach Cassirer sollte keine symbolische Form die anderen dominieren: Jede hat ihren Platz in einem dynamischen, pluralistischen Gleichgewicht, im Interesse einer kultivierten Vitalität. Kunst, eine Art der Reflexion auf der Ebene des Ausdrucks, besitzt ›symbolische Prägnanz‹ inhärent in ihrem ›Stil‹, festgelegt durch ihr spezifisches Medium; sie konkurriert daher nicht wirklich mit z. B. dem Mythos (der für Cassirer ebenso Ritual und mythisches Denken [»mythical perception«] umfaßt wie die normalerweise

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 32. Siehe Cyrus Hamlin: »Ernst Cassirer’s Concept of Kulturwissenschaft and the Tradition of the Humanities in the Modern University«, in: Cultural Studies and the Symbolic I, 2003, 21–41 (»Cassirers Konzeption des Symbols läßt sich durch die konsequente Ausrichtung auf den Begriff der Form charakterisieren […]«, 27). – Siehe Krois: »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, 302; 304; 314 ff. 39 Cassirer: An Essay on Man, 24. 40 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 7. 41 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 231. 42 A. a. O., 158. 43 A. a. O., 137. 44 Steve G. Lofts: Ernst Cassirer. La Vie de l’Esprit, Leuven 1997, 40. 37 38

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Fragen des Stils?

damit assoziierte Narration), weil er auf der Ebene der Präsentation operiert und eine metaphorische Erklärung von Sein und Werden anbietet, die noch nicht in die hohen Abstraktionen von z. B. Wissenschaft und Philosophie übergegangen ist. Mythos, erklärt er in Myth and the State, wird nur dann gefährlich, wenn er in hybristischer Isolation von anderen gleichzeitig existierenden symbolischen Formen agiert und diese dominiert. Cassirers Ideal ist ein Multiversum miteinander verwandter symbolischer Formen in ständig wechselnder gegenseitiger Unterordnung, wobei jetzt die eine, dann die andere regiert, je nach Gegebenheit, Notwendigkeit oder Präferenz. Seine Haltung ist somit durch und durch ethisch, denn sein höchster Wert ist die überragende Bedeutung der menschlichen Bedingtheit.45

Cassirers Denkstil »Kein Wort steht still«, sagt Goethe.46 Und Cassirer, wie Goethe – sein Vorbild in Stilangelegenheiten –, möchte seine Leser dazu ermutigen, seine präzise Aussage im Kontext zu konstruieren, oft durch subtile Variierung von Begriffen, nicht zuletzt in bezug auf seinen Schlüsselbegriff ›Symbol‹.47 Aber einige Kritiker, vielleicht weniger mit seinem humanistischen Erbe und seinen stilistischen Normen vertraut, wollen ernsthafte Ungereimtheiten in seinem Gedankengebäude entdeckt haben. Vor allem gibt es ebenso routinemäßige Diskussionen über den Status der Sprache in Cassirers Schema – ist sie die Grundlage oder nur eine in einer (nur losen und unzusammenhängenden) Pluralität von symbolischen Formen? – wie darüber, welchen Status Cassirer der Kunst zuerkennt. So z. B. behauptete kürzlich Barend van Heusden – und zwar überaus nachdrücklich – daß von allen von ihm identifizierten symbolischen Formen die Kunst Cassirer die größten Schwierigkeiten bereite. Es sei ein Widerspruch in sich selbst, sagt er,

Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9, 124. Max Hecker (Hg.): »Goethes Maximen und Reflexionen«, in: Schriften der GoetheGesellschaft 21, 1907, 983; Harald Fricke (Hg.): Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa, Frankfurt/M./Leipzig 2005, l.686. 47 John Michael Krois macht, gestützt auf Susanne K. Langers Analyse, auf die scheinbar nur schwer zugängliche Natur von Cassirers Konzeption des Symbols aufmerksam: Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 12. Aber das bedeutet nicht die Verschmelzung des Symbolischen mit dem Semiotischen, wie z. B. Umberto Eco annimmt: Umberto Eco: »On Symbols«, in: John Deeley (Hg.): Frontiers in Semantics, Bloomington 1986, 157. Denn das Ergebnis von Cassirers akribisch genauer Untersuchung von Goethes (und Schillers) Theorie der Doppelstruktur des Symbols ist seine feine Unterscheidung zwischen symbolischen Funktionen (elaborierten symbolischen Formen) einerseits und ursprünglichen (prägnanten) Symbolen an sich andererseits; die ersteren gehören zur Semiotik, die letzteren zur echten Symbolik. Siehe Roger H. Stephenson: »›Eine zarte Differenz‹: Cassirer on Goethe on the Symbol«, in: Cyrus Hamlin/John Michael Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, New Haven 2004, 157–184. 45 46

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wenn er Kunst sowohl als Beispiel für symbolische Prägnanz als auch für Repräsentation ansehe; sein ganzes Schema werde damit durch ihre Einbeziehung untergraben.48 Wie auch die damit verbundene Frage, ob Cassirers Konzeption des ›Symbols‹ nicht einfach nur ein Synonym für das (semiotische) ›Zeichen‹ sei, zu beantworten ist: Was alle diese Fragen gemein haben, ist, daß sie auf einem Denkmodell des Entweder – Oder bestehen, das, wenn auch nicht Cassirers Logik, so doch seiner rhetorischen Präsentation fremd ist. Er ist immer darauf bedacht, die Bezogenheit und Vielschichtigkeit der Bedeutung aufzuzeigen. Darüber hinaus fühlt er sich der Phänomenologie verpflichtet, und die diktiert, daß er sowohl eine logische (unter dem Aspekt einer konzeptuellen Hierarchie) als auch eine pragmatische Beweisführung (unter dem Aspekt wahrnehmbarer Realität) vorlegt. Es mag durchaus eine etablierte Hierarchie symbolischer Formen geben, die zu jedem gegebenen Zeitpunkt und an jedem kulturgeschichtlichen Ort gilt (etwa im Bezug auf Abstraktionsgrade), aber eine jede solche Ordnung ist laut Cassirer lediglich bedingt und kann keinen Anspruch auf die universelle Gültigkeit erheben, die sein philosophisches Argument (wie vorsichtig und vorläufig es auch sei) für sich beansprucht. Für Cassirer hat die Symbolik zwei Hauptmodalitäten: ›symbolische Form‹ und ›symbolische Prägnanz‹. Jede dieser beiden Modalitäten, wie die dritte, hybride Modalität der Präsentation, kann auf jeder Ebene existieren. Innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen sind sie notwendigerweise in einer konzeptuellen Hierarchie organisiert, vom Besonderen zum Allgemeinen, mit speziellen symbolischen Formen wie Technologie, Recht und Ethik am rechten Ort im Schema untergeordnet. Aber phänomenologisch gesehen, in der kulturellen Praxis, werden sie jeweils nach einem anderen Prinzip einander gleich- oder untergeordnet als dem, das einen philosophisch-diskursiven Diskurs bestimmt. Symbolik kann sich, empirisch gesehen, auf unzählige Arten und Weisen entwickeln; und diese Weisen hängen von den ursprünglichen Symbolen und den verschiedenen symbolischen Funktionen ab, die in einer Kultur am Werk sind. Kurz gesagt, ihre phänomenologische Entwicklung ist nicht logisch, sondern epigenetisch.49 Der besondere Status der Sprache bei Cassirer50 ist keine logische Konsequenz seines konzeptuellen Schemas, sondern eher eine Widerspiegelung der Zustände, die in jeder uns bekannten Kultur herrschen. Ein ähnliches Beispiel ist das Überwiegen des Mythos in der westlichen Kultur der 30er und 40er Jahre.51

48 49 50 51

Sandkühler/Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol, 33 f. und 192. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 253. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 15. Cassirer: The Myth of the State, 3.

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Fragen des Stils?

Diese grundsätzlich undogmatische Haltung zur Klassifizierung von symbolischen Formen52 leitet sich von zwei aufeinander bezogenen Hauptaspekten von Cassirers Denkstil ab. Einerseits ist die Philosophie, die er als Gerüst für seine Kulturwissenschaft skizziert, eine offene, »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie«. 53 Andererseits erwägt er wie Goethe und Schiller den Gedanken einer wechselnden Hierarchie von Denkweisen, die sich je nach den momentanen Gegebenheiten umkehren können. 54 Und doch stellt er klar, daß es ohne hierarchische Unterordnung keine wie auch immer geartete Form geben kann, ob nun in der Kunst55 oder in der Kultur als Ganzes. Die Befreiung des Selbst, die er bei Goethe so bewunderte und die er als das ethische Ziel der Zivilisation ansah56 , reguliert alle symbolischen Formen. Mehr noch, jede symbolische Form unterhält und unterstützt alle anderen (einschließlich der mythischen und wissenschaftlichen Funktionen) 57 in einem Zusammenspiel der Gegenseitigkeit58 durch eben dieses Prinzip der hierarchischen Unterordnung. So wie der Mythos sich die Sprache unterordnet, um seiner typischen Symbolik narrative Form zu geben, so wie die Wissenschaft die philosophische Logik unterordnet, um biologische oder chemische Theorien zu entwikkeln, so bedient sich die Kunst jeder erdenklichen anderen Form, »um unseren Leidenschaften ästhetische Form zu geben […] um sie in einen freien und aktiven Zustand zu verwandeln«. 59 In gleicher Weise bedient sich die Philosophie der Einsichten der Kunst und ordnet sie sich unter, um sie logisch aufzuarbeiten. Ein eindeutigeres Beispiel einer solchen kulturellen Symbiose als Cassirers Interpretation von Goethe »Urworte. Orphisch« (an sich bereits ein ungeheuer subtiles Werk von kultureller Dichte) läßt sich nicht vorstellen. 60 Cassirer denkt, eben so wenig wie Schiller (und Goethe), daß die Kunst uns die Idee-als-Begriff liefere. Vielmehr denkt er – wie Goethe und Schiller –, die Kunst ermögliche es uns, den Gehalt-in-der-Erscheinung zu begreifen. Das ›Ideal(e)‹ bedeutet für Cassirer – wie für die Weimarer

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 119 ff., 346. Ernst Cassirer: »Zur Logik des Symbolbegriffs«, in: ECW 22, 112–139, 137. 54 Siehe Roger H. Stephenson: »The Cultural Theory of Weimar Classicism in the Light of Coleridge’s Doctrine of Aesthetic Knowledge«, in: Paul Bishop/Roger H. Stephenson (Hg.): Goethe 2000: Intercultural Readings of his Work, Leeds 2000, 150–169, hier: 159–162. 55 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9, 25. 56 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 244. 57 Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, 186. 58 Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 36 f. 59 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 161. 60 Siehe Roger H. Stephenson: »The Levels and Modes of Symbolism: Myth, Art, and Language in Cassirer, with special reference to Goethe’s ›Urworte. Orphisch‹«, in: Cultural Studies and the Symbolic III, 2008, 243–262, hier: 249–254. 52 53

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Ästhetik – das, was in der ästhetischen Gestalt innewohnt: der Gehalt von universeller Bedeutung, der doch seine spezifische Identität bewahrt. Mit einem paradoxen Wort Schillers: »die generalisierte Individualität« des Schönen. 61 Für Cassirer scheint die wahre Kunst lebendig zu sein. 62 Diese (›wahre‹) Illusion wird durch das geschickte ästhetische Spiel erzeugt, dessen sich der Rezipient wohl bewußt ist. Und, um diesen wesentlich ästhetischen Effekt zu erreichen, müßten bedeutungsvolle Verhältnisse innerhalb des Körpers, des Mediums, etabliert werden, so daß die ästhetische Ordnung nicht von außen zu kommen scheint. Die Organisation des Mediums eines Kunstobjekts soll so aussehen, als ob sie dem Objekt immanent sei. Die ästhetische Gestalt müsse, wie Nietzsche/Zarathustra das ausdrückt, »von Ohngefähr« scheinen63 : d. h. nonchalant, ohne Absicht und anscheinend lebendig wirken. Was der Intellekt als inkompatibles Entweder-Oder – als Dualismus – ansehen muß, ›verknüpft‹ die ästhetische Gestalt als koexistierende Elemente in einer prekären Synthese durch sinnliche, dem Medium innewohnende Bezüge zusammen: »Aber wenn in dem Gebilde des Dichters das Unbegreifliche getan ist: so hat der Forscher die Aufgabe, für diesen Gegensatz erst die wahrhafte Kategorie des Begreifens zu finden. Und ebendies ist es, was die »ideelle Denkweise«, die Goethe von dem echten Naturforscher verlangt, zu leisten hat. Hier ist der Punkt, an dem Goethe sich mit vollster Schärfe und Bewußtheit von der Methodik der Naturbetrachtung, die er vorfindet, loslöst, um eine neue Forderung hinzustellen, in der er die Versöhnung von Philosophie und allgemeinem »Menschensinn« erblickt. »Die Überzeugung, daß alles fertig und vorhanden sein müsse, wenn man ihm die gehörige Aufmerksamkeit schenken solle, hatte das Jahrhundert ganz umnebelt […] und so ist diese Denkweise als die natürlichste und bequemste aus dem siebzehnten in’s achtzehnte, aus dem achtzehnten in’s neunzehnte Jahrhundert übergegangen und wird sofort nach ihrer Weise nützlich wirken […] indeß die ideelle Denkweise das Ewige im Vorübergehenden schauen läßt und wir uns nach und nach dadurch auf den rechten Standpunct, wo Menschenverstand und Philosophie sich vereinigen, werden erhoben sehen.«64

Für Cassirer ist das Ästhetische, in der Kunst wie in dem Leben, verspielt stilisiert, ja komisch, auch wenn der Gehalt desselben tief ernst ist. Cassirer konnte sich also bei aller seiner Bewunderung für Aspekte von Fichtes

Siehe Schillers Brief an Körner, den 10 November 1794, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe XXVII, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1958, 81. 62 Siehe Stephenson: »›Eine zarte Differenz‹: Cassirer on Goethe on the Symbol«, 163, 168, 170. 63 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (183–85), in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (KSA), 15 Bände, Berlin/New York/München 1967 ff., Bd. 4, 209. 64 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7, 222. 61

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Fragen des Stils?

Denksystem dessen Variante von ästhetischem Idealismus nicht anschließen. Cassirer, für den das Ästhetische und das Symbolische eins sind, war nicht imstande, Fichtes These (z. B. in seinem Traktat vom Jahre 1795 Über Geist und Buchstabe in der Philosophie) anzunehmen, nämlich, daß in der Kunst wie in der Philosophie der Buchstabe dem Geist untergeordnet ist.65 Es gibt, schreibt Cassirer: »ein Gebiet des Geistes, in dem das Wort nicht nur seine ursprüngliche Bildkraft bewahrt, sondern innerhalb dessen es gleich sinnliche und geistige Wiedergeburt erfährt. Diese Regeneration vollzieht sich, indem es sich zum künstlerischen Ausdruck formt. Hier wird ihm die Fülle des Lebens zuteil. Aber dieses Leben ist nicht mehr das mythisch gebundene, sondern das ästhetisch befreite Leben.«66

Cassirer ist sich dessen völlig bewußt, daß die dominante Tradition in der westlichen Ästhetik gerade das Gegenteil seiner eigenen Position behauptet. In bezug auf Giordano Bruno bemerkt er67, daß Bruno »wie bei Platon und Plotin das Schöne [nur] zum Mittler zwischen der sinnlichen und intelligiblen Welt ansieht«.68 Das Sinnliche ordne sich bei Bruno dem Geistigen unter (in der Tat benutzt Cassirer die Wendung ›klassische Prägnanz‹ gelegentlich als Synonym für ästhetische ›symbolische Prägnanz‹).69 Und er war sich auch dessen genau bewußt, daß die zwei Pole dieser Debatte eine lange Filiation im westlichen Denken hatten: zwischen einerseits der (neu-) platonischen Auffassung des Ästhetischen und andererseits seinem eigenen (Weimar-)klassischen, ebenso tradierten Begriff, den er folgendermaßen definiert: »Denn eben dies gehört zum Grundcharakter und zum Wesen der ästhetischen Sinnform selbst, daß in ihr zwei Motive, die sich in anderen Sinnformen als trennbar, als relativ unabhängig von einander erweisen, diese Trennung aufgeben und an ihre Stelle eine reine Wechselbeziehung und Wechselbestimmung treten lassen. […] Erst das Aufgehen des einen im anderen, das ideale Gleich-gewicht, das sich zwischen ihnen darstellt, konstituiert das ästhetische Verhalten, wie es den ästhetischen Gegenstand konstruiert.«70

Siehe Hans Schulz (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes Briefwechsel, Bd. I, Hildesheim 1967, 470 ff. 66 Ernst Cassirer: »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16, 310. 67 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2. 68 A. a. O., 239. 69 Siehe z. B. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, ECW 12, 295. 70 Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 18. 65

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Cassirers komischer Denkstil Wir sind, schreibt Cassirer in seinem Essay on Man, der humanen Welt nie näher als in den Werken eines großen komischen Autors. Wir leben in dieser eingeschränkten Welt, aber wir werden nicht mehr von ihr gefangen gehalten. Das ist der eigentliche Charakter der komischen Katharsis. Die Dinge und Ereignisse fangen an, ihr materielles Gewicht zu verlieren; der Hohn löst sich hin, und das Lachen ist Befreiung.71 Mit der Erwähnung der ›Befreiung‹, die für Cassirer das Ziel der Bildung überhaupt ist, landen wir in der Mitte von Cassirers polarer Weltanschauung – die ambivalente Einstellung, die laut Kenneth Burke das Kennzeichen des ›komischen‹ Denkers ist. 72 Und Cassirers Auffassung des Komischen liegt auch – wenn auch öfters stillschweigend – im Zentrum der (post-) modernen Debatte über die Komödie schlechthin. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die vorher und sehr lange (von den Griechen über die Renaissance bis heute) dominante Idee der komischen Übertretung von bloß gesellschaftlichen Normen revidiert und relativiert worden. Die Idee, daß das Komische das ›vorbewußte‹ innere Kind erweckt73 , hat bei Baudelaire, Bergson und Freud ihren Ursprung. Bergson besteht immerhin darauf, daß der Erwachsene sich an die Gefühle des spielenden Kindes im Komischen erinnere und daher eine neugewonnene Distanz entwickelt. Um die berühmten Worte Wordsworths zu gebrauchen: Das Komische ist »das in Ruhe gedachte Gefühl« (»feeling recollected in tranquility«) – und das heißt, »das Komische gleicht dem Ästhetischen schlechthin«. 74 Im allgemeinen kann man berechtigterweise sagen, daß die anglo-amerikanische Debatte 1960–90 in der Tat aus einer auf der soziologischen ëberlieferung beruhenden Reihe von Fußnoten zu Mikhail Bahktins Theorie der Hanswurst-Tradition seit der Renaissance bestand. 75 Die Tradition des ›guten Humors‹ – als wohlwollende, mitfühlende Menschlichkeit – den Jean Paul zum Beispiel als ästhetische Kategorie ansah76 – mündet heute – samt der anthropologischen Theorie (entstanden in Cambridge um die Jahrhundertwende und bis zu Northrop Frye und Susanne K. Langer

71

»We are perhaps never nearer to our human world than in the works of a great comic writer. […] We live in this restricted world, but we are no longer imprisoned by it. Such is the peculiar character of the comic catharsis. Things and events begin to lose their material weight; scorn is dissolved into laughter and laughter is liberation« (Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 163). 72 Kenneth Burke: Attitudes toward History, Berkeley 1984, passim. 73 Jan Walsh Hokenson: The Idea of Comedy: History, Theory, Critique, Cranbury/NJ 2006, 45, 49, 83. 74 A. a. O., 46. 75 Mikhail Bakhtin: Rabelais and His World (1940), Cambridge 1968. 76 Jan Walsh Hokenson: The Idea of Comedy: History, Theory, Critique, 68, 168.

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Fragen des Stils?

weiterentwickelt) – in Bakhtins ›Karneval-Theorie‹ ein. 77 Der homo risibilus ist der mit Lachen begabte Mensch. Kurz gesagt, in der bakhtinischen Auffassung der Komödie findet – um mit Freud zu sprechen – das (närrische, dynamische) Es seinen Widersacher in dem Rationalismus des ÜberIchs. Diese scheinbar anarchische Tendenz des bakhtinischen Denkens hat zur sogenannten postmodernen Theorie der Komödie geführt, laut der das Komische einfach das ist, was die Vernunft unterdrückt. 78 Und daher heißt der ›PoMo‹ das Komische schlechthin. 79 In diesem erweiterten Sinne der Komödie ist sogar die Tragödie »sehr ernste Komödie« 80 : wir kehren auf Soktrates Grübeln (im Abendmahl) über die Gleichheit von Tragödie und Komödie als Kunstformen zurück – wie bei Samuel Becketts Neologismus »comi-tragedy«. 81 Denn die komische Befreiung lebt, laut Nietzsche, in der ästhetischen Gestaltung, auch wenn der Inhalt, und der Gehalt, tief ernst ist. 82 Für Cassirer »vertritt der Humor die Grundhaltung der Seele, die für die Erfassung des Wahr-Schönen am besten geeignet ist«. 83 Die lebendige Relevanz von Cassirers Kulturtheorie wird an Bakhtins Nachwirkung unverkennbar. Cassirers zentraler, radikaler Gedanke ist nämlich dies: Nicht der Humor ist es, der sich vor dem Intellekt, sondern der Intellekt ist es, der sich vor dem Humor zu rechtfertigen hat. 84 Denn die Komik, die sich in dieser Ära – und zur Zeit der Griechen im 5. Jahrhundert v.

77

Siehe a. a. O., 98, 350. A. a. O., 186. 79 A. a. O., 187. 80 A. a. O., 261. 81 A. a. O., 264. 82 A. a. O., 42 ff. – In seinem Aufsatz »The Philosophical Origens of Bakhtins Carnival Messianism«, South Atlantic Quarterly 1998, 537–78 (auch in: Hamlin/Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, 99–116) hat Brian Poole bewiesen, daß Bakhtin bei Cassirer tief in der Schuld steht; ja, daß zentrale Aspekte von Bakhtins Theorie der Komödie in der Renaissance aus Cassirers Schriften genommen sind. Bakhtin ist von Cassirers Begriff des Heiligen als zweideutig inspiriert worden. Die Komödie wird deswegen für Bakhtin wie für Cassirer zur Überwindung der Angst vor dem Tabu, indem sie eine ambivalente Synthese aus beiden Polen (Heilig-Profan) bildet. Das Lachen befreit den Menschen, nach Bakhtin (Cassirer), von dem ängstlichen Erstaunen vor den Naturkräften wie vor der Macht des aus der Vergangenheit Verbotenen (a. a. O., 104). Die Beschreibung des Aristotelischen Kosmos bei Bakhtin ist eine Übersetzung aus Cassirers Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927). Und seine sehr einflußreiche Erörterung über Rabelais besteht aus fünf Seiten aus Cassirers Buch. Bakhtins wohlbekannte Zusammenfassung seiner Theorie ist in der Tat eine Zusammenfassung von Cassirers Theorie der Komödie in der Renaissance (a. a. O., 106). 83 Poole: »The Philosophical Origens of Bakhtin’s Carnival Messianism«, in: Hamlin/ Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, 109. 84 Ernst Cassirer: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14, 354 f. 78

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C. 85 ; in der Tat überall86 – entwickelt hat, ist zwar eine scharfe, bündige Angriffswaffe. Aber dem Natur- und Kulturkampf nimmt sie Schärfe und Bitterkeit ab, indem sie ein Moment des Ausgleichs und der Versöhnung enthält: »[Die Komik] steht der Welt, die sie in freiem Spiel zerstört, die sie negieren und aufheben muß, nicht schlechthin feindlich, nicht mit dem Gefühl des Hasses gegenüber, sondern bildet vielmehr die letzte Verklärung dieser versinkenden Welt.«87

Nach Cassirer ist der Humor in England im 16. Jahrhundert gleichsam wiedergeboren worden und aufgewachsen. Aphoristische und polemische Formen wie Spott und Witz, Satire und Ironie werden der ›Überform‹ (Urform, schreibt Cassirer sogar) des Humors untergeordnet. Der Humanismus steht überhaupt im Zeichen des ›guten Humors‹: »Dieser Humor scheut auch die Wendung ins Derbe und Burleske nicht; aber er behält auch hier stets seine eigentümliche Großheit und Großartigkeit, seine Freiheit und seine geistige Überlegenheit.«88

Und der Stil der Sprache ist das auffallendste Symptom für diese geistige Grundhaltung.89 Der sprachliche Stil des Humanismus, vor allem Shakespeares Handhabung der englischen Sprache, umfaßt und prägt »die ganze Skala menschlicher Empfindungen, von den niedrigsten bis zu den höchsten«90: »Das Wort in seiner Vieldeutigkeit und in seiner schimmernden Vielseitigkeit, in seiner Fähigkeit, sich in tausend Formen zu verstecken und sich in sie zu verwandeln, breitet die ganze Fülle der menschlich-geistigen Welt vor uns aus. Es strebt nicht danach, in die Tiefe dieser Welt einzudringen; es begnügt sich vielmehr damit, ihre Oberfläche ständig zu umspielen.«91

Der Humor hat auch eine sittliche Dimension. Als ein Grundelement der Selbsterkenntnis »bringt er die Dinge auf ihr rechtes Maß und raubt ihnen ihren angemaßten Wert«.92 Hier ist im Keim Cassirers Einsicht in die ›verknüpfende‹ Funktion der Kunst, die den Geist mit dem Körper vereint und am eminentesten in der Komödie die realistische Beziehung zwischen ›Ding-Welt‹ und ›Ide-

85 86 87 88 89 90 91 92

A. a. O., 358. A. a. O., 357. A. a. O., 356 (Hervorhebung RS). A. a. O., 357. Ebd. A. a. O., 360. Ebd. A. a. O., 362.

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Fragen des Stils?

enwelt‹ veranschaulicht.93 Der ›Sprung‹, der ›Wurf‹ – die metabasis eis allo genos – von dem Cassirer häufig spricht, als befreiendem Übergang zwischen verschiedenen symbolischen Formen, der auf das Ästhetische als ›Zwischenspiel‹ angewiesen ist – wird in seiner ausgedehnten Diskussion des Komischen veranschaulicht. Denn das Komische entsteht gleichsam als die ›default position‹ (Standardstellung in der Computer-Sprache). Es ermöglicht den Übergang, aufwärts oder abwärts, zwischen Ebenen von Cassirers Schema der symbolischen Formen. Cassirers Interpretation des ›guten Humors‹ als wesentlich stilistischästhetisch ist am deutlichsten in seiner Studie des englischen Denkers Shaftesbury, wo wir ganz klar Cassirers eigene Stimme hören. Was er von Shaftesbury behauptet, stimmt Punkt für Punkt auch mit seiner eigenen Kulturtheorie überein. Der ›gute Humor‹, den er bei Shaftesbury findet, ist ja der ästhetische Gehalt jedweder ästhetischen Gestalt.94 Cassirers Analyse von Shaftesbury läßt sich also als Selbstkommentar lesen. Wie für Shaftesbury so für Cassirer »wird das Problem der ästhetischen Form zu einem […] allumfassenden […] und grundlegenden Problem«.95 Vor allem drückt sich der gute Humor im Stil aus – und auf jeder Ebene, von der des Schreibens bis zu der des Verhaltens: »Überall prägt sich hier […] ein gemeinsames Stilmotiv aus, das seine Erklärung in der veränderten Haltung zur Welt [vor allem der Sprache] findet«.96 Das Beispiel Shakespeares zeigt uns, wie die Komödie in dem Wirbel der Sprache ihr Leben führt: »[…] sie liebt es, [diesen Wirbel] ständig zu steigern. Immer aufs neue kostet sie dieses Spiel, diese reine Selbstbewegung des Wortes aus. An ihr offenbart sich jene innere Dynamik des Geistes, die nicht anders als im steten Auf und Ab, im Wettstreit seiner Kräfte, im Gegeneinander der Antithesen spürbar wird.«97

Die selbstregulierende Dynamik des Geistes ist der gute Humor: der Gehalt des ästhetischen Schaffens und Seins. Die Diskrepanz zwischen der Welt als ästhetischem Phänomen einerseits und jeder anderen Weltanschauung (bzw. jeder andern symbolischen Form) anderseits ist die Urquelle der dem guten Humor zugewiesenen Ironie, die Cassirer bei Cervantes, Rabelais, Shakespeare, Shaftesbury, Goethe und manchen anderen von ihm höchst bewunderten Schriftstellern findet. In klarer Anlehnung an Nietzsches Auffassung von »der ganzen Komödie der Kunst«98 – von Gilles Deleuze

93

A. a. O., 379. A. a. O. 361. 95 A. a. O., 351. – Für eine äußerst scharfsinnige Analyse von Shaftesburys Ästhetik siehe Isabella Woldt: Architektonik der Formen in Shaftesburys Second Characters. Über soziale Neigung des Menschen, Kunstproduktion und Kunstwahrnehmung, München 2004. 96 A. a. O., 358. 97 A. a. O., 359. 98 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1871), in: KSA 1, Sektion 52. 94

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im Folgenden neu formuliert: »die Tragödie ist die ästhetische Form der Freude«99 – schreibt Cassirer, daß es in der Welt der Kunst »keine Trennung von Komödie und Tragödie mehr gibt«.100

Cassirer als Sprachstilist Was Cassirer eigentlich sagen möchte, wenn er Kunst als »eine Interpretation der Wirklichkeit […] durch Intuitionen […] durch [das Medium] sinnlicher Formen« bezeichnet, ist, daß die Kunst den bewußten Genuß der ›symbolischen Prägnanz‹ darstellt (in der ästhetischen Manipulation eines konkreten Mediums, was er nach Goethe ›Stil‹ nennt). Denn alle Kunst braucht als Grundvoraussetzung eine sorgfältige Wahl des Materials und die überlegte Stilisierung zu einer effektiven Form. Was Cassirer Stil nennt, ist also die ästhetische Gestalt. Für Cassirer, wie für André Breton, ›les mots font l’amour‹: ein Gedicht besitzt, wie alle Kunst, einen Körper, in dem es existiert.101 Cassirer möchte seine Leser dazu ermutigen, seine präzise Aussage im Kontext zu konstruieren, oft durch subtile rhetorische Variierung von Begriffen (›Synonymik‹ und ›Polyptoton‹), nicht zuletzt in Bezug auf seinen Schlüsselbegriff ›Symbol‹. Die folgenden drei Ausschnitte veranschaulichen Cassirers Hang zum ästhetisch Aphoristischen, besonders im Vergleich mit der englischen Übersetzung im dritten Beispiel: (1) » […] eine künstlerische Form im eigentlichen Sinne entsteht erst dort, wo die Anschauung sich von jeder Gebundenheit im bloßen Eindruck gelöst, wo sie sich zum reinen Ausdruck befreit hat.«102 (2) »Hierin wurzelt der Unterschied von Stil und Manier; der Stil giebt das objektive ›Wesen› des Gegenstands, die Manier nur eine zufällige Ansicht von ihm.«103

Gilles Deleuze: Nietzsche and Philosophy, übersetzt von Hugh Tomlinson, London 1983, 17. 100 Cassirer: Die Platonische Renaissance in England, ECW 14, 360. – Vgl. auch: »The step from a consideration of philosophy as style to one of philosophy as symbolic form, which makes evident philosophy’s function in its style, is only a small one.« (Barbara Naumann: »Styles of Change: Ernst Cassirer’s Philosophical Writing«, in: Hamlin/Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, 79. 101 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 159; Vgl. Christian Möckel: Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung, Berlin 2003, 155–186; André Breton: »Les mots sans rides«, in: Littérature, 2 series, 1. Dezember 1922, 12 ff.; nachgedruckt in Marguerite Bonnet: Œuvres complètes, 3 Bände, Bd. 1, Paris 1988–1999, 284 ff., hier: 286. 102 Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16, 86. 103 Ernst Cassirer: Goethe – Vorlesungen (1940–1941), in: ECN 11, 10. 99

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Fragen des Stils?

(3) »Der kleinste Gegenstand, die flüchtigste Stimmung kann künstlerisch behandelt und geformt werden – sofern es nur gelingt, nicht nur sie selbst auszusprechen, sondern an ihr und durch sie das Ganze der Persönlichkeit, die Tiefe der Individualität sichtbar zu machen. Nur was in dieser Weise aus dem inneren Leben des Künstlers quillt, hat Wahrheit – und hat damit echte Schönheit.«104

[The smallest object, the most fugitive of moods can be treated and given form aesthetically, so long as the artist succeeds, not only in expressing the mood itself but in making manifest in and through it the wholeness of his personality, the depth of his individuality. Only what flows in this way from the inner life of the artist has truth – and with it genuine beauty.] Die Symmetrie des Satzbaus, wie auch die fließende Synonymik, die klare, deutliche Antithetik, die Satz-Parallelität (oben mit Kursivschrift angedeutet) erinnert an Lichtenberg oder auch an La Rochefoucauld. Das ist also ein Teil des Stilbegriffs, den Cassirer von Goethe übernommen hat. Der ›Stil‹ eines individuellen Schriftstellers ist selbstverständlich der Ausdruck des Stils einer spezifischen Zeit, der selbst der Stil einer besonderen Kultur ist – und gleichzeitig der Ausdruck der Menschheit selbst.105 Das ist aber ›Stil‹ nur im Goetheschen Sinne von Manier. Es ist nicht zu weit getrieben, die spielerische Durchdringung des komischen Geistes mittels der symbolischen Prägnanz der Kunst – also des eigentlichen Stils – als dasselbe anzusehen, was Cassirer als »die Versöhnung von Philosophie« mit allgemeinem »Menschensinn« bei Goethe erkennt und bewundert.106 Denn geschriebener/ gesprochener Sil im strengsten Sinne – also verbale ›symbolische Prägnanz‹ – gehört für Cassirer zur Literatur, vor allem zur Dichtung (wie bei Hölderlin oder Goethe). Denn ein Gedicht ist für Cassirer wie für Goethe ein ›gegliedertes Gebilde‹: ein Bild im eigentlichen Sinne von ›bilden‹/›Bildung‹. Und wenn er vom Stil der diskursiven Sprache spricht, meint Cassirer, zumal in der Philosophie, fast immer ›rhetorische Manier‹ – also eine Form, die an

Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 212. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 521. 106 »Aber wenn in dem Gebilde des Dichters das Unbegreifliche getan ist: so hat der Forscher die Aufgabe, für diesen Gegensatz erst die wahrhafte Kategorie des Begreifens zu finden. Und ebendies ist es, was die »ideelle Denkweise«, die Goethe von dem echten Naturforscher verlangt, zu leisten hat. Hier ist der Punkt, an dem Goethe sich mit vollster Schärfe und Bewußtheit von der Methodik der Naturbetrachtung, die er vorfindet, loslöst, um eine neue Forderung hinzustellen, in der er die Versöhnung von Philosophie und allgemeinem »Menschensinn« erblickt. »Die Überzeugung, daß alles fertig und vorhanden sein müsse, wenn man ihm die gehörige Aufmerksamkeit schenken solle, hatte das Jahrhundert ganz umnebelt […] und so ist diese Denkweise als die natürlichste und bequemste aus dem sieb|zehnten in’s achtzehnte, aus dem achtzehnten in’s neunzehnte Jahrhundert übergegangen und wird so fort nach ihrer Weise nützlich wirken […] indeß die ideelle Denkweise das Ewige im Vorübergehenden schauen läßt und wir uns nach und nach dadurch auf den rechten Standpunct, wo Menschenverstand und Philosophie sich vereinigen, werden erhoben sehen«.« (Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7, 222). 104 105

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sich abstrakt ist und so imitiert werden kann. In dieser klassischen Unterscheidung folgt er Goethe, Schiller, und Herder.107 Aber Cassirer war sich auch dessen bewußt, daß sowohl Goethe als auch Schiller sich ein ›Mittelding‹ zwischen Philosophie und Literatur vorstellen: bei Schiller ›schöner Vortrag‹, bei Goethe ›künstlicher Vortrag‹ genannt. Goethe ist von Beginn seiner systematischen Naturuntersuchungen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts an davon überzeugt, daß es eine Verbindung gibt zwischen der ästhetischen Wahrnehmung des natürlichen Vorgangs und dem, was er in seinem Aufsatz über »Einfache Nachahmung, Manier und Stil‹ ›Stil‹ nennt, welchen er deutlich unterscheidet von dem Gebrauch des Wortes ›Stil‹ im üblichen Sinne als ›eine Art oder Manier‹, um ›das rein symbolische‹ von dem bloß ›analogischen‹ Stadium einer symbolischen Form zu unterscheiden, wie Cassirer diese Stelle kommentiert.108 In einem späteren Aufsatz von 1823, Probleme betitelt, besteht Goethe darauf, daß, während es unmöglich sei, die allgegenwärtige Gleichzeitigkeit widerstreitender Kräfte in der Natur in einer erörtenden, didaktischen Sprache zu beschreiben, doch ein ›künstlicher Vortrag‹ vorstellbar sei, der zumindest ein wenig davon andeuten könne: »Wir müßten einen künstlichen Vortrag eintreten lassen. Eine Symbolik wäre aufzustellen! Wer aber soll sie leisten? Wer das Geleistete anerkennen?«109

Zwei distinkte Sprachformen werden in Goethes ›künstlichem Vortrag‹ (bzw. Schillers ›schönem Vortrag‹) zu einer zusammengefügt. Es gibt eine begriffliche Struktur, in der andere, nichtbegriffliche Elemente den logischen Beziehungen untergeordnet sind. Auf der andern Seite steht das Poetische, in welchem begriffliche Beziehungen allen andern nebengeordnet sind. Diese beiden Formen – die logische und die ästhetische – koexistieren in einer Beziehung der gegenseitigen Unterordnung, so daß der Leser den diskursiven Text entweder als kommunikativ oder expressiv ansehen kann, je nach Bedarf und Fähigkeit. Diese sich gegenseitig unterordnende Verknüpfung des Logischen und des Ästhetischen macht den eigentlichen ›künstlichen Vortrag‹ aus, und dies unterscheidet ihn deutlich von der vollständigen Verschmelzung, wie sie in der Lyrik vorkommt, wo nur koordinierende Beziehungen am Werk sind. Diese Theorie setzt voraus, daß die Körperlichkeit der Sprache im künstlichen Vortrag eine doppelte Funktion erfüllt. Sie schafft erkennbare, sinnliche Verbindungen zwischen Aus-

107

Siehe Roger H. Stephenson: »The Cultural Theory of Weimar Classicism in the Light of Coleridge’s Doctrine of Aesthetic Knowledge«, in: Bishop/Stephenson (Hg.): Goethe 2000, 149–169, insbes. 161 f. 108 Vgl. Krois: »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, 298. 109 Johann Wolfgang von Goethe: Probleme, in: HA 12, 36.

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drücken (wie in der Lyrik) und dient gleichzeitig dazu, bereits etablierte begriffliche Beziehungen zu verstärken (wie häufig in der Rhetorik). Im ersten Fall ist das sinnliche Medium der diskursiven Bedeutung gleichgestellt, im zweiten untergeordnet.110 Das große Feingefühl, mit dem Cassirer die Gedichte Goethes angeht, sowohl in seinen Goethevorlesungen in Schweden111 wie in einer früheren Studie, Freiheit und Form112 , zeigt sich in seiner Sorgfalt im Umgang mit den feinen Nuancen von Goethes Stil. Seine sensible Lesart weist auch die Prinzipien, die er in seiner Kulturphilosophie herausarbeitete, am Werk in seiner praktischen Interpretation eines kulturellen Objekts auf. Cassirers erste und vorherrschende Reaktion ist eine ästhetische. Er bezeichnet das Gedicht als »die schönste dichterische Darstellung des Problems [von Freiheit und Form]« und offeriert dann einen kurzen, aber präzisen Kommentar zu Goethes Erlösung von innen, »durch die Kraft des Menschen selbst«, und seiner poetischen Unterordnung des mythischen Stoffes in der Einleitungsstrophe zu diesem Zweck.113 Unter Verwendung von Schlüsselbegriffen der Weimarer Ästhetik empfiehlt Cassirer seinen Zuhörern, das ganze Gedicht (laut) zu lesen, um »die eigentliche Schönheit nachzufühlen«, denn »keine bloße Beschreibung kann Ihnen eine Vorstellung von dem geistigen Gehalt dieser Verse mitteilen«. Im Einklang mit seiner Theorie der Kunst findet er in dieser Schönheit des Stils die Tiefe der Bedeutung.114 Dieses klassische Erbe drückt sich auch in Cassirers eigenem Stil aus – und nicht nur in seiner bewußt rhetorischen Meisterschaft. In dem beschränkten Rahmen eines Aufsatzes kann auf eine ausführliche Erörterung natürlich nicht eingegangen werden. Aber es kann vielleicht angedeutet werden, wie sehr Cassirer seine Prosa durch die gleichen Stilmittel erhöht und steigert, die Goethe und Schiller empfohlen haben. Die Brisanz seiner Schriften kann man auf seine Ausnutzung der gleichen ›schönen‹, ›künstlichen‹ und dennoch ›naturgemäßen‹115 Schreibweise zurückführen. Meine Unterstreichungen in dem oben zitierten Auszug (3) sind ein Versuch, die vielen Assonanzen und Alliterationen in Cassirers Text hervorzuheben. Wenn man den deutschen Text mit der englischen Übersetzung vergleicht, fällt es einem deutlich auf, wie viel von der Kraft von Cassirers eigenem Stil in der englischen Variante verloren gegangen

110

Siehe Roger H. Stephenson: »›Ein künstlicher Vortrag‹: die symbolische Form von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften«, in: Naumann/Recki (Hg.): Cassirer und Goethe, 27–42. 111 Cassirer: Goethe-Vorlesungen (1940–1941), ECN 11, 39 f., 261 f. 112 Cassirer: Freiheit und Form, ECW 7. 113 Cassirer: Goethe-Vorlesungen (1940–1941), ECN 11, 39. 114 A. a. O., 40. 115 Für Goethe ist der künstliche Vortrag »die naturgemäße Darstellung«. – Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Versuch einer Witterungslehre (1825), in: HA 13, 313.

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ist. Die Velar-Alliteration zum Beispiel, zwischen ›Gegenstand‹, ›flüchtig‹, ›künstlerisch‹, ›gelingt‹, und ›Ganze‹, assoziiert auf eine gefühlte, alogische Weise die Schlüsselmotive der ersten Aussage, so wie das Homoteleuton (›Persönlichkeit‹ – ›Wahrheit‹ – ›Schönheit‹) das rhetorisch Apodiktische der Aussage nicht nur verschönert und mildert, sondern in eine poetische Artikulierung verwandelt. Es sollte uns daher kaum verwundern, wenn ähnliche Kombinationen aus meisterhaft evokativer Rhetorik und poetischer Koordination in Cassirers Schriften sehr oft vorkommen. Um bei seinen Lesern das »darstellende Denken« zu reproduzieren, das er bei Goethe und Schiller bewunderte, d. h. um bei seinen Lesern einen Geisteszustand hervorzurufen, in dem Denken und Wahrnehmung eins werden (»sinnlich-geistige Überzeugung«, wie Goethe es nannte) 116 , muß die Ausdruckskraft von Cassirers Stil dieses koordinierte Gleichgewicht selbst herstellen. Wir müssen durch die sprachliche ›Binnenlandschaft‹ (wie Gerard Manley Hopkins das Dichterische nannte) sowohl einen Gedanken erkennen als auch ein Bild erfassen. ›Stil‹ bei Cassirer kann ganz konventionell das Generische bezeichnen, das jeder Künstler – ja jeder, der ein semiotisches Medium ausnützt – benötigt: die sogennanten ›Gattungen‹ zum Beispiel, vom Sonett über den Aufsatz oder Aphorismus bis zur Idylle. Also die Kunst als ›symbolische Form‹. Aber ›Stil‹ bezeichnet für Cassirer auch das Spezifische, das am Medium, am Technischen haftet. In der Dichtung ist das sprachliche Medium mit dem semantischen Inhalt koordiniert; in der gesteigerten Prosa des schönen/künstlichen Vortrags ist der Körper der Sprache damit subordiniert und koordiniert. Mit einem Wort: Cassirer, genau wie Nietzsche117, braucht einen ›Wortkenner‹ als Leser, damit sein(e) Stil(e) genossen und so seine Ideen verstanden werden.118

Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise, Bericht, Rom, Dezember 1787, in: HA 11, 456. 117 Friedrich Nietzsche: Mörgenröte (1873), in: KSA 3, IV, 10. 118 Siehe Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), ECW 16, 76: »Erst Stilistik, dann Syntax und Lautlehre«. 116

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Literaturverzeichnis Mikhail Bakhtin: Rabelais and His World (1940), Cambridge 1968 André Breton: »Les mots sans rides«, in: Littérature, 2 series, 1. Dezember 1922 (nachgedruckt in Marguerite Bonnet: Œuvres complètes, 3 Bände, Bd. 1, Paris 1988–1999) Kenneth Burke: Attitudes toward History, Berkeley 1984 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, Hamburg 1999 – Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), in: ECW 9 – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 – Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12 – Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13 – Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14 – »Sprache und Mythos« (1925), in: ECW 16, 227–311 – »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: ECW 17 – Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 – Goethe-Vorlesungen (1940–1941), in: ECN 11 – Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ECW 16 – An Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven/London 1946, in: ECW 23 – The Myth of the State, in: ECW 25 – »Zur Logik des Symbolbegriffs«, in: ECW 22, 112–139 Gilles Deleuze: Nietzsche and Philosophy, übersetzt von Hugh Tomlinson, London 1983 Umberto Eco: »On Symbols«, in: John Deeley (Hg.): Frontiers in Semantics, Bloomington 1986 Harald Fricke (Hg.): Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa, Frankfurt/M./ Leipzig 2005 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise, Bericht, Rom, Dezember 1787, in: ders.: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz [im folgenden HA], Bd. 11, Hamburg 1948 ff. – Probleme, in: HA 12 – Versuch einer Witterungslehre, in: HA 13

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Cyrus Hamlin: »Ernst Cassirer’s Concept of Kulturwissenschaft and the Tradition of the Humanities in the Modern University«, in: Cultural Studies and the Symbolic I, 2003 Max Hecker (Hg.): Goethes Maximen und Reflexionen, in: Schriften der GoetheGesellschaft 21, 1907 Jan Walsh Hokenson: The Idea of Comedy: History, Theory, Critique, Cranbury/NJ 2006 John Michael Krois: »Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer«, in: Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos, Berlin 1979 – Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven 1987 – »Cassirer’s ›Prototype and Model‹ of Symbolism: Its Sources and Significance«, in: Science in Context 12, 1991 – »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 – »Die Goethischen Elemente«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 Steve G. Lofts: Ernst Cassirer. La Vie de l’Esprit, Leuven 1997 Christian Möckel: Anschaulichkeit des Wissens und kulturelle Sinnstiftung, Berlin 2003 Barbara Naumann: »Umschreibungen des Symbolischen. Ernst Cassirers Goethe« in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 – »Styles of Change: Ernst Cassirer’s Philosophical Writing«, in: Cyrus Hamlin/ John Michael Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, New Haven 2004 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1871), in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari [im folgenden KSA], 15 Bände, Bd. 1, Berlin/New York 1967 ff. – Mörgenröte (1873), in: KSA 3 – Also sprach Zarathustra (1883–85), in: KSA 4 Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985 Brian Poole: »The Philosophical Origens of Bakhtins Carnival Messianism«, in: South Atlantic Quarterly 1998 (auch in: Cyrus Hamlin/John Michael Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, New Haven 2004) Birgit Recki: »Cassirer über Geist und Bewußtsein«, in: Ralph Schumacher (Hg.): Idealismus als Theorie der Repräsentation, Paderborn 2001 – »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 – »Cassirer and the Problem of Language«, in: Cultural Studies and the Symbolic I, 2003 Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol: Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003

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Friedrich Schiller: »Tabulae Votivae«, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe I, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1943. – Ästhetische Briefe, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe XX, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962. – »Über das Erhabene«, in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe XXI, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1961 Hans Schulz (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes Briefwechsel, Bd. I, Hildesheim 1967 James Spedding/Robert Leslie Ellis/Douglas Denon Heath (Hg.): The Collected Works of Francis Bacon, 14 Bde., London 1857–1874 Roger H. Stephenson: Goethe’s Conception of Knowledge and Science, Edinburgh 1995 – »The Cultural Theory of Weimar Classicism in the Light of Coleridge’s Doctrine of Aesthetic Knowledge«, in: Paul Bishop/Roger H. Stephenson (Hg.): Goethe 2000: Intercultural Readings of his Work, Leeds 2000 – »›Ein künstlicher Vortrag‹: die symbolische Form von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften«, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002 – »›Eine zarte Differenz‹: Cassirer on Goethe on the Symbol«, in: Cyrus Hamlin/John Michael Krois (Hg.): Symbolic Forms and Cultural Studies, New Haven 2004 – »The Levels and Modes of Symbolism: Myth, Art, and Language in Cassirer, with special reference to Goethe’s ›Urworte. Orphisch‹«, in: Cultural Studies and the Symbolic III, 2008 Isabella Woldt: Architektonik der Formen in Shaftesburys Second Characters. Über soziale Neigung des Menschen, Kunstproduktion und Kunstwahrnehmung, München 2004

Oliver Müller

Eine Frage des Stils Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger

Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die These, daß Cassirer nach der Davoser Disputation mit Martin Heidegger seine eigene Position zu stärken suchte, indem er sein Programm einer Philosophie der symbolischen Formen an die sich zeitgleich etablierende Philosophische Anthropologie von Max Scheler und Helmuth Plessner annäherte. Heidegger hatte versucht, Cassirer als Gegner zu entschärfen, indem er ihn »bloß« als »Neukantianer« zu sehen angibt und »Neukantianismus« dabei sehr eng definiert als »die Auffassung der Kritik der reinen Vernunft, die den Teil der reinen Vernunft, der bis zur transzendentalen Dialektik führt, erklärt als Theorie der Erkenntnis mit Bezug auf die Naturwissenschaft.«1 Diese programmatische Engführung hat mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen nichts zu tun; die Fehlinterpretation der Absicht und Grundlage seiner Philosophie hatte Cassirer gleich zu Beginn der Disputation thematisiert und den zum »Sündenbock« gemachten »Neukantianismus« verteidigt und sehr weit definiert, so daß er nicht nur sich selbst, sondern auch Heidegger unter die Definition fassen kann: »Man muß den Begriff ›Neukantianismus‹ nicht substanziell, sondern funktionell bestimmen. Es handelt sich nicht um eine Art der Philosophie als dogmatisches Lehrsystem, sondern um eine Richtung der Fragestellung. Ich muß gestehen, daß ich in Heidegger hier einen Neukantianer gefunden habe, wie ich ihn nicht vermutet hätte.«2 Doch diese Konzilianz3 fällt nicht auf fruchtbaren Boden, weil der abschottende Überbietungsgestus zur Theoriebildungsstrategie Heideggers gehört. Gegenüber Cassirer findet sich Heideggers ablehnende Haltung paradigmatisch in der Vorlesung von 1929/30, in der er Cassirers

Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, in: ders.: Gesamtausgabe (GA), Bd. 3, hg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt/M. 1991, 275. – Siehe zur Davoser Disputation: Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer –Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002. 2 Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 274. Siehe allgemein zu Cassirers Verhältnis zum Neukantianimus Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, 136 ff. und Massimo Ferrari: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Hamburg 2003. 3 Siehe zu dieser denkerischen Grundhaltung Cassirers John Michael Krois: Cassirer. Symbolic forms and history, New Haven 1987, XI. 1

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Fragen des Stils?

Philosophie bescheinigt: »Auch hier ist wiederum nahezu alles richtig bis auf das Wesentliche.«4 Die sich zur Zeit der Davoser Disputation etablierende philosophische Anthropologie wurde sowohl von Cassirer als auch von Heidegger (und Husserl) als eine Herausforderung gesehen. Heidegger betrachtete sie argwöhnisch und mußte sogar darauf bedacht sein, daß Sein und Zeit 5 nicht anthropologisch gelesen wird, was selbst Husserl naheliegend schien. 6 In seinem Kant-Buch setzt sich Heidegger direkt mit der Anthropologie Schelers auseinander (dem er bekanntlich auch dieses Buch widmete) und bestreitet vehement, daß sie eine Grunddisziplin der Philosophie sein kann und behauptet, daß sie keine Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, geben könne, ja daß sie nicht einmal in der Lage sei, angemessen nach dem Menschen zu fragen. 7 Obwohl sich die Anthropologie in diesen Jahren erst etablierte nimmt sie Heidegger als sehr präsent (»reichste und lauteste anthropologische Wissen«) und mit Grundlegungsanspruch auftretend wahr (»[…] beansprucht jetzt die Entscheidung darüber, was Wahrheit überhaupt bedeuten kann.«). Offenbar hat er die Anthropologie sofort als Konkurrentin seiner Fundamentalontologie wahrgenommen und in dem Kant-Buch auf sie reagiert. Auf den ersten Blick scheint das sachlich nicht zwingend gewesen zu sein – da aber das Kant-Buch nicht nur eine originelle Kant-Interpretation, sondern eine Weiterarbeit an der Fundamentalontologie ist8 – es versucht Entscheidendes für die »destruktive« Absicht zu formulieren –, hatte Heidegger offenbar das Bedürfnis, sein Projekt gegenüber den Ansprüchen der Anthropologie sichern zu müssen. Diese Theoriepolitik spielt nun eine Rolle für Cassirers verstärktes Interesse an der Anthropologie. Denn Heideggers strategische Fehlinterpretation Cassirers als eines »bloßen« Neukantianers und die gleichzeitige kategorische Ablehnung philosophisch-anthropologischer Begründungsabsichten könnte einer der Gründe sein, warum Cassirer die Philosophische

4

Martin Heidegger: »Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit«, in: GA 29/30, 113. Siehe dazu Winfried Franzen: »Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung ›Die Grundbegriffe der Metaphysik‹ von 1929/1930«, in: Annemarie GethmannSiefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, 92, Fn. 26. 5 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), in: GA 2. 6 Siehe zu Heideggers und Husserls Rezeption der philosophischen Anthropologie Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006. – Aber auch Helmut Fahrenbach: »Heidegger und das Problem einer »philosophischen« Anthropologie«, in: Vittorio Klostermann (Hg.): Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt/ M. 1970. 7 Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, bes. 208–214. 8 Siehe das Vorwort a. a. O., XVI.

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Anthropologie, die gleich 1928 mit Schelers Tod schon existenzgefährdet schien, so aufmerksam rezipierte: Seit der Davoser Disputation konnte sich Cassirer veranlaßt gesehen haben, seine Philosophie deutlicher unter den Gegenwartsphilosophien zu positionieren und hier schien tatsächlich eine Möglichkeit zu sein, den eigenen Ansatz produktiv weiterzuentwickeln, ihm ein Fundament zu geben, das deutlich macht, daß in der Philosophie Cassirers wirklich kein »Neukantianismus« in jenem engeren Sinne mehr vorliegt. Zurecht kann man mit Joachim Fischer behaupten, daß Cassirer aufgrund seiner Reputation bei der ersten Rezeption der Schelerschen und Plessnerschen Anthropologie eine Schlüsselfunktion zukam: »Ob die Philosophische Anthropologie unmittelbar nach Schelers Tod ein wirkungsvoller, fruchtbarer Denkansatz werden, Repräsentanz gewinnen konnte, hing – so könnte man im nachhinein sagen – an Cassirers Votum.« 9 Doch mußte Cassirers Votum für die Zeitgenossen irritierend gewesen sein, so konnte man – etwa bei der Davoser Disputation selbst – zwar die neue thematische Ausrichtung bereits bemerken10 , gleichzeitig veröffentlich Cassirer 1930 seinen Aufsatz »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, in dem er sehr kritisch mit Scheler umgeht.11 Und noch konnte niemand wissen, daß Cassirer zeitgleich in seinen Aufzeichnungen zum vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen notierte, daß Plessners Resultate seine eigene Philosophie »aufs nächste berühr[en]« und auch mit Schelers Anthropologie glaubte er sich, »so weit ich sie mir aus der bisher vorliegenden kurzen Skizze seiner Anthropologie verdeutlichen konnte, in prinzipieller Übereinstimmung zu befinden.«12 Cassirers intensive Auseinandersetzung mit der Anthropologie während seiner Exiljahre in Göteborg und New Haven wiederum fand zunächst hauptsächlich in Lehrveranstaltungen statt. Deutlich wird dabei, daß Cassirer nicht einfach nur Schelers und Plessners Theoreme übernahm, sondern daß er versuchte, die Philosophische Anthropologie in gewisser Hinsicht selbst neu zu begründen; vor allem in Band 6 der Nachgelassenen Manuskripte

Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung im 20. Jahrhundert, Freiburg 2008, 101. 10 Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2006, 165. 11 Ernst Cassirer: »»Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart« (1930), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Hamburg 2004, 185–205. – Es sei auch erwähnt, daß Cassirer Scheler auch schon in der Philosophie der symbolischen Formen rezipiert und zitiert hat, vor allem das Sympathie-Buch (etwa Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 96 ff.) 12 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 1995, 60. 9

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und Texte ist diese schier unglaubliche Kraftanstrengung dokumentiert.13 Daher ist es nur vorderhand richtig, bereits für das Ende der 20er Jahre »Cassirers inzwischen gebildete Distanz zum Projekt einer Philosophischen Anthropologie«14 zu diagnostizieren, denn Cassirer bleibt, auch wenn er sich nicht immer explizit auf Scheler oder Plessner beruft, dem Projekt einer Philosophischen Anthropologie treu – nur versucht er selbst eine Neubegründung. In dieser Neubegründungsleistung geht es für Cassirer um das Fundament seiner eigenen Philosophie. Dafür suchte er Status, Profil und Aufgabe der Philosophischen Anthropologie unter verschiedenen Gesichtspunkten zu klären. Einige der zentralen Fragen und Probleme, die Cassirer dabei zu beantworten und zu bewältigen hatte, sollen im Folgenden entfaltet werden. Dabei wird es um eine theoretische Doppelbewegung gehen, die kritische Auseinandersetzung mit Heidegger als eine Reaktion auf die fundamentalontologische Anthropologie-Kritik auf der einen und die produktive Aneignung der philosophisch-anthropologischen Ansätze als ein Versuch, zentrale Einsichten der Philosophischen Anthropologie aufzunehmen auf der anderen Seite – beides mit der Absicht, eine Neubegründung der Philosophischen Anthropologie zu unternehmen.

I) Zunächst gilt es zu klären, welchen systematischen Status die Philosophische Anthropologie innehat, was sie für eine Rolle im Konzert der philosophischen Disziplinen spielt, welche spezifischen Aufgaben sie übertragen bekommt. Cassirer selbst thematisiert die Frage nach dem Status der Anthropologie am Anfang seiner 1939/40 gehaltenen Göteborger Vorlesung über die »Geschichte der philosophischen Anthropologie«. Dort bemerkt er gleich zu Beginn: »[…] die ›Anthropologie‹ gehört nicht zu jenen Gebieten, die sich im ›System‹ des philosoph[ischen] Wissens einen festen Platz erobert haben – Wenn wir eine Geschichte der Logik, eine Geschichte der Ethik, eine Gesch[ichte] der Naturphilosophie behandeln, so brauchen wir nicht zu fragen, was Logik selbst, was Ethik selbst ist – […] Aber die Anthropologie hat in diesem Grundriss des philos[ophischen] Wissens, wie er sich seit langem herausgebildet hat, noch keine feste Stelle [.]«15 Gleich-

Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6. – Siehe zur Auswertung und Kontextualisierung dieser Texte Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerstwist 2003. 14 Fischer: Philosophische Anthropologie, 105. 15 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 3. 13

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zeitig betont er aber, daß es an der Zeit sei, Status, Profil und Aufgabe der Anthropologie festzulegen. Diese Festlegungsaufgabe manifestiert sich in vier Funktionen. Erstens hinsichtlich der Grundlegungsfunktion mit der Frage, ob die Anthropologie als Disziplin mit Potential zur philosophischen Grundlegungen die rechtmäßige Nachfolgerin der Metaphysik ist und sein kann; zweitens in ihrer Funktion, auf die philosophische Krise der Gegenwart überzeugende Antworten zu bieten; drittens in ihrer Funktion, bislang mehr oder weniger vernachlässigte bzw. sekundär behandelte Aspekte des menschlichen Ausdrucksvermögens und der menschlichen Selbstkonstitution – vor allem Technik und Sprache – in das Zentrum der philosophischen Reflexion über den Menschen zu rücken; schließlich viertens in der Funktion, auch das Normative des Menschseins zum Ausdruck bringen zu können – als die (im Kantischen Sinne) pragmatische Dimension einer Philosophischen Anthropologie. Erstens: Die Frage nach dem Status der Philosophischen Anthropologie bezieht sich zunächst auf das Verhältnis derselben zu den anderen philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen: Ist die Anthropologie eine Disziplin unter anderen – oder ist sie die neue »Prima Philosophia«, mithin also die Nachfolgedisziplin der Metaphysik? Auf diese Frage kann man mit Ernst Wolfgang Orth antworten, daß die Philosophische Anthropologie nicht die umfassende Begründungsfunktion der aristotelischen »Prote Philosophia« haben kann.16 Gleichwohl begründet sie in ihrem Zugang zu den philosophischen Problemen eine der Metaphysik vergleichbare, grundlegende Fragerichtung – dies in dem Sinne, daß die Selbstbesinnung auf das Menschseinkönnen den anderen philosophischen Problemen vorausgehen muß. Doch anders als die Metaphysik kann in einer anthropologischen Perspektive die Frage nach dem Menschen durchaus eine konstitutiv offene bleiben und zudem kann ein gewisser Methodenpluralismus zur Beantwortung der Frage nach dem Menschen zugrunde gelegt werden. Daß Cassirer in diesem Sinne die Anthropologie als eine erste Philosophie begreift, findet sich in dem »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« belegt, einer Vorlesung, die Cassirer im Winter 1941/42 in New Haven hielt.17 Hier behandelt Cassirer die Sprache ausdrücklich auf der Grundlage der Philosophischen Anthropologie und etabliert diesen »necessary and specific branch of human knowledge« als vielversprechenden »approach« zum philosophischen Problem der Sprache und glaubt sogar,

Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, 250. 17 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 189– 343. 16

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sich für seine anthropologischen Vorüberlegungen entschuldigen zu müssen.18 Cassirer betont, daß man die Sprache nicht isoliert von den anderen kulturellen Formen – er nennt hier neben der Sprache Kunst, Religion und Wissenschaft – adäquat betrachten könne und daß es die Philosophische Anthropologie sei, die den gemeinsamen Boden aller kultureller Formen bilden kann und soll. Und selbstverständlich sei eine so verstandene Anthropologie nicht mit einer empirischen Disziplin zu verwechseln. Mit diesem Ansatz verfolgt er ein Begründungsmodell, das nicht mehr nur das Erneuerungsvorhaben der Transzendentalphilosophie als Kulturphilosophie verfolgt. In diesem Ansatz geht es nicht mehr nur um die Transformation der Vernunftkritik in eine Kritik der Kultur, sondern es geht um die Entwicklung der Kulturphilosophie aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie. Cassirer schließt dezidiert an Schelers und Plessners Anthropologie an – ja, er betont in der Phase des »Seminar« gegenüber seinen Hörern sogar, daß er auf dem Begriff der »symbolischen Form« keineswegs insistieren wolle, wenn der Begriff des Symbols wegen seiner Mehrdeutigkeit für allzu große Irritation sorgen sollte (»I have tried to designate this general condition by introducing the term symbolic form. But I do not wish to insist upon this name«).19 Und in der Erstfassung hatte der Essay on Man noch nicht den Untertitel »An Introduction to a Philosophy of Human Culture«, sondern der Text war »a Philosophical Anthropology«. 20 Doch grundsätzlich ist es keineswegs so, daß Cassirer seinen eigenen Ansatz zu Gunsten von Scheler und Plessner aufgibt – im Gegenteil. Er betont mehrfach, daß seine Philosophie der symbolischen Formen Wesentliches für die Grundlegung der Philosophischen Anthropologie zu leisten in der Lage ist, ja er beschreibt seinen Ansatz als »neuen Weg« zur Philosophischen Anthropologie. 21 In diesem Sinne betont er in seinen Entwürfen zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen: »Und nun, nach diesen allgemeinen Vorerwägungen, läßt sich erst in wirklicher Schärfe der Dienst bezeichnen, den eine systematisch aufgebaute ›Philosophie der symbolischen Formen‹ für die Grundlegung einer ›philosophischen Anthropologie‹ zu leisten vermöchte.«22 Darüber hinaus notiert er dort mit Blick auf Scheler und Plessner nukleushaft-programmatisch: »Die symbolische Form als Definition des Wesens ›Mensch‹«. 23 Man kann also in Cassirers Rezeption der Philosophischen Anthropologie eine

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A. a. O., 212. A. a. O., 246. A. a. O., 345. A. a. O., 392. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 53. A. a. O., 239.

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Phase des emphatischen Bekennens feststellen, die dann in die Integration philosophisch-anthropologischer Einsichten in seine originäre Kulturanthropologie mündet. Zweitens: Grundsätzlich teilt Cassirer Schelers Diagnose der Krise der Gegenwartsphilosophie, auf die eine erneuerte Anthropologie eine Antwort sein müsse, durchaus mit dem Anspruch, sowohl den Zusammenbruch des metaphysischen Weltgebäudes als auch die Darwinsche Kränkung aufzufangen, um so die Stellung des Menschen im Kosmos neu zu justieren. So zitiert Cassirer im »Seminar« ausführlich die krisendiagnostische Anfangspassage aus der Stellung des Menschen im Kosmos und betont dort selbst: »Never before in the history of philosophy has the problem of a philosophical Anthropology found such a general interest and won such an importance as in our own days.«24 Die Philosophische Anthropologie ist auch für Cassirer ohne Zweifel die Philosophie der Zeit – gleichzeitig ist Cassirer aber so sehr Philosophiehistoriker, daß er dem Schelerschen Gestus nicht ganz zu trauen scheint; daher hat er in die Begründung seiner Anthropologie die Frage nach dem Menschen als eine sich in der Geschichte immer wieder stellende mit aufgenommen, wovon vor allem die Göteborger Vorlesung von 1939/1940 zeugt. Hier ist die Anthropologie die Disziplin, die – angefangen mit Sokrates – immer in philosophischen Krisensituationen auf den Plan tritt. Doch gibt es für Cassirer auch bei der Begründung der Anthropologie einen Autor, der das anthropologische Denken erst systematisch möglich gemacht hat: Immanuel Kant. In der Göteborger Vorlesung sagt er etwa: »Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß Kant es gewesen ist, der der ›Anthropologie‹ erst ihre eigentliche Stelle im Gebiet der theoretischen Philosophie zu erkämpfen hatte. Auf den ersten Blick ist dies sehr befremdlich: denn in dem ausgebildeten System Kants muss sich die Anthropologie mit einer relativ-bescheidenen Rolle begnügen. Den Versuch, sie zur philosophischen Grundwissenschaft, insbesondere zum Fundament der Ethik zu machen, lehnt Kant ab. […] Aber Kant hat nicht immer so gedacht. Es gibt eine Epoche in seiner Entwicklung, in der er die Anthropologie als die eigentliche Grundwissenschaft ansah, auf die auch die Ethik aufbauen müsse.«25 Als Beleg zitiert Cassirer eine Vorlesungsankündung Kants, in der dieser, rousseauistisch inspiriert, von der »Natur des Menschen« handeln will. Cassirer deutet diese als den »anthropologischen Ausgangs-

Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 235 f. A. a. O., 21. – Siehe dazu aber auch die Rezension des Heideggerschen Kant-Buchs in Ernst Cassirer: »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation« (1931), in: ECW 17, 238 f. 24 25

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punkt«26 Kants, von dem er aber durch die kritisch-transzendentale Methode schließlich abgerückt sei. Dies bedeutet nichtsdestotrotz, daß Kant der erste gewesen ist, der die Anthropologie als Grundwissenschaft etabliert haben wollte, die der Metaphysik Wolffschen Typs gegenüber stehen sollte; 27 Kant ist somit der erste, der auf die fundamentale Krise der Moderne zu reagieren versucht. Doch heißt dies wiederum nicht, daß Kant schon alle Probleme der Anthropologie gelöst hätte. Bei Kant bleibt die Rolle der Anthropologie als Grundwissenschaft letztlich unklar, sie fällt zwischen der Transzendentalphilosophie und der pragmatischen Anthropologie als Populärdisziplin am Rande des transzendentalphilosophischen Projekts gewissermaßen hindurch. 28 Das ist einer der systematischen Gründe, warum Cassirer versucht, seiner Philosophie in Kulturphilosophie und Philosophischer Anthropologie ein Fundament zu liefern, das den »anthropologischen Ausgangspunkt« Kants in neuer Form wieder aufnimmt, um damit eine Philosophie zu begründen, die tatsächlich auf die Krise seiner Zeit – zunehmende Verdinglichung der Welt durch Naturwissenschaften und Technik bei gleichzeitiger ontologischer Vertrauenskrise – zu reagieren in der Lage ist. Drittens: Die Anthropologie bekommt für Cassirer ihre Legitimität dadurch, daß sie entgegen der klassischen philosophischen Trias Physik, Logik und Ethik weitere zentrale Sphären des Humanen zu integrieren weiß, die insbesondere den modernen Menschen charakterisieren. Dies sind vor allem Sprache, Technik und Kunst. Der Schluß im Entwurf zum vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen verdeutlicht dies auf eindrucksvolle Weise.29 In der Göteborger Vorlesung hebt Cassirer gleich zu Beginn hervor: »Die Antwort auf die Frage was er [der Mensch] ist, mußten wir also nicht allein der Logik, Physik und Ethik [,] sondern der Philosophie der Technik u[nd] der Sprachphilosophie entnehmen.«30 Einer der gewichtigen Gründe, warum die Anthropologie eine philosophische Grundlagendisziplin sein kann muß, ist die Neujustierung der Rolle von Sprache und Technik für das menschliche Selbstverständnis. An dieser Stelle sei nur auf die Bedeutung der Technik für Cassirers Anthropologie hingewiesen – weil Cassirer in diesem Punkt über Hei-

Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 23. A. a. O., 22. 28 Vielleicht liegt tatsächlich eines der Probleme darin, daß der Mensch in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bisweilen lediglich als »verbilligte Volksausgabe der Vernunft« erscheint (Blumenberg: Beschreibung des Menschen, 501). 29 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256 ff. 30 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 6. 26 27

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degger und Scheler deutlich hinausgeht, denn Heidegger verharrt in Sein und Zeit beim handwerklichen Werkzeuggebrauch während Scheler nicht müde wird, den homo faber zu verunglimpfen. Cassirer hat nicht nur in seinem Aufsatz »Form und Technik« die Technik als eigene symbolische Form zu etablieren versucht, sondern hat die Bedeutung von Werkzeug und Technik für das Verständnis des Menschseins auch in der Konzeption des vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen mehrfach betont. Gerade in seiner Skizze des Schlußkapitels verleiht er der Technik eine zentrale Funktion in der Konstitution des Menschseins. Die Technik ist zentraler Aspekt des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, sie ist »Durchgangspunkt des Verstehens« und eine fundamentale Form des Erkennens.31 Da sie keinesfalls die Dinge einfach »vergewaltigt«, sondern der Kenntnis ihres inneren Aufbaus dient, forderte Cassirer eine »Logodizee des Technischen«.32 Ganz in diesem Sinne sind auch die Überlegungen zur Technik in »Form und Technik« formuliert, und in dem »Seminar« bezeichnet er Werkzeuggebrauch und Technik entsprechend als »new method of life«, als »neue Methode des Lebens«.33 Dies ist entscheidend für den Status der Philosophischen Anthropologie, denn die Anforderungen an eine Grundlagendisziplin der Philosophie haben sich mit der Moderne geändert: An einer philosophisch-anthropologischen Auseinandersetzung mit der Technik ist nicht mehr vorbeizukommen. Cassirer hat in dem diffusen technophoben Bedrohungsszenario der Weimarer Republik die anthropologische Dimension der Technik erkannt und zumindest ansatzweise in seine Philosophie zu integrieren versucht. Viertens: Wenn man nun insgesamt sagen kann, daß die Anthropologie, wie sie Cassirer versteht, eine sich neu formulierende Disziplin ist, die Grundlegungscharakter hat, und in der Lage ist, überkommene philosophische Disziplineinteilungen aufzubrechen, so kommt für Cassirer noch ein weiterer Aspekt hinzu. Eine Anthropologie ist für ihn auch immer die Selbstbesinnung auf das Menschseinkönnen. Denn die Frage nach dem Menschen, so betont er in der Göteborger Vorlesung mit Rückgriff auf Kant »schloss von Anfang an eine doppelte Bestimmung ein – eine Bestimmung des Seins und eine Bestimmung des Sollens – eine faktische und eine normative – die faktische fragt nach dem Menschen als ›Naturwesen‹, die normative fragt nach dem Menschen als einem Glied im ›Reich der Zwecke‹ (Kant)«34, die Philosophische Anthropologie frage auch nach der »Bestimmung« des Menschen

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Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 256. Ebd. Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 251. A. a. O., 6.

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im Sinne der »Aufgabe« des Menschen.35 Dies ist vor dem Hintergrund des Vorworts zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu sehen, in dem Kant das Thema der Anthropologie als das umreißt, was der Mensch aus sich machen kann und soll.36 Im Folgenden soll Cassirers Begründung der Anthropologie an zwei Kernaspekten aus dem Bereich des Seins und aus dem des Sollens untersucht werden. Zum einen – als Beispiel für das Sein des Menschen – soll Cassirers Diskussion des Verhältnisses von Geist und Leben am Beispiel der Auseinandersetzung mit Scheler betrachtetet werden und zum anderen – als Beitrag zur Konturierung des Sollens in einer Anthropologie – wird Cassirers Auseinandersetzung mit Heidegger hinsichtlich des Problems der Humanität untersucht werden. Denn in einer Anthropologie geht es immer um die Frage nach »Natur« und »Humanität« des Menschen. 37

II) Jede Anthropologie hat zu klären, in welchem Verhältnis die geistigen Vermögen des Menschen zu seiner körperlich-leiblichen Konstitution stehen. Cassirer hat im Vorfeld seiner Neubegründung der Anthropologie das Verhältnis von Geist und Leben nicht nur als das zentrale Thema der Gegenwartsphilosophie benannt, sondern auch ins Zentrum seiner eigenen Philosophie gestellt, wie der Aufsatz von 1930, aber vor allem auch die Nachlaßschriften dokumentieren.38 In seinem Aufsatz »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« behandelt Cassirer Scheler ausdrücklich als einen Lebensphilosophen und erkennt und benennt deutlich die Bedeutung des Lebensbegriffs für die Etablierung einer Philosophischen Anthropologie. 39 Cassirer betont grundsätzlich seine Nähe und Sympathie zur Lebensphilosophie, sieht sie jedoch in wesentlichen Punkten als gescheitert an. Am Beispiel von Schelers Stellung des Menschen im Kosmos – eine Schrift, die er im Übrigen hoch schätzte – kritisiert er aber nachdrücklich die harte Entgegensetzung von Geist und Leben. Scheler will den traditionellen Leib-Seele-Dualismus überwinden, indem er ihn, so könnte man pointieren, zu überbieten sucht.

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A. a. O., 7. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe, Bd. VII, 119. 37 Siehe Karl Löwith: »Natur und Humanität des Menschen«, in: Klaus Ziegler (Hg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957. 38 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 207 ff. 39 Siehe zu Cassirers Lebens-Begriffen Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005, insbesondere 253 ff. 36

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Während Scheler das Psychische eng mit dem Lebensbegriff verknüpft40 – und damit die Seelenlehre zu einer »Biologie von innen« erweitert41 –, sieht er den Geist dagegen als ein »allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip«.42 Auch wenn er in der Beschreibung einzelner Charakteristika des Geistes – Weltoffenheit, Sachlichkeit, Auf-sich-Selbst-Gerichtetsein, Aktualität – in vieler Hinsicht anschlußfähig für Cassirer sein könnte, will Scheler aber keinen Zweifel daran lassen, daß der Geist einer gänzlich anderen Sphäre angehört als das Leben: der Geist sei einerseits »ohnmächtig«, weil alle Energie aus dem Leben komme; andererseits kann der Geist »Neinsagen« und den Menschen zum »Neinsagenkönner« und damit zum »Asketen des Lebens«, zum »ewigen Protestanten gegen alle bloße Wirklichkeit« machen.43 Gegenüber dieser harten Oppositionierung wird Cassirer später behaupten: »Life and spirit do not belong to different spheres of existence. We need not to transcend the realm of nature in order to reach the realm of spirit.«44 In »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart« legt Cassirer den Finger in die Wunde der Schelerschen Anthropologie, wenn er fragt: »Wenn Leben und Geist völlig verschiedenen Welten angehören, wenn sie einander ihrem Wesen wie ihrem Ursprung nach gänzlich fremd sind – wie ist es möglich, daß sie nichtsdestoweniger eine durchaus einheitliche Leistung vollziehen, daß sie im Aufbau der spezifisch menschlichen Welt, der Welt des ›Sinnes‹ zusammenwirken und ineinandergreifen?«45 – In dieser Frage ist in nuce das Programm enthalten, das Cassirer schon in der Philosophie der symbolischen Formen, aber dann insbesondere in seiner philosophisch-anthropologischen Grundlegung zu entfalten suchte. Gegen die Opposition von Geist und Leben macht er das »Zwischenreich der ›symbolischen Formen‹« geltend, das sich durch eine Verfeinerung der (Köhlerschen) »Kunst des Umwegs« konstituiere: »Demgegenüber bedeutet die Welt des menschlichen Geistes, wie sich in der Sprache und im Werkzeuggebrauch, in der künstlerischen Darstellung und in der begrifflichen Erkenntnis aufbaut, nichts weiter als die ständige, stets erweiterte und verfeinerte ›Kunst des Umwegs‹. Mehr und mehr lernt der Mensch, sich die Welt zu beseitigen, um die Welt an sich zu ziehen – und mehr und mehr verschmelzen ihm diese beiden Grundrichtungen des Wirkens zu einer einzigen, in sich einheitlichen Tätigkeit, deren beide

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Maria Scheler und Manfred S. Frings, Bd. 9, Bern, München 1976, 13. 41 A. a. O., 58; Wolfhart Henckmann: Max Scheler, München 1998, 202. 42 Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 31. – Siehe dazu auch Henckmann: Max Scheler, 205–207. 43 Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 44. 44 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 256. 45 Cassirer: »»Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart«, ECW 17, 191. 40

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Seiten wie, wie Ein- und Ausatmen, einander wechselseitig bedingen.«46 Diese »goethesche« Weise der Welterschaffung gründet in der »Energie des Bildens«, die den »Prozess der geistigen Distanzsetzung« ermöglicht: Die einfachste und prägnanteste Definition, die eine philosophisch ausgerichtete Anthropologie geben kann, so Cassirer in der »Metaphysik der symbolischen Formen«, ist die des Menschen als das »der Form fähige Wesen«.47 Als das »der Form fähige Wesen« erschließt und konstituiert sich der Mensch durch die sinnhaften Prägestrukturen der symbolischen Formen seine spezifisch menschliche Wirklichkeit. Aus seiner biologischen Konstitution heraus – ungeschützt, weltoffen – bedarf der Menschen der Medialität der symbolischen Formprozesse, um sich einen Deutungs- und Sinnraum zu eröffnen, als Mensch zu seinem Menschsein zu finden. Diese menschliche Wirklichkeit ist der Raum des Geistes, der ein eigenes Recht behauptet und nicht etwa auf darwinistische Prinzipien rückführbar ist. In seinem ersten Entwurf zum Essay on Man betont Cassirer in Richtung des biologistischen und freudianischen Reduktionismus, daß solche Theorien mit einer bloßen Karikatur des menschlichen Gesichts vergleichbar wären.48 Der Geist ist eigenständig, aber nur weil der Mensch sich als Teil der Natur und aus seiner biologischen Besonderheit heraus das Netz von symbolischen Formen schafft, das als die »Welt des objektiven Geistes«49 sowohl die Kulturalität des Menschen begründet als auch die spezifische humane Freiheit zu dieser Kultur bedeutet. Die Freiheit des menschlichen Geistes steht nicht im Gegensatz zum Leben, sondern kommt aus dem Leben selbst. Kerntheorem für Cassirers Antwort auf das psychophysische Problem ist die »Energie des Bildens«. Man muß auf den dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen zurückgehen, um die zentrale Bedeutung der »Energie des Bildens« zu erfassen. Mit der »symbolischen Prägnanz« führt Cassirer einen Grundterminus in seine Philosophie ein, der den Apriorismus des Bedeutens folgendermaßen zu erfassen sucht: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten, nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. […] In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie [die Wahrnehmung, OM] zugleich ein Leben ›im‹ Sinn.«50 Und nun ist es kein Zufall, daß Cassirer direkt nach diesem Kapitel

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A. a. O., 197. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 44. 48 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 390. 49 Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 293. 50 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 231. 47

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seine Ausführungen zur »Pathologie des Symbolbewußtseins« anschließt. In der Auseinandersetzung mit der aktuellen neurologischen Forschung, vor allem im Blick auf die Studien zur Aphasie an den Versehrten des ersten Weltkrieges (vor allem auf der Basis der Arbeiten von Kurt Goldstein und Adhemar Gelb, aber auch auf derjenigen von Henry Mead) und deren »Symbolblindkeit«, versucht Cassirer an den Ursprung der Energie des Bildens in der symbolischen Prägnanz heranzukommen. An diesen Forschungen kann er zunächst ablesen, »wie sehr nicht nur unser Denken der Welt, sondern wie schon die anschauliche Gestalt, in welcher für uns die Wirklichkeit ›vorhanden‹ ist, unter dem Gesetz und unter der Herrschaft der symbolischen Formung steht.«51 Und schließlich kann er beobachten, daß hinter der symbolischen Formung, hinter der Leistung der Distanz eine Grundkraft, ein Grundvermögen, ein Impuls steht, der das mittelbare Verstehen möglich macht, der sich sowohl in der Sprache als auch im »Werkzeug-Denken« zeigt. 52 Der Übergang vom Greifen zum Begreifen ist durch die »Kraft des geistigen Impulses« möglich und das »pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt. Aber eben in dem Rückschritt, den es vollzieht, macht dieses Verhalten die Gesamtbewegung des Geistes und das innere Gesetz seines Aufbaus von einer neuen Seite her verständlich.«53 Dieser Impuls, diese Kraft – Cassirer verwendet hier verschiedene Begriffe um die »Energie« des Bildens zu erklären – kommt aus dem Leben und ermöglicht die Ausbildung des »objektiven Geistes«, des kulturellen Lebens. Als Gegenentwurf zu Schelers Opposition von Geist und Leben, so kann man pointieren, schließt Cassirer seine Anthropologie an die neurowissenschaftliche Forschung seiner Zeit an, indem er die Energie des Bildens als die condition sine qua non des geistigen Lebens benennt. Diese Energie des Bildens ist biologisch und neurobiologisch bedingt, sie kann gestört, gehemmt werden, aber sie kann eben auch ausgebildet, differenziert, verfeinert werden. Noch in dem »Seminar« stützt sich Cassirer auf Goldsteins gerade 1940 erschienenes Buch Human Nature in the Light of Psychopathology. 54 Ist mit dieser neurophilosophischen Erklärung das Dualismus-Problem der Anthropologie gelöst? Was man zumindest sagen kann, ist, daß vor diesem Hintergrund Cassirers Argument gegen Scheler deutlicher konturiert ist. Aus dem bisher Gesagten ist es falsch, Geist und Leben derar-

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A. a. O., 238. A. a. O., 321. A. a. O., 321 f. Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 275.

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tig gegenüberzusetzen: Es ist, genau genommen, der Geist, der sich selbst widerstreitet. 55 Es sind in Wahrheit verschiedene kulturelle Modelle, die gegeneinanderstehen, nicht Geist und Leben. Noch ungeklärt bleibt jedoch das Verhältnis zu Plessner, der das Schelersche Dualismus-Problem nicht hat; mit der »exzentrischen Positionalität« hatte dieser versucht, eine nicht-dualistische anthropologische Formel zu finden. 56 Cassirer hatte in seinem Manuskript »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« seine Nähe zu Plessners »kritischer Naturphilosophie«, wie er es nennt, betont57, diesen dann aber in der Ausarbeitung seiner Anthropologie ab der Göteborger Vorlesung nicht mehr erwähnt. Auch im Essay on Man fällt der Name Plessner nicht, doch setzt Cassirer in einer zentralen Stelle – nämlich in dem Kapitel »A Clue to the Nature of Man: the Symbol«, in dem er die Bestimmung des Menschen als »animal symbolicum« einführt – sein kulturanthropologisches Argument bei Jakob von Uexküll an, auf den er vielleicht bei Plessner aufmerksam geworden ist58 , der aber in jedem Fall als ein anthropologischer Ansatzpunkt im Geiste Plessners zu sehen ist. 59 Die moderne Biologie zur Deutung des menschliche Lebens heranzuziehen – das hatte Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen, abgesehen von dem neuropathologischen Diskurs, noch nicht gemacht –, kann man als die Aufnahme des anthropologischen Programms Plessners werten. Trotzdem scheint hier eine fruchtbare anthropologische Konstellation60 – vielleicht schlicht der historischen Umstände geschuldet – eine vielversprechende Wirksamkeit nicht zur Entfaltung hatte bringen können. Leider, denn: »Probleme die in Cassirers Konzeption auftreten, scheinen von Plessner beantwortet oder doch besser formuliert zu werden – und umgekehrt.« 61 Die Klärung dieser Konstellation ist immer noch ein philosophisches Desiderat. In dem »Seminar« schlägt Cassirer selbst einen »critical monism« zur Lösung des Dualismus-Problems vor. 62 Wieder im Verweis auf von Uexküll plädiert er für einen »kritischen Monismus«, der sich nicht die Probleme der Dualismen einhandelt, der sich aber auch von einem simplen Monismus, wie ihn Ernst Haeckel vertritt, absetzen lassen muß. In die-

Cassirer: »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart, ECW 17, 202. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975. 57 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 60. 58 Zumindest behandelt er sie zusammen a. a. O., 41 ff. 59 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 28–31. 60 Fischer: Philosophische Anthropologie, 95. 61 Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, 230. 62 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 254. – Siehe dazu Hartung: Das Maß des Menschen. 55 56

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sem Zusammenhang sagt Cassirer mit Anspielung auf Die Welträthsel, daß Haeckel und andere Darwinisten nicht in der Lage seien, das »riddle of the world« zu lösen. Die englische Wendung »riddle of the world«, als das Rätsel, was der Mensch sei, stammt von Alexander Pope, dem Cassirer später auch in dem Titel Essay on Man seine Reverenz erweist und Pope wiederum steht für die kulturell-moralische Selbstbesinnung des Menschen. Cassirer will also seinen anthropologischen Ansatz zwar deutlich an die damaligen Lebenswissenschaften anschließen, betont aber gleichzeitig, daß er jeglichen biologistischen Reduktionismus strikt ablehnt. Insgesamt kann man also sagen: die Philosophische Anthropologie hat ab Davos für Cassirer den Status einer Prima Philosophia bekommen, sie ist Grundlage und Ausgangspunkt für die anderen philosophischen Disziplinen. In seiner Neubegründung der Philosophischen Anthropologie greift Cassirer das Stichwort der Zeit und das anthropologische Programm Schelers und Plessners durchaus auf – um es aber nach intensiven Neu-Begründungs-Versuchen in seiner symboltheoretisch fundierten Kulturanthropologie aufgehen zu lassen.

III) Die Auseinandersetzung mit Heidegger hat für Cassirers philosophischanthropologische Grundlegung nicht nur die Bedeutung des Impulsgebens, also die verstärkte Arbeit an einer Anthropologie als Antwort auf die Davoser Disputation und auf die durch sie geänderte geistige Situation der Zeit, sondern sie führt Cassirer auch dazu, den humanistisch-kulturellen Aspekt der Philosophischen Anthropologie zu betonen, den Aspekt, daß eine Anthropologie auch die normativen Vorstellungen des Menschseinkönnens zu ihrem Thema haben kann und muß. Daher hat die Beschäftigung mit Heidegger auch einen anderen Charakter als diejenige mit den Anthropologen; Cassirer sagt etwas sehr Wahres, wenn er konstatiert, daß Heidegger nicht von der Biologie, sondern von der Religionsphilosophie herkomme.63 Wobei es das zentrale Problem Heideggers sei, daß seine Problemstellung theologisch bedingt sei, daß er eine theologische Problemlösung aber ablehne.64 Die Auseinandersetzung mit Heidegger hatte in den Jahren um 1930 in Cassirers Schaffen Konjunktur; zu erwähnen ist, daß Cassirer Sein und Zeit offenbar zügig rezipiert hat und bereits im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen zitiert, wenig überraschend scheint ihm die

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Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 219. A. a. O., 223.

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Unterscheidung zwischen »Vorhandenem« und »Zuhandendem«, die man getrost als einen der »anthropologischsten« Aspekte von Sein und Zeit bezeichnen darf, von besonderem Interesse. 65 In seinem Aufsatz zu Heideggers Kant-Buch nach der Disputation in den Kant-Studien von 1931 hatte Cassirer noch vor allem als Anwalt Kants argumentiert, schärft dann seine Position gegenüber Heidegger vor allem in seiner Konzeption des vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen. 66 Damit scheint aber die inhaltliche Auseinandersetzung mit Heidegger auch abgeschlossen, denn in den Exiljahren, insbesondere in der Etablierung seiner Anthropologie, spielt Heidegger, auch als negative Folie, eine immer geringere Rolle; im Essay on Man wird der Freiburger Philosoph nicht einmal mehr erwähnt. Nur noch im Myth of the State setzt er sich mit Heidegger auseinander: Dort sagt er, daß er keinen direkten Zusammenhang zwischen Heideggers Philosophie und dem Nationalsozialismus sieht – betont aber, daß Heideggers Denken die demokratischen Kräfte, die hätten Widerstand leisten können, unterminiert habe. 67 Aber von vorne: In der Davoser Disputation hatte Cassirer seine Bedenken gegenüber Heideggers Fundamentalontologie in folgender Frage zugespitzt: »Will Heidegger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im Ethischen, im Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat, verzichten? Will er sich ganz zurückziehen auf das endliche Wesen, oder, wenn nicht, wo ist für ihn der Durchbruch zu dieser Sphäre?« 68 In seiner Antwort betont Heidegger seine fundamentalontologische Transformation der Transzendentalphilosophie: in der Endlichkeit des Menschen und seiner Vernunft liege die Möglichkeit der Ontologie, also das Offenwerden für das Sein. Heidegger bleibt in seinem fundamentalontologischen Untersuchungsrahmen, er faßt die Ethik als ein Ethos der ontologischen »Entbergungs«-Aufgabe. Hier klingt schon Heideggers Auffassung der Ethik als eine Form des »Aufenthalts« bei einem richtig verstandenen Sein an. 69 Im Kant-Buch bekommt die Philosophie die Aufgabe, den Menschen radikal der Angst auszuliefern, um ihn auf diese Weise für seine Endlichkeit und damit für die Dringlichkeit der richtigen ontologischen Selbstverortung frei zu machen: Der Mensch müsse mit der Nichtigkeit seines Daseins konfrontiert werden und aus seiner Faulheit heraus in die Härte des Schicksals geworfen werden. 70 Gegen dieses Menschenbild – das immerhin dasjenige der vielleicht

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Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 167. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 219–226. Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 288. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 278. Martin Heidegger: Brief über den »Humanismus«, in: GA 9, 353 ff. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 291.

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erfolgreichsten unter den Gegenwartsphilosophien war – mußte Cassirer seine anthropologische Konzeption setzen. Und die Selbstbefreiung zur Objektivität der symbolischen Formen konnte der Schlüssel zu seiner Antwort auf Heidegger sein. Sein Begriff von Objektivität ist nicht die »blosse Objektivität eines unpersönlichen Man«71, das menschliche Wirken konstituiert vielmehr eine »objektive Kultur«72 oder, wie Cassirer in der Davoser Disputation an Hegel angelehnt gesagt hatte, die »Welt des objektiven Geistes«. 73 Die Objektivität hat ihren transzendentalen Grund in der intersubjektiven Struktur des Urphänomens der Sprache. Im Medium der Sprache kann sich eine »gemeinsame objektive menschliche Welt«74 konstituieren. Cassirer geht es darum zu zeigen, daß der Eintritt in die »Welt des objektiven Geistes« und die sinnhafte und sinnkonstituierende Teilhabe an dieser Objektivität die menschliche Freiheit wesentlich auszeichnet und ermöglicht. Diese Teilhabe erlaubt es dem Menschen auch, seine Angst zu überwinden und frei für diese Überwindung zu werden. Die Endlichkeit des Menschen – die Cassirer keinesfalls leugnet – muß um die »Unendlichkeit« der kulturellen Welt ergänzt werden. Diese Form der Objektivität als der gemeinsame Raum der menschlichen Kultur und der kulturellen Praxis kann nicht – zumindest nicht ohne weiteres und ausschließlich – im daseinsentfremdeten »Man« verzerrt werden. Für Heidegger, so notiert Cassirer, »ist immer das ›Dasein‹ als individuelles So-Sein das Ursprüngliche, alles andere ist ›Degeneration‹, Abfall vom Da-Sein«. 75 Heidegger hätte in seiner Konzeption der Zeitlichkeit des Daseins keinen Sinn für die »unendliche Zeit«. Die »unendliche Zeit« ist für Cassirer »nicht bloss objektive physikalische Zeit, sondern spezifische Menschheitszeit«. Die »Menschheitszeit« ist die »Zeit der ›humanitas‹«, die keinesfalls im »Man« aufgehe. 76 Die Zeit der »humanitas« ist das, was kulturgeschichtlich über den Menschen erfahren und vom Menschen erhofft werden kann. Die humanitas ist das Ideale, das Cassirer der Auszeichnung des endlich-individuellen Daseins Heideggers entgegensetzt. Diese humanitas konstituiert die »gemeinsame objektive menschliche Welt«. Der Mensch muß nach Cassirer frei werden zur Teilhabe an dieser Welt. Das Freiwerdenkönnen für die humanitas im Menschen ist wesentlicher Aspekt einer Anthropologie der Selbstbesinnung. Das heißt nicht, daß das eine Seinsaussage über den Menschen ist, es ist vielmehr eine Sollensaussage; das Freiwerden für die humanitas ist eine Aufgabe.

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Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 221. A. a. O., 220. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 293. A. a. O., 292. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 222. Ebd.

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Was ist diese humanitas, diese Humanität, die durch humanistische Praxis garantiert werden soll? Die Humanitätsidee basiert auf einem Zwecke setzenden Vermögen des Menschen, das mit der Kantischen Urteilskraft eng verwandt ist. Wenn Cassirer etwa in »Form und Technik« von einem »Reich der Zwecke« und von einer »Ethisierung der Technik« vor dem Hintergrund einer »Ethiko-Teleologie« spricht77, dann lehnt sich Cassirer deutlich an die dritte Kritik an, um seine Technikethik zu formulieren. Diese Einforderung der humanitas als Richtwert für die symbolischen Formungsleistungen kann man als einen der zentralen Aspekte von Cassirer »ungeschriebener Ethik«78 bezeichnen. Cassirer sah die Urteilskraft in Kants Leben und Lehre in der Rolle, als das richtung- und orientierunggebende Prinzip, das »Ganze des natürlichen und geistigen Lebens« als einen »Organismus« der Vernunft zu begreifen79 und damit das »Ganze der Lebensformen« zu überblicken. 80 Ethisch-kulturphilosophisch gewendet kann man sagen, die Urteilskraft gibt ebenso dem Ganzen der Kulturformen ihr Prinzip. Daß dies möglich ist, hängt mit der fundamentalanthropologischen Dimension der dritten Kritik zusammen. Denn in ihr finden sich nicht nur eine ästhetische und biologische Grundlegung, im weiten Sinne also Antworten auf die Frage, was der Mensch wissen kann, was er als schön oder erhaben beurteilen kann, sondern ganz zentral Antworten auf die Frage: Was darf ich hoffen? 81 Der höchste und letzte Zweck, den die Urteilskraft zu setzen weiß, ist die Kultur, verstanden als der Ort, an dem die Menschheit zu sich selbst finden kann. 82 Daher ist die Urteilskraft als das Zwecke setzende Vermögen das entscheidende Vermögen des Menschen. 83 Kant selbst definiert die Humanität als eine gelebte Kultur, als eine Zivilisierung durch kulturellen Austausch, Humanität sei »einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können«. 84 Cassirer teilt auch Kants geschichtsphilosophisch-aufklärerischen Impetus: »Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation.« 85 Wobei die kulturelle Selbstbefreiung die Grundlage bildet für jedes moralische und politische Selbstverständnis des Menschen. In der kulturellen Selbstbegegnung finden Differen-

77

Ernst Cassirer: »Form und Technik« (1930), in: ECW 17, 182. Siehe dazu Recki: Kultur als Praxis, 151 ff. 79 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8, 346. 80 A. a. O., 323. 81 Birgit Recki: »Was darf ich hoffen?« Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Kant«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 19, 1994. 82 Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 431 ff. 83 Siehe Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, 291 ff. 84 Kant: Kritik der Urtheilskraft, 355; siehe auch 297. 85 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 244. 78

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zierungsprozesse statt, die nicht eingeebnet, sondern am Leben gehalten werden müssen: »But it does not overlook the tensions and frictions, the strong contrasts and deep conflicts between the various powers of man. These cannot be reduced to a common denominator. They tend in different directions and obey different principles. But this multiplicity and disparateness does not denote discord or disharmony. All these functions complete and complement one another. Each one opens a new horizon and shows us a new aspect of humanity.«86 Hans Blumenberg hat Cassirers Humanismus als die »elementare[] Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben« und in der Forderung, »die Ubiquität des Menschlichen präsent zu halten«, beschrieben. 87 Cassirer bildet, wie Enno Rudolph sagt, somit keine »Theorie normativer Handlungsorientierung« aus, er »setzt vielmehr auf die faktische Moralität einer die Freiheitsspielräume erweiternden kulturellen Komplexität.« 88 Die humanitas ist keine feste oder substantielle Größe, sie ergibt sich aus dem menschlichen Zwecksetzungsvermögen in der kulturellen und geschichtlichen Selbstbesinnung – und wird damit zur leitenden Idee in der Ausbildung der kulturellen Formen. So ist die humanitas nicht verstandesmäßig-kategorial auf den Begriff zu bringen, sie ist Ergebnis der Urteilskraft in der philosophisch-anthropologischen Selbstbesinnung; und diese wiederum bildet eine der Grundlagen einer jeden philosophischen Anthropologie: »If we cannot determine a general character of ›humanity‹, we cannot find the entrance into the world of man.« 89 Ohne die Orientierung an der humanitas kann die Symbolwelt des Menschen aus den Fugen geraten, kann vielleicht sogar zum bloßen Man degenerieren. Cassirer kennt sehr wohl die Eskalations- und Defizienzerscheinungen der symbolischen Formen, wie insbesondere der Myth of the State in seiner Analyse der medialen Manipulationsmöglichkeiten zeigt90 ; aber auch schon in »Form und Technik« hat Cassirer die Entfremdungsstrukturen, die die modernen Techniken hervorrufen können, aufgezeigt.91 In dem »Seminar« hat Cassirer ebenfalls von den »dangers« und »fallacies«, die in dem symbolischen Formprozeß liegen können, gesprochen. Zu den Gefahren zählen sicher vor allem die manipulativen Techniken, politische Mythen herzustellen und die mögliche kulturelle Dominanz der modernen instrumentellen Vernunft. In diesen Fällen wird die Medialität der

86

Ebd. Hans Blumenberg: »Ernst Cassirers gedenkend«, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 170 f. 88 Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, 43. 89 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 399. 90 Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25, 273–291. 91 Cassirer: »Form und Technik«, ECW 17, 173 ff. 87

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symbolischen Formen mißbraucht. Zeitgleich mit Adorno und Horkheimer zeigt Cassirer in der ersten Version des Essays on Man, daß die neuzeitliche Vernunft pathologische Strukturen entwickeln kann, daß sie sich selbst unterminieren kann. So sagt er mit Blick auf Bacon und Descartes, daß wir, wenn wir uns als unbedingte Beherrscher und Tyrannen der Natur mißverstehen, am Ende nicht als »masters of the universe«, sondern als »slaves of the universe« dastehen, als Sklaven unserer eigenen Vernunft. Und er schreibt: »If this is the effect of our self-knowledge, if it enfeebles of effaces our own self-esteem, and our moral value – then philosophical reflexion has undermined its own ground.«92 Auch aus dieser freiwilligen Selbstversklavung kann die Idee der humanitas den Ausweg weisen. Als eine Antwort auf Descartes und Bacon – auch in dieser Hinsicht bleibt Cassirer Kantianer – steht in diesem Text Rousseau für eine andere kulturelle Tradition der Neuzeit; auch Pascal, Montaigne und Shakespeare gelten ihm als Seismographen der Krise des modernen Menschen. Diese Pathologien kann man nur vor dem Hintergrund eines neu formulierten Primats der praktischen Vernunft vermeiden, durch den der gesamte menschliche Weltbezug gestaltet werden soll. Im Essay on Man sagt Cassirer, »without symbolism the life of man would be like that of the prisoners in the cave of Plato’s famous simile«93 – und man kann hinzufügen, daß die humanitas, um im Bild zu bleiben, die Funktion der Platonischen Idee des Guten übernimmt. So bleibt es die programmatisch formulierte »Kritik der Kultur« als eine erweiterte Vernunftkritik Kantischer Provenienz, die eine Anthropologie möglich macht: »It is not by a defiance, but only by a critical analysis of human culture that we can hope to find a new way to a philosophical Anthropology.«94 Dieser anthropologische Kritizismus ist Cassirers Version, sich vom »stolzen Namen einer Ontologie« zu distanzieren. Die Erarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit unserer Lebensform als Kulturwesen und die Bestimmung der Grenzen dieser kulturellen Selbstbildung sind die Grundlage der menschlichen Selbstkultivierung, die in dem Imperativ »Gestalte Dein Tun« aus dem Nachlaßtext »Über Basisphänomene« seine knappste Formulierung erhält.95 Wenn Pope in seinem Essay on Man gesagt hatte, »the proper study of mankind is man«, dann gilt für Cassirer: »the proper study of man is mankind«. Dieser Humanismus ist nicht identisch mit einer Philosophischen Anthropologie, er begründet vielmehr deren normative Dimension. Auf die Frage, was der Mensch aus sich machen kann und soll, kann es keine feste

92 93 94 95

Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 292. Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 47. Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 392. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 190.

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Antwort geben, jede Zeit hat hier ihre eigenen Antworten, hat ihre eigene anthropologische Krise auszutragen. Die humanitas repräsentiert keinen ontologischen oder anthropologischen Bestand. Die humanitas beschreibt nicht die »Natur« des Menschen, setzt auch nicht den Menschen als gegeben. Doch auch aus dem Fragwürdigsein heraus kann der Mensch sich selbst zum Kosmopoliten machen: der Humanismus ist kein Feststellen der menschlichen Natur, er umreißt eine Aufgabe. So ist es bereits die Aufgabe der pragmatischen Anthropologie Kants, den Menschen als einen potentiellen Weltbürger zu erkennen.96 Gute Hilfsmittel zur Selbsterkenntnis als Kosmopoliten sind Kant die Weltgeschichte, Literatur, Biografien, denn hier werde zwar häufig übertrieben, doch könne man trotzdem Wesentliches über die menschliche Natur erfahren. Wenn Cassirer nun sagt, Heideggers Philosophie habe für das »ÜberPersönliche« kein Organ97, dann meint er damit, Heidegger habe für das Aufzeigen der kosmopolitischen humanitas als Richtwert des menschlichen Wirkens nicht das angemessene philosophische Sensorium. Im Grunde kritisiert Cassirer Heideggers allzu engen Blickwinkel; auch wenn er in vieler Hinsicht von Heideggers Kant-Interpretation beeindruckt ist98 , und auch wenn er durchaus Respekt vor den Einsichten, die die Fundamentalontologie bieten kann, hat – sie kann für Cassirer keine umfassende Theorie sein, weil sie gegenüber den Probleme und Aufgaben, die sowohl die systematische Frage nach dem Menschen als auch eine Ethik aufwerfen, im Grunde ignorant bleibt. Überspitzt könnte man sagen, daß Heidegger durch sein Programm, bloß »regionale Ontologien« zu überwinden, sein eigenes Projekt regionalisiert: Seine Vorstellung von Fundamentalontologie kann zwar in dem ihr gesteckten Rahmen hermeneutisch viel leisten, doch werden durch sie zentrale philosophische Problemlagen verdeckt. Heidegger ist zwar in der Lage, das menschliche Dasein auf originelle Weise zu beschreiben, aber er kann nicht genau sagen, ab wann er das Dasein eines Unmenschen zu beschreiben beginnt. In dem »Brief über den ›Humanismus‹« betont er zwar, daß seine Ablehnung des Humanismus nicht bedeutete, daß er für das Inhumane votierte99, doch benennt er weder das Humane noch das Inhumane; das kann er auch nicht: Heidegger versucht zwar, alle anthropologischen und ethischen Fragen in seiner Seinstheorie aufgehen zu lassen, doch verkennt und verschleiert er dabei die spezifischen Probleme dieser Disziplinen – abgesehen davon, daß seine Argumente gegen den Humanismus auf einer sehr fragwürdigen

Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 119 f. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 220. 98 Cassirer: »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, ECW 17, 248 f. 99 Heidegger: Brief über den »Humanismus«, GA 9, 348. 96 97

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Definition von »Humanismus« ruhen.100 Heidegger fragt nach dem Sinn von Sein, aber nicht nach dem Sinn von Mensch-Sein. Heidegger hat nicht nur keinen Sinn für die philosophischen Disziplinen der Anthropologie und Ethik, sondern, so Cassirers Fundamentalkritik, er hat dafür auch nicht das angemessene sprachliche Instrumentarium. Die kulturelle Selbstbefreiung des Menschen ist für Cassirer eng mit der Sprache verknüpft; nur in der Sprache ist die erforderliche Sensibilisierung für das Humane möglich. Und der Blick für das Humane ist nicht einfach da, er muß ausgebildet werden, er ist das Ergebnis eine Sensibilisierungsund Zivilisierungsprozesses, denn, so könnte man mit Nicolai Hartmann sagen, das Problem ist »vor allem die Unfähigkeit, moralisch zu ›sehen‹« bzw. die »Armseligkeit und Unkultur des ethischen Blicks«.101 Daher müsse es darum gehen, ein »moralisches Organ« auszubilden.102 Auch in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht findet sich wiederholt der didaktische Zug, daß die Urteilskraft auszubilden und zu üben sei. In diesem Sinne ist Cassirers Heidegger-Kritik auch Sprach-Kritik bzw. Stil-Kritik. Während man mit Kant, so zitiert Cassirer Goethe, gleichsam in ein helles Zimmer trete, stehe Heideggers Philosophie dagegen »von Anfang an gleichsam unter einem anderen Stilprinzip«.103 Heidegger würde sich, so schreibt Cassirer im »Seminar«, ohne ihn allerdings namentlich zu nennen, einer »obscure terminology« bedienen.104 Und nach der Lektüre des Wesens des Grundes schreibt er: »Solche Sätze, durch die nach Heidegger die Idee der ›Logik‹ sich auflöst ›im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens‹ – sie sind verständlich aus der Welt Kierkegaards heraus, aber in Kants Gedankenwelt haben sie keine Stelle.«105 Nicht nur Kierkegaard, den Cassirer übrigens gern als das Vorbild für Heideggers Sprache sieht, sieht er als Vorläufer für den Heideggerschen Stil, sondern auch Luther.106 In Heideggers Philosophie seien jedenfalls »echte religiöse Klänge vernehmbar«.107 Die »Stimmung«, in der Cassirer die Kantische Philosophie gesehen haben will, aber auch die Philosophie schlechthin, findet er bei Schiller

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Volker Gerhardt: »Der Rest ist Warten. Von Heidegger führt kein Weg in die Zukunft«, in: Kaegi/Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger, 192 ff.; Birgit Recki: »Der Tod, die Moral, die Kultur«, in: Kaegi/Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger, 110 ff. 101 Nicolai Hartmann: Ethik, Berlin 1962, 14 f. 102 A. a. O., 17. 103 Cassirer: »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, ECW 17, 247. 104 Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, ECN 6, 238. 105 Cassirer: »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, ECW 17, 248. 106 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 221. 107 A. a. O., 223.

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und den Gebrüdern Humboldt, nicht bei Kierkegaard.108 Die »gedankliche Grundtendenz«, die ihm zur Charakterisierung der Philosophie vorschwebt, findet Cassirer in Schillers Ideal und das Leben, etwa in den Zeilen: »Werft die Angst des Irdischen von euch,/ Fliehet aus dem engen dumpfen Leben/ In des Ideales Reich!«109 Ansonsten steht für Cassirer meist natürlich Goethe Pate für den Stil der Philosophie.110 In der Auseinandersetzung mit Heidegger nimmt aber Schiller eine zentrale Rolle ein. In Cassirers Neubegründung der Philosophischen Anthropologie in Auseinandersetzung mit Heidegger und Scheler ist es Schiller, an dem er den Sinn der Kultur aufzeigt. Schiller steht für ihn für freie spielerische Aneignung der Wirklichkeit durch die symbolischen Formungen, daher hält er die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen für eines der Grundwerke, »auf dem auch die moderne philosophische Anthropologie sich aufbaut«.111 Und Schillers »Reich des Idealen« sei » kein blutloser, leerer ›Idealismus‹«, das »›Leben in der Idee‹« sei vielmehr »die Befreiung von der ontologischen Enge und Dumpfheit des Daseins«.112 Das Problem des Heideggerschen Denk-Stils ist das Verhaftetbleiben in der Enge der ontologischen Selbstauslegung des Daseins. Und die Sensibilität für das Moralische – ist auch eine Frage des Stils. Heidegger wird in seinem Humanismus-Brief übrigens deutlich gegen Schiller und Goethe votieren und in seiner philosophischen Dichter-Politik für Hölderlin votieren, der dem Humanismus nicht zuzurechnen sei, weil dieser »anfänglicher« denke, als es der Humanismus Schillers und Goethes vermöge.113 Der Humanismus Cassirers unterscheidet sich von Heidegger in diesem kategorisch exkludierenden Gestus. Auch wenn er Schiller und Goethe Kierkegaard vorzieht, kann man seinen Vermittlungsversuchen während der Davoser Disputation entnehmen, wie er mit ihm fremden Positionen prinzipiell umgeht: das Gemeinsame suchend, formuliert in einer Prosa, die auf Verständlichkeit angelegt ist. Für ihn ist wichtig, daß die Kultur den Menschen zu seiner eigenen Mündigkeit führen kann und kein »uneigentliches«, entfremdetes Bildungsprodukt ist. Die humanitas, für die Cassirer sensibilisieren will, läßt sich in Heideggers Philosophie gar nicht ausdrücken. Sie ist weder ontologisch durch bestimmte Entbergungstechniken zu ermitteln, noch geht sie im »bloßen

108

Cassirer: »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, ECW 17, 248. 109 Ebd. 110 Exemplarisch in diesem Kontext Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 224, oder (in Auseinandersetzung mit Scheler) ders.: »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, ECW 17, 204. 111 A. a. O., 197. 112 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 221. 113 Heidegger: »Brief über den »Humanismus««, GA 9, 320.

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Man« auf. Einer der Gründe dafür könnte sein, daß Heidegger die Einbildungskraft in das Zentrum seiner Kant-Exegese und damit seiner eigenen Philosophie rückt, die Urteilskraft aber ignoriert. So hebt er das Vermögen der Einbildungskraft hervor, um an ihr die Zeitlichkeit des Seins zu zeigen, vergißt aber dabei, daß der Mensch nach Kant auch das Vermögen der Urteilskraft hat. Aus Cassirers kultureller Urteilskraft ergibt sich auch ein ganz anderes Verständnis der Geschichtlichkeit des Menschen. Die humanitas findet sich in der kulturellen Objektivität der »Weltgeschichte« als moralischkulturelle Selbsterfahrungs- und Selbstbegegnungsgeschichte.114 Heidegger habe dagegen zwar »Sinn für geschichtliches Leben«, doch sei alles geschichtliche Verstehen »doch nur Wiederholung, Wieder-Herauf-Holung persönlichen Daseins, persönlicher Geschicke, persönl[ichen] Schicksals«.115 Dies sei »doch immer eine religiös-individualistische Auffassung der Gesch[ichte]«, doch »die Geschichte als Kultur-Geschichte« und als »Sinn-Geschichte« werde damit nicht erschlossen.116 Die Sinn-Geschichte ist ein Menschheits-Projekt, an dem jeder Mensch teilhaben kann und für das jeder Mensch frei werden sollte. Die Weltgeschichte können wir zur Selbstverständigung gebrauchen, sie ist, um mit Thomas Rentsch zu sprechen, damit ein »Modus unseres eigenen hermeneutischen Selbstverhältnisses.«117 Diese »pragmatische« Dimension der Kantischen Anthropologie für die Philosophische Anthropologie fruchtbar zu machen, ist ein wesentlicher Teil von Cassirers Neubegründung der Philosophischen Anthropologie. Gleichzeitig hat Cassirer aber auch gezeigt, wie eine Anthropologie in »physiologischer Hinsicht«, wiederum Kantisch ausgedrückt, zu begründen ist. In der produktiven Zusammenführung beider Hinsichten setzt Cassirer Kant fort und geht über ihn hinaus.

Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 221. A. a. O., 220. 116 Ebd. 117 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1999, 82. 114

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– Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe, Bd. VII Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002 John Michael Krois: Cassirer. Symbolic forms and history, New Haven 1987 Karl Löwith: »Natur und Humanität des Menschen«, in: Klaus Ziegler (Hg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957 Thomas Meyer: Ernst Cassirer, Hamburg 2006 Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005 Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975 Birgit Recki: »›Was darf ich hoffen?‹ Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Kant«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 19, 1994 – »Der Tod, die Moral, die Kultur«, in: Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002 – Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1999 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Maria Scheler und Manfred S. Frings, Bd. 9, Bern, München 1976 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997