Philosophie der Kultur - Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert [15] 3787319743, 9783787319749

Seit dem Beginn der Publikation der 'Nachgelassenen Manuskripte und Texte' Cassirers (ECN) sowie der 'Ges

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Germany, English Pages 700 [704] Year 2012

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Inhaltsverzeichnis5
Einleitung der Herausgeberin9
Erster Teil – Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog17
Frede: Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers19
Meyer: Spinoza in Weimar. Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss41
Mehring: Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann in ihrer Zeit67
Krois: Cassirer’s Revision of the Enlightenment Project89
Zweiter Teil – Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften107
Schwemmer: Ernst Cassirer und die zwei Kulturen109
Fetz: »Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln«. Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes131
Möckel: Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Ernst Cassirer über methodologische Analogien155
Plümacher: Menschliches Wissen in Repräsentationen181
Sandkühler: Kritik der Gewißheit. Zeitgenossenschaft – Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Gaston Bachelards Épistémologie203
Pätzold: Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit233
Kopp-Oberstebrink: Konstellationen und Kontexte. Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Ernst Cassirers Philosophie255
De Biase: Morphological Historicism and Ethical Destination. Ernst Cassirer’s Conception of the History of Philosophy277
Ullrich: Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹297
Dritter Teil – Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie321
Orth: Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur323
Ferrari: Das Faktum der Wissenschaft, die transzendentale Methode und die Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer337
Hartung: Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie359
Renz: Rationalität und Symbolizität: Alternative oder ergänzende Bestimmungen des Humanum?377
Stoellger: Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen. Zum Imaginären als Figur des Dritten zwischen Symbolischem und Realem393
Becker: Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus421
Vierter Teil – Die Vielfalt der symbolischen Formen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Recht437
Pedersen: Cassirers Philosophie des Mythos – eine Erweiterung der Sphäre der kritischen Philosophie439
Bongardt: Wider die Sprachlosigkeit. Zur Bedeutung der Religion in Ernst Cassirers Kulturphilosophie457
Skidelsky: Cassirer on Science and Religion483
Lauschke: Scheitern des Synthesevermögens oder Kontinuum des Formbegehrens? Das Erhabene bei Ernst Cassirer491
Capeillères: Filling a Gap. Cassirer’s Interpretation of Wölfflin and Art as a Symbolic Form511
Naumann: Versteckte Korrespondenzen. Ernst Cassirer als Leser der Literatur529
Mattenklott: Cassirer und die künstlerische Moderne543
Falkenburg: Wissenschaft und Technik als symbolische Formen567
Bermes: Technik als Provokation zur Freiheit. Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik583
Gerhardt: Menschwerdung durch Technik. Ernst Cassirers Theorie des Geistes601
Moxter: Recht als symbolische Form?623
Fünfter Teil: Fragen des Stils?647
Stephenson: Ernst Cassirers Stilbegriff zwischen Philosophie und Literatur649
Müller: Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger675
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 3787319743, 9783787319749

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Birgit Recki (Hg.)

Philosophie der Kultur Kultur des Philosophierens

Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert

CASSIRER-FORSCHUNGEN

CASSIRER-FORSCHUNGEN Band 15

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Birgit Recki (Hg.)

Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN print 978-3-7873-1974-9 ISBN E-Book 978-3-7873-1975-6

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work : at : BOOK / Martin Eberhardt, Berlin. Druck: xPrint, Pribram. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Einleitung der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSTER TEIL: ZEITLOSIGKEIT UND ZEITGENOSSENSCHAFT: NACHLEBEN UND AKTUALITÄT DER GESCHICHTE IM DIALOG Dorothea Frede: Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Meyer: Spinoza in Weimar. Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Mehring: Antwort mit Goethe. Ernst Cassirer und Thomas Mann in ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Michael Krois: Cassirer’s Revision of the Enlightenment Project . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 41 67 89

ZWEITER TEIL: ERKENNTNISPROBLEME UND DIE K ULTUR DER W ISSENSCHAFTEN Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer und die zwei Kulturen . . . . . . . . . Reto Luzius Fetz: »Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln«. Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Möckel: Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Ernst Cassirer über methodologische Analogien . . . Martina Plümacher: Menschliches Wissen in Repräsentationen . . . . . . Hans Jörg Sandkühler: Kritik der Gewißheit. Zeitgenossenschaft – Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Gaston Bachelards Épistémologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Pätzold: Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit Herbert Kopp-Oberstebrink: Konstellationen und Kontexte. Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Ernst Cassirers Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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131 155 181

203 233

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Inhalt

Riccardo De Biase: Morphological Historicism and Ethical Destination. Ernst Cassirer’s Conception of the History of Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sebastian Ullrich: Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹ . . . . . . . . . . . . . . 297

DRITTER TEIL: ZU GRUNDLEGUNGSFRAGEN: KULTURPHILOSOPHIE UND ANTHROPOLOGIE Ernst Wolfgang Orth: Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Massimo Ferrari: Das Faktum der Wissenschaft, die transzendentale Methode und die Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer . . . . . . . . . . Gerald Hartung: Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie . . . . . . . . . Ursula Renz: Rationalität und Symbolizität: Alternative oder ergänzende Bestimmungen des Humanum? . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Stoellger: Das Imaginäre der Philosophie der symbolischen Formen. Zum Imaginären als Figur des Dritten zwischen Symbolischem und Realem . . . . . . . Ralf Becker: Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323 337 359 377

393 421

VIERTER TEIL: DIE VIELFALT DER SYMBOLISCHEN FORMEN: SPRACHE, MYTHOS, RELIGION, KUNST, TECHNIK, RECHT Esther Oluffa Pedersen: Cassirers Philosophie des Mythos – eine Erweiterung der Sphäre der kritischen Philosophie . . . . . . . . . Michael Bongardt: Wider die Sprachlosigkeit. Zur Bedeutung der Religion in Ernst Cassirers Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . Edward Skidelsky: Cassirer on Science and Religion . . . . . . . . . . . . . . . Marion Lauschke: Scheitern des Synthesevermögens oder Kontinuum des Formbegehrens? Das Erhabene bei Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . Fabien Capeillères: Filling a Gap. Cassirer’s Interpretation of Wölfflin and Art as a Symbolic Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Naumann: Versteckte Korrespondenzen. Ernst Cassirer als Leser der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Mattenklott: Cassirer und die künstlerische Moderne . . . . . . . . . Brigitte Falkenburg: Wissenschaft und Technik als symbolische Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 457 483 491 511 529 543 567

7

Inhalt

Christian Bermes: Technik als Provokation zur Freiheit. Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik . . . . . . . . . . 583 Volker Gerhardt: Menschwerdung durch Technik. Ernst Cassirers Theorie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Michael Moxter: Recht als symbolische Form? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

FÜNFTER TEIL: FRAGEN

DES

STILS?

Roger H. Stephenson: Ernst Cassirers Stilbegriff zwischen Philosophie und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Oliver Müller: Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675

Einleitung der Herausgeberin

Bei dem hier vorgelegten Band handelt es sich um die Dokumentation jener internationalen Konferenz, mit der die Cassirerforschung vom 4. bis 6. Oktober 2007 den Abschluß der Hamburger Ausgabe feiern konnte: Ein gutes Jahrzehnt hatte seit der Gründung der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle im Mai 1997 die Arbeit an dem größten geisteswissenschaftlichen Projekt gewährt, das an der Universität Hamburg jemals realisiert worden ist: die vollständige Edition des zu Lebzeiten veröffentlichten Werkes in 25 Bänden.1 Durch die besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen des Exils seit 1933 – nach einigen Stationen zunächst seit 1937 als Professor an der Universität Göteborg, nach seiner dortigen Emeritierung als Gastprofessor in Yale und New York bis zu seinem Tode 1945 – hatte Ernst Cassirer, der von 1919 bis 1933 im Amt eines Ordinarius für Philosophie an der Hamburgischen Universität wirkte, keine Ausgabe letzter Hand seines umfangreichen Werkes besorgen können. Die Hamburger Ausgabe sollte diesen Mangel beheben, so der gemeinsame Plan der Herausgeberin und des Verlags, der im Oktober 1997 glücklich erfüllt war. Seitdem liegen allererst sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften des Philosophen in einer einheitlichen, durchgängig recherchierten, den zeitgenössischen Textstandards genügenden Gesamtausgabe vor.2 Das Werk Ernst Cassirers durfte damit editorisch als erschlossen gelten.3 Unter einem Titel, der es nahelegen sollte, die im engeren Sinne historischen Beiträge des Philosophen ebenso umfänglich zum Thema zu machen wie sein selbständiges systematisches Werk und in dem sich die Erinnerung an eine in Teilen prekäre Vorgeschichte der Rezeption mit der begründeten Erwartung an eine nunmehr realisierbare Aktualität dieses Gesamtwerkes verbindet, kamen die 33 Autoren dieses Bandes

1 Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. [ECW]. – Für den Druckkostenzuschuß zu diesem Band wie auch schon für die großzügige Finanzierung der Konferenz, aus der er hervorgegangen ist, danke ich der ZEITStiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg. 2 Siehe für die Prinzipien der Arbeit im Ganzen und die Fallentscheidungen im Besonderen jeweils den Editorischen Bericht, der in jedem einzelnen Band der Ausgabe enthalten ist. 3 Inzwischen liegt auch vor Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Band 26: Register, erstellt von Ralf Becker, Hamburg 2009.

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Birgit Recki

aus Deutschland, der Schweiz, Italien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und den USA im Oktober 2007 in Hamburg zusammen: Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Der Gewinn, den die Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke Ernst Cassirers nach zehn Jahren sukzessiver Vervollständigung schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung für die Kultur der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dessen reichem Werk und schließlich für die Kultur des Philosophierens bedeutete, wird dabei unübersehbar: In zahlreichen der Beiträge, die nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind, ist schon erkennbar geworden, wie sich aus der Verfügung über den Zusammenhang des Werkes, etwa durch Rekurs auf zuvor in entlegenen Periodika und Sammelbänden veröffentlichte Aufsätze, neue Befunde für die Cassirer-Forschung gewinnen lassen.

1. Philosophie der Kultur Unangefochten freilich geht auch aus aller Vertiefung in bisher unerschlossene Dimensionen seines Denkens hervor: Der systematisch bemerkenswerte Beitrag Ernst Cassirers zur Philosophie der Moderne ist die Theorie der Kultur, die er in der Philosophie der symbolischen Formen entfaltet.4 Durch die symboltheoretische Grundlegung der Kultur, zu deren wichtigster Leistung die Analyse der wesentlichen Formen und Funktionen von Symbolisierung in den verschiedenen kulturellen Systemen gehört, hat Cassirer in seiner Philosophie der Kultur gezeigt, wie es zu denken ist, daß der Mensch von Natur aus Kultur hat. Die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum findet sich in Cassirers Werk zwar erst spät, im Essay on Man 1944. Doch das heißt nicht, daß der mit ihr artikulierte Gedanke erst spät aufträte. Wie man generell mit Cassirer Begriffsgeschichte als Problemgeschichte und nicht als Wortgeschichte aufzufassen hat, so hat man auch hier in dem von ihm geprägten Begriff den anthropologischen Gedanken zu sehen, der bereits seiner Philosophie der symbolischen Formen zugrunde liegt. Absichtsvoll in der Schwebe zwischen hermeneutischem und pragmatischem Verständnis besagt dieser Gedanke: Der Mensch ist das symbolerzeugende und das symbolverstehende Wesen. Die Begriffe von Symbol,

4 Siehe in diesem Band die Beiträge unter den Rubriken Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie und Die Vielfalt der symbolischen Formen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Recht. – Ich schreibe entsprechend einer inzwischen verbreiteten Übereinkunft kursiv Philosophie der symbolischen Formen, wenn das dreiteilige Reihenwerk unter diesem Titel, und recte Philosophie der symbolischen Formen, wenn die nicht allein dort, sondern zudem in einem guten Dutzend sachlich wie methodisch grundlegender Abhandlungen ausgebreitete Theorie gemeint ist.

Einleitung

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Symbolisierung, symbolischer Form stehen damit in der Dimension der Grundlegung einer Philosophie der Kultur als der humanen Welt. In diesem Gedanken schießen wie in einem Kristall die Ansprüche zusammen, denen nach der Einsicht dieses Autors eine angemessen reflektierte Theorie zu genügen hat. Cassirer realisiert mit diesem Begriff vom Menschen das eigene schon früh geltend gemachte Postulat vom Primat der Funktionsbegriffe vor den Substanzbegriffen, indem er damit den Menschen rein funktionell bestimmt durch das, was in menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt. Indem er durch die Konzeption der symbolischen Aktivität Poiesis, die selbsttätige Produktivität, als den Nukleus der menschlichen Welt und diese als nichts anderes denn das Produkt der hier in ihrem Inbegriff kondensierten Leistungen begreift, bahnt er dem Verständnis des menschlichen Wesens als produktive geistige Aktion im Wandel den Weg und gehört damit zu den Kronzeugen einer Einsicht, die man nicht wenigen Theoretikern der Gesellschaft, kritischen wie unkritischen, noch heute nahebringen muß, als handelte es sich um etwas ganz Neues: Anthropologisches und historisches Denken, Anthropologie und Geschichtlichkeit stehen nicht im Verhältnis systematischer Unvereinbarkeit zueinander. In der materialen Ausprägung, die Cassirer seinen Grundlegungsgedanken mitteilt, ist zugleich ein Konzept der Einheit und der Vielfalt der Kultur entwickelt, an dem heute mehr denn je ein vitales Interesse besteht. Bemerkenswert ist daran, daß Cassirer sein Hauptwerk, mit dem er ausdrücklich den Anspruch erhebt, eine Grundlegung der Geisteswissenschaften zu leisten, zugleich als eine neue Grundlegung der Naturwissenschaften anlegt.

2. Kultur des Philosophierens Philosophieren besteht nicht allein in der methodischen Konstellation aus ursprünglichen Einsichten, diskursiv entwickelten Argumenten und nachvollziehbaren Explikationen. Es hängt auch an der sachgemäßen Einbettung des Gedankens in den Horizont empirischer Erkenntnisse5 und an der historischen wie zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den Gedanken Anderer. Ernst Cassirer darf in jeder der damit beanspruchten Hinsichten als Vorbild für eine Kultur des Philosophierens gelten. Als Cassirer, der neben Philosophie auch Jura, Germanistik, Mathematik, Biologie, Chemie und Physik studiert hatte, zu Beginn der 1920er Jahre mit seinem eigenen in historischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten gut vorbereiteten

5 Siehe in diesem Band die Beiträge vor allem unter den Rubriken Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften und Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog.

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Birgit Recki

philosophischen Systementwurf auch programmatisch auftrat, hatte er sich seinen Namen bereits als Ideenhistoriker der Philosophie, der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, als Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftstheoretiker gemacht. Über Galilei, Descartes, Newton und Einstein hat er ebenso kenntnisreich geschrieben wie über Nikolaus von Kues, Leibniz, Kant und Goethe. An wenigen Denkern des 20. Jahrhunderts läßt sich der mit dem Programm und Wirken Wilhelm von Humboldts verbundene Anspruch auf Einheit von historischem und systematischem Forschen so überzeugend exemplifizieren wie an Ernst Cassirer. Aufgrund seiner gediegenen Kenntnisse in den Geisteswissenschaften wie in den Naturwissenschaften vermochte er über diese fruchtbare Verschränkung von historischem und systematischem Erkenntnisinteresse hinaus mit seiner Theorie der Kultur auch ein Beispiel interdisziplinären Arbeitens zu geben. Diese Interdisziplinarität beschränkt sich keineswegs nur auf die Personalunion eines in den grundlegenden Bereichen philosophischen Denkens und wissenschaftlichen Forschens bewanderten Autors. Schon für seine Hamburger Zeit ist sie nicht allein durch die Zeugnisse eigenen wissenschaftlichen Arbeitens, sondern auch durch eine Reihe fruchtbarer Kontakte zu den anderen Wissenschaften belegt:6 So hatte Cassirer die Kulturhistorische Bibliothek Warburg bereits 1921, im Jahr des ersten Erscheinens seiner so gediegenen wie richtungweisenden Einstein-Studie, für seine Fragestellungen zu nutzen gelernt;7 eine Reihe von wichtigen Abhandlungen im Kontext seiner eigenen Philosophie ist aus Vorträgen in der KBW hervorgegangen und zuerst in den Studien und den Vorträgen der Bibliothek Warburg veröffentlicht worden. Die produktive Freundschaft mit Aby Warburg begann 1924. Für seine Philosophie der Sprache erwies sich sein Austausch mit William und Clara Stern, für die grundlegende Dimension seiner Kulturphilosophie die gute Verbindung zum Institut für Umweltforschung und dessen Leiter Johann Jakob von Uexküll als fruchtbar.8 An der Breite,

6 Außer den Hamburger Verbindungen, auf die ich mich aus gegebenem Anlaß hier beschränke, siehe die Dokumentation fruchtbaren wissenschaftlichen Austausches in Ernst Cassirer: Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel. In: Nachgelassene Manuskripte und Texte [ECN] Bd. 18, hg. von John Michael Krois unter Mitarbeit von Marion Lauschke, Claus Rosenkranz, Marcel Simon-Gadhof, Hamburg 2009. – Die Edition dieses Bandes mit ausgewählten Briefen konnte nach dem Abschluß der Hamburger Ausgabe noch in der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle im Warburg-Haus geleistet werden. Dem Hausherrn Professor Dr. Uwe Fleckner sei dafür an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. 7 Siehe Martin Warnke: Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm. In: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London, hg. von Michael Diers, Hamburg 1993. 8 Siehe John Michael Krois: Ernst Cassirer, in: John Michael Krois / Gerhard Lohse / Rainer Nicolaysen: Die Wissenschaftler. Ernst Cassirer – Bruno Snell – Siegfried Landshut (Hamburgische Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen) Hamburg 1994.

Einleitung

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der Gründlichkeit und der Präzision seiner Studien liegt es, daß Cassirer die heute kanonisch gewordene resignative Rede von den »zwei Kulturen« nicht nur programmatisch bestreiten, sondern auch praktisch widerlegen konnte. In seiner methodischen Bemühung um die Einheit der Wissenschaften, die im Horizont seiner Philosophie der symbolischen Formen als einer bedeutungstheoretischen Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen steht, darf sein Denken als beispielhaft und richtungweisend gelten.

3. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert Wie ist es möglich, daß ein Autor, dem solches Lob auszusprechen ist, am Ende des vergangenen Jahrhunderts nach mehreren Jahrzehnten eines Schattendaseins erst wiederentdeckt werden mußte? Das Schicksal nicht weniger großer Werke: daß sie mehr zitiert als gelesen werden, hat besonders schwer die Philosophie der symbolischen Formen betroffen. In vielen geisteswissenschaftlichen Theorien mit zeichen- oder symboltheoretischem Ansatz fällt die zumeist konventionelle, nicht mit der geringsten Auseinandersetzung einhergehende Bezugnahme auf die Philosophie der symbolischen Formen auf. Das spricht zwar für das hohe Prestige, das dem Werk anhaftet, doch während die ideengeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Arbeiten seines Autors sich – neben dem Bereich der historischen Erforschung der Renaissance und der Aufklärung insbesondere in der Kantforschung und in der Geschichte der mathematischen Naturwissenschaften – ununterbrochener diskursiver Anerkennung erfreuten, hat in der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Cassirers eigener theoretischer Beitrag lange Zeit im Schatten der dominierenden Schulen (der an Heidegger anknüpfenden hermeneutischen Schule, der Phänomenologie, der Frankfurter und der Erlanger Schule, der von Wittgenstein ausgehenden analytischen Richtungen u.a.) gestanden. Neben der Tatsache, daß Cassirer nach seinem Tode 1945 an Aufbruch und Neuanfang der Nachkriegsphilosophie keinen Anteil mehr hatte, dürfte auch das nachhaltige, zuletzt von Heidegger in Davos geschürte Vorurteil gegen Cassirers vermeintlichen Neukantianismus als einer überlebten rein akademischen Richtung des Denkens daran ursächlich mitgewirkt haben.9 Es kommt erschwerend hinzu, daß es für seinen Beitrag lange Zeit keinen Sachwalter gab. Selbst in Werk und Wirken seines letzten

9 Siehe dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C; siehe auch Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.): Cassirer / Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002.

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Birgit Recki

Hamburger Assistenten Joachim Ritter, bei dem man sie erwarten dürfte, sucht man nach markanten Hinweisen auf seinen gelehrten und produktiven, dabei stets vorbildlich loyalen Lehrer vergebens. Ritter hatte sich zwar noch im Wintersemester 1932/33 gegen Widerstand in der Fakultät mit nachdrücklicher Unterstützung Cassirers in Hamburg habilitieren können; 10 doch in der im November 1933 gehaltenen Antrittsvorlesung »Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen«,11 die ihren Autor als klarsichtig genug ausweist, in Martin Heideggers Sein und Zeit vor allem einen Beitrag zur philosophischen Anthropologie zu erkennen, fehlt ein Hinweis auf die in der Philosophie der symbolischen Formen enthaltene Anthropologie seines Mentors ebenso wie in den später vorgelegten Schriften jeglicher Hinweis auf dessen philosophisches Werk.12 So kam es, daß die fällige Wiederentdeckung von Cassirers Werk sich zu einem guten Teil dem transatlantischen Reimport unter dem Einfluß seiner ehemaligen Kollegen in Yale verdankt, wo auch große Teile des Nachlasses verwahrt waren. Nachdem der Präsident der Universität Hamburg im Jahr 1974 zum 100. Geburtstag Cassirers in einer Rede an die Verdienste und das Schicksal des Philosophen erinnert und damit den ersten Schritt zu einer überfälligen Wiederentdeckung getan hatte, sollte es noch zwei Jahrzehnte dauern, bis diese Wiederentdeckung sich auch in bemerkenswerten Formen Geltung verschaffte.13 1995 zum 50. Todestag veranstaltete Dorothea Frede am Philosophischen Seminar eine Ringvorlesung,14 in deren Kontext die Idee zu einer Ausgabe der Gesammelten Werke zum Projekt wurde: Mit der Einrichtung der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle in den Räumen des Warburg-Hauses am 1. Mai 1997 konnte die Arbeit an der Hamburger Ausgabe aufgenommen werden. Am 11. Mai 1999 wurde auf Initiative des Präsidenten Jürgen Lüthje zum 80. Jahrestag der Gründung der Hamburgischen Universität der Hörsaal A im Hauptgebäude in Ernst-CassirerHörsaal benannt.15 Auf Cassirers symboltheoretisch fundierte Philosophie der Kultur hatten sich seit den 1920er Jahren nicht allein die Kunsthistoriker der

Vgl. Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer (1948), Hamburg 2003, 205; Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974. 12 Siehe Hans Jörg Sandkühler: „Eine lange Odyssee“ – Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im `Dritten Reich´, in: Dialektik 2006/1. 13 Peter Fischer-Appelt: Zur Erinnerung an Ernst Cassirer, Hamburg 1974. 14 Siehe Dorothea Frede/Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997. 15 Siehe Zum Gedenken an Ernst Cassirer (1874-1945). Ansprachen auf der Akademischen Gedenkfeier am 11. Mai 1999, Hamburger Universitätsreden (Neue Folge 1), hg. von der Pressestelle der Universität Hamburg, Hamburg 1999. 10

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Einleitung

15

Warburgschule, insbesondere Erwin Panofsky, konstruktiv bezogen. Bis in die jüngste Zeit haben so unterschiedliche Denker wie Edgar Wind, Raymund Klibansky, Eric Weil, Susanne K. Langer, Nelson Goodman, Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu, Clifford Geertz, Seymour Itzkoff, Oswald Schwemmer und Hans Blumenberg Cassirers Ansatz in systematischer (methodologischer, anthropologischer, kulturtheoretischer, soziologischer) Absicht aufgenommen. Unterdessen hat sich auch die Situation der theoretischen Kontroversen verändert: Das Interesse am Paradigma der Repräsentation in der philosophy of mind wie in der Politischen Wissenschaft ist neu erstarkt, der cultural turn und die kulturwissenschaftliche Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften begünstigt die Zuwendung zu den Theorien der Kultur,16 und nicht zuletzt ist nach der Überwindung der ideologiekritischen Vorbehalte, die sich seit den 1960er Jahren gegen die vermeintliche Gefahr des weltanschaulichen Konservatismus auf das Denken in ›anthropologischen Konstanten‹ gerichtet hatten, ein mählich entspannteres Verhältnis zur philosophischen Anthropologie zu verzeichnen.17 Schließlich kann nicht häufig genug darauf hingewiesen werden, in welch hohem Maße die Präsenz eines Autors in Forschung und Diskurs an der Verfügbarkeit seines Werkes hängt, wie sehr insbesondere dessen Zugänglichkeit in einer methodisch einheitlichen Edition wissenschaftliche Forschung und diskursive Auseinandersetzung als Faktoren der Wirkungsgeschichte begünstigen. Für das Werk Ernst Cassirers ist diese generelle Einsicht bereits bestätigt: Seit dem Beginn der Publikation des Nachlasses 1995 durch die Berliner und Leipziger Herausgeber um John Michael Krois (†) und der Hamburger Ausgabe seiner Gesammelten Werke seit 1998 ist über die Jahre ein zunächst stetiges, dann exponentielles Ansteigen der Forschungsliteratur zu Cassirer zu verzeichnen. In welchem Maße die Erwartung an eine nachholende Rezeption berechtigt ist, die aufgrund der unverbrauchten Aktualität dieses Werkes nichts Verspätetes hat, davon vermitteln die im hier vorgelegten Band versammelten Beiträge einen imponierenden Eindruck.

16 Siehe als besonders markantes Beispiel unter vielen Michael Tomasello: Die Anlage des Menschen zur Kultur; vgl. ders.: »Was ist der Mensch(enaffe)?«, in: Was ist der Mensch? hg. von Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian NidaRümelin, Berlin 2008. 17 Für den Beginn einer Wende siehe beispielhaft Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52. Jg. Heft 5, Berlin 2004. – Mit den Bedenken kritischer Theoretiker und anderer Neomarxisten gegen philosophische Anthropologie setzt sich mit exemplarischem Anspruch auseinander Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, Frankfurt/Main 2006.

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Birgit Recki

Am 3. Oktober 2009 starb der Germanist und Komparatist Gert Mattenklott, zu dessen breitgefächerten Forschungsgebieten in Literaturwissenschaften und Philosophie auch das Werk Ernst Cassirers gehörte. Am 30. Oktober 2010 starb John Michael Krois, der Cassirerforscher und Herausgeber, dem die Erforschung des Nachlasses von Ernst Cassirer entscheidende Impuls verdankt. Die Kollegen und Freunde in der Cassirerforschung beklagen den Verlust der beiden bedeutenden Gelehrten. Ich bin froh, unter den Beiträgen zum vorliegenden Band auch deren jüngste Erkenntnisse zum Werk Ernst Cassirers präsentieren zu dürfen. Hamburg, im Dezember 2010

Birgit Recki

Erster Teil Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

Dorothea Frede Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers

Vorbemerkungen: Cassirer und die Philosophiegeschichte Wie allgemein bekannt, gibt es einen Zankapfel innerhalb der philosophischen Zunft. Dieser Zankapfel besteht in der Unterscheidung zwischen Philosophen und Philosophiehistorikern. Letztere hören diesen Titel nicht gern, wenn sie sich damit zu bloßen Pflegern der Ideen großer Philosophen aus der Vergangenheit degradiert und in Gegensatz zu den Philosophen der Gegenwart gestellt sehen, die an der vordersten Front das Neuste vom Neuen ersinnen und sich um das Alte nicht weiter kümmern.1 Über die Berechtigung dieser Zweiteilung ist hier nicht zu reden, sondern sie soll nur als Aufhänger zu einer weiteren Zweiteilung dienen. Unter den Philosophen, die sich überhaupt mit der Geschichte befassen, tun das manche nur zur Ausschmückung der eigenen Werke: Man will nicht als historisch naiv oder ungebildet erscheinen, sondern womöglich auf Parallelen oder Vorwegnahmen verweisen. Andere kümmern sich um die Vergangenheit, weil sie sich selbst in der einen oder anderen Weise als ein Produkt der Philosophiegeschichte verstehen. Dabei mögen sie sich gegen alles Vergangene abzuheben versuchen, wie etwa Descartes, oder für eine dramatische Wendung plädieren, wie Kant. Sie mögen sich gar als die Vollendung der geschichtlichen Entwicklung sehen, wie Hegel, oder auch als Totengräber der Philosophie, wie Nietzsche und manche seiner postmodernen Jünger. Cassirer, so kann man mit Fug und Recht sagen, gehört zu keiner dieser Parteien. Für ihn ist die Philosophiegeschichte deswegen unverzichtbar, weil die großen Fragen der Menschheit im Wesentlichen immer die gleichen bleiben. Nur tauchen sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Gewand und unter verschiedener Begrifflichkeit auf, sie werden

1 Der Streit ist nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern kennzeichnet eigentlich die gesamte Philosophie(geschichte) der Neuzeit. Daß dies ein Phänomen der Neuzeit ist, beruht darauf, daß Historisches zuvor nicht als solches, sondern wenn überhaupt, dann als (noch) lebendige Philosophie behandelt wurde. Einen kurzen Überblick über unterschiedliche Auffassungen im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jh. gibt Rainer A. Bast: Problem, Geschichte, Form: Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000, 9–23.

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besser oder weniger gut verstanden – und die Antworten fallen tiefer oder flacher aus. Da auch Cassirer selbst sich mit diesen Fragen befaßt sieht, ist es für ihn von Interesse, wie die großen Geister der Vergangenheit mit ihnen umgegangen sind. Denn wenn man das Rad nicht stets neu erfinden will, kann man aus den verschlungenen Pfaden der Philosophiegeschichte viel lernen, weil sich dabei auch erstaunliche Verwandtschaften zum eigenen Denken entdecken lassen.2 Daß es Cassirer weder an einer philosophiehistorischen Blütenlese gelegen war noch an der Überwindung der Philosophiegeschichte oder gar deren Vollendung, versteht sich auch deswegen von selbst, weil sein eigenes Bemühen, die verschiedenen Deutungsweisen der Welt möglichst klar zu erfassen, eine lange Tradition hat. Und da für ihn jede Form des Weltverstehens ihr eigenes Recht hat, ist auch jede eines Studiums wert. Eben dies ist der Sinn von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, deren Anliegen das Erfassen der unterschiedlichen Weisen ist, wie die Menschheit all den Dingen, mit denen sie umgeht, eine Bedeutung verleiht. Der so gern zitierte Weg ›vom Mythos zum Logos‹ bei den Griechen hatte für Cassirer nun eine ganz besondere Faszination, denn in der frühgriechischen Kultur kann man sozusagen alle symbolischen Formen auseinandertreten sehen: Mythos, Sprache, Kunst und Wissenschaft. Leider hat Cassirer seine Vorlesungen zur antiken Philosophie nicht in Manuskriptform hinterlassen. So wissen wir, daß er von seiner Berliner Zeit an immer wieder Vorlesungen, Übungen und Seminare zu Themen der griechischen Philosophie abgehalten hat.3 Diese galten teils der historischen Einführung in die Philosophie als solche, teils Platon und teils der Geschichte des Platonismus.4 Aristoteles und den Vorsokratikern scheint Cassirer zwar keine speziellen Veranstaltungen gewidmet, sie aber ständig mit einbezogen zu haben. So kann man von Cassirer in Abwandlung von Ciceros Diktum über den Stoiker Poseidonios sagen: »Er führte stets Anaximander, Heraklit, Parmenides, Demokrit, Platon und Aristoteles im

2 So schließt Cassirer einmal seine Betrachtungen über die Wirrsalen in der Philosophiegeschichte und ihre scheinbare Unfruchtbarkeit mit einer positiven Bilanz: »Wer die Gesamtentwicklung des Denkens verfolgt, dem muß deutlich werden, daß es sich in ihm um einen langsamen stetigen Fortschritt derselben großen Probleme handelt. Die Lösungen wechseln, aber die Grundfragen behaupten ihren Bestand. Alles, was gegen sie eingewandt wird, dient nur dazu, sie schärfer und klarer zu formulieren und damit ihre immer erneute Lebenskraft zu beweisen.« (Ernst Cassirer: »Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes« (1906), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 9: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), Hamburg 2001, 3–36. 3 Ein Verzeichnis von Cassirers Lehrveranstaltungen liegt noch nicht vor; die Informationen verdanke ich John Michael Krois. 4 Später, im Exil, hat Cassirer zwar seine Unterrichtsvorbereitungen auch schriftlich niedergelegt, bisher ist davon aber nichts greifbar.

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Munde.«5 Davon zeugen auch diejenigen seiner Schriften, die nicht oder nicht ausschließlich der Philosophiegeschichte gewidmet sind. Dazu kann hier nur einiges besonders Signifikante aufgegriffen werden, denn ein Eilgang durch eine Galerie mag zwar auch seine Reize haben, von den vielen Bildern, die man im Vorbeilaufen sieht, bleibt aber letztlich nichts als der Eindruck einer bunten Vielfalt im Gedächtnis. Daher beschränkt sich diese Darstellung auf vier Punkte: auf eine kurze Charakterisierung von Cassirers Zugang zur griechischen Philosophie überhaupt, auf die Gründe für seine Hochschätzung von Platon und seine Kritik an Aristoteles, sowie auf eine kurze Kennzeichnung seiner leicht veränderten Einstellung zum Platonismus und Aristotelismus der Renaissance. 6 Diese ›Beschränkung‹ ist immer noch ziemlich anmaßend, denn mehr als kurze Skizzen würden umfangreiche Analysen von Cassirers Texten, seinen Auseinandersetzungen mit seinen Zeitgenossen und mit der Sekundärliteratur voraussetzen, die den Rahmen dieses Essays sprengen müßten. 7

I) Cassirer und die Anfänge der griechischen Philosophie In welcher Weise die griechische Philosophie für Cassirer die Einführung in die Philosophie schlechthin darstellt, zeigt etwa seine längere Abhandlung: ›Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon‹.8 Dort bringt Cassirer auf den Punkt, was bis heute den Reiz der Beschäftigung mit der frühgriechischen Philosophie ausmacht: daß hier Inhalt und Form der Welterkenntnis einander wechselseitig hervorbringen. Hier gibt es noch keine traditionellen Probleme, die so oder auch anders behandelt werden können, mit Hilfe dieser oder jener Begrifflichkeit. Was Philosophie ist, wie und worüber sie spricht, wird vielmehr zugleich mit und durch das Denken über die Welt selbst bestimmt. In dieser privilegierten Situation war kein späterer Philosoph mehr, wie sehr er sich auch als Neuerer verstehen und von der Tradition distanzieren mochte. Dies gilt, wie Cassirer

5 »Semper habuit in ore Platonem, Aristotelem, Xenocratem, Theophrastum, Dicaearchum […].« Cicero: De finibus 4.79. M. Tulli Ciceronis: De finibus bonorum et malorum libri quique (1998), L. D. Reynolds (Hg.), Oxford 1998. 6 Diese Diskussion beschränkt sich zudem auf ontologische und epistemologische Fragen, unter Ausklammerung der Beurteilung der politisch-anthropologischen Vorstellungen von Platon und Aristoteles, die Cassirer vor allem in seiner späten Schrift The Myth of the State entfaltet. Ernst Cassirer: The Myth of the State (1946), in: ECW 25. 7 Besonders lohnend wäre eine vergleichende Studie über Cassirers Rezeption der Antike mit der von Hermann Cohen und Paul Natorp. 8 Ernst Cassirer: »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16, 313–467. Es handelt sich um Cassirers Beitrag zu Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925.

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versichert, auch für die Entdecker des Naturbegriffs in der Renaissance, ob sie nun Galilei oder Kepler heißen; sie alle spinnen doch an den Grundformen griechischer Philosophie und Wissenschaft weiter. Während aber in der Frühmoderne die Naturwissenschaft sich bald von der Metaphysik löste, war das im frühen Griechentum anders. Wie Cassirer es ausdrückt: »[Es] ist ein und derselbe gedankliche Prozeß, in welchem sich der Umriß der ›äußeren‹ und der ›inneren‹ Welt feststellt, in welchem sich die Entdeckung der ›objektiven‹ wie der ›subjektiven‹ Wirklichkeit vollzieht.«9 Daß es bei den Griechen zunächst keinen Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität gab, führt Cassirer wohl zu Recht darauf zurück, daß anfangs gar kein Begriff eines ›objektiven Seins‹ vorlag, sondern ein solcher erst erarbeitet werden mußte. Wie Cassirer es formuliert: »An der Struktur des Seins enthüllt sich ihm [sc. dem Denken] die Struktur des Gedankens – die Begriffe des Kosmos und des Logos werden zu Wechselbegriffen, die sich gegenseitig bestimmen und erleuchten.«10 Und diese wechselseitige Angewiesenheit von Denken und Sein macht Cassirer als die gemeinsame Basis der griechischen Philosophen aus, so unterschiedlich auch ihre Vorstellungen über die Welt im Einzelnen sein mochten. Die ›Begreiflichkeit der Welt‹ wie auch die des menschlichen Lebens ist, bei aller Verschiedenheit, doch immer das gemeinsame Anliegen nicht nur der verschiedenen Philosophen, sondern auch ihrer Gebiete: »So wächst die Physik, die Ethik und die Logik, so wächst das Wissen von der Natur, das Wissen von der Sittlichkeit und das Wissen vom Wissen selbst bei den Griechen aus einer gemeinsamen Wurzel hervor – so stellt es die dreifache Bewährung ein und desselben Grundgedankens dar, in dem sich die bleibende Form des griechischen Geistes ausdrückt.«11 Cassirer meint nun nicht, daß es den griechischen Philosophen gelungen ist, ihre Ansprüche auf solches Wissen voll einzulösen. Es sind aber eben diese Ansprüche, die ihren bedeutendsten Vertretern eine überpersönliche und überzeitliche Bedeutung verliehen haben, so daß wir uns zu Recht heute noch diesen Anspruch zum Maßstab machen, ob wir es wissen oder nicht. Und es ist auch dieser Anspruch, welcher laut Cassirer die Philosophie bereits in ihren Anfängen vom Mythos trennt. Denn hier werden keine mehr oder weniger anthropomorphen ›Geschichten‹ mehr erzählt, sondern Form und Begriff der Natur selbst werden hinterfragt. Denn daß es bei aller Vielfalt, Veränderung und Gegensätzlichkeit der Dinge jeweils eine Ordnung und Einheit geben muß, dies ist für Cassirer der Grundgedanke, dem sich die frühen griechischen Philosophen gestellt haben.

9 10 11

Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 315. A. a. O., 318. Ebd.

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Daher zeichnet er diesen Grundgedanken und seine Entwicklung in den wesentlichen Zügen nach. Dazu sei angemerkt, daß Cassirers Behandlung der Vorsokratiker zwar bewußt auf Detailfragen wie auch auf eine Beteiligung an gelehrten Kontroversen verzichtet, aber dennoch erkennen läßt, daß beides ihm wohlvertraut ist und er sich jeweils sein eigenes, sorgfältig abgewogenes Urteil gebildet hat. Daher würde sich diese Abhandlung auch heute noch als Einführung eignen, selbst wenn man manches anders ausdrücken würde. Angesichts der Schwierigkeit, ein Prinzip der Einheit in der Vielfalt der Natur zu finden, sieht Cassirer in der Entdeckung der ›Zahlhaftigkeit‹ natürlicher Verhältnisse durch die Pythagoreer eine, wenn nicht gar die entscheidende Neuerung in der Philosophie vor Platon. Denn wenn etwa Heraklit von einem einheitstiftenden Prinzip, dem ›logos‹ spricht, der für Ausgleich sorgt, so bleibt doch das ›Wie?‹ eine offene Frage. Gerade darin haben die Pythagoreer einen wesentlichen Schritt nach vorn getan: Einheit wird auf Zahlenverhältnisse zurückgeführt; dabei dient die Entdeckung bestimmter harmonischer Verhältnisse in der Natur als Bestätigung, vor allem die der Zahlenproportionen natürlicher Intervalle in der Musik. Die Details von Cassirers Nachzeichnung der Entwicklung der griechischen Philosophie bis Platon sind hier zu übergehen. Erwähnt sei lediglich, daß für ihn die Spannung zwischen Natur und Geist ein entscheidendes Moment ausmacht, eine Spannung, welche die Sophisten sich zunutze machten, um die Fragwürdigkeit der Übereinstimmung von Subjektivität und Objektivität als große Herausforderung zu präsentieren. Es war eben diese Herausforderung, die zunächst Sokrates und dann Platon auf den Plan gerufen hat. Die später von Kant so prägnant formulierte Forderung, daß der Mensch doch schließlich ›in die Welt passen muß‹, wird in der Frage nach dem ›Wie?‹ der Zusammengehörigkeit von Denken und Sein problematisiert. Dabei stellt zunächst Sokrates die Begründbarkeit des Wissens in Frage, obwohl er auf ihrer Notwendigkeit beharrt, während Platon sich der Frage nach den Objekten zuwendet, die einer solchen Begründung fähig sind. Bei dieser Problemstellung treten zwangsläufig die Dinge und die Gedanken über sie auseinander und Platon wendet sich, wie Cassirer darlegt, den Begriffen und ihren Bedeutungen als dem Schlüssel zum Verständnis der Welt zu; dieser Schlüssel liegt für ihn in der Ideenlehre.

II) Cassirer und Platon Platon ist Cassirer deswegen wie ein wahres Wunder erschienen, weil er nicht nur eine Einheit und Harmonie in der Natur im Allgemeinen suchte, sondern dabei auch die Einzeldinge mit einbezog. Das Mittel, dessen Platon sich dazu bediente, ist denkbar einfach: Er orientierte sich an der

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Sprache. Nach Cassirers Darstellung war sich Platon dessen bewußt, daß in jedem Urteil über ein Einzelding das Subjekt und das Prädikat gewissermaßen zwei verschiedenen Welten angehören. Denn während das Subjekt ein sinnlich erfahrbares Einzelding benennt, hat das Prädikat eine unveränderliche, allgemeine Bedeutung. Prädikate sind, wie Cassirer sich ausdrückt, »die bedeutungsgebenden Momente, durch die eine konstante Norm und ein Bezugspunkt des Urteils gegeben ist«.12 Was meint Cassirer mit dieser reichlich komplexen Beschreibung der Funktion von Prädikaten? Er meint damit, daß unser Reden und Denken nur dann einen Sinn hat, wenn wir mit jedem Prädikat eine feste Bedeutung verbinden, die nur mit dem Geist und nicht mit den Sinnen zu erfassen ist. Wenn wir z. B. Sokrates als einen Menschen, als weise oder als fünf Fuß groß bezeichnen, so mag zwar Sokrates selbst für jeden von uns anders aussehen, Begriffe wie ›Mensch‹ oder ›fünf Fuß groß‹ oder ›weise‹ müssen aber für uns alle dieselbe Bedeutung haben, wenn unser Reden überhaupt einen Sinn haben soll. Wie Cassirer sich ausdrückt: »Die sinnliche Existenz zur geistigen Bedeutung umzuprägen und ihr damit erst das echte Siegel des Seins aufzudrücken: Das ist die universelle Aufgabe, die Platons Philosophie sich stellt, der alles, was Platon im Denken und im Tun, was er als Methodiker der wissenschaftlichen Erkenntnis und was er als sittlicher, als politischer, als religiöser Reformator erstrebt und geleistet hat, sich gleichmäßig einfügt und unterordnet.«13 So hehre Worte für die schlichte Annahme, daß Prädikate eine feste, allgemeine Bedeutung haben? Darin liegt für Cassirer in der Tat der Kernpunkt der platonischen Ideenlehre: »Die Idee als Gestalt, als Form – sie ist das objektive Weltprinzip, das Platon aufstellt und in dem sich doch zugleich das Ganze seines individuellen Wesens, die Einheit seines Denkens, seines Schauens und seines Wirkens mit unvergleichlicher Klarheit ausspricht.«14 Daß allgemeine Bedeutungen nicht nur sprachliche Phänomene sind, sondern ihnen etwas in der Natur der Dinge entsprechen muß, diesen Gedanken hat vor Platon niemand explizit gemacht, aber viele haben es Platon nachgetan. Darin liegt auch der Ursprung des später sogenannten Universalienstreits, eines Streites, von dem nicht anzunehmen ist, daß er je ein Ende finden wird. Denn über die Frage, ob mit Begriffen etwas Allgemeingültiges ausgesagt wird, was es in der Welt gibt, oder ob sie nur Konstrukte menschlichen Denkens sind, wird bis heute mit guten Gründen von vielen Seiten eifrig gestritten.

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A. a. O., 422 f. Ebd. 14 Ebd. Mit der Redeweise vom ›aufgeprägten Siegel‹ nimmt Cassirer die Metaphorik aus Platons Phaidon auf, wenn er die Ideen als die eigentlichen Gegenstände des Wissens auszeichnet. (Platon: Phaidon, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 2000, 131, 75d). 13

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Für Cassirer lag nun in der Allgemeinheit des Wesens der Dinge Pla­ tons große Entdeckung, die es ihm gestattete, die Philosophie mit der Wissenschaft zu verknüpfen. Was aber garantiert für Cassirer, daß hier nicht nur subjektiv eine Norm gesetzt wird, d.h., daß die Allgemeinheit der Bedeutung nicht das Ergebnis bloßer Abstraktionen des menschlichen Geistes ist? Und was garantiert andererseits, daß die Bedeutungen nicht auf transzendenten Wesenheiten beruhen, welche dem Menschen gar nicht wirklich zugänglich sind, wie es doch die >Jenseitigkeit< gewisser Züge der Platonischen Metaphysik nahe legt? Eben darin besteht die Zweiwelten­ lehre der traditionellen Platon-Deutung, mit ihrer Unterscheidung einer Welt der vollkommenen Urbilder und einer Welt unvollkommener Abbil­ der, durch deren Anblick die menschliche Seele an das im Jenseits Ge­ schaute wieder erinnert wird. Eine solche Trennung kann aber gar nicht im Sinne Cassirers sein, da für ihn Bedeutungen doch jeweils Leistun­ gen des menschlichen Bewußteins sind. Daß idea und eidos, ursprünglich - und manchmal auch noch bei Platon - im Sinne von >Aussehen< oder von >Anschauung< verwendet wurden, kann Cassirer kaum als hinreichen­ des Anzeichen für eine Geistesverwandtschaft mit seiner Philosophie der symbolischen Formen gedeutet haben. Bei diesem traditionellen Platonbild setzt Cassirer in der Tat gar nicht an. Er stellt vielmehr zwei Aspekte in den Mittelpunkt seiner Platon-In­ terpretation, die zwar im traditionellen Platonbild weniger Beachtung gefunden, seit der Mitte des 20. Jh. aber vermehrte Aufmerksamkeit er­ fahren haben. (1) Sein Augenmerk gilt einerseits den formalen Begriffen, auf die Platon vor allem in seinem Spätwerk eingeht. (2) Andererseits kon­ zentriert Cassirer sich auf Platons Bemühung um die Aufdeckung mathe­ matischer Verhältnisse, die gleichfalls in seinem Spätwerk kulminieren. Cassirer stützt sich dabei allerdings nicht auf detaillierte Textexegesen, sondern begnügt sich mit einer allgemeinen Erklärung, wie die Einheit von Subjektivem und Objektivem bei Platon zu verstehen ist: Er schreibt der Seele Einsichten normativ-allgemeinen Charakters zu, die weder bloße Produkte des menschlichen Geistes, noch rein transzendente Wesenheiten sind.

(1) In dieser Hinsicht unterstellt Cassirer Platon eine Art Gratwanderung: Der Geist entdeckt Begriffe wie Sein, Identität, Differenz, Einheit, Vielheit - also das, was man als >Ordnungsbegriffe< bezeichnen kann. Diese Begriffe werden im Theaitetos erstmals mit dem gemeinsamen Namen >koina< ausge­ zeichnet und somit als Gruppe dargestellt15; ihre wechselseitigen Beziehun­

15 Platon: Theaitetos, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 211-215, 184d-186e.

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gen sind Gegenstand des zentralen Teils von Platons Sophistes. Dort werden sie auch als Ideen (eidos, idea, physis) bezeichnet.16 Laut Cassirer sind diese Begriffe nun weder Produkte unseres Geistes, noch sind sie in einer vom Geist und den Sinnen ganz getrennten Welt anzusiedeln. Cassirer will Pla­ ton aber auch nicht zu einem Proto-Kantianer machen, der die Ideen als die transzendentalen Bedingungen aller Erkenntnis faßt. Wenn Cassirer ihnen zugleich Objektivität zuspricht, so deswegen, weil er Platon keine Tren­ nung unterstellen will; vielmehr sind die allgemeinen Ordnungsbegriffe des Geistes zugleich auch die notwendigen Strukturen alles Stabilen in der Welt. Er kann sich dafür auf den Timaios berufen, in dessen Kosmologie Sein, Identität und Verschiedenheit sowohl die Struktur der Weltseele als auch die der menschlichen Seele konstituieren. Für Cassirer stehen somit nicht die Ideen als die paradigmatischen Urbilder aus den mittleren Dialogen Platons im Zentrum, sondern vielmehr als formale oder >gegenstandsneutrale< Begriffe, die später in der Hoch-Zeit der analytischen Philosophie ins Zentrum der Platon-Forschung geraten sollten und das Interesse erklären, das Platon bis heute für diese Richtung hat.17

(2) Mit den Ordnungsbegriffen allein ist es für Cassirer aber nicht getan, sondern er sieht überdies in Platons Spätdialog Timaios ein Zeugnis für die Ordnung und Einheit an, die der Welt wie auch dem Geist zugehören.· Pla­ ton stellt die Welt selbst als ein mathematisch strukturiertes System dar. Er tut das im Großen, in der Himmelsordnung, die auf den gleichen Propor­ tionen wie die Musik beruht, und im Kleinen, in der geometrischen Kon­ figurierung der Materie.18 Wenn Platon die kosmische Ordnung auf einer harmonischen Struktur der Weltseele beruhen läßt, so sollte man ihm kei­ nen romantisierenden Panpsychismus oder Pantheismus unterstellen. Viel­ mehr geht es ihm um die Sicherstellung der Kontinuität und Koordination der Bewegungen der Himmelskörper; Platons Weltseele symbolisiert daher die Struktur der Welt als eines räumlich und zeitlich geschlossen Systems. Indem er der menschlichen Seele eine analoge Struktur zuschreibt, kann er für die Gesamtnatur eine Übereinstimmung mit den Zügen annehmen, auf

16 Platon: Sophistes, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 305-322, 249b-260a. 17 John L. Ackrill: »Symplokê Eidon«, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies, London 19552, 31 ff.; Gwilym Ellis Lane Owen: »Plato on Not-Being«, in: Gregory Vlastos (Hg.): Plato, A Collection of Critical Essays, Bd.I, New York 1972, 223-267; Charles Kahn: »Some Philosophical Uses of >to be< in Plato«, in: Phronesis 26, 1981, 105-134. 18 Cassirer sah in Platon also nicht den >Erzmetaphysiker< transzendenter Wesenhei­ ten, sondern den Vater der Mathematisierung der Natur. Daher hielt er ihn für einen Vorreiter der modernen mathematischen Naturwissenschaft, deren Ausarbeitung und Strukturierung Cassirer auch als das eigentliche Ziel der Neukantianer der Marburger Schule ansah. Vgl. dazu Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000, bes. 87-110.

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denen das vernünftige, logische, sittliche und technische Tun des Menschen beruht: Ordnung und Ebenmaß, taxis und symmetria, sind folglich für die Natur wie für den Menschen charakteristisch.19 Angesichts von soviel Einheit und Ordnung stellt sich nun doch die Frage nach dem Ei und der Henne. Ist es nun der Geist, der die Mathematik und die Dinge mathematisch erfaßt, oder gibt es Geist und Geistiges, weil die Welt mathematisch strukturiert ist? Cassirers Einlassungen dazu sind ambivalent: Im Zusammenhang mit der Weltseele und der mathematischen Natur der materiellen Dingen spricht er nicht nur von einem »Primat des Ideellen gegenüber dem Empirischen«, sondern auch von einem >Vorrang der logoi vor den pragmataIdealismus< allenfalls in einem ganz speziellen Sinn die Rede sein. Denn von modernen Idealisten unterscheidet sich Platon für Cassirer in einer wesentlichen Hinsicht: Platon ist äußerst zurückhaltend, was die Er­ kennbarkeit der rationalen Weltordnung angeht. Ob er dem menschlichen Geist überhaupt die Fähigkeit zur Entzifferung der (mathematischen) Ver­ nunftgesetze zutraut, bleibt letztlich offen. Eben dies bezeugt die Tatsache, daß der Timaios, Platons einzige Schrift zur Naturphilosophie, nur eine wahrscheinliche Geschichte< erzählen will, an die man ausdrücklich nicht die Maßstäbe strenger Kohärenz legen darf.

19 Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 443. Außer im Timaios setzt Platon auch im Philebos eine Parallelität von Makrokosmos und Mikrokosmos voraus, mit einer Ordnung, die in Maß und Zahl durch die göttliche Vernunft festgelegt ist (Platon: Philebos, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994, 447-450, 28c-30e). 20 Cassirer: »Die Philosophie der Griechen«, ECW 16, 449 f.

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III) Cassirer und Aristoteles Cassirers Betonung des mathematischen Hintergrundes von Platons Ideen­ lehre erklärt etwas, was zunächst verwundern muß, solange man Cassirer nur als Kulturphilosophen versteht und die Anregungen verkennt, die seine Philosophie der Auseinandersetzung mit der Mathematik und ihrer Anwen­ dung in den neuzeitlichen Naturwissenschaften verdankt: daß er nämlich Aristoteles gegenüber Platon eher als einen Rückschritt ansah. Der Titel der Schrift von 1910: Substanzbegriff und Funktionsbegriff11 würde zunächst eher eine Verwandtschaft zu Aristoteles nahe legen, da für Aristoteles die Substantialität einer Sache im Wesentlichen in ihrer Funktion besteht. Erst die Feststellung, daß Cassirer in diesem Werk im Ausgang von Leibniz von mathematischen Funktionen und Gesetzlichkeiten spricht, macht begreif­ lich, warum ihm Platon weit näher stehen mußte als Aristoteles: Es geht Cassirer nicht um Substanzen als den Trägern essentieller Funktionen, son­ dern um funktionelle Gesetze anstelle von feststehenden Substanzen.21 22 Von einer solchen >Flexibilisierung< des Funktionsbegriffs kann bei Aristoteles in der Tat nicht die Rede sein. Für Platons Zahlensymbolik und seine Spe­ kulationen über eine mathematische Verfaßtheit der Dinge hatte er nicht viel übrig;23 an Quantifizierungen der Vorgänge in der Natur, mit Ausnah­ me der Himmelsbewegungen, hat Aristoteles nie gedacht. Die Vorgänge in der sublunaren Sphäre müssen ihm dafür allzu komplex und ungeordnet erschienen sein. Aus diesem Grund erwies sich Der Philosoph später als ein wesentlicher Hemmschuh bei der Entwicklung einer mathematischen Physik und blieb es für beinah zwei Jahrtausende.24

21 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grund­ fragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6. 22 Vgl. dazu Andreas Graeser: Ernst Cassirer, Kap. V: Die Theorie des Begriffs, München 1994, 129-141; Enno Rudolph: »Von der Substanz zur Funktion: Leibnizrezeption als Kantkritik bei Ernst Cassirer«, in: ders. (Hg.): Symbolische Formen, mögliche Welten - Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 85-95. 23 Vgl. dazu Aristoteles: Metaphysik A, Kap. 6 und 9, sowie die ausführlichere Erör­ terung in den Büchern Μ und N. Aristoteles'Metaphysik, hrsg. v. Ursula Wolf, übers, von Hermann Bonitz, Reinbek 1994. 24 Vgl. dazu: »Die Einheit der teleologischen und mathematischen Betrachtungsweise, die noch in Platons Natursystem bestand, ist aufgehoben [...]. Jetzt erst gewinnt der Kampf zwischen empirischer und spekulativer Naturbetrachtung seine ganze Schärfe. Die mathe­ matische Physik der neueren Zeit versucht zunächst ihr Recht und ihre Selbständigkeit dadurch zu erweisen, daß sie in der philosophischen Grundlegung von Aristoteles wieder auf Platon zurückgeht. Es ist vor allem Kepler, für den diese Wendung charakteristisch ist.« (Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 144-147, bes. 146) Cassirers Ansatz beim späten Platon ist deutlich durch Leibniz geprägt, der seinerseits von Kepler beeinflußt war. Vgl. dazu Ernst Cassirer: »Leibniz« (1911), in: ECW 9, 515-617, bes. 602611, dazu Rudolf Haase: Johannes Keplers Weltharmonik: der Mensch im Geflecht von Musik, Mathematik und Astronomie, München 1998.

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Was Cassirer veranlaßte, in der aristotelischen Philosophie ein Denken zu sehen, welches die neuzeitliche Wissenschaft zu überwinden hatte, ist aber nicht so sehr die Vernachlässigung der Mathematik als vielmehr das­ jenige, wodurch er in Cassirers Augen Platons mathematisch begründete Ordnung ersetzte, nämlich seine auf den Begriff der Substanz zentrierte Metaphysik mit dem dazugehörigen Kategoriensystem. Denn diese Me­ taphysik hatte zum einen ihre Auswirkung auf seine Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre, zum anderen auf die Logik. In beiden Hinsichten sollte die aristotelische Grundkonzeption entscheidende Auswirkungen auf die Nachwelt haben. (1) Statt von mathematisch strukturierten Verhältnissen geht Aristoteles vom Primat der sinnlich erfahrbaren Substanz aus und ordnet ihr alle ande­ ren Dinge unter. Die Kategorien ihrerseits sind lediglich durch Abstraktion gewonnene Begriffe, welche die Vielheit der Erfahrungen zu einer Einheit zusammenfassen, wobei der Substanz die zentrale Rolle zukommt. Alle weiteren Bestimmungen wie Quantität, Qualität, Relation, Raum, Zeit sind sekundäre Eigenschaften, die in ihrer Existenz auf die Substanz angewie­ sen sind. Diese Substanzzentriertheit der dominierenden aristotelischen Metaphysik hat für Jahrhunderte verhindert, daß diese sekundären Entitäten< ins Zentrum eigenständiger Theorien gestellt, also etwa Relationen als Bezüge eigenen Rechtes betrachten wurden.25 Auch die aristotelische Auffassung von Mathematik und ihrer Gegenstände entspricht dieser Sub­ stanzmetaphysik: Sie sind lediglich durch Abstraktion gewonnene Größen und Größenverhältnisse. Entsprechend eng ist in Cassirers Augen auch die Erkenntnistheorie des Aristoteles. Zwar erkennt Cassirer an, daß Aristote­ les mit seiner Erklärung der Wahrnehmung als der Rezeption der Form der wahrgenommenen Qualitäten durch die Seele gegenüber den Vorsokratikern einen deutlichen Fortschritt gemacht hat. Gleichwohl ist Aristoteles mit der Typisierung von Wahrnehmungsgehalten nicht so weit gekommen, daß er und die von ihm bestimmte Tradition zu einer völligen Überwin­ dung der Abbildtheorie gelangt wären, d. h., daß Wahrnehmungen Abbilder des Wahrgenommenen sind: »Sosehr man hier und in der mittelalterlichen Philosophie bestrebt ist, zu einer Intellektualisierung und Sublimierung der Abbildtheorie vorzudringen, und sosehr insbesondere die Scholastik sich um die Unterscheidung der >species intelligibilis< von der >species sensibilis< bemühte, - so lebte doch in dem abstrakten Begriff der >Species< [Anblick]

25 Vgl. dazu Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff\ ECW 6, Kap. 1: Zur Theorie der Begriffsbildung, ECW 6, bes. 1-10. Besonders in der Begriffsbildung mit Über- und Unterordnung von Genus und Spezies sah Cassirer eine sterile abstrahierende Vorgehensweise, wobei er davon ausgeht, daß die Erkenntnis in einem >Abbild< dieser metaphysischen Ordnung besteht.

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selbst die alte sinnliche Grundbedeutung des Bildes fort. Es bedurfte der neuen Denkform des modernen Idealismus, um den aristotelisch-scholasti­ schen Speziesbegriff und die an ihn geknüpfte Erkenntnislehre endgültig zu überwinden.«26 Platons Ideenlehre, vor allem in ihrer letzten, ungegenständlich-mathematisierenden Form, scheint für Cassirer demgegenüber keine Ei­ erschalen der Abbildlichkeit mehr an sich zu haben. Ob Platon diese ungleich besseren Noten wirklich verdient und ob seine Ontologie, welche nicht nur die Dinge und deren Eigenschaften auf Teilhabe an den Ideen zurückführt, sondern auch Ideen von Gattungsbegriffen annimmt, nicht entscheidende Züge der aristotelischen Metaphysik teilt, muß hier dahingestellt bleiben. Cassirer scheint Fragen wie etwa, ob das dihäretische Verfahren mit seiner Hierarchisierung der Ideen die aristotelische Einteilung in Genus und Spezi­ es vorwegnimmt, nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben.

(2) Zur Logik: Wie Cassirer es sieht, hat Platon mit seinen Reflexionen über die allgemeinen Beziehungen zwischen den Ideen in seinen Spät­ schriften den Grund für die dialektische Methode gelegt. In den Händen des Aristoteles hingegen wurde die Dialektik zur formalen Logik, in de­ ren Zentrum wiederum der Substanzbegriff steht, so daß sich Aristoteles auf eine Prädikatenlogik beschränkt. Zudem hat die Verselbständigung der Logik und ihres Formalismus in Cassirers Augen den Nachteil, daß dabei Form und Gehalt von einander getrennt werden. Aus diesem Grund hat die der aristotelischen Logik zugrunde liegende Ontologie auch die wissenschaftliche Begriffsbildung weiter beeinflußt, ohne daß die Vertre­ ter der einzelnen Wissenschaften sich dieser Tatsache bewußt waren. Da Cassirer in der aristotelischen Logik in dieser Hinsicht ein wesentliches Hindernis sah, gilt dasselbe in seinen Augen auch für die dieser Logik zu­ grunde liegende Auffassung von Sprache. Aristoteles beschränkt die Logik auf die verschiedenen Arten von Prädikaten gemäß seiner Kategorienein­ teilung, die sich wiederum an der Struktur der Sätze der Umgangsspra­ che orientiert. Als eine Systematik des Geistes< ist diese Orientierung in Cassirers Augen viel zu eng, weil sie die Sprache der modernen Mathe­ matik nicht mit umfassen kann. Der Dialektik Platons traut er diesbe­ züglich mehr zu, weil Platon »eine scharfe Grenze zwischen den beiden Bedeutungen des logos, zwischen dem Begriff an sich und seinen sprach­ lichen Repräsentationen gezogen hat« - eine Grenze, die sich bei Aristo­ teles wieder zu verwischen drohte.27 Aus diesen Gründen war Cassirer an

26 Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissen­ schaften« (1923), in: ECW 16, 88. 27 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), Kap.1.1: Das Sprachproblem in der Geschichte des philosophischen Idealismus (>Platon, Descartes, LeibnizNachlebensMagd der Theologie< vorstellt: »(...) wobei doch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt.«29 Daß die >Magd< nicht einfach von einer Schleppenträgerin zur Vorleuchterin mutieren konnte, liegt nun nicht nur an der tiefen Einbin­ dung in die Theologie, die bestimmten griechischen Philosophemen das Überleben durch das Mittelalter hindurch gesichert hatte. Es liegt auch dar­ an, daß Philosophen und Wissenschaftler ja weiterhin Christen blieben, so daß ihnen an einer Übereinstimmung ihrer Prinzipien mit der christlichen Lehre durchaus gelegen war. Wenn es ihnen um die Autonomie des Geistes ging, so ging es ihnen doch auch um die unsterbliche Seele und wenn sie um die Erfassung der Natur und ihrer Gesetzlichkeiten bemüht waren, so war es doch eine von Gott geschaffene Natur. Eben dies erklärt, wie Cas­ sirer hervorhebt, daß uns die Wiederbelebung der Platonischen Philoso­ phie in der Renaissance zunächst als »dürftig und kümmerlich« erscheinen muß.30 Die Renaissance war ja kein völliger Neubeginn und hat nicht etwa mit dem Fanal einer Verbrennung mittelalterlicher Codizes angefangen, sondern die Renaissance bestand in einer allmählichen Loslösung von der Autorität von Theologie und Kirche, die in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich schnell vonstatten ging. So ist es nicht verwunderlich, wenn Marsilio Ficino’s Akademie in Florenz im Wesentlichen auf den Neuplato­ nismus zurückgriff und daher gewissermaßen in Platon Gottvater und in Plotin den Sohn sah.31 Wenn sich dabei doch etwas Entscheidendes tat, so liegt es in der Konzentration auf die menschliche Seele, auf ihr Verhältnis zur Welt und nicht mehr allein auf ihre Hinwendung zu Gott.

29 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: ders.: Kants Werke, AkademieTextausgabe, Band VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 198 35, 291. 30 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906,1911, 1922), Zweites Kapitel: Der Humanismus und der Kampf der Platonischen und Aristotelischen Philosophie, in: ECW 2, 60-142, bes. 66. 31 Zur Thematik vgl. Enno Rudolph: »Die Krise des Platonismus in der RenaissancePhilosophie«, in: ders. (Hg.): Polis und Kosmos, Darmstadt 1996, 108-122.

Frede · Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers

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Die Einzelheiten von Cassirers Rekonstruktion der Entwicklung von Ficino bis zu Kepler, zu Descartes und Leibniz sind hier nicht nachzu­ zeichnen, eine Entwicklung, die 200 Jahre in Anspruch genommen hat und die Cassirer von vielen Seiten her untersucht hat.32 Vielmehr sei nur auf einige Besonderheiten hingewiesen, die für Cassirer die wichtigsten Stationen in der Entwicklung des neuzeitlichen Begriffs des Bewußtseins aus dem Geiste der Antike markieren. Zu den grundlegenden Vorausset­ zungen Ficinos gehört die Annahme, mit der er Platons Erklärung von Wissen als Wiedererinnerung verbindet, daß zwischen dem Geist und seinen Gegenständen eine Gleichheit bestehen muß, weil andernfalls ein Erfassen gar nicht möglich wäre. Das menschliche Bewußtsein ist jedoch kein bloß passiver Rezipient von Eindrücken äußerer Dinge, sondern die Erkenntnisse sind gewissermaßen Erzeugnisse seines Vermögens, die Dinge zu erfassen - und nur so kann aus einer Vielzahl unterschiedlicher Eindrücke eine Einheit werden.33 Alles Denken ist daher ein Auf- und Ausbauen, das bereits im Besitz derjenigen Regeln sein muß, auf denen diese Konstruktion beruht. Eben deswegen können wir unsere Freude an sinnlicher Schönheit haben, weil unsere Seele die Mittel hat, die reinen Zahlverhältnisse, die allen harmonischen Dingen zugrunde liegen, durch alle konkreten Hüllen und Umkleidungen hindurch wahrzunehmen: Wir tragen also diese Kriterien an die Dinge heran, nicht umgekehrt. Und so ist auch Ficinos positive Einstellung zur Sinnenwelt zu erklären: die Erde ist für ihn kein werächtlicher Wohnsitze Laut Cassirer bleiben diese Einsichten bei Ficino allerdings noch an die Psychologie Augustins gebunden; sie sind vom göttlichen Bewußtsein bestimmt und geformt, so daß eine Loslösung von diesem transzendenten Fundament ihm noch nicht möglich ist. Freilich steht Ficino mit dieser Schwierigkeit nicht allein. Sie stellt eine Schranke dar, auf die man in der Philosophie der Renaissance immer wieder trifft und die für eine gewisse Widersprüch­ lichkeit innerhalb dieser Epoche sorgt. Erst die Philosophen der späteren Renaissance, zu denen Cassirer nicht nur Descartes, sondern auch noch

32 Dazu wäre eine eingehende Beschäftigung nicht nur mit Cassirers Hauptwerk zur Renaissance Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance zu führen, sondern auch mit den Autoritäten, mit denen Cassirer sich dort, ausgehend von Jacob Burckhardts Die Cultur der Renaissance in Italien (1860), auseinandergesetzt hat, vgl. dazu Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14, 1-7; 41 ff. - Ferner wären seine Zeitgenossen zu berücksichtigen, die mit ihm ko­ operiert oder auf seine Darlegungen reagiert haben, vgl. dazu Ernst Cassirer/Paul Oscar Kristeller/John H. Randall et al. (Hg.): The Renaissance Philosophy ofMan: Petrarca, Valla, Pico, Pomponazzi, Vives, Chicago 1948. - Vgl. auch Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1939, erw. und ergänzt München 1989; Paul Oscar Kristeller: Renaissance Thought: The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains, New York 1961. 33 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 76-77.

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Leibniz und die Schule des Platonismus von Cambridge zählt, haben nicht nur erfolgreich für die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Theologie, sondern auch für die Autonomie des eigenverantwortlichen Selbst plädiert.34 Eben das war für Cassirer ein wesentliches Anliegen Platons. Aus diesem Grund hat Cassirer in der Renaissance nicht nur eine >erste Aufklärung< gesehen, sondern zugleich eine Aufklärung, in der das individuelle Selbst mehr im Zentrum stand als in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, da diese den Menschen weitgehend als Gattungs­ wesen behandeln sollte. Während die Äußerungen Cassirers über Aristoteles, auf die oben be­ reits hingewiesen wurde, im Vergleich zu Platon wenig günstig ausfallen, so sieht das für die Renaissance anders aus. Denn für die Richtung, die Philosophen wie Leonardo Bruni bei der Wiederbelebung des echten Ari­ stoteles - gegen dessen scholastische Ausleger - einschlugen, hat Cassirer durchaus Sympathien, weil es sich dabei um eine freie, undogmatische An­ eignung handelt, in der zudem statt der Metaphysik und Physik die ari­ stotelische Psychologie und Erkenntnislehre im Zentrum stehen.35 Aristo­ teles analysiert nun in seiner Schrift Über die Seele und in seinen Kleinen Naturwissenschaftlichen Schriften die psycho-physiologischen Vorgänge sehr detailliert, die von den Einzelwahrnehmungen zu Gesamteindrücken und von dort zur Erfahrung und zum Denken führen. Eben deswegen er­ freuten sich diese Werke in der Renaissance besonderer Aufmerksamkeit, da sie sich eingehend mit der Erklärung der sinnlichen Erfahrung des In­ dividuums befassen. Dies erkennt auch Cassirer an, obwohl er meint, daß bei Aristoteles ein unüberbrückbarer Dualismus zwischen Sensiblem und Intelligiblem bestehen bleibt; denn Aristoteles läßt das Verhältnis des ak­ tiven Intellekts zu den der Sinnlichkeit entnommenen Objekten des pas­ siven Intellektes im Unklaren. Daher war es für diese Aristoteliker auch schwierig, an der Einheit des Bewußtseins festzuhalten, da es nicht nur die Wahrnehmung, sondern zwei verschiedenartige intellektuelle Vermögen umfaßt. Dies ist Aristoteles’ Auslegern in der Renaissance in unterschied­ licher Weise gelungen, wie Cassirer minutiös nachzuzeichnen bemüht ist,

34 Eine Ergänzung zu der Erörterung dieser Thematik in Individuum und Kosmos enthält auch die Monographie Ernst Cassirer: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14. 35 Dies gilt vor allem für die Aristoteliker der Schule von Padua, die wie Pomponazzi und Zabarella durch genaue Textexegese von Aristoteles’ De anima nachwiesen, daß der Philosoph keineswegs einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele liefern wollte. Es war daher schwierig, an der persönlichen Unsterblichkeit der Seele festzuhalten, denn der aktive Intellekt, was immer darunter zu verstehen ist, kann als rein intelligibles Prinzip keine persönlichen Züge an sich haben; vgl. dazu Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 87-94.

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was die verschiedenen Erklärungen des Verhältnisses zwischen Einzelfall und allgemeinem Begriff angeht.36 Erst mit der Aufgabe des Glaubens an eine persönliche Unsterblich­ keit der Seele gewannen die Aristoteliker etwas wieder, was Cassirer mit Beifall begrüßt, nämlich die Autonomie der handelnden Person, die den Kernpunkt der aristotelischen Ethik ausmacht. Aristoteles verficht ja in seiner Ethik ein reines Diesseitsevangelium: Jetzt und hier soll das mündige Individuum die Vollendung seines Lebens finden. Zugleich findet Cassirer auch zu einer positiven Beurteilung der Vereinigung des Sinnlichen und des Intelligiblen bei Aristoteles: daß auch der abstrakteste Gedanke von sinnlichen Bildern und Vorstellungen begleitet sein muß,37 ist ein Gedan­ ke, an den auch Leibniz anknüpfen wird. Bewertet Cassirer also die Psychologie des Aristoteles positiv, so be­ schreibt er doch die Demontage der aristotelischen Logik durch die Hu­ manisten - von Valla bis Ramus - mit unverhohlenem Beifall.38 Um zu beurteilen, ob Cassirer in der aristotelischen Logik zu Recht für die Re­ naissance ein Hindernis für den menschlichen Geist sah, bedürfte es sehr viel genauerer Kenntnisse über die Logik der Scholastik und ihre Aristo­ teles-Rezeption, als sie hier vermittelt werden könnten.39 Dazu sei nur an­ gemerkt: Noch im 20. Jh. hat sich auch unter Fachleuten der Gedanke erst allmählich durchgesetzt, daß Aristoteles deswegen von seiner Syllogistik in seiner Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken so wenig Gebrauch macht, weil die Logik für ihn nicht etwa ein Instrument zum Auffinden von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist, sondern vielmehr ein Instrument zur Darstellung und Rechtfertigung des auf andere Weise Gefundenen.40 Diese Einsicht, die Zabarella in der Renaissance bereits vorweggenommen hatte, war über viele Jahrhunderte vernachlässigt worden, so daß die ari­ stotelische Logik schließlich wie spanische Stiefel des Geistes erscheinen mußten. Aristoteles hat aber nicht gemeint, daß sich Erkenntnisse mit Hil­ fe von Syllogismen finden, geschweige denn, daß sich damit geometrische Konstruktionen durchführen lassen. Die Logik eignet sich, wie gesagt, lediglich zur Organisation und Demonstration von bereits gefundenem

36 A.a.O., 84-94. 37 Vgl. Aristoteles: De anima III, 7 431al4—19; b2-8; 8 432a7-12. Aristoteles: Über die Seele: greichisch - deutsch, Übers, (nach W Theiler) und Kommentar von Horst Seidel (Hg.), Hamburg 1995. 38 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 100-126. 39 Vgl. dazu Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Kap.V: Logic in the high middle ages, Cambridge 1982 und Charles B. Schmitt/Quentin Skinner (Hg.): The Cambridge History ofRenaissance Philosophy, Kap.V: Logic and Language, Cambridge 1988. 40 Jonathan Barnes: Aristotle's Posterior Analytics, trans, with commentary, Oxford 19932, xii-xv; xviii-xx.

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Wissen; und was in der Syllogistik jeweils als Subjekt und Prädikat fun­ giert, bestimmt sich nach der formalen Struktur der Beweisführung. Cassirer, der Aristoteles trotz gewisser Differenzierungen doch weit­ gehend mit dem Aristotelismus identifiziert, sieht oft als verzweifelte Verbesserungsversuche, was kenntnisreiche Aristoteliker der Renais­ sance, wie Zabarella, als begründete Klärungen ansehen wollten. Cassi­ rers Unterstellung, bei Zabarella trete immer mehr das Bemühen hervor, die Logik von ontologischen Beimischungen zu befreien und in eine Me­ thodenlehre der Erkenntnis und der Wissenschaften zu überführen, trifft vielmehr durchaus die Intention von Aristoteles selbst.41 Wir müssen hier freilich offenlassen, wie gut Aristoteles diese Trennung von Ontologie und Logik gelungen ist und wo seine Nachfolger mehr als nur geschönt haben. Das dürfte auch nicht immer eindeutig zu entscheiden sein; denn wo die wohlwollende Interpretation aufhört und eine mehr oder weniger gewalt­ same Schönheitsoperation anfängt, das können nur Feinuntersuchungen erweisen. Wie lassen sich nun Cassirers Absichten, die seiner Beschäftigung mit der Antike-Rezeption in der Renaissance zugrunde liegen, zusammenfas­ send kennzeichnen? Der Kürze halber sind hier weder allzu komplexe noch auch allzu simplifizierende Überlegungen über Cassirers Motive anzustel­ len, zumal diese in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich ausfallen. Man kann jedoch feststellen, daß Cassirer etwas sehr Wichtiges in seiner Zusammenfassung dessen konstatiert, was er als charakteristisch für die Auseinandersetzung der Renaissance mit der Geschichte ansieht: »Je reicher ihr die geschichtlichen Quellen fließen, umso mehr entfernt sie sich damit vom Historismus, von der unbedingten Hingabe an die Tra­ dition. Nur in ihren ersten Phasen erscheint ihr die Antike noch wie ein geistiger Urstand, den es einfach zu wiederholen und in seinen einzelnen Zügen nachzuahmen gilt, während sie ihr später zur Trägerin und Hüte­ rin der allgemeinen geistigen Werte wird, die wir in uns selbst zu ergrei­ fen und wiederherzustellen haben.«42 Was Cassirer selbst angeht, sollten wir sicher zum >Ergreifen und Wiederherstellen< noch >und nach Kräften weiterzuentwickeln haben< hinzufügen. Denn daß er in der Nachwirkung der Antike nicht nur eine Chance sieht, Vergessenes und Vernachlässigtes aufzugreifen und wiederherzustellen, dürfte auf der Hand liegen. Es geht auch darum, die geistigen Einsichten und Werte weiterzuentwickeln. Dazu muß man aber nicht nur die Einsichten, sondern auch ihre Genealogie in der Vergangenheit kennen, weil man sonst gar nicht weiß, womit man es zu tun hat und was es daran weiterzuentwickeln gibt.

41 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 113-119. 42 A.a.O., 138 £.

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Epilog Wie Cassirer immer wieder durchblicken läßt, war für ihn Platon der Phi­ losoph schlechthin. In seinen Augen war die Welt der Philosophie nach Platon nicht mehr das, was sie vor ihm gewesen war, was den Anspruch auf Weite, Tiefe und Komplexität des Denkens angeht. Dieses Urteil beruhte nicht nur auf dem Vergleich mit dem Denken, das Platon voranging, dem Cassirer noch eine >gewisse Simplizität, eine archaische Einfalt, beschei­ nigt.43 Vielmehr hatte Platons Denken für Cassirer ein Niveau erreicht, hin­ ter das die Menschheit schlechtweg nicht mehr zurückfallen konnte und durfte. Und dies war einer der wesentlichen Gründe dafür, daß er in der platonischen Philosophie nicht nur eine Sternstunde in der Philosophiegeschichte gesehen hat, sondern auch eine treibende Kraft in der weiteren Ent­ wicklung der Menschheitsgeschichte, der er sich selbst verpflichtet sah. So meinte Cassirer, daß niemand so wie Platon Goethes Prinzip erfüllt habe, wonach »alles, was der Mensch zu leisten unternehme, [...] aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen müsse.« Dieses Prinzip der >Kräftevereinigung< hat Cassirer auch als Forderung an sich selbst gestellt. Das Nachleben einer großen Epoche ist also in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Es dient nicht nur dem Verständnis dessen, woher das eigene Denken kommt, son­ dern es zeichnet auch die Richtung mit vor, in die es gehen soll. Um nun aber mit der Kritik nicht ganz hinter dem Berg zu halten: In dieser >Kräftevereinigung< kann man auch eine gemeinsame Schwäche von Platon und Cassirer sehen. Denn bei aller Bewunderung für >Philosophen des großen Wurfes< hat doch auch die Detailverliebtheit ihren Sinn. Daß Aristoteles z.B. die Mühe nicht gescheut hat, sein syllogistisches System in bewundernswerter Raffinesse und Klarheit auszuarbeiten, obwohl in seiner Wissenschaftstheorie eigentlich nur die beiden ersten Schlußfor­ men gebraucht werden, das hat seine eigene Größe. Denn nicht nur der Teufel steckt manchmal im Detail, auch Gott ist dort zu finden. So ste­ hen in den physikalischen Schriften des Aristoteles nicht die Substanzen und deren Eigenschaften im Mittelpunkt, sondern die unterschiedlichen Arten von Veränderungen und deren Bedingungen. Auch ist Aristoteles mit unendlicher Geduld den >Phänomenen< in der Biologie nachgegangen und hat dabei zwar die große Ordnung nie aus den Augen verloren, die Detailbeobachtungen aber keineswegs der Ordnung seines Kategoriensy­ stems unterworfen; vielmehr hob er bei der Erklärung der verschiedenar­ tigen Organismen gerade die Analogie der unterschiedlichen Funktionen

43 Ernst Cassirer: »Eidos und Eidolon - Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen« (1924), in: ECW 16, 134-163. - Vgl. dazu Enno Rudolph: Ernst Cassirer im Kontext. Kap. Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus, Tübingen 2003, 243-255.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

hervor. Das sollte man nicht vergessen, wenn man in seiner Logik und Metaphysik einen Hemmschuh der modernen Naturwissenschaft und ei­ ner ihr gemäßen Philosophie sieht. Und es sind manchmal gerade diese Details, die große Geister, denen es vor allem auf die sympatheia ton holou - auf den großen Zusammenhang aller Dinge - ankommt, nicht sehen und daher auch in ihrer Tragweite nicht richtig einschätzen. Die Philosophie­ geschichte lebt vom Antagonismus beider - der Visionäre wie auch der Arbeiter am Detail. Und das dürfte auch weiterhin so bleiben.

Literaturverzeichnis John L. Ackrill: »Symploke Eidön«, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies, London 19552 Aristoteles: De anima. Aristoteles: Über die Seele', greichisch-deutsch, Übers, (nach W. Theiler) und Kommentar von Horst Seidel (Hg.), Hamburg 1995. - Aristoteles"Metaphysik, hrsg. v. Ursula Wolf, übers, von Hermann Bonitz, Rein­ bek 1994. Jonathan Barnes: Aristotle's Posterior Analytics, trans, with commentary, Oxford 19932 Rainer A. Bast: Problem, Geschichte, Form: Das Verhältnis von Philosophie und Ge­ schichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neu­ eren Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997ff. (ECW), Bd. 2 - Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 - »Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenver­ standes« (1906), in: ECW 9 - »Leibniz« (1911), in: ECW 9 - Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11 - Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927), in: ECW 14 - Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932), in: ECW 14 - »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1923), in: ECW 16 - »Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon« (1925), in: ECW 16 - »Eidos und Eidolon - Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen« (1924), in: ECW 16 - The Myth of the State (1946), in: ECW 25 Ernst Cassirer/Paul Oscar Kristeller/John H. Randall ) et al. (Hg.: The Renais­ sance Philosophy ofMan: Petrarca, Valla, Pico, Pomponazzi, Vives, Chicago 1948

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Cicero: De finibus bonorum et malorum libri quique. L. D. Reynolds (Hg.), Oxford 1998. Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925 Michael Friedman: A Parting ofthe Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000 Andreas Graeser: Ernst Cassirer, München 1994 Rudolf Haase: Johannes Keplers Weltharmonik: der Mensch im Geflecht von Musik, Mathematik und Astronomie, München 1998 Charles Kahn: »Some Philosophical Uses of >to be< in Plato«, in: Phronesis 26, 1981 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Kants Werke, Akademie-Textausga­ be, Band VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 19835 Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1939, erw. und ergänzt München 1989 Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Hg.): The Cambridge History ofLater Medieval Philosophy, Cambridge 1982 Paul Oscar Kristeller: Renaissance Thought: The Classic, Scholastic, and Humanistic Strains, New York 1961 Gwilym Ellis Lane Owen: »Plato on Not-Being«, in: Gregory Vlastos (Hg.): Plato, A Collection of Critical Essays, Bd. I, New York 1972 - Theaitetos, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 - Sophistes, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 - Philebos, in: Sämtliche Werke, Band 3, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 1994 - Phaidon. in: Sämtliche Werke, Band 2, hg. von Ursula Wolf, Hamburg 2000 Enno Rudolph: »Von der Substanz zur Funktion: Leibnizrezeption als Kantkri­ tik bei Ernst Cassirer«, in: ders. (Hg.): Symbolische Formen, mögliche Welten - Ernst Cassirer, Hamburg 1995 - »Die Krise des Platonismus in der Renaissance-Philosophie«, in: ders. (Hg.): Polis und Kosmos, Darmstadt 1996 - Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003 Charles B. Schmitt/Quentin Skinner (Hg.): The Cambridge History ofRenaissance Philosophy, Cambridge 1988

Thomas Meyer

Spinoza in Weimar Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss *

In diesem Aufsatz möchte ich zwei Spinoza-Deutungen einander gegen­ überstellen, die gewöhnlich nicht in einem Atemzug genannt werden. Die Voraussetzungen zu einem Vergleich sind zudem denkbar ungünstig: Wäh­ rend Leo Strauss’ Interpretationen seit Jahren ein erhöhtes Interesse erfah­ ren1, gibt es trotz der weltweiten Cassirer-Renaissance kaum Bezüge auf dessen Texte zu Spinoza. Beginnen wir mit dem Alteren. Ernst Cassirer hatte im Dezember 1932 in der zweimonatlichen erscheinenden Zeitschrift des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, dem »Morgen«, eine leicht

Der Aufsatz ist dem 1917 in Hamburg geborenen und 2009 in Jerusalem verstor­ benen rabbinischen Gelehrten Zev Walter Gotthold, sA, und dem neben Heinrich Levy wichtigsten Vermittler Marburger neukantianischen Gedankenguts, dem am 19. Juni 1885 in Berlin geborenen und im September 1942 in Auschwitz-Birkenau ermordeten Kurt Sternberg, sA, gewidmet. 1 Ich bin Prof. Dr. Heinrich Meier, München, für vielfältige Informationen zu Leo Strauss und die selbstlose Zurverfügungstellung von Materialien sehr dankbar. Ohne die Hinweise und Dokumente hätten viele Details des Aufsatzes nicht so mitgeteilt werden können. Leo Strauss’ Werke werden nach den bislang vorliegenden drei Bänden zitiert, die Heinrich Meier herausgab: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart/Weimar 1996ff: Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, drit­ te erw. Auflage 2008; Bd. 2: Philosophie und Gesetz - Frühe Schriften, 1997; Bd. 3: Hobbes politische Wissenschaften und zugehörige Schriften - Briefe (Klein, Krüger, Lowith, Schölern), zweite erw. Auflage 2008. - Wichtig zur Spinoza-Interpretation von Strauss ist neuer­ dings Pierre Bouretz: Témoins du futur. Philosophie et messianisme, Paris 2003, 642-665. Auf die systematische Verbindung zwischen Strauss und Spinoza weist jüngst Steven B. Smith: Reading Leo Strauss: Philosophy, Politics, Judaism, Chicago 2006 hin. - Außerdem: Steven B. Smith: Spinoza's book of life: freedom and redemption in the ethics, New Haven u.a. 2003. Auf eine bloße Wiedergabe von Strauss’ zu Spinoza Ausführungen beschränkt sich das ansonsten eigenständige Buch von Markus Kartheininger: Heterogenität. Politische Philosophie im Frühwerk von Leo Strauss, Paderborn 2006, 299-314. Grundlegend für die Beschäftigung mit dem frühen Strauss sind Leora Batnitzky: Leo Strauss and Emmanuel Levinas. Philosophy and the Politics of Revelation, Cambridge 2006, 42-45, 80-85, 99104 u. ó.; Eugene Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile. The Making of Political Philosopher, Waltham (Mass.) 2006; Leo Strauss: The Early Writings (1921-1932), trans, and ed. by Michael Zank, Albany 2002. - Besonders bedeutsam ist die kritische Einleitung von Zank mit weiterer Literatur. Unverzichtbar für die Kontextualisierung des jungen Strauss sind darüber hinaus die ausführlichen Einleitungen von Heinrich Meier. - Zur neueren Strauss-Literatur siehe: Thomas Meyer: »Neue Literatur zu Leo Strauss«, in: Philosophische Rundschau 55, 2008, 168-186.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

veränderte Fassung seines am 17. März des gleichen Jahres vor dem »Ve ein für jüdische Geschichte und Literatur an der Universität Berlin«2 g haltenen Vortrages abdrucken lassen.3 Dabei ging es ihm über den Anla des 300. Geburtstages Baruch de Spinozas hinaus darum, so die Thes im dritten Teil meiner Ausführungen, auf die zeitgenössischen Debatte um den Jubilar eine Gegenposition zu dem 1930 publizierten Buch üb die »Religionskritik Spinozas« von Leo Strauss zu beziehen. Damit nic genug: Die Auseinandersetzung wird nur verständlich, wenn noch weite Gelehrte einbezogen werden, die für Cassirer und Strauss, wenn auch a unterschiedliche Weise, sehr bedeutsam waren: Hermann Cohen, Juliu Guttmann und Richard Hönigswald. Doch zunächst werde ich eine knappe Faktenübersicht zu dem Verhäl nis von Cassirer und Strauss bis zum Jahre 1934 geben, die einige Archi funde enthält. Etwas umfangreicher fällt dann der zweite Teil aus, de gleichwohl sehr skizzenhaft, Grundzüge jener Auseinandersetzungen au zeigt, in deren Mittelpunkt Spinoza stand.

I) Die Beziehungen zwischen Ernst Cassirer und Leo Strauss

Die Beziehungen zwischen Ernst Cassirer und Leo Strauss sind bisher w der systematisch noch ideengeschichtlich untersucht.4 Hingegen tauche immer wieder die gleichen Fakten auf, ohne daß sie weiter gedeutet worde wären. So fehlt in keiner biographischen Skizze über Strauss, daß er 192 bei Cassirer in Hamburg mit der Arbeit »Das Erkenntnisproblem in d philosophischen Lehre Fr. H. Jacobis« promovierte5, nachdem der im he sischen Kirchhain Geborene in Marburg nach dem Tode Hermann Cohen 1918 nur ein Jahr danach lediglich einen »Witwenmusensitz« (Heinric Heine) vorfand.

2 Noch am 6. Februar 1933 schreibt der Vorsitzende des »Vereins«, Dr. Walter Eide Cassirer zusammen mit dem Philosophen David Baumgardt, dem Historiker Simo Dubnow und dem Orientalisten Eugen Mittwoch an, um ihnen mitzuteilen, daß sie d Vorstand als »Ehrenmitglieder« auszeichnen möchte. Dazu kam es indes nicht mehr. Sie hierzu: David Baumgardt Papers, MF 553, File Dr. Walter Elden, Leo Baeck Institu New York. 3 Ernst Cassirer: »Spinozas Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte« (1932), i Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hambur 1997 ff. (ECW), Bd. 18: Aufsätze und kleine Schriften (1932-1935), 177-202. 4 Siehe etwa Daniel Tanguay: Leo Strauss. Une biographie intellectuelle, Paris 2005. 5 Ich danke Eckart Krause und Professor Dr. Rainer Nicolaysen sehr herzlich für ih Bemühungen, die Promotionsakte von Strauss im Hamburger Staatsarchiv ausfindig z machen. Leider war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Es stellte sich heraus, daß keine lei Akten aus Promotionsverfahren bis einschließlich 1921 archiviert wurden.

Meyer · Spinoza in Weimar. Ernst Cassirer und Leo Strauss

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Aber auch mit Cassirer kam es, so Strauss, zu keiner guten Zusammenarbeit. So hat er in einem 1970 aufgezeichneten Gespräch bezüglich der Zusammenarbeit von einer »disgraceful performance« gesprochen.6 Die Arbeit über Jacobi ist die eines 22jährigen, und man sollte sich hüten, darin die Anlagen späterer Gedankengröße herauslesen zu wollen. Es wird jedoch deutlich, gleichwohl mit den Begriffen der >ErkenntnisproblemSocial ResearchWhat is Political Philosophy?< erschien.17

II) Spinoza in Weimar

Beginnen wir den Abschnitt mit zwei Stellungnahmen, die gegensätzlicher nicht sein könnten, obwohl die beiden Autoren, nämlich Max Wiener und Julius Guttmann, gemeinhin dem liberalen Judentum zugeordnet werden. Beide Texte wurden im Oktober 1933 veröffentlicht. Sie sollen illustrativ die sehr weit auseinanderliegenden Einschätzungen über Spinoza und seine Rolle für die jüdische Identitätsbildung am Ende der Weimarer Republik

15 Siehe Meyer: Ernst Cassirer, 215 f. 16 Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 14 u. 173. 17 Siehe Ernst Cassirer: »Hermann Cohen 1842-1918«, in: ECW 24, 161-173. - Leo Strauss’ Rezension wurde wiederabgedruckt in: Leo Strauss: What is Political Philosophy? And other Studies, Glencoe 1959, 292-296.

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Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog

anreißen. Zunächst Max Wiener in seinem Buch Die jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation: »Wichtig aber bleibt für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen dem Judentum und dem Denken überhaupt, daß Spinoza als die reifste Frucht au­ tochthon jüdischer Spekulation gewürdigt und zugleich der allgemeinen Ver­ kettung des Geisteslebens eingegliedert wird. [...] Sondern der den Lehrern überlegene Jünger eines Maimuni und Kreskas wird hier gefeiert.«18

Sodann Julius Guttmann in seinem Standardwerk Die Philosophie des Ju­ dentums: »Das System Spinozas hat seinen eigentlichen Platz nicht in der Geschichte der jüdischen Philosophie, sondern in der Entwicklung des modernen euro­ päischen Denkens. Die Aufgabe aller bisherigen jüdischen Philosophie, die Religion des Judentums philosophisch zu deuten und zu rechtfertigen, hat für Spinoza vom Beginn seines selbständigen Philosophierens an ihren Sinn ver­ loren. Seine Philosophie steht zu der jüdischen Religion, nicht nur in ihrer überlieferten dogmatischen Form, sondern ihren letzten Grundüberzeugungen nach, in tiefstem Gegensatz.«19

Die Geschichte der Spinoza-Rezeption in der Weimarer Republik ist noch nicht geschrieben.20 Die erste Frage, die sie in zahlreichen Zusammenhän­ gen zu beantworten hätte: »Warum Spinoza?«

18 Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, 190. Im weiteren Verlauf seiner Studie kommt Wiener noch mehrfach auf den Einfluß Spinozas auf moderne jüdische Strömungen zu sprechen. So sieht er sowohl die streng rationalisti­ sche Richtung der liberalen Bewegung als auch den frühsozialistischen Philosophen und Schriftsteller Moses Hess durch Spinoza wesentlich geprägt. (A.a.O., 194, 210 u. 263 f.). 19 Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums, Berlin 1933, 278. - Guttmann hat sich immer wieder mit Spinoza auseinandergesetzt. Siehe etwa ders.: »Spinozas Zusammenhang mit dem Aristotelismus«, in: Ismar Elbogen/Benzion Kellermann/ Eugen Mittwoch (Hg.): JUDAICA. Festschrift zu Hermann Cohens siebzigstem Geburtstag, Berlin 1912, 515-534. Wichtig für Guttmanns Kontroverse mit Leo Strauss ist: ders.: »Mendelssohns Jerusalem und Spinozas Theologisch-politischer Traktat«, in: 48. Bericht der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1931, 31-67. 20 Trotz erster Ansätze bei Carsten Schapkow: »Die Freiheit zu philosophieren«. Jüdische Identität in der Moderne im Spiegel der Rezeption Baruch de Spinozas in der deutschsprachigen Literatur, Bielefeld 2001. Siehe das rein referierende Werk von Ze’ev Levy: Baruch Spinoza. Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland, Stuttgart 2001. Nichts ver­ deutlicht die Einschätzung besser als der Sammelband von Olivier Bloch (Hg.): Spinoza au XXe siècle, Paris 1993. Der aus einer 1990 veranstalteten Konferenz hervorgegangene Band versteht sich als Überblicksdarstellung. Doch es ist erstaunlich, daß er sich für die deutsche Sektion zum wiederholten Male nur mit Heidegger, der »Frankfurter Schule«, Carl Schmitt und Hannah Arendt auseinandersetzt. Strauss kommt nur als »politischer Exeget« vor, Cassirer und viele andere gar nicht. Das gilt auch für den Band Hanna Delf/ Julius H. Schoeps/Manfred Walther (Hg.): Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994.

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Eine mögliche generelle, nicht nur philologische Antwort wäre der Hin­ weis auf den immensen Aufschwung, den die Spinoza-Forschung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts genommen hatte. Die Namen Jakob Freuden­ thal (1839-1907)21, Stanislaus von Dunin-Borkowksi SJ (1864-1934) und Carl Gebhardt (1881-1934) stehen in Deutschland für die biographische und philologische Erschließung von Spinozas Oeuvre. Es ist Freudenthal gewesen, der für nicht wenige späterhin berühmte jüdische Intellektuelle der Türöffner in die Welt Spinozas war. So trifft dies bei dem späterhin berühmten Rabbiner und liberalen Theologen Leo Baeck zu, der bei dem Freund und Mitwidmungsträger von Freudenthals großer Spinoza-Bio­ graphie Wilhelm Dilthey 1895 mit einer Arbeit über »Spinozas erste Ein­ wirkungen auf Deutschland« promovierte.22 Gebhardts schnell Referenz­ charakter annehmende historisch-kritische Spinoza-Ausgabe wurde von 1921 bis 1927 vom »Chronicon Spinozanum« begleitet, einer Zeitschrift, die wesentliche Beiträge zu Spinozas Leben und Werk veröffentlichte, die nicht zuletzt Dunin-Borkowski und Gebhardt beisteuerten. In erster Linie dokumentiert sie aber vor allem das zunehmende internationale Interesse an der Spinoza-Forschung. So schreibt dort in der ersten Ausgabe niemand geringerer als Harry Austryn Wolfson (1887-1974)23, der 1934 seine große zweibändige Spinoza-Studie vorlegte, später kam etwa der mit Cassirer be­ freundete Philosophiehistoriker Léon Brunschvicg (1869-1944) hinzu.24 Wer über diesen Fachkreis hinaus einen Eindruck von der Vielgestal­ tigkeit der Spinoza-Interpretationen zur Zeit der Weimarer Republik er­ halten will, der kann zu der Zusammenstellung von Texten greifen, die Norbert Altwicker 1971 unter dem Titel »Texte zur Geschichte des Spinozismus« herausgab.25 Unter den Beiträgen finden sich etwa Teile von Richard Hönigswalds großem Spinoza-Aufsatz sowie der entsprechende Abschnitt aus Cassirers Geschichte des Erkenntnisproblems, sowie ein Text eines Schülers von Cassirers engem Freund Ernst Hoffman, nämlich

21 Matthias Wolfes: »Freudenthal, Jakob«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchen­ lexikon., hg. V. Traugott Bautz, Bd. XVIII, Herzberg 2001, 470-475. 22 Leo Bäck: Spinozas erste Einwirkungen aufDeutschland, Berlin 1895. 23 Harry A. Wolfson: »Spinozas definition of substancce and mode«, in: Chronicon spinozanum 1, 1921, 101-112. Harry A. Wolfson: The Philosophy of Spinoza: Unfolding the Latent Process ofHis Reasoning. 2 vols., Cambridge (Mass.) 1934. Siehe jüngst dazu Carlos Fraenkel: »Maimonides< God and Spinoza’s >Deus sive NaturaTractatus theologico-politicus< und >Tractatus politicus< in der philosophischen Forschung der letz­ ten 50 Jahre«, in: Spinoza Opera 5: Supplementum, Heidelberg 1987, 265-446. Altwicker wird es dann auch sein, der 1981 Leo Strauss’ Spinoza-Studie von 1930 in einem reprogra­ phischen Nachdruck herausgibt und ein »Vorwort« beisteuert.

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Heinz Pflaum (1900-1962), der sich nach der Emigration nach Palästina Hiram Peri [Pri=Obst] nannte.26 Verweilen wir kurz bei dieser Konstellation. Denn bei der genaueren Lektüre von Hönigswalds 1928 erschienenem Essay stellt sich heraus, daß er unter anderem eine Reaktion auf die Deutung Cassirers im zweiten Band des Erkenntnisproblems war, die 1922 in der dritten Auflage - Cas­ sirer hatte für die zweite Auflage nach ebenso heftiger wie berechtigter Kritik vor allem aus Frankreich von Brunschvicg und Emile Meyerson eine umfassende Revision des Bandes vorgenommen, die aber nur mar­ ginal den Spinoza-Beitrag betraf27 - publiziert wurde. Darin setzte sich unter anderem jene Debatte fort, die 1909 bzw. 1912 über den Status von Metaphysik und Erkenntniskritik anhand der für beide Denker zentra­ len Begriffe »Methode« und »Funktion« geführt worden war.28 Cassirers Sicht auf Spinoza wird von der Frage nach »Substanz« und »Funktion« beherrscht. Ganz der Dramaturgie des Gesamtprojektes verpflichtet wird zunächst eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive angelegt: auf den Kurzen Traktat folgt die Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, deren Rekonstruktion über die Art der Aufnahme von Descartes’ an der

26 Richard Hönigswald: »Spinoza. Ein Beitrag zur Frage seiner problemgeschichtli­ chen Stellung«, in: DVjs 6, 1928, 447-491. Bei Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, kommen die Abschnitte I-VI (447-485) zum Abdruck. Siehe a. a. O., 75-109 bzw. Cassirers Text aus der dritten Auflage von 1922: Cassirer: »Die Begriffsform im my­ thischen Denken«, ECW 16, 172-215; Heinz Pflaum: »Rationalismus und Mystik in der Philosophie Spinozas«, in: DVjs 4, 1926, 127-143. 27 Siehe dazu die folgenden Bemerkungen Cassirers aus einem Brief an Meyerson vom 21. Februar 1911: »Von allen Besprechungen, die mein Büch erhalten hat - Sie kennen sie ja zum grossen Teil - ist die Ihre mir in jeder Hinsicht die anregendste und förderndste. Denn Sie fassen das Ganze durchaus von der systematischen Grundabsicht aus, in der es geschrieben ist - und so treffen Ihre Bemerkungen stets diejenigen Punkte, die für mich selber die wichtigste und eigentlich entscheidenden waren. Daß ich Ihnen nicht in allem zuzustimmen vermag, wissen Sie ja - aber Ihre Kritik enthält eine so scharfe und praegnante Formulierung des Gegensatzes zwischen uns, daß schon damit für eine gegenseitige Verständigung viel gewonnen ist. Das Einzige, was ich bedaure ist, daß Ihr Aufsatz zu spät kommt, um für die 2te Auflage, deren erster Band soeben erschienen ist, in vollem Maße benutzt zu werden. Immerhin freut es mich, daß Einiges, woran Sie Anstoß genommen haben, so vor allem die Abweichungen von der chronologischen Ordnung, in dieser Auflage bereits beseitigt waren: so ist jetzt Bruno vor Kepler und Galilei, Bacon u. Hobbes vor Spinoza, Mose vor Newton behandelt, während Galilei im Anschluß an Berkeley, Reid im Anschluß an Hume besprochen wird. Für Leonardo sind die Schriften Duhems benutzt und Copernicus ist etwas genauer dargestellt. Ihre son­ stigen Bemerkungen hoffe ich noch für den 2ten Band, mit dessen letztem Teil ich eben beschäftigt bin, nutzen zu können.« Der Brief findet sich im Nachlaß Emile Meyerson, A 408, File Cassirer, im Central Zionist Archives, Jerusalem. 28 Ernst Cassirer: »Rez. Richard Hönigswald, Beitraege zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre« (1906), in: ECW 9, 447-459. Und: Richard Hönigswald: »Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirers gleichnamigen Werk«, in: Deutsche Literaturzeitung XXXIII, 1912, Nr. 45 v. 9.11.1912, 2821-2843 u. Nr. 46 v. 16.11.1912, 2885-2902.

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mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientierten Methode erfolgt. Manche Passagen scheinen direkt aus Substanzbegriff und Funk­ tionsbegriff übernommen.29 Der dritte Teil des Beitrages ist nicht mehr einem einzelnen Werk, sondern einer Spannung gewidmet, die Cassirer überall zwischen dem Verständnis von »Substanz« und deren metaphysi­ scher, das heißt über die Attributenlehre gesteuerter Begrifflichkeit, wir­ ken sieht. Cassirer sieht diesen Widerspruch bereits von dem Briefpartner Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651-1708) herausgearbeitet. Des­ halb steht am Ende für Cassirer ein Scheitern Spinozas, denn die Harmo­ nisierung seiner Erkenntnisinteressen hätte »eine Umformung des Begriffs des Seins, wie der Begriff der Erkenntnis erfordert.«30 Ohne daß der Autor Nachweise anführt, läßt sich bei Hönigswald ein direkter Bezug auf Cassirers Spinoza-Beitrag belegen. Das beginnt bei der Zitation der gleichen Stellen und endet in der Aufnahme der Begriffe. Na­ türlich teilen sie darüber hinaus Gemeinsamkeiten: Auch Hönigswald sieht Spinoza nur dann adäquat analysiert, wenn man ihn »sachlich und nicht geschichtlich« analysiert, er benutzt ebenfalls die Begrifflichkeit Hermann Cohens, spricht etwa von Spinozas »Metaphysik« als einer »Logik der Er­ kenntnis«31, es geht um das Verhältnis von »Denken und Sein«32. Doch die Unterschiede sind markanter, sie seien ebenfalls nur aufgezählt, da sich im Rahmen dieses Aufsatzes mehr nicht leisten läßt: Anders als Cassirer kennt Hönigswald auch einen »irrationalen«33 Gehalt in Spinozas System, sieht in der Aufnahme von Descartes’ Programm der Selbstgewißheit des Denkens nicht den Akzent bei der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode, sondern darin, daß er die Philosophie des Franzosen »zugleich metaphysisch vertieft und methodisch geklärt, vor allem aber dialektisch aktiviert werde.«34 Ich muß an dieser Stelle den grundsätzlich ergiebigen Vergleich zwischen Cassirer und Hönigswald abbrechen. Es bleibt festzuhalten: Eine erste Sichtung von Cassirers mit Hönigswalds Spinoza-Zugang zeigt bereits ein Muster, das beide prima facie vom jüdischen Spinoza-Kontext der Weimarer Zeit zu unterscheiden scheint.

29 Siehe dazu die Passage über den »Funktionsbegriff« (188) oder über die »Definitionen« (186), später dann wiederum im dritten Teil, wo die Frage nach der Ganzheit der Substanz als eine in sich differenzierte bezeichnet wird - doch ohne den Übergang zum Funktionsdenken wirklich zu machen: Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus, 186 ff. und Teil 3. 30 A.a.O.,215. 31 Siehe Richard Hönigswald: »Spinoza. Ein Beitrag zur Frage seiner problemgeschicht­ lichen Stellung«, in: DVjs 6, 448 und 459. Die von mir seinerzeit entdeckten Briefe sind inzwischen auf der CD wiedergegeben, die den ausgewählten Briefen beiliegt, die John Michael Krois im Meiner-Verlag 2009 herausgab. 32 A.a.O., 454. 33 A.a.O., 450 f. 34 A.a.O., 467.

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Ihre Fixierung auf die Einpassung Spinozas in die Ideengeschichte wertet die politische Dimension etwa des »Traktats« zu einer methodischen ab. Die Frage nach der innerphilosophischen Kohärenz macht die nach der Rolle Spinozas im Streit um Emanzipation versus Häresie - schlagwort­ artig: die »Freiheit zu philosophieren« steht gegen den großen Bann der Amsterdamer Gemeinde - damals wie für die Weimarer Zeit obsolet. Bemerkenswert ist die Konsequenz, die beide daraus zu ziehen schei­ nen: Weder für Cassirer, noch für Hönigswald gehört Spinoza der Aufklä­ rung an. Er wird behandelt wie ein exquisiter Führer in eine philosophi­ sche Sackgasse, der die Wende von Cusanus und Descartes hin zu einer fortschrittlichen Moderne nicht mitmachen wollte. Wie sehr nahe aber kommen diese Auseinandersetzungen einem Kampf um den »wahren« Spinoza, die mit Hermann Cohens Thesen von 1915 einen ersten, lange nachschwelenden Höhepunkt erreichten? Mit dieser Frage nähern wir uns wiederum dem eigentlichen Zielpunkt. Die Schriften Cohens zu Spinonza bilden eine paradigmatische Folie, die für alle wesentlichen Publikationen der Jahre zwischen 1918 und 1933 den Hintergrund bildet.35 Vor allem seine vollständige Verwerfung von Spi­ nozas Denken und Tun wurde als Herausforderung begriffen.36 An der innerjüdischen, von Cohen scharf zugespitzten Debatte um Spi­ noza beteiligten sich zahllose Gelehrte aus ganz unterschiedlichen religi­ ösen und philosophischen Richtungen. Allein wenn man die in jüdischen Bildungseinrichtungen lehrenden Wissenschaftler aufzählt, bekommt man ein Spektrum geboten, das von der Orthodoxie, Neo-Orthodoxie bis hin zum Liberalen Judentum, aber auch Atheisten, Akkulturierte und Säku­ lare umfaßt: Leo Baeck, Fritz Bamberger, David, Baumgardt, Martin Bu­ ber, Hermann Cohen, Ismar Elbogen, Abraham Geiger, Max Grunwald, Julius Guttmann, Moses Krakauer, Albert und Julius Lewkowitz, Nathan Porges, Leo Strauss und Max Wiener.37 Daneben gab es noch eine ganze

35 Ernst Simon hat bereits 1935 den Entwicklungsgang von Cohens SpinozaAuffassung analysiert. Siehe Ernst Simon: »Zu Hermann Cohens Spinoza-Auffassung«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 73, 1935, 181-194. Bei die­ sem zweiten Heft des 79. Jahrganges handelt es sich um die Sondernummer anläßlich von Maimonides’ 800. Geburtstag. 36 Hermann Cohen: »Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum«, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 18, 1915, 56-150. Wiederabgedruckt in: Hermann Cohen: Jüdische Schriften, hg. von Bruno Strauß, mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig, III Bände, Bd.III, Berlin 1924, 290-372. 37 Zu den Publikationen der genannten Personen siehe Manfred Walther: »Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie«, in: Werner Stegmaier (Hg.): Die philo­ sophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000, 281-330. In der Anlage listet Walther verdienstvoll die Spinoza-Arbeiten von deutschen Juden auf, die in jüdi­ schen Bildungseinrichtungen arbeiteten (327-330). Es fehlen aber etwa Angaben über Julius Lewkowitz, der 1902 in Breslau über Spinoza promovierte und später am Berliner Seminar lehrte.

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Reihe weiterer wichtiger Spinozisten oder Anti-Spinozisten, die aber alle in einem geeint waren: nämlich in der Anerkenntnis, daß es über Spinoza möglich ist, Judesein, jüdische Philosophie sowie das Verhältnis zur jüdi­ schen Religion und zur Moderne zu bestimmen. Die These, daß die phi­ losophisch-jüdische Identitätsfrage dieser Zeit über die Spinoza-Rezeption näher bestimmen zu sei, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. So kommentiert der Spinoza-Spezialist Manfred Walther David Baumgardts Statement aus dem Jahre 1932 - »So bleibt dieses Ergebnis zunächst überraschend und bedrückend für uns, daß es bisher nirgends gelang, Spi­ noza für ein eigentlich neues Weltbild des Judentums lebendig zu wer­ ten«38 - mit den Worten: »So ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Philosophie Spinozas das Schiboleth der authentischen Gestalt jüdischer Identität in der modernen Welt gewesen, soweit erkennbar, bis heute ge­ blieben.«39 Warum ist das so? Auf der Suche nach denjenigen Personen und intellektuellen Entwick­ lungen, die für das glaubenstreue Judentum schon immer ambivalente Aufklärungsgeschehen verantwortlich zu machen sind, gehörte Spinoza noch mehr als Moses Mendelssohn zu den ersten Genannten. Seine Kritik an der Halacha, dem Schriftprinzip und seiner scheinbaren Bevorzugung des Christentums ging einher mit einem Plädoyer für Liberalismus und Demokratie. Die Kombination erweckte Argwohn, zumal diese vermeint­ liche Widerlegung der Orthodoxie durch Spinoza vielfach von Aufklärern aufgegriffen wurde. Die Weimarer Republik beschleunigte nun die seit dem Zusammenbruch der »Kehilla«-Struktur andauernde Säkularisierung, die ein Vakuum hinterließ, das gefüllt werden mußte. An Spinoza ließen sich dabei die Gefahren und Möglichkeiten des Judeseins paradigmatisch aufzeigen. Sein erneuter Ausschluß findet sich daher ebenso wie geradezu emphatische Verehrung. Die Schleuse, Identität über Spinoza zu generie­ ren, war jedenfalls geöffnet.

38 David Baumgardt: »Spinozas Bild im deutschen und jüdischen Denken«, in: Der Morgen VIII, 1932, 357-370, hier: 370. Der zweite Teil des Textes wird abgedruckt unter David Baumgardt: »Spinozas jüdische Sendung«, in: Jüdische Rundschau XXXVII, 1932, Nr. 93 v. 22.11.1932, 451 £ 39 Walther: »Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie«, 326.

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III) Ein Nichtgespräch zwischen den Anwesenden Ernst Cassirer und Leo Strauss Worum geht es Leo Strauss in seinem Aufsatz, vor allem aber in der Spi­ noza-Monographie?40 1924 hat er vor allem einen Einwand, der sich an Cohens Lektüreweise von Spinozas Schriften entzündet. Cohen habe den Titel Theologisch-politischer Traktat Spinozas zum Anlaß genommen, Spino­ za eine von Beginn fehlende philosophische Analyse seiner Situation nach dem »Großen Bann« vorzuwerfen. Der im Titel fehlende Bezug zur Philo­ sophie werde zum entscheidenden Moment in dem Rachefeldzug Spinozas gegen die jüdische Tradition und die jüdische Religion. Strauss dazu: »Eine vielleicht aus der theologischen Wissenschaft der Apologetik herstammen­ de Methode der Geschichtsschreibung kommt hier zur Anwendung«.41 Strauss wird auf den folgenden Seiten seiner Auseinandersetzung mit der »historisch-kritischen« Methode nachgehen, wonach er ganz und gar den Text Spinozas in den Mittelpunkt stellt. Dies im Gegensatz zu Cohen, der eine zunehmende Konzentration auf die Person versuchte, um das Werk so diskreditieren zu können. Natürlich handelt es sich schon am Beginn des Aufsatzes um einen Affront. Der jüdische Philosoph Hermann Cohen wird der christlichen Apologetik zugeordnet, während Strauss vorgibt, der wahre jüdische Kritiker zu sein. Mehrere Punkte kann dieser im Traktat ausfindig machen, die, so seine Ansicht, dafür sprechen, daß Spinoza sehr wohl Vernunftgründe für seine Sicht der Bibel, der Christusverehrung oder der Zurückweisung der Bedeutung der Propheten angeben kann. Nicht nur die im Traktat vorgenommene Verbindung von »Staatstheorie und Bi­ belkritik«42 sei vertretbar oder die »politisierende Auslegung der Bibel«43, auch die »Identifikation von Religion und Schrift, und damit die Leugnung des Erkenntniswertes der Religion«44, habe historisch legitimierte Gründe vorzuweisen, die sich nicht durch Spinozas Haß auf das Judentum erklä­ ren ließen. Die Motivation für die Kritik liege in zwei Punkten begründet: »erstens um der Wahrung der Autonomie der Vernunft willen« - durch die Kantische Formulierung soll der »Neukantianer« Cohen getroffen werden: er habe den »Vorläufer Kants« in Spinozas überlesen! - »zweitens, um die

40 Zwischen der Cohen-Kritik (1924) und der Monographie (1930) erschien außerdem: Leo Strauss: »Zur Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer«, in: Korrespondenzblatt des Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums 7, 1926, 1-22, der jetzt auch in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 389-414 wieder greifbar ist. Der Aufsatz gibt einen Aufriß der geplanten Monographie. 41 Der Aufsatz findet sich in der von Heinrich Meier herausgegebenen Ausgabe: Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 363-386, hier: 363. 42 A.a.O, 366. 43 A.a.O., 369. 44 A.a.O., 370.

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Bindung der Seligkeit an den Glauben an alle in der Bibel überlieferten An­ sichten und Ereignisse aufzuheben.«45 Der Kritiker sieht in Spinoza zudem einen frühen Künder der Bibelkritik aus dem Geiste der Philologie. Aber Cohen sei nicht nur für diese beiden Hauptanliegen blind, er übersehe völ­ lig, daß sie den Traktat im Sinne von Uber- und Unterordnung strukturie­ ren.46 Nur wenn man Cohens Lektüre als fundamentale und willkürliche Fehlinterpretation der Anliegen und des Aufbaus des Traktats mitlese, lasse sich erklären, warum er Spinoza unterstellt, er habe eine »Ethik« nur ange­ kündigt (in der Ethica\ aber keine geschrieben, weil er nicht Philosophie betreibe, sondern Haß streue. Schließlich sei Spinoza folgerichtig, nach den von ihm in Anschlag gebrachten Argumenten, zum Christentum »philoso­ phisch« übergetreten, weil er hier das Vernunftprimat und die ethische Aus­ richtung vorgefunden habe, die er im Judentum vermissen mußte. Bei all dem Vorgetragenen - fast möchte man schreiben, daß Strauss seine kursiv gehaltenen Thesen wie Refrains in den Text einwirft, so daß der Eindruck einer Litanei entsteht - wird stets darauf hingewiesen, wie unbedeutend und falsch es ist, das Festgestellte auf das Judentum zu übertragen, daß viel­ mehr zu fordern sei man müsse der historischen Rekonstruktion gerecht werden, was schließlich zur Anerkennung von Spinozas Position führe. Am Ende seines Textes wird Strauss eminent zeitgenössisch und poli­ tisch. »Was nun die Bibel als solche, ohne Rücksicht auf das Neue Testa­ ment betrifft, so betont die Bibelwissenschaft Spinozas gerade diejenigen Motive, die zum Teil bereits von der Tradition, vor allem aber vom Li­ beralismus gerne bedeckt werden.«47 Die Untersuchung Strauss’ wird so über historische Argumente hinaus, zum Lehrstück über die Ansichten des »führenden« jüdischen »Liberalismus« gemacht. Fünf Punkte trägt Strauss zusammen, die schlagend gegen Cohen ge­ richtet sind: Er neige dazu »das Primitiv-Numinose gegenüber dem Ratio­ nalen« durch die Rede vom »Monotheismus«48 zu minimalisieren, entwerte das »Kultische gegenüber dem Humanitären«49, übersehe das »Naiv-Ego­ istische« gegenüber dem Moralischen«, vernachlässige »das Nationale gegenüber dem Menschheitlichen« und schließlich verkenne er völlig die Notwendigkeit »das Politische gegenüber dem Religiösen« aufzuwerten.50 Strauss ging es also darum zu zeigen, wie sehr Cohens Lesart von Spi­ nozas Texten durch die von diesem selbst nicht mehr reflektierten Vor­ aussetzungen des »Marburger Neukantianismus« und des »ethischen

45 46 47 48 49 50

A.a. 0,372. Siehe a.a.O, 373. A.a.O, 380. Ebd. A.a. 0,381. A.a.0,382£.

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Sozialismus« verzeichnet ist. Wie sehr es dem »Liberalismus« nicht gelingt, seine Ideologie in den Dienst einer historisch-kritischen Lesart zu stellen, die in Spinoza mehr zu erkennen vermag als ein Objekt des Hasses, zeige Cohens Darstellung überdeutlich. Strauss' Strategie ist sehr klug gewählt, hat er doch mit Spinoza eine jüdische Reizfigur in aller Schärfe gegen die Neigung zur Harmonie bei Cohen gestellt bzw. gegen dessen reflexarti­ ge Abweisung aller philosophischen Texte und Denkfiguren, die seinem »Schema« nicht entsprechen. Gerade in der Schärfe der Ablehnung und Verdammung, so suggeriert Strauss, erkenne man die Schwächen des »Li­ beralismus« besonders gut. In der Monographie von 1930 werden die philologischen und philoso­ phischen Argumente weiter ausgebaut. Dazu stellt Strauss die Beschäf­ tigung Spinozas mit Maimonides und Calvin in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, macht einen Kontext aus, in dem die Kritik an Spinoza zu lesen sei (Uriel da Costa, Isaac de Peyrère und Thomas Hobbes), und geht von dort dazu über, die zusammengetragenen Thesen der Religionskritik Spinozas und seiner Vorgänger an den zentralen Glaubensinhalten des Ju­ dentums (Offenbarungsreligion und das Verhältnis der sozialen Funktio­ nen der Religion zum Staat) zu prüfen. Anders in der Monographie zu Spinoza Religionskritik, die zu recht noch immer als Klassiker gilt.51 Wie läßt sich die Arbeit knapp für unsere Zwecke zusammenfassen? Zwei Hauptpunkte im Bezug auf die jüdischen Debatten der Weimarer Republik aber lassen sich herausstellen. Da ist zum einen seine Kritik an der Aufklärungsphilosophie, für die stellvertretend Spinozas Umgang mit dem Wunderglauben genommen wird. Von hier aus weist dann ein direk­ ter Weg zu der Aufsatzsammlung Philosophie und Gesetz von 1935. Der zweite Punkt hängt mit dem ersten aufs engste zusammen: Strauss geht es um die argumentative Wirkungslosigkeit von Spinozas Einlassungen, die er einerseits als zeitgenössische Positionierungen entlarvt und gleichzeitig an den klassischen Bemerkungen Maimonides’ im More Newuchim zum Verhältnis Philosophie/Judentum spiegelt.52 Bislang von der Strauss-For­ schung ignorierte zeitgenössische Stimmen spiegeln die Möglichkeit eige­ ner Schwerpunktsetzung gegenüber dem Buch sehr gut wieder. So schreibt der Breslauer Philosoph Albert Lewkowitz in der »Monats­ schrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums«:

51 So die Einschätzung etwa in Wolfgang Röd: Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002, 397. 52 Auf diese Punkte verdichtet Ludwig Feuchtwanger seine Lektüre, die bis­ lang vollständig übersehen wurde. Siehe Ludwig Feuchtwanger: »Nachbemerkung der Schriftleitung zu Leo Strauss, Das Testament Spinozas«, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 8, 1932, Nr. 21 v. 1. 11. 1932, 326.

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»Besonders in die Tiefe geht die Untersuchung über das Verhältnis Spinozas zu Maimonides. Hier wird die Differenz in der Stellung zur Offenbarung auf die prinzipielle Entscheidung über die Tragweite der menschlichen Erkennt­ nis zurückgeführt. Die spinozistische Entscheidung für die Suffizienz der Ver­ nunft zur Erkenntnis Gottes macht den Glauben an Offenbarung entbehrlich und die Tatsache von Wundern unmöglich. Für Maimonides hingegen ist die Realität der Offenbarung durch die Insuffizienz der Vernunft zur Erkenntnis Gottes, durch die philosophische Möglichkeit des Wunders und die Glaub­ würdigkeit der Tradition begründet. Der Maimonideischen Orientierung am Judentum als Grundlage seiner Synthese von Vernunft und Offenbarung tritt die spinozistische Distanz vom Judentum, tritt der freie Geist gegenüber.«

Wichtig ist der Einwand, den Lewkowitz knapp formuliert: »Leider unter­ läßt es Strauß (sic!), in einer systematischen Untersuchung àie philosophische Berechtigung des spinozistischen Rationalismus und seiner Ueberwindung der Offenbarungsreligion durch Metaphysik zu prüfen.«53 Für den »Marburger« der neuen, ganz anders ausgerichteten dritten Ge­ neration, Gerhard Krüger, steht zweifelsfrei fest, daß Strauss es auf eine »prinzipielle, philosophische Erörterung des Problems der Aufklärung« an­ gelegt habe.54 Es ist die Kategorie des »Vorurteils«, dessen sich die Aufklä­ rung bedient und die es gleichzeitig nutzt, um die Offenbarungsreligion zu bekämpfen. Die Gleichzeitigkeit macht nicht nur den Doppelcharakter der Aufklärung selbst aus, sondern erweist sich seit Descartes - dem Spinoza in seinen begrifflichen und methodischen Ordnungsvorstellungen folge als ihr selbst nicht bewußter Geburtsfehler. Den Finger auf diesen dritten Hauptpunkt, nämlich einer radikalen Aufklärungskritik, gelegt zu haben, sei das Hauptverdienst von Strauss. Ganz anders sieht dies der Autor der ausführlichsten Kritik, nämlich der Phänomenologe und spätere CassirerUbersetzer Aron Gurwitsch.55 Auf 25 Seiten weist er nach, daß die »Ra­ dikalisierungen« von Spinozas Position - so etwa die Auftrennungen von sogenannter »positiver« und »wörtlicher« und wie Gurwitsch sie nennt »konkreter Schriftauslegung«56 - willkürliche, weil in Spinozas Schriften vorkommende und reflektierte Absetzbewegungen zu orthodox-jüdischer sowie christlicher Dogmatik seien.

53 Zitate siehe Albert Lewkowitz: »Neuerscheinungen zur Geschichte der Philosophie der Neuzeit«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 74, 1930, 110, hier: 6 f. Schreibweisen und Hervorhebungen sind dem Original entnommen. 54 Gerhard Krüger: Rez. »Leo Strauß [Dr. phil., Berlin], Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft«, in: Deutsche Literaturzeitung, LII, 1931, Nr. 51 vom 20. 12. 1931, 2407-2412. 55 Aron Gurwitsch: Rez. »Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft«, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 195, 1933, 124-149. 56 A.a.O., 128.

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Und Ernst Cassirer? Die von ihm vorgelegte Spinoza-Interpretation hatte nicht nur Richard Hönigswald herausgefordert. Benzion Kellermann, der enge Mitarbeiter Hermann Cohens, so in der scharfen Kontroverse um das »Ethos der hebräischen Propheten« mit Ernst Troeltsch, hatte Cassirers kantianisierende Lesart in seinem heute nicht einmal in Bibliographien geführten Kommentar zur »Ethik« Spinozas einer genauen Prüfung unterzogen.57 Ebenso wie im Falle Kellermanns, der bekanntlich die Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen von Cassi­ rers Kant-Ausgabe ediert hatte, war es nach 1945 ein zu Unrecht ver­ gessenes Werk, das die Spinoza-Deutung aus dem »Erkenntnisproblem« ernst nahm. Heinrich Rombachs zweibändiger Kommentar zu Cassirers »Erkenntnisproblem«-Geschichte und vor allem zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff 1965 und 1966 unter dem Titel Substanz, System, Struk­ tur publiziert, traf exakt die Schwächen von Cassirers Deutung im Er­ kenntnisproblem. 58 In den Grundzügen der Interpretation Cassirers ändert sich auf den ersten Blick zwischen 1907 bzw. 191159 und 1932 wenig. »Natur«, »Gott«, »Intuition« und »Seele« heißen hier wie dort die behandelten Grundbegrif­ fe. Natürlich ist Cassirers erste Darstellung wissenschaftlicher aufbereitet, während der Aufsatz »populärer« gehalten ist, aber dafür durch die Be­ schäftigung mit dem Naturrecht eine Verknüpfung mit neuen Fragestel­ lungen aufweist.60 Blickt man auf die Spinoza-Rezeption der Weimarer Republik, dann ergibt sich ein möglicherweise neues Bild des Spinoza-Aufsatzes. Cassirer eröffnet seinen umfangreichen Beitrag im Gedenkjahr mit ei­ ner klaren Stellungnahme: »Von allen großen philosophischen Systemen scheint die Lehre Spinozas am wenigsten einer rein-historischen Interpretation zu bedürfen, noch scheint sie einer solchen Interpretation im strengen Sinne zugänglich zu sein. Denn schon ihr Inhalt und ihre gedankliche Methodik rückt sie aber in den Kreis des bloßGeschichtlichen hinaus. Dieser »Inhalt« spricht für sich selbst und steht auf

57 Benzion Kellermann: Die Ethik Spinozas, Bd. 1: Über Gott und Geist, Berlin 1922. Kellermann starb bereits ein Jahr nach dem Erscheinen. Weitere Bände sind nicht ver­ öffentlicht worden. Zum Streit mit Troeltsch schrieb er: Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917. 58 Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und derphilosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bände, Freiburg/München 1965 u. 1966, hier: Bd. 2: 44£., 48 u.ö. 59 Ernst Cassirer Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band ·> 1911, 1922), in: ECW 3, 57-100. 60 Ernst Cassirer: »Spinozas Stellung in der allgemeinen Geistesgeschichte« (1932), in: ECW 18, 187 f.

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sich selbst; er erhebt den Anspruch, aus seinem reinen Sein heraus verständlich und kraft desselben völlig begründbar zu sein.«61

Nun könnte man sagen, daß Cassirer sein Einlassung mit »scheint« beginnt und daß er im Gegensatz zu Strauss’ »historisch-kritisch« ausgerichteter Lek­ türe von »rein-historisch« spricht, doch dagegen läßt sich die Entschieden­ heit festmachen, mit der Cassirer hier dessen Lektüreanweisung karikiert. Denn obwohl es nur notwendig »scheint«, trifft er doch genau den Ansatz von Strauss, Spinozas Denken über die historische Kontextualisierung zeit­ genössisch funktionalisieren zu wollen. Nochmals Cassirer: »Halten wir diese Voraussetzungen des Spinozismus fest, so scheint die eigentliche Sünde ge­ gen seinen Geist zu sein, wenn wir ihn selber unter historische Perspektiven rücken, wenn wir nach der Stellung fragen, die er im Ganzen der neueren Philosophiegeschichte und der allgemeinen europäischen Geistesgeschichte einnimmt.«62 Um dann daran anschließend gleich das Gegenteil zu betonen: »Denn wenn der gedankliche Gehalt von Spinozas Lehre einer rein-histo­ rischen Betrachtung zu widerstreiten scheint, so fordert andererseits ihr Schicksal um so gebieterisch eine derartige Betrachtung heraus.«63 Die Ange­ legenheit wird komplizierter. Cassirer nimmt nicht nur seine beiden zuvor ausführlich zitierten Einlassungen zurück und betont das genau Entgegenge­ setzte, er geht damit auch über die Position von Strauss hinaus. Doch diese Lesart, die letztlich wieder in den Hafen der These von der Zeitenthobenheit von Cassirers Analysen einzulaufen droht, ist durchaus ambivalent. Denn Cassirer imitiert bloß die Zustimmung zu Strauss bzw. den Vertretern hi­ storischer Kontextualisierung, er nimmt vielmehr den Fehdehandschuh auf. Cassirer »spannt« Spinoza nicht in die Spezialgeschichte der jüdischen und protestantischen Religionskritik oder in den Rahmen einer Gegenlektüre zu Maimonides ein, sondern er verlegt ihn in den »Marburger« Kreis von Platon, Descartes, Leibniz und Lessing, wobei er bei dem - Strauss’ Dissertation! nicht vergißt, an die mit Jacobi geführten folgenreiche Gespräche zu erin­ nern, die Hegel und Schelling beeinflußten.64 Cassirer verschränkt mit der »Marburger Methode« den Ansatz, daß gewisse Fakten anzuerkennen sind: auch er konzediert bei Spinoza das Strukturmerkmal einer Stufung der vor­ getragenen Argumente, und auch er leugnet nicht, daß die Lektüre Spinozas sich ihrer Vorgeschichte und der Folgewirkung eingedenk bleiben muß.

61 Ebd. 62 A.a.O., 178. In Freiheit und Form von 1916, Cassirers deutsch-europäischer Geistesgeschichte, finden sich nur illustrative Bemerkungen zu Spinoza. Vgl. hierzu Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916; 1918; 1922), in: ECW 7. 63 Ebd. ECW 18. 64 A.a.O., 178f.

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Doch habe die massive Rezeptionsgeschichte zahllose »Verschiebungen« mit sich gebracht, die nur dadurch entschärft werden können, wenn man anerkennt, daß Spinoza »weit stärker, als es ihm selbst zum Bewußtsein gekommen ist und als es in der Darstellung des Systems unmittelbar zuta­ ge tritt, von den allgemeinen Tendenzen, die die geistige Entwicklung des siebzehnten Jahrhunderts bestimmen, beherrscht«65 werde. »Tabula rasa« also macht Cassirer, um den Blick auf »seinen Spinoza« frei zu haben. Nur wer die zu Beginn angerissenen Debatten um Spinoza wegdenkt, kann zu dem Ergebnis kommen, hier finde lediglich ein weiteres Mal statt, was Cassirer immer betrieben habe: eine Geste der Historisierung, die dazu diene, Spinoza in den »kritischen Idealismus« einzugemeinden. Selbst wenn es so wäre, läge darin noch immer eine klare Stellungnahme gegen die Ideologisierungsversuche und die Übertragung von Spinozas Denken für etwaige Identitätskonzepte. Der Leser von Cassirers Studie wird sich nicht darüber wundern, daß tatsächlich Zeile über Zeile hinlänglich be­ kannte Schemata genutzt werden - kaum ist Spinoza in die Einflußsphäre des siebzehntenJahrhunderts versetzt, liest man eine Seite später über den »Platoniker« Spinoza bzw. seine Absetzungen gegenüber Platon66 - doch das ist wiederum aus dem spezifischen Blickwinkel der »politischen Les­ art« eine oberflächliche Betrachtung. Denn indem Cassirer auf seine Lek­ türepraxis vertraut, ihn Weltanschauungslesarten entzieht, wird dieser als untauglich für zeitgenössische jüdische Identitätsbildung behandelt. Etwa dann, wenn Cassirer richtig meint, für Spinoza sei »alles Partikulare [...] »bloß-Negatives«.67 Wer an dieser Stelle das Wiederauflebenlassen der Co­ hen/Strauss-Fehde erwartet, wird enttäuscht. Es folgt eine knappe Darstel­ lung von Pierre Bayles Kritik an Spinoza, die sich an der Gleichung »Deus sive natura« - der Franzose übersehe, daß der »Begriff der Natur« sein »Korrelat« im »Begriff der Offenbarung«68 habe; die gar nicht theologisch verstanden wird - entzünde, dann folgt der Übergang zu Goethes, den Al­ ters werken zuzurechnendem Gedicht vom Oktober 1821 »Eins und alles« und schließlich ist man in Betrachtungen gelandet, die die Tendenzen »in allen Gebieten der geistigen Kultur des siebzehnten Jahrhunderts«69 in den Blick nehmen, um Spinoza besser verstehen zu können. »Der Anfang und Ursprung alles Wissens ruht im menschlichen Gei­ ste selbst und muß in ihm und durch ihn zur vollständigen Entwicklung und Entfaltung gebracht werden.«70 Das ist eine vermittelnde Position,

Ebd. 66 Siehe a.a.O., 181. 67 A.a.O, 182. 68 A.a.O, 183. 69 A.a.O., 185. 70 Ebd. 65

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die sowohl das Cohensche mutmaßliche »ad hominem«-Argument in den »kritischen Idealismus« übersetzt, als auch gegen Strauss zeigt, daß vom Spinoza-Konzept des »Individuum« sehr wohl ein philosophischer Schritt zur Philosophie führt, und man nicht bei einer religiösen Emphase enden muß. Warum also, könnte man zuspitzen, das »Geschrei« ausgerechnet zu Spinoza? Andererseits wird das Zitat von Cassirer bewußt allgemein so verstan­ den, um anschließend einen ideengeschichtlichen Bogen schlagen zu kön­ nen: Cusanus’ Schrift De mente, Kopernikus und Galilei ziehen dann kon­ sequent vorüber, und Cassirer gelangt auf diese Weise zu Hugo Grotius. Der scheinbar ungelenke Exkurs endet in einer bestimmten Ausrichtung des »Naturrechts«, dem Cassirer die gleiche methodische Vorgehensweise unterstellt, wie der zuvor geschilderten Entwicklung der »Naturerkenntnis«.71 Spinoza wird hier in den Zusammenhang der Selbstbefreiung des Menschen gestellt, der mittels des Begriffs der »Natur« hergestellt sei. Er weist dann folgerichtig auf seinen 1934 erschienen Aufsatz über »Vom We­ sen und Werden des Naturrechts« hin.72 Die Folgerung aus all dem schließt Cassirer unmittelbar an: »In das Ganze dieser geistigen Entwicklung muß man Spinozas Grundlehre hin­ einstellen, wenn man sie nicht nur als abstrakte metaphysische Doktrin begreifen, sondern wenn man sie aus ihren individuellen Voraussetzungen, aus den konkreten Antrieben, die in ihr unmittelbar-lebendig und wirksam sind, verstehen will.«73 Die Formel »>Gott oder NaturZeit selbst in Gedanken gefaßtGlaubensgewißheitFaust Wiener KreisKausalproblem< [...] niemals losgelöst vom Formproblem stellen«, sondern »immer nur durch Rückgang auf das Formproblem lösen« läßt. In Klammern setzt er noch hinzu: »wie dies ähnlich übrigens schon für die Biologie gilt, in der sich daher immer wieder die >Entelechie< als die eigentliche >wirkende Ursache< behauptet«.6 Wir haben es bei diesem Hinweis nicht mit einer zufällig oder absichtslos niedergeschriebenen These Cassirers zu tun, wie die nachfolgend zusammengestellten vielfältigen Verweise auf Analogien in den Kulturwissenschaften und in der - beschreibenden - Naturwissenschaft Biologie belegen, die sich fast ausschließlich in der bereits erwähnten Göteborger Vorlesung von 1939, vereinzelt aber auch im Erkenntnisproblem IV7 *finden. Innerhalb seines Konzeptes der >zwei Kulturen< in der Wissenschaft (Oswald Schwemmer) rückt Cassirer folglich anhand des Formproblems Kultur- und Naturwissenschaft (Biologie) trotz aller Unterscheidung und Abgrenzung offenbar doch enger zusammen, als auf den ersten Blick ersichtlich. Der Frage wissenschaftsmethodischer bzw. erkenntnistheoretischer Gemeinsamkeiten und auszeichnender Eigentümlichkeiten der Mathematik bzw. der mathematischen Naturwissenschaften, der Lebenswissenschäft (Biologie) und den Wissenschaften vom geistigen Leben schenkt Cassirer aber genau genommen bereits seit dem Z,ez£mz-Buch (1902) bzw. dem Erkenntnisproblem I/II (1906/07) Aufmerksamkeit, motiviert nicht

3 Ernst Cassirer: »Ausdrucksphänomen und Wiener KreisLebensgrundLebenskraftMarburger< Cassirer 1902 noch weitgehend bekennt. Diese Fragestellung führt ihn auch auf das Problem, inwieweit das erkenntnistheoretisch-methodische Instrumentarium der einen Wissen­ schaftsgruppe mit guten Rechtsgründen, ohne Simplifikationen, auf die anderen Typen von Wissenschaft übertragen werden darf. So mag Cassirer zwar der von Goethe propagierten Übertragung des Lebensprinzips auf die anorganische Natur nicht unbesehen folgen, wendet aber den Organismusbegriff - in Kantischer Tradition - bewußt auf die Charakterisierung der Vernunft an.9 Das methodische Problem der Übertragbarkeit des organi­ schen Lebensprinzips auf die Erkenntnis - und folglich auf die Vernunft -, die dann als eine »organische Einheit« gilt, berührt Cassirer mehrfach in seiner Darstellung des deutschen, nachkantischen Idealismus.10 Der von der Romantik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte, auf dem allgemeinen Formbegriff ruhende Organismusbegriff, über den sich eine Parallele zwischen Leben und Geist herstellen läßt, und der im 19. Jahrhundert seine zentrale Stellung in der Systematik der Geistes Wis­ senschaften weiter behalte, erfährt aber, so Cassirer 1923, in Sinn und Tendenz eine durchgreifende Wandlung, seitdem ihm »der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft gegenübertritt.«11 Aus dem ursprünglich eher philosophischen Begriff des lebenden Orga­ nismus ist mit der Biologie im 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlicher geworden.

8 Ernst Cassirer: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in ECW 1, 9. Kap. Das Problem des Individuums in der Biologie - Der Organismus, 358378, hier: 367. 9 Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, in: ECW 8, 346; Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Dritter Band (1920), in: ECW 4, 296; 303. 10 Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Dritter Band, ECW 4, 153; 230; 363. 11 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 107.

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Im Folgenden sollen Rechercheergebnisse vorgestellt werden, die aus einem den Ähnlichkeits- und Analogiethesen Cassirers Nachgehen hervorgegangen sind. Zuerst werden die wichtigsten, von Cassirer hervorgehobenen Form-Analogien in einer sich aus der Sache selbst erschließenden Ordnung mitgeteilt und thematisiert. Dabei geht es natürlich auch darum, inwieweit sich das Formproblem in beiden Gegenstandsgebieten unterschiedlich stellt, d.h. darum, was die Besonderheit des Formproblems in der Biologie ausmacht. Danach soll - unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen - Cassirers Bild von der Biologie als moderner Naturwissenschaft skizziert werden. Daran schließt der Versuch an, einige Aspekte samt sich einstellender Fragen der Analogien bzw. Ähnlichkeiten des Formproblems in Kulturwissenschaften und naturwissenschaftlicher Biologie und des umrissenen Biologiebildes zu diskutieren und zu explizieren. Das meint u. a. die Bedeutung der ein bestimmtes methodisch gemeintes Verhältnis andeutenden soeben zitierten Aussage »schon für die Biologie gilt«, die auf eine Art Stufenbau der Wissenschaften schließen läßt. Außerdem ist auch auf die - zunächst etwas irritierende - These Cassirers einzugehen, wonach nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern alle modernen Naturwissenschaften wie Physik, Psychologie und Biolo­ gie ein eigenes Formproblem besitzen.12 Scheint doch damit nicht nur die grundsätzliche Unterscheidung von Kausal- bzw. Gesetzeswissenschaften und Gestalt-, Stil- bzw. Formwissenschaften13 unterlaufen, aufgehoben zu sein, sondern auch die Biologie ihren herausgehobenen oder Sondercharakter unter den Naturwissenschaften wieder zu verlieren, der aus ihrem Gegenstand, dem Leben, dem lebendigen Organismus, der organischen Selbstorganisation resultiert.

II)

Sieben Form-Analogien nebst gewissen Unterschieden

Eine philosophische Begründung für die Möglichkeit von Form-Analogien bzw. Parallelen zwischen Biologie und Kulturwissenschaft gibt Cassirer mit der - noch anzusprechenden - Theorie vom Stufengang der wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche, wonach die höheren Stufen die Gesetze und Strukturen der niederen in Geltung lassen und neue, eigentümli­ che hinzufügen.14 Dieser Tatbestand scheint bis zu einem gewissen Grade die Übertragung der Begrifflichkeit der niederen auf die höheren Stufen zu rechtfertigen. Ergänzt wird diese Möglichkeit durch die von Cassirer

12 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 454 f. 13 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5,92; 100. 14 A.a.O., 63; Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 286.

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getroffene Unterscheidung zwischen >allgemeinem< Formbegriff und dem eigentümlichem Formbegriff des jeweiligen Gegenstandsbereiches, den Aufbauprinzip, Prinzip der Über- und Unterordnung etc. von dem eines anderen speziellen Bereiches trennt.15 Diese Auffassung vom Stufengang bzw. der Emergenz schränkt allerdings in Cassirers Augen das Benennen von Analogien bzw. das Übertragen der biologischen Formbegrifflichkeit auf die der Kulturformen auf ein methodisches >als-ob< ein: demnach sind »die Kultur>formen< [...] >Organismen< nur im Als-Ob Sinne«.16 Die in der Vorlesung über Kulturphilosophie von 1939 und dem etwa zur selben Zeit verfaßten Erkenntnisproblem IV enthaltenen expliziten Hinweise zu Form-Analogien lassen sich sieben Aspekten zuordnen: dem Begreifen und Beschreiben; der Permanenz und Wandlungsfähigkeit; dem individuellen Charakter der Prägnanz; der Morphologie und Genesis; der Synthesis des Mannigfaltigen; der Unableitbarkeit bzw. des Kausalpro­ blems; und der emotionalen Sprache. Diese Zuordnung ergibt nachfolgen­ des Bild, das gleichzeitig einen Ausblick darauf gestattet, worin Cassirer die Eigenart des Formbegriffs der Biologie im Vergleich mit dem Formund Gestaltbegriff der Kulturwissenschaft sieht: Begreifen und Beschreiben'. Es ist zunächst das kulturphilosophische Begrei­ fen, das sich als Beschreibung von Strukturen, Ganzheiten - anstelle von Erklären durch Rückführung auf quantitative Gesetze - vollzieht, und das somit den Formbegriff voraussetzt, impliziert. Wenn die für die Spezifik der Kulturobjekte entscheidende Aus drucks-Wahrnehmung als logisches Fundament des Begreifens den Formbegriff fordert, dann ist »in dieser lo­ gischen Hinsicht [...] die Welt der Kulturobjekte der der biologischen Be­ griffe parallel.«17 Auch bereits das biologische Begreifen vollzieht sich als ein Beschreiben von Formen bzw. Strukturen. Dabei müsse die Beschrei­ bung des einzelnen Organismus (bzw. Organs) das Allgemeine, das Gan­ ze, die Gesamtstruktur der entsprechenden Tierform voraussetzen.18 »Das Wissen von einer Einzelform [des Lebens - CM] setzt [...] das Wissen von der Formwelt als Ganzes voraus«.19 Mit anderen Worten, die Gattungsform d.h. der >BauplanLebensform< - steht für die allgemeinen Formgeset­ ze, die im Tierreich die Form des einzelnen Organismus streng festlegen.20

15 16 17 18 19 20

Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 58 f. A.a.O., 127. A.a.O, 101 f. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 151. A.a.O., 152. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 135.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Permanenz und Wandlungsfähigkeit: Cassirer sieht »das Analogon, das immer wieder zu einem Vergleich der Kulturobjekte mit Objekten der organischen Natur geführt hat«, insbesondere in der Eigenschaft des >Bestandes< von Kulturphänomenen, sich in beständiger Veränderung zu befinden und dennoch ein und dieselben zu bleiben, was sich in ihren Fortwirkungen und beständigen Umbildungen bekunde. »Diese Fähigkeit zur Permanenz der Form und zur Entwicklung der Form« ist - so Cassirer - »beiden [Objektklassen - CM] gemein«.21 Bei der betonten Gemeinsamkeit hat er u. a. den Tatbestand vor Augen, daß die Fähigkeit der Form zur Permanenz und Wandlungsfähigkeit, die er als ihr »eigentümliches >LebenLebensformen< oder organischen Naturem bilden demnach keine »konstanten Grundverhältnisse«, sondern lassen sich je einem Typus oder >Urbild< zuordnen,23 sie erscheinen - der »empirischer Intuition« - als »nach einem Urbilde geformt«, das, obwohl nur in den Teilen variierend und abweichend, sich aber dennoch im Ganzen um- und fortbildet.24 In diesem Sinne verhalten sich die Kulturgestalten wie organische Gestalten, ohne aber solche zu sein, genauer: Sie verhalten sich, >als ob< sie welche wären. Die Annahme, daß für Cassirer die Form-Begrifflichkeit der biologischen Metamorphosenlehre auf den höheren Gegenstandsstufen der Wissenschaft, zumindest auf dem der Kulturwissenschaft - und der Historie -, ihre methodische Geltung behält, belegt auch eine Bemerkung zu Jakob Burckhardt. Der erfasse an den plastischen Bildwelten der Kunst, Dichtung, Sprache etc. eine Metamorphose, ein Werden im SeinPrägnanz< der Form, die Cassirer an den geistig-kulturellen Formen dartut, was bedeutet, daß »die allgemeinen, »starrem Formen [...] immer wieder in diesen Schmelztiegel des [...] Gestaltens, Umformens zurückge­ worfen« werden,26 trifft seiner Überzeugung nach bereits auf die biologi-

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A. a.O., 127. Ebd. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band., ECW 5, 160f. A.a.O., 167. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 323. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 139.

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sehen Formen zu. Auch die biologische Form ist in diesem Sinne »>geprägte Form< [...], die lebend sich entwickelt«,27 ist ein und dieselbe Form, »die sich ständig um- und weiterentwickelt«.28 Doch hier wird auch auf grundsätz­ liche Unterschiede hingewiesen, die den individuellen Charakter der Um­ gestaltung der Form beim kulturell tätigen Menschen zum Ausgangspunkt haben. In der organischen Natur, im Tierreich kann von einer »Arbeit der Individuen [...], die sich in diesen [prägnanten, CM] Formen ausdrücken«,29 sich ihrer bedienen, sie gebrauchen und damit neu >beseelenideellen Genesis< der anschaulichen Gestalt (Goethe) im Unterschied von kausaler Erklärung bzw. historischer Abfolge der Lebenserscheinungen bevorzugt.34 Die sich in der modernen Biologie für den Betrachter ergebende >ideelle Genesis< der morphologischen >Formgenetischen Gesichtspunkt^35 Diesen hatte Cassirer z.B. in der Vorlesung über Grundprobleme der Kulturphilosophie (1929) für das Formproblem angesichts der Kulturphänomene geltend gemacht,36 sei das Kulturphäno-

27 A.a.O, 128. 28 A.a.O., 134. 29 Ebd. 30 A.a.O., 131. 31 A.a.O., 135. 32 A.a.O., 140. 33 Neuere biologische Forschungen scheinen dagegen durchaus die Vererbung be­ stimmter Lebenserfahrungen selbst bei Pflanzen zu bestätigen. So haben die beiden Biologinnen Galloway (University of Virginia) und Etterson (University of Minnesota) in Labor- und Freiluftexperimenten an amerikanischen Glockenblumen nachgewiesen, daß die Familiengeschichte, weitergegeben als Information im Samen, über die Lebensdauer der nächsten Generation von Blumen (mit-)entscheidet. - Vgl. Laura F. Galloway/Julie R. Etterson: »Transgenerational Plasticity Is Adaptive in the Wild«, in: Science, Vol. 318, No. 5853, 1134-1136. 34 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 148; 173. 35 A.a.O., 172f. 36 Ernst Cassirer: »Grundprobleme der Kulturphilosophie« (1929), in: ECN 5, 21 f.

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men doch als ein >Werden zum Sinn< zu verstehen.37 Abgesetzt wird diese Auffassung dabei gegen den aristotelischen Formbegriff, der die Formen des natürlichen Werdens als »unveränderliche Fundamente des Werdens« bestimmt, die dieses ermöglichen.38 Die morphologischen Begriffe der Gestalt, wie sie die Kulturwissenschäft kennt und anwendet, sind als solche »schon in der Biologie unentbehrlich«.39 Aber auch die Analogie der Morphologie muß die Unterschiede von Naturgeschichte und Kulturgeschichte beachten. Unter Morphologie bzw. morphologischer Form der Gattung versteht Cassirer offenbar die Lehre vom funktionalen Bau, d. h. von den Funktionen, der Gliederung des gattungsspezifischen Organismus nach Funktionen, »verkörpert« in den Organen. Die »allgemeinen [morphologischen, CM] Formgesetze« der Tier-Gattung determinieren den »körperlichen >BauplanBauplangleichfalls< hier offenbar auf die symbolischen Funktionen kulturellen Tuns bezogen, die nun mit den Organfunktionen im biologischen Organismus in Analogie gesetzt werden. Diese Analogie ist m.E. so zu verstehen, daß das »einzelne Tier eine bestimmte Fertigkeit übt«, wodurch es »in sehr engen Grenzen durch diese Übung das Organ [der Funktion, CM] verändern« kann.44 Umstrit­ ten sei jedoch in der Biologie die Vererbbarkeit dieser morphologischen Veränderungen des Organs auf die Nachkommen bzw. auf die Gattung. Die notwendige theoretische Vereinbarung der »unverrückbaren Fe­ stigkeit der biologischen Form« mit der »Beweglichkeit, Entwicklung der Form« unterscheidet sich offenbar von dem entsprechenden Wechselspiel in der Welt der Kultur bzw. im Geistigen, wo die Funktion stetig und unmerklich das Organ verwandelt, was dieses zu neuen Funktionen befä­ higt.45 Darauf, daß die »Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe [...], die in der organischen Natur herrscht«, sich von »dem Verhältnis, das uns in den Gebilden der Kultur begegnet«, unterscheidet, kommt Cassirer auch in LKW zu sprechen.46 Dabei wird noch einmal betont, daß in der Natur­ form die durch die Individuen bewirkten Veränderungen nicht ins Leben der Gattung eingehen, in der Kulturform dagegen sehr wohl: »Der >Geist< hat [hier, CM] geleistet, was dem >Leben< versagt blieb.«47 Außerdem - oder gerade damit - habe sich die Menschheit im Gegensatz zur Tierheit »in al­ len ihren Kulturformen [...] einen neuen [zweiten, CM] Körper geschaffen, der allen gemeinsam zugehört«.48

Synthesis des Mannigfaltigen: In der Eigentümlichkeit, wie kunstgeschichtli­ che Stil- und Gestaltbegriffe - im Unterschied zu den Gesetzesbegriffen »am Besonderen [...] ein Allgemeines [der Form, CM] sichtbar« werden las-

43 44 45 46 47 48

A.a.O, 136. Ebd. A.a.O, 137. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften^ ECW 24, 484. A.a.O.,485. A.a.O., 486.

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sen,49 wie sie auf eine spezielle Weise die »synthetische Einheit des Mannigfaltigen* bewirken,50 bestimmt Cassirer eine weitere, mit den bislang genannten eng verbundene Gemeinsamkeit zwischen den beiden Gebieten der Begriffsbildung und wissenschaftlichen Erkenntnis. Das Verhältnis »zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen« darf - wie Goethe gezeigt habe - »nicht [als] das Verhältnis der logischen Subsumption« gedeutet werden, sondern als »das Verhältnis der ideellen oder »symbolischem Repräsentation«,51 ein Verhältnis, das die Gestaltbegriffe vollbringen, vollziehen, vermitteln. Solche, ein eigentümliches Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen ausdrückende Gestaltbegriffe kenne, »neben den Gesetzesbegriffen, [...] bereits die theoretische Biologie« bzw. der biologische Vitalismus.52 Dabei ist die »Gestalt* der kulturwissenschaftlichen Forschung genau so etwas Objektives wie das »Gesetz* in der Naturerkenntnis. Die Gestalt ist »eine »Form* gleich den Naturformen, [sie] hat eine objektive Bestimmtheit und Struktur«.53 An einer weiteren Stelle in der Vorlesung heißt es noch einmal: »Die Art, der Modus, durch den die »synthetische Einheit des Mannigfaltigen* bewirkt wird«, sei »in der Physik das Instrument des »Gesetzes*, in der Biologie und Kulturwissenschaft [dagegen, CM] das [Instrument, CM] der Form (»Gestalt*)«.54 Denn »schon in der Biologie« ist neben dem Gesetz die Form - und damit die Gestalt - ein Begriff sui generis. Hinzuweisen bleibt noch auf den kleinen, aber wichtigen Bedeutungsunterschied beider Textstellen in Bezug auf den Begriff des Gesetzes: Im ersten Fall stehen »Gesetz* und »Form* bzw. »Naturform* offenbar nicht in einem Gegensatz, im zweiten Fall dagegen ganz explizit.

Unableitbarkeit und Kausalproblem-. Die Formprobleme bzw. Formbegriffe in Kulturwissenschaft und in Biologie sind für Cassirer rein methodische, keineswegs metaphysische Probleme bzw. Begriffe,55 dabei aber insofern unreduzierbare und unableitbare Urphänomene, als sie nicht mit formfremden, d.h. materiellen Ursachen erklärt werden können. Darwin z.B. habe bei aller Betonung des Formbegriffs für das Organische die Form für ein bloßes Zufallsprodukt gehalten, für ein Produkt rein mechanischer Kräfte, und ihr so ihre Selbständigkeit und Unableitbarkeit genommen.56 Diese Selbständigkeit sieht Cassirer dagegen in Uexkülls »Bauplam-Begriff, den er bekanntlich als Struktur- und Formbegriff deutet, gewahrt, insbesondere

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Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 133. A.a.O., 165. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 169. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 133. A.a.O., 143. A.a.O., 165. A.a.O., 95. A. a. Ο., 61 f.

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wenn der in diesem Zusammenhang von einer »immateriellen Beziehung der materiell gegebenen Teile eines Körpersideelle Geneses ersetzt.67 Zum anderen löst ein an »Goethes Meta­ morphosenlehre« 68 orientiertes biologisches Denken die - nach Cassirers Auffassung - metaphysische und damit unproduktive Frage »nach dem Wesen und Ursprung des Lebens« ab. Dieses neue Denken bringt die »ge-

66 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 31; 33; ders.: Das Erkenntnis­ problem. Vierter Band, ECW 5, 137 f. 67 A.a.O.,148. 68 Christian Möckel: »Formenschau, Formenwandel und Formenlehre. Zu Goethes Morphologie- und Metamorphosenlehre«, in: Goethe-Jahrbuch (Goethe-Gesellschaft in Japan) Bd. 52, Tokyo 2010, 45-73.

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gebenen [besonderen, CM] Lebensformen« in eine systematische Ordnung, in ein Ganzes (Allgemeines) und schaut sie in ihm zusammen; es arbeitet dabei mit dem Typenbegriff, der es erlaubt, in der Welt des Lebendigen »Gestalten des Lebens« aufzufinden.69 Die moderne Biologie, die erst ein­ mal der »primären Bedeutung des Faktors >FormUrsprungsfragen< doch »schon in der Biologie [...] zu seltsamen >AporienWarumWoherAutonomie des Organischem (Vitalismus) vorbereitet und bestärkt.80

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Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 149. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 94. A.a.O., 189. A.a.O., 96. Cassirer: An Essay on Man ECW 23, 25. Ebd. A.a.O., 24. A.a.O, 23. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 197. A.a.O., 200. A.a.O, 210 f. A.a.O., 214, 217.

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Animismus/ Vitalismus: Bei der Umwandlung der Biologie aus einer Wissenschaft, die den Organismus als einen quasi physikalischen Mechanismus behandelt und mit der Ausdruckswahrnehmung, mit den Ausdrucksphänomenen aus ihm gerade das >LebenLebendige< verweist, schreibt Cassirer in seinen Texten der Strömung des Vitalismus eine entscheidende Rolle zu, als dessen modernen Fortsetzer er immer wieder Jakob von Uexküll würdigt.81 Deshalb schenkt er dem Ringen zwischen den Vitalisten, die das Eigenständige und Spezifische des Organischen (»Lebenskraft«) gegenüber dem Unorganischen betonen,82 mit ihren Gegnern, die gemäß ihrem monistischen Prinzip »den Organismus einfach in ein System bewe­ gender Kräfte auflösen« wollen, wie sie auch überall in der anorganischen Natur agieren,83 große Aufmerksamkeit. Der neuere Vitalismus (Uexküll) suche die »Autonomie des Lebens« mit dem gegenüber der mechanischen Sichtweise als Alternative geltend gemachten Formbegriff zu verteidigen.84 Der auf Ganzheit, Ganzheitlichkeit zielende aktuelle Formbegriff in der vitalistischen Biologie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts habe auch den alten teleologischen Zweckbegriff abgelöst. Es bleibt anzumerken, daß der Begriff des Ganzen bei Cassirer häufig im Leibnizschen Sinne von etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile, gebraucht wird.85 Er fügt dem den Gedanken der Repräsentation hinzu: Jedes Zeitlich-Momentane z.B. repräsentiert auf seine Weise das Ganze, stellt es dar, schließt das Ganze - den Sinn - unmittelbar in sich ein, weshalb diese Sinnprägnanz als >Urphänomen< zu gelten habe.86 Das Ganze bedeutet bei Cassirer also oft das Sinnganze, das sich im einzelnen Sinnfragment offenbart. Deskriptive Methode: Am Ganzheitsbegriff - und nicht am psychologist!sehen, teleologischen und willentlichen Zweckbegriff (Ungerer) - orientiere sich auch die der Biologie am ehesten angemessene Methode der reinen Beschreibung des organischen Geschehens.87 Als einen wichtigen Vertreter dieser rein beschreibenden Biologie zieht Cassirer u.a. Ludwig von Bertalanffy heran.88 Auch Uexküll wende auf die organischen Phänomene

81 A.a.O., 150; Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 404. 82 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 218. 83 A.a.O.,220. 84 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 378; ders.: An Essay on Man, ECW 23, 28 f. 85 Cassirer: Leibniz’ System, ECW 1, 115 ff.; 361. 86 Ernst Cassirer: »Praesentation und Representation« (1927), in: ECN 4, 4. 87 Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Vierter Band, ECW 5, 247. 88 A.a.O., 250; Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 452 f. - Zur Rezeption von Bertalanffy durch die Philosophen, speziell durch Cassirer, siehe auch: David Pouvreau f and Manfred Drack: »On the history of Ludwig von Bertalanffy’s General SystemologyFormwissenschaftForm-Analyse< gilt Cassirer als eine »spezifische Richtung des Wissens«, d. h. der Begriffsbildung und Erkennt­ nis, und dies im Unterschied zur kausalen Gesetzesanalyse.91 Kausal-analytische Methode: Cassirer deutet allerdings nicht nur den im Streite mit dem Vitalismus liegenden Mechanismus als eine einseitige Po­ sition, die es mit ihrer »Maschinentheorie des Lebens«92 als mechanisch­ materialistischer Biologie93 nicht vermag, das »Rätsel des Lebens« zu lösen, sondern auch den biologischen Vitalismus selbst,94 soweit er (wie Hans Driesch oder Eduard v. Hartmann) auf den - kausal-ursächlich und da­ mit für Cassirer naturalistisch bzw. metaphysisch gemeinten - Begriff der >Lebenskräfte< setzt.95 Die moderne Biologie habe beide Extreme vermie­ den und sich immer stärker »auf den rein methodischen Sinn des [Lebens]Problems« besonnen. Sie versuche nicht mehr, die organischen Lebensfor­ men aus rein mechanischen Kräften abzuleiten, sondern legt vielmehr den Nachdruck darauf, daß die organischen Lebensformen »durch reine Kau­ salbegriffe nicht vollständig beschrieben werden können. Und für diesen Nachweis griff sie auf die Kategorie der >Ganzheit< zurück«.96 Mit anderen Worten, die moderne Biologie ist sich bewußt, daß sich Formbegriffe als Begriffe sui generis »keineswegs restlos auf >Gesetze< (ursächliche Kräfte) zurückführen« lassen,97 wohl aber teilweise, ein Stück weit. Das bedeutet aber wiederum auch, daß die kausal-analytische Methode der Erklärung aus ihr nicht grundsätzlich, nicht völlig ausgeschlossen ist, vielmehr werden die Grenzen ihrer Erklärungskraft abgesteckt, hinter denen die ganzheitli­ che Betrachtung< (>HolismusWiederfindenWiedererkennen< stützt,100 sieht in den Gesetzesbegriffen eine »>exakte< Form des >WiederfindensWiener KreisStufenontologie< erinnert. Lassen doch die Übergänge vom nie­ deren Bereich zum höheren die niederen Gesetze in Geltung, führen zu

109 110 111 112 113 114

A.a.O., 454 f.; Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 57. Ebd. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, 455. Ebd. Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 164. A.a.O., 165.

Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

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keinem Bruch mit dem Niederen, für die Biologie mit den Gesetzen der Physik, und fügen neue - biologische - Gesetze hinzu. Es vollzieht sich jeweils ein qualitativer Sprung zu einem neuen »Problem- und Gegenstandstypus«.115 Demnach schließt der Gegenstandbereich der Kulturwissenschäften Gesetze und Strukturen der Biologie (»Ganzheits-Bezogenheit«) weiter ein, bereichert um ein spezifisches >Kennzeichen< der Kultur. Für jeden Gegenstandsbereich bzw. jede >Stufe< von Wissenschaft stehen die Gesetzes- und Formprobleme in einem anderen eigentümlichen Verhältnis, ist doch jede Wissenschaft Gesetzes- und Formwissenschaft.116 Für die Biologie gilt, daß in ihr »noch das Verhältnis [besteht], daß Gestaltbegriff und Gesetzesbegriff sich zwar nicht aufeinander zurückführen lassen - [...] wohl aber ständig aufeinander bezogen werden müssen«.117 In diesem Sinne ist für die deskriptive Biologie ein »>Gleichgewicht< zwischen Formbegriffen und Gesetzesbegriffen« typisch.118 Die theoretische Physik wäre, wenn wir Cassirers Überlegungen fortspinnen, durch den Primat der Gesetzesbegriffe gegenüber dem Formbegriff charakterisiert, während in den Kulturwissenschäften der explizit formulierte »Primat der Formbegriffe« gegenüber dem Gesetzesbegriff hervortritt. Daß die Formbegriffe als »geprägte«, lebendige Formen aufgefaßt werden müssen, verbindet wiederum Kulturwissenschaft und Biologie miteinander.

IV)

Schlußüberlegungen: Gründe für das Interesse an der Biologie

Rückblickend auf die soeben dargelegten Analogie- und Ähnlichkeitsthesen Cassirers bleibt zunächst zu erklären, warum gerade die Biologie so ausgezeichnet wird, aus welchen Überlegungen heraus der Kulturphilosoph Cassirer, der im Spätwerk an einer >Logik der Kulturwissenschaftem arbeitet und der seine »Philosophie der symbolischen Formern als eine »kritische Kulturphilosophie< begreift, die die Kulturgegenstände deskriptiv als ein Ganzes von Formen aufzuklären hat,119 sich so ausgiebig für die naturwissenschaftliche Biologie interessiert und sie zur Kulturwissenschaft in ein so herausgehobenes Verhältnis setzt. Zumindest als eine erste Antwort auf diese Frage lassen sich m.E. drei theoretische, systematische Anhaltspunkte nennen. Diese Auszeichnung der Biologie, dieses systematische Interesse an ihr hat erstens mit der Überzeugung Cassirers zu tun, daß die höheren Lebens-

A.a.O., 63. A. a. Ο., 92. h7 A.a.O., 165. ns A.a.O., 166. 119 A.a.O., 96. 115 116

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formen der Kultur einerseits über die elementaren - organischen - Le­ bensformen hinausragen, daß aber andererseits eine Art >Verwurzelung< bzw. ein >Entspringen< der höheren Kulturform des Lebens in bzw. aus der Naturform des organischen Lebens, »aus der Grund- und Urschicht des Lebens« aufzuweisen ist.120 Mit >Leben< ist in dem Zusammenhang aber wohl nicht einfach der vegetative Organismus mit seinen biologischen Gesetzen gemeint, sondern die Ausdrucksfunktion höherer Lebensfor­ men. Müsse doch der Mensch »seine ihm eigentümliche Gegenstands- und Formwelt« dem »Primat der Ausdruckswahrnehmung« abgewinnen, die die Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungswelt der Tiere bestimmt121 und die als »eine andere, mehr elementare Schicht des Daseins und des Verhaltens« in »der Welt des Kindes und in der des >PrimitivenGenesis< genannt, laufe auf eine »Grenzsetzung zwischen >Leben< und >GeistNützlichkeitGrundlage< auch der Kulturwissenschaften«.144 Diese Überlegungen stehen in Zusammenhang mit dem Bemühen Diltheys um eine philosophische Anthropologie, die den Menschen als geistiges Kulturund organisches Leibwesen zu fassen bzw. zu verschränken sucht.145 Dennoch denkt Cassirer kaum daran, biologische Formbegriffe als kulturelle Formbegriffe zu deuten. Dies wird ganz deutlich, wenn er zum Ausdruck bringt, daß man das Spiel mit Analogien und Ähnlichkeiten schwerlich so verstehen darf, als ließen sich geistig-kulturelle Formen auf ihre sozusagen biologischen Unterstufen zurückführen, in ihnen auflösen, »wenngleich [sie] genetisch mit diesen anderen in Zusammenhang stehen [mögen]«.146

140 Christian Möckel: »Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Zur philosophischen Anthropologie Ernst Cassirers«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 3. Jg. Heft 2/2009, 209-220. 141 Cassirer: An Essay on Man, ECW 23, 29. 142 Cassirer: »Probleme der Kulturphilosophie«, ECN 5, 3. 143 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Erster Band (1888). In: Gesammelte Schriften Bd. 1, Leipzig und Berlin 1922, S. 19. 144 Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwi­ schen Natur und Kultur, München 2006, 40; 47. 145 Meuter: Anthropologie des Ausdrucks, 80 f. 146 Cassirer bezieht diese Aussage auf die symbolische Form als etwas »Urphänomenales«, was es so im Tierreich nicht gibt: »die symbolische Form ist immer etwas Eigenartiges, Unableitbares, sui generis[,] das nicht auf andere (biologische) Vorstufen zurückgeführt, in sie nicht aufgelöst werden kann, wenngleich es genetisch mit diesen

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Des weiteren ist zu prüfen, ob und wodurch dieses Verfahren des Be­ nennens von Form-Analogien gerechtfertigt erscheint und wieweit es trägt, was es kulturphilosophisch leistet. Dilthey z.B., der noch 1910 im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften meint, daß die kultu­ relle Welt des objektiven Geistes und die Struktur des hermeneutischen Bewußtseins gewisse »Ähnlichkeiten mit der biologischen Struktur« ha­ ben, sieht deren Aufweisung jedoch nur auf »vage Analogien« führen.147 Und nicht zuletzt bleibt zu klären, ob diese methodischen Analogien eher von der Biologie aus mit Blick auf die Kulturwissenschaft oder umgekehrt, von den Kulturwissenschaften aus auf die Biologie, erfaßt und festgestellt werden. Letzteres Verfahren würde die Emergenzthese Cassirers metho­ dologisch schwächen. Seine soeben angeführte Bemerkung, wonach die Rückführung kausaler Fragestellungen auf das Formproblem »ähnlich [...] schon für die Biologie gilt«, weist zunächst einmal eher darauf hin, daß er bestimmte kulturwissenschaftliche Gegebenheiten in biologischen wie­ derzufinden meint, was ihnen einen zusätzlichen Geltungswert verleiht. Wenn solche Form-Analogien konstatiert werden, dann müssen selbst­ verständlich auch die grundlegenden methodischen Unterschiede zwischen dem Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie - als einer Natur­ wissenschaft - zur Sprache kommen, handelt es sich doch schließlich um >Zwei Kulturen< der Wissenschaft. Unterscheidungen (Entgegensetzungen) und Vergleiche (Ineinssetzungen) beider Typen von Wissenschaft scheinen aber in Cassirers Texten begrifflich nicht konsistent vorgenommen zu wer­ den. Möglicherweise spricht er oft in zwei ganz unterschiedlichen Sinnzu­ sammenhängen von Wissenschaft (Ernst Wolfgang Orth): einmal gemäß dem methodischen Selbstverständnis der forschenden Wissenschaftler, nach welchem Naturwissenschaft als kausale Gesetzeswissenschaft und Kulturwissenschaft als beschreibende, individualisierende Stilwissenschaft gänzlich zu unterscheiden sind, und das andere Mal gemäß seinem eigenen methodischen Verständnis, welches in beiden Wissenschaftstypen zwar ein veränderliches Verhältnis von Form- und Kausalproblemen konstatiert, dabei aber das Formproblem als ein originäres, eigenständiges Thema in allen Typen von Wissenschaft verortet. In Cassirers Ausführungen treffen wir, wie ich das sehe, auf mehrere, unterschiedlich gemeinte begriffliche Fassungen des Problems: zum einen auf den zum Ausdruck gebrachten Gegensatz von Gesetzeswissenschaft (Kausalität) der Natur (Laborbedingungen) und Form- bzw. Stilwissen­

anderen in Zusammenhang stehen mag«. (Cassirer: »Ausdrucksphänomen und >Wiener Kreisgesetzen< bzw. >Gesetzen< individueller Einheiten die Rede. In einem dritten Sinne treffen wir auf die Auffassung, wonach Wissen­ schaft, also explizit auch die Naturwissenschaften, grundsätzlich von Form­ problemen und von Kausalproblemen beherrscht ist. In diesem Zusammen­ hang ist das Kausalproblem möglicherweise als eine Strukturforschung der Randbedingungen, der Konfigurationen als Ursachenverhältnissen zu ver­ stehen, wodurch es sich mit dem Formproblem in Beziehung setzen läßt. Es handelt sich dabei - je nach Forschungsgegenstand - um ein bewegli­ ches, veränderliches Verhältnis, bei dem Cassirer hinsichtlich der Relevanz des Formproblems durchaus Unterschiede hervorhebt, z.B. zwischen der Mechanik und der Feldphysik, der experimentellen Psychologie und der Gestaltpsychologie. In einer weiteren, vierten Fassung des Problems gilt Cassirer die Naturwissenschaft (Biologie) selbst als ein Kulturphänomen. Das Naturuniversum wird als Kulturraum, als symbolisches Universum begriffen. Der Unterschied zu den Kulturwissenschaften ist durch die Kul­ tur, den Kulturmenschen, der als Naturwissenschaftler fungiert, generiert und benannt (Ernst Wolfgang Orth). Damit schließt der Kulturbegriff den der Naturwissenschaft einmal ein, ein andermal aus.

Literaturverzeichnis Ernst Cassirer: Leibniz'System (1902), in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 1 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Dritter Band, in ECW 4 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932), in: ECW 5 - Kants Leben und Lehre (1918), in: ECW 8 - Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923) in: ECW 11 - An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy ofHuman Culture (1944), in: ECW 23

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- Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 - Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Μ. Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1, hg. von John Μ. Krois, Hamburg 1995 - Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. von Klaus Christin Köhnke und John Michael Krois. Nachgelassene Manuskripte und Text, hg. von Klaus Christian Köhnke, John Μ. Krois und Oswald Schwemmer, Bd.2, Hamburg 1998, ECN 2 - Über symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und >Wiener KreisLebensgrundWiener KreisGeneral SystemologyRepräsentation< ist in vielen Kontexten beheimatet und in sei­ ner Bedeutung dementsprechend vielfältig. Kernbedeutungen sind »Dar­ stellung«, »Vorstellung« oder »Stellvertretung«, z.B. in den Kontexten der Politik und des Rechtswesens. Auch diese Termini werden nicht einheitlich verwendet.1 Unterschiedliche Auffassungen und Theorien existieren dazu, in welchem Sinn von Repräsentation als »Darstellung«, »Vorstellung« oder »Stellvertretung« die Rede sein soll, was genau dies ist, das vorgestellt, dar­ gestellt oder stellvertretend präsentiert wird und in welcher Form dies vor­ gestellt, dargestellt oder vertreten wird. In der Erkenntnistheorie ist »Repräsentation« sowohl als expliziter Fachbegriff als auch als Terminus und Begriff der allgemeinen wissen­ schaftlichen Sprache in Gebrauch genommen.2 Er bezeichnet Funktion und Resultat menschlicher Bewußtseinsleistungen; mit ihm ist zumeist das Verhältnis von »Geist« und »Welt« oder »Wirklichkeit« thematisch, z.B. im Verständnis von Repräsentation als Vorstellen oder Vorstellung von Ge­ genständen und Prozessen der Wirklichkeit. Mit Rücksicht auf die Rolle der Zeichenbildung für die menschliche Erkenntnis ist von Repräsentati­ on auch im Sinne von gegenstandsbezogener Signifikation oder »Darstel­ lung von Wirklichkeit in Zeichen« bzw. »Artikulation der Wirklichkeits­ erkenntnis in Zeichen« die Rede. Insofern »Repräsentation« auf mentale Inhalte Anwendung findet, spricht man von »mentaler Repräsentation«

1 Zu den Bedeutungsfacetten von >Repräsentation< und Begriffen der Repräsentation siehe: Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation«, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, Bd.2, Hamburg 1999, 1384-1389; Christoph Jamme/Hans Jörg Sandkühler: »Repräsentation. Krise der Repräsentation. Paradigmenwechsel«, in: Silja Freudenberger/Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation. Krise der Repräsentation und Paradigmenwechsel, Frankfurt/M. 2003, 15-45. 2 Die Geschichte des Begriffs der Repräsentation in der Erkenntnistheorie und Zeichenphilosophie verdeutlicht Eckart Scheerer: Art. »Repräsentation« (1/1,1/2,1/4; IV), in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 790-797, 800-812, 834-846; Eckart Scheerer: »Mentale Repräsentation: Umriß einer Begriffsgeschichte«, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): Repräsentation und Modell. Formen der Welterkenntnis (Schriftenreihe des Zentrums Philosophische Grund­ lagen der Wissenschaften), Bd. 14, Bremen 1993, 9-38.

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im Unterschied zur Repräsentationsfunktion von Zeichen, d. h. der Funk­ tion der Zeichen, Bedeutung zu übermitteln und in diesem Sinn Inhalte darzustellen. Strittig ist die Frage, wie die Bewußtseinsleistung zu verste­ hen sei - als eine Form der Abbildung von Wirklichkeit, als Erfassung von Strukturen der Wirklichkeit, d.h. als strukturale Repräsentation2, oder als originäre Wirklichkeitsauffassung, die nicht in Konzepten der Abbildung der Wirklichkeit im Geist zu formulieren ist.34 Umstritten ist das Kon­ zept der »mentalen Repräsentation«, das gleichwohl in der Philosophie des Geistes an Bedeutung gewonnen hat; »Repräsentationalismus« ist in der Erkenntnistheorie ein abgewerteter Begriff. Einflußreich war in den 1980er Jahren insbesondere Richard Rorty mit seiner Kritik des Projekts Erkenntnistheorie, das er an das Konzept der Repräsentation als einer Abbildung von Wirklichkeit gebunden sah. Der von ihm gescholtene »Repräsentationalismus« ist die Auffassung, Erken­ nen sei ein Repräsentieren - ein >Spiegeln< - der Natur. Diese Auffassung führt - so Rorty - in schiefe Problemlagen, weil nach der Genauigkeit der Repräsentationen gefragt werde, statt nach der Rechtfertigung von Erkenntnissen.5 Nach der Genauigkeit, der Akkuratheit der Erkenntnis, kann Rorty zufolge nicht sinnvoll gefragt werden, weil der Vergleich der Erkenntnisse mit der Wirklichkeit, wie diese gänzlich unabhängig von je­ der Erkenntnis wäre, nicht möglich ist. Das Argument der Nicht-Vergleichbarkeit trägt bekanntlich auch Ernst Cassirer vor, und er kann sich dabei auf Kant stützen, für den die Fra­ ge, wie das an sich selbst beschaffen sein mag, was unseren Vorstellungen korrespondiert, an Sinn verloren hat: »Es ist leicht einzusehen, daß dieser [den Vorstellungen korrespondierende] Gegenstand nur als etwas über­ haupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis korrespondierend gegenüber­ setzen könnten.«6 Cassirer lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zeichen- und symbolbildende Aktivität des Menschen, durch die Menschen sich in der

3 Zu Begriff und Modellen der >strukturalen Repräsentation^ Andreas Bartels: Strukturale Repräsentation, Paderborn 2005. 4 Vgl. Martina Plümacher: »Wirklichkeit/Realität«, in: Armin G. Wildfeuer/Petra Kolmer (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i.Br./München 2011. 5 Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Natur, Princeton (New Jersey) 1979, 170. - Wie Thomas Mormann zeigt, unterstellt Rorty eine Ähnlichkeitskonzeption der Repräsentation, d.h. sein Begriff der Repräsentation setzt eine Ähnlichkeit der Repräsentation mit dem Repräsentierten voraus. Daher erfaßt Rortys Kritik am Reprä­ sentationskonzept nicht die so genannte strukturale Repräsentation, die keine Ähnlich­ keit voraussetzt. Thomas Mormann: »Ist der Begriff der Repräsentation obsolet?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51, Heft 3, 1997, 349-366. 6 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1911, Bd.IV, A 104.

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Welt orientieren. Je basaler die jeweils gesetzten Pfeiler der Orientierung für gemeinsames Handeln sind, umso mehr erscheinen sie alternativlos >natürlichunberührten< Wirklichkeit möglich. Doch möglich und unter erkenntniskritischem Vorzeichen gefordert ist der Vergleich der Erkenntnisse in Hinblick auf Kohärenz und Konsistenz. Nach der Akkuratheit der Erkenntnis zu fra­ gen heißt darüber hinaus zu überprüfen, wie gut sich Erkenntnisse in der Praxis bewähren. Cassirer kann mit Rorty darin übereinstimmen, daß es auf die Rechtfertigung der Erkenntnis ankommt. Doch im Unterschied zu Rorty kann für ihn nicht gelten, daß »we understand knowledge when we understand the social justification of belief«.8 Die Rechtfertigung der Erkenntnis ist keine Sache der Konvention. Den Konventionalismus, dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Wissenschaftler anhingen, wies Cassirer nachdrücklich mit dem Hinweis zurück, empirische Erkenntnis sei an der Empirie zu messen.9 Dies schließt die Beachtung der Wissen­ schaftsstandards ein, die sich in den betreffenden Erkenntnisbereichen mit guten Gründen etabliert haben. Rorty will die Realismus-Idealismus-Debatte hinter sich lassen. Eine anders gelagerte Kritik am »Repräsentationalismus« will diese Debatte dagegen ins Zentrum rücken: Dabei wird als Repräsentationalismus die Auffassung bezeichnet, die Wirklichkeit sei dem menschlichen Geist men­ tal vermittelt durch Ideen. Der kritische Einwand lautet damit, diese Auf­ fassung führte zwangsläufig in den Skeptizismus, da die Existenz einer

7 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und 'Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band (1906), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, Hamburg 1999, 1. 8 Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, 170. 9 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910; 1923), in: ECW 6, 203.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

gänzlich denkunabhängigen Wirklichkeit möglich wird. Wären Reprä­ sentationen, Ideen oder Inhalte von Überzeugungen der einzige mentale Zugang zur Wirklichkeit, dann gäbe es keinen Maßstab für Erkenntnis: Repräsentationen könnten dann ein Wirklichkeitsbild vermitteln, das der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit nicht adäquat ist.10 Die tatsächli­ che Wirklichkeit könnte davon gänzlich unterschieden, Skeptizismus also selbst in den Fällen bestgesicherter Repräsentationen jederzeit möglich sein. Diese Linie der Kritik hat eine Tradition, die bis zur Kritik repräsentationalistischer Auffassungen des 17. Jahrhunderts zurückreicht. Erinnert sei an die Debatten der Cartesianer und der englischen Empiristen über den repräsentationalen Status der subjektiven Sinneseindrücke11: Wie sind die so genannten sekundären Qualitäten - Temperatur, Geruch, Ge­ schmack, Farbe und Ton - zu verstehen? Sind sie als Eigenschaften der Dinge oder bloß als psychisch-physische Zustände des Subjekts zu begrei­ fen? An die Feststellung der Subjektivität der Sinneseindrücke knüpft sich die erkenntnisskeptische Frage. Sie hat John Locke deutlich formuliert: »How shall the Mind, when it perceives nothing but its own Ideas, know that they agree with Things themselves?«12 Diesem Skeptizismus begegnete Thomas Reid bekanntlich mit der The­ se, wir hätten es in der Erfahrung der Welt mit den Dingen selbst, nicht mit den Ideen von den Dingen zu tun.13 Den Repräsentationalismus wies er damit zurück. Wie aber genau es zu verstehen ist, daß nicht Sinnesqualitäten, Empfindungen oder einzelne dingliche Erscheinungen wahrgenom­ men werden, sondern räumlich und zeitlich verortete Dinge, Dinge einer >AußenweltWirklichkeit< bezogen, sondern auf die »Aktivierung von Wissen«. Nicht Wirklichkeit wird ab­ gebildet oder in Vorstellungen oder Zeichen dargestellt; >Repräsentation
Wissen< in einem weiten Sinn des Begriffs zu verwenden14: Er umfaßt sowohl das wissenschaftlich be­ gründete, gerechtfertigte Wissen, d.h. Wissen im engeren SinnpräsentRepräsentation< bezeichnet. Man nahm an, daß sich dem Geist in den Zeichen Wirklichkeit präsentiert.17 Cassirer jedoch macht deutlich, daß Zeichen nicht deshalb so wertvoll sind, weil sie eine »schlichte Kopie des Vorhandenen« wären - in diesem Fall wären sie verzichtbar. Was sie überaus wertvoll macht, ist ihre Orientierungsleistung: Sie strukturieren Wahrnehmung und Handlung durch ihren Beitrag zur Ordnung der Erscheinungen. Ein Raumplan eines Gebäudes z.B. beschränkt sich in der Darstellung der betreffenden Ört­ lichkeiten - die Zeichnung hat mit der sinnlichen Anschauung der Räume nichts mehr gemein. Der Plan verdeutlicht etwas, was im sinnlichen Raum­ erlebnis nicht direkt erfahren wird: die geometrische Form der Räume und die Raumaufteilung des Gebäudes insgesamt, auch pragmatisch wichtige Aspekte wie z.B. die Raumzugänge. Die Beschränkung der Darstellung auf bestimmte Hinsichten der Darstellung, die Heraushebung »bestimm­ ter >prägnanter< Momente« macht »die eigentliche Kraft des Zeichen[s] aus«.18 Mittels Zeichen und Zeichensystemen werden Ordnungen entwor­ fen und verdeutlicht, die den Erscheinungen nicht direkt >abzulesen< sind. Man denke etwa auch an die Bildung von Skalen, Uhren und Messinstru­ menten, die Auszeichnung bestimmter Merkmale als >charakteristisch< für eine bestimmte Art von Gegenständen oder Prozessen, den Entwurf von19

19. Jahrhundert verbreitete sich in der britischen Psychologie die Unterscheidung zwi­ schen >Präsentation< und >Repräsentation< zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen direkter Erkenntnis, z. B. Wahrnehmung, und indirekter, vermittelter Erkenntnis. Diese Unterscheidung übernahmen in Deutschland beispielsweise auch Benno Erdmann und Edmund Husserl (in seinen frühen Schriften von 1893/94); Paul Natorp spielte mit die­ sem Begriffspaar, um das menschliche Bewußtsein generell als »Beziehung« zu charakte­ risieren (Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes Buch: Objekt und Methode der Psychologie (1912), Amsterdam 1965, 53-56). 17 Damit war zunächst eine Theorie der geistigen Abbildung der Wirklichkeit verbun­ den sowie die Annahme einer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Diese mit dem Begriff der Repräsentation verbundene Annahme einer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem wurde von Ockham aufgegeben, ebenso die repräsentationalistische Idee der Vermittlung der Erkenntnis durch species (vgl. Scheerer: »Mentale Repräsentation«, 15, sowie ders.: »Repräsentation«, 794). 18 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: ECW 11, 42.

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Modellen in der empirischen Forschung, an mathematische Formalismen in der Naturbeschreibung, an die computergestützte Simulationen von Prozessen. Die in Zeichen und Zeichensystemen artikulierten Ordnungen bestimmen und durchdringen das menschliche Leben, sie sind Grundlagen der Entwicklung von Technologien. Cassirer bestimmt folglich Zeichen als Medien der Erkenntnis, nicht der Abbildung von Wirklichkeit. Erkenntnis selbst betrachtet er als Prozeß und Resultat einer systematischen Ordnung der Phänomene unter bestimmten Hinsichten, die sich aus Fragestellun­ gen der Praxis ergeben - z.B. der Frage nach der architektonischen oder geometrischen Gliederung des Raumes, der chemischen Reaktion von Stoffen in bestimmten Prozessen oder nach den Regeln der Vererbung von phänotypischen Merkmalen. In seiner Analyse der »Kraft der Zeichen« akzentuiert Cassirer daher nicht Repräsentation von Wirklichkeit in Zeichen, sondern das durch Zei­ chen aktivierte Wissen und die Bedeutung - letztere verstanden als der Sinn von Zeichen in der menschlichen Handlungspraxis. Eine gezeichnete Linie etwa kann in einem bestimmten Kontext eine mathematische Funk­ tion repräsentieren, in einem anderen Kontext eine Fieberkurve, in einem wiederum anderen Kontext, etwa in einer ästhetischen Einstellung, eine schöne kraftvolle Linie sein. Cassirers generalisierende Charakterisierung der Zeichenphänomene faßt Zeichenverstehen und Wahrnehmen in einer bestimmten Hinsicht zusammen: Cassirer spricht von dem >sinnlichen< Erlebnis, von >sinnlicher< Wahrnehmung, die »einen bestimmten nicht-an­ schaulichen >Sinn< in sich faßt«19, die Einheit von Sinnlichkeit und Sinn ist. Bezogen auf Wahrnehmung ist damit zugleich die Rolle des ideellen oder >epistemischen< Gesichtspunkts, von dem her etwas wahrgenom­ men wird, betont: Was wahrgenommen wird, verändert sich im Wechsel des ideellen Bezugspunkts. Es ist nicht nur so, daß mit neuen Aspekten der Betrachtung anderes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das Wahrgenommene kann sich phänomenal grundlegend wandeln. Das da­ für schönste Beispiel Cassirers stammt von dem Physiologen Ewald He­ ring: Bei einem Spaziergang durch den Wald wird in einiger Entfernung eine weiße Stelle auf dem Weg gesehen. Es sei Kalk verschüttet, meint der Spaziergänger, bis er den Einfall des Sonnenlichts bemerkt. Die gleiche Stelle erscheint ihm nun vom Licht erleuchtet hell, doch nicht mehr weiß wie zuvor mit Bezug auf Kalk -, sondern graubraun.19 20 Cassirer erläutert:

19 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 231. - Die Textstelle, der das Zitat entnommen ist, bezieht sich auf Wahrnehmung. 20 Ewald Hering: Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn (1905), Berlin 1920, § 4, 8 ff.; Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 154.

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Zunächst sei die Kategorie der Substantialität für die Wahrnehmung lei­ tend, dann der Gesichtspunkt der Kausalität. Verallgemeinernd formuliert er, die »Richtung der >Ideation< zwingt also das rein »optische« Phänomen in ganz bestimmte Bahnen«; »die Identität des Bezugspunkts« weise »der >Rekognition< und >Repräsentation< die Wege«.21 Im Hinblick auf Wissen und Erkenntnis von Wirklichkeit ist der feine Unterschied, den Cassirer gegenüber tradierten Auffassungen markiert, zu beachten. Er betont: Wir erkennen nicht die Gegenstände, sondern wir erkennen gegenständlich. »Wir erkennen [...] nicht >die Gegenstände< - als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und ge­ geben -, sondern wir erkennen gegenständlich, indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammen­ hänge fixieren.«22 Diese Bestimmung Cassirers markiert den Punkt, daß Erkennen eine die Erfahrung strukturierende, ordnende Tätigkeit ist, in der Wissen dadurch entsteht, daß bestimmte Relationen ausgezeichnet und fixiert werden - etwa die Relation zwischen Gegenständen einer Art und ihren Eigenschaften oder die Relation zwischen bestimmten Umständen und ihren notwendigen Folgen. An diesen Vorgängen hat das sprachliche Urteil einen wesentlichen Anteil. Betrachten wir zum Beispiel einfache Urteile zur Unterscheidung von Gegenstandsarten der Form »Buchen un­ terscheiden sich von Eichen dadurch, daß [...]« - es folgt eine Bestimmung des Unterscheidungsmerkmals. Eine solche Unterscheidung von Gegen­ ständen erfolgt durch Festlegung bestimmter unterscheidender Merkmale. Dabei werden den Gegenstandsarten Eigenschaften zugeordnet, die für sie kennzeichnend und typisch sind, und in diesen Festlegungen werden die Gegenstandsarten zugleich auch erst geprägt. Die Unterscheidung von Arten ist nicht durch die Natur vorgegeben. Sie hängt vielmehr davon ab, welche Unterschiede Menschen relevant erscheinen. Die Relation zwischen gewissen Umständen und ihren notwendigen Folgen bringen etwa Wenn-Dann-Sätze zum Ausdruck. Sie artikulieren Erkenntnis über regelhaftes Geschehen. Generalisierungen solcher Art konstituieren Ordnungen in der Erfahrung des Prozessualen. In der Wis­ senschaft werden sie mittels Experiment und kritischer Reflexion auf Theoriebildungen systematisch entfaltet und zu einem System von kausalen und deduktiven Abhängigkeiten ausgebaut.23 Kurze Aussagen einer Wissenschaft können Ausdruck eines komplexen Wissens sein. Betrachten wir etwa den Satz aus dem Bereich der kineti-

Ebd. 22 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff\ ECW 6, 328. 23 Vgl. Cassirers Charakterisierung der Symbolform >WissenschaftsagenRepräsentation< ist aufzufassen »als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt«.26 Cassirers Repräsentationsbegriff ist als ein »>interner< Repräsentations­ begriff«27 bezeichnet worden, weil er die Repräsentationsbeziehung nicht zwischen Zeichen und Dingen der >Außenwelt< ansetzt, sondern zwischen Zeichen (oder einem Wahrgenommenen) einerseits und einem Zusammen­ hang der Bedeutungen und des Wissens andererseits. Zu vergleichbaren Aussagen über Erkenntnis, Wissen, Repräsentation ist Edmund Husserl gelangt. Intensiver als Cassirer hat er sich mit Reprä­ sentationsphänomenen in Wahrnehmungen befaßt. Er behandelt Beispiele wie das Folgende: Wir sehen einen roten Ball. Genau genommen sehen wir in einer bestimmten Perspektive eine runde oder ovale Form mit Verfär­ bungen des Farbtons. Doch wir wissen und sehen·. Vor uns ist ein Ball, eine Kugel - keine Scheibe - von gleichmäßig roter Farbe. Dieses Wissen hat Husserl in seinen frühen Schriften als »Repräsenta­ tion« bezeichnet, um es von der »Anschauung« des Gegenstands in seiner perspektivisch geprägten Form der Erscheinung abzuheben.28 In den Logi­ schen Untersuchungen spricht er schon von gegenständlicher Intention oder

24 Henning Genz: Wie die Naturgesetze Wirklichkeit schaffen. Über Physik und Realität, Reinbek bei Hamburg 2004, 141. 25 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 303. 26 A.a.O., 306, vgl. 320, 324. 27 Thomas Mormann: »Der begriffliche Aufbau der wissenschaftlichen Wirklichkeit bei Cassirer«, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie. Neue Folge, Bd. 4, Heft 4, 1997, 268-293, Zitat: 288. 28 Edmund Husserl: »Anschauung und Repräsentation, Intention und Erfüllung« (Manuskript von 1893), in: Husserliana, Bd.XXII: Aufsätze und Rezensionen (1800-1910), mit ergänzenden Texten hg. von Bernhard Rang, Den Haag 1979, 269-302; Edmund Husserl: »Psychologische Studien zur elementaren Logik« (1894), in: a.a.O., 92-123.

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von dem »intentionalen Gegenstand«, jedoch in Abgrenzung zur überlie­ ferten Auffassung, die Gegenstände der Außenwelt seien dem Bewußtsein, der Vorstellung immanent.29 Wahrnehmende wissen, daß Wahrnehmungen keine bloßen Bilder sind; sie wissen, daß sie Gegenstände außerhalb ihres Körpers wahrnehmen, da sie diese als solche körperlich erkunden können. Die Erfüllung von Gegen­ standsintentionen in Wahrnehmungen ist Husserls großes Thema - etwa die Erfüllung der Intention kugelförmiger Körper< im Abtasten und Sehen der Form. Daß die gesehene runde Form keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, kann ertastet werden. Daß rein visuell und unmittelbar eine Kugel erfaßt wird, ist auf Wissen zurückzuführen - Wissen um bestimmte Relationen in Wahrnehmungsprozessen, wie die Veränderung der Farben und der Licht-Schatten-Verhältnisse im Licht, die Veränderung der visu­ ellen Gestalt und der Licht-Schatten-Verhältnisse in der Veränderung des Betrachterstandpunkts, bei akustischen Gegenständen die Veränderung eines Tons mit zunehmender Entfernung etc. Aufgrund solchen Wissens um reguläre Formen der Erscheinung sehen wir z.B., daß eine Oberflä­ che rau ist. Genauer müßten wir sagen: Wir erkennen an der spezifischen Licht-Schatten-Struktur, daß die Oberfläche rau ist und auch in welcher Weise sie dies ist. Die Materialstruktur ist rein visuell erfaßbar. Eine »par­ tiale Anschauung« genügt, wie Husserl sagt, um den ganzen Gegenstand >präsent< zu haben. Diese >Präsenz< ist eine durch Wissen geformte Wahr­ nehmung.

29 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen (1901), Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Erster Teil, in: Husserliana, Bd.XIX/1, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984, 388. Husserl beklagt die Vieldeutigkeit des Ausdrucks >Repräsenfation< und kritisiert die auf Berkeley zurückgehende Repräsentationstheorie, die unterstellt, eine konkrete Vorstellung oder Anschauung könne repräsentativ - im Sinne von stellvertretend - für das Ganze einer Klasse von Vorstellungen oder Anschauungen der gleichen Art stehen, weil sie assoziativ mit den anderen Vorstellungen oder Anschauungen der gleichen Art verbunden sei. Dieser Repräsentationstheorie gegenüber betont Husserl die »neuartige Bewußtseinsweise« der Idee, ein individuell Konkretes als Einzelfall einer Gattung oder als ein Beispiel für den Begriff einer Gattung aufzufassen. Es handelt sich um einen neuen logischen Bezugspunkt oder Gedanken, der selbst nicht anschaulich ist - er ist ein Ordnungsgesichtspunkt gegenüber dem sinnlich Konkreten und Individuellen (a. a. O., 174 f., 177). Husserl erklärt jedoch, daß dann richtig von der repräsentativen Funktion des Anschauungsbildes gesprochen werde, wenn damit gemeint sei, daß »das Anschauungsbild in sich nur ein einzelnes der betreffenden Spezies vorstel­ lig macht, aber als Anhalt für das daraufgebaute begriffliche Bewußtsein fungiert, so daß mittels seiner die Intention auf die Spezies, auf die Allheit der Begriffsgegenstände, auf ein unbestimmt Einzelnes der Art usw. zustande kommt.« (A.a.O., 178). Diese Textpassage verdeutlicht die begriffliche Übereinstimmung mit Cassirer in puncto »Repräsentation«. Doch Husserl verzichtet zunehmend auf diesen Terminus, um Anklänge an die abge­ lehnte Auffassung der Repräsentation als Stellvertretung zu vermeiden. An dessen Stelle rücken die Ausdrücke gegenständliche Intention* oder >Bedeutungsintention< im Fall von Zeichen.

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III) Zwei Mißverständnisse

Sowohl bei Cassirer als auch bei Husserl finden sich Textstellen, die Reprä­ sentation als >Darstellung< beschreiben. Cassirer spricht von Repräsentation als der »Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen ande­ ren«30, auch von der »Darstellung einer bestimmten >Bedeutung< durch ein sinnliches >ZeichenDarstellungDarstellung geistiger In­ halten Dies schon deshalb nicht, weil das im Wahrnehmen und Zeichen­ verstehen aktivierte Wissen nicht als solches selber auch explizit bewußt wird. Wissen ist darin aktiviert, handlungsleitend, stellt sich selbst aber nicht zugleich auch dar. Wer eine Aussage aus dem Bereich der kinetischen Gastheorie versteht, dem sind nicht die Aussagen der Theorie explizit be­ wußt, mit denen der Satz in Beziehung steht. Zeichen stellen auch nicht Wirklichkeit dar. Als wirklich werden Dinge und Prozesse erfahren, inso­ fern die Erfahrung des einzelnen und besonderen Vorkommnisses in Ein­ klang steht mit der wissensbezogenen Erfahrung dessen, was als wirklich gelten kann. »Repräsentation« ist auch nicht mit >Zeichenbedeutung< gleichzusetzen nicht nur weil Repräsentationsphänomene auch in Wahrnehmungen auf­ treten. Selbst in allen Fällen des Zeichenverstehens meint »Repräsentati­ on« mehr als Zeichenbedeutung. Zeichenverstehen ist nicht möglich ohne Wissen um die Zeichenbedeutung, die Verwendung eines Wortes oder Zeichens. Doch was im Zeichenverstehen an Hintergrundwissen aktiviert wird, ist nicht nur semantisches Wissen, sondern ganzheitliches Wissen um das gesamte in Frage stehende Handlungsfeld. Semantisch mehrdeuti­ ge oder inkorrekte Aussagen, wie die Aussage einer Kellnerin »Das Sand­ wich drüben möchte zahlen«, können überhaupt nur adäquat verstanden werden, weil ein solches Wissen aktiviert wird. Linguisten sprechen in dem Fall gerne von >WeltwissenWeltwisseneinfache< Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein >Etwas< im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein >Anderes< und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsgan­ ze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und >Präsenz< des Inhalts nennen.«34 In dieser und in anderen ähnlichen Aussagen läßt Cassirer unbestimmt, was als >Bewußtseinsganzes< zu denken ist. Die kritischen Debatten der letzten Jahrzehnte um den epistemischen und semantischen Holismus ha­ ben deutlich gemacht, daß holistische Positionen sich nicht mit der Feststel­ lung eines Netzes von Beziehungen begnügen können, sondern Aussagen dazu machen müssen, wie das Netz gestrickt ist.35 Auf Psychologie ist nicht auszuweichen, denn »Repräsentation« ist kein psychologischer Begriff.

IV) Wie wird Wissen repräsentiert - welches Wissen wird repräsentiert?

Den Weg einer Antwort hat Husserl gewiesen. Der phänomenlogischen Methode entsprechend ging er von psychischen Phänomenen aus, um zu epistemologischen Fragen und Aussagen zu gelangen. Husserl machte zwei wichtige Beobachtungen: 1. Die in Wahrnehmungen aktivierten, auf den Gegenstand bezogenen Inten­ tionen haben in einem spezifischen Sinn den Charakter des Unbestimmten:

Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation: Cognitve Science, Neurowis­ senschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, Dordrecht 2006, 247-261. 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 30 f. 35 Martina Plümacher: »Holismus und Bestimmtheit der Bedeutung. Edmund Husserl und Ernst Cassirer zu >Repräsentation»WeltwissenReligionKunstWissenschaft< und >Technik< markieren unterschiedliche Formen der Handlung, der Ziel- und Zwecksetzung in der menschlichen Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Auch diese Unterscheidungen sind in Erkenntnisprozessen implizit mit im Spiel. Sie bilden Rahmungen für das jeweils in diesen Prozessen aktivier­ te Wissen (das sich in den Erkenntnisprozessen bestätigt oder verändert, weil es korrigiert, ergänzt und modifiziert wird). Ordnungen des Wissens gestalten sich infolge von Unterscheidungen, die in der Reflexion auf Erkenntnis, Denken und Handeln gemacht wer­ den. Husserl und Cassirer thematisieren unterschiedliche Formen basaler Unterscheidungen, die Horizonte oder Rahmen für Repräsentationen sind. Wie eine spezielle Gegenstandswahrnehmung und Gegenstandserkenntnis in diesen Horizonten erfolgt, hängt von feinkörnigeren Ordnungen ab, die sich im Wissenserwerb, in den Debatten um Theorien und Interpretatio­ nen bilden und verändern.

1952, 218; Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 219-231. 40 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, Kap. 6, bes. 298. 41 Ich beziehe mich auf Cassirers Ausführungen zur Ordnung des Wissens (a.a.O., insb. Kap. 6). Danach sind die Gegenstände der Erkenntnis den Theorien zugeordnet, in deren Rahmen sie thematisiert und entwickelt wurden; die Theorien wiederum sind einem bestimmten historischen Kontext zuzuordnen. Explizit von Indizes spricht Cassirer im Hinblick auf die jeweiligen »Modalitäten«, die den apriorischen Relationen des Raumes, der Zeit, der Kausalität hinzuzufügen seien zur Kennzeichnung der besonderen Form, in der Ordnungen des Raumes, der Zeit oder der Kausalität entwickelt bzw. thematisch werden. (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 29).

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2. Die zweite wichtige Beobachtung Husserls betrifft das Verhältnis von Bewußtem und potentiell Bewußtem oder implizitem Wissen. Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, bedenken wir nicht den Rahmen oder die Perspektive, in dem wir ihn wahrnehmen, ebenso nicht den Wissenshin­ tergrund. Das im Wahrnehmen Bewußte, ein Gedanke vielleicht, ist nur ein Teil dessen, was als Gegenstandsintention im Spiel ist. Husserl spricht von »Horizonten«, in denen etwas bewußt ist - gemeint sind thematische und kategoriale Rahmen der Intentionen, die im Hintergrund des Bewuß­ ten sind42, - und er spricht von einem »Hof« des potentiell Bewußten, der das Bewußte umgibt. Dieses sind Gedanken oder Vorstellungen, die mit dem aktuell Bewußten enger verbunden sind und gegebenenfalls be­ wußt werden könnten. Husserl wählt den Ausdruck >potentiell bewußt< mit Bedacht, denn Subjekte können intentionale Horizonte auslegen und Potentialitäten explizieren.43 Das potentiell Bewußte ist kein unzugängli­ ches Unbewußtes. Subjekte müssen das Wissen im Hintergrund des Bewußten nicht be­ wußt präsent haben und sie müssen es nicht explizieren, um handlungsfä­ hig zu sein. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Eine Schneiderin wählt einen Stoff aus; zielstrebig wählt sie zwischen mehreren Regalen, die mit Stoffballen gefüllt sind. Sie muß nicht bewußt daran denken, daß es ein Stoff sein sollte, der leicht gewebt ist und leicht wirkt, aber Gewicht hat, so daß er den Körper eng umspielt. Sie weiß, welche Art des Stoffes sie braucht und denkt vielleicht über die richtige Farbe nach, um zwischen mehreren passenden Stoffen den richtigen zu bestimmen. Würde sie ge­ fragt, warum sie diesen Stoff wählt, könnte sie einiges über die Kriterien ihrer Wahl sagen und ihr Wissen explizieren, vorausgesetzt, sie ist im Erklärungen-Geben geübt.44 Das Wissen im Hintergrund ist insgesamt nicht explizierbar dadurch, daß Überzeugungen über das, was der Fall ist, etwa in Form von Propo­ sitionen aufgelistet werden. Diese Vorstellung der Explikation des Hinter­ grundwissens ist jedoch im Rahmen der Debatten um den semantischen

42 Husserl: CartesianischeMeditationen, 82 £; ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, 57 £, 185; ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, 218; ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 19, 215, 258 f.; ders.: Erste Philosophie, Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (1923/1924), in: Husserliana, Bd. Vili, hg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1959, 86, 147 £, 150; ders.: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939), redigiert und hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, 28 £, 35. - Vgl. dazu Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 219-225. 43 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Erstes Buch, 72 £, 185 ff., 257. - Eine vergleichbare Aussage Cassirers zum Bewußtsein findet sich in Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 38 £ 44 Ryle weist auf die Bedeutung des letzteren hin: Gilbert Ryle: The Concept ofMind [1949), Reprint, London 1963).

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und epistemischen Holismus vertreten worden. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb eine solche Explikation kaum Sinn macht. Der wichtig­ ste Grund ist, daß die das Hintergrundwissen rahmende und Repräsenta­ tionen ermöglichende und bestimmende Ordnung im Wissen nicht selbst explizit zum Vorschein kommt. Das hängt auch damit zusammen, daß das potentiell Bewußte und Naheliegende noch nicht der Wissenshorizont ist.

V) Wissensordnungen als Hintergrund von Repräsentationen

Die Ordnungen des Hintergrundwissens sind im Normalfall des Denkens und Handelns nicht explizit bewußt. Dennoch sind sie keine Fiktion. Dies wird deutlich, sobald wir uns die Frage stellen, wie es zu denken ist, daß wir auf Situationen und Zeichen passend reagieren. Situationserfassung und Zeichenverstehen sind nicht zurückzuführen auf eine bloß assoziative Akti­ vierung von Wissen und Bedeutung.45 Anknüpfungspunkt für Assoziation kann alles sein, was in irgendeiner Hinsicht mit anderem ähnlich ist oder als >Brücke< zu einem anderen Inhalt überleitet. Assoziative Formen des Denkens treten häufig auf, sind jedoch in den meisten Kontexten nicht handlungsrelevant. Eine Ausnahme bilden etwa Kontexte der Kunst. Lei­ teten uns bloße Assoziationen im Handeln, würde unsere Welt chaotisch sein. Die zielgerichtete Umsetzung komplexer Handlungs Strategien wäre nicht gegeben. Die passende Reaktion auf Situationen und Zeichen ist auch nicht mit der Verinnerlichung von Konventionen zu erklären. Habitualisiertes spielt zwar eine wichtige Rolle im Verhalten. Die Kreativität des menschlichen Verhaltens ist jedoch der Punkt, den man im Rekurs auf Habitualisierungen intellektuell nicht in den Griff bekommt. Passend reagieren zu können, z.B. in einer gegebenen Situation, in einer philosophischen Debatte oder bei der Suche nach dem Grund, weshalb der Internetzugriff plötzlich nicht mehr funktioniert, erfordert die Aktivie­ rung eines bestimmten Teils des Wissens. Das ist einerseits selbstverständ­ lich, andererseits aber auch etwas Besonderes, wenn wir uns nämlich klar machen, wie viel Menschen im Grunde wissen. Das umfangreiche Wissen, auch über Details, steht uns niemals in Gänze zur Verfügung und selbst in Teilen nicht zu jeder Zeit (und muß das glücklicherweise auch nicht). Es ist ein besonderes Merkmal unserer Kognition, daß wir kontextbezogen denken. Wir müssen sogar gezielt Kontexte wechseln, um zu einem Thema

45 Cassirer entwickelte seine Positionen in der kritischen Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie, dazu Martina Plümacher: »Philosophical Research on Cognition«, in: Synthese 2011, 153-167.

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unser diesbezügliches Wissen aktivieren und das Thema in verschiedenen Richtungen durchdenken zu können. Um ein Beispiel zu geben: Wir den­ ken über die Situation der Philosophie in Deutschland nach, im Kontext der allgemeinen Situation der Hochschulen, insbesondere unter den Be­ dingungen der so genannten Hochschulreformen, und wir wechseln dann den Kontext etwa mit der Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß un­ ter diesen Bedingungen noch vergleichsweise gute Forschungen zustande kommen. Zum Zuge kommen dann Fragen wie zum Beispiel die, was For­ schung in der Philosophie ist, was Maßstäbe setzt, wer sie setzt... Zu den Merkmalen unserer Kognition gehört nicht nur, daß Wissen in Teilen aktivierbar ist, sondern auch, daß beim Wechsel der thematischen Rahmen und Perspektiven ein sinnvoller Zusammenhang der verschiede­ nen Aspekte besteht oder aber entwickelt wird. Beide Merkmale setzen stets bereits eine Organisation im Kognitiven voraus, in der diese Bedin­ gungen erfüllt sind: Segmentierbarkeit der Wissensbestände einerseits, epistemische Zusammenhänge im Sinne einer Ordnung der Wissensbe­ standteile andererseits. Diese Ordnung ist nicht nur als eine Ordnung zu denken, die Orientierung im Ontologischen erlaubt. Sie muß auch Ori­ entierung im Handeln ermöglichen, d. h. Zugriff auf Wissen erlauben in Bezug auf das, was zu tun ist und wie weit man damit kommen kann. Wissensordnung ist nicht als eine eindimensionale Ordnung zu denken, insbesondere nicht nur als Ordnung der Gegenstände und der disziplinä­ ren Zugriffe auf sie. Zur Wissensordnung gehört Ordnung im Hinblick auf epistemische Geltung, Geltungsbereiche, Handlungsfelder, Ziele und Zwecke von Handlungen. Diese Ordnungen werden geschaffen, kommuniziert und in Geltung gesetzt durch klare Unterscheidungen, was wohin und wozu gehört. Die Philosophie bietet dafür zahlreiche Beispiele; es ist geradezu ihr Geschäft, Ordnungen im Denken zu vermitteln. Aber auch im nichtphilosophischen Alltag werden Ordnungen aktiviert und kommuniziert, die Ordnungen im Wissen sowohl ausdrücken als auch prägen: Man denke an Gespräche, wer für welches Problem beruflich zuständig ist, welche Methode man zu welchem Zweck verwendet, welche Fälle eine allgemeine Regel abdecken und welche nicht, was Begriffe beinhalten und wie sie von anderen Begrif­ fen zu unterscheiden sind. Man verständigt sich z.B. auch darüber, in wel­ cher Perspektive und von welcher Grundlage aus man argumentiert, und man klärt damit zugleich etwa auch, wie sich Perspektiven und Prämissen-Folgerungsbeziehungen voneinander unterscheiden oder aufeinander beziehen oder aber beides, sich sowohl unterscheiden als auch aufeinander beziehen.

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VI) Wissen in Repräsentationen »Repräsentation« ist im Verständnis Cassirers und Husserls Aktivierung von Wissen. Wir können von »mentaler Repräsentation« sprechen, voraus­ gesetzt, daß damit nicht behauptet wird, das Repräsentierte müsse gänzlich bewußt sein. Die Bezeichnung »mentale Repräsentation« bietet sich an, um von diesem RepräsentationsVerständnis das andere zu unterscheiden, dasje­ nige, das Zeichen und Zeichensysteme in den Blick nimmt. Der Ausdruck >Wissen in Repräsentationen< kann nicht nur bedeuten, daß ein bestimmter Teil des Wissens in Repräsentationen aktiviert ist. Er beinhaltet auch, daß sich Wissen in Repräsentationen artikuliert. Im zweiten Fall haben wir es mit einem anders ausgerichteten Repräsentationsbegriff zu tun. Er geht zurück auf die zuerst von Leibniz formulierte Einsicht, daß menschliche Erkenntnis und menschliches Wissen der Artikulation in Zeichen bedürfen. Zeichen und Zeichensysteme bringen Erkenntnis zum Ausdruck. In diesem Sinn repräsentieren sie Erkenntnis - doch stets nur für Subjekte, die in der Lage sind, die Zeichen zu verstehen. Gäbe es nie­ manden mehr, der unsere Bücher und Bilder verstünde, hörten sie auf, Erkenntnisse zu repräsentieren. Die Blickwendung auf Zeichensysteme und Zeichen als Formen der Ar­ tikulation von Erkenntnis rückt die Medien der Erkenntnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sich auf Leibniz berufend hat Cassirer nachdrück­ lich betont, daß Zeichen nicht bloß als Mittel zur Kommunikation von zuvor bereits gefaßten Gedanken zu verstehen seien, sondern als »Organe« des Denkens.46 In der Gestaltung von Zeichen und Zeichensystemen, dar­ unter auch Apparaturen, gestaltet sich menschliche Erfahrung. Es han­ delt sich nicht um Abbildungen des Wirklichen, sondern um Medien der Orientierung im Handeln, Medien der praktischen Auseinandersetzung mit Wirklichem. Selbst ein Gebäudeplan, von dem gesagt wird, er sei eine strukturelle Abbildung eines Gebäudes, stellt genau genommen nicht das Gebäude dar. Er dient Menschen zur Raumorientierung. Das Zeichensy­ stem der Raumabbildung ist Ausdruck und Medium einer Raumorientie­ rungsfähigkeit, die nicht mehr auf einzelne spezielle Gegenstände als mar­ kante Orientierungswerte angewiesen ist. Cassirer hat sich im dritten Band der Philosophie der symbolischen For­ men in einem langen, fast hundert Seiten umfassenden Kapitel »Zur Patho­ logie des Symbolbewußteins« mit den kognitiven Fähigkeiten beschäftigt, die durch Zeichensysteme aufgebaut werden. Bemerkenswert ist sein Hin­ weis darauf, daß diese Systeme nicht nur die Ablösung der Orientierung vom Lebensnahen und Konkreten ermöglichen, sondern eine Flexibilität

46 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 16.

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im Denken dadurch ermöglichen, daß das Wissen um relationale Ordnun­ gen einen Wechsel der Perspektiven erlaubt.47 Systeme der Raumdarstel­ lung, Mathematik und andere Systeme relationaler Ordnungen, z.B. das Periodensystem der chemischen Elemente, aber auch Unterscheidungen historischer Epochen, sind >KoordinatensystemefestgestelltReaktionenRepräsentationWeltwissenkopernikanische Wende der Objektivität und als den Beginn eines >neuen wissenschaftlichen GeistesRealität< nennen, und versteht sich als phénoménothechnique, als Herstellung des für uns Wirklichem. Nicht anders als Cassirer warnt Bachelard vor der »Verführungskraft der Substanzvorstellungen«1 und betont den funktionalen Charakter unserer Begriffe. Ernst Cassirer, Zeitgenosse Bachelards, schreibt 1921 in seinem Buch Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, wir stünden in dem Moment, in dem das Denken die Form der >einfachen< Grund- und Maßverhältnisse verändert habe, vor ei­ nem neuen Weltbilde Was ist der gemeinsame Nenner der Philosophie der symbolischen For­ men und der Epistémologie, was das Übereinstimmende im Denken der beiden Theoretiker, die sich nicht gekannt haben und sich nicht aufeinan­ der bezogen haben? Es ist dieses, nicht zuletzt aus der Analyse der moder­ nen Wissenschaften gewonnene Prinzip: Etwas von der Welt wissen kann gemäß der nachkantischen zweiten Kopernikanischen Wende nicht bedeu­ ten, einen Gegenstand, ein Ereignis, eine Tatsache in der Weise zu wissen, wie sie der Alltagsverstand spontan unterstellt - in der Weise, wie fraglos hingenommene Gegenstände, Ereignisse und Tatsachen >nun einmal sindRealität< entstehen in Transformationen in die uns erscheinende Wirklichkeit - in Kulturen, in Zeichen und Symbolen, in de­ nen Menschen ihre jeweiligen Welten entsprechend ihren Selbstbegriffen interpretieren und verstehen. Was meinen wir, wenn wir sagen, wir hätten etwas erkannt und wüß­ ten es? Wissen ist ein Ergebnis von Erkennen. Von Gewißheit sprechen wir, wenn wir von der Wahrheit des Erkannten überzeugt sind. Wie aber sprechen wir sinnvoll von Wahrheit, wenn wir der Annahme einer durch das Sein selbst garantierten Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Aussage kein Vertrauen mehr schenken? Die moderne Kritik der Möglich­ keitsbedingungen von Wissen hat zur Einsicht geführt, daß Aussagen kei­ ne Kopien des zu Erkennenden sind, sondern mit Voraussetzungen gelade­ ne Artefakte', geladen mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und In­ teressen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugt­ seins, des Wünschens und Befürchtens, kurz: mit Überzeugungen. Nicht zu vergessen ist eine weitere Voraussetzungsdimension - das Nichtwissen, dessen Wirkung sich im Wissen nicht offen zeigt.

1 Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt/M. 1988, 201.

Sandkühler · Kritik der Gewißheit

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Die heute gängige Standarddefinition von >Wissen< lautet: Wissen ist ge­ rechtfertigte wahre Überzeugung (justified true belief). Statt von Definition ist eher von Problem und Forschungsprogramm zu sprechen. Bevor wir nicht wissen, was Überzeugungen sind, wie die Wahrheit von Überzeu­ gungen bestimmt werden kann und was die Mittel und Wege der Recht­ fertigung sind, kann von einer Aufklärung über Wissen kaum gesprochen werden. Das erkennende Subjekt wählt eine bestimmte Alltagsanschauung der Welt und in Philosophie und Wissenschaft ein bestimmtes epistemolo­ gisches Profil; es trifft die Wahl, Realist, Idealist, Naturalist etc. zu sein; S2 wählt eine andere Weitsicht, ein anderes Profil, S3 ein bestimmtes Begriffs­ schema, S4 eine bestimmte Rahmentheorie, S5 eine bestimmte Methodolo­ gie. Die Wahl hat Kontexte: Traditionen, Kulturen, Lebensbedingungen, arbeitsteilige Spezialisierungen, Opportunitäten etc.; sie ist nicht un-be­ dingt frei. Jede Wahl hat Folgen. Der metaphysische Realist, der von einem direkten Bezug der Aussage zu Gegenständen, Ereignissen etc. ausgeht, kommt zu einem anderen Ergebnis als der interne Realist, der die Ab­ hängigkeit seines Denkens und seiner Aussagen von einem semantischen und semiotischen Netzwerk, von einem Zeichen- und Beschreibungssy­ stem, einräumt. Interne Realisten - wie in einem weiten Sinne Cassirer und Bachelard - sind davon überzeugt, mit dem faktischen Pluralismus der symbolischen Formen und der Vielfalt der Theorien leben zu müssen und leben zu können.

II) Wissen können - oder Das menschliche Maß

Der anthropos-metron-SdXz des Protagoras, aller Dinge Maß sei der Mensch - des Seienden, daß (wie) es ist, des Nichtseienden, daß (wie) es nicht ist - bildet seit der Sophistik, der ersten europäischen Aufklärung, den Kern­ gehalt erkenntniskritischer Philosophien. Er bringt zum Ausdruck, wie Menschen wissen können: »Der Einwand des Gorgias: >es redet der Redende, aber nicht Farbe oderDingobjektive< Wirklichkeit durch die >subjektive< ersetzen. In dieser letzteren herrscht durchgängig Individualität und höchste Bestimmtheit.«2 Zu den Intuitionen des Alltagsverstandes gehört der homo-mensura-SzAz nicht. Die habitualisierten Intuitionen unseres Alltagsbewußtseins - auch

2 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki [im fol­ genden ECW], Bd. 11, Hamburg 2001, 134f. (Hervorhebung HJS).

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in den empirischen Wissenschaften - kommen mit einem naiven Realis­ mus34aus: Es steht uns beim Erkennen eine fertige äußere Dingwelt gegen­ über, die wir nur noch in Worte zu fassen haben. Kontraintuitiv ist auch der Einwand des Gorgias. Dem Alltagsverstand widerstrebt die Annahme des epistemischen Perspektivismus und Pluralismus *, es gebe eine Vielzahl mög­ licher subjektiver Zugänge zur Natur, zu Kultur und Geschichte und zum Selbst - Perspektiven in Relation zur Lebenswelt, zu praktisch-sozialen Kontexten und Wissenskontexten. Tatsächlich aber gehört es zu den epi­ stemischen Voraussetzungen, daß die Dingwelt kein Wissen oktroyiert und man epistemologische Profile (Gaston Bachelard) wählen kann. Es gibt keine bedeutungsvollen Nachrichten eines Absenders mit dem Namen >Sein/Seiendesobjektiven< Zugang zur Realität. Ein Beispiel neben Cassirer und Bachelard ist A.N. Whitehead, der in Modes of Thought (1936) betont, daß die Sinneswahrnehmung die Daten nicht so zur Verfügung stellt, wie wir sie interpretieren.9 In Erkenntnis und Spra­ che, in Zeichen und symbolischen Formen, durch Experiment, Messung und Dateninterpretation, wird die vermeintlich objektiv gegebene Realität zu jener Wirklichkeit, wie Menschen sie nach ihrem Maß interpretieren und verstehen können.

6 Zum »semantischen Aufstieg der Wahrheit und wahrheitstheoretischen Abstieg der Außenwelt« vgl. Thomas Hoffmann: Welt in Sicht. Wahrheit - Rechtfertigung - Lebensform, Weilerswist 2007, 44-74. 7 Rudolf Carnap: Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, 71. Vgl. auch über »Die seltsame Erfindung einer >AußenWelt außerhalb von uns< ist das Ergebnis desselben Irrtums, aufgrund dessen die Vorstellung vom >Anderen< mit derjenigen des >Objekts< verwechselt wird.« Valerio Meattini: Der Ort des Verstehens, Frankfurt/M. u.a. 2007, 77. 9 Alfred North Whitehead: Denkweisen, hg., übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer, Frankfurt/M. 2001, 165.

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Diese Annahme ist keine Erfindung von Philosophen; sie wurde vor allem durch die Entwicklung der positiven Wissenschaften befördert, und dies bereits seit den 1860er Jahren, wie L. Boltzmanns erkenntnistheoreti­ sche Interpretation von Maxwells elektromagnetischer Lichttheorie zeigt. Sie trägt einem Neuen Rechnung: Eine Gruppe von Erscheinungen läßt sich auf verschiedenen Arten gleich gut erklären (Licht als Welle, Licht als Korpuskel). Boltzmann beruft sich - wie später Cassirer - auf H. Hertz, der den Physikern bewußt gemacht habe, was den Philosophen längst klar gewesen sei: »daß keine Theorie etwas Objektives, mit der Natur sich wirklich Deckendes sein kann, daß vielmehr jede nur ein geistiges Bild der Erscheinungen ist, das sich zu diesen verhält wie das Zeichen zum Bezeich­ neten«.^ Die neue intellektuelle Kultur des Zeichen-Welten-Pluralismus relativiert frühere Evidenzen. Es ist genau dieses Problem, in dessen Zusammenhang das Theorem zu diskutieren ist, das nur scheinbar selbstverständlich ist: Wissen ist gerecht­ fertigte wahre Überzeugung. Was dieser Satz mit definitorischem Anspruch behauptet, hat ein anderer Zeitgenosse, L. Wittgenstein, in seinen späten Aufzeichnungen Über Gewißheit als Problem erkannt. Er spricht von ei­ nem »Naturgesetz des >Fürwahrhaltenswissen< vom Begriff >sicher sein< ist gar nicht von großer Wich­ tigkeit, außer da, wo >Ich weiß< heißen soll: Ich kann mich nicht irren. [...] >Ich weiß ...< scheint einen Tatbestand zu beschreiben, der das Gewußte als Tatsache verbürgt. Man vergißt eben immer den Ausdruck >Ich glaubte, ich wüßte esSprachspiel< oder >Begriffsschema-Relativität< reagiert.10 12 Es geht um Brücken, über die das 11 Erkennen zur Wirklichkeit kommt. Eine Wittgensteinsche Variante lau­ tet: »Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserm Bezugssy­ stem.«13 Statt zu sagen, wie Realität fst, sollten wir über die Wirklichkeit sagen, daß sie in offenen intentionalen (gerichteten), engagierten Akten von Er­

10 Ludwig Boltzmann: «Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit« (1889), in: Hansjochen Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822-1958), Berlin/Heidelberg/New York 1987, 212. 11 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, in: ders.: Werkausgabe, hg. von G. Elizabeth Μ. Anscombe/Georg Henrik von Wright, Bd. 8, Frankfurt/M.1989, 120f. 12 Zu conceptual relativity vgl. Hilary Putnam: Für eine Erneuerung der Philosophie, übers, von Joachim Schulte, Stuttgart 1997, 158. Zu Begriffsschemata vgl. Silvia Freudenberger: Erkenntniswelten. Semiotik, analytische Philosophie, feministische Erkenntnistheorie, Paderborn 2004, 86-138. 13 Wittgenstein: Über Gewißheit, 136.

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kenntnissubjekten wird. Denn Wirklichkeit entsteht als »Korrelat des Gei­ stes in einem Weltbild, das in charakteristisch menschlichen Verständnis­ kategorien entworfen ist.«14 Die Ordnungen des Erkannten entsprechen den Ordnungen des Erkennens. >Pluralismus< ist der Name für die faktische Verschiedenheit menschlicher Erfahrung und der Wege zum Wissen.15 Der epistemische Pluralismus entspricht der auch von Cassirer beschriebenen wissenskulturellen Situation, in der die Referenz von Wahrnehmung, Er­ fahrung, Beobachtung und Wissen und die Tatsachen der Empirie nicht mehr mit der Annahme begründet werden können, daß sich eine objektive materielle Welt durch Repräsentationen im Kopf der Menschen in Geisti­ ges übersetzt. Es ist vielmehr »die Metamorphose zu erklären, durch wel­ che die Erscheinung aus einem bloßen Datum des Bewußtseins zu einem Inhalt der Realität, der >AußenweltKritik< stamme ab von >krites, juge, estimateur, arbitrer (Richter, Beurteiler, Schiedsrichter) und bezeichne das begründete Urteil des >bon jugeKritik< bezeichnet das Vermessen eines Möglichkeitsraumes, d. h. hier: die Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen. Zu denen, die sich dieser Kritik nach Kant gewidmet haben, gehören Cassirer und Bachelard.

III) Sein und Symbol - Zu Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis19 Ernst Cassirers Spätwerk An Essay on Man (1944) setzt ein mit Kants Fra­ ge »Was ist der Mensch?« Die Eröffnungspassage ist ein philosophisches Selbstzeugnis der Gründe intellektuellen Engagements gegen Dogmatis­ mus, gegen zu gewisse Wahrheiten, aber auch gegen Resignation vor dem scheinbar unausweichlichen Verfall von Aufklärung und Rationalität. Cassi­ rer notiert zur >Krise der menschlichen Selbsterkenntnis^ »That self-know­ ledge is the highest aim of philosophical inquiry appears to be generally acknowledged«. Dies hat gerade die Skepsis nicht geleugnet: »In the history of philosophy scepticism has very often been simply the counterpart of a resolute humanism. By the denial and destruction of the objective certainty of the external world the sceptic hopes to throw all the thoughts of man back upon his own being. Self-knowledge - he declares - is the first pre­ requisite of self-realization. We must try to break the chain connecting us with the outer world in order to enjoy our true freedom.«20 Der skeptische Zweifel ist bei Cassirer habituell; zugleich diskutiert er die Skepsis als epistemologisches Problem: »Um die Operation des Ausdrucks rein hervortreten zu lassen, muß der Inhalt, der als Zeichen dient, mehr und mehr seines Dingcharakters entkleidet werden; damit aber scheint zugleich die objektivierende Bedeutung, die ihm zugesprochen

19 Zu einer Gesamtdarstellung der Philosophie Cassirers siehe Hans Jörg Sandkühler/ Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003. 20 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 5.

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wird, ihren Halt und ihre beste Stütze zu verlieren. So droht die Theorie der Repräsentation immer von neuem der Skepsis zu verfallen: Denn wel­ che Gewißheit besteht dafür, daß das Symbol des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen?«21 Aus dem Verlust an Gewißheit entsteht die Überzeugung von der Notwendig­ keit einer kritischen Philosophie im Dialog aller menschlichen Kulturen und von der Möglichkeit eines Pluralismus, der weder kulturell noch poli­ tisch-ethisch zu heillosem Relativismus führt. Was Cassirers Philosophie der Erkenntnis und des Wissens auszeich­ net, ist die konsequente epistemologische Aufdeckung der Relationalität und in diesem Sinne: Relativität - aller Erkenntnis und des Wissens, auch in den Wissenschaften. Dies ist bereits ein wesentliches Merkmal in Das Erkenntnisproblem (1. Bd., 190 6).22 In Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) spitzt Cassirer zu: »Die schärfere Fassung des Prinzips der Relati­ vität der Erkenntnis stellt dieses Prinzip nicht als eine bloße Folge aus der allseitigen Wechselwirkung der Dinge hin, sondern erkennt in ihm eine vorausgehende Bedingung für den Begriff des Dinges selbst. Hierin erst besteht die allgemeinste und radikalste Bedeutung des Relativitätsgedan­ kens«.23 Noch einmal in einer Variation: »Die Wahrheit des Gegenstands [...] hängt an der Wahrheit [bestimmter] Axiome und besitzt keinen ande­ ren und festeren Grund. Es gibt somit freilich im strengen Sinne kein ab­ solutes, sondern immer nur relatives Sein: Aber diese Relativität bedeutet ersichtlich nicht die physische Abhängigkeit von den einzelnen denken­ den Subjekten, sondern die logische Abhängigkeit vom Inhalt bestimm­ ter allgemeingültiger Obersätze aller Erkenntnis überhaupt.«24 Es bliebe »ein Zirkel, die Relativität der Erkenntnis aus der durchgängigen Wech­ selwirkung der Dinge erklären zu wollen, da ebendiese Wechselwirkung vielmehr nur einer jener Relationsgedanken ist, die die Erkenntnis in das sinnlich Mannigfaltige hineinlegt, um es damit zur Einheit zu gestalten«.25 Das Problem der Relationalität/Relativität ist mit dem der Subjektivität und Perspektivität von Erkenntnisbedingungen und -Interessen und von Bedeutungen verknüpft: »die schlechthin >standpunktfreie< Betrachtung philosophischer Probleme [...] erweist sich bei näherem Zusehen nicht so­ wohl als Ideal, denn als Idol«.26

21 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6, 305f. 22 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren 'Zeit. Erster Band (1906, 1911, 1922), in: ECW 2, X, 3 und passim. 23 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff ECW 6, 330. 24 A.a.O., 321. 25 A.a.O., 331. 26 Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), in: ECW 17, 15.

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Skepsis als Hoffnung auf Autonomie - dies gehört zur Mentalität einer Kultur, die metaphysische Gewißheiten verloren hat.

III. 1) Erkenntnistheorie im Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kulturen der Erkenntnis Cassirer entwirft die Philosophie, die vor allem mit seinem Namen verbun­ den ist - die Philosophie der symbolischen Formen - im Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur.27 In ihrem Kern ist die Philosophie der symbolischen Formen eine kritisch-idealistische und antinaturalistische Philosophie des Geistes. In diesem Rahmen konzipiert Cassirer eine neue Theorie der Erkenntnis und des durch Zeichen- und Symbolgebrauch zu­ stande kommenden Wissens. Um dem Anspruch einer »methodische[n] Grundlegung der Geisteswissenschaften« gerecht zu werden, grenzt sich die Philosophie des Geistes von der traditionellen Erkenntnistheorie ab, die einer »prinzipiellen Erweiterung« bedarf.28 Cassirer wird auf dem Wege von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur letztlich zu einer Neube­ stimmung auch der Erkenntnistheorie kommen, weil es ihm um eine Theo­ rie der »Grundformen des >Verstehens< der Welt« geht: »ErkenntnistÄeor/e ist im Grunde nichts anderes als eine Hermeneutik der Erkenntnis.«29 Die neue Theorie der Erkenntnis, die den Spuren Kants folgt und über Kant hinausgeht> formuliert als >Theorie der geistigen Ausdrucksformem demgegenüber ein ganz anderes Prinzip: »Das echte >Unmittelbare< dürfen wir nicht in den Dingen draußen, sondern wir müssen es in uns selbst suchen.«30

III. 2) Erkenntnistheorie als Phänomenologie der Erkenntnis Cassirer arbeitet nicht an einer spekulativen Erkenntnistheorie, sondern an einer Phänomenologie der Erkenntnis. In einer späteren bilanzierenden Posi­ tionsbestimmung betont er unter dem Titel >Zur Logik des Symbolbegriffs< 1938: »Die Philosophie der symbolischen Formen will keine Metaphysik

27 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 9. Vgl. Martina Plümacher/Volker Schürmann (Hg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt/M./Berlin/Bern 1996. - >Kritischer Idealismus< und Philosophie der Kultur< gebraucht Cassirer synonym. 28 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, VII. 29 Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995ff., [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, 165. 30 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 26.

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der Erkenntnis, sondern eine Phänomenologie der Erkenntnis sein. Sie nimmt dabei das Wort: >Erkenntnis< im weitesten und umfassendsten Sinne. Sie versteht darunter nicht nur den Akt des wissenschaftlichen Begreifens und des theoretischen Erklärens, sondern jede geistige Tätigkeit, in der wir uns eine >Welt * in ihrer charakteristischen Gestaltung [...] aufbauen. Demge­ mäß will die Philosophie der symbolischen Formen nicht von vornherein eine bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und ihren Grundeigenschaften aufstellen, sondern statt dessen, in geduldiger kriti­ scher Arbeit, die Arten der Objektivierung erfassen und beschreiben, wie sie der Kunst, der Religion, der Wissenschaft eigen und für diese charakteri­ stisch sind.«31 Angesichts der Pluralität der Objektivierungen verliert der Glaube, »die Realität unmittelbar zu erfassen und zu besitzen«, der »jeder Form der Wahrnehmung an- und eingeboren ist«, seine Gewißheit.32 Aufgrund der mit dem Gebrauch von Zeichen und Symbolen gewonne­ nen Freiheit entsteht, so zeigt Cassirer, eine asymmetrische Relation zwi­ schen der >Welt * des common sense, >in der wir erkennens und der von uns objektivierten Welt, >die wir erkennengegebene< Realität mißversteht.33 Wir gewinnen desto mehr an phänomenaler Welt und maximieren die Men­ schenähnlichkeit der von uns objektivierten und interpretierten Welten. Das Wissen ist weder ein Teil des Seins noch dessen Abbildung. Nicht anders als bei Bachelard ergibt sich hieraus aber kein ontologischer und epistemologischer Anti-Realismus; auch der >interne< Realismus ist ein Realismus: Dem Wissen wird »die Beziehung auf dieses Sein so wenig ge­ nommen, daß sie vielmehr in einem neuen Gesichtspunkt begründet wird. Denn die Funktion des Wissens ist es, die jetzt den Gegenstand, nicht als absoluten, sondern als durch eben diese Funktion bedingten, als Gegen­ stand in der Erscheinung * aufbaut und konstituiert«.34 Cassirers eigenes Leitmotiv war von früh an: »Die Auflösung des Gegebenen * in die reinen

31 Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22, 117f. (Hervorhebung HJS). Cassirer diskutiert hier Einwände Marc-Wogaus, man könne aus dem Kreis der Formen nie heraustreten, wenn alle Objektivität nicht anders als in sym­ bolischen Formen präsent sei. 32 A.a.O., 149f. 33 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff ECW 6, 242. Im Rückgriff auf Rickert schreibt Cassirer: »was unsere Kenntnis der Tatsachen zu befestigen und zu er­ weitern schien, das entfernt uns vielmehr immer weiter von dem eigentlichen Kern des tatsächlichem. Das begriffliche Verständnis der Wirklichkeit kommt der Vernichtung ih­ res charakteristischen Grundgehalts gleich«. Zu Rickerts Theorie der naturwissenschaft­ lichen Begriffsbildung vgl. 241 ff.; zu dessen Theorie der Kulturwissenschaften vgl. ders.: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2, 156ff. 34 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 5.

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Funktionen der Erkenntnis bildet das endgültige Ziel und den Ertrag der kritischen Lehre.«35

III. 3) Von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen Cassirer hat seine Theorie des Funktionsbegriffs, der »in sich zugleich das allgemeine Schema und das Vorbild [enthält], nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet«36, zunächst in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) in Aus­ einandersetzung mit dem Aristotelischen >Begriffsrealismus< entwickelt. Der eigentliche Ausgangspunkt der antimetaphysischen Funktionstheorie ist die Analyse der »logische [n] Natur der reinen Funktionsbegriffe« im System der modernen Mathematik. Im mathematischen Denken findet Cassirer die Be­ stätigung dafür, daß das menschliche Erkennen nicht von >Gegenständen< de­ terminiert wird, die als substanzielle Entitäten verstanden werden könnten.37 Auf einen einfachen Nenner gebracht: >Gegenstände< sind Variablen bestimm­ ter Erkenntnisaktivitäten. Wir kommen, so erläutert Cassirer am Beispiel des Induktionsproblems in der Physik, d.h. am Beispiel des Verhältnisses von »Gesetz und Tatsache«, keineswegs dadurch zu Gesetzen, daß wir »einzelne Fakta vergleichen und messen«. Was in diesem »logische [n] Zirkel« verkannt wird, ist: »Das Gesetz kann nur darum aus der Messung hervorgehen, weil wir es in hypothetischer Form in die Messung selbst hineingelegt haben.«38 Cassirer plädiert für eine neue Sicht der Beziehung von Subjekt und Objekt bzw. von Subjektivität und Objektivität: Für die »Kritik der Er­ kenntnis [...] lautet das Problem nicht, wie wir vom >Subjektiven< zum ob­ jektivem, sondern wie wir vom Objektivem zum >Subjektiven< gelangen. Sie kennt keine andere und keine höhere Objektivität als diejenige, die in der Erfahrung selbst und gemäß ihren Bedingungen gegeben ist«.39 Objek­ tivität wird nicht mehr, wie in der Substanzmetaphysik, Entitäten zuge­ schrieben, die unabhängig Vom Bewußtsein sind; die Objektivität, von der Cassirer spricht, ist das Ergebnis der Objektivierung, in der durch geistige Formung Entitäten-für-uns entstehen. Das Motiv der epistemologischen Wende zur Subjektivität darf nicht im Sinne eines Subjektivismus mißverstanden werden; es geht vielmehr um Gründe für das Veto gegen den metaphysischen Realismus und gegen

35 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907, 1911, 1922), in: ECW 3, 638. 36 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 20. 37 Vgl. a.a.O., 121. 38 A.a.O., 158. 39 A.a.O., 300 (Hervorhebung HJS).

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die Abbildtheorie, die aus einer metaphysischen Auffassung der Erkenntnis folgt.40 Solche Gründe liefert keineswegs nur der philosophische Idealis­ mus; für Cassirer hat vor allem die Entwicklung der Wissenschaften den »starre [n] Seinsbegriff« in Fluß gebracht; und in »dem Maße, wie sich die­ se Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen«. An die Stelle »passive [r] Abbilder eines gegebenen Seins« treten »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole« * 1 Die >Dinge< und >Zustände< sind nicht gegebene Inhalte des Bewußtseins, sondern subjektiv bestimmte Weisen und Richtungen seiner Formungkopernicanische Drehung< vollzogen, die die Bewegung, statt sie den Gegenständen zuzuschreiben, in den Zuschauer verlegt.«4546

IIL4) Eine neue Theorie der (Re-)Präsentation

Dies ist eine der wesentlichen Problemstellungen sowohl der Theorie der Sprache als auch der Theorie des Begriffs. Im Kern geht es um eine neue Theorie der (Re-)Präsentation.^ Zwar verwendet Cassirer den Terminus >RepräsentationVorstellungRegel< vgl. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionshegriff, ECW 6, 311. 45 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), ECW 9, 299. 46 Vgl. hierzu ausführlich Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004.

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die Annahme einer >Ubereinstimmung< zwischen ideellem Repräsentat und realem Repräsentierten verbindet. Für ihn geht es um das Repräsentationsproblem; es ist das »Kernproblem der Erkenntnis«.47 >Repräsentation< wird er nie als Abbildung verstehen, sondern als »Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen«; in diesem Verständnis ist sie »eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und [eine] Bedingung seiner eigenen Formeinheit«.48 Seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff versteht Cassirer »Repräsentation als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt«. Damit »haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen >präsentenDarstellungMoment< des Mannigfaltigen zugeordnet, sondern zu einem »Merkm^/«, das als »Repräsentant des Ganzem fungiert. Der »Akt der >Rekognitiom ist notwendig an die Funktion der >Repräsentation< gebunden und setzt sie voraus«.51 Es ist diese »fundamentale Leistung«, »kraft de­ ren der Geist sich zur Schöpfung der Sprache, wie zur Schöpfung des an­ schaulichen Weltbildes, zum >diskursiven< Begreifen der Wirklichkeit wie zu ihrer gegenständlichen Anschauung erhebt«.52 Diese Auffassung setzt einen veränderten Begriff der Repräsentation voraus: Die naive Auffas­ sung des Erkennens als Reproduktion eines »gegenüberstehendem Seins gehört für Cassirer der Vergangenheit an: »Denn die erkenntnistheore­ tische Besinnung führt uns überall zu der Einsicht, daß dasjenige, was

47 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen., ECN 1, 199. Zur »neuefn] Bedeutung, die die Erkenntniskritik dem Begriff der Repräsentation zuweist«, vgl. ders.: Substanzbegriff und Funktionshegriff, ECW 6, 306. 48 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 39; vgl. 33. 49 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 306. Wenn von scheinbarer Repräsentation< die Rede ist, so belegt dies Cassirers Distanz zum traditionellen abbild­ theoretischen Konzept. 50 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 119-130. 5i A.a.O., 127. 52 A.a.O., 130.

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die verschiedenen Wissenschaften den >Gegenstand< nennen, kein ein für allemal Feststehendes, an sich Gegebenes ist, sondern daß es durch den jeweiligen Gesichtspunkt der Erkenntnis erst bestimmt wird.53 Bei Cassi­ rer geht es nicht mehr wie in der realistischen Auffassung der Beziehung zwischen Ontologie und Epistemologie darum, die Transformation der >Dinge< in Vorstellungen zu begreifen. In dem Maße, wie die Abbildtheorie der Repräsentation zu verabschieden ist, geht es darum, eine Umkehrung zu erklären, in der die Epistemologie systematischen Vorrang bekommt. Z^ erklären ist, wie Inhalte des Bewußtseins so transformiert werden, daß wir sie für Gegebenheiten der >Außenwelt halten. Nicht anders als Bachelard hat Cassirer diese Perspektive aus den Naturwissenschaften entwickelt.

III.5) Erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist

Cassirer widmet sich intensiv der Analyse der Genese, der Struktur und der Funktion wissenschaßlichen Wissens5^; die wissenschaftliche Erkenntnis ist ein wesentlicher Ausgangspunkt seiner Erkenntnis- und Wissenstheo­ rie. Er favorisiert eine Philosophie, für welche die Nähe zum Wissen der Wissenschaften konstitutiv ist, und sieht sich in Übereinstimmung mit dem Wiener Kreis'. »In der Weltanschauung, in dem, was ich als das Ethos der Philosophie ansehe, glaube ich keiner >Schule< näher zu stehen, als den Den­ kern des Wiener Kreises: Streben nach Bestimmtheit, nach Exaktheit, nach Ausschaltung des Bloß-Subjektiven, der >GefühlsphilosophieTatsachen< verweisen, während wir der Philosophie die

53 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 7. 54 Zu Cassirers Wissenschaftsphilosophie vgl. Karl-Norbert Ihmig: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften hei Ernst Cassirer, Darmstadt 2001. 55 So in einem Manuskript mit dem Titel » Vorarbeiten zur Ausdrucksfunktion in der Kulturphilosophie«, in Yale Cassirer Papers, Box 52, folders 1041-43, Abschnitt »Darstellungsfunktion (Objektivität) d 3, 2«, zitiert nach Jean C. Kapumba Akenda: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998, 4f.; vgl. aber auch in: Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946), in: ECW 24, 40 ff., die Kritik an R. Carnaps Scheinprobleme in der Philosophie und am Physikalismus insgesamt.

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Untersuchung der >Prinzipien< vorbehalten. Diese Trennung zwischen dem >Faktischen< und >Theoretischen< erweist sich als durchaus künstlich; sie zerstückelt und zerschneidet den Organismus der Erkenntnis.«56 Cassirer steht unter dem Eindruck, den auch das Marburger neukan­ tianische Programm einer Analyse naturwissenschaftlichen Wissens als Verweis auf die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Selbstkritik in­ nerhalb der Physiologie, der Mathematik und der Physik verstanden hatte und der heute in experimentellen Kognitionswissenschaften und auf sie gestützten naturalistischen Philosophien des Geistes nahezu vergessen ist: »Es gibt keine >nackten< Fakta - keine Tatsachen, die anders als im Hin­ blick auf bestimmte begriffliche Voraussetzungen und mit ihrer Hilfe fest­ stellbar sind. Jede Konstatierung von Tatsachen ist nur in einem bestimm­ ten Urteilszusammenhang möglich, der seinerseits auf gewissen logischen Bedingungen beruht. [...] Es ist die wissenschaftliche Empirie selbst, die in dieser Hinsicht die bestimmteste Widerlegung gewisser Thesen des dog­ matischen Empirismus enthält. Auch im Kreis der exakten Wissenschaften hat sich gezeigt, daß >Empirie< und >TheoriebeziehenTatsachen< und des posi­ tivistischen Empirie-Verständnisses, die Cassirer schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriffbèi der Analyse der naturwissenschaftlichen Begriffs­ bildung die Übereinstimmung seiner Symbol-Konzeption mit der Pierre Duhems59 betonen ließ: »Erst wenn das rohe Faktum durch ein mathema­ tisches Symbol dargestellt und ersetzt ist, beginnt die intellektuelle Arbeit

56 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946), ECW 24, 372f. 57 A.a.O., 373. 58 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 9; vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen^ Dritter Teil, ECW 13, 24. 59 Cassirer zitiert in seinem Einstein-Buch 1921 einen Satz Duhems, der den Begriff der ^symbolischen Form< enthält: »Les faits d’expérience [...] doivent être transformés et mis sous forme symbolique«, (Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 90.)

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des Begreifens, die es mit der Gesamtheit der Phänomene systematisch verknüpft.«60 In einem späteren Kontext argumentiert Cassirer erneut mit Pierre Duhem: »Die Empirie scheint sich damit begnügen zu können, ein­ zelne Fakta, wie sie sich der sinnlichen Beobachtung darbieten, zu erfassen und sie rein beschreibend aneinanderzureihen. [...] Jedes Gesetz [...] kommt nur dadurch zustande, daß an die Stelle der konkreten Data, die die Be­ obachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobach­ ter als wahr und gültig annimmt, entsprechen sollen. [...] Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen intellektuellen Deutungsprozeß bestimmt und sichergestellt werden: und eben dieser Prozeß, eben diese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theo­ rie ausmacht.«61 Es ist in historischer Sicht nicht die Philosophie, sondern die Physik und die Wissenschaftstheorie der Physik, die ihr Veto eingelegt haben ge­ gen das »Bestreben, Funktionales in Substantielles, Relatives in Absolutes, Maßbegriffe in Dingbegriffe zu verwandeln«.62 Cassirer zieht im Kapitel >Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis< im 3. Band sei­ ner Philosophie der symbolischen Formen die allgemeine Schlußfolgerung, der »Gegensatz zwischen >Induktion< und >DeduktionInduktion< und >DeduktionErfahrung< und >DenkenExperiment< und >Rechnung< erscheinen vielmehr lediglich als verschiedene, jedoch gleich unentbehrliche Momente der physikalischen Begriffsbildung selbst.«63 Immer wieder und bis hin zur späteren quanten­ theoretischen Studie Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937) hat Cassirer die für die Lösung des Induktionsproblems wich­ tige Beziehung zwischen Beobachtung und Gesetz analysiert. Seine Lösung lautet: »Was in Wahrheit den Inhalt unseres empirischen Wissens ausmacht, ist [...] der Inbegriff der Beobachtungen, die wir zu bestimmten Ordnungen zusammenfassen und die wir, dieser Ordnung gemäß, durch theoretische Gesetzesbegriffe darstellen können. So weit die Herrschaft dieser Begriffe reicht, so weit reicht unser objektives Wissen. Es gibt >Gegenständlichkeit< oder >objektive Wirklichkeit, weil und sofern es Gesetzlichkeit gibt, nicht umgekehrt. [...] Wir lesen nicht einfach die Gesetze >von den Gegenständen abZeichenAbbildtheorie< der physikalischen Erkenntnis zu einer reinen >Symboltheorie< am frühesten und am entschiedensten vollzogen hat«.73 Nach Cassirers grundlegenden Arbeiten zur Erkenntniskritik und zur Epistemologie der Naturwissenschaften kann es nicht überraschen, daß er sich - neben Μ. Schlick - als einer der ersten Philosophen seiner Zeit von der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie7* herausgefordert sieht und sich intensiv auf sie einläßt. Die Erkenntnistheorie verknüpft »ihr eigenes Schicksal [...] mit dem Fortgang der exakten Wissenschaft«.75 1921 erscheint sein umfangreicher Aufsatz Zur Einsteinschen Relativitäts­ theorie; der Untertitel belegt, worum es auch hier geht: >Erkenntnistheoretische BetrachtungenErkenntniskritik< besteht darin, daß beide wissen: Raum und Zeit sind »reine Form- und Ordnungsbegriffe, keine Sach- und Dingbegriffe«.78

72 Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 328f. Cassirer bezieht sich auf Helmholtz’ Schrift »Die Thatsachen in der Wahrnehmung« (1878), in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1984. 73 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 23. Zu Theorie, Erfahrung und Tatsache vgl. auch ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 20f. Cassirer bezieht sich in der Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil, ECW 11, 4, auf den von Hertz’ in Die Prinzipien der Mechanik formulierten Satz: »Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.« (Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik, in: ders.: Gesammelte Werke. Band III, Leipzig 1894, 1.) 74 Der Anlaß ist zunächst Albert Einsteins 1905 veröffentlichte Schrift Zur Elektro­ dynamik bewegter Körper', Cassirer diskutiert ferner Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie (1916) und Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (1917) sowie Schriften von Lorentz, Minkowski, Planck u.a.; 1936 wendet er sich 'm Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19, der Quantenphysik zu. 75 Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 6. 76 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), ECW 9, 217, Anm. 77 A.a.O., 218. 78 A.a.O, 232.

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Im philosophisch und wissenschaftlich noch anspruchsvolleren Text Zur Einsteinschen Relativitätstheorie verhandelt Cassirer diese Problematik unter dem Titel »Maßbegriffe und Dingbegriffe«, um zu zeigen, wie sich der archimedische Punkt, von dem aus Newton noch denken zu können glaubte, mit der Entstehung einer Pluralität von Geometrien aufgelöst hat.79 Die »Relativitätstheorie der modernen Physik« ist für ihn »in allge­ meiner erkenntnistheoretischer Hinsicht eben dadurch bezeichnet, daß in ihr, bewußter und klarer als je zuvor, der Fortgang von der Abbildtheorie der Erkenntnis zur Funktionstheorie sich vollzieht«.80 Im Kern bedeutet dies, daß ein »empirische[s] Objekt nichts anderes als einen gesetzlichen Inbegriff von Beziehungen besagt«.81 Das physikalische Denken, das be­ strebt ist, »in reiner Objektivität nur den Gegenstand der Natur zu bestim­ men und auszusprechen, [...] spricht dabei notwendig zugleich sich selbst, sein eigenes Gesetz und sein eigenes Prinzip aus«.82

IV) Gewißheit kann man nicht >habenZeitalters des neuen wissenschaftlichen Geistes< »sehr präzise mit dem Jahr 1905«84, also mit der Einsteinschen Relativitätstheorie. Zu den wichtigsten episte­ mologischen Werken Bachelards gehören Essai sur la connaissance approchée (1927), La Valeur inductive de la Relativité (1929), Le Pluralisme cohérent de la chimie moderne (1932), L'Intuition de l'instant (1932), Le Nouvel Esprit

7i) Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, 3. Vgl. insgesamt das Kapitel »Euklidische und nicht-euklidische Geometrie«, 93-110. 80 A.a.O., 49. 81 A.a.O., 41. 82 A.a.O., 111. 83 Vgl. Hansjörg Sandkühler, »Epistemologie«, in: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. AufL in 3 Bdn., Bd. 1, Hamburg 2010. 84 Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984, 39. Soweit die Werke Bachelards nicht auf Deutsch vorliegen, handelt es sich bei Zitaten um meine Übersetzungen.

Sandkühler · Kritik der Gewißheit

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scientifique (1934), LaFormation de l'esprit scientifique (1938), La Philosophie du non (1940), Le Rationalisme appliqué (1949), La Dialectique de la durée (1950) und Le Matérialisme rationnel (195 3).85 Zunächst war Bachelard vor allem an Analysen der Geschichte der Wissenschaften, vornehmlich der modernen Naturwissenschaften (Chemie und Physik), und an der Entwicklung eines neuen Rationalismus und Realismus interessiert. 1940 wandte er sich inten­ siv auch den Mythen, Bildern und Metaphern der Alltagserkenntnis und der Dichtung zu, um gegenüber dem Konzept kausaler Bestimmtheit der Erkenntnis die Kreativität der >imagination (Einbildungskraft) geltend zu machen. Er verfaßte zu diesem Themenfeld u.a. Psychanalyse du Feu (1940), Poétique de l'espace (1957) und La Poétique de la Rêverie (1960). Im Bewußtsein heutiger Zeitgenossen ist Bachelard selten präsent. Man trifft auf ihn in Michel Foucaults L’archéologie du savoir (1969) und Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966), also in der Analyse der Konfigurationen des epistemologischen FeldesEpistemologie< im Wissenschafts­ theoretischen Lexikon nicht einmal erwähnt.87 Verdienstvoll für die deutsche Bachelard-Rezeption war hingegen die von Wolf Lepenies 1978 besorgte deutsche Ausgabe von La Formation de l'esprit scientifique; Lepenies gibt in seiner Einführung die treffende Kurz­ darstellung, Bachelards Denken sei zwar von der Relativitätstheorie be­ sonders stark beeindruckt, »doch waren es im Grunde genommen nicht so sehr neue Perspektiven als die Verneinung herkömmlicher Positionen, die sein Denken bestimmten, wie die nicht-cartesische Wissenschaftstheo­ rie, die nicht-euklidische Geometrie, die nicht-aristotelische Logik und die nicht-newtonsche Mechanik. Schon in ihrem Ursprung ist die Philoso­ phie Bachelards eine /Philosophie des NeinDingen selbst< erzwungen. Das wissenschaftliche Denken ist vielmehr charakterisiert durch eine Pluralität >epistemologischer Profile^ die im Rah­ men des »Pluralismus der philosophischen Kultur«113 zur Wahl stehen. Ba­ chelard zeigt dies La Philosophie du Non am Beispiel des Begriffs >MassehabenWir können wissen< gibt es im Alltagsleben und in der Philosophie, in den Wissenschaften und Künsten sowie in der Technik, ja selbst in Religionen, den Schatten der Unsicherheit hinsichtlich der Fra­ ge, welche Gewißheit welches Wissen wem bieten kann und in welchen Grenzen Wissens- und Wahrheitsansprüche begründet geltend gemacht werden können und von Dritten akzeptiert werden. Unabgeschlossenheit und Nichtwissen, Ungewißheit und Zweifel gehören zum Wissen-Können. Als ständige Provokation unauflösbar mit Wissen nach menschlichem Maß verbunden, fordert die Frage nach Gewißheit dazu heraus, jedes individu­ elle »Ich weiß« im Horizont maßnehmender Kritik bescheidener als »Ich glaube zu wissen« zu verstehen. Dies ist die Kernannahme des intern-rea­ listischen epistemologischen Pluralismus, der im Unterschied zum radika­ len Skeptizismus Wissen und (Re-)Präsentation nicht für unmöglich und im Unterschied zum radikalen Relativismus hinreichende pragmatische Geltungsbegründungen für möglich hält. In dieser Perspektive ist darüber, wie gewußte phänomenale Wirklichkeit in epistemischen Konstellationen bzw. Wissenskulturen entsteht, ebenso Aufklärung möglich wie darüber, was bei (Re-)Präsentationen >Gewißheit haben< bedeuten kann. Die Gewißheit, die Personen haben und in Interaktionen mit Dritten erreichen können, ist weit entfernt von einer durch das Sein selbst garan­ tierten Übereinstimmung zwischen Dingen und Aussagen. Gewißheiten stehen unter dem Vorbehalt, mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnis­ sen und Interessen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens, >geladen< zu sein. Sie stehen ferner unter dem Vorbehalt, daß Nichtwissen das Wissen über­ schattet: Wissen ist in vielen Fällen Teilwissen.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Deshalb handelt es sich bei der Aussage »Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung« nicht um eine sinnvolle Definition, sondern um einen nor­ mativen Satz, der das Problem des Wissens so lange verschleiert, wie seine Normativität nicht verstanden wird. Die Definition klammert aus, daß die Entstehung, Funktion und Geltung von Wissen von bewußten Wahlen oder unbewußten Übernahmen von epistemologischen Profilen, Begriffssche­ mata, Rahmentheorien etc. beeinflußt ist, die mit Überzeugungen Zusam­ menhängen bzw. Überzeugungen bilden. Die angestrebte Rechtfertigung von Überzeugungen ist abhängig von Überzeugungen, die in symbolische Formen eingebettet sind. Genau dies wurde und wird in den traditionel­ len realistischen und empiristischen Epistemologien nicht gesehen, die geradezu blind mit der Unterstellung empirischer Rechtfertigbarkeit von Überzeugungen als >wahr< und folglich als Wissen umgeht. Die Definition klammert das Problem aus, daß und wie intersubjektives Verstehen auch dann möglich ist, wenn das Überzeugungs->Wissen< nicht mit dem Gütesie­ gel letzter Wahrheit versehen werden kann.117 Daß und wie dieses Wissen ohne letzte Gewißheit möglich ist, zeigen Cassirer und Bachelard.

Literaturverzeichnis Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1993 Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler (1967), übers, u. m. einem Nachw. vers, von Frieder Otto Wolf, Berlin 1985 - L'activité rationaliste de la physique contemporaine, Paris 1951 - Epistemologie. Ausgewählte Texte, Frankfurt/M. et al. 1974 - Le nouvel esprit scientifique (1934), Paris 141978 - Le matérialisme rationnel, Paris 41980 - Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt/M. 1980 (Original: Gaston Bachelard: La philosophie du non. Essai d'une philosophie du nouvel esprit scientifique, Paris 1940) - Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der ob­ jektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984 - Der neue wissenschaftliche Geist, übers, von Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1988 Ludwig Boltzmann: »Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Phy­ sik in neuerer Zeit« (1889), in: Hansjochen Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deut­ scher Naturforscher und Ärzte (1822-1958), Berlin/Heidelberg/New York 1987

117 Vgl. hierzu Hans Jörg Sandkühler: Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt/M. 2009.

Sandkühler · Kritik der Gewißheit

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Edmund Braun/Hans Radermacher (Hg.): Wissenschaftstheoretisches Lexikon> Graz/Wien/Köln 1978 Rudolf Carnap: Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic (1947), Chicago/London 21956 - Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit Erster Band (1906, 1911, 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Ham­ burger Ausgabe, hg. von Birgit Recki [im folgenden ECW], Bd. 2, Hamburg 1999 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1907', 1911, 1922), in: ECW 3 - Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: ECW 6 - Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921), in: ECW 9 - Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), in: ECW 10 - Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, in: ECW 11 - Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkennt­ nis (1929), in: ECW 13 - Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), in: ECW 17 - Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936), in: ECW 19 - Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22 - An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy ofHuman Culture (1944), in: ECW 23 - Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946), in: ECW 24 - Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995ff. [im folgenden ECN], Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois - Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 - Geschichte. Mythos, in: ECN 3 Hyondok Choe: Gaston Bachelard. Epistemologie. Bibliographie, Frankfurt/M. et al. 1994 Silvia Freudenberger: Erkenntniswelten. Semiotik, analytische Philosophie, feminis­ tische Erkenntnistheorie, Paderborn 2004 Hermann von Helmholtz: »Die Thatsachen in der Wahrnehmung« (1878), in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1984 Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik. Gesammelte Werke. Band III, Leipzig 1894 Thomas Hoffmann: Welt in Sicht. Wahrheit - Rechtfertigung - Lebensform, Weiler­ swist 2007 Karl-Norbert Ihmig: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cas­ sirer, Darmstadt 2001 Jean C. Kapumba Akenda: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissen­ schaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998 Guy Lafrance: Gaston Bachelard, profils Epistémologiques, Ottawa 1987

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wis­ senschaft, Frankfurt/M. 2002 Dominique Lecourt: UEpistémologie historique de Gaston Bachelard (1969), Paris n2002 Wolf Lepenies: »Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte - Das Werk Gaston Bachelards«, in: Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaft­ lichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt/M. 21984 Valerio Meattini: Der Ort des Verstehens, Frankfurt/M. et al. 2007 Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, übersetzt von Uwe Opol­ ka, Weilerswist 2004 George Pappas: «Problem of the external world«, in: Jonathan Dancy/Ernest Sosa (eds.): A Companion to Epistemology, Oxford 1993 Martina Plümacher/Volker Schürmann (Hg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt/M./Berlin/Bern 1996 Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004 Hilary Putnam: Für eine Erneuerung der Philosophie, übersetzt von Joachim Schul­ te, Stuttgart 1997 Nicholas Rescher: Studien zur naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre, hg. von Axel Wüstehube, Würzburg 1996 - Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford 1993 Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007 Hans Jörg Sandkühler: Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart/Weimar 2002 - »Epistemologie«, in: ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. in 3 Bdn., Bd. 1, Hamburg 2010 - /Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003 - »Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung? Plädoyerfüreinewahrheitstheoretisch bescheidene Philosophie«, in: ders.: Philosophie, *wozu , Frankfurt/M. 2008 - Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wis­ senskulturen und des Wissens, Frankfurt/M. 2009 Alfred North Whitehead: Denkweisen, hg., übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer, Frankfurt/M. 2001 Marcus Willaschek (Hg.): Realismus, Paderborn/München/Wien 2000 - Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, Frank­ furt/M. 2003 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, in: ders.: Werkausgabe, hg. von G. Eliza­ beth Μ. Anscombe/Georg Henrik von Wright, Bd. 8, Frankfurt/M.1989

Detlev Pätzold

Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit

Ernst Cassirer hat sich für vieles interessiert, und damit sage ich gewiß noch nichts Neues. Denn bei der wohlbekannten enormen Bandbreite seiner Phi­ losophie der Kultur ist es eine diesem Ansatz inhärente Notwendigkeit, aus vielen und sogar den unterschiedlichsten Quellen zu schöpfen und - soweit es der eigene systematische Gesichtspunkt seiner Philosophie der symboli­ schen Formen erlaubt - zu inkorporieren. Man könnte daher Cassirer als einen Eklektiker, im besten Sinne des Wortes, bezeichnen. Und das heißt zunächst nur ex negativo gesagt: er ist kein Anhänger einer bestimmten Sekte. Natürlich gehört er zur Marburger Schule des Neukantianismus, aber er ging schon immer auch eigene und gewiß nach 1910 ganz erheblich neue Wege. Was den Eklektizismus im positiven Sinne umschrieben ausmacht, hat er denn wohl auch erst seiner Begegnung mit Aby Warburg und seinem Kreis in den Hamburger Jahren zu verdanken: einen Begriff von Kultur, der quer durch die üblichen Klassifikationen der vielen Kulturgebiete und wissen­ schaftlichen Disziplinen und Einteilung historischer Perioden hin verläuft. Daß sich Cassirer damit neben vielem auch für die Psychologie interessie­ ren mußte, ist ebenso verständlich. Dies gebot schon sein frühes Augenmerk auf die systematischen Probleme und die neuzeitliche Geschichte der Erkennt­ nistheorie, die schwieriger gewordene Grenzziehung zwischen Philosophie und Psychologie seit deren Etablierung als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin, und zudem der zu dieser Zeit virulente Psychologismusstreit. Cas­ sirers Bemühungen um die erkenntnistheoretische Absicherung, um nicht zu sagen Fundierung, seines kulturphilosophischen Symbolbegriffs ab der Philosophie der symbolischen Formen machte eine Hinwendung zur Psycho­ logie noch dringlicher. Dabei ging es nicht zuletzt um die Vergewisserung, welche der konkurrierenden Richtungen in der zeitgenössischen Psychologie fruchtbar für den eigenen Ansatz sein könnten. Dabei scheint die sogenann­ te Denkpsychologie auf den ersten Blick keine prominente Rolle zu spielen. Statt dessen steht die Gestaltpsychologie Pate für seinen Begriff der symbo­ lischen PrägnanzBasisphänomenen< erschließt. Ich will diese These in drei Schritten entwickeln. Zunächst gebe ich ei­ nen ganz summarischen und rezeptionsgeschichtlich verkürzten Blick auf die Denkpsychologie. Damit beabsichtige ich also keineswegs, eine Analy­ se der Denkpsychologie und ihrer Entwicklung vom Ausgang des 19. bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zu geben. Es geht nur darum, eine begrenzte Anzahl von Autoren und Schriften kurz anzudeuten, darunter diejenigen, auf die Cassirer selbst früher oder später Bezug nimmt. Zwei­ tens werde ich Cassirers Aufsatz »Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« (1927) und entsprechende Passagen aus

Birgit Recki [im folgenden ECW], Bd. 13, Hamburg 2002, 218-233; John Krois hat hierauf schon früh hingewiesen; vgl. John Michael Krois: »Ernst Cassirers Semiotik der symbo­ lischen Formen«, in: Zeitschrift für Semiotik 6, 1984, 441 f.; ders.: »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, 23 ff.; Martina Plümacher hat hierzu spä­ ter einen wichtigen Beitrag geliefert, vgl. Martina Plümacher: »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: Enno Rudolph/Ion-Olimpiu Stamatescu (Hg.): Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997. 2 Einen guten Überblick der Aufnahme all dieser Strömungen in Cassirers Symboltheorie erhält man in: Martina Plümacher: »Die Erforschung des Geistes Cassirers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003, 85-110. - Zu Cassirer und Husserl vgl. auch Martina Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004.

Pätzold · Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit

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dem dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formern. Phänomenologie der Erkenntnis (1929) analysieren. Hier entsteht die Schwierigkeit der Ab­ grenzung der von Cassirer selbst genannten Gebiete: Erkenntnistheorie, Logik, Denkpsychologie. Drittens werde ich mich dann vor allem auf das Nachlaßmanuskript zu Basisphänomenen (um 1936/37) konzentrieren, um den neuen Kontext, in den die Denkpsychologie nun bei Cassirer gerückt wird, einsichtig zu machen.

I) Stichworte zur Denkpsychologie Einen ersten Eindruck vom Unternehmen der Denkpsychologie kann uns ein längeres Zitat aus dem vor der Kant-Gesellschaft gehaltenen und in den Kant-Studien 1913 abgedruckter Vortrag »Prinzipienfragen der Denkpsy­ chologie« von Richard Hönigswald geben: »Dass auch das schlechthin Unanschauliche und von anschaulichen Bestim­ mungen schlechthin Unabhängige Gegenstand psychologischer Fragestellung werden könne - das war die erste und bedeutsame Entdeckung der Denkpsy­ chologie. Der >Gedanke< als solcher wurde jetzt zum psychologischen Problem; und die völlige Ohnmacht des Assoziationsprinzips, sich dieses Problems mit Erfolg zu bemächtigen, ward offenkundig. Auf der ganzen Linie traten jetzt die entscheidenden Differenzen zwischen assoziativen Verbänden und >Gedanken< im eigentlichen Sinn in die Erscheinung und immer deutlicher offenbarte das durch die Schule Külpes vielverheissend inaugurierte denkpsychologische Ex­ periment, daß gewusst werden kann, was niemals hat können assoziiert werden. Ja mehr noch! Das Phänomen des Wissens überhaupt verlangte auf dem Boden psychologischer Forschung eine von >Anschauung< und >Assoziation< unabhän­ gige Analyse. So ward allmählich und folgerichtig die Gesamtheit derjenigen Phänomene und Prozesse, die der Begriff des >Wissens< impliziert, zum Gegen­ stand denkpsychologischer Untersuchungen: das >Glauben< und das >MeinenAnnehmen< und das >VermutenErkennenGeistige Erzeugnisses d.h. für ihn beispielsweise Sprache, Kunst und Recht, seien zwar kein unmittelba­ rer Gegenstand der Psychologie, seien aber doch einer psychologischen Be­ handlung zugänglich. Man könne »etwa in der Ordnung der sprachlichen Formen und Aussagen Regeln wirksam finden, die für die Verbindungen der Vorstellungen beim Denken gelten«; und ebenso zeige »die künstleri­ sche Verwendung der Sinnesempfindungen und des reproductiven Mecha­ nismus gesetzmäßige Verhältnisse in der Verbindung der Empfindungen unter einander«.5 Diese Regelgeleitetheit geistiger Funktionen betont er auch im letzten Kapitel seines Buches, wo er kurz auf das Denken eingeht. Entscheidend für das Denken seien die hierfür typischen antizipierenden Apperzeptionen: »Nicht durch eine besondere Art von Verbindungen, son­ dern nur durch die Leitung des Vorstellungsverlaufs vermittelst antizipie­ render Apperzeptionen scheint uns das Denken von dem automatischen Spiel der Vorstellungen [gemeint sind Assoziationsketten, DP] sich zu unterscheiden«.6 Entscheidend für die Möglichkeit antizipierender Apper­ zeptionen ist die Entwicklung des Selbstbewußtseins, genauer: zunächst das Bewußtsein des eigenen körperlichen, aber dann auch des geistigen Ich: »also die Thatsache der Apperception oder des Willens ist eines der wichtigsten Motive für die Sonderung des Ich und Nicht-Ich. In ihr wur­ zelt auch schließlich die erkenntnistheoretische Begründung des Gegen­ satzes von Subject und Object«7 (Cassirer hat diesen Gedanken später im

4 Vgl. Karl Bühler: Die Krise der Psychologie, 2. Auflage, Jena 1929, 12-15. 5 Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, Leipzig 1893, 18. 6 A.a.O., 464. 7 A.a.O.,465f.

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Zusammenhang mit Goethe und den drei Basisphänomenen weiterentwikkelt.).8 Ganz explizit tritt Külpe aber erst ab 1904 als Denkpsychologe auf, und zwar mit seinem Vortrag »Versuche über Abstraktion«, den er auf dem Ersten Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen hielt.9 Dies ist übrigens auch die Zeit, ab der Külpe mit mehreren Publikationen zu Kant an die Öffentlichkeit trat.10 Der Ausdruck >Denkpsychologie< erscheint aber nur einmal im Titel seiner Publikationen: 1912 in »Uber die Bedeu­ tung der modernen Denkpsychologie«. Es handelt sich hierbei allerdings nur um einen ganz kurzen Auszug aus dem Vortrag »Über die moderne Psychologie des Denkens«, den er auf dem V. Kongreß für experimentelle Psychologie im selben Jahre in Berlin gehalten hatte. Külpe beschreibt die Resultate denkpsychologischer Forschungen in der vollständigen Druck­ fassung dieses Vortrags folgendermaßen: »Sobald man anfing in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Er­ lebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und un­ befangene Mitteilungen machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich. Man entdeckte in sich Vorgänge, Zustände, Richtungen, Akte, die sich dem Schema der älteren Psychologie nicht fügten. Die Versuchspersonen begannen in der Sprache des Lebens zu reden und den Vorstellungen nur eine untergeordnete Bedeutung für ihre Innenwelt beizulegen. Sie wußten und dachten, urteilten und verstanden, ergriffen den Sinn und deuteten die Zusammenhänge, ohne eine wirkliche Unterstützung durch gelegentlich auftauchende Versinnlichun­ gen dabei zu erhalten«.11

Neben Karl Marbe, der »Über das Urteil« experimentelle Untersuchungen anstellte, Narziß Ach »Über die Willenstätigkeit und das Denken«, August Messer »Über das Denken«, über »Empfindung und Denken« und Otto Selz »Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs«, gehört auch Karl Bühler mit seinen frühen empirischen Studien zur Würzburger Schule der Denkpsychologie.12 Obwohl Cassirer sich nur auf die späteren Arbeiten

8 Vgl. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, Hamburg 1999, 9 f. 9 Oswald Külpe: »Versuche über Abstraktion«, in: Bericht über den I. Kongreß für ex­ perimentelle Psychologie in Gießen, Leipzig 1904. 10 Vgl. Oswald Külpe: Über Kant. Festrede bei der Kant-Feier der Würzburger Universität am 12.2.1904, Würzburg 1904; ders.: ImmanuelKant. Darstellung und Würdigung, 2. Auflage, Leipzig 1908. - Übrigens besorgte Külpe auch die Ausgabe von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht für die Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Kants (Band VII, Berlin 1907). 11 Oswald Külpe: »Über die moderne Psychologie des Denkens«, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kultur und Technik, Heft 9, 1912, 1077. 12 Karl Marbe: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik, Leipzig 1901; Narziß Ach: Über die Willenstätigkeit und das Denken.

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

Bühlers ab 1927/29 bezieht, will ich kurz auf diese frühen Studien einge­ hen, da sie einen guten Eindruck von dem noch frischen neuen Forschungs­ zweig, aber auch seiner methodologischen Naivität geben können. Bühler publizierte 1907 und 1908 im Archiv für die gesamte Psychologie unter dem Obertitel »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgän­ ge« drei Beiträge: »I. Über Gedanken« (1907), »II. Über Gedankenzusam­ menhänge« (1908) und »III. Über Erinnerungsgedanken« (1908).13 Ihm ging es im ersten Beitrag, auf den ich exemplarisch hinweisen möchte, um die Klärung der Frage, was Denken im Hinblick auf die >Inhalte von Denkerlebnissen< oder kurzweg was >Gedanken< seien. Als neue experimentelle Untersuchungsmethode zur Klärung dieser Frage diente ihm die Erstellung von Listen einzelner Fragen aus verschiedensten Wissensgebieten, auf die Versuchspersonen nach einiger Bedenkzeit mit Ja oder Nein zu antworten hatten, um sodann den Prozeß ihrer Gedankengänge, die zur jeweiligen Be­ antwortung der Problemstellung geführt hatten, (sprachlich) zu beschrei­ ben, so daß der Versuchsleiter auf der Grundlage dieser Beschreibungs­ protokolle seine Analysen erstellen konnte. Als Versuchspersonen wählte Bühler Wissenschaftler und Philosophen, und basierte seine Analysen vor allem auf zwei von ihnen, weil sie ihm die besten Beschreibungsprotokolle lieferten. Es waren Bühlers Würzburger Kollegen Ernst Dürr14 und - man höre und staune - Oswald Külpe höchstpersönlich! Soviel zur Naivität in der Anwendung der neuen experimentellen Methode. Allerdings war sich Bühler durchaus im Klaren über das Problem der Introspektion, glaubte aber eine deutliche Arbeitsteilung zwischen dem Versuchsleiter, der die Denkprozesse nur anstoße und protokolliere, und der Versuchsperson, die nur mit ihrem eigenen Denkerlebnis und seiner Beschreibung befaßt sei, durchführen zu können.15 An der grundsätzlichen Möglichkeit und Zu­ verlässigkeit von Introspektion zweifelte Bühler nicht. »Läßt sich nun aus solchen Protokollen etwas über die Vorgänge ausmachen, die sie beschrei-

Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhänge: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen 19Q5; August Messer: »Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 8, 1906; August Messer: Empfindung und Denken, Leipzig 1908; Otto Selz: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung, Stuttgart 1913. 13 Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Uber Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, 297-365; ders.: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Uber Gedankenzusammen­ hänge«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908, 1-23; ders.: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Uber Gedankenerinnerungen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908, 24-92. 14 Ernst Dürr hatte sich 1903 am Würzburger Institut habilitiert. Wichtig für die Denkpsychologie ist sein Buch Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907. 15 Vgl. Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Uber Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, 299.

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ben wollen? Auf Einwände, welche die Selbstbeobachtung als solche treffen können, brauchen wir nicht einzugehen«, denn »die natürlichste Art, einen anderen zum Denken zu veranlassen, [ist] die, daß man eine Frage an ihn richtet. Wenn man diese Frage so einrichtet, daß er sie mit ja oder nein beantworten kann, daß er sich also nicht erst um die Formulierung seiner Antwort zu bemühen braucht, dann wird er uns nachträglich sagen kön­ nen, wie er zu dem Ja oder Nein gekommen ist, d. h. was er auf unsere Frage hin gedacht hat«.16 Das erste wesentliche Ergebnis von Bühlers Analyse der Beschreibungen von Denkerlebnissen bestand in seiner Feststellung, daß die Bestimmtheit des Denkens unabhängig von den sporadisch mit ihm ein­ hergehenden sinnlichen Vorstellungen war. Es gab häufig auch »Gedanken, ohne jede nachweisbare Spur von irgend einer Anschauungsgrundlage«, und er schlußfolgerte daraus: »Als die wesentlichen Bestandstücke unserer Denkerleb­ nisse können nur die Gedanken angesehen werden«)7 Ein weiteres Ergebnis war die Feststellung, daß die adäquate Repräsentation von Gegenständen im Bewußtsein sich nicht auf anschauliche Bilder beschränke, sondern daß »das andere adäquate Gegenstandsbewußtsein [...] das Regelbewußtsein [ist]«,18 welches typisch für das wissenschaftliche Denken, insbesondere für das Denken mathematischer Funktionen sei, aber auch beim Verständnis technischer Konstruktionen und grammatischer Regeln auftrete. Die Methode und die mit ihr erzielten Ergebnisse Bühlers waren eine Provokation für die Leipziger Schule der Psychologie und ihr Oberhaupt Wilhelm Wundt reagierte denn auch mit geharnischter Kritik an der ihnen zugrunde liegenden Introspektionsmethode, oder, wie er abschätzig sagte, an der >Ausfragemethode< dieser >ScheinexperimenteWorthaftigkeit des Denkens< und später dann vor allem Bühler mit seiner Theorie von der >Darstellungsfunktion der Sprachen22 Das wichtigste Ergebnis der Denkpsychologie besteht in der Feststellung, daß diese Denkvorgänge ganz unanschaulich sein können, was einen grund­ legenden Unterschied zwischen Sinnes Wahrnehmungen und Denkprozessen belegt. Des weiteren zeige sich eine Regelhaftigkeit der Gedanken, die mehr beinhalte als bloße Assoziationsketten, die also, obwohl oft unbewußt, ziel­ gerichtet auf Problemlösungen zusteuert. Übrigens gibt es bei Husserl in den Logischen Untersuchungen eine vergleichbare Annahme über die Regel­ haftigkeit von Gedanken oder >Inhalten< des Bewußtseins: »In der Natur der Inhalte und in den Gesetzen, denen sie unterstehen, gründen gewisse Verknüpfungsformen. [...] Die Inhalte haben eben, so wie Inhalte überhaupt, ihre gesetzlich bestimmten Weisen miteinander zusammenzugehen«.23 Für Cassirer als einen aus der Descartes-Kantischen Tradition herkom­ menden Erkenntnistheoretiker sollten diese zwei Resultate der Denkpsy­ chologie von Interesse sein. Denn das eine bestätigt die Lehre von den zwei Erkenntnisstämmen, Sinnlichkeit einerseits und Verstand andererseits, das andere bestätigt die Regelgeleitetheit nicht nur des logischen Denkens, sondern auch des epistemischen Denkens in seinem Bezug auf die phäno­ menale Welt, so wie sie in synthetisch-apriorischen Urteilen zum Tragen kommt.24 Insbesondere was den ersten Aspekt betrifft, scheint es mir da­ her nach wie vor sinnvoll, diese Strömung der Psychologie weiterhin als >Denkpsychologie< und nicht als >Kognitionspsychologie< zu bezeichnen, da der heutige Kognitionsbegriff sehr viel weiter gefaßt wird und gerade die für die (neukantianisch inspirierte) Denkpsychologie grundlegende Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Denken wiederum nivelliert.

21 Hierzu hatte sich schon früh Külpe geäußert; vgl. Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, 9 f. 22 Vgl. a. a. O., 14 f.; Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, 216 f., 237243; Bühler: Die Krise der Psychologie, 47-57 und vor allem Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. 23 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 2: Erster Teil, The Hague 1984, 364. 24 Zu Cassirers Auffassung des Apriorigedankens vgl. Detlev Pätzold: »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt*, Würzburg 2007.

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Das schließt übrigens nicht aus, daß die moderne Kognitionsforschung, was den zweiten Aspekt betrifft, von den Studien zur Regelhaftigkeit ko­ gnitiver Prozesse inspiriert worden ist. Die Würzburger Schule wurde von George Humphrey in den Fünfziger Jahren im angelsächsischen Sprach­ raum bekannt gemacht. Der Forschungsansatz von Otto Selz wurde von A.D. de Groot weiterentwickelt und wird mittlerweise auch im Kontext der >Information-Processing Psychology< (Herbert Simon) ernstgenom­ men.2526

II) Cassirers Blick auf die Denkpsychologie in den späten ZwanzigerJahren

Oswald Külpe ist ebenso wie Richard Hönigswald für Cassirer schon in den früheren Jahren vor der Philosophie der symbolischen Formen kein Unbe­ kannter. Aber nicht die Denkpsychologie ist das Thema. Er rezipiert schon 1913 Külpes Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften bzw. seinen kri­ tischen Realismus, und mit Hönigswald hatte er einen kleinen Disput über die eigene funktionale Begriffslehre aus Substanzbegriff und Funktionsbe­ griff2(3 Aber erst der Aufsatz »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie« aus dem Jahre 1927 scheint uns mehr Aus­ kunft über sein Verhältnis zur Denkpsychologie geben zu können. Doch der Eindruck täuscht, wenn auch nicht gänzlich, so doch in gewisser Weise. Wie der Titel angibt, geht es in erster Linie um erkenntnistheoretische und logische Fragen und nur an dritter Stelle um Denkpsychologie. Und so bespricht Cassirer in diesem langen Ubersichtsartikel zur Philosophie der Gegenwart ausführlich bekannte Logiker, Erkenntnis­ theoretiker und Wissenschaftstheoretiker seiner Zeit: Husserl, Russell, Schlick sind hier die bekannten Namen. Weniger bekannte Autoren sind

25 Vgl. George Humphrey: Thinking. An Introduction to Its Experimental Psychology, New York 1963; Adriaan D. de Groot: Thought and Choice in Chess, The Hague 1965; Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology, The Hague 1980; Herbert Simon: »Otto Selz and Information-Processing Psychology«, in: Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology. - Zu Selz’ tragischem Ende in Nazideutschland und zur Selz-Rezeption vgl. Michel ter Hark: »Popper, Otto Selz and Meinong’s Gegenstandstheorie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 89, 2007, 69-76. Ausführlicher zu Selz in Michel ter Hark: Popper, Otto Selz and the Rise of Evolutionary Epistemology, Cambridge 2004. 26 Vgl. Ernst Cassirer: »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9, 194-200; 157-159. Hönigswald hatte Cassirers Buch aus dem Jahre 1910 in der Deutschen Literatur-Zeitung vom 9. und 16. November 1912 ausführlich und kritisch besprochen (Sp. 2821-2843 und 2885-2902). Cassirer hatte seinerseits schon 1909 in den Kant-Studien (Band 14, 91-98) Hönigswalds Buch Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre aus dem Jahre 1906 rezensiert.

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die Physiologen und Logiker Theodor Ziehen und Johannes von Kries,27 und Cassirer beschließt seinen Bericht sogar mit Nicolai Hartmann, des­ sen Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) gar nicht so recht in diese Reihe paßt. Aber kein einziger Autor der Würzburger Schule der Denkpsychologie kommt ins Visier. Nur einmal fällt der Name Külpes im Anschluß an ein Zitat zu Begriffsfunktionen aus Moritz Schlicks Allge­ meine Erkenntnislehre (1918).28 Entweder rechnet Cassirer alle von ihm be­ handelten Autoren zur Denkpsychologie, was Unsinn wäre, oder aber die Denkpsychologie kommt überhaupt nicht vor. Letzteres ist der Fall mit einer Ausnahme, die uns zu einer Präzisierung veranlaßt. Die Würzburger Schule der Denkpsychologie kommt nicht zu Wort, wohl aber Richard Hönigswald, der, wie wir schon gesehen haben, durchaus mit den Würz­ burgern sympathisierte. Sehen wir uns also etwas genauer an, was er hier zu Hönigswald als >Denkpsychologen< zu sagen hat. Cassirer bezieht sich hier nicht auf dessen Aufsatz zu Prinzipienfragen der Denkpsychologie aus dem Jahre 1913, sondern auf die mittlerweile zweite Auflage (1925) seines Buches Die Grundlagen der Denkpsychologie. Studien und Analysen (1921), d.h. er hat Hönigswald offenbar erst spät in denkpsychologischem Kontext wahrgenommen. Zwar weist Cassirer kurz auf die Tatsache hin, daß die Bestrebungen zur Ausbildung der Denkpsychologie als eigenständiger Disziplin inner­ halb der Psychologie älteren Datums seien, betont dann aber: »erst vor kurzem haben diese Bestrebungen in Hönigswalds bedeutsamen Werk über die Grundlagen der Denkpsychologie< ihre methodische Reife erlangt«.29 Es ist nicht leicht zu sagen, ob Cassirer mit diesem Hinweis etwas über die methodische Unreife der frühen Denkpsychologie sagen will, wenn er sie - also beispielsweise Bühlers experimentelle Untersuchungen und die Wundt-Bühler Kontroverse - überhaupt zu diesem Zeitpunkt kannte. Aber unabhängig davon, ob er experimentelle Untersuchungen auf diesem Gebiet befürwortete oder nicht, Hönigswalds methodische Reife liegt für ihn jedenfalls in seiner philosophischen, genauer transzendentalphiloso­ phischen Betrachtung des Denkens nicht nur als eines psychischen Phäno­ mens unter anderen, sondern als Constitutives Prinzip< des Bewußtseins. Das Denken ist für Cassirer hier ein hartes kantisches Apriori, d.h. das Denken oder der >Logos< sei Voraussetzung der >Psyche< und nicht nur ein

27 Theodor Ziehen: Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena 1898; ders.: Erkenntnistheorie aufpsychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena. 1913; ders.: Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik., Bonn 1920; Johannes von Kries: Logik. Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre' Tübingen 1916. 28 Vgl. Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), in: ECW 17, 54 f. 29 A.a.O., 26.

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Teil von ihr (nebenbei bemerkt: dies hatte Descartes in seiner sechsten Meditation auch schon so gesehen).30 Der Versuch, Denken >erklären< zu wollen im Sinne der Zurückführung auf andere psychische Phänomene, wie beispielsweise die assoziative Verknüpfung sinnlicher Vorstellungen, könne daher nicht gelingen (nebenbei bemerkt: auch Kant hatte auf die Zirkulariät beim Versuch apriorische Elemente des Bewußtseins zu erklä­ ren hingewiesen).31 Dieses Argument zählt natürlich nur dann, wenn man die Lehre von der Irreduzibilität von den zwei Stämmen der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, akzeptiert. Aber dies war ja gerade ein wesent­ liches Resultat denkpsychologischer Forschungen. Des weiteren lobt Cassirer Hönigswald dafür, das Phänomen der Bedeu­ tung als Schnittstelle zwischen Logik und Psychologie in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen gestellt zu haben.32 Richtiger wäre allerdings zu sagen, daß Hönigswald den Begriff des Sinns in den Mittelpunkt stellte, was schon in seinem Aufsatz zu den Prinzipienfragen der Denkpsycholo­ gie zu lesen war. Denn >Sinn< ist für ihn eine komplexe Relation, sozusagen Grundlage >möglicher Bedeutungen^ wobei eine der möglichen Bedeutun­ gen dann die logische Wahrheit ist, die gleichsam eine »Determination des Sinns< repräsentiert. Damit gilt aber auch, daß nicht alles Sinnvolle auch schon wahr sei. Logik (das »Reich der Wahrheitdas Gesetz dessen, was sich im Erleben gestaltet und zugleich die Norm, gemäß welcher sich diese Gestal­ tung vollziehe [Zitat Hönigswald]36«.37 Ebenfalls geht Cassirer kurz auf die in Hönigswalds Buch entwickelte Theorie der Erlebniszeit ein38, weil sie ihm ein Beispiel für den zweifachen Sinnbezüg ist; er geht jedoch nicht auf dessen schon im frühen Aufsatz entwickelte und für die Denkpsychologie ebenso wesentliche These von der Worthaftigkeit des Denkens ein, die Hönigswald allerdings in seinem Buch etwas relativiert, indem statt von >Wort< nun häufiger von >Ausdruck< die Rede ist.39 Doch dazu gleich mehr. Dazu will ich noch einen kurzen Blick auf den dritten Teil der Philo­ sophie der symbolischen Formen werfen, um zu prüfen, ob wir hier mehr Denkpsychologisches finden, denn Cassirer selbst hatte 1927 indem soeben besprochenen Aufsatz auf den noch nicht erschienenen dritten Teil seines Hauptwerks (1929) verwiesen.40 Über Külpe und andere Würzburger Schü­ ler lesen wir dort nichts, aber erneut findet sich einiges zu Hönigswald und jetzt hinzukommend etwas über Karl Bühler als einem der Würzburger.

35 Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), ECW 17, 27 f. 36 Hönigswald: Die Grundlagen der Denkpsychologie, 195. 37 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), ECW 17, 28. 38 Vgl. a.a.O., 28-30; ebenso Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 192. 39 Vgl. Józef Kosian: »Richard Hönigswalds Denkpsychologie«, in: Ernst Wolfgang Orth/Dariusz Aleksandrowicz (Hg.): Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, Würzburg 1996, 47. 40 Vgl. Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), ECW 17, 34 Anm. 3.

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Bleiben wir zunächst bei Hönigswald. Cassirer geht jetzt kurz im II. Ka­ pitel über >Ding und Eigenschaft in einer längeren Anmerkung auf dessen These von der Worthaftigkeit des Denkens ein. Er schließt sich offensicht­ lich Hönigswalds Meinung an, daß es keinen Gedanken ohne >primären Wortbezug< gäbe, wobei man nicht vergessen darf, daß Hönigswald >Wort< im ganz allgemeinen Sinne definiert hatte als »ein den Bedingungen sinnli­ cher Wahrnehmbarkeit grundsätzlich genügendes Bedeutungssymbol von beliebiger Art und Struktur«.41 Cassirers Umschreibung ist indessen allge­ mein genug gehalten, um dieser semiotischen und nicht nur linguistischen Auffassung von der Worthaftigkeit des Denkens Rechnung zu tragen, denn er charakterisiert Hönigswalds Position zusammenfassend: »Demge­ mäß sind >etwas< denken und mögliche Verständigung über das Gedachte Wechselbegriffe. Wer etwas >denktDenken< bei Hönigswald. Dies unterscheide ihn von der Würzburger Schule der Denkpsychologie, das Denken sei das »psychologi­ sche Grundphänomen schlechthin«, weil es auch schon konstitutiv für das Wahrnehmen oder Anschauen von >Etwas< sei: »>Denken< wird hier der universelle Ausdruck für alle Sinnbezogenheit und alle Sinnhaftigkeit des Erlebnisses überhaupt«.43 Damit erweist sich letztlich die Worthaftigkeit des Denkens als »Worthaftigkeit des Sinns«. Auch in etwas späteren, der Sprachphilosophie gewidmeten Abhandlungen Cassirers (1932/33) wird Hönigswald weiterhin positiv rezipiert.44 Was sagt Cassirer nun aber zu Bühler, einem echten Würzburger Denk­ psychologen im Jahre 1929? Mittlerweile war dessen Buch Die Krise der Psychologie (1927/1929) erschienen und vor allem hierauf - neben kleine­ ren neuen Studien zur Sprachtheorie und Bühlers Entwicklungspsycho­ logie (Die geistige Entwicklung des Kindes, 1921)45 - bezieht sich Cassirer

41 Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, 237. 42 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 132, Anm. 19 (Hervorhebung DP). 43 A.a.O., 133, Anm. 19. 44 Vgl. Ernst Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18,115 f.; und gleichlautend Ernst Cassirer: »Le langage et la construction du monde des objects« (1933), in: ECW 18, 269 f. Ich sehe nirgendwo (wie Plümacher: Wahrnehmung Repräsentation und Wissen, 309), daß Cassirer sich in dieser Frage von Hönigswald abgren­ zen würde. Der erste deutschsprachige Text entstand für den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg 1931, wo Cassirer u. a. mit drei Vertretern der Würzburger Schule der Denkpsychologie, Narziß Ach, Charlotte und Karl Bühler, dis­ kutierte; vgl. Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, ECW 18, 122-126. 45 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 72; 122; 126; 135.

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hauptsächlich. Es geht hierbei um dessen etwa ab 1923 entwickelte Lehre von der Darstellungsfunktion der Sprache, der sich Cassirer weitgehend anschließen kann.46 Er interessiert sich aus denkpsychologischer Perspek­ tive insbesondere für »die Wendung von den >bloßen< anschaulichen Allge­ meinvorstellungen zu den sprachlichen >BegriffenWortzeichen< der Sprache zu den reinen >Begriffzeichen< der theoretischen Wissenschaft«48. Aber wegen der dreigliedrigen Struktur symbolischer Funktionen, die er in diesem letzten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt, erhält die Darstellungsfunktion der Sprache eine Kontinuität stiftende, vermittelnde Rolle. Dabei kommt die uns schon aus seiner Hönigswald-Rezeption bekannte Universalisierung des Begriffs des Denkens zum Tragen, wie folgendes Zitat belegen kann: »Zwischen dem wissenschaftlichen Begriff und dem Sprachbegriff scheint frei­ lich ein Abgrund zu klaffen - aber näher betrachtet ist dieser Abgrund die gleiche Kluft die das Denken schon einmal überspringen mußte, ehe es zum sprachlichen Denken werden konnte. [...] Erst die menschliche Sprache über­ windet diese Bindung an die unmittelbar gegebene und vorhandene sinnliche Situation[...] Aber der Gedanke gelangt schließlich an einen Punkt, an dem [er] [...] über die Grenzen der anschaulichen Darstellung und Darstellbarkeit über­ haupt [hinausgreift]. Wie vom Mutterboden der Anschauung, so löst er sich nun auch vom Mutterboden der Sprache ab. Und doch könnte ihm ebendiese letzte und höchste Anstrengung nicht gelingen, wenn er nicht zuvor durch die Schule der Sprache hindurchgegangen wäre«.49

Damit zeigt sich wiederum, daß Cassirer in diesen Jahren, was die über­ greifende Rolle des Denkens angeht, dem denkpsychologischen Ansatz Hönigswalds näher steht als dem der Würzburger Schule, in casu Bühler. Die Übereinstimmung mit Bühler besteht mehr in der semiotischen Inter­ pretation der einzelnen anschaulichen Wahrnehmungen.

46 Vgl. a. a. O., 122; Karl Bühler: »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3, 1923, 282-294; ders.: Die Krise der Psychologie, 47-57. - Vgl. hierzu Plümacher: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, 409 ff. 47 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, ECW 13, 280 (Hervor­ hebung DP). 48 A. a. Ο., 382. 49 A. a. Ο., 391.

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III) Cassirers Einordnung der Denkpsychologie in den späten DreißigerJahren

Sehen wir uns abschließend Cassirers zweite Rezeption der Denkpsycho­ logie in den Dreißiger Jahren an, was ihn daran interessierte und was er an ihr besonders schätzte. Eine kurze, aber klare Positionsbestimmung fin­ den wir in dem Aufsatz »Zur Logik des Symbolbegriffs« aus dem Jahre 1938. Cassirer bezieht sich hier nur auf Karl Bühler, aber nun auch auf sein neuestes Buch. Zunächst wiederum im Rückgriff auf dessen früheres Buch Die Krise der Psychologie (1927/29) bekennt er sich zur Wahrneh­ mungstheorie der >modernen Psychologie< - womit eindeutig die Denk­ psychologie Bühlers gemeint ist - nämlich der Auffassung, daß es keine relevanten Wahrnehmungen gäbe, die frei seien von einer Zeichenfunktion der Sinnesdaten, d.h. in Cassirers Worten, daß sie »immer schon durch­ setzt und gewissermaßen beseelt von bestimmten Akten der Sinngebung« sind.50 Und zustimmend zitiert er Bühlers in dessen Buch zur Sprachtheorie (1934) formuliertes Programm: »de[n] prinzipielle[n] Mißgriff aufzudecken und als Mißgriff zu entlarven [...] den alle jene getan haben, die im Ban­ ne der klassischen Assoziationstheorie die zweifelsfrei nachzuweisenden Komplexions- und Verlaufsverkettungen in unserem Vorstellungsleben ver­ wechseln mit dem Bedeutungserlebnis«.51 Und das heißt für Cassirer ganz im Sinne der Denkpsychologie, daß beispielsweise beim Verständnis eines Gesprächs oder einer Rede ein Komplexes Sinnganzes< erfaßt werde, »ohne daß ich hierzu nötig hätte, die einzelnen Worte der Rede mit anschaulichen Vorstellungsbildern zu begleiten und diese sodann, wie ein Mosaik, zu­ sammenzusetzen«.52 Kurz gesagt, die Sinngebung ist allgegenwärtig, auch schon auf der Ebene der anschaulichen Wahrnehmung und Empfindung, aber nicht umgekehrt ist jeder Sinn anschaulich, wie die höheren mentalen Leistungen belegen. Aber diese Sichtweise ist uns schon bekannt seit sei­ nem symbolischen Idealismus der Zwanziger Jahre. Er findet seine Position bestätigt durch die erneute und aktualisierte Rezeption von Bühlers denk­ psychologischem Ansatz. Aber es kommt in diesen Jahren auch etwas Neues hinzu: Cassirers Reflektionen über Basisphänomene, in deren Kontext nun auch eine wei­ ter ausdifferenzierte Rezeption der Denkpsychologie steht. Was zunächst

50 Ernst Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22, 123. - Zu Cassirers Sinn-Begriff vgl. Detlev Pätzold: »Zum Sinn-Begriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Christian Krijnen/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, Würzburg 1998. 51 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), ECW 22, 127; vgl. Bühler: Sprachtheorie, 58. 52 Cassirer: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), ECW 22, 127.

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deren Kritik an der Assoziationspsychologie anbelangt, so findet sich Cas­ sirers ausschlaggebendes Motiv, sich ihr anzuschließen, im Manuskript Über Basisphänomene (um 1936/37) ganz ungeschminkt formuliert. Im Kontext seiner Bestimmung des >Phaenomen des IchDenkens< in dieser Psychol [logie] erst spät u. nur auf merkwürdigen Umwegen entdeckt, (vgl. die Anfänge der Külpeschen Denkpsychologie, durch das Experimentieren mit Versuchspersonen u. das angeblich] >objektive< Registrieren dieser Aussagen! Bühler, Krise], S.] 12: Beschreib[ung] der Denkpsychol[ogie] u. ihrer >Entdekkung< [;] es fällt uns heute schwer, das als eine Entdeckung zu sehen - es mutet fast wie eine Trivialität an. Denken [wird] hier nur negativ als >nicht anschauliches Erlebnis< charakteri­ siert [;] Man vgl. z. B. Messer, Empfindung u. Denken [.] Ähnliches gilt für Gefühl u. Wille«57

53 Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 133. 54 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 1987, insb. §§ 33, 45, 47. 55 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 123. Zu Cassirers Göetheinterpretation vgl. John Michael Krois: »Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995. Zum Lebensbegriff Cassirers in der Phase der Entwicklung seiner Theorie der Basisphänomene vgl. Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005, 293-336, insb. 309-314 und 318-320. 56 Vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 140 f. 57 A. a.O., 141 f.; Cassirer hat dies auch ganz kurz angedeutet im Manuskript >Zur Objektivität der Ausdrucksfunktiom (1937/38); vgl. Ernst Cassirer: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929-1941), in: ECN 5, 193.

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Daß das Denken zum eigenständigen Forschungsgebiet wurde, begrüßt Cas­ sirer zweifelsohne, von der experimentellen Methode scheint er aber nicht viel zu halten. Ebenso ist ihm die Bestimmung des Denkens als unanschaulich zu wenig und nachgerade trivial, wobei er allerdings den positiven Aspekt, den die Würzburger an den Gedankenverknüpfungen feststellten, nämlich die Regelgeleitetheit des Denkens beim Problemlosen, unterschlägt. In Büh­ lers Die Krise der Psychologie wurden sehr wohl beide Aspekte unterstrichen und damit im Grunde genommen die Kantische Position auch durch die experimentelle Denkpsychologie zum Ausdruck gebracht: »Im ersten Anlauf schon stand man vor dem doppelten Tatbestand von der Eigenart und der Eigengeseiz/zcMezl· der Gedanken und Gedankenfolgen. Ge­ danken sind mehr, sind etwas anderes als Vorstellungsbilder und sie folgen im wohlgeordneten, disziplinierten Denken nicht dem Assoziationsgesetz, son­ dern den Forderungen der gedachten Gegenstände«.58

Cassirer nennt im vorhergehenden Zitat immerhin drei der Würzbur­ ger experimentellen Denkpsychologen beim Namen: Külpe, Bühler und scheinbar erstmals auch August Messer, den er allerdings schon 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff als Beispiel für die experimentelle Denkpsychologie, ohne diesen Ausdruck zu verwenden, erwähnt hatte.59 Aber Karl Bühler und dessen Sprachtheorie widmet er im folgenden die meiste Aufmerksamkeit, und dies hat mit Cassirers Versuch zu tun, sie im Sinne der drei Basisphänomene (>Ich-PhaenomenWirkens-PhaenomenWerk-PhaenomenLebensWerk< (Opus operatum) ihren sichtbaren Ausdruck findet - «.63

Und in einem letzten Schritt werden von Cassirer dann die drei von Büh­ ler unterschiedenen Sprachdimensionen: Kundgabe (Ausdruck), Steuerung und Darstellung, welche analog zum Fühlen, Wollen, Denken zu sehen sind, auf die drei Basisphänomene zurückbezogen: »Denn was bedeutet denn diese Zerlegung der >Sprache< in die drei Grundmo­ mente Ausdruck, Steuerung, Darstellung Und worauf weist sie letztlich zurück - ? Betrachtet man sie näher, so findet man zu seiner Überraschung, daß sie eben auf jene drei Klassen von Basisphaenomenen zurückweist, die wir unterschieden hatten und die z.B. in der Goetheschen Betrachtung hervortraten Das Phaenomen des >Ausdrucks< ist das, worin sich die reine Innerlichkeit des Subjekts, sein monadisches Eigen-Sein und Eigen-Leben bezeugt >Ausdruck< - das ist der einzige Weg, auf dem diese Innerlichkeit >erscheinenaussen< dringen kann Die Steuerung entspricht dem Moment des Aktions-Zusammenhangs, WirkensZusammenhangs (kein solcher Wirkens-Zusammenhang [ist] ohne >Steuerung< durch irgendwelche sinnliche >Zeichen< möglich Diese [sind] schon in der Tierwelt wirksam u. [bilden] die Grundlage u. Voraus­ setzung des sozialen Lebens, das sich in ihr vorfindet[)]

62 Theodor Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, 3. Auflage, Leipzig 1926 (1. Auflage 1902). Zu Lipps findet sich in den Dreißiger Jahren auch schon eine relativ positive Beurteilung in Cassirers kurzem Beitrag »Psychologie und Philosophie« (1932), in: ECW 18, 149. 63 Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, 143.

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- Und schließlich das Dritte: die Darstellung: die Setzung des objektiven >Seins< u. der objektiven >Sachverhalte< [...] Darstellung zur Sphaere des >Denkens< gehörig«.64

Das Letztere, die Darstellung, gehört also zum Bereich des Denkens, wo­ bei das Denken von Cassirer hier wiederum ganz weit gefaßt wird, was er ja auch an Hönigswald, wie oben schon gezeigt, so sehr schätzte: »Es ist konkretes Denken - d. h. der Inbegriff aller kognitiven Akte überhaupt - der Inbegriff all dessen, was zur Setzung eines Objektiven hinführt und für sie unentbehrliche Bedingung ist«.65 Zur Setzung eines Objektiven gehört daher für Cassirer auch jedes Werk menschlicher Kultur, sei es nun Kunst­ werk, Dichtung, Technik, Wissenschaft und so vieles andere mehr. Aber ebenso gehören bei Cassirer zur Setzung eines Objektiven auch dessen je­ weils bestimmten Regeln (der Kunst, der Dichtung, der Technik, Wissen­ schaft) folgende und in ihrem jeweiligen Bereich objektiv geltende Formen der Symbolisierung, was vielleicht ein entferntes Echo der These von der Regelgeleitetheit des Denkens aus der Würzburger Schule sein kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß wir mehrere Etap­ pen einer Rezeption der Denkpsychologie bei Cassirer finden. Außer ei­ nem ersten indirekten Bezug auf die experimentelle Denkpsychologie und den Würzburger Schüler August Messer am Ende von Substanzbegriff und Funktionsbegriff im Jahre 1910, sehe ich erst ab den Zwanziger Jahren eine intensivere Rezeption, wobei Hönigswald ab 1927 dominiert, aber Bühler ab 1929 hinzukommt. In den Dreißiger Jahren werden Külpe und Messer erneut, aber jetzt erst in eindeutig denkpsychologischem Kontext erwähnt. Jedoch findet im Manuskript über Basisphänomene nur Bühler als einziger Würzburger ernsthafte Beachtung, während Hönigswald nur noch ganz am Rande erwähnt wird.6667 Hönigswalds philosophische Denkpsychologie wird also in Cassirers Rezeption abgelöst durch Bühler, allerdings nicht im Sinne der frühen experimentellen Denkpsychologie, sondern im An­ schluß an dessen spätere Sprachtheorie. Von der experimentellen Methode der Denkpsychologie scheint Cassirer dagegen zu keinem Zeitpunkt, auch nicht in Substanzbegriff und Funktionsbegriff 7, überzeugt gewesen zu sein. Es gibt also seltsamerweise in der Phase von Cassirers Göteborger Exil eine zweite (oder dritte, wenn man den Hinweis auf Messer im Jahre 1910 hinzurechnen will) Rezeption der Denkpsychologie, also in einer Situati­ on, von der man eigentlich sagt, daß er - auch was die Verfügbarkeit an

64 A.a.O., 148f. 65 A.a.O., 149. 66 Vgl. a. a. O., 139. 67 Vgl. seine kritische Bemerkung in Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, ECW 6, 374.

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Literatur anging - weitgehend abgeschnitten gewesen sei. Es stellt sich die Frage, ob es vielleicht Göteborger Kollegen waren, die ihn wieder auf die Würzburger Schule der Denkpsychologie hingewiesen haben. Gibt es eine Göteborger Rezeption der Würzburger Schule? Ich weiß es nicht. Und wo für mich ein >Ich weiß es nicht< beginnt, ist der rechte Augenblick gekom­ men, um an diesem Punkt vorläufig meine Darstellung zu beenden.

Literaturverzeichnis Narziß Ach: Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersu­ chung mit einem Anhänge: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen 1905 Karl Bühler: »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Uber Gedanken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907 - »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908 - »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 12, 1908 - »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 3, 1923 - Die Krise der Psychologie, 2. Auflage, Jena 1929 - Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, 1923), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd.6 - »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik« (1913), in: ECW 9 - Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkennt­ nis (1929), in: ECW 13 - Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), in: ECW 17 - »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932), in: ECW 18 - »Le langage et la construction du monde des objects« (1933), in: ECW 18 - »Psychologie und Philosophie« (1932), in: ECW 18 - Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940), in: ECW 22 - Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen - Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 - Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge (1929-1941), in: ECN 5 René Descartes: Meditationes de prima philosophia, hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1977 Ernst Dürr: Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907 Nico H. Frijda/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psycho­ logy, The Hague 1980

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Adriaan D. de Groot: Thought and Choice in Chess, The Hague 1965 Steffi Hammer: Denkpsychologie - Kritischer Realismus. Eine wissenschaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes, Frankfurt/M. 1994 Michel ter Hark: Popper, Otto Selz and the Rise of Evolutionary Epistemology, Cambridge 2004 - »Popper, Otto Selz and Meinong’s Gegenstandstheorie«, in: Archiv für Ge­ schichte der Philosophie 89, 2007 Richard Hönigswald: »Prinzipienfragen der Denkpsychologie«, in: Kant-Studien 18, 1913 - Die Grundlagen der Denkpsychologie, 2. Auflage, München 1925 George Humphrey: Thinking. An Introduction to Its Experimental Psychology, New York 1963 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd.2: Erster Teil, The Hague 1984 - Cartesianische Meditationen, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 1987 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd.III, Berlin 1968. Józef Kosian: »Richard Hönigswalds Denkpsychologie«, in: Ernst Wolfgang Orth/Dariusz Aleksandrowicz (Hg.): Studien zur Philosophie Richard Hönigs­ walds, Würzburg 1996 Johannes von Kries: Logik Grundzüge einer kritischen und formalen Urteilslehre, Tübingen 1916 John Michael Krois: »Ernst Cassirers Semiotik der symbolischen Formen«, in: Zeitschrift für Semiotik 6, 1984 - »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolf­ gang Orth (Hg.): Uber Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988 - »Cassirer als Goethe-Interpret«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995 Oswald Külpe: Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage darge­ stellt, Leipzig 1893 - Uber Kant. Festrede bei der Kant-Feier der Würzburger Universität am 12.2.1904, Würzburg 1904 - »Versuche über Abstraktion«, in: Bericht über den I. Kongreß für experimentelle Psychologie in Gießen, Leipzig 1904 - Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, 2. Auflage, Leipzig 1908 - »Uber die moderne Psychologie des Denkens«, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kultur und Technik, Heft 9, 1912 Theodor Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, 3. Auflage, Leipzig 1926 (1. Auflage 1902) Helmut E. Lück: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 1991 Karl Marbe: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Ein­ leitung in die Logik, Leipzig 1901 August Messer: »Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Den­ ken«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 8, 1906

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Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften

- Empfindung und Denken, Leipzig 1908 Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Ham­ burg 2005 Detlev Pätzold: »Zum Sinn-Begriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Christian Krijnen/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, Würzburg 1998 - »Cassirers Behandlung des Kantischen Apriorigedankens in der theoretischen Philosophie«, in: Marion Heinz/Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantia­ nismus. Fortschritt oder Rückschritt?, Würzburg 2007 Martina Plümacher: »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: Enno Rudolph/Ion-Olimpiu Stamatescu (Hg.): Von der Philo­ sophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997 - »Die Erforschung des Geistes - Cassirers Auseinandersetzung mit der zeit­ genössischen Psychologie«, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003 - Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewusstseins, Berlin 2004 Otto Selz: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Unter­ suchung, Stuttgart 1913 Herbert Simon: »Otto Selz and Information-Processing Psychology«, in: Nico H. Frij da/Adriaan D. de Groot (eds.): Otto Selz: His Contribution to Psychology, The Hague 1980 Theodor Ziehen: Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena 1898 - Erkenntnistheorie aufpsychophysiologischer und physikalischer Grundlage, Jena 1913 - Lehrbuch der Logik aufpositivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Ge­ schichte der Logik, Bonn 1920

Herbert Kopp- Oberstebrink

Konstellationen und Kontexte Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Ernst Cassirers Philosophie

Wenn hinsichtlich der mittleren und späten Philosophie Cassirers gele­ gentlich vom »Primat des Kulturbegriffs vor dem Geschichtsbegriff« die Rede war, so gerät dieser Lesart leicht der grundlegende Sachverhalt aus dem Blick, daß das Projekt von Cassirers Kulturphilosophie auf dem Ge­ schichtsbegriff gründet und die Dimension der verschiedenen symboli­ schen Formen und der durch sie konstituierten Welt der Kultur nur als geschichtliche erschließbar ist.1 Der Umstand, daß die innere wechselseitige Verwiesenheit von Kultur und Geschichte oder Kulturphilosophie und Ge­ schichtsbegriff übersehen werden konnte, ist nicht nur historisches Resultat der Cassirer-Renaissance der letzten zwei Dekaden, die ihn zu Recht zum Inaugurator der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts machte, dabei aber in einseitiger Weise die kulturellen Symbolisierungsprozesse in den Blick nahm. Vielmehr ist diese dekontextualisierende Lesart, die Cassirers Phi­ losophie auf die aktuellen Paradigmen von Semiotik und Metaphorologie zu verpflichten sucht, auch einem doppelten Tatbestand des Cassirerschen Philosophierens nach dessen >cultural turn< geschuldet.2 Denn zum einen hat Geschichte im veröffentlichten Werk zumeist den Status eines bloßen >Operationsbegriffs< inne, während der Begriff der Kultur und die kultu­ rellen Symbolisierungen bereits mit der Philosophie der symbolischen For­ men eine eingehende Thematisierung erfahren.3 Zum anderen unterzieht Cassirer Geschichte als Grundbegriff auch der Kulturphilosophie erst in den Jahren nach deren vorläufigem Abschluß eingehender Reflexion, und es scheint, als hätten erst die lebensweltlichen Bedingungen von Emigration und Exil diese Thematisierung erzwungen. Der entsprechende, im Göte­

1 Ursula Renz: »Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft. Überlegungen zur Historiographie der Philosophie im Ausgang vom Marburger Neukantianismus«, in: Studia philosophica 61, 2002, 177-197, hier: 195, vgl. auch 194. 2 Vgl. a.a.O., 195. Als sehr plausible und wohlbegründete Alternative zum main­ stream der vom Primat der Kulturphilosophie geleiteten Cassirer-Interpretation er­ scheint die Deutung der Arbeiten Cassirers als Arbeit am Projekt einer philosophischen Anthropologie, vgl. Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 3 Vgl. Eugen Fink: »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11, 1957, 321-337.

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borger Exil verfaßte Text blieb allerdings unveröffentlicht und konnte erst im Rahmen der Nachlaßedition zugänglich gemacht werden.4 Die Problematik dieser Rezeptionsverzögerung wird im Falle des Be­ griffs der Geschichte in ihrer ganzen Drastik deutlich, erweist sich doch gerade auf der Basis der nachgelassenen Texte, daß Cassirer keineswegs kulturtheoretische Grundlagenreflexionen an die Stelle von geschichts­ theoretischen setzte, wie die dem Primat der Kulturphilosophie unter­ stellte Lesart annimmt.5 So hat Cassirer in nachgelassenen Entwürfen etwa das in der Forschung problematisierte Verhältnis von symbolischen Formen und Geschichte näher bestimmt, und zwar so, daß historisches Verstehen zur Bedingung der Möglichkeit der Formanalyse kultureller Symbolisierung und umgekehrt die strukturelle Analyse zum Organon der historisch-genetischen wird.6 Geschichte, so wird hier en passant deut­ lich, ist schon deshalb keine symbolische Form, weil sie Moment jeglicher symbolischen Form ist.7 Blickt man von hier aus auf die Einleitung zum ersten Band des Erkenntnisproblems von 1906 zurück, dann zeigt bereits dieser frühe programmatische Text, daß Kultur zum Thema nur auf der Grundlage einer Hermeneutik historischen Erkennens gemacht wird. Die problematische Ausgangslage für die Geschichtsthematik in der Tradition neukantischen Philosophierens, zumindest der der Marburger Schule, ist offenbar: einerseits wurde der Ursprung der Naturerkenntnis zum Gegenstand geltungstheoretisch orientierter Erkenntniskritik, ande­

4 Vgl. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 3: Geschichte. Mythos, hg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert Kopp-Oberstebrink u. Rüdiger Kramme, Hamburg 2002, 3-192; zum thematischen Zusammenhang gehört auch das Manuskript »Form«, a. a. O., 202-236. Eine umfangreiche Studie zu diesem Thema vom Verfasser befindet sich in Vorbereitung; vgl. dazu einstweilen vom Verfasser: »Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschicht sschreibung während der Exilszeit«, in: Gerald Hartung/Kay Schiller (Hg.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration, Bielefeld 2006, 53-70. 5 So etwa Renz: »Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Ver­ nunft«, 195. 6 »Auf der einen Seite ist es das historische Denken als solches, das uns das Eindringen in die einzelnen symbolischen Formen erst ermöglicht und das uns ihre Wesensart, ihre spezifische Eigentümlichkeit erst aufschliesst - [...] Aber auf der anderen Seite sind die einzelnen symbolischen Formen, wenn wir sie in dieser Weise [...] erfassen, nun auch wieder die Organe, kraft deren uns historisches Leben in seinem ganzen Umfang und in seinen bewegenden Kräften, in seinen Ur-Motiven erst ganz zugänglich wird -[.]« (Ernst Cassirer: »Mythos«, in: ECN 3, 175-176). 7 Thomas Göller bemerkt zurecht, daß Cassirer Geschichte erst im Spätwerk reflek­ tiert, setzt bei seiner Darstellung aber selbstverständlich voraus, daß »Geschichte nicht nur als symbolische Form genannt«, sondern als solche thematisiert werde, was der Sache wie dem Buchstaben nach unzutreffend ist. (Thomas Göller: »Ernst Cassirer über Geschichte und Geschichtswissenschaft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45, 1991, 224-248, hier: 224).

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rerseits wurden im Bereich der Ethik die Bedingung der Möglichkeit und Geltung moralischer Urteile reflektiert. Geschichte als Raum der Realisie­ rung wissenschaftlicher oder ethischer Praxis blieb athematisch.8 Zudem unterlag der Bereich der Geschichtsphilosophie in der Folge des spekula­ tiven Idealismus dem Metaphysikverdacht. In dieser schulgeschichtlichen Konstellation beschränkte sich Cassirer auf methodologische Reflexio­ nen zum historischen Erkennen in der Wissenschafts- und Philosophie­ geschichtsschreibung des sogenannten Erkenntnisproblems.9 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß die Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Erkennens, wie sie im ersten Band des Erkenntnisproblems angestellt werden, von Cas­ sirer als paradigmatisch für historische Erkenntnis überhaupt angesehen wurden.10 Das mag unter Hinweis auf die historiographisch-methodologischen Differenzen etwa zwischen Begriffsgeschichte und politischer Ge­ schichte als problematisch angesehen werden, ist aber klares Indiz dafür, daß Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibung für den frühen Cassirer als Substitute einer Philosophie der Geschichte fungierten. In diesem Horizont betrachte ich im folgenden einige Aspekte der Philosophiegeschichtsschreibung Ernst Cassirers. Geleitet werden meine Überlegungen von der Frage, ob in seinen veröffentlichten wie unveröf­ fentlichten Arbeiten Aspekte einer philosophischen Historiographie auf­ weisbar sind, die in Verfahren und Methodendiskussionen heutiger Philo­ sophiegeschichtsschreibung von Relevanz sind. Denn der Ausgangsbefund ist eindeutig: die historisch akzentuierten Arbeiten Cassirers, seien es das Erkenntnisproblem, die Philosophie der Aufklärung oder andere, werden auch heute noch in philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zitiert und diskutiert; die Problemgeschichtsschreibung aber,

8 Die Komplikationen in Cohens Interpretation des hier vereinfacht skizzierten Verhältnisses zwischen vernunfttheoretischer und naturgeschichtlicher Problemstellung hat Helmut Holzhey: »Kants Geschichtsphilosophie im Neukantianismus«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 85-104, eingehend dargestellt. 9 Vgl. Ernst Cassirer: »Einleitung«, in Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906; 1911; 1922), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff. (ECW), Bd. 2, 1-15 [= erster Teil der Einleitung zur zweiten Aufl. 1911] u. 504-533, hier: 504-511 [= zweiter Teil der Einleitung zur ersten Aufl. 1906]. 10 Vgl. a.a.O., 13, wo »der Begriff der Wissenschaftsgeschichte selbst« als exempla­ risch für »jede historische Entwicklungs reihe« diskutiert wird. Diesen Sachverhalt ma­ chen bereits Cassirers erste Entwürfe zur Einleitung des Erkenntnisproblems unmißver­ ständlich deutlich. Das nachgelassene Manuskript »Geschichte. Mythos« verwendet diese Übertragungsfigur mit einer Akzentverschiebung, wenn dort Philosophiegeschichts­ schreibung ebenso gut wie jede andere Form von Geschichtsschreibung als Exempel für die Verfahren von Historiographie dienen soll, vgl. Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos, in: ECN 3, 96.

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auf der sie ausschließlich zu basieren scheinen, erscheint als notwendiges Übel, als nicht weiter reflektierte und doch kaum vermeidbare Praxis in Philosophiegeschichten, historischen Abrissen oder auch systematischen Arbeiten, in jedem Falle aber gilt sie als alter Hut.11 Diese Zuschreibung verdeckt jedoch, daß sich in seinen philosophiegeschichtlichen Arbeiten ebenso wie in den entsprechenden methodologischen Reflexionen unter der problemgeschichtlichen Oberfläche ganz verschiedene Ansätze und Verfahren zur Philosophiegeschichtsschreibung feststellen lassen. Es wird zu fragen sein, ob diese Heterogenität auch Umbrüche innerhalb einer als geradezu notorisch kontinuierlich erscheinenden Werkgeschichte mar­ kiert. Seitenblicke auf einige aktuelle Konzeptionen von Philosophiege­ schichtsschreibung sollen zeigen, daß Cassirer auch als Philosophiehistori­ ker in neueren Debatten zum Thema ein Wörtchen mitzureden hätte. Ich werde in folgenden Schritten vorgehen, die der Sache nach Konzep­ tionsverschiebungen in Cassirers Auffassung von Philosophiegeschichts­ schreibung markieren: zuerst soll als historischer und sachlicher Aus­ gangspunkt das Modell von Philosophiegeschichtsschreibung in den er­ sten beiden Bänden des Erkenntnisproblems von 1906/07 kurz skizziert werden (I). Im Anschluß wird die Zäsur umrissen, die der dritte Band des Erkenntnisproblems (1919) für Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung bedeutet; dabei sind Leistungsfähigkeit wie Grenzen dieser Neukonzepti­ on näher zu bestimmen (II). Die Öffnung des Ansatzes zu einer Theorie historischen Erkennens im kulturellen Kontext vollzieht das Geschichts­ manuskript von 1936, dessen Dimensionen in einem weiteren Schritt aus­ gelotet werden (III); näher zu untersuchen sind dabei insbesondere die Neubestimmung des Verhältnisses von Systematik und Historie (IV), die Rolle der Textkritik für die systematische Rekonstruktion (V) und ab­ schließend das daraus entwickelte Modell von Rekontextuierung (VI).

I) Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung im Zeichen des Faktums mathematischer Naturwissenschaft die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems (1906/07) Dem Neukantianismus seiner Lehrer Cohen und Natorp folgend sind die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems vom Paradigma des Erkennens in Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft geleitet. Natorps Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems von 1884 prägten die Hi­

11 Noch neuere Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte, wie etwa Lorraine Daston/ Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007, argumentieren problemgeschichtlich, ohne dies Verfahren eigens methodologisch zu reflektieren.

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storiographie des Erkenntnisproblems zum Modell einer teleologisch kon­ zipierten Philosophiegeschichte. Dieses teleologische Modell konstruierte Natorp als Schreibung einer doppelten Vorgeschichte: als Vorgeschichte, die in den »Idealismus« Platons mündete, und diesen wiederum als Anfang einer Geschichte, die ihr Ziel in Kants Kritik der reinen Vernunft fand.12 Entsprechend war die Geschichte des Erkenntnisproblems zunächst auf nur zwei Bände angelegt und sollte mit einer Darstellung der Kantischen Kritik enden. Ihren sachlichen Ausgang nahm die Arbeit von 1906/07 bei dem von Cassirer historisch prozessualisiert interpretierten »Factum der Wis­ senschaft« Cohens, das heißt bei der »Analyse der gegebenen Wissenschaft [i.e. mathematische Naturwissenschaft, HKO]«.13 Der beständige Bezug auf den Erkenntnisbegriff der Wissenschaftsgeschichte sollte das Erkenntnis­ problem von einer »Geschichte der Erkenntnistheorien« unterscheiden.14 Dabei scheinen die einleitenden methodologischen Überlegungen Cassi­ rers auf eine transzendentale Historik abzuzielen, die die Bedingungen der Möglichkeit historischen Erkennens skizzieren. Die methodische und sachliche Verpflichtung des frühen Cassirer auf die systematische und historiographische Programmatik des Marburger Schulzusammenhangs, auf einen reduktiven, mathematisierten und logifizierten Begriff von Erkennt­ nis brachte freilich den Ausschluß etwa der biologischen, religiösen, ästheti­ schen oder historischen Dimension der Wirklichkeitserkenntnis des Men­ schen mit sich. Entsprechend folgte die Kritik an Leibniz" System und den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems dem Muster, das sich in der Rezeption der historischen Arbeiten Natorps herausgebildet hatte.15

12 Paul Natorp: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis, Berlin 1884. Es ist anzumerken, daß Natorp in den Forschungen zwar nur die erste Vorgeschichte, die zum platonischen Erkenntnisbegriff schreibt. Doch wird die zweite Vorgeschichte dadurch in die Darstellung hereinge­ holt, daß der zugrundegelegte Begriff von Erkenntnis im Horizont von Cohens KantInterpretation entworfen ist. 13 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1906; 1911; 1922), in: ECW 2, 5. 14 Vgl. a. a. O., 6. 15 Vgl. dazu die soeben abgeschlossene, noch nicht veröffentlichte Studie vom Verfasser: Systematik und Historie in Ernst Cassirers Wissenschafts- und Philosophiegeschichts­ schreibung, die auch die Differenzen zwischen Natorps und Cassirers früher Philosophie­ geschichtsschreibung auslotet.

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II) Konstellation und Motivgeschichte Die nachkantischen Systeme (1919) als Zäsur Bereits der dritte Band des Erkenntnisproblems von 1920 markiert eine Zä­ sur in Ernst Cassirers Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Sein Haupttitel - vollständig: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit - weist im Vergleich mit dem der ersten bei­ den Bände keine Veränderung auf und scheint schon dadurch Kontinui­ tät hinsichtlich des Gegenstands und des zugrundegelegten Modells von Geschichtsschreibung anzuzeigen. Doch wird Wissenschaft, gleich welcher Ausprägung, in der Fortschreibung des Werkes gar nicht thematisiert, und schon das verweist auf eine tiefgreifende Konzeptionsänderung gegenüber den ersten beiden Bänden. Diese betrifft freilich nicht nur das historische Material und die Bereiche der Darstellung, sondern in zentraler Weise auch deren Form und Verfahren. Orientierte sich die Geschichtsschreibung des Erkenntnisproblems der ersten beiden Bände noch an der als vorgängiges »Faktum« interpretierten Wissenschaftsgeschichte, so führt deren vollstän­ diger Ausfall im dritten Band zur Autonomisierung des im engeren Sinne p/?z7o5op/?zegeschichtlichen Moments und zur Aufgabe des Szientismus, der die Darstellung von 1906/07 noch geleitet hatte. Eine weitere signifikante Differenz zu den Vorgängerbänden wird deutlich: auch der Titel des Er­ kenntnisproblems verfehlt in seiner singularisierten Form das Dargestellte. Es geht nicht länger um das Erkenntnisproblem, sondern allenfalls um ErkenntnisproWeme - doch recht besehen sind nicht einmal sie das eigentliche Thema der Darstellung. Der Paradigmenwechsel in Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung ist offenkundig und vollzieht sich im Zeichen der Rücknahme der ein­ seitigen Orientierung am sogenannten »Faktum« mathematischer Natur­ wissenschaft und der Rückgewinnung einer Pluralisierung des Erkennt­ nisbegriffs. Band drei des Erkenntnisproblems thematisiert Dimensionen menschlicher Wirklichkeitserkenntnis, die in dessen ersten beiden Bän­ den schon wegen deren mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausrich­ tung ausgeschlossen bleiben mußten: Theologie, Philosophie der Kunst, Staatsphilosophie, Anthropologie, Naturphilosophie und Organologie.16 Methodologischer Leitfaden des dritten Bandes sei, so erklärt Cassirer,

16 Die Interpretation von John Michael Krois verfehlt das szientifisch verengte Paradigma von Erkenntnis der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems von 1906/07, wenn es heißt: »Das Erkenntnisproblem treated intellectual history in its own terms [sic], recognizing jurisprudence, language, art, and religion as unique and irreducible factors [sic]« John Michael Krois: »A Note about Philosophy and History. The Place of Cassirer’s Erkenntnisproblem«, in: Science in Context 9, 1996, 191-194, hier: 192); damit wird genau die Position eines Pluralismus im Erkenntnisbegriff unterstellt, wie ihn Cassirer erst mit der Philosophie der symbolischen Formen (1923/1925/1929) erreicht.

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die »Treue der geschichtlichen Darstellung«. Diese verbiete, »aus den ein­ zelnen Systemen eine eigene und selbständige >Erkenntnistheorie< heraus­ zulösen« oder deren metaphysischen Inhalt in irgendeiner Weise zu ver­ kürzen.17 Nicht der jeweilige Beitrag der »metaphysischen Lehren« zum Erkenntnisproblem, gleich ob in singularisierter oder pluralisierter Form, soll Gegenstand der Darstellung sein, sondern deren jeweils »besondere Form des Denkens«.18 Diese Maxime stellt eine methodische und sachli­ che Kehrtwendung gegenüber den ersten beiden Bänden des Erkenntnis­ problems sowie Leibniz' System dar und muß als Antwort auf die Kritik gelesen werden, die an diesen Arbeiten geübt worden war.19 Problematisch blieb indessen, wie die Einheit der Darstellung nach dem Wegfall des Be­ zugs auf die Wissenschaftsgeschichte und nach der Pluralisierung des Er­ kenntnisbegriffs zu sichern war. Der Untertitel des dritten Bandes, Die nachkantischen Systeme, scheint auf den Begriff des Systems als Einheitsmoment der Darstellung zu ver­ weisen. Doch geht dieser Hinweis ins Leere, denn es liegt hier keine Sy­ stemgeschichtsschreibung im eigentlichen Sinne vor; immanente Darstel­ lungen einzelner Systeme nachkantischen Philosophierens sind nicht zu finden.20 Stattdessen werden die Systeme einerseits in ihren Wechselbezie­ hungen untereinander, in ihren wechselseitigen Spannungen, Problemlö­ sungsansätzen und Auseinandersetzungen porträtiert und andererseits in ihrem ständigen Rekurs auf die kantische Philosophie, an deren Probleme und offene Fragen sie anschließen. Dabei löst Cassirers Darstellung den systematischen Zusammenhang des »Kritizismus« nachgerade auf, um begriffliche Umbildungsprozesse einzelner Theoriemotive in den Blick zu bekommen.21 Philosophische Motiv-, nicht Systemgeschichte ist der Modus der Problemgeschichtsschreibung im dritten Band des Erkenntnis­ problems. Doch die Einheit der einzelnen Theoriemotive und ihrer Trans­ formationsgestalten wird realisiert durch ein anderes Darstellungsprinzip: das der Wirkung oder Wirksamkeit.22 Der Bezug dieser widerstreitenden

17 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4, VIII. 18 Ebd. 19 Die Rezeption von Leibniz' System und der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems stelle ich ausführlich in der oben erwähnten, noch unveröffentlichten Arbeit zu Systematik und Historie dar. 20 Zu den Anfängen der Systemgeschichtsschreibung vgl. Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philoso­ phiegeschichtsschreibung und -betrachtung, Meisenheim a. Glan 1968, 162-165. 21 »Immer von neuem muß daher das Ganze der kritischen Lehre [...] seiner festen ar­ chitektonischen Form entkleidet und in die gedanklichen Motive, aus denen es hervorge­ gangen ist, aufgelöst werden.« (Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Dritter Band, ECW 4, 2). 22 Der Begriff der >Wirkung< oder gar der der >Wirkungsgeschichte< ist hier kei­ nesfalls im Sinne von Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 283-284 u.ö.,

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Deutungsperspektiven auf Theoreme der Kantischen Philosophie bildet das innere Organisationsmoment von Cassirers Darstellung.23 Die wir­ kungsgeschichtliche Dimension unterläuft dabei das bloß nominell ein­ heitsstiftende Moment der Erkenntnisproblematik: »die mannigfachen Fortbildungsversuche der Kantischen Lehre [stehen] bei allem gedankli­ chen Widerstreit dennoch in einem Verhältnis gedanklicher Kontinuität.«24 Dadurch soll bei aller »einseitigen Hervorhebung des Einzelnen«, wie sie in den einzelnen nachkantischen Systemen vollzogen wird, »die Struktur des Ganzen klarer heraus [treten]« und ein »neues Totalbild« ergeben.25 Cassirers Bruch mit der szientifisch und teleologisch orientierten Pro­ blemgeschichtsschreibung im Stile der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems enthält historiographische Potentiale, die erst mehr als ein halbes Jahrhundert später wieder aktualisiert wurden. Es dürfte kein Zu­ fall sein, daß die von Henrich angeregte Variante der Rekontextuierung, die sogenannte Konstellationsforschung, als Programm zur Erforschung der idealistischen deutschen Philosophie in ihrem Bezug zu Kant ent­ standen ist. Denn genau diese Phase der Philosophiegeschichte bildet den Fokus der Cassirerschen Wirkungsgeschichtsschreibung, die Kant zum Anfangspunkt einer Epoche macht und die auf ihn folgenden Theoreme und Systeme als Rezeptions- und Transformationsgestalten der drei Kri­ tiken versteht. Auch hierin zeigt sich die Abkehr von der Konzeption von 1906/07, die die Kantische Kritik als Zielpunkt der Darstellung nahm und in gewisser Hinsicht auch als Ende der Geschichte, sollte doch auf die ge­ schichtliche Darstellung der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems eine systematische Abhandlung folgen.26 Mit der Konstellationsforschung

zu verstehen; ich verwende ihn vielmehr im Sinne der historischen Denkfigur der »Wirksamkeit«, mit der Cassirer erstmals in der Vorrede zu Leibniz’ System operiert hat, um die Aufnahme und Transformation von Theoriemotiven aus Leibniz’ philosophischen und wissenschaftlichen Arbeiten durch an diesen anschließende Theorien zu bezeich­ nen; vgl. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, X. - Verstehen läßt sich »Wirksamkeit« in diesem Zusammenhang also als Gegenfigur zur Rezeption, als von einer Theoriegestalt ausgehende Wirkmächtigkeit auf andere Theoriegestalten. 23 Cassirer nennt als Leittheoreme den »Begriff des Dinges an sich«, den der »synthe­ tischen Einheit«, den »Gegensatz zwischen Form und Materie« und das Verhältnis des »Allgemeinen und Besonderen innerhalb der Erkenntnis«: »Es wird sich zeigen, daß alle charakteristischen und entscheidenden Einzelbestimmungen in den Lehren Reinholds und Becks, Aenesidems und Maimons, [...] in den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels in irgendeiner Form auf das intellektuelle Bezugssystem hinweisen, das in diesen Begriffen und Problemen vorliegt« (a. a. O., 3). 24 Ebd. 23 Ebd. 26 Vgl. den Brief an Paul Natorp, wo Cassirer einen »Schlußband, der systematische Untersuchungen zum Erkenntnisproblem enthalten soll«, ankündigt (Ernst Cassirer: Brief an Paul Natorp v. 31. Juli 1905, Bl. 2v; Universitätsbibliothek Marburg, Nachlaß Natorp, Ms. 831:618).

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verbinden sich seither sowohl eine angeregte Debatte zu den Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung wie auch eine ganze Reihe von histo­ risch-systematischen Einzelstudien.27 Dabei ist die Konvergenz des epo­ chalen Zuschnitts beider Projekte mehr als nur ein erster Hinweis darauf, daß mit dem in Sachen Philosophiegeschichtsschreibung präzendenzlosen Ansatz von Band drei des Erkenntnisproblems ein Muster künftiger philo­ sophischer Historiographie geschaffen wurde. Denn die Annahme eines vorgängigen historischen Bezugspunktes der philosophischen Positionen, die als Konstellation verstanden werden sollen, ist conditio sine qua non des weiteren Verfahrens sowohl Cassirers als auch Henrichs. Auch andere Grundbedingungen in Cassirers Ansatz sind Indiz dafür, daß Die nach­ kantischen Systeme Konstellationsforschung avant la lettre betreibt. Zu ih­ nen gehört der oben skizzierte motivgeschichtliche Ansatz innerhalb eines wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs. Unabdingbare Voraussetzung einer historischen Konstellation im Sinne Henrichs ist vor allem aber, daß die Denkmotive, Theoreme und Argumente der einzelnen philosophischen Positionen sich in Differenz zueinander und Widerstreit miteinander be­ finden.28 Die philosophiehistorische Konstellation realisiert sich nur als epochaler Antagonismus, als Antagonismus von Problemen und gegenläu­ figen Entwürfen, deren Klärung in Debatten und Auseinandersetzungen durch die historischen Protagonisten zumindest versucht wurde. Damit gehört zu den methodischen Elementen der Konstellationsforschung zwar auch ein problemgeschichtliches Moment, das freilich bei weitem nicht so restriktiv interpretiert wird, wie das auf dem methodologischen Stand der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems der Fall war.29 Proble­ me, etwa der Kantischen Kritik der reinen Vernunft - Cassirer nennt hier beispielsweise »das Ding an sich« oder den Begriff des »Gegebenen« -,

27 Einen Überblick auch über die Weiterentwicklung des Forschungsprogramms und seine Interaktion mit anderen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Verfahren gibt Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005. 28 Dieter Henrich: »Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv - Ergebnis - Probleme - Perspektiven - Begriffsbildung«, in: Mulsow/Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 15-30, hier: 26-30. 29 Zur restriktiven, engen Fassung der Problemgeschichtsschreibung, wie Cassirer sie in Leibniz’ System und im Erkenntnisprohlem von 1906/07 praktiziert, gehört die Singularisierung des Problems, wie sie beispielsweise durch das Problem der Erkenntnis gegeben ist, und das heißt: die Einheit des Problems war nur dadurch zu gewährlei­ sten, daß der Begriff der Erkenntnis reduktiv, als unter dem Paradigma mathematischer Naturwissenschaft stehend, gefaßt wurde. Dazu tritt als zweites Moment das der inneren Logik des Problems hinzu: der Begriff des Problems als solcher steht in Cassirers früher Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung in einer Spannung zwischen zwei Polen. Im Falle des Problems der Erkenntnis ist das die Spannung zwischen substantialistischer und funktionaler Interpretation des Erkenntnisbegriffs. Erst auf der Basis dieses bipolaren Begriffsmusters kann Erkenntnis überhaupt als Problem verstanden werden, das im Gang der Geschichte verschiedene Stationen von Lösungsversuchen durchläuft.

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können als solche überhaupt erst identifiziert und systematisch rekonstru­ iert werden, weil sie von Zeitgenossen und Späteren als solche diskutiert wurden - so jedenfalls lautet Cassirers Position in Die nachkantischen Sy­ steme. Mit dieser wirkungsgeschichtlichen Wendung der Problemauffas­ sung verliert die Problemgeschichtsschreibung das ihr inhärierende meta­ physische Moment eines überhistorischen Bestandes, der aus der inneren Logik des problematisierten Begriffs, beispielsweise dem der Erkenntnis, folgen und für die gesamte Geschichte der Philosophie gelten soll. Insbe­ sondere die erste Auflage des Erkenntnisproblems hatte mit ihrer Skizze zur antiken Philosophie in der Einleitung zum ersten Band diese Universalisierung und Enthistorisierung des Problembegriffs betrieben.30 Auch Henrichs sogenanntes argumentationsanalytisches Verfahren, das dem im engeren Sinne historischen Moment der Konstellationsforschung zur Seite gestellt wird, findet seine Präfiguration in Cassirers systematischer Rekon­ struktion von Theoriemotiven und -gestalten.31 Die prinzipielle Auszeich­ nung der Cassirerschen Philosophiegeschichtsschreibung als einer explizit »philosophischen«, und das heißt systematisch orientierten, gehört histo­ risch betrachtet zu dem Teil des Marburger Erbes, an dem Cassirer durch alle konzeptionellen Wandlungen hindurch festgehalten hat und dient zur Distinktion gegenüber der Literargeschichte.32 Überlieferungs- und Text­ geschichte, Philologie und Kontexte der politischen Geschichte bleiben zugunsten theoretischer Rekonstruktion ausgeschlossen, zumindest wenn man die Cassirersche Praxis der Philosophiegeschichtsschreibung in den Blick nimmt. Vor allem aber, und damit sei ein letztes Übereinstimmungs­ merkmal benannt, gründet Cassirers Konzeption des dritten Bandes des Erkenntnisproblems in der fundamentalen Prämisse und Überzeugung, daß die Erschließung von Begriffen, Argumenten und Theoremen nicht von den historischen Protagonisten ausgeht, die diese Theoriegestalten her­

30 Die in ihrem Resultat an Windelband erinnernde, von Cassirer tatsächlich aber aus der Philosophiegeschichtsschreibung Natorps aufgenommene Hypostasierung des Erkenntnisproblems zu einem quasi zeitenthobenen Bestand prägt den zweiten Teil der Einleitung in die erste Auflage des ersten Bandes des Erkenntnisproblems von 1906, vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Erster Band, ECW 2, 504-511; im Wegfall dieses Teils der Einleitung ist eine erste Distanzierung von dieser Auffassung zu sehen. 31 Vgl. Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants tran­ szendentale Deduktion, Heidelberg 1976, 9-15, bes. 10. Für dieses Argument ist Henrichs unausweisbare Annahme, »gerade innovierende Texte« seien »undeutliche Texte«, uner­ heblich; zentral und auch für Cassirers systematisierende Rekonstruktionen zutreffend ist dagegen der Hinweis, die Rekonstruktion ersetze den historischen »Text durch die beste, die einsichtigste Variante, die dem Kommentator zugänglich wurde« (a. a. O., 10). 32 Zur historiographischen Programmatik einer »philosophische [n] Geschichte« vgl. Hermann Cohen: »Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer«, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 7, 1871, 249-296, bes. 290-296; sowie vom Verfasser: Systematik und Historie in Ernst Cassirers Philosophie- und Wissen­ schaftsgeschichtsschreibung.

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vorgebracht haben.33 Vielmehr werden deren theoretische Gehalte und Probleme erst in der Rezeption durch Zeitgenossen und Spätere bestimm­ bar, aus der Perspektive differenter Ansätze und Positionen also. Diese Anlage des dritten Bandes beruht auf einer Grundentscheidung, die so maßgeblich wie folgenreich für Cassirers spätere Philosophiegeschichts­ schreibung sein sollte und auch Henrichs Projekt der Konstellationsfor­ schung zugrundeliegt.34

III) Erkennen, Ereignis, Prozeß, Werk - Dimensionen von Geschichte im Göteborger Manuskript Geschichte (1936)

Im schwedischen Exil gelangte Cassirer erstmals zu einer eigenständigen Thematisierung und Reflexion des grundlegenden Begriffs seiner Philoso­ phiegeschichtsschreibung sowie der gesamten Kulturphilosophie. Damit schließt Cassirer an die in der Einleitung zum ersten Band des Erkennt­ nisproblems entworfene programmatische Skizze zum Begriff historischen Erkennens an und führt seine Überlegungen von 1906 auf gänzlich anderer Basis und unter veränderten Bedingungen fort. Als Konsequenz des neuen theoretischen Ansatzes formuliert das Manuskript von 1936 auch weitge­ hende Modifikationen in der Konzeption der Philosophiegeschichtsschrei­ bung. Zunächst ist die Basis des neuen Ansatzes zu umreißen, um dann ei­ nige Elemente der philosophischen Historiographie zu charakterisieren, die Cassirer daraus ableitet. Zu bedenken gilt, daß Cassirer dieses Manuskript wie so viele andere Texte, die er im Exil verfaßte, nicht in eine Druckfas­ sung bringen und veröffentlichen konnte. Seine Überlegungen dienten ihm aber immerhin gleichsam als Steinbruch, aus dem Teile in Publikationen übernommen und in andere Theoriekonfigurationen integriert wurden.35

33 Dieter Henrich: »Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen Philosophie«, in: ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, 9-26, bes. 20. 34 Vgl. Henrich: Identität und Objektivität, 9. - Rainer A. Bast: Problem. Geschichte. Form. Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte bei Ernst Cassirer im histori­ schen Kontext, Berlin 2000, 457-462, scheint die Frage, ob Cassirer »Vorläufer« der Konstellationsforschung sei, zu verneinen. Dabei hält sich allerdings seine Deskription des Verfahrens mit dessen Peripherie auf. Vor allem aber bleibt Basts Bestimmung von Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung selbst so dekontextualisiert wie undurchsich­ tig und scheint eine durch alle Werkphasen hindurch einheitliche Konzeption anzuneh­ men - dabei bleiben etwa die Besonderheiten des dritten Bandes des Erkenntnisproblems ebenso außen vor wie die Konzeptionsverschiebungen der Philosophiegeschichtsschreib ung Cassirers überhaupt. 35 Im Falle des Geschichtsmanuskriptes bieten etwa das umfangreiche Manuskript »Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis« von 1937 in ECN 2, Zur Logik der Kultur­ wissenschaften von 1942 und der Essay on Man von 1944 solche neuen Kontexte.

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Grundlage der Neubestimmung des historischen Erkennens ist die zwi­ schen 1936 und 1937 entworfene Theorie der Basisphänomene.36 Sie scheint in der besonderen Modifikation, die Cassirer ihr im Geschichtsmanuskript zukommen läßt, darauf ausgerichtet zu sein, den transzendentalphiloso­ phischen Grundcharakter der Skizze zur Historik von 1906 ebenso wie die damit zusammenhängende Dichotomie von Subjekt und Objekt der hi­ storischen Erkenntnis zu umgreifen und in eine Hermeneutik historischen Verstehens zu transformieren. Geschichte wird dabei in drei Dimensionen thematisiert, als historisches Erkennen, als Prozeß und Ereignis sowie als Dokument oder Werk; als solcherart dimensional vermessene wird sie in der Konstellation dreier sogenannter »Basisphänomene«, des »Ich-Phänomens«, des »Phänomens des Wirkens und Wollens« und des Phänomens des »Werkfes] als Grundlage der Geschichtsbetrachtung und Geschichtser­ forschung« lokalisiert.37 Im ersten Basisphänomen als »Grundform der ge­ schichtlichen Er-Innerung« soll die Sphäre der Subjektivität als Bedingung und Anfang aller Geschichtlichkeit zum Ausdruck kommen. Das meint die transzendentalen apriorischen Bedingungen des historischen Erkennens, den kategorialen Apparat seiner Grundfunktionen, wie sie im Anschluß an die Grundlegung der Basisphänomene ausformuliert werden38 - aber nicht nur. Cassirer intendiert hier mehr, wie bereits die Bezeichnung »IchPhänomen« anzeigt. Er will den Erkenntnisfunktionen im vorgängigen Faktum der prinzipiellen Geschichtlichkeit des Ichs eine Basis geben. Das »Phänomen des Wirkens und Wollens«, das auch als »Ich-Du-Phänomen« bezeichnet wird, faßt dagegen die Dimension der Inter Subjektivität, des Sozialen, der Interaktionen von Einzelnen, Gruppen, sozialen Verbänden oder staatlichen Gebilden. Diese Dimension ist charakterisiert durch das Moment der Prozessualität; entsprechend bilden ihren Bereich historische Prozesse und Ereignisse im weitesten Sinne, die »Kette von Wirkungen und Gegenwirkungen«,39 von Auseinandersetzungen, »Opposition« und »Kampf«.40 Der Werkcharakter bestimmt dagegen das dritte Basisphä­ nomen: ihm gehören die »Monumente« oder »Dokumente« an, die »Spu­ ren«, die Residuen, die im historischen Geschehen entstanden sind und

36 Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1, 111-195; die dort vorgenommene Datierung des Neuansatzes auf 1939 ist zu korrigieren, verweist doch das Göteborger Geschichtsmanuskript auf den in ECN 1 publizierten Text und wur­ de seinerseits eindeutig im Zeitraum zwischen 1936 und 1937 verfaßt; vgl. das Vorwort der Herausgeber (a. a. Ο., IX) und den editorischen Bericht (a. a. O., 279-292); zur syste­ matisierenden Interpretation der Basisphänomene als Grundlage der Kulturphilosophie vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. 37 Vgl. Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 14-17. 38 A.a.O., 4-145. 39 A.a.O., 59. 40 A.a.O., 16.

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es überdauern. Sie bilden die »Grundlage der Geschichtsbetrachtung« in gleich doppelter Hinsicht: zum einen sind die geschichtlichen Dokumente und kulturellen Monumente die empirisch-materiale Grundlage der Re­ konstruktionen des Historikers, zum anderen hat der Rückgriff auf Do­ kumente die Objektivität seiner Rekonstruktionen im Erweis der jeweils zugrundegelegten Hypothesen zu sichern.41 Historisches Verstehen oder Erkennen situiert Cassirer in der dauern­ den Wechselbeziehung von erstem und drittem Basisphänomen. Damit soll auch von dieser Seite her die einseitige, bloß transzendentale Bedingt­ heit oder Formung des geschichtlich-kulturellen Objekts durch das erken­ nende Subjekt vermieden werden, wie sie noch in der transzendentalen Historik der Einleitung in das Erkenntnisproblem von 1906/07 skizziert war. Erwünschter Nebeneffekt dieser prozessualisierten Korrelation ist die Abwehr von Historismus und Relativismus, die durch die mögliche Verabsolutierung des historischen Monuments gedroht hätten. Cassirers Konzeption von 1936 zielt auf einen prinzipiellen Konstruktivismus histo­ rischen Erkennens, der sich im Rückgriff auf die Monumente und Doku­ mente zu bewähren hat. Dieser Ansatz gilt uneingeschränkt auch für die Philosophiegeschichts­ schreibung, die insofern keinen anderen Status beanspruchen kann als irgendeine andere Partialgeschichte, sei es politische Geschichte, Wirt­ schaftsgeschichte und dergleichen. Simmels Pluralisierung von Geschichte zur parataktischen Ordnung von Geschichten gehört zu den unabding­ baren Prämissen, die das Geschichtsmanuskript macht.42 Die Frage, der die Cassirersche Methodologie der Philosophiegeschichtsschreibung sich zu stellen hat und die sie zu einer ihrer zentralen Fragen macht, ist die nach dem Verhältnis von historischer Rekonstruktion und rationaler. Be­ treffen der ganze Ansatz bei den Basisphänomenen und seine Folgen für das historische Erkennen nicht nur die Rekonstruktion der historischen Kontexte philosophischer Theoreme oder Systeme, und ist die systemati­ sche Rekonstruktion, die auch gegenwärtig noch häufig als das eigentlich philosophische Moment philosophiegeschichtlicher Arbeit gilt, nicht von solchen üblicherweise als bloß als historisch qualifizierten Fragen ausge­ nommen? Diese Gretchenfrage der theoretischen Statusbestimmung von Philosophiegeschichtsschreibung bringt immer wieder neue Vorschläge zur Auflösung der beiden als aporetisch verstandenen Optionen hervor, die ebenso oft auf das stets Gleiche hinauslaufen: von Seiten philosophi­ scher Systematiker wird die Frage im Prinzip immer mit der strikten

41 A.a.O., 56. 42 Vgl. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (zweite Fassung 1905/1907), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd.9, hg. von Guy Oakes und Kurt Röttgers, Frankfurt/M. 1997, 227-419, hier: 287-289.

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Trennung von rationaler und historischer Rekonstruktion beantwortet und von Philosophiehistorikern mit dem Hinweis auf die Historizität jeg­ lichen systematischen Entwurfs.43

TV) Das dreifache Verhältnis historischer und systematischer Rekonstruktion und die Hermeneutik von Frage und Antwort Gegenüber dem historiographischen Ansatz bei einer rein systematischen Philosophiegeschichtsschreibung, wie er im Erkenntnisproblem von 1906/07 realisiert wurde, markiert die überraschende Antwort im Manuskript Ge­ schichte eine Zäsur, die schärfer nicht sein könnte. Cassirer bestimmt das Verhältnis von historischer und systematischer Rekonstruktion in dreifa­ cher Weise: er anerkennt erstens beider jeweils eigenes Recht und Leistung, will sodann aber zweitens die Objektivität der rationalen erst in der histo­ rischen Rekonstruktion absichern und geht drittens sogar soweit, die histo­ rische Rekonstruktion zur Voraussetzung der systematischen zu machen. Das soll im folgenden erläutert werden. Die Position systematischer Rekonstruktion wird im Geschichtsma­ nuskript als die der »reinen Problemgeschichte« diskutiert. »Geschichte des reinen Gedankens« scheint »dem Ideal der >Objektivität« am näch­ sten zu kommen. »Lebensumstände«, »Vorstellungen, Meinungen, Zwei­ fel, Kämpfe derer, die diese Probleme gedacht haben« - diese und andere kontingente historische Sachverhalte, die den Theoriegestalten äußerlich bleiben, leisten keinerlei Beitrag dazu, Geschichte im Sinne des »innere[n] Werden [s] des Gedankens zu rekonstruieren«, wie Cassirer feststellt.44 Die rationale Rekonstruktion dagegen, zu der Cassirer auch die eigene Pro­ blemgeschichtsschreibung im Stile der ersten beiden Bände des Erkennt­ nisproblems zählt, läßt »sehr wesentliche Züge, die vorher nie in dieser Schärfe gesehen worden waren, sehen«.45 Doch ungeachtet aller inneren Kohärenz und rekonstruktiven Erschließungskraft für systematische Zu­ sammenhänge und fremde Theoriengestalten bestimmt das Manuskript

43 Zu ersterem vgl. den Versuch von Jürgen Mittelstraß, zwischen »begründeten Ent­ wicklungen«, den von ihm sogenannten »Gründegeschichten«, und »bloßen Wirkungen« zu unterscheiden: Jürgen Mittelstraß: »Gründegeschichten und Wirkungsgeschichten. Bausteine zu einer konstruktiven Theorie der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte«, in: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt/M. 1995, 10-31. 44 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 122. 45 A. a. O., 125; für exemplarisch hält Cassirer in dieser Perspektive beispielsweise die von ihm auf dem Stand des Geschichtsmanuskriptes auch kritisierte Platon-Interpretation Natorps. Zum Gesamtzusammenhang vgl. 123-125.

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von 1936 auch die Grenzen systematisch verfaßter Geschichtsdarstellung, und zwar von zwei Seiten her. Leitgedanke der späten Philosophie Cas­ sirers ist der Begriff der >Lebendigkeitanatomischen< Praeparats« annähme.46 Zur Anwendung auf den in Frage stehenden Zusammenhang der Phi­ losophiegeschichtsschreibung werden diese Überlegungen in eine Herme­ neutik von Frage und Antwort eingebettet, deren Basis im zweiten Ba­ sisphänomen, der Dimension historischer Verläufe und Ereignisse, liegt: »jeder Gedanke, [...] jeder fundamentale Systembegriff [...] ist nur die Ant­ wort auf eine bestimmte Frage, die an die Wirklichkeit gestellt ist«, formu­ liert Cassirer, um diesen Ansatz anschließend in für den früheren reinen Erkenntnisproblematiker ungewohnter Weise auf den Leitgedanken eines lebendigen Entstehungszusammenhanges zurückzuwenden: »und diese Frage nimmt in der Philosophie stets eine persönliche Gestalt an - sie formt sich in einem individuellen Geist und kann nur im Zusammenhang mit ihm in ihrer eigentümlichen >Konkretion< gesehen werden«. Der »sach­ liche Bedeutungswandel der >Ideereiner< Gedanke, ganz ohne Zusammenhang mit dem Denker herauspräpariert würde« (a. a. O., 123). 47 A.a.O., 123-124.

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Zusammenhang der Kultur heraus an die kulturell-geschichtliche Wirk­ lichkeit des Menschen gerichtet war. Erst die »Erhellung« dieses FrageKontextes führt zur »wirklichen >Objektivität«, indem der systematische Sachverhalt nicht von dem spezifischen Kontext seiner Entstehung abge­ trennt, sondern aus ihm verstanden und gedeutet wird.48 Vergegenwärtigt man sich, daß es hier um die rationale und historische Rekonstruktion vergangener Theoriegestalten geht, dann wird die herme­ neutische Funktion der Erschließung systematischer Gehalte über den hi­ storisch-kulturellen Kontexten deutlich. Cassirer grenzt sich hier von der aktualisierenden Rekonstruktion fremder Theorien oder Theoriemotive ab, die diese einem ihnen fremden Paradigma von Erkenntnis unterwirft und sie in diesem fremden Theoriezusammenhang auf ihre Geltung und Begründung hin untersucht - eine Form systematisierender Philosophie­ geschichtsschreibung, der Cassirer in seinen ersten Arbeiten wie Leibniz' System und den ersten beiden Bänden des Erkenntnisproblems noch vorbe­ haltlos gefolgt war.49 Die Rekontextuierung von Theoriemotiven fungiert hier als deren historisch-kulturelle Verfremdung, als >Historisierungseinem< System einordnen wollte« (a.a.O., 121). 50 A. a. O., 122. - Richard Rorty sieht genau hierin den Ertrag philosophiegeschicht­ licher Arbeit. (Richard Rorty: »The Historiography of Philosophy. Four Genres«, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hg.): Philosophy in History. Essays on the Historiography ofPhilosophy, Cambridge et al. 1984, 49-75, hier: 51).

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Wechselbeziehung zwischen Theoriegestalt und kultureller Praxis dar­ stellt. Leitbild der Überlegungen Cassirers ist unzweifelhaft Diltheys Be­ stimmung der wechselseitigen Wirkung von kulturellem Zusammenhang und philosophischem System, wie er sie im Archiv-A.uisa.tz formuliert hat: »Die philosophischen Systeme sind aus dem Ganzen der Kultur entstanden und haben auf dasselbe zurückgewirkt.«51 Versteht und rekonstruiert man diese Wechselwirkung als eine kontinuierliche hermeneutische Bewegung, als unabdingbare hermeneutische Voraussetzung entweder des systema­ tischen, des historischen oder integrativen Ansatzes, dann ist die theore­ tische und methodologische Position des Philosophiehistorikers erreicht, wie Cassirer ihn im Göteborger Manuskript skizziert hat - eine Position, wie sie in den 1980er Jahren etwa von Rorty vertreten wurde.52

V) Philologie, Quellengeschichte und Textkritik als Basis systematischer Rekonstruktion

Das Göteborger Manuskript unterzieht rationale Rekonstruktion und histo­ rische Rekontextuierung philosophischer Theorien einer weiteren, dritten Verhältnisbestimmung, indem es letztere als Voraussetzung systematischer Interpretation thematisiert. In zugespitzter Weise ließe sich formulieren, daß Cassirer Cohens Diktum, Erkenntnistheorie beziehe sich auf das »Fac­ tum der Wissenschaft« als »in gedruckten Büchern wirklich gewordene«, gegen den Strich liest und ihm eine ganz neue Bedeutung abgewinnt.53 Der im dritten Basisphänomen bestimmte Werkcharakter philosophischer Texte verweist auf den kulturellen Kontext ihrer Entstehung. Dokument, Monu­ ment oder Werk bilden die äußere Basis jeglicher Verstehensleistung, auch der des Philosophiehistorikers. Dabei ist es unerheblich, ob sich diese auf systematische Rekonstruktion oder auf historisches Verstehen durch Wie­ dergewinnung kultureller oder sozialer Kontexte bezieht - jegliche Art von Kontext, soweit er Gegenstand historischer Rekonstruktion wird, ist cha­

51 Wilhelm Dilthey: »Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, hg. von Hermann Nohl, Stuttgart/Göttingen 1990, 555-575, hier: 558. - Die Bedeutung des ArchivAufsatzes für das Göteborger Manuskript kann kaum überschätzt werden. 52 »These two topics [i.e. historical vs. rational reconstruction] should be seen as mo­ ments in a continuing movement around the hermeneutic circle, a circle one has to have gone round a good many times before one can begin to do either sort of reconstruction.« (Rorty: »The Historiography of Philosophy«, 53, Anm.). 53 Hermann Cohen: Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, 27; vgl. auch ders.: »Biographisches Vorwort«, in: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Iserlohn 1882, X.

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rakterisiert durch ihren Textcharakter.54 Quellen oder Dokumente, deren quellenkritische und philologische Erschließung, kurz: die textuelle Basis philosophischer Probleme waren in der problemgeschichtlichen Konzep­ tion der ersten Bände des Erkenntnisproblems schlechterdings kein Thema. Das Geschichtsmanuskript von 1936 dagegen diskutiert sie als unabdingbare Voraussetzung jeglicher objektiver und rationaler Geschichtsdeutung, und auch hieran zeigt sich der vollständige Paradigmenwechsel, der sich in Cassi­ rers Methodologie der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung vollzogen hat. Die Texte sind »nicht einfach ein Gegebenes, sondern ein historisch >Aufgegebenes< - ein durch Methoden der Philologie und Kritik erst zu Rekonstruierendes«, wie Cassirer in Übertragung einer Natorpschen Formel für den Gegenstand der Erkenntnislogik formuliert.55 Dem Resultat der Rekonstruktion, der »wiederhergestellten« Quelle, kommt der Rang eines kulturellen »Faktums« zu. Daß damit weitreichende Konsequenzen für die systematische Interpretation verbunden sind, daß die Erschließung der Quellen des philosophischen Problems nicht bei der Wiederherstellung des einen Textes stehenbleibt, nicht stehenbleiben kann, sondern sich auf an­ dere Texte und Dokumente, auch andere Textgattungen, wie beispielsweise Briefe erstreckt, ist dem Historiker der Philosophie so geläufig wie dem Editor nachgelassener philosophischer Texte.56 Die Bedeutung der Textge­ stalt als Bezugsfaktum auch der systematischen Interpretation erweist sich exemplarisch an Cassirers eigenen Texten, wie beispielsweise dem Essay on Man, dessen volle anthropologische Dimension sich erst erschließt, wenn man seine Vorstufen mit der 1945 veröffentlichten, als Resultat einer wech­ selvollen Publikationsgeschichte verstümmelten Fassung vergleicht.57

VZ) Historisch-kulturelle Rekontextuierung als Modell Was Cassirers Göteborger Manuskript mehr skizziert als ausführt - die Koexistenz und das Eigenrecht rationaler und historischer Rekonstruktion, deren wechselseitige Verwiesenheit aufeinander in einer philosophischen Philosophiegeschichtsschreibung und die Textgeschichte als das historische

54 Das betrifft auch Kontexte, die beispielsweise durch das Medium der Oralität oder anhand von Statistiken erzeugt werden. 55 Cassirer: Geschichte. Mythos, ECN 3, 98; vgl. etwa Paul Natorp: »Kant und die Marburger Schule«, Berlin 1912 (Sonderdruck aus den Kant-Studien 17 (1912)), 15. 56 Das trifft bereits auf Diltheys Praxis philosophischer Historiographie zu und hat seine Gültigkeit auch für den Erforscher von Konstellationen und Kontexten; vgl. Fred Rush: »Mikroanalyse, Genealogie, Konstellationsforschung«, in: Mulsow/Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 149-172. 57 Vgl. Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6.

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Verstehen von Problemen, Begriffen, Theorien aus ihren biographischen, psychologischen, soziologischen, politischen, letztlich aber kulturellen und historischen Entstehungsbedingungen sowie die Erschließung der Ge­ schichte des Textes in seiner werkhaften Materialität - läßt sich im weite­ sten Sinne als Rekontextuierung oder genetische Kontextualisierung des phi­ losophischen Problems oder Gedankens fassen. Die historisch-kulturelle Kontextualisierung sprengt den Binnenraum der bloßen Sachorientierung des philosophischen Problems auf und eröffnet den verstehenden Zugang zu ihm, indem sie es aus umfassenderen Geschichten, seiner Eingebunden­ heit in Zusammenhänge der Kultur und aus individuellen Erfahrungen beleuchtet. In Übertragung einer von Cassirer im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Kulturphilosophie verwendeten Terminologie könnte man sagen, daß das philosophische Problem eine Physiognomie bekommt, in die auch seine individuellen und kulturellen Entstehungsbedingungen eingezeichnet sind. Auch wenn Unterschiede nicht zu übersehen sind, so erscheinen Cas­ sirers Überlegungen zur historisch-kulturellen Rekonstruktion von Kon­ texten der Intention nach und in einigen Zügen durchaus als vergleichbar mit späteren philosophiegeschichtlichen Projekten, die der Kontextuali­ sierung als historischer Methode ihren Namen gegeben haben, wie etwa dem Quentin Skinners.58 Zwar verabschiedet Skinner, anders als Cassirer, philosophische Biographik als philosophiehistorische Gattung ebenso wie die Orientierung der Historik am konventionellen Kanon führender histo­ rischer Figuren und Texte. Doch bereits Skinners Forderung nach Berück­ sichtigung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Faktoren in der Ideengeschichtsschreibung konvergiert mit Cassirers Überlegungen aus dem Geschichtsmanuskript. Das gilt zumal für Skinners Wendung gegen die Abstraktion von Ideen und Theorien - und das aus seinen hi­ storischen Entstehungsbedingungen losgelöste Problem der Problemge­ schichtsschreibung im Stile der Marburger Schule ist eine solche Abstrak­ tion -, wie es auf dessen Forderung zutrifft, daß das »Charakteristische«, Widersprüchliche, Individuelle Vorrang in der historischen Beschreibung vor den Gleichförmigkeiten und »Ähnlichkeiten« habe. Übereinstimmung zwischen beiden Positionen scheint mir vor allem hinsichtlich des Postu­ lats der Vorgängigkeit der historischen Rekonstruktion und Beschreibun­ gen zu herrschen, die zu einer möglichst vollständigen, komplexen und

58 Vgl. etwa die Aufsätze in James Tully/Quentin Skinner (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge 1988, oder das Projekt der von Skinner u. Schmitt herausgegebenen Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambrige et al 1988. Eine kritische Diskussion der Rekontextuierung bei Skinner bietet Max Bevir: »The Role of Contexts in Understanding and Explanation«, in: Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, 159-208.

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möglicherweise sogar widersprüchlichen Matrix der historischen Ereig­ nisse führen sollen. Innerhalb dieser Matrix ist das historische Problem zu lokalisieren und in seinen historischen Beziehungen zu verstehen. Die Ab­ straktionen der systematischen Arbeit, die den vollen sachlichen Gehalt des Problems zu erschließen haben, schließen sich daran an. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Exils haben Cassirer nicht ge­ stattet, all diese methodologischen Differenzierungen auszuführen und in druckreife Form zu bringen. Ebensowenig hat er die Brüche und Konzep­ tionsänderungen seiner Philosophiegeschichtsschreibung reflektiert, denn das wäre erst auf dem Boden einer Theorie historischen Erkennens möglich gewesen, wie sie sich in den Skizzen des Geschichtsmanuskripts von 1936 allererst andeutet. Doch an der Konzeption einer doppelten Rekonstruk­ tion des Historikers - und damit auch des Philosophiehistorikers - hat Cassirer bis in die späteste Formulierung seiner Kulturphilosophie hinein festgehalten, wenn der Essay on Man zwischen empirischer Rekonstruk­ tion und symbolischer unterscheidet.59 Verläßt man die ausschließliche Perspektive der Problemgeschichte, so zeigen sich unter dieser Oberfläche verschiedene Ansätze zur Philosophie- und Ideengeschichtsschreibung, die teilweise erst nach Cassirer realisiert und ausgeführt werden konnten.

Literaturverzeichnis Rainer A. Bast: Problem. Geschichte. Form. Das Verhältnis von Philosophie und Ge­ schichte bei Ernst Cassirer im historischen Kontext, Berlin 2000 Max Bevir: »The Role of Contexts in Understanding and Explanation«, in: Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göt­ tingen 2002 Ernst Cassirer: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1997 ff, (ECW), Bd. 1 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Ers­ ter Band (1906; 1911; 1922), in: ECW 2 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (1920, 1923), in: ECW 4 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (1957), in: ECW 5 - An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy ofHuman Culture (1944), in: ECW 23

59 Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: ECW 23, 191.

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- Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), in: ECW 24 - Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (ECN), Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995 - Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2 - Geschichte. Mythos, in: ECN 3 - »Form«, in: ECN 3 - Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: ECN 6 Hermann Cohen: Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 7, 1871 - Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877 - »Biographisches Vorwort«, in: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materia­ lismus, Bd. 1, Iserlohn 1882 Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007 Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Jugend­ geschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealis­ mus, hg. von Herman Nohl, Stuttgart/Göttingen 1990 Eugen Fink: Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in: Zeitschriftfür philo­ sophische Forschung 11, 1957 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung, Mei­ senheim a. Glan 1968 Thomas Göller: »Ernst Cassirer über Geschichte und Geschichtswissenschaft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45, 1991 Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003 Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzen­ dentale Deduktion, Heidelberg 1976 - »Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen Phi­ losophie«, in: ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991 - »Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv - Er­ gebnis - Probleme - Perspektiven - Begriffsbildung«, in: Martin Mulsow/ Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005 Helmut Holzhey: »Kants Geschichtsphilosophie im Neukantianismus«, in: Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Ham­ burg 1995 Herbert Kopp-Oberstebrink: »Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichts­ schreibung während der Exilszeit«, in: Gerald Hartung/Kay Schiller (Hg.): Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch­ jüdischen Emigration, Bielefeld 2006 - Systematik und Historie in Ernst Cassirers Wissenschafts- und Philosophiege­ schichtsschreibung, unveröffentlichtes Manuskript

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John Michael Krois: »A Note about Philosophy and History. The Place of Cassirer’s Erkenntnisproblem«, in: Science in Context 9, 1996 Jürgen Mittelstraß: »Gründegeschichten und Wirkungsgeschichten. Bausteine zu einer konstruktiven Theorie der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte«, in: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hg.): Ver­ nunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer ratio­ nalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt/M. 1995 Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005 Paul Natorp: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Prot­ agoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis, Berlin 1884 (Brief an) Paul Natorp v. 31. Juli 1905, Bl. 2v, Universitätsbibliothek Marburg, Nachlaß Natorp, Ms. 831:618 - Kant und die Marburger Schule, Berlin 1912 (Sonderdruck aus den Kant-Studien Y7 (1912)) Ursula Renz: Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft. Überlegungen zur Historiographie der Philosophie im Ausgang vom Marburger Neukantianismus, in: Studiaphilosophica 61, 2002 Richard Rorty: »The Historiography of Philosophy. Four Genres«, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hg.): Philosophy in History. Essays on the Historiography ofPhilosophy, Cambridge et al. 1984 Fred Rush: »Mikroanalyse, Genealogie, Konstellationsforschung«, in: Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Ber­ lin 1997 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (zweite Fassung 1905/1907), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9, hg. von Guy Oakes und Kurt Rüttgers, Frank­ furt/M. 1997 Quentin Skinner/ Charles B. Schmitt (Hg.): Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambrige et al 1988 James Tully/Quentin Skinner (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge 1988

Riccardo De Biase

Morphological Historicism and Ethical Destination Ernst Cassirer’s Conception o£ the History of Philosophy

I)

It would be difficult begin these few observations without precising the meaning of term «Historismus», the meaning, obviously, that will be used in this reading. Here, and in the whole essay, for «Historismus», or «His­ toricism», it will be recognized and isolated a specific varying of a «school» with a long and glorious history1, a very determinable theoretical attitude. In few words, with the term «Historismus» - than, connected to Cassirer, it can undoubtedly generate reservoirs and suspicions if not specified and cleared - will come here meant a way of understanding of the historical fact that to us is seemed combinable (like intellectual and methodical affinity) to the total tone of the cassirerian vision of the meaning and of sense of the history of philosophy. The minimally informed reader will be able to recognize immediately the thought line which is wanted to be identified, a sequence of contributions, names, ideas, «historicisms» to the plural, that is seemed to us legitimate to remember in order to clear - or to try to make it - theoretical turning out of the basic attitude of Cassirer in comparison with the history. In the same years in which Cassirer developed and put to point his idea of history, its spiritual meaning and the realizing of itself in the cultures of the people, Friedrich Meinecke reached the result that of the origins, with its «Individualitätsprinzip, verbunden mit dem Gedan­ ken der individuellen Entwicklung» had, with Schiller, Herder, Humboldt, and above all Goethe, destroyed «die Schranken der bisherigen naturrech­ tlichen Denkweise» and approval with punctuality and unheard-of clarity «unendliche Fülle von Eigengesetzlichkeiten, die das Leben der Einzelnen

1 On this point, see Fulvio Tessitore’s works. We remember here only a few of his works pertaining with our aims: Fulvio Tessitore: Introduzione a lo storicismo, Bari 1991, especially 10 e sgg.; the same: Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, voll. I-V, Roma 1995-2000; the same: Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Roma 2007, especially three long essais: Storicismo e storia della cultura (loc.cit., 129-185); Su Meinecke e la «religione dello storicismo» (loc.cit., 283-291) and Meinecke e il «cristianesimo secolarizzato» (loc.cit., 293-308).

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wie der von ihnen geschaffenen menschlichen Gebilde beherrschen».2 Sure, the risk, after and beyond Hegel, was one «relativiertes Denken»3, a thought for many aspects hesitant and at looking for a own main road, but also which gave this «dynamischen Historismus», the character of a «feine Obermelodie einer ungeheuren Sinfonie, die wohl oft verschwinden kann in Tumult der Bläser und Pauken, dann aber wieder von einer vornehmen Geige vorgetragen ins Innerste des Herzens dringt».4 Metaphor so acting and pregnant, since Cassirer, recalling himself to Goethe, writes in 1931: «Goethe hat die moderne europäische Geistesgeschichte mit einer großen Fuge verglichen, in der nacheinander die Stimmen einzelnen Völker ein­ setzen, sich in ihrer Besonderheit geltend machen, um sodann in eben die­ ser Gegenführung eine neue, bisher nicht erreichte Harmonie zu erzeugen. In der Tat ist es diese Polyphonie, die erst den Einklang der modernen Kultur hervorbringt und auf der ihre Kraft und ihre Eigenart wesentlich beruht. Es gewährt einen immer neuen Reiz, sich in das innere Werden zu versetzen, an dessen End- und Zielpunkt diese Harmonie steht».5 Already here and in a completely preliminary way, come made to play and roll plugs of meanings, that - we will see - are not fruit of mere and inane synonymy, of nominalistical likeness, but they become knot­ ted around strong and coherent conceptual cores, originated by careful meditations on the sense of historical-spiritual becoming of modernity. Meinecke (but this is famous), means this to rise of the new historicist sen­ sibility, impregnated of sense of the individuality, conceptual dynamism and a kantianism problematically recalled in question6, like a punctual German Ergebnis7, simulacrum of one «orchestral direction» of all the movement of reinterpretation of the sense and the meaning of the his­ toricity in existence of all Europe. On the platform, to a one time di­ recting and embodying this new, still for sure topics unripe vitality of meaning historian, obviously Goethe, who in the meineckian genealogie

2 Friedrich Meinecke: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, in: the same: Werke, vol. IV, ed. by Eberhard Kessel, Stuttgart 1959, 285. 3 Ibid. - In this regard, see Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942, 90-196. 4 Friedrich Meinecke: Geschichte und Gegenwart, in: the same: Werke, vol. IV, 92. 5 Ernst Cassirer: Deutschland und Westeuropa im Spiegel des Geistesgeschichte (1931), in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, ed. by Birgit Recki [abbre­ viated ECW], vol. 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927-1931), Hamburg 2004, 207. Cassirens reference is related to Johann Wolfgang von Goethe: Aphorismen und Fragmente (Naturwissenschaften), in: Sämtliche Werke (Artemis-Gedenkausgabe), vol. 17, Zürich 1948— 1954, 766. 6 For this point of view, see Otto Gerhard Oexle: Geisteswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, 26 f. 7 Friedrich Meinecke: Die Entstehung der Historismus, in: the same: Werke, vol. Ill, 445 f.

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tripartition 8 is the most important name of the single first young aris­ ing of the new historical spirit (that «fängt mit Teilbeseelungen, nicht mit Allbeseelungen der Geschichte an»9). And it is with Goethe, in fact, that the historicism rises - or aspires to make itself - as a «science of the life», science of passing to realize itself of the screw of individual lives in the continuous flow of the time, from the present to the past, and that from this to that one it returns, liven up and enriching it; this, because it is a science aimed at one «grundsätzliches Verstehen menschlichen Lebens, ob gegenwärtig oder vergangen, von innen her, von seinen jeweiligen indi­ viduellen Quellpunkten her. So, wie es am tiefsten und reichsten Goethe vorgemacht hat», there’s in Goethe like the «Gipfel dieser neuen Lebens­ behandlung», and never, before him and before the great thinkers of the original historicism, the historical meaning «so tief, innig und gläubig, so kongenial miterlebend vergangenes Leben an sich gezogen», and never, be­ fore Goethe, «das eigene Leben dadurch wahrer und tiefer eingebettet ge­ sehen in das Gesamtleben der es unhüllenden großen Individualitäten der Nationen, Religionen usw.».10 This of the historical knowledge as «live-in-the-life» organism, is a meaning and a comprising that «erst die Goethezeit hat den geistigen Erscheinungen die Flüssigkeit und genetisch Charakter gegeben»11, that it is their own, knowing itself some to assume pressing and nevertheless creative indigence.12 «Durch den Historismus» - so Meinecke - «wurde ein neuer Typus von historischer Bildung, d.h. von der Art, wie moderne Individuen die Bildungsstoffe der Vergangen­ heit in sich aufnehmen, geschaffen»13, materials that, once it assimilates, do not become rigid sedimentation at all and pedantic metafisicity of the happening, but, if authentically fruitful, become the salt and the water of the understanding, the founding elements on which the «eigentliche» fer­ ment of the «modernen Geistes geht auf individuelle Umformung und Ein­ schmelzung geschichtlicher Bildungsstoffe»14, it can act conveniently. This Fusing and this transforming here called in cause by Meinecke, can be only the result of a powerful movement of thought, that goethean morphologic thought that we will meet many times in our run and that will give the total tone to the historical morphology of Cassirer, that formative modus

8 Friedrich Meinecke: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, in: the same: Werke, vol. IV, 230. 9 Loc. cit., 229 (emphasis added). 10 Loc. cit., 232. 11 Loc. cit., 223. 12 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß aufdie geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: the same: Gesammelte Schriften, vol. VII/1, ed. by Albert Leitzmann, Berlin 1907, 39. 13 Friedrich Meinecke: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, 234. 14 Loc. cit., 245.

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of the historical meditation that is not other that the every presupposed one of knowing and every anthropology: «Bei Goethe wird uns in höch­ ster Steigerung der geistesgeschichtliche Prozeß evident, wie der Mensch Kultur hervorbringt, d.h. schöpferische Synthesen von Umwelt und Ei­ gengeist, die dann ihrerseits wieder zum befruchtenden Umweltgut für Zeitgenossen und Nachkommen werden».15 A similar understanding never was heard in history, never, before Goethe was highlighted «so scharf und deutlich den Umfang der Bildungselemente von außen, die auf schöp­ ferischen Geist einwirken, aber auch niemals wieder so geheimnisvoll-of­ fenbar die produktive Kraft, die etwas ganz Neues damit schafft».16 But, attention - and this it is a feature of the meineckian thought that seems to us to marking with great linearity also our interpretation of Cas­ sirer - what of great, sublime and dynamic is present in this perspective, cannot makes us to neglect an absence, discreet but fundamental, that it surrounds and which marks the goethean cultural humus·, the «place» of an ethics thought in a futuristically way, the perspective of one morphology «seeing sage», of a planning vitalism that thinks freedom in-order-to-other and not only for itself, of one «spermatic» of the forms of the communi­ tarian living, finalized, teleologically, selfincreasing and generative of new forms.17 To our opinion in the morphology of the increase - therefore it seems to us opportune to call the theoretical attitude of the sublime German - lacks the predictive element, lacks a comparison with the re­ sponsibility of the forms, with the selftrascendence of the continuous re­ constructive movement of the forms of the human historical world, with the wozu, the morally determinable one of this uninterrupted dynamism. Because - in order to say it with Meinecke «eine Geschichtsauffassung ohne festes ethisches Fundament zum Spiel der Wellen wird»18, because there is always, inexorably, the danger that the future moment of which Goethe theorizes the eternalizing of past and future19 and that Meinecke thinks as catchable by us with one up «vertikal in die Höhe blickten» of the authentic historicism20, it does not find - perhaps also for narcissistic self-reflecting - the morphomantics will to «dreaming» and to create new and more and more habitable dwellings for humanity: «Der Augenblick als realer Emze/punkt des Geschehens ist für ihn [Goethe] wie versunken

15 Loc. cit., 253 (emphasis added). 16 Ibid. 17 I’ve tried to explain this point in a more clear way in my book La destinazione etica della storia della filosofia in Ernst Cassirer. Le testimonianze di Descartes e Goethe, Napoli 2007, especially 112-121, where I also refer for the opportune bibliography. 18 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 100. 19 Here, see Fulvio Tessitore: Storicismo come filosofia dell>evento, Soveria Mannelli 2001, 50 f. 20 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 101.

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[...], erscheint er der unmittelbaren Gegenwart wie entrückt. Aber der Wirklichkeit des welthistorischen Geschehens hat er damit nicht entsagt [...]. Nur ein Irrtum scheint Goethe in dieser Zusammenschau von Ver­ gangenheit und Zukunft begegnet zu sein. Er meinte, daß nun endlich die Zeit der Erfüllung seines Ideals gekommen sei; er hielt in enthusiastischer Zuversicht den Sieg für entschieden».21

w Not. The battle for the humanization of the cultural shapes of the humanity, for realizing themselves and self-objectiving of a new, sage humanity at all, was not gained. The historical knowledge of Goethe, its understanding of happening as free deployment of the forms, characterizes them as a creative freedom, a freedom that gives to these forms their own ties22, like an activ­ ist, «organologische» synthesis of forms, more and more indefinitely capable of improvement, its historical vision that «perceived past and present», but in which «das Gespenstische verschwunden [ist]»23, it revealed yes an idea of eternity like «ein im Herzen der Wirklichkeit und des Erlebnisses selbst wurzelnder»24, but however it left in danger just the issue of the uprooting from the present, to hurl itself of this same, of the destination of those to make that, being be thought from Goethe like inseparable ethical action of the man, will come assumed but retranslated and rearticulated by Cassirer - in our reading - in the vital one, and therefore historian impulse to the community, sudden start planning to the spiritual and cultural construc­ tion of the multiple ways of the living intersubjective. We mean to say that Cassirer, also using to full hands of the conceptual goethean outline, «the organological-augmentative» outline of the living morphology of the Leben like Basisphänomen., and adopting it with conviction that the methodical one, the metaphors and the whole conceptuality, tries to go beyond, to exceed it one beginning from ascertainment to the discounted appearance: «Aber ist eine solche Haltung, wie sie Goethe hier als Künstler fordert und übt, im Ganzen des geistigen Lebens möglich? Gibt es hier eine derart

21 Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt. Drei Aufsätze (1932), in: ECW 18, 312 £ An other voice about a confrontation between Meinecke and Cassirer is Peter Paret: »Ernst Cassirer und neuere Richtungen der Kulturgeschichte in den Vereinigten Staaten«, in: Enno Rudolph/Bernd Olaf-Küppers (eds.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 37-46, especially 42 £ 22 See Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, ed. by Erich Trunz, vol. 12, München 1981, 518. 23 Meinecke: Geschichte und Gegenwart, 98. 24 Ibid.

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«unmittelbare» ungebrochene Einheit?».25 The life manifests itself in the selfmetamorphic way, in the changing, transformative throb (il pulsare), is yes authentically original phenomenon, is pure creative act, but an element still lacks them, that one «Brechung», that one «immanente [...] Notwendigkeit» that it makes the life what it properly is: fluid dialogical element : «Denn auch die -Funktion des Fragens gehört zu den ursprünglichen und wesenhaften Funktionen des Geistes».26 This because, like testified from pages not coeval at those which was readed, for Cassirer the kantian critical interest2728 for biological sciences, for the «fact» of the life and its re­ lationship with the spirit, as they come out from the Kritik der Urteilskraft12, and therefore they manifest the authentic greatness of the Kant thinker who didn’t «in diesem Sinn, nach Art der unkritischen Metaphysik, ins Innere der Natur eindringen, und er fragt nicht, wie die Natur bei der Schaffung der Lebewesen verfahre. Er will nur die verschiedenen Formen der wis­ senschaftlichen Erkenntnis analysieren, ihre Grundbegriffe und Prinzipien aufzeigen und dadurch ihren Unterschied und ihre Grenzen festsetzen»29, but that, also however, they were not solvable because Kant couldn’t recog­ nize «das «Faktum der Geisteswissenschaften», wie es uns heute vor Augen steht [...] und in seiner jetzigen Form noch nicht voraussetzen können».30 In fact, is the rising of this enriched historicism (evidently historicisms: in the plural, an historicism of which it was spoken before, those of Hum­ boldt and Schleiermacher, Ranke and Droysen, of Weber, Dilthey and Tro­ eltsch), finalized and not finalistica!, this version of the interrogation of «the better» past of the history, having-in-sight the future, which offers the right in order to speak lawful about the cassirerian historicism; in order to take control of the more opportune instruments set at great length, in or­ der to put in suitcase the more adapted necessaire to an understanding of the totality of the life-at-work, in order to render conveniently account of the trial-like, the infinite one unit of is given and to form itself of spiritual living, must be gone back otherwise at the rising moment of the western thought, at the moment in which «Sokrates wendet die Frage gegen das sittliche Selbstbewußtsein des Ich [...] Er fragt nicht (metaphysisch) woher

25 Ernst Cassirer: Über Basisphänomäne, in: Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, ed. by John Michael Krois and Oswald Schwemmer [abbreviated ECN], vol. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ed. by John Michael Krois, Hamburg 1995 ff., 127. 26 Ibid. 27 Ernst Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs (1938), in: ECW 22, 112-139. 28 Loc. cit., 137. 29 Ernst Cassirer: Kant und die moderne Biologie (1940/41), in: the same: Geist und Leben. Schriften, ed. by Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993, 81. 30 Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs (1938), ECW 22, 137.

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dies alles - aber fragt (ethisch) nach dem Wozu»31, properly: where this huge spiritual power is direct, which is the (directional) sense of its own growing and realizing in the objectivation. Therefore, regarding also drag­ ging the goethean tension towards the definition of a abecedarian of the spiritual and creative constitution of the Human, Cassirer tries to remake that one more step of thinking that «Umgestaltung des durch die Form der »32, which is the «method» of the spiritual increase gener­ ated by the issue of its historical origin, by the power of the historical forces in their continuous self-moving and characterizing themselves in the singular human objectivations, but that it finds again its fuller dignity in the issue of the «direction»: «Die wahre αίτια liegt vielmehr im , im Telos»?3 The self-objectivation of the spiritual formative energies of the man, which are manifested in the creation of the art work, is the supreme kind of objectivation, it is the concretization and «miraculous» solidifica­ tion of the drives, the instincts, the cultural riches of generations and gen­ erations of symbolic exchanges, semantic relations, aesthetic knowledge. But what lacks, in this dimension - which Goethe’s thought, from its point of view with right reason, considered the supreme expression of the spirit of the humanity - it is the aim. This is the decisive element that vanishes in a hypothetical moral of the increase. If, in fact, the formative impulse theorized by Goethe could be expressed and be realized - seen its same premises «organological» - in the materialization of the shapeless matter in shape of art work, the «», which, together with the gives origin to the «Grundphaenomen des »34, demands for itself a very different way of objectivation: «Indem sich aus dem Wirken das , als ein Beharrendes und Bleibendes, absetzt[,] entsteht damit erst jenes Sein, das wir das Sein der Kultur oder der Geschichte nennen [.] unterscheidet sich eben darin von , daß sie nicht bloß ist - sie ist , durch Menschenhand und Men­ schengeist Hervorgebrachtes. Und alles geschichtliche Sein ist nur an diesen Hervorbringungen sichtbar zu machen - aller Wirkungszusammenhang in der Geschichte für uns nur dadurch und ist uns nur dadurch faßlich, daß er sich in bestimmten dauernden Gebilden manifestiert - Diese Gebilde brauchen nicht, wie die der bildenden Kunst>[,] ein physisches zu haben, an irgend einem bestimmte Stoffe zu haften (wie die Lein­ wand, auf der das Gemälde erscheint[,] das Holz, der Marmor des plast­ ischen Kunstwerkes) [;] sie können auch ganz immateriell· sein - wie das Recht, der Staat, wesentlich ist nur, daß sie irgendwie

31 32 33 34

Cassirer: Über Basisphänomäne, ECN 1, 127. Ibid. Loc. cit., 129. Loc. cit., 155.

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sind (wie das Recht, der Staat die Sitte sind».35 Aim and scope of the energies of the human spirit - without being for this reason finalistica! or metaphysical crews in hand to a Superessential Astuteness of the History - the culture and the history (indeed, the culture or the his­ tory used by Cassirer in the previous passage nearly in synonymy) are in force of morphologic aims of the life, of the specifically human life, the life that objectives itself in the time, and indeed are it same realized temporal­ ity. And will not have to attend these discontinuous and fragmentary indi­ cations, does not publish to you from Cassirer and therefore collected un­ der shape of notes and scattered reflections, in order to see the idea of a morality of the form-time-historical extended and compact. We read to such purpose one clear page of the third volume of the Philosophy of the symbolic Forms. In the intuition of the time, draft to comprise itself like makes manifest to the man the not catchable weft of passing of the physi­ cal events, which is the learning Form by means of which to the spirit the perception of alternating themselves is given and succeeding themselves of the events and the psychophysical facts: «Aber selbst wenn» - says Cas­ sirer - «es gelänge, die Form der Zeit, wie sie die mathema­ tische Naturwissenschaft denkt und zugrunde legt, von diesem Gesicht­ spunkt aus zu erfassen, und zutreffend zu beschreiben - so wäre mit dieser Auffassung doch die historische Zeit, die Zeit der Kultur und der Geschichte, beseitigt und um ihren eigentlichen Sinn gebracht».36 The im­ mediately previous reference that we find in Cassirer’s pages is relative to the Principles of Psychology of William James37 and to the sphere of the psychological experimentalism of the end 180O’s, but we don’t dislike to imagine that one of the interlocutors to which Cassirer addressed his words, could be (in a section of the work entitled ) Husserl of the Lessons on the time, edited by Heidegger just in the 192838. In every case - and also beyond the important definition of the horizon of one more or less orthodox «Marburger Neukantianismus» of the Cassirer of those years - seems to us fundamental the «choice» of remov­ ing radically the historicity from the field of the scientist applications on psychologistical background, from that one of the theories of physical sci­ ences and from that one of the phenomenological exercitations: «Denn ihr Sinn baut sich für uns nicht lediglich aus dem Rückblick in die Vergangen-

Loc.cit., 155f. 36 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ECW 13, 207. 37 William James: Principles ofPsychology, vols. I und II, London 1902. 38 Edmund Husserl: Edmund Husserls Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein, in: Martin Heidegger (ed.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, vol. IX, Halle 1928. 35

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heit, sondern nicht minder aus dem Vorblick in die Zukunft auf».39 Toto genere differs the historical time from the physical time, from the time of the subjective apprehension, from the existential time, that one of the bergsonian élan vital40 ; this difference is radical and essential, not subject to mediations, because, is also not explicitly, these «times» is always melt­ ed on the prevalence of the «tyrannical» Anwesenheit of the present, on structuring its exclusive feature, its persistent, pressing «finalized moral organization» to the satisfaction of the present need. Not so the historical time, because it is «gleich sehr auf das Streben und auf die Tat, auf die Ten­ denz zum Künftigen, wie auf die Betrachtung und Vergegenwärtigung des Vergangenen gestellt».41 In other times and other spaces, Cassirer places - as we will see - better and more aware this will deepen this and this the past in how much essential member of one spring and immanent ethics of the philosophical history of the humanity, that is of a philosophical anthropology of the cultural history of the man. But already in Philosophie der symbolischen Formen there is the clear con­ science that the man, and only the man in how much «wanting and operat­ ing being», is those freedom to hurling himself toward the future and ca­ pable, in the same time, to determinate the future.42 The condition because it can happen, founds itself on the free will that constantly, «biologically» pushes the man to create «history», beginning from the good-seeing «out­ stretching» to the future: «[Er] kann eine haben; kann von Geschichte wissen, weil und sofern er sie ständig erzeugt». * 3 «Die echte ge­ schichtliche Zeit» - continues Cassirer - «ist daher niemals bloße Gesche­ hens-Zeit; sondern ihr spezifisches Bewußtsein strahlt nicht minder als aus dem Mittelpunkt der Betrachtung aus dem Mittelpunkt des Wollens und Vollbringens aus».44 And that Kant of the third Critic is intimately present in these words (where is manifested the clear intention «to harmo­ nize it» with vision of the most expressive historicity), is possible to de­ duce it in the successive step when Cassirer specifies: «Denn das geschich­ tliche Wollen selbst ist nicht ohne eine Tat der