Perspektiven der Schiller-Forschung: Band 2 Schillers Theaterpraxis 9783110667066, 9783110664553

Schiller is a master of theatrical performance. He directs the language of theater in expansive instructions for stagecr

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German Pages 268 [270] Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Einleitung
I. Dramaturgie
Der große Menschheitsaugenblick
Rituale in Schillers Don Karlos und Wilhelm Tell
„Ich mus mich im offenen dehnen.“
Schillers Szenografien
„Szenen für die Augen, voll Handlung und Bewegung“
II. Psychologie
„ . . . ein so eingefleischter Teufel – Nein! das ist nicht möglich!“
Karl Moors satanische Rebellion
Maria Stuarts hate speech
III. Grenzgänge
„Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben“
Ästhetik, Diätetik und Ethik in Schillers Theaterpraxis am Beispiel einiger Bühnenangaben in seinen frühen Dramen
Das Theater um den Geisterseher
„Das war ein Schuß! Davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“
Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller
Abbildungsverzeichnis
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Perspektiven der Schiller-Forschung: Band 2 Schillers Theaterpraxis
 9783110667066, 9783110664553

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Schillers Theaterpraxis

Perspektiven der Schiller-Forschung

Herausgegeben von Peter-André Alt und Stefanie Hundehege

Band 2

Schillers Theaterpraxis Herausgegeben von Peter-André Alt und Stefanie Hundehege Unter Mitarbeit von Magdalena Schanz

Gedruckt mit Unterstützung der VolkswagenStiftung

ISBN 978-3-11-066455-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066706-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066760-8 Library of Congress Control Number: 2019947856 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Johann Heinrich von Dannecker: Gipsbüste Friedrich Schiller. 1794. DLA Marbach Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Siglenverzeichnis

VII

Peter-André Alt Einleitung 1

I Dramaturgie Helmut J. Schneider Der große Menschheitsaugenblick. Zu Schillers politischer Publikumsdramaturgie in Don Karlos 9 Dirk Niefanger Rituale in Schillers Don Karlos und Wilhelm Tell

39

Mirjam Springer „Ich mus mich im offenen dehnen.“ Körper-Erzählungen im Fiesko

55

Lily Tonger-Erk Schillers Szenografien. Raumbildende Prozesse in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 75 Maria Carolina Foi „Szenen für die Augen, voll Handlung und Bewegung“. Die Spektakel der Legitimität in Schillers Demetrius-Projekt 97

II Psychologie Nina Birkner „ . . . ein so eingefleischter Teufel – Nein! das ist nicht möglich!“ Shakespeares Richard III. als Vorbild für Schillers Räuber 111 John Guthrie Karl Moors satanische Rebellion

124

VI

Inhaltsverzeichnis

Uta Degner Maria Stuarts hate speech. Zum Kalkül verletzender Rede auf der Bühne der Politik 138

III Grenzgänge Norbert Christian Wolf „Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben“. Ansätze einer Gattungspoetik in Paratexten zu Schillers Dramen 163 Gilles Darras Ästhetik, Diätetik und Ethik in Schillers Theaterpraxis am Beispiel einiger Bühnenangaben in seinen frühen Dramen 181 Stefan Börnchen Das Theater um den Geisterseher. Paranoia, Schaubühne und Vierte Wand in Schillers Romanfragment 197 Thomas Boyken „Das war ein Schuß! Davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ Einige Überlegungen zum Nebentext in der Apfelschuss-Szene von Schillers Wilhelm Tell 214 Christoph Gschwind Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller Abbildungsverzeichnis

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231

Siglenverzeichnis FA

Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden [Frankfurter Ausgabe]. Hg. v. Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf-Peter Janz, Gerhard Kluge, Herbert Kraft, Georg Kurscheidt, Matthias Luserke, Norbert Oellers, Mirjam Springer u. Frithjof Stock. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1988–2004.

NA

Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und SchillerArchivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie. Hg. v. Julius Petersen u. Gerhard Fricke [1943 – 1960: Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach hg. v. Julius Petersen u. Hermann Schneider; 1961–1978: Im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach hg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese; 1979–1992: Hg. v. Norbert Oellers u. Siegfried Seidel; seit 1993: Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des SchillerNationalmuseums in Marbach hg. v. Norbert Oellers]. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1943–laufend.

https://doi.org/10.1515/9783110667066-203

Peter-André Alt

Einleitung Die hier versammelten dreizehn Aufsätze gehen zurück auf eine Konferenz zum Thema „Schillers Theaterpraxis“, die vom 29.–30. Juni 2017 auf der Schillerhöhe in Marbach am Neckar stattfand. Sie führte den Reigen von SchillerVeranstaltungen fort, der im Oktober 2014 mit „Schillers Europa“ auf Schloss Herrenhausen in Hannover begonnen wurde. Für das Programm der Tagung waren drei Hauptaspekte leitend, die sich nun auch in den veröffentlichten Fassungen der einzelnen Beiträge spiegeln. Schiller ist ein Meister der theatralischen Performanz (1). Die Zeichensprache des Theaters dirigiert er in seinen Regiebemerkungen, die er zu einem Anweisungsregister der Bühnenkunst ausbaut. Die damit verbundenen darstellungstechnischen Prozesse, die Formen der Präsenz und Absenz, der Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit, der Macht und Ohnmacht inszenieren, sind im Fall Schillers, wie man seit der Arbeit Alexander Košeninas (1995) weiß, von größter Bedeutung.1 Körperlichkeit, einschließlich der Sprache der Gebärden und der Physiognomik, ist in Schillers Theater ein Terrain, auf dem die Konstruktion des Menschen mit seinen inneren Spannungen exemplarisch zur Anschauung gelangt. Nicht nur die frühen Dramen, deren Bühnenanweisungen zuweilen exzessive Ausmaße gewinnen (Die Räuber, Kabale und Liebe), sondern auch die klassischen Tragödien (zum Beispiel Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans) entfalten luzide Techniken der Körperdarstellung, an denen die Signaturen subtiler psychologischer Konflikte ablesbar sind. Schon die Vorrede der Räuber entwirft diesbezüglich ein Programm, das bis zum Demetrius Bestand haben wird, indem sie die Technik „der dramatischen Methode“ an die Aufgabe bindet, „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“ (NA, 3, 5). Wenn der Tagungstitel von „Schillers Theaterpraxis“ sprach, so bezog sich das nicht allein auf die Wirkungspoetik eines sehr effektbewussten Autors. Es schloss den Umstand ein, dass Schiller auch Regisseur, Theaterübersetzer und Dramaturg war – eine Vielfalt der bühnenbezogenen Aktivitäten, die wir sonst in dieser Zeit nur bei Iffland antreffen. Schiller schreibt seine Stücke spätestens seit seiner Mannheimer Zeit im vollen Wissen über die Möglichkeiten und Grenzen der Bühne. Er ist kein bloßer Idealist des Theaters, sondern zuallererst ein wirklichkeitsnaher Dramatiker, der die Realitäten seiner Kunst kennt.

1 Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. https://doi.org/10.1515/9783110667066-001

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Damit verknüpft sich die anthropologische Dimension (2). Die dramatische Inszenierung von Schwellen- und Grenzsituationen, in denen das handelnde Subjekt seine individuelle Freiheit gegen Krisen- und Zwangskonstellationen zu behaupten hat, erweist sich bei Schiller als Experimentierfeld für das Durchspielen medizinisch-anthropologischer Theorien, die das Verhältnis von Tätigkeit und Aktion (Sulzer), die Kategorien des Interesses (Garve) und der Aufmerksamkeit (Abel, Zückert), aber auch Grundprobleme wie den Leib-Seele-Dualismus (Leibniz, Platner) oder die Psychologie des Traums (Abel, Pockels, Maimon) betreffen. Schillers Theaterarbeiten sind aufgeladen mit den Strukturelementen eines anthropologischen Denkens, das sich förmlich als diskursbegründende Instanz der Texte und ihrer binären Oppositionen (Freiheit – Politik, Natur – Zivilisation, Vertrauen – Argwohn) offenbart. Im Gegensatz zu älteren Arbeiten, die vor allem die ideengeschichtlichen Manifestationen der Anthropologie in Schillers Texten zu erkunden suchten, geht es der neueren Forschung um den Nachweis, dass deren fiktionale, semiotische und theatralische Strategien durch Darstellungsstrukturen geprägt werden, die ihrerseits auf die zeitgenössische Medizin und Erfahrungsseelenkunde zurückdeuten. So kommt es in den Dramen zur Ausgestaltung von Mustern der Selbst- und Fremdbeobachtung, der empfindsamen Kommunikationskultur, der sozialen Inklusion des entscheidungssuchenden Individuums, zur Modellierung von Formen der imaginären Erfahrung und des Phantasmatischen, die durch den anthropologischen Diskurs beherrscht werden. Auf solche Punkte zu zeigen, heißt nicht, die ältere gegen eine neuere Terminologie auszuwechseln. Es bedeutet vielmehr, nach den textstrukturierenden Momenten des anthropologischen Denkens zu fragen, nach dem Konnex von kulturellem Wissen und Fiktion. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass Schillers Theater sich nicht allein auf die Bühnenstücke beschränkt. Theatralisch in einem weiteren Sinne sind auch Prosatexte wie Der Geisterseher oder Spiel des Schicksals, nicht zuletzt die eminent dramaturgisch gestalteten Balladen mit ihren Lebensexperimenten an der Schwelle zum Extremen. Schillers Theatertexte veranstalten üppige Feste der Rhetorik (3). Pathos ist ihre prominente Form der Überschreitung, deren Struktur zum Ausdruck bringt, was auch Schillers Reflexionskultur beherrscht: den Willen zur Transzendierung. Insofern ist die pathetische Bewegung der Schiller’schen Dramensprache nicht ausschließlich ein Mittel der Wirkungssteigerung, das darauf abzielt, dem Zuschauer die „volle Ladung“ (NA, 20, 197) des Pathos zu verabreichen, sondern zugleich ein Medium der Transgression, in dem sich der Wunsch bekundet, die Enge der Verhältnisse zu überwinden, die Realität zu sprengen, ein Absolutum jenseits der überschaubaren Dichte der sozialen Ordnung anzusteuern. Pathos erweist sich so als Version einer approximativen Denkbewegung, die für den deutschen Idealismus generell charakteristisch ist (und etwa Hegels Theorie der

Einleitung

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Tragödie entscheidend determiniert). Ihre Grenze erreicht Schillers Sprachästhetik in jenen seltenen Momenten, in denen sie in die stumme actio umschlägt (man denke an den Schlussakt von Kabale und Liebe oder an Johannas Begegnung mit dem schwarzen Ritter). Selbst angesichts des Todes, der als letzter Markierungspunkt die Rede unterbricht, versiegt jedoch bei Schiller der Sprachfluss nicht (zu erinnern ist an Leicesters Ohrenzeugenbericht von der Hinrichtung Maria Stuarts). Die Prämisse, dass die Schönheit der Rede – auch wenn die Seele in ihr nur spricht – eine Annäherung an ein Absolutum menschlicher Erfahrung vollziehen könne, teilen Schillers Theaterstücke mit den Dramen des französischen Klassizismus, dem sie sonst in vielen Punkten fernstehen. Zugleich ist ihre rhetorische Ordnung unmittelbar an die sie leitende Konstruktion des Ästhetischen gebunden, sodass Rhetorik und Kunst funktional aufeinander verweisen. Mit nur einer Ausnahme sind Schillers Dramen Geschichtsdramen (4). Von der Schiller-Forschung ist die Frage nach den Funktionsdifferenzen zwischen historiografischem und literarischem Diskurs bislang unzureichend erörtert worden. Der Ereignischarakter des Dramas entsteht durch eigene Formen der Theatralisierung von Geschichte, deren Analyse auch grundsätzliche Aufschlüsse über die Arbeit von Symbolen, performativen Darstellungstechniken und szenischen Tableaubildungen als Elementen dramatischer Gestaltung bietet (hier wäre auf vergleichbare Perspektiven in den Arbeiten des New Historicism – bei Greenblatt, Montrose, Liu, Ferguson unter anderem – zu verweisen). Gerade im Kontrast zu den – sich oftmals an vergleichbaren Stoffen abarbeitenden – historiografischen Schriften Schillers ist das Spezifikum einer ‚tragischen‘ Konstruktion von Geschichte als Effekt des Arrangements von Akteuren und Situationen zu bedenken, wobei das durchgreifende Interesse an den handelnden Individuen den Historiker Schiller mit dem Geschichtsdramatiker – auch auf Kosten einer konsistenten Geschichtstheorie – verbindet. Zu den spezifisch theatralischen Verfahren der Umsetzung von Geschichte in dramatische Ereignisstrukturen gehören bei Schiller die Inszenierung symbolisch-ritueller Vorgänge (Schwur, Beichte, Krönung, Hinrichtung), die ästhetische Aufladung der Zeit (im Sinne von Orakel und Prophetie) und die metapoetische Reflexion des literarischen Kunstcharakters (im Hinblick auf den Zusammenhang von Welt und Bühne oder die metaphorische Bedeutung des Spiels für Politik und Theater). Schiller und das Theater, das ist nicht zuletzt: die große Kunst der Manipulation, die Lust des Autors an der Überwältigung des Publikums. Noch während der Arbeit am Wilhelm Tell schreibt Schiller, er suche die „Bühnen von Deutschland [zu] erschüttern“ (NA, 32, 68) und „den Leuten den Kopf wieder warm zu machen“ (NA, 32, 81). Die klare Wirkungsausrichtung, die sich hier bekundet, bleibt ein Leitmotiv für Schillers dramatische Arbeit. So wird man sagen dürfen,

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Peter-André Alt

dass die ungeheuren Sätze des Fiesko-Theaterzettels vom Januar 1784 für sein gesamtes Theaterwerk gelten dürften. Darin heißt es: Heilig und feierlich war immer der stille, der große Augenblick in dem Schauspielhaus, wo die Herzen so vieler Hunderte, wie auf den allmächtigen Schlag einer magischen Rute, nach der Phantasie eines Dichters beben – wo, herausgerissen aus allen Masken und Winkeln, der na tü rl ic he Mensch mit offenen Sinnen horcht – wo ich des Zuschauers Seele am Zügel führe und nach meinem Gefallen, einem Ball gleich dem Himmel oder der Hölle zuwerfen kann [. . .]. (NA, 22, 90–91)

Schiller, dieser fulminante, aber nie selbstverliebte Spieler hat seine großen Theaterfeste immer auch mit Blick auf die Kunst der Erregung und Bewegung veranstaltet. Der vorliegende Band eröffnet daher einen Schauplatz der Vielfalt, der diesem Anspruch Genüge tut. Seine Beiträge gliedern sich in drei Sektionen: „Dramaturgie“ (I), „Psychologie“ (II) und „Grenzgänge“ (III). Sie erfassen Schillers Theater aus gattungsspezifischer, bühnenästhetischer und anthropologischer Sicht. Fragen der Dramenpoetik (Helmut J. Schneider), der Ritualisierung (Dirk Niefanger) und Körperinszenierung (Mirjam Springer) spielen in der ersten Sektion ebenso eine Rolle wie Strukturen der Raumpoetik (Lily Tonger-Erk) und der Umsetzung diskursiver in theatralische Darstellungsformen (Maria Carolina Foi). Für die zweite Abteilung ist die Konzentration auf Schillers außerordentliche Charaktere leitend. Dabei kommt ihre Ambivalenz in den Blick (Nina Birkner), aber auch das Erbe Shakespeares und seiner überlebensgroßen Figuren (John Guthrie) oder die Rhetorik der emotionalisierten Rede (Uta Degner). In der dritten Abteilung geht es um die Überschreitung als Merkmal der Schiller’schen Bühnenkunst: um Transgressionen in gattungspoetischer Hinsicht (Norbert Christian Wolf), unter Bezug auf Bühnenangaben (Gilles Darras), Formen der Theatralisierung des Erzählens (Stefan Börnchen), der narrativen Tendenz im Drama (Thomas Boyken) und der Liebesphilosophie Schillers (Christoph Gschwind). Auffallend ist der Wandel der Forschungsinteressen, der sich in den hier sichtbaren Themenschwerpunkten dokumentiert. Die Auseinandersetzung mit Schillers eigenen Kategorien des Pathetischen und Erhabenen, die über Jahrzehnte das Fachgespräch beherrschte, spielt nur noch am Rande eine Rolle. Literaturgeschichtliche Fragen der Abgrenzung gegenüber Lessing auf der einen, Goethe auf der anderen Seite sind in den Hintergrund getreten. Stattdessen findet die europäische Prägung von Schillers Dramaturgie zunehmend Beachtung, mit ihr auch deren Zusammenhang mit englischen und französischen Vorbildern. Wachsende Bedeutung gewinnen die dramaturgisch relevanten Paratexte: Bühnenanweisungen expliziter Art, aber auch mit ihnen funktional vergleichbare narrative Elemente im Drama. Körper und Raum werden stärker als früher in ihrer genuinen Rolle für die literarische Bedeutungsebene berücksichtigt. Schillers Theater ist für

Einleitung

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die gegenwärtige Forschung als Literaturereignis bereits auf Performanz angelegt. Dieser Einsicht folgen zahlreiche Beiträge des Bandes – mit wichtigen Konsequenzen für eine neue Verortung der theatralischen Sprache und Dramaturgie Schillers. Der Dank der Herausgeber gilt Jasmin Wahl und Lara Helder für die sorgfältige Redaktion der Beiträge. Der VolkswagenStiftung gebührt erneut Dank für die großzügige Finanzierung der Tagung. Dem Verlag de Gruyter sind wir sehr verbunden für die Realisierung des nunmehr zweiten Konferenzbandes in der Reihe „Perspektiven der Schillerforschung“.

I Dramaturgie

Helmut J. Schneider

Der große Menschheitsaugenblick Zu Schillers politischer Publikumsdramaturgie in Don Karlos

1 Posa vor König Philipp: Rhetorische Machtergreifung der Gesellschaft In der Mitte des Don-Karlos-Dramas, dem zehnten Auftritt des dritten Akts, findet die Begegnung des Marquis Posa mit König Philipp statt. Der Marquis nutzt den ihm überraschend eröffneten Zugang zum Zentrum der absolutistischen Macht, um dort sein republikanisches Ideal und die Sache der niederländischen Freiheit vorzubringen. Dabei appelliert er an Philipp als „Mensch[en]“. Der König habe, so Posa, indem er sich zum irdischen Gott erhob, seiner eigenen Menschlichkeit Gewalt angetan: „Sie blieben selbst noch Mensch − / Mensch aus des Schöpfers Hand. Sie fuhren fort / als Sterblicher zu leiden, zu begehren; [. . .] Sie brauchen Mitgefühl [. . .]“ (FA, 3, 313, 3717–3721). Posa weiß nicht, dass der König ihn eben um dieser Bedürftigkeit willen zu sich gerufen hatte. Von seiner Eifersucht auf die ihm heimlich mitgeteilte Liebe seines Sohns zur jungen Königin gequält und von den offensichtlich egoistischen Manipulationen der Hofkamarilla abgestoßen, war sein Blick auf den unabhängigen Außenseiter gefallen – einen Menschen, wie er hoffte, der ihm Wahrheit geben kann, „den seltnen Mann mit reinem, offnem Herzen, / mit hellem Geist und unbefangnen Augen“ (FA, 3, 297, 3314–3315). Umso stärker muss er jetzt von Posas, freilich prinzipiell und politisch gemeinter, Ermahnung berührt sein, die sich auf die Gleichheit aller Menschen unter dem Schöpfer und das aus ihrer Sterblichkeit resultierende Bedürfnis nach Mitgefühl beruft. Die „eine Feuerflocke Wahrheit“ (FA, 3, 305, 3493), die Posa „kühn“ „in des Despoten Seele“ wirft (FA, 3, 305, 3494), zündet zwar nicht in dessen politischer Einsicht, wohl aber seinem verwundeten Gemüt. Der Marquis erfasst den Augenblick mit sicherem Instinkt und unterbricht seine flammende Rede, um sich dem König noch unmittelbarer zuzuwenden: „Er [Posa] nähert sich ihm [Philipp] kühn und faßt seine Hand, indem er [Posa] feste und feurige Blicke auf ihn [Philipp] richtet“, so die Szenenanweisung (FA, 3, 317, nach 3847). Posa spricht eindringlich: O könnte die Beredsamkeit von allen den Tausenden, die dieser großen Stunde teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, den Strahl, den ich in diesen Augen merke, zur Flamme zu erheben! https://doi.org/10.1515/9783110667066-002

(FA, 3, 317, 3848–3852)

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Posa fährt fort, indem er die absolutistische Allmacht beschwört: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu / erschaffen wird die Erde. Geben Sie / Gedankenfreiheit“ (FA, 3, 317, 3860–3862). Diese Freiheit, in deren Forderung sich ein Jahrhundert politischer Aufklärung zuspitzt, hat Posa sich in ebendiesem Augenblick genommen, da er den Audienzsaal zur Arena seiner politischen Vision macht. Posas für seine rhetorische Virtuosität berühmter Auftritt hat den Charakter einer performativen Selbsterfüllung. Hierfür ist der Appell an die Tausende, die die „große[] Stunde“ teilen und deren Stimmen er in seiner eigenen versammeln will, entscheidend. Sie sind metonymisch als Publikum hier und jetzt im Theatersaal gegenwärtig. Posas Worte vereinigen Bühne und Zuschauer in einem großen Theateraugenblick, in dem sich so etwas wie eine Machtergreifung ereignet: die symbolische Machtergreifung der Gesellschaft gegen den absolutistischen Staat.1 „Gesellschaft“ wird hier verstanden als ein durch den egalitären Wert des „Mitgefühl[s]“ (FA, 3, 313, 3721) oder der Empathie bestimmter Innenbereich, im Gegensatz zu einem Außen der im Monarchen verkörperten absoluten Macht. Der Marquis wirft dem König vor, den „Menschen aus des Schöpfers Hand“ (FA, 3, 313, 3718) in das „Werk“ (FA, 3, 313, 3714) seiner eigenen Hände verwandelt und sich „dieser neugegoßnen Kreatur / zum Gott“ (FA, 3, 313, 3715–3716) gegeben zu haben; er aber wolle nicht Werkzeug – „Meißel“ (FA, 3, 308, 3576) – in der Hand eines anderen, sondern selbst Schöpfer sein. Die neue Ordnung der Gleichheit beansprucht für alle Bürger die Freiheit zu autonomem Schöpfertum, die der Monarch als Monopol usurpiert hat. „Werden Sie / von Millionen Königen ein König“ (FA, 3, 317, 3846–3847), ruft Posa Philipp zu, unmittelbar bevor die zitierten Verse ihn selbst als Sprecher der Tausenden zugunsten der neuen Ordnung ermächtigen. Posas Vision einer freiheitlich-egalitären Gesellschaft und der von Philipp repräsentierte absolutistische Staat stehen sich in dem Auftritt jedoch nicht unvermittelt gegenüber, sondern sie sind im Austausch der beiden Männer widersprüchlich miteinander verschränkt. Der König sucht menschlichen, vom egoistischen Interesse eines Hofakteurs unbeeinflussten Rat und erhält stattdessen eine menschheitspolitische Lektion, für die ihn sein Gefühlszustand aber ein gutes Stück weit öffnet: „Bei Gott, / er greift in meine Seele!“ (FA, 3, 314, 3748–3749). Umgekehrt gerät dem Marquis das „Gemälde“ (FA, 3, 311, 3673) seiner weltbürgerlichen Utopie mehr und mehr zu einer autosuggestiven

1 Die Bedeutung der Gegenüberstellung von (absolutistischem) Staat und Gesellschaft für das Drama hat schon früh betont: Bohnen, Klaus: „Politik im Drama. Anmerkungen zu Schillers ‚Don Carlos‘“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), 15–31.

Der große Menschheitsaugenblick

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Selbstermächtigung, die von der angegriffenen Macht seines Gegenübers zehrt und sich ihrerseits ein Stück weit mit ihr verbindet. Erschien es Posa anfangs schwer, das, „was ich als Bürger dieser Welt gedacht, / in Worte Ihres Untertans zu kleiden“ (FA, 3, 307, 3533–3534), so verschmilzt schließlich seine überbordende Rhetorik geradezu mit dem von ihm evozierten, aus dem königlichen „Füllhorn“ (FA, 3, 317, 3844) „strömen[den]“ (ebd.) „Menschenglück“ (FA, 3, 317, 3843). „Ein Federzug von dieser Hand, und neu / erschaffen wird die Erde“ (FA, 3, 317, 3860–3861), verspricht Posa dem König. Laut Szenenanweisung hält der Marquis dabei die Hand des Monarchen „[ge]faßt“ (FA, 317, nach 3847), als wolle er selbst sie vor den Augen und Ohren der als Verbündete angerufenen Zuschauer führen. Die „große[] Stunde“ dieses Auftritts steht im Handlungsverlauf des Dramas zunächst relativ isoliert und in sich geschlossen da; Kritiker haben schon früh moniert, dass in ihr die Handlung stillstehe. Einerseits ist ihr äußeres Zustandekommen nur schwach motiviert (beim Durchblättern seines Notizbuchs fällt Philipps Blick zufällig auf Posas Namen), und andererseits trägt sie keine Frucht für die niederländische Freiheitsaktivität. So ragt die Szene als ein grandioses, einen weiten politisch-weltanschaulichen Horizont aufreißendes rhetorisches Glanzstück aus dem Bühnengeschehen hervor, das sie in gewisser Weise sogar unterbricht: Während die beiden Handlungsstränge des Liebeskonflikts um Karlos und Elisabeth sowie der politischen Aktion im Überwachungsraum des Hofs einer strikten Verschwiegenheit und Geheimhaltung unterliegen, erscheint die im Innersten der Macht stattfindende Audienz als Insel der Redefreiheit. Freilich liegt ihr die Täuschung Philipps darüber zugrunde, dass ausgerechnet der von ihm als unparteiisch Erwählte zutiefst in die verdächtigten Verhältnisse verwickelt ist. Für die eingeweihten Zuschauer und Zuhörer aber rufen Posas beredte Anklagen des Despotismus und seine dagegengehaltene utopische Glücksvision den Freiheitsenthusiasmus der vorangegangenen Szenen mit dem Freund und der Königin wach; ihr Echo verstärkt die republikanische Rhetorik. Dagegen ist Philipps ursprüngliches, ebenfalls nur dem Zuschauer bekanntes intimes Anliegen schon nahezu vergessen, als er es spät zur Sprache bringt und nun, in einer überraschenden Wende, Posa zum Spion über das verdächtigte Liebespaar bestellt. Geradezu zynisch erscheint es, wenn er den Marquis als eine Art Vorzeige-„Mensch“ unter seinen Untertanen auszeichnet: „Sie selbst, Sie sollen,/ Sich zur Beschämung, unter meinen Augen/ fortfahren dürfen, Mensch zu sein.“ (FA, 3, 320, 3942–3944) Der menschliche Ratgeber, der Philipp mit menschheitspolitischen Forderungen konfrontierte, wird mit dem Zeichen der Gunst des Königs und dem Geheimauftrag zur Ausforschung seiner Familienmitglieder entlassen. Der Weltbürger Posa, der die absolutistische Macht

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rhetorisch zu vereinnahmen suchte, wird in ihr System kooptiert. „Ich will nicht heimlich tun mit meinem Wohlgefallen“ (FA, 3, 347, 4560), bekräftigt der König später seine Auszeichnung, als Posa sich auf den Status eines privaten Freundes zurückziehen will, und raubt diesem Wort „Freund“ seinen emotionalen Wert: „[D]as Siegel meiner königlichen Gunst/ soll hell und weit auf eurer Stirne leuchten./ Ich will den Mann, den ich zum Freund gewählt,/ beneidet sehn.“ (FA, 3, 347, 4561–4564) Im pragmatischen Handlungskontext ist der große Auftritt, der den Republikaner und den Monarchen verbindet, also zweifach unterminiert, nämlich einerseits durch Philipps Täuschung und andererseits durch Posas Anstellung. Auch wenn Posa nicht die Seiten wechselt, so ist er doch von der plötzlich gewonnenen Machtposition bestochen. Sie verführt ihn zu einem vermessenen Spiel als scheinbarer Doppelagent, in das er sich zunehmend verstrickt und dem er schließlich zum Opfer fällt (genauer: das er durch sein Selbstopfer doch noch zu einem erfolgreichen Ende zu führen sucht). Er lässt Karlos über seine Beziehung zum König im Unklaren und setzt sich selbstherrlich über die Gefühle des Prinzen und der Königin hinweg. Der „Abgeordnete [. . .] der ganzen Menschheit“ (FA, 3, 182, 165), wie er sich zu Beginn seinem früheren Studienfreund Karlos eingeführt hatte, erhebt sich unter dem Schirm königlicher Protektion zum Dirigenten einer Palastintrige, deren abstraktes Fernziel die konkrete Menschlichkeit ausblendet. Der idealistische Gegner höfischer Machtpolitik wird zum Verräter an seinen moralischen Prinzipien. An diesem Punkt setzt bekanntlich die schon vom Autor Schiller selbst (in den Briefen über Don Karlos, 1788) begonnene und bis heute anhaltende Diskussion über Posa als Repräsentanten eines inhumanen Idealismus, nach der Formulierung von Schillers Freund Körner eines „Despotismus der Aufklärung“,2 an. Die Widersprüchlichkeit seines Handelns und seiner Motivation macht Schillers Protagonisten zu einer der faszinierendsten Gestalten des deutschen klassischen Dramas.3 Posas schillernder Charakter ist aber zugleich Ausdruck seiner Funktion in der Handlung.4 Er verknüpft die beiden Schwerpunkte des familiären und 2 Die Stelle ist nicht in der Frankfurter Ausgabe enthalten, deshalb sei hier auf die Nationalausgabe verwiesen; NA, 33.1, 145. 3 Vgl. mit Bezug auf die Debatte: Borchmeyer, Dieter: „‚Marquis Posa ist große Mode.‘ Schillers Tragödie Don Carlos und die Dialektik der Gesinnungsethik“. In: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Hg. v. Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Riedel. Würzburg 2002, 127–144. Die klassische Verteidigung des Marquis ist: Malsch, Wilfried: „Moral und Politik in Schillers Don Karlos“. In: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1988, 207–237. 4 Die strukturelle Funktion vor der Figurencharakteristik betont mit Bezug auf Diderot (hierzu später): Böckmann, Paul: Strukturprobleme in Schillers „Don Karlos“. Heidelberg 1982

Der große Menschheitsaugenblick

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politischen Konflikts und überträgt das bürgerliche Ethos der Empfindsamkeit (Freundschaft, Liebe, Empathie) in die staatliche Sphäre. Gegensatz und Bezogenheit dieser Sphären, und hiermit auch das gattungshistorische Verhältnis von bürgerlicher Familiendramaturgie und höfisch-barocker Staatsdramaturgie, bilden seit jeher den Angelpunkt der kontroversen Deutung des Dramas. Oft geht sie von einer durch die lange Entstehungszeit (von fünf Jahren) mitbedingten Zweiteilung des Werks aus, die schon den Autor selbst zu einer Rechtfertigung seines inneren Zusammenhangs bewegte.5 Der Mittelauftritt eröffnet dem Marquis, wie Schiller in seiner Selbstdeutung in den Briefen über Don Karlos schreibt, „ein[en] ganz neue[n] Spielraum“ (FA, 3, 443). Bisher war er bemüht, seine politischen Ziele über den Prinzen zu erreichen, wobei er sich jedoch mit dessen unglücklicher Liebesverstrickung konfrontiert sah. Nun ist Posa stattdessen selbst dicht an den Hebel der Macht gerückt. Zu Beginn unauffällig durch einen Seiteneingang des Parks von Aranjuez an den Hof gelangt, um seinem Freund Karlos die Sorgen der flandrischen Provinzen vorzutragen (vgl. FA, 3, 182, 166–167), avanciert er jetzt zum Akteur auf der großen Staatsbühne, als der König ihn, durch seine erotische Eifersucht „aus dem unnatürlichen Zwang seines Standes in den ursprünglichen Stand der Menschheit zurück versetzt“ (FA, 3, 444), zu sich ruft. Dass Posas Beförderung sich in einer auffällig vom Handlungskontext abgesetzten (und doch zugleich durch Posa selbst unterminierten) Szene und begleitet von einem rhetorischen Appell an das Publikum vollzieht, bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Bemerkungen. Die neuere Forschung hat dem Rückgriff von Schillers klassischer Dramatik auf die französische Tragödie über den epochalen Einschnitt der Revolution hinweg zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt.6 Er betrifft in eminenter Weise die Darstellung absoluter Macht im Medium des höfischen Zeremoniells. Von diesem macht Schiller in Don Karlos, Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans

(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, 1982, 3). 5 Die ersten zweieinhalb, durch Karlos und dessen unerfüllte Liebe zur Königin dominierten Akte bis zu Posas Audienzauftritt veröffentlichte Schiller 1786/87 separat in seiner Zeitschrift Thalia, bevor die Buchfassung von 1787 mit den restlichen zweieinhalb Akten die durch Philipp und Posa dominierte politische Handlung in den Vordergrund rückte. Im Gesamtwerk Schillers steht Don Karlos im Übergang von der Sturm-und-Drang-Dramatik zum klassischen Geschichtsdrama der Weimarer Epoche. Auch hier ist es der Marquis, der Züge des frühen genialischen Idealisten und Spielers (Karl Moor, Fiesko, Ferdinand) aufnimmt und in die historische Welt überträgt. 6 Stellvertretend sei hier die Monografie von Alexander Pleschka: Tragödie und Öffentlichkeit genannt, die auch den neuere Forschungsstand dokumentiert (vgl. Anm. 15).

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ausgiebigen Gebrauch, indem er zugleich seine Störung ausstellt, die die Schwächung oder den Zerfall der überkommenen Herrschaftsform anzeigt. Dabei verbinden sich kritische Intention und kompensatorische Funktion: Das depotenzierte Ritual zehrt noch von der Sichtbarkeit traditioneller Herrschaft, die es zugleich durch eine selbstreferenziell gesteigerte ästhetische Präsenz infrage stellt.7 Jedoch ist damit noch nicht eine neue, zukunftsweisende Macht ins Spiel gebracht, wie dies in der Begegnungsszene unter Einbeziehung des Publikums als imaginärem Kollektiv geschieht. Im folgenden Abschnitt soll daher zunächst den dramaturgischen Implikationen der Zuschaueradressierung näher nachgegangen werden, die auf eine ideale Einheit des Publikums als Verkörperung der Gesellschaft abzielen. (2) In einem zweiten Schritt geht es um spezifische Momente der Dramenhandlung, die die menschlich-intime Wertekonstellation in ein umfassenderes Bild von Gesellschaft transformieren. (3) Drittens soll ein vergleichender Blick auf Lessings Nathan, ein zu wenig beachtetes Vorbild Schillers, die politischen Grenzen eines solchen Transformationsmodells aufzeigen. (4) Don Karlos demontiert schließlich nicht nur die absolute Monarchie, sondern mit dem Sieg der Inquisition jegliche Personalität von Herrschaft. Wie diese tendenziell durch eine im Publikum lokalisierte Kollektivmacht ersetzt wird, die sich in einer auf die klassische (Weimarer) Autonomieästhetik vorausweisenden Symbolik darstellt, ist Gegenstand des letzten Abschnitts. (5)

2 Dramaturgie des Tableaus und die Bildung einer imaginären Gemeinschaft (Diderot, Schaubühnenrede, Rousseau) In einer Fußnote am Ende des zweiten Akts des Thalia-Fragments, das die erste Fassung des Dramas bis zu der (dort noch nicht enthaltenen) Audienzszene enthält, nennt Schiller sein Werk ein „Familiengemälde aus einem königlichen Hause“ (FA, 3, 137; die folgenden Zitate ebd.). Die seitdem immer wieder angeführte Formel fasst an dieser Stelle die vorangehende Charakterisierung des

7 Vgl. Alt, Peter-André: „Der Zeremonienmeister. Schillers politisches Theater und die Kontrafakturen des höfischen Rituals“. In: Schiller, der Spieler. Hg. v. dems., Marcel Lepper u. Ulrich Raulff. Göttingen 2013, 161–187, S. 167–172. Vogel, Juliane: „Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers Don Carlos“. In: dies.: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. Paderborn 2018, 94–108 (zuerst in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2012) H. 4, 532–546).

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Don Karlos als Lesedrama zusammen, das „kein Theaterstück werden“ könne. Schiller unterscheidet zwischen der „dramatische[n] Einkleidung“ oder der „Form“ eines Textes als „handelnde[m] Dialog“ von der „auf die Gesetze der Schaubühne“ eingeschränkten „theatralische[n] Dichtkunst“.8 Das scheint sich zunächst auf die von den frühen Kritikern angesprochene vorgebliche Unspielbarkeit des Stücks zu beziehen. Bekanntlich richtete Schiller mehrere Regiefassungen ein, um den „dramatischen Roman“ (FA, 3, 1107) im Sinne seiner Auftraggeber bühnentauglich zu machen, abgesehen von den drei Buchfassungen (1787, 1801, 1805) nach dem Thalia-Fragment.9 Wie hängt diese Skepsis gegenüber der „theatralische[n] Verkörperung“ (FA, 2, 15) aber, wenn überhaupt, mit der Definition als „Familiengemälde“ (FA, 3, 137) zusammen? Gibt es hier einen grundsätzlicheren, über den rein bühnenpraktischen Aspekt hinausweisenden Zusammenhang?10 In einer ausführlichen Studie zur Entstehungsgeschichte des Don Karlos hat Paul Böckmann vor mehr als vierzig Jahren die Bedeutung von Diderots Dramaturgie für Schillers Stück hervorgehoben.11 Der Franzose hatte folgenreich den Begriff des „Gemäldes“ oder „Tableaus“ für eine neue, gegen die klassizistisch-höfische Bühne gerichtete Dramaturgie eingeführt. Er war gebunden an seine Konzeption 8 Vgl. schon den früheren Brief an den Mannheimer Intendanten Dalberg vom 7. Juni 1784; FA, 3, 1075. Eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem Text und seiner „theatralische[n] Verkörperung“ (FA, 2, 15) hatte bereits die unterdrückte Vorrede zu den Räubern getroffen. 9 Zahlreiche Äußerungen in Schillers Korrespondenz mit Freunden und Theaterdirektoren bezeugen seine Bedenken gegen die theatralische Realisierung aus Gründen der Überlänge und der Unüberschaubarkeit der Handlung, der zweifelhaften Fähigkeit der Schauspieler zum kompetenten Versvortrag (daher sind seine Bühnenbearbeitungen meist in Prosa gehalten), schließlich der Zensur (katholische Kirche, Auftritt eines Priesters, Inquisition; natürlich auch Posas republikanischer Vortrag vor Philipp). Vgl. die vom Herausgeber im Kommentarteil zusammengestellten Zeugnisse in FA, 3, 1070–1149. 10 Auf die Thematik von Lektüre und Aufführung am Beispiel des Thalia-Fragments geht ein: Lehmann, Johannes F.: „‚Situation, Szene, Tableau‘. Medientheoretische Aspekte der Anfänge von Schillers Don Karlos“. In: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg. Freiburg i.Br. 2012, 215–232. 11 Böckmann, Paul: Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar. Stuttgart 1974 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft 30). Darin die „Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des Don Karlos“, S. 377–623; zu Diderot S. 379–388. Wie bewusst Schiller sich die Dramaturgie Diderots angeeignet hat, ist fraglich, doch impliziert die Konzentration auf die familiäre Konstellation von Inzest und Vater-Sohn-Konflikt die Nähe zu ihr (vgl. den Kommentar des Herausgebers in FA, 3, 1024). Im Übrigen beschäftigten Schiller Gattungsfragen (Shakespeare, bürgerliches Trauerspiel, französische Staatstragödie) in dieser Zeit intensiv. Die Tableau-Dramaturgie bietet meines Erachtens auf jeden Fall einen Schlüssel, um den Zusammenhang zwischen Familie und Staat unter dem Wirkungsaspekt zu erhellen.

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der vierten Wand, die eine strenge Trennung von Bühne und Zuschauerraum forderte. Das Tableau stellte eine in sich geschlossene Handlung vor, die jedes Außen negiert, den Blick und die Anwesenheit der Zuschauer nicht weniger als den unvorbereitet in ihre Immanenz hineinbrechenden und ihre Kontinuität unterbrechenden coup de théâtre, den „Theaterstreich“. Verbannt wurden mit jeder Hinwendung zum Publikum auch jegliche Deklamation und ostentative Zurschaustellung. Das Repertoire der höfisch-politischen Rhetorik sowie spektakuläre Inszenierungen von Staat und Herrschaft verfielen der Verdammung. Umgekehrt unterhielt das Tableau eine enge Affinität zur Intimität der Familienhandlung, wie sie Diderot selbst in seinen beiden Dramen Le fils naturel (1757) und Le père de famille (1758) exemplarisch realisierte und in ausführlichen theoretischen Erörterungen (die im ersten Fall auf raffinierte Weise mit der Dramenfiktion verwoben sind) zur Debatte stellte. Schiller kannte diese Texte.12 Ein besonders hervorzuhebendes Charakteristikum des Tableaus oder Gemäldes ist seine Überschaubarkeit. Dramatische Vergangenheit und Zukunft, Vor- und Nachgeschichte verbinden sich in ihm zu einer ausgedehnten Gegenwart.13 Die Handlung soll den Zuschauern jederzeit als Ganzes vor Augen stehen, sie sollen in jedem Augenblick mehr wissen und überblicken als die involvierten Figuren, die in ihren jeweiligen Handlungssituationen gefangen sind. „Für den Zuschauer muß alles klar sein“,14 schreibt Lessing unter ausdrücklichem Bezug auf Diderot: „Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist.“ (ebd.) In der Einfühlung der Zuschauer realisiert sich die Einheit des Tableaus, und umgekehrt versichern sich die Zuschauer in ihm ihrer eigenen Identität. Damit eignet dem Tableau neben der emotionalen auch eine intellektuelle Qualität, indem es die Übersicht des Ganzen gegen die Identifikation mit einem Einzelnen (Helden), den momentanen sinnlichen Eindruck oder die überraschende (unmotivierte) Handlungswendung stellt. Die Bühne, die sich den Zuschauern als Gemälde darbietet, bildet so den polemischen Gegensatz zu allem Theatralischen und insbesondere der barocken und klassizistischen Staatsdramaturgie. An die Stelle einer Überwältigung durch visuelle, rhetorische, körperliche Effekte,

12 Sie waren zusammen mit den theoretischen Abhandlungen von Lessing schnell (1760) übersetzt worden. Diderot, Denis: Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Stuttgart 1986. 13 Campe, Rüdiger: „Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuration“. In: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. Hg. v. Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter u. Achatz von Müller. München 2007, 163–182, S. 174–180. 14 Lessing, Gotthold Ephraim: „Hamburgische Dramaturgie“. In: ders.: Werke 4. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, 229–707, S. 453.

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Ausdruck einer unberechenbaren Macht, trat die emotional-reflektierte Einfühlung in das durchschaubar motivierte Bühnengeschehen. Diese neu geforderte Rezeptionshaltung näherte das Zuschauen im Theater der stillen und konzentrierten Buchlektüre an, die aber, das ist der entscheidende Unterschied, in einer gemeinsamen physischen Gegenwart vollzogen wurde und so zu einer neuen Kollektividentität beitrug. Die Zuschauer, deren Blick im verdunkelten Saal nicht auf die Mitzuschauer, sondern nach vorne, zur erleuchteten Bühne gerichtet war, trafen sich nicht mehr wie im höfischen Theater in einer durch die Bühne festlich gehobenen Interaktion, sondern in der gemeinsamen Versetzung in die von ihrer körperlichen Existenz getrennte Bühnenillusion. So konnten sie sich idealiter zu einem spirituellen Kollektiv zusammenfinden – eine wichtige Bestärkung der aufklärerischen Menschheitsidee durch das Theater. In diesem Sinn hat man sagen können, der „Zweck des Tableaus“ sei „[d]as Ereignis der Vereinigung der Zuschauer zu einem sozialen Körper“.15 Wenn Schiller sein Drama als „Familiengemälde“ (FA, 3, 137) charakterisiert, so konnte er also an diese dramaturgische Konzeption anschließen. Dem scheint nun zwar zu widersprechen, was oben über den großen Auftritt von Philipp und Posa und zu Posas direkter Adressierung des Publikums gesagt wurde. Allerdings war dieser Auftritt in der Thalia-Fassung, die die Fußnote enthält, noch nicht enthalten. Man kann jedoch zeigen, dass die große politische Begegnungsszene das vorangehende „Familiengemälde“ (FA, 3, 137) nicht nur in dem beschriebenen psychologischen Verständnis (Eifersucht des Königs, die wachsende Sympathie zwischen den beiden Männern), sondern ebenso als dramaturgische Funktion zur Voraussetzung hat. So wie sich menschliches Mitgefühl in ihr zu Menschheitspolitik steigert und dabei an die absolutistische

15 Heeg, Günther: „Massive Erhebung. Das französische Theatertableau des 18.1 Jahrhunderts als Medium der Affektsteuerung und Wahrnehmungslenkung“. In: Wahrnehmung und Medialität. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Christian Han u. a. Tübingen 2001, 51–66, S. 57. Zur vierten Wand das Standardwerk von Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i.Br. 2000. Eine Analyse der Kategorie vor dem Hintergrund der französischen Tradition der tragédie classique bietet Pleschka, Alexander: Theatralität und Öffentlichkeit. Schillers Spätdramatik und die Tragödie der französischen Klassik. Berlin u. Boston 2013, S. 61–79. Pleschkas scharfsinniger Untersuchung ist der vorliegende Versuch in vielem verpflichtet; vgl. auch unter Abschnitt 4. Die neueste Arbeit, unter umfassender Berücksichtigung der bisherigen Forschungsliteratur: Brüggemann, Susanne: Tableau oder Handlung? Zur Dramaturgie Diderots und Lessings. Würzburg 2017. Vgl. auch das Kapitel „Der imaginäre Körper der Menschheit“ in Schneider, Helmut J.: Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner. Berlin 2011, S. 47–68.

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Macht anlehnt, so steigert sich die Tableau-Bühne der psychologischen Einfühlung – das „Familiengemälde“ der vorangegangenen Akte – zum Schauplatz einer politischen Deklamation im „königlichen Hause“, die sich an die theatralische Schaustellung der alten Staatsmacht anlehnt. Damit wird jedoch keineswegs die alte Staatsaktion des barocken und zumal französisch-höfischen Theaters zurückgeholt, sondern sie wird vielmehr ersetzt – ersetzt durch die Mitwirkung eines als neuartiges Kollektiv formierten Publikums. Bekannte Äußerungen Schillers im Umkreis der Arbeit an Don Karlos belegen die Tendenz, die Immanenz der dramatischen Handlung in einem Publikumsappell zuzuspitzen. So rechtfertigt er eine Änderung des Schlusses von Fiesko für die Mannheimer Bühnenbearbeitung von 1784 gegenüber der zur Lektüre bestimmten Buchfassung (wie auch gegenüber den historischen Quellen) mit dem größeren Theatereffekt. Der Held fällt jetzt nicht wie dort seinen monarchischen Ambitionen zum Opfer, sondern verzichtet aus eigenem Antrieb auf die Krone, um „eine höhere Wollust darin [zu finden], der glücklichste Bürger als der Fürst seines Volks zu sein“ (FA, 2, 556). Dies reiße, so Schiller, die Hörer zu einer kollektiven Begeisterung hin und rücke sie „aus dem engen dumpfigen Kreis unsers alltäglichen Lebens in eine höhere Sphäre“ (FA, 2, 558) – eine Sphäre, so ist zu präzisieren, die kein jenseitiges Anderes ihres Alltagsdaseins, vielmehr dessen Steigerung ist. Es folgt die hymnische Beschreibung dieses großen Theatermoments, der die Zuschauer zu ihrer ursprünglichen „Menschheit“ öffnet und zum Opferwillen für ein höheres Ganzes des „Vaterlands“ bereit machen soll: Heilig und feierlich war immer der stille der große Augenblick in dem Schauspielhaus, wo die Herzen so vieler Hunderte, wie auf den allmächtigen Schlag einer magischen Rute, nach der Fantasie eines Dichters beben – wo herausgerissen aus allen Masken und Winkeln der Natürliche Mensch mit offenen Sinnen horcht – wo ich des Zuschauers Seele am Zügel führe [. . .], und es ist Hochverrat an dem Genius – Hochverrat an der Menschheit, diesen glücklichen Augenblick zu versäumen [. . .]. − Wenn jeder von uns zum Besten des Vaterlands diejenige Krone hinweg werfen lernt, die er fähig ist zu erringen, so ist die Moral des Fiesko die größte des Lebens. (FA, 2, 558)

Bemerkenswert ist, wie hier neben den vom Usurpator der Macht zum „glücklichste[n] Bürger [. . .] seines Volks“ (FA, 2, 556) bekehrten dramatischen Helden noch ein zweiter tritt, nämlich das dramaturgische Genie, das den Augenblick ergreift, um ein neues Kollektiv zu erschaffen. Darauf wird später (im vierten Abschnitt) zurückzukommen sein. Wie hier sind viele frühe dramaturgische Äußerungen Schillers von einer gewaltsamen Rhetorik der Entlarvung geprägt, deren aufklärerischer Gestus sowohl anthropologisch-psychologisch auf die Erkenntnis der menschlichen Seele wie politisch (dies im Sinn des kalkuliertmanipulierenden Verhaltens wie auch der geheimen Kabinettspolitik) auf die

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Entblößung der Machtstrukturen des Ancien Régime ausgerichtet ist. Die zugrunde liegende Botschaft lautet, dass sich die Menschen vereinigen, nachdem sie aus ihren (sei es selbst geschaffenen, sei es auferlegten) Verstellungen herausgerissen sind. Die berühmte Mannheimer Rede von 1784 steigert dies zu einer explizit gesellschaftspolitischen Vision. Die Schaubühne, heißt es dort, offenbare „das Geheimnis“ (FA, 8, 194) hinter allen Tarnungen des menschlichen Verkehrs und lehre die Zuschauer, sie zu durchschauen. „Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab, und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labirinthen hervor, und zeigte ihr schreckliches Angesicht dem Tag.“ (FA, 8, 194–195) Indem sie die Menschen mit sich selbst bekannt macht und ihr Licht bis in die Gerichtssäle und ins Herz der Fürsten trägt, wirkt sie an der Verbreitung von „Menschlichkeit und Duldung“ (FA, 8, 196) mit und führt die Gesellschaft zusammen. Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks [. . .]. (FA, 8, 197)

Im Hintergrund steht hier die den zeitgenössischen Intellektuellen teure Vorstellung einer Allianz von Absolutismus und Aufklärung, wobei im Bild des von oben herunterströmenden Lichts die traditionelle Sonnenmetaphorik des absoluten Monarchen vereinnahmt erscheint. Gemeint ist aber nicht die Verkörperung des Staats im Herrscher, sondern die Herstellung eines geeinten aufgeklärten Volkskörpers. Der Schluss der Schaubühnenrede beschwört ihn in pathetischen Worten, die die ‚Ode an die Freude‘ vorwegnehmen: Und dann endlich – welch ein Triumph für dich, Natur [. . .] – wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in Ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen, und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust gibt jetzt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. (FA, 8, 200)

Der Ort dieser allgemeinen Verbrüderung im Bewusstsein oder, genauer, Gefühl geteilter Menschlichkeit, das alle sozialen und kulturellen Trennungen in dem einen, dem menschheitlichen Augenblick einer allseitigen Transparenz aufhebt, dieser Ort ist der Saal vor der Bühne. Auf ihr herrschen ja im Gegenteil all die Verstellungen, Manipulationen, Winkelzüge und Intrigen, die der Ausdruck eben dieser Trennungen sind. Erst der empathische Mitvollzug der labyrinthischen

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Bühnenhandlung aus der überlegenen und reflektierenden Zuschauerposition macht das Bühne und Saal umfassende theatrale Ereignis zu dem beschriebenen Vereinigungs-, ja Verschmelzungsgeschehen.16 Von hier aus lässt sich die Audienzszene des Don Karlos und Posas Rolle in ihr als selbstreferenzielle Aufnahme der Wirkungsabsicht des Tableaus in das Bühnengeschehen verstehen. Posas Menschheitsrhetorik erhebt sie zu einem expliziten, in die Handlung eingesetzten und zugleich aus ihr hervorragenden politischen Programm, für das er, gewissermaßen in einer rekursiven Schleife, die Unterstützung des Publikums einholt – jenes Publikums eben, um es zu wiederholen, das der verschlungenen Intrigen- und Verstellungshandlung mit engagierter Empathie und einer nur ihm gewährten Übersicht gefolgt war, durch die es seiner gemeinsamen Menschlichkeit inne wurde. Man könnte insofern von einem Meta-Tableau sprechen, in dem sich die Dramaturgie des „Familiengemälde[s]“ (FA, 3, 137) zu einer rhetorischen Aktion verdichtet. Die politische Radikalität dieses dramaturgischen Wirkungsprogramms, die weit über Diderot hinausgeht, zeigt den Einfluss eines anderen Textes, in dem es ebenfalls um den Gegenstand einer idealen Kollektivbildung ging, nämlich Rousseaus Lettre à d’Alembert sur les spectacles (1758). Schiller greift in der zuletzt zitierten Passage Rousseaus enthusiastische Beschreibung eines ländlichen und in seinem Sinn republikanischen Festes auf, die dem Genfer freilich gerade das Gegenbild zu dem von ihm scharf attackierten Theater lieferte. Für Rousseau war die Bühne, die er als höfische kannte, eine Institution, die den Menschen aus seiner angestammten Gemeinschaft in eine schimärische Welt abzieht und seiner sozialen Identität entfremdet. Fern davon, gesellschaftliche Täuschung, Verstellung, Künstlichkeit zu entlarven und die so zu ihrer Menschlichkeit befreiten Zuschauer zu vereinigen, verführte sie diese vielmehr zu immer neuen Rollenspielen und zu einer von unstillbarem Begehren getriebenen Flucht in eine fiktive Welt, die sie aus ihren familiären und bürgerlichen Bindungen und Pflichten löste. Statt Vereinigung über Trennungen hinweg bewirkte das Theater die Spaltung des bestehenden sozialen Organismus. Dagegen sollte im dörflichen Fest und im Tanz der reale politische Körper, der Körper der Gemeinschaft im Sinne der Polis, zu erhöhter Selbstrepräsentation

16 Aus der umfangreichen Literatur zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der neuen Dramaturgie seien zwei Titel hervorgehoben: Koebner, Thomas: „Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert“. In: ders.: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. Heidelberg 1993, 166–200. Ruppert, Rainer: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 1995. Für Ruppert kompensierte das Theater als „Medium der Vergesellschaftung der inneren Welt“ (ebd., S. 95) den Verlust vormoderner personaler Interaktion und Gemeinschaftserfahrung.

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und Selbstvergewisserung gelangen. Hier gab es keine Trennung zwischen Darstellern und Zuschauern, von denen die einen im Licht und die anderen in einem düstern Gefängnis eingeschlossen und stillgestellt waren. Statt der imaginären Überschreitung der ausgeblendeten wirklichen in eine künstliche Welt stellte sich das physisch versammelte Volk unter offenem Himmel vor sich selbst in vollkommener Transparenz dar.17 Merken wir im Vorbeigehen an, dass Posas Freiheitsvision ebenfalls den Blick in einen weiten Raum hinein öffnet, dessen Natürlichkeit in Kontrast steht zu dem geschlossenen, durch das Zeremoniell und die Etikette reglementierten und nahezu lückenlos kontrollierten Raum der bisherigen (und nachfolgenden) Szenen. Für Schillers dramaturgische Konzeption ist der Unterschied bedeutsam, dass die dem prominenten Vorgänger entnommene Feier eines kollektiven Wechselblicks gerade durch die Theateraufführung erzeugt wird, die den Blick der Zuschauer statt aufeinander nach vorne auf die Bühne richtet. Nur durch die gemeinsame Versetzung in die Illusion und damit indirekt auch in die Augen aller anderen anwesenden Zuschauer bildet sich eine – daher eben imaginäre – Gemeinschaft. Statt der körperlichen, interaktiven Affirmation der Zugehörigkeit zu einer eingesessenen (lokalen) Gemeinschaft bei Rousseau geht es bei Schiller um die Abstraktion von solchen Zugehörigkeiten und die kommunikative, das heißt medial vermittelte Affirmation gemeinsamer Menschlichkeit. Dabei charakterisiert Schiller die Bühnenhandlung und ihre Rollen in denselben Begriffen wie der Vorgänger (Maske, Verstellung), die er aber, um es zu wiederholen, in Bezug auf einen distanzierten und reflektierten – und nicht sinnlich-emotional verführten – Zuschauer setzt.

3 Das Scheitern der politischen Familienutopie (nach dem Modell von Lessings Nathan der Weise) und das Ende der personalen Herrschaft Die skizzierte politische Publikumsdramaturgie Schillers steht im Kontext seiner frühen, primär durch die Charakter- und Familienpsychologie bestimmten

17 Rousseau, Jean-Jacques: „Brief an Herrn d’Alembert über das Schauspiel“. In: ders.: Schriften 1. Hg. v. Henning Ritter. München u. Wien 1978, 333–474, S. 462–463. Die Bedeutung Rousseaus für die deutsche Dramaturgie, die maßgeblich als Auseinandersetzung mit ihm begriffen werden kann, beschreibt Primavesi, Patrick: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frankfurt/Main u. New York 2008, S. 133–187.

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Dramatik, die im Don Karlos auf die Staatssphäre – das „Familiengemälde“ also auf das „königliche[] Haus[]“ – trifft. Wenn das dramaturgische Konzept des Tableaus den Zuschauern die reflexiv-einfühlende Haltung zum Ganzen der Handlung abverlangte, die sie in einer alle partikulare Determination übersteigenden Gemeinschaft verband, so bot die Familie hierfür die ideale Handlungssphäre, insofern sie die Zuschauer in einem gemeinsamen Erfahrungs- und Wertehorizont ansprach und gewissermaßen zu einer einzigen Familie erweiterte. Wie kann dem dergestalt „familiarisierten“ Publikum aber eine soziale oder politische Valenz zuerkannt werden? Ein Blick auf das nur wenige Jahre vor Schillers Arbeit am Don Karlos erschienene Schauspiel Lessings Nathan der Weise von 1779, das dort tiefe Spuren hinterließ, kann hier weiterführen. Das aufklärerische Weltanschauungsdrama hob eine konfliktreiche Familienhandlung in einen weiten geschichtsphilosophischen Horizont. Eine auffällige Parallele zu Schiller ist die ebenfalls in seiner Mitte platzierte rhetorische Auseinandersetzung zwischen einem weltbürgerlichen Intellektuellen und seinem Monarchen. So wie später Posa bezog sich auch Nathan, bevor er zur Erzählung seiner Ringparabel ansetzte, auf die Zuschauer im Saal. Auf Saladins Ermahnung, die Frage nach der wahren Religion „aufrichtig“18 zu beantworten: „Es hört uns keine Seele“, gibt Nathan zurück: „Möcht auch doch / Die ganze Welt uns hören!“ Schon bei Lessing erweiterte sich eine auf der Bühne dargestellte Privataudienz in den Theatersaal, der zum symbolischen Raum einer kosmopolitisch verbundenen Menschheit werden sollte. Nathans Botschaft ist die Quintessenz einer Dramenhandlung, an die Schiller erkennbar anknüpft, ohne aber deren utopischen Schluss zu übernehmen, im Gegenteil: Sein eigener Schluss ist dessen energischer Widerruf.19 Zwei Motive sind bei Lessing wie bei Schiller konstitutiv für die symbolische Erweiterung der Familienhandlung. Das sind zum einen die Sublimierung einer inzestuösen beziehungsweise inzestuös gefärbten Liebe und zum anderen der Vorgang einer – buchstäblich wie übertragen verstandenen – Adoption. Beide Handlungsmotive kommen darin überein, dass der naturhafte Kern menschlicher 18 Lessing, Gotthold Ephraim: „Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen“. In: ders.: Werke 2. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1971, 205–347, S. 275; die folgenden Zitate ebd. 19 Der Bezug zu Nathan wurde von Schiller selbst mehrfach angemerkt, vgl. zum Beispiel den Brief an Göschen vom 29. September 1797, der eine „Prachtausgabe“ ähnlich der für Lessings Drama beabsichtigten ablehnt: „die Reife, welche dem Carlos fehlt, hat der Nathan“; FA, 3, 1045. Bereits eine ausführliche Rezension in der Jenaischen Literaturzeitung von 1788 weist auf die Ähnlichkeit der beiden Mittelszenen zwischen Herrscher und Posa beziehungsweise Saladin hin; vgl. FA, 3, 1120. Überdies sind zahlreiche wörtliche Anklänge feststellbar; vgl. zum Beispiel den oben genannten Kommentar von Kluge; FA, 3, 1194–1195.

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Zugehörigkeit in der Blutsfamilie gesprengt und in eine geistige Sozialität transformiert wird. Bei Lessing werden die über verfeindete Ethnien und Konfessionen zerstreuten und unerkannten Glieder einer Herkunftsfamilie durch die pädagogische Anleitung des weisen Juden und Adoptivvaters Nathan zusammengeführt, bis sie sich zum Schluss in einer utopisch-märchenhaften Anagnorisis als Glieder einer einzigen Menschheitsfamilie offenbaren. Dem glücklichen Ausgang gehen die Abwehr des inzestuösen Begehrens und die Brechung der im traditionellen Vaterbild repräsentierten genealogischen Autorität voraus; die Mächte des Körpers und der Vergangenheit, letztere in Gestalt des angestammten Glaubens, werden in ihrer kruden Partikularität überwunden und zugleich in vergeistigter, universalisierungsfähiger Form bewahrt. Der Gewährsmann dieser durch eine egalitäre (und entsexualisierte) Geschwisterlichkeit charakterisierten Universalfamilie ist der wohlwollende pädagogische Vater.20 Schiller überträgt dieses Modell vom symbolischen Schauplatz Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge in die historische Welt des spanischen Absolutismus und der Glaubenskriege. Er stellt dabei mit seinem Titelhelden die politische Macht der Geburt im Ancien Régime in den Vordergrund und setzt ihr das aufklärerische Motiv einer moralisch, das heißt durch Verdienst statt Geburt legitimierten Herrschaft entgegen. Das verwandte Motiv der Fürstenerziehung wird in Karlos’ Freundschaft zu Posa aufgegriffen, während die dynastische Konstellation zum ödipalen Vaterkonflikt zugespitzt erscheint. Der so in das bürgerliche Wertefeld von Leistung und Familie gerückte Erbe des Königtums droht zwischen beidem zerrieben zu werden; in der Thalia-Fassung sind seine Funktion und Habitus als Thronfolger noch deutlicher ausgeprägt. „[Im] Mutterleib gekrönt“ (FA, 3, 26, 108) hatte Karlos seine Mutter kurz nach der Geburt verloren und seinen Vater kaum anders denn als strengen, gar grausamen Erzieher erlebt. „Geraume Zeit, eh ich sie selbst betrat, / war schon der beste Teil der Welt mein eigen. / Ich nahm die Brust von einer Königin“ (FA, 3, 51, 868–870), versichert er stolz. Aber demselben Regime, dem er diese Stellung verdankt, ist es auch geschuldet, dass sein Vater aus dynastischem Interesse die ihm versprochene Verlobte selbst heiratet und zu seiner (Stief)mutter macht. Karlos’ keineswegs nur formal inzestuöse Leidenschaft (findet er in Elisabeth nicht die entbehrte Mutter, wird sie nicht erst als Mutter für ihn begehrenswert?),21 die er als ein „entsetzliches / Geheimnis“

20 Vgl. hierzu das Kapitel „Der Zufall der Geburt. Lessings Nathan der Weise und die geschichtsphilosophische Familie“ in Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 175–199. 21 Dies wird am deutlichsten suggeriert in der von Posa der Königin vorgehaltenen fiktiven Spiegelgeschichte von Fernando und Mathilde; vgl. FA, 3, 197, 617–199, 681).

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(FA, 3, 783, 266–267) in sein Inneres verschließt,22 steht den politischen Zielen im Wege. Die vom Freund und der Geliebten gemeinsam in Gang gesetzte patriotische Sublimierungsanstrengung – „Elisabeth / war Ihre erste Liebe. Ihre zwote / sei Spanien“, ermahnt ihn früh die Königin (FA, 3, 207, 899–901) – ist nur von begrenztem Erfolg; die Eboli-Episode ist der Ausdruck einer aus dem Ruder laufenden Zirkulation von Begehren und Politik.23 Die große Begegnung von Vater und Sohn im zweiten Akt, die das ödipale Szenario zum Höhepunkt führt, bildet den Kontrapunkt zur späteren Begegnung des Königs mit Posa. Auch hier wird ein „große[r] schöne[r] Augenblick“ (FA, 3, 223, 1346) in Szene gesetzt, dies jedoch nicht von Posa, dem Advokaten der Menschheit, sondern von dem Sohn und Prinzen, der sein politisches Anliegen, die Übernahme des militärischen Kommandos in Flandern, vermischt mit dem Wunsch nach der väterlichen Liebe und Anerkennung.24 Karlos hofft: „Vielleicht gelingt es mir, / von Angesicht zu Angesicht mit ihm / in seiner Gunst mich wieder herzustellen. / Er hat noch nie die Stimme der Natur / gehört“ (FA, 3, 212, 1049–1053). Das Pathos des Sohns sprengt jedes zeremonielle Protokoll, als wolle Karlos das Urteil des königlichen Beichtvaters Domingo bewahrheiten, dass ihm „die kluge Schranke / der Majestät, die glücklichste Erfindung, / von Königen die Menschheit abzuwehren“ (FA, 3, 127, 2947–128, 2949),

22 Auf die Ähnlichkeit der daraus resultierenden pathologischen, zwischen Melancholie und Auflehnung hin- und herschwankenden Anlage der Figur mit Shakespeares Prinz Hamlet ist oft, zuerst von Schiller selbst, hingewiesen worden. Vgl. den Brief an Reinwald vom 14. April 1783: Karlos habe „von Shakespears Hamlet die Seele“ (FA, 3, 1074). 23 Die politische Bedeutung des Inzestmotivs ist leicht hinter seiner psychologischen zu übersehen. Zwei gegensätzliche Beispiele seien stellvertretend genannt: Böckmann, Paul: „Schillers ‚Don Karlos‘. Die politische Idee unter dem Vorzeichen des Inzestmotivs“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 33–47; Hofmann, Michael: „Bürgerliche Aufklärung als Konditionierung der Gefühle in Schillers Don Carlos“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), 95–117. Während Böckmann die erst durch den höfischen Zwang zum Inzest gebrandmarkte und in die Heimlichkeit verbannte Liebe als das zentrale Moment höfischer Naturunterdrückung charakterisiert, das den Protest Posas und die Dramenhandlung speist, arbeitet Hofmann die produktive Potenz einer neuen psychologischen Konstellation für das propagierte Gesellschaftsideal heraus („eine bürgerlich-aufklärerische Sublimierungsstrategie, die aus dem Objekt des sinnlichen Begehrens eine idealisierte Mutter macht und die sublimierte Liebe den Interessen einer aufgeklärten Politik dienstbar macht“, Böckmann: „Schillers ‚Don Karlos‘“, S. 98) und spricht kritisch statt von Befreiung von einer Bindung der „libidinösen Energien des Individuums an abstrakte ideologische Gehalte“ (ebd., S. 103). 24 Nicht zu vergessen als weiteres Motiv, das ödipale Szenario unterstreichend, ist Karlos’ Wunsch, durch räumliche Entfernung vom Gegenstand seiner Leidenschaft diese zu mildern oder zu überwinden; vgl. FA, 3, 226, 1420–1427.

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fremd sei. Der Sohn macht den Thronsaal zum Schauplatz einer intimen Begegnung, die er, ganz ähnlich wie später Posa, einem imaginären Zuschauer ausstellt: Wir sind allein – des Ranges Ketten abgefallen – der Etikette bange Scheidewand ist zwischen Sohn und Vater eingesunken. Jetzt oder nie. Ein Sonnenstrahl der Hoffnung glänzt in mir auf, und eine süße Ahndung fliegt durch mein Herz – der ganze Himmel beugt mit Scharen froher Engel sich herunter, voll Rührung sieht der Dreimalheilige dem großen, schönen Auftritt zu! – Mein Vater! Versöhnung!

(FA, 3, 219, 1218–1228)

Die familiäre Emotion dringt ins Arkanum der monarchischen Herrschaft ein, doch entgegen der Befürchtung der Gegner Domingo und Alba bleibt sie trotz einiger Gefühlsbewegung bei Philipp ohne Handlungserfolg. Nach der Ablehnung seines Ersuchens rückt der Prinz in den Hintergrund der politischen Handlung, die von jetzt an allein Posa gehört, während er sich im Netz der Eboli-Affäre verfängt. Es ist der Marquis, der beim König in den Rang eines symbolischen Adoptivsohns aufsteigt. Er ist der wahre Repräsentant jener Verdienstidee, die Karlos für sich reklamiert hatte, als er den Vater bat, das Privileg seiner hohen Abkunft – ein bloßes „Darlehn“ (FA, 3, 78, 1599), „auf meines Geistes Bürgschaft mir voraus bezahlt“ (FA, 3, 78, 1601) – durch eigene Leistung abgelten zu dürfen. Dieser Übergang vom leiblichen Sohn und dynastischen Nachfolger Karlos zum charismatischen Wunschsohn Posa markiert die entscheidende Zäsur der Handlung. Es handelt sich nicht einfach um einen Bruch in der äußeren Konzeption, sondern um den substanziellen politischen Bruch zwischen dem auf Geburt beruhenden patriarchal-genealogischen Herrschaftsprinzip und einer egalitären Gesellschaftsordnung. Sowohl der Gedanke moralischer Leistung wie die geistige Adoptivbeziehung gefährden die „Majestät“ (FA, 3, 128, 2948) des absoluten Königtums. Die Szenen nach der Entdeckung von Posas Doppelspiel zeigen einen zunehmend seiner Herrscherwürde entkleideten Philipp. Im Schmerz über den Verrat seines vermeintlichen Freunds Posa – „Der König hat geweint!“ (FA, 3, 379, 5269) – beklagt der König die zunichtegemachte Möglichkeit einer anderen Herrschaft, vielleicht sogar Herrschaftsnachfolge. „Wär’ er mir gestorben! / Ich hab’ ihn lieb gehabt, sehr lieb. Er war / mir teuer wie ein Sohn. In diesem Jüngling / ging mir ein neuer, schönrer Morgen auf. / Wer weiß, was ich ihm aufbehalten.“ (FA, 3, 407, 5930–5934) Das verweist auf Posas eigenes Geständnis gegenüber der Königin, von der königlichen Machtnähe versucht gewesen zu sein (FA, 3, 371, 5082–5116), und es ist ein Echo der suggestiven Amalgamierung von Posas

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Republikanismus mit monarchischer Allherrschaft in der zentralen Begegnungsszene. Nicht unzutreffend konstatiert Philipp bald darauf, Posas unwürdige Bevorzugung eines „Knaben“ (FA, 3, 408, 5939) sei allein dessen Jugend und seinem eigenen Alter geschuldet: „Der Freundschaft arme Flamme / füllt eines Posa Herz nicht aus. Das schlug / der ganzen Menschheit. Seine Neigung war / die Welt mit allen kommenden Geschlechtern.“ (FA, 3, 408, 5941–5944) Die um Posas Scheitern und Opfertod zentrierten Szenen im vierten und fünften Akt beschwören eine zerstörte Utopie, die nie eine Realisierungschance besaß. Wenn Karlos dem Vater an der Leiche des ermordeten Posa vorhält: „Die Splitter seines [Posas] Geistes hätten Sie / zum Gott gemacht. Sich selber haben Sie / bestohlen“ (FA, 3, 395, 5654–5655), so erinnert das an Posas früheren Vorwurf, der König verarme sich selbst durch seine gottähnliche Herrschaft. „O der königlichen Dummheit, / die so viel göttliches zerstört!“ (FA, 3, 395, 5656–5657), klagt Karlos jetzt. Noch unmittelbar vor dem Tod des Freundes hatte der Prinz einen Freundesbund zu dritt beschworen, der an den Schluss der Ballade von den ‚Kranichen des Ibikus‘ (1798) erinnert; er wollte mit dem Verräter „Arm in Arme“ (FA, 3, 390, 5541) zum Vater gehen und durch ein offenes Geständnis Verzeihung und Versöhnung gewinnen. „Vater, will ich sagen, / das hat ein Freund für seinen Freund getan. / Es wird ihn rühren. Glaube mir: er ist / nicht ohne Menschlichkeit, mein Vater.“ (FA, 3, 390, 5542–5545) Die Vorstellung eines solchen, durch die väterliche Autorität gesegneten Brüderbunds – auch dies ein, freilich nur eingebildeter, großer Auftritt – wird von der tödlichen Kugel zunichtegemacht. Ihre Erfüllung wäre ein Schluss im Geiste Lessings gewesen: die Vereinigung einer freundschaftlichen Adoptivfamilie, in der horizontale Brüderlichkeit und vertikale Genealogie ausgeglichen wären, als symbolische Antizipation eines versöhnten Menschheitszustands. Es wäre auch ein Schluss gewesen, der die beiden großen Auftritte zwischen Vater und Sohn im zweiten und König und Marquis im dritten Akt in der Versöhnung von genealogischer Legitimität und charismatischer Leistung zusammengeführt hätte.25

25 Sie entspricht auch dem von Gerhard Kaiser herausgearbeiteten, nur in Wilhelm Tell erfolgreich durchgeführten idealen politischen Modell Schillers, nach dem die (geistige) Brüderordnung die väterliche Autorität paradox als „väterlichen Bruder“ integriert. Kaiser, Gerhard: Väter und Brüder. Weltordnung und gesellschaftlich-politische Ordnung in Schillers Werk. Stuttgart u. Leipzig 2007. Zu Karlos S. 12–16 u. 29–31 (mit Bezug auf ‚Die Bürgschaft‘). Zum Scheitern der Utopie S. 27: „Schiller war auf der Höhe der Zeit. Es wäre ein zu ihm nicht passender Anachronismus gewesen, hätte er im Vorfeld der Französischen Revolution programmatisch eine patriarchalische politische Ordnung mit einem guten König als ‚Vater‘ in seinem Werk entwerfen wollen.“

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Anders als in Lessings Humanitätsdrama gelingt es in Schillers Geschichtstragödie keiner aufklärerischen Pädagogik, die Geburtsmacht der dynastischpatriarchalen Herrschaft (bei Lessing war es die dogmatische Glaubenstradition) in eine freiheitliche Gesellschaftsordnung im Bild von Familie und Freundschaft zu überführen. Wenn Karlos zum Schluss, kurz bevor er der Inquisition verfällt, als der Erbe von Posas Freiheitsvermächtnis und als (erst jetzt) erotisch Entsagender erstmals zu großer dramatischer Statur zu finden scheint, so bekräftigt diese – im Übrigen nicht recht glaubhaft vorbereitete – Wandlung den Widerruf dieser Utopie nur umso endgültiger, insofern sein (schon beschlossener) Tod den Untergang jeder personalen Herrschaft überhaupt besiegelt.26 Denn der Sieg am Ende gehört ja dem Repräsentanten einer aus dem Hintergrund wirkenden unsichtbaren Macht, die immer schon alles wusste, alles überwachte und steuerte, Posa und seine Aktivitäten nicht weniger als den König selbst, der sich ihr beugt und seinen Sohn ausliefert. Der Großinquisitor, ein blinder, aller individuellen, geschweige familiären und emotionalen Züge entkleideter neunzigjähriger Greis, fordert von Philipp, der sich reuig (zynisch?) zu seinem „Rückfall in die Sterblichkeit“ (FA, 3, 414, 6102) bekennt, das bedingungslose Opfer seiner Menschlichkeit. Mit der Übergabe des Sohns an die Inquisition wird auch das Band der genealogischen Kontinuität zerrissen. Entgegen der staatstheoretischen Maxime des absolutistischen Königtums – „le roi ne meurt jamais“27 – stirbt der König hier doch. Die Herrschaft des anonymen Apparats tritt an die Stelle der individuellen Verkörperung der Staatsgewalt im Monarchen, an der sich die pädagogischen Reformanstrengungen und Utopien der Aufklärung orientierten, indem sie sie freilich in ihrer politischen Natur gründlich verkannten.28 Absolute Monarchie und die aufklärerische Reformutopie, insofern sie sich in Kontinuität zu ihr begriff, finden zu gemeinsamem Untergang. Noch vor dem Auftritt des Großinquisitors hatte Philipp eigenhändig vor den Augen seiner Granden seine Devestitur vollzogen. Als vor dem Palast ein Aufruhr zugunsten des Infanten tobt, schleudert er seinen Mantel von sich: „Dorthin! / Dort werft euch nieder! Vor dem blühenden, / dem jungen König 26 Anders Cornelia Zumbusch, die Karlos’ Wandlung, die sie als Läuterung sieht, als entscheidenden Schritt zum Tragödienschluss (vor dem Hintergrund einer im Drama ausgetragenen Gattungskonkurrenz) interpretiert: Zumbusch, Cornelia: „Don Carlos’ letzter Akt. Die Überwindung des Rührstücks in der Tragödie“. In: Ästhetik und Kommunikation 128 (2005), 65–71. Ausführlicher in: dies.: Die Immunität der Klassik. Frankfurt/Main 2014, S. 159–179. 27 Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton 1957, S. 16. 28 Den Zerfall der traditionellen personalen Macht des Königs in den Schlussszenen des fünften Akts, der im Entzug seiner Sichtbarkeit gipfelt, untersucht mit Blick auf die aufgegriffene (und dekonstruierte) höfische Tragödie detailliert: Vogel: „Aus dem Takt“.

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werft euch nieder – Ich / bin nichts mehr – ein ohnmächt’ger Greis! [. . .] Bekleidet / ihn mit dem königlichen Schmuck – Auf meiner / zertretnen Leiche tragt ihn –“ (FA, 3, 398, 5714–5718). Das Bewusstsein der nackten Kreatürlichkeit siegt über die königliche Würde. Philipp fällt in Ohnmacht und wird rasch hinter die Bühne gebracht, um wenig später als gespenstischer Nachtwandler wieder zu erscheinen – ein „erschrecken[der]“ (FA, 3, vor 5870) Anblick, wie zur Illustration der von Ernst Kantorowicz beschriebenen Lehre von den zwei Körpern des Königs, dem sterblichen des Amtsträgers und dem unsterblichen des Amts, dessen sakrale Aura nun zerstört ist.29 Wenn Philipp schließlich mit trügerisch wiederkehrender „Jünglingskraft“ (FA, 3, 5959) zu einem rasenden Vernichtungsschwur ausholt: „Die Welt / ist noch auf einen Abend mein. Ich will / ihn nützen diesen Abend, daß nach mir / kein Pflanzer mehr in zehen Menschenaltern / auf dieser Brandstatt ernten soll“ (FA, 3, 408, 5964–5968), so wird nicht er, sondern der gespenstische Übervater diesen Fluch erfüllen, dem er das Leben seines einzigen Sohns hingibt. „Der Verwesung lieber, als / der Freiheit“ (FA, 3, 417, 6176–6177), lautet die Antwort des Großinquisitors auf Philipps Frage, wem er denn zu Lebzeiten „gesammelt“ (FA, 3, 417, 6175) habe. Die Herrschaft gehört nicht mehr dem Monarchen und seinem Sohn, sie trägt überhaupt kein Gesicht, sie löst sich aus jeder Form personaler Interaktion. Übrig bleibt neben der abstrakten Lenkungsmaschine der Inquisition nur eine geisterhafte Erinnerung an monarchische Herrschaft: Karlos hat, um von der Königin heimlich Abschied zu nehmen, zur Tarnung das Gewand seines Großvaters Karls V. angelegt. Sein ohnmächtiger, von Philipp und dem Großinquisitor unterbundener Ausbruchsversuch steht im Zeichen eines historischen Gespenstes, des Gründers des Weltreichs, zu dessen Erben er bestimmt war und dessen Namenspatenschaft mehrere Male im Verlauf des Dramas angerufen wurde. Don Karlos endet mit einer buchstäblichen Entleerung der Bühne. Dieser pessimistische Schluss scheint zwischen der Annullierung absolutistischer Souveränität und dem Tod der Freiheitsakteure keinen Raum mehr zu lassen für eine positiv dargestellte Gesellschaftsutopie. Gesellschaft als politische Größe ist weder mit den Mitteln der traditionellen Staats- noch denen der neuen Familiendramaturgie darstellbar, wie es Lessings symbolischer Menschheitsfamilie im Nathan noch möglich war. Dass sie sich gleichwohl im Zusammenspiel zwischen Bühnenhandlung und intendierter Publikumswirkung herstellt, genauer: dass Erstere dem Publikum die Möglichkeit einräumt, den leeren Platz des Souveräns im Bewusstsein der eigenen sozialen Verbundenheit zu besetzen, ist Gegenstand

29 Kantorowicz: The King’s Two Bodies, S. 16.

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des folgenden Abschnitts. Zentral für diesen Vorgang ist die Umkodierung politischer Macht im Zeichen der Kunst.

4 Der gewaltlose Ursprung der Gesellschaft: ästhetische Genealogie und Freimaurertum Die früher zitierte Passage zu Fiesko (Erinnerung an das Publikum) machte den Verzicht des Helden auf die erstrebte Krone zum triumphalen „glücklichen Augenblick“ (FA, 2, 558), der das Schauspielhaus im gemeinsamen Opferwillen für das große Ganze – „zum Besten des Vaterlands“ (ebd.) – vereinigte und so die politische Macht von der Bühne in den Saal verlegte. Auch Don Karlos überantwortet, im Scheitern der Intrigenhandlung und dem Opfertod Posas, dem Publikum eine politische Zukunftsmacht. Doch handelt es sich hier nicht um einen mehr oder weniger zufälligen Theatercoup, den der Autor des Fiesko als dramaturgischen Gewaltstreich für sich reklamiert. Vielmehr wird die politische Utopie aus dem Kontext ihrer Bewerkstelligung herausgelöst, um sich in Bildern und Augenblicken ästhetischer Autonomie zu kristallisieren, die gleichwohl – das gilt es zu zeigen – einen Wirkungsappell an das Publikum richten. Für dieses Verfahren einer (wenn man es paradox so benennen kann) politischen Autonomisierung, das auf die Weimarer Dramen vorausweist, bietet Schillers Selbstdeutung in den Briefen über Don Karlos wichtige Aufschlüsse. Der Autor diskutiert dort Posas Stellung zu seinem Freund Karlos, der für ihn sowohl Bild des politischen Menschheitsideals wie Instrument seiner Verwirklichung ist.30 Im Stück bekennt Posa, als er der Königin sein gescheitertes Doppelspiel offenbart: „Ich liebte einen Fürstensohn − Mein Herz / nur einem einzigen geweiht, umschloß / die ganze Welt! In meines Karlos Seele / schuf ich ein Paradies für Millionen.“ (FA, 3, 369, 5036–5039) Die Briefe paraphrasieren dies: „[H]errlich und verklärt steht dieses Bild vor seiner Seele, wie die Gestalt einer Geliebten“ (FA, 3, 442), und fahren fort:

30 Der Stellenwert der Briefe hinsichtlich der Deutung des Dramas ist in der Forschung umstritten. Einige wollen in ihnen vor allem eine Weiterdichtung der Posa-Figur sehen (vgl. Borchmeyer: „‚Marquis Posa ist große Mode‘“, S. 129); andere ihre werkgetreue Beschreibung (vgl. Malsch: „Moral und Politik“). Im Folgenden nehme ich sie versuchsweise als integralen Bestandteil des Dramas, vergleichbar der (fiktionalisierten) Abhandlung, die Diderot seinem Fils naturel beigefügt hat.

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Da es Karlos ist, der dieses Ideal von Menschenglück wirklich machen soll, so trägt er es auf ihn über, so faßt er zuletzt beides in Einem Gefühl unzertrennlich zusammen. In Karlos allein schaut er seine feurig geliebte Menschheit itzt an; sein Freund ist der Brennpunkt, in welchem alle seine Vorstellungen von jenem zusammengesetzten Ganzen sich sammeln. Es wirkt also doch nur in Einem Gegenstand auf ihn [. . .]. (Ebd.)

Der Freund ist ebenso personale Projektion der Utopie wie – als Thronfolger – Mittel zu ihrer Realisierung. In dem entsprechenden Dramenauftritt (FA, 3, 367–375) geht nun die symbolische Funktion („wie die Gestalt einer Geliebten“) an die Königin über, der der Marquis seine testamentarischen und strategischen Anweisungen an den Prinzen übergibt. Es ist eine Reprise des Beginns, als sie aus seiner Hand die flandrischen Beschwerdebriefe zur Weitergabe an Karlos erhalten hatte, doch wird jetzt die frühere Rolle als erotische ‚Vermittlerin‘ der politischen Mission transzendiert durch die andere ihrer ‚Verkörperung‘: Der Freund hört auf in der Geliebten. Hier, hier – hier – auf diesem heiligen Altare, im Herzen seiner Königin leg’ ich [Posa] mein letztes kostbares Vermächtnis nieder, hier find’ er’s, wenn ich nicht mehr bin −

(FA, 3, 369, 5044–5048)

In der durch das dreifach wiederholte deiktische „hier“ hervorgehobenen auratischen Präsenz der Königin ist ihre strategische Rolle, den Prinzen zu instruieren und zu motivieren, aufgehoben. Der zu Beginn von Posa in Gang gesetzte erotische Umweg der Handlung wird im Bild der Königin als schöner Frau und Bühnenerscheinung eingefangen und stillgestellt, aus dem sich der todgeweihte politische Akteur Posa zurückzieht. Es ereignet sich hier nicht weniger als die Stiftung einer ästhetischen Genealogie, die an die Stelle der dynastischen tritt. Sie ersetzt die theatrale Ausstellung einer Staatsperson durch ein Symbol, in dem sich das utopische Ziel der Handlung verdichtet.31 Die ideale Weiblichkeit war bereits Gegenstand eines früheren Gesprächs Posas mit dem Prinzen gewesen, in dem er ihn vor der Rache der gedemütigten Eboli warnte. Die forcierte Tugend der Prinzessin, hieß es dort, reiche nicht „empor zu jenem Ideale, / das aus der Seele mütterlichem Boden, / in stolzer, schöner Grazie empfangen, / freiwillig sproßt und ohne Gärtners Hülfe / verschwenderische Blüten treibt!“ (FA, 3, 277, 2793–2797) Die den Anlass auffällig

31 Eine Parallele besteht zu Lessings Ringparabel, in der ebenfalls die (Herrschafts-)Genealogie durch ein Symbol, den Ring, abgelöst wird, der mit Recha verbunden wird; vgl. Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 213.

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übersteigende Wortwahl, die die spätere Abhandlung über Anmut und Würde vorweg nimmt, bereitet den zunächst unverständlichen Ausruf Posas vor: „Ein wilder, kühner, glücklicher Gedanke / steigt auf in meiner Phantasie – Du sollst / ihn hören, Karl, aus einem schönern Munde.“ (FA, 3, 282, 2924–2926) Es handelt sich um den Gedanken, den Infanten nach dem gescheiterten Gesuch an den Vater jetzt heimlich als Anführer der Rebellion nach Flandern zu senden. Das Komplott entspringt der Vorstellung weiblicher Grazie. In seiner späteren Abschiedsrede an die Königin stellt Posa noch einmal die schöne Frau als Ikone der politischen Utopie vor Augen, indem er sich wiederum mit einem deiktischen Verweis implizit an den Zuschauer wendet: Zur höchsten Schönheit wollt’ ich ihn erheben: die Sterblichkeit versagte mir ein Bild, die Sprache Worte – da verwies ich ihn auf di eses – meine ganze Leitung war, ihm seine Liebe zu erklären.

(FA, 3, 372, 5138–5142)

Sieht man von dem psychologischen Kontext ab, wie er sich im Einspruch der Königin artikuliert – „Ihr Freund erfüllte Sie so ganz, daß Sie / mich über ihm vergaßen. Glaubten Sie / im Ernst mich aller Weiblichkeit entbunden, / da Sie zu seinem Engel mich gemacht [. . .]?“ (FA, 3, 372, 5143–5147), ein Einspruch gegen weibliche Idealisierung, an der sich die klassische Dramatik Schillers vielfältig abarbeiten wird –, so bleibt die dramaturgisch bedeutsame Tatsache, dass das im Bild schöner Weiblichkeit verankerte republikanische Ideal aus dem Kreislauf politischer Instrumentalität und zugleich aus der Dramenhandlung herausgehoben und zur reinen Erscheinung, einem aus sich selbst erwachsenden Absolutum wird, „aus der Seele mütterlichem Boden, / in stolzer, schöner Grazie empfangen, / freiwillig“ (FA, 3, 277, 2794–2796) sprossend „ohne Gärtners Hülfe“ (FA, 3, 277, 2796).32 Für diese ikonische Rolle der Königin ist ein nochmaliger Blick auf Rousseaus Theaterbrief erhellend. Am Beispiel von Racines Tragödie Bérénice illustriert Rousseau seine These, dass die Bühne die politische Gemeinschaft, so wie er sie verstand, zersetzt. Der Verzicht des römischen Kaisers Titus auf seine palästinensische Geliebte zugunsten des höheren Staatsinteresses werde konterkariert durch die Parteinahme der Zuschauer für die verstoßene Geliebte. Die patriotische Tugend auf der Bühne trifft im Saal vor ihr auf ein weichliches Privatinteresse; zum 32 Die schöne Frau „ist da, sie erscheinet“ (FA, 1, 554); „Wo sie sich zeige, sie herrscht, herrschet bloß weil sie sich zeigt“ (FA, 1, 113, 8), heißt es in zwei späteren Gedichten Schillers ‚Tugend des Weibes‘ und ‚Macht des Weibes‘. Zum Motivkomplex und seiner dramaturgischen wie politischen Funktion vgl. Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 221–229.

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Schluss hätten alle Zuschauer Bérénice geheiratet.33 In einer ingeniösen Auslegung dieser Passage hat Alexander Pleschka gezeigt, wie Rousseau hier die „politischsubversive Dimension des Theaters unter bürgerlichen Bedingungen freigelegt“34 habe. Die „Kollektivehe des Publikums mit der Schauspielerin“ könne als „Akt bürgerlicher Selbstermächtigung“ gesehen werden: Weil in der Imagination jeder individuelle Zuschauer an die Stelle des Souveräns tritt, faktisch jedoch jedem diese Position verwehrt bleibt, tritt allein die durch das Publikum gegebene Öffentlichkeit an dessen Stelle [. . .]. Die Souveränität wird mithin im Bérénice heiratenden Publikum verortet [. . .].

Statt hierin ein Bild politischer Volkssouveränität zu sehen, sei Rousseau aber vor der Willkür dieser Politisierung des Publikums (jeder kann sich als Bräutigam Bérénices und somit als Souverän einbilden) zurückgeschreckt. Tatsächlich bilden die – als Männer vorgestellten – Zuschauer ja kaum mehr als eine Versammlung einzelner (triebgesteuerter, egoistischer) Freier, ohne sich zu einer politischen Gemeinschaft zu verbinden. Für Rousseau erliegen sie einer Bühne, die den Charakter verführerischer Weiblichkeit annimmt. Weibliche Verführung gilt auch in Don Karlos als Gefährdung des in integrer Männerfreundschaft angesiedelten (‚homosozialen‘) Republikanismus (vgl. FA, 3, 214, 1109–1120). Anders verhält es sich jedoch mit der schönen Frau als (enterotisierter, entsexualisierter, vergeistigter) Ikone. Sie entzieht das innere Telos der Handlung, „das kühne Traumbild eines neuen Staates, / der Freundschaft göttliche Geburt“ (FA, 3, 370, 5060–5061), den taktischen und strategischen Umwegen seiner Verwirklichung. Abgetrennt von ihnen bietet sich das republikanische Ideal den Zuschauern im schönen Bild als Phantasma eines gewaltlosen Ursprungs. Hier ist der Ort, an unseren Ausgangspunkt zu erinnern: Auch die Audienz zwischen Posa und Philipp war ja als eine in sich geschlossene Szene weitgehend aus dem pragmatischen Nexus der Handlung herausgelöst. Tatsächlich hatte Posa seinen Auftritt vor dem König als künstlerische Schöpfung begriffen. In seinem vorbereitenden Monolog stellte er sich die überraschende Vorladung als „rohe[n] Stein“ (FA, 3, 305, 3487) vor, „der Leben annimmt unter Bildners Hand“ (FA, 3, 305, 3488). Den höfischen Rat Albas, den Zufall zu seinem Vorteil zu nutzen, wendete der Marquis in den Vorsatz, nach dem Vorbild des Pygmalion ein Kunstwerk im Geist der schönen menschlichen (weiblichen) Gestalt zu schaffen. Das ästhetische Motiv setzte sich zu Beginn der Begegnung in einer szenischen Anweisung fort, die Posa in die Betrachtung eines Kunstwerks

33 Rousseau: „Brief an d’Alembert“, S. 387. 34 Pleschka: Theatralität und Öffentlichkeit, S. 78; die folgenden Zitate ebd.

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versenkt zeigt. Nach „einige[n] Gänge[n] durch das Zimmer“, so heißt es, bleibt der Geladene „endlich in ruhiger Betrachtung vor einem Gemälde stehen“, in welcher Stellung ihm der unterdessen eingetretene König still „eine Zeit lang zu [sieht], ohne von ihm bemerkt zu werden“ (FA, 3, 305, nach 3498). Es ist eine klassische Szene der „Absorption“35 im Sinne des Diderot’schen Tableaus und der vierten Wand, die den Marquis als in sich ruhenden, vom höfischen Raum (und seinen zerstreuenden Spiegeln) sich abschließenden Menschen charakterisiert. Zugleich ruht auf ihm das beobachtende, ausforschende Auge des Herrschers, der Posa in diesem Augenblick als den gewünschten ‚reinen Menschen‘ (vgl. FA, 3, 297, 3314) erkennen mag. Philipps Blick spiegelt seinerseits wiederum den Blick des Zuschauers auf die Bühne, der so in das Tableau des versunkenen Gemäldebetrachters und seines Beobachters eingeschlossen wird und es vollendet. Zuschauer und Bühne schließen sich in einem reinen Raum, einem Raum sich selbst darstellender Kunst zusammen. Die oft bemerkte – und kritisch bewertete – Rolle Posas als Künstler erschöpft sich also nicht in seiner Regieführung der Intrigenhandlung und ihrer Selbstüberhebung.36 In struktureller, nicht auf die Figurenpsychologie beschränkter Sicht repräsentiert Posa einen auf das Werk, das „herrlichste[] aller Kunstwerke, [die] Monarchie der Vernunft“ (FA, 8, 500), wie es in den Briefen an den Augustusburger heißt, gerichteten Gestaltungswillen. Als Stellvertreter des Dichters im Werk kommt ihm eine autoreferenzielle, dessen Autonomie unterstreichende Funktion zu. Dass dieses, auf die klassische Weimarer Ästhetik vorausdeutende Moment sich dennoch zugleich mit einem idealen, das heißt Taktik und Strategie überschreitenden Praxisbezug verbindet, soll jetzt in einem letzten Punkt angedeutet werden. Es geht um Posas (symbolisches) Freimaurertum, wie es die Briefe über Don Karlos andeuten und das als paradoxe Verbindung von Autonomie und Wirkungsdramaturgie verstanden werden kann. Zunächst: Wenn Schiller dort eine explizite Beziehung seiner Figur zu den zeitgenössischen Geheimorden herstellt, so konnte er bei Posas Gesinnungen und verdeckten Aktivitäten37 auch ohne konkrete, naturgemäß anachronistische

35 Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot. Chicago 1980. 36 Zumbusch: „Don Carlos’ letzter Akt“, S. 66–67; Guthke, Karl S.: „Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa: Despot der Idee oder Idealist von Welt?“ In: ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen u. Basel 1994, 133–164. 37 Erst zum Schluss wird das von Posa geschmiedete geheime Mächtebündnis gegen Spanien aufgedeckt. Das stellt Posa rückblickend vor einen über seine Bühnenpräsenz suggestiv hinausgehenden Aktionsraum, der dem Strategen Alba das Kompliment entlockt: „teuflisch, aber wahrlich − göttlich“; FA, 3, 404, 5850.

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Anhaltspunkte im Text auf eine diesbezügliche Hellhörigkeit seines Publikums rechnen. Besonders die Illuminaten standen zur Entstehungszeit des Dramas im Zentrum erregter politischer Debatten und Aktionen um tatsächliche oder angebliche verschwörerische Umtriebe, die die legitime Herrschaft zu unterwandern und umzustürzen suchten.38 Die Briefe charakterisieren den Malteser als geistigen Verwandten dieser Orden, der das, was diese „durch eine geheime Verbindung mehrerer durch die Welt zerstreuter tätiger Glieder zu bewirken suchen“ (FA, 3, 461), „vollständiger und kürzer, durch ein einziges Subjekt ausführen“ (ebd.) wolle. Dabei begebe er sich in dieselbe Gefahr, „bei den reinsten Zwecken und den edelsten Trieben“ (FA, 3, 465; die folgenden Zitate ebd.) in „willkürlichen Despotismus“ zu verfallen, indem er sich einem absoluten Ideal unterstellt und gegen die Vielfalt der empirischen Wirklichkeit abdichtet. Die Institution der global operierenden „Ordensverbrüderung“ und das ihrem Geist verpflichtete Individuum gehorchen demselben „Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich ihren Weg abzukürzen, ihr Geschäft zu vereinfachen, und Individualitäten, die sie zerstreuen und verwirren, in Allgemeinheiten zu verwandeln“. Das entspricht dem Profil Posas in der Handlung: Der abgekürzte Weg ist der über den König (und in geringerem Maß über seinen Sohn), das Ziel die unmittelbare utopische Neuschöpfung von oben. Hier kommt nun ein weiteres, in den freimaurerischen Kontext weisendes Motiv ins Spiel, das des Geheimnisses. In seiner Selbstdeutung will Schiller den eigentlichen Verrat Posas an seinem Freund Karlos nicht in der Verheimlichung seiner Beziehung zum König sehen, sondern in der Teilung des ihnen gemeinsamen „Geheimnisse[s]“ mit Philipp; erst das daraus resultierende Schuldbewusstsein führe dann zum Verschweigen der Beziehung. Posa habe, indem er „den König zum Vertrauten seiner Lieblingsgefühle gemacht, und einen Versuch auf dessen Herz getan“ (FA, 3, 450) hatte, das im Innersten des freundschaftlichen Austauschs angesiedelte politische Ideal, „der Freundschaft göttliche Geburt“ (FA, 3, 370, 5061), an die Macht verraten. In der Tat hat Posa ja nicht etwa die politische Verschwörung preisgegeben. „Meine Wünsche / verwesen hier“ (FA, 3, 311, 3666–3667), hatte er Philipp versichert und dabei die Hand auf das Herz gelegt. Aber indem er dem König seine Gesinnung offenbarte, so

38 Hierzu grundlegend: Schings, Hans-Jürgen: „Freiheit in der Geschichte. Egmont und Marquis Posa im Vergleich“. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), 61–76, und vor allem die ausführliche Monografie zu Schillers und Posas politischem Denken im zeitgeschichtlichen Kontext: ders.: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996. Die klassische Analyse zum Freimaurerorden, die als verdeckte Unterhöhlung des politischen Staats durch die gesellschaftliche Moral gedeutet wird, ist: Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/Main 1973.

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muss man wohl Schillers Deutung verstehen,39 „profanierte“ (FA, 3, 450) er das Tiefste, das ihn mit dem Freund verband: ein Geheimnis, das einen inkommensurablen Wert besitzt und über jede politische Verschwörung und Strategie hinaus reicht. Hierzu ist wieder ein Blick auf Lessing erhellend. In seinen Freimäurergesprächen von 1778, die in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Nathan stehen, hatte Lessing unterschieden zwischen dem eigentlichen Geheimnis des Ordens und den zu Unrecht mit ihm verwechselten „Heimlichkeiten“.40 Während Letztere etwas äußerlich Definiertes seien, das verraten werden könne, handele es sich bei dem „wahren“41 Geheimnis der Freimaurer um nichts, was sich begrifflich fassen ließe, sondern nur im gemeinsamen Gespräch vollzogen werde. Das wahre Wesen des Freimaurertums besteht nach Lessing nicht in den mystifizierten Äußerlichkeiten und Zeremonien seiner Institution, sondern im „gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“.42 Freimaurertum ist nicht begrifflich aussagbar und damit auch nicht verratbar; es ist performativ, es erfüllt sich hier und jetzt im dialogischen Vollzug, und allein hierdurch wirkt es zugleich über sich hinaus. Vor diesem ideal-freimaurerischen Hintergrund (den Schiller nicht anspricht, die Kenntnis von Lessings Schrift ist aber vorauszusetzen) bestünde Posas Verrat also darin, dass er den König zum „Vertrauten“ (FA, 3, 450) seiner politischen „Lieblingsgefühle“ (ebd.) machte, ohne ihn doch in das Mysterium eines Gesprächs zu ziehen, dessen auf Gleichheit beruhender – und Gleichheit herstellender – Gemeinschaftlichkeit der Monarch nicht entspricht und nicht entsprechen kann, wie es ja Posas bis zum Schluss aufrechterhaltene Täuschung selbst deutlich bewies, von seiner Versuchung durch die (monarchische) Macht zu schweigen.43 Anders jedoch steht es mit den Zuschauern, die in der Begegnung des dritten Aktes zum teilnehmenden Zeugen eines bedeutsamen Augenblicks gemacht

39 Entscheidend ist das Faktum der Vertrauensbildung. „Der König glaubte dem Gefäß, dem er / sein heiliges Geheimnis übergeben, / und Glauben fodert [sic] Dankbarkeit“ (FA, 3, 338, 4354–4356), so will er in einem späteren Monolog sein Verhalten vor sich selbst rechtfertigen; vgl. auch die rätselhafte Äußerung Philipps, dass Posa ihn ausgesucht habe, um ihn „in [seiner] Seele Hintergrund [. . .] lesen“ (FA, 3, 419, 3922) zu lassen, also sich ihm rückhaltlos zu öffnen: „Ich glaub’ es Ihnen, weil ich’s weiß“ (FA, 3, 319, 3923), eine Formel, die unbedingtes, evidentes Vertrauen ausdrückt. 40 Lessing, Gotthold Ephraim: „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“. In: ders.: Werke 8. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1979, 451–488, S. 476. 41 Ebd., S. 451. 42 Ebd., S. 481. 43 Dasselbe Ungleichgewicht trifft letzten Endes ebenfalls auf die Beziehung Posas zu seinem Freund Karlos zu, was Posas Schuldgefühl (nach Schiller) verstärken mag; vgl. FA, 3, 450.

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werden, der sie in das „kühne Traumbild eines neuen Staates, / der Freundschaft göttliche Geburt“ (FA, 3, 5060–5061) einweiht. Das Eingangstableau der versunkenen Kunstbetrachtung spiegelt ihnen ihre in diesem Traumbild gewonnene ideale Einheit zurück, so wie es dann die späteren Weiblichkeitsbilder tun, während die mit den Freimaurern assoziierte Freiheitsrhetorik ihnen ihre aktuelle Zeitgenossenschaft ins Bewusstsein ruft. Das Jahrhundert sei „[s]einem Ideal nicht reif. Ich lebe / ein Bürger derer, welche kommen werden“ (FA, 3, 311, 3671–3672), hatte Posa den König beruhigt. Dieses künftige Jahrhundert ist das gegenwärtige der Zuschauer, die aus der fiktiven Vergangenheit des sechzehnten Jahrhunderts als Bürger der Zukunft, die ihre Gegenwart ist, angerufen werden. So wie das freimaurerische Geheimnis die performative Selbsterfüllung des utopischen Ziels ist, so sollen im Drama ästhetische Abgeschlossenheit des ‚Gemäldes‘ und politische Aktivierung zusammenfallen. Eben diese Verbindung nun dramatisieren die Briefe an einer signifikanten Stelle, indem sie die diskursive Erörterung von Posas kosmopolitischem Idealismus unterbrechen. Der Autor wendet sich in einer unvermittelten Anrede – gewissermaßen einem theatralen Moment im Text – an einen nicht näher benannten Freund, um ihn an den gemeinsamen Umgang zu erinnern, dem sich der Ursprung des Dramas verdankte. In ihren Gesprächen „über einen Lieblingsgegenstand unsers Jahrzehends“ (FA, 3, 454) – über „Verbreitung reinerer sanfterer Humanität, über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staats höchster Blüte“ (ebd.) – habe sich die Idee geformt, die so erträumte „heitre menschliche Philosophie“ (FA, 3, 455) in einen vorbildlichen Thronfolger zu projizieren. Die Figur sollte völlig unabhängig von den zufälligen Zeitumständen sein. Daher lehnten die Freunde den populären Gedanken der Fürstenerziehung ab, wie sie auch die pragmatische Realisierung des Ideals ausblendeten. Es ging ihnen um ein jeder instrumentellen Praxis enthobenes Ideal: Die Rede war also davon, einen Fürsten aufzustellen, der das höchste mögliche Ideal bürgerlicher Glückseligkeit für sein Zeitalter wirklich machen sollte – nicht diesen Fürsten erst zu diesem Zwecke zu erziehen; denn dieses mußte längst vorher gegangen sein, und konnte auch nicht wohl zum Gegenstand eines solchen Kunstwerks gemacht werden; noch weniger ihn zu diesem Werke wirklich Hand anlegen zu lassen [. . .] – Die Rede war davon, diesen Fürsten nur zu zeigen [. . .]. (FA, 3, 456; die folgenden Zitate ebd.)

Die Figur eines idealen Fürsten so, wie er aus dem „enthusiastischen Entwurfe“ des Gesprächs hervorgeht, als Kunstwerk aufzustellen und ihn „nur zu zeigen“: Dies findet im Drama Don Karlos seine Realisierung, indem die Bühne zum Ort einer ästhetischen Offenbarung nach dem Modell des autonomen Kunstwerks wird. „Nicht der Masse qualvoll abgerungen, / Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, / Steht das Bild vor dem entzückten Blick“ – mit diesen

Der große Menschheitsaugenblick

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späteren Versen Schillers (‚Das Ideal und das Leben‘, 1795; FA, 1, 154, 84–86), die die klassische Skulptur evozieren, könnte man auch dieses Ideal charakterisieren. Das Drama realisiert es aber nicht in einer einzelnen Figur – sowohl Karlos wie Posa sind ja fern davon, es zu erfüllen –, sondern im Ganzen einer Handlung, die sich im symbolischen Tableau ausstellt und im Zuschauer vollenden soll. Der in die fiktionale Zeit des historischen Dramas eingerückte „Lieblingsgegenstand unsers Jahrzehends“ (FA, 3, 454) verbindet auf paradoxe Weise ästhetische Autonomie mit politischer Aktualität. Man könnte mit Carl Schmitt von einem „Einbruch der [aktuellen] Zeit in das [zeitlose, ästhetisch-fiktive] Spiel“44 sprechen, der nach ihm allein vermögend ist, einem Drama tragischen Ernst zu verleihen. Diese wahre Tragödie, die durch ein brennendes, „[u]nverspielbar [es]“ (ebd.) Aktualitätsmoment gekennzeichnet sei, hält Schmitt freilich gerade der in seiner Sicht ins Unverbindliche ästhetisierten Geschichtstragödie Schiller’scher Provenienz entgegen. Doch der politische Freimaurer- und Illuminatenbezug des Don Karlos durchschlägt die ästhetische Selbstgenügsamkeit, indem er gerade – und paradox – das autonom aufgestellte Ideal zum Appell an das Publikum macht. Dass dieses Publikum den späteren Geschichtsverlauf kennt, der den Niederländern die Freiheit schenkte, wendet den pessimistischen Schluss der Handlung erst recht in eine auf die gegenwärtige Zukunft bezogene Ermutigung. Werfen wir abschließend von hier aus einen Blick auf Schillers klassische Dramatik. Bis zum Ende seines Schaffens betonte er die Einheit von Drama und Bühne, schriftlichem Werk und physischer Aufführung, die er aber nicht mehr vom dominanten kollektiven Einfühlungsakt aus bestimmte. „[D]as tragische Dichterwerk wird erst durch die theatralische Vorstellung zu einem Ganzen“ (FA, 5, 281), heißt es zu Beginn der Abhandlung über den Chor zur Braut von Messina (1803), die dann diese Ganzheit unter den Prämissen der klassischen Ästhetik als komplexes Paradox von Werkautonomie und Publikumswirkung entfaltet.45 Vorrang hat die Objektivität des Werks, dessen ästhetischer Autonomie sich die Zuschauer anmessen sollen; der Chor vermittelt zwischen beidem, indem er als Zuschauer und zugleich Handelnder das Publikum im „Kunstkörper“ (FA, 5, 287)

44 Schmitt, Carl: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Düsseldorf u. Köln 1956, S. 42. Schmitts normatives Gegenbeispiel ist Shakespeares Hamlet. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich Schmitt in anderem Zusammenhang positiv zum politischen Gehalt von Schillers Karlos, den ja viele Züge mit Hamlet verbinden, äußert: ders.: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber. Stuttgart 2008. 45 Zum Verhältnis von Werkautonomie und Wirkung in Schillers Spätdramatik, das er als „parergonal“ im Sinne Derridas bestimmt, vgl. Pleschka: Theatralität und Öffentlichkeit, S. 161–168.

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des Werks vertritt und dem Publikum im Saal „als eine einzige ideale Person“ (FA, 5, 290) dessen Einheit mitteilt – eine Einheit, die den Zuschauern Freiheit lässt und sie nicht, wie es in der Publikumserinnerung zu Fiesko hieß, unter dem „allmächtigen Schlag einer magischen Rute, nach der Fantasie eines Dichters beben“ (FA, 2, 558) lässt. Das „Gemüt des Zuschauers und Zuhörers“ (FA, 8, 641; die folgenden Zitate ebd.), so hieß es in den Ästhetischen Briefen (1795) noch gattungs-unspezifisch mit Bezug auf das „wahrhaft schön[e] Kunstwerk“, „muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen, wie aus den Händen des Schöpfers gehn“. Die politische Dramaturgie des Don Karlos hatte diese ideale Wirkung im Bild des idealen Staats, des „vollkommensten aller Kunstwerke“ (FA, 8, 558), des „Bau[s] einer wahren politischen Freiheit“ (ebd.), den Zuschauern überantwortet, deren Gemeinschaft die leere Stelle des alten Souveräns einnimmt. Wie prekär freilich diese Konzeption ist, zeigt ein späteres Bekenntnis. In seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt stellt Schiller die unvermeidliche Abhängigkeit des dramatischen Dichters vom „Zeitstrom“ (FA, 12, 735; die folgenden Zitate ebd.) fest, die ihn „selbst wider Willen mit der großen Masse in eine vielseitige Berührung“ bringe, „bei der man nicht immer rein bleibt“. Als „Herrscher [. . .] über die Gemüther“, als der er sich also nach wie vor sieht, sei er stets in Gefahr, „auch wieder der Diener seine[s] Diener[s]“ zu werden. Der Dramatiker unter dem Autonomiepostulat bleibt, will er wirken, der Infektion durch den aktuellen Zeitstrom und die Masse ausgesetzt.

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Rituale in Schillers Don Karlos und Wilhelm Tell Anders als in der Alltagssprache versteht man in den historischen Kulturwissenschaften ein „Ritual im engeren Sinne“ als „eine menschliche Handlungsabfolge [. . .], die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt.“1 Ein Ritual wäre demnach zum Beispiel die Taufe eines Neugeborenen. Davon sind bloße „Ritualisierungen“,2 wie wir sie im Alltagsleben finden, abzusetzen. Von ihnen kann „dann gesprochen“ werden, „wenn sich ein bestimmtes Verhalten in seiner äußeren Form regelmäßig wiederholt.“ Die morgendliche Tasse Kaffee wäre in diesem Sinn als Moment der Ritualisierung des Alltagslebens zu verstehen. Ich folge hier den Differenzierungen, die Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Standardwerk Rituale (2013) vornimmt. Im Gegensatz zum Zeremoniell gibt es, insbesondere bei sogenannten „Übergangsriten“3 – nach Arnold van Gennep –, eine sozial wahrnehmbare Veränderung bei mindestens einer der am Ritual beteiligten Person. Bleiben wir beim oben genannten Beispiel, vollzieht das Taufritual die Aufnahme des Neugeborenen in die christliche Gemeinschaft. Wiederholt wird bei Übergangsriten ein Ablauf, der unterschiedliche Personen in gleicher Weise betreffen kann, während für die Person, die im Zentrum des jeweiligen Rituals steht, dieses aufgrund der Statusveränderung, die es bewirkt, den Rang einer einzigartigen Handlung gewinnt. Dieser Umstand erscheint mir für den Einsatz von Ritualen im (geschlossenen) Drama von besonderer Relevanz zu sein, denn er eignet sich dadurch zur Markierung dramaturgischer Schlüsselszenen: Das Versöhnungsritual zwischen Karl VII. und Philipp dem Guten gestaltet etwa die Peripetie im dritten Akt der

1 Stollberg-Rilinger, Barbara: Rituale. Frankfurt/Main 2013, S. 9. Vgl. u. a. Belliger, Andréa u. David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen u. a. 1998; Althoff, Gerd Jutta Götzmann u. a. (Hg.): Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Katalog zur Ausstellung vom 21. September 2008 bis zum 5. Januar 2009 im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Darmstadt 2008; Dücker, Burckhard: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart u. a. 2007. 2 Stollberg-Rilinger: Rituale, S. 9; die folgenden Zitate ebd. 3 Gennep, Arnold van: Les rites de passage. Paris 1999 und ders.: Übergangsriten. Übers. v. Klaus Schomburg. Nachwort v. Sylvia Schomburg-Scherff. Frankfurt/Main u. a. 1986. https://doi.org/10.1515/9783110667066-003

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Jungfrau von Orleans (vgl. FA, 5, 216) oder das Hinrichtungsritual ‚feiert‘ im fünften Akt der Maria Stuart die Katastrophe (vgl. FA, 5, 139–142). Vom Ritual zu unterscheiden ist die Zeremonie (von lateinisch caeremonia, feierlicher Akt, Feier), die nach institutionalisierten und dem sozialen Rang der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemäßen Regeln, dem sogenannten Zeremoniell, abläuft; sie kann Rituale (Krönungen, Adelserhebungen) und Ritualisierungen (Staatsempfänge, Staatsakte, offizielle Feiern eines Hofes) angemessen und standesgemäß begleiten. Relevant hierbei erscheinen meist der förmliche und geordnete Ablauf und die Wiederholbarkeit der Zeremonie, die inhärenten symbolischen Handlungen, die ausgestellten Traditionsbezüge, das (ausgewählte) Publikum, der begrenzte Kreis an Akteuren und die Überwachung beziehungsweise Leitung des Ablaufs durch einen Zeremonienmeister.4 Mit der Unterscheidung von Ritual und Ritualisierung sowie von Zeremonie und Zeremoniell haben wir das begriffliche Rüstzeug erlangt, um folgende relativ unscheinbare Szene zu verstehen. Sie spielt in jenen Tagen in Aranjuez, von denen es heißt, sie wären schön gewesen (vgl. FA, 3, 775). Zwischen Orangenbäumen und Springbrunnen erinnert Don Karlos den Marquis Posa an jenes Ereignis seiner Jugend, das in mehrfacher Hinsicht sein Leben verändern sollte; die Ritualerzählung kann man daher als zentrales Stück der Exposition lesen: KARLOS. [. . .] Ein Zufall tat, was Karlos nie gekonnt. Einmal geschah’s bei unsern Spielen, daß Der Königin von Böhmen, meiner Tante, Dein Federball ins Auge flog. Sie glaubte, Daß es mit Vorbedacht geschehn, und klagt’ es Dem Könige mit tränendem Gesicht. Die ganze Jugend des Palastes muß Erscheinen, ihm den Schuldigen zu nennen. Der König schwört, die hinterlist’ge Tat, Und wär’ es auch an seinem eig’nen Kinde, Aufs schrecklichste zu ahnden. – Damals sah ich Dich zitternd in der Ferne stehn, und jetzt, Jetzt trat ich vor und warf mich zu den Füßen

4 Vgl. Macho, Thomas: Das zeremonielle Tier. Rituale, Feste, Zeiten zwischen den Zeiten. Graz 2004; Rahn, Thomas: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel höfischer Hochzeiten in Deutschland (1568–1794). Tübingen 2006; Berns, Jörg Jochen u. Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995; Jahn, Bernhard, Thomas Rahn u. Claudia Schnitzer (Hg.): Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie. Marburg 1998. In Bezug auf die Dramen Schillers vgl. Alt, Peter-André: „Der König weint. Das Scheitern höfischer Macht-Rituale in Friedrich Schillers politischen Dramen“. In: literaturkritik.de 11 (2009). http://literaturkritik.de/id/13609 (Stand: 21. November 2016).

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Des Königs. Ich, ich tat es, rief ich aus: An deinem Sohn erfülle deine Rache. [. . .] Im Angesicht des ganzen Hofgesindes, Das mitleidsvoll im Kreise stand, ward sie Auf Sklavenart an deinem Karl vollzogen. Ich sah auf dich und weinte nicht. Der Schmerz Schlug meine Zähne knirschend an einander; Ich weinte nicht. Mein königliches Blut Floß schändlich unter unbarmherz’gen Streichen; Ich sah auf dich und weinte nicht – [. . .].

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(FA, 3, 782, 234–257)

Wir erleben die Brutalität sozialer Praktiken am spanischen Hof der Frühneuzeit; das harmlose Spiel einiger Jugendlicher mit einem Federball führt unabsichtlich zu einem gewiss marginalen Unfall. Die ältere Hofdame fühlt sich indes von den Jugendlichen tief gedemütigt und meldet daher unter Tränen, die in der Theatersprache des achtzehnten Jahrhunderts ehrliche Betroffenheit anzeigen, dem König die ungeheure Tat. Anlass und Folge erscheinen schon hier in einem unangemessenen Verhältnis. Philipp II. von Spanien sieht sich gezwungen, zunächst ein Gerichtsritual und anschließend ein Strafritual zu exerzieren. Vor dem ganzen Hof werden die Jugendlichen zur Rede gestellt und der offensichtlich schuldige, in Wirklichkeit aber unschuldige Infant von Spanien wird brutal, vermutlich mit einem Rohrstock, verprügelt, bis das Blut für alle sichtbar in Strömen fließt. Warum zeigt der mit Abstand mächtigste Mann seiner Zeit bei einem solch lapidaren Fall seine Gnadenlosigkeit? Warum beschwichtigt er die österreichische Tante nicht mit guten Worten und tauscht den Rohrstock mit dem Rakett, nutzt die Szene also nicht, um seinem Sohn das angemessene Spiel am Hof zu zeigen? Freilich, der König spielt – gemäß dem Zeremoniell – grundsätzlich nicht, und im sechzehnten Jahrhundert muss die Differenz von Kindheit und Erwachsensein deutlich markiert bleiben. Zudem gilt es unbedingt, das Alter, die Gäste und die Damen zu ehren; die Tante aus Österreich muss zwar gleich mehrfach geschützt werden, müsste jedoch keineswegs durch die Härte der Strafe befriedet werden. Schließlich sind die beiden etwas übermütigen Jugendlichen auch nach spanischem Hofzeremoniell wohl kaum satisfaktionsfähig. Eine plausible Antwort auf die Fragen kann man schon aus der Folgerichtigkeit frühneuzeitlicher Strafrituale ableiten. Philipp II. hat hier nicht die Erziehung seines Sohnes im Sinn – das wäre ein moderner Gedanke,5 der auch zu 5 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main 1994, S. 93–170.

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Schillers Zeit nur langsam Eingang in die Köpfe der Verantwortlichen fand –, sondern einzig die Wiederherstellung von Ordnung. Wir befinden uns fiktional in den 1560er Jahren, deren Umgang mit Minderjährigen im krassen Gegensatz zu Idealen aufgeklärter Erziehung seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts steht. Das Ritual folgt also frühneuzeitlichen Vorstellungen von Strafe. Van Dülmen variierend können wir von einem „Theater des Schreckens“6 sprechen, das uns Schiller hier erzählen lässt. Die damaligen Institutionen waren an der Angemessenheit des Strafmaßes – heute ein ganz zentraler Aspekt des juristischen Diskurses – freilich auch interessiert. Erscheint doch – mit Foucault – die frühneuzeitliche „Strafarithmetik [. . .] in vielen Punkten präzis“7 und wohl durchdacht, wobei der „Körper“,8 sein „Leiden“ und sein „Schmerz“ als legitimer Strafgegenstand gesehen wurden. Um die (überzeitlich gedachte) Ordnung des spanischen Hofes und seiner strikten Umgangsformen wiederherzustellen, wird Don Karlos geschlagen, bis das Blut dem Vater und den Zeugen des Hofes sichtbar wird. Die abgestuften und dem Vergehen entsprechenden Leibstrafen dienten in der Frühneuzeit dazu, die „Veränderungen im gesellschaftlichen Ehrgefüge anzuzeigen“9 und unterschiedliche Grade und Geltungsbereiche sichtbar zu machen. Es gilt dabei nicht nur, die Ehre der Hofdame zu schützen, sondern in erster Linie die des Infanten wieder zu gewinnen oder anzuzeigen. Das spanische Hofzeremoniell galt damals als besonders streng und unnachgiebig.10 Das Vergehen gerade des Thronfolgers muss als besonders schwerwiegend angesehen werden, weil dadurch das sensible Ordnungsgefüge des Hofes im Kern beschädigt scheint; der legitime Nachfolger des Herrschers zeigt eine doppelte Ehrverletzung an der Hofdame und an sich selbst, die vor dem Hof öffentlich und mit bewusster Härte in Ordnung gebracht werden muss. Nur so kann Philipp seine eigene Autorität, aber auch die zukünftige Geltung seines Sohnes in der Hofgesellschaft in Anschlag bringen. Die brutale Strafe erscheint ihm angemessen im Hinblick auf den Rang der Beteiligten und bei einer Straf-Situation, in der sein Nachfolger im Fokus steht. Aus der Perspektive von Don Karlos verhält es sich beim erzählten Ritual natürlich ganz anders; in ihm schlummert so etwas wie ein humaner Geist, ein Empfinden für menschliche Gerechtigkeit und Größe jenseits von Ritualen und

6 Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. 4. Aufl. München 1995. 7 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 50. 8 Ebd., S. 18–19; die folgenden Zitate ebd. 9 Münch, Paul: Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500–1800. Frankfurt/Main u. a. 1998, S. 249. 10 Vgl. Hofmann-Randall, Christina: Das spanische Hofzeremoniell 1500–1700. Berlin 2012.

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Hofregeln. Sein fingiertes Tateingeständnis gilt ihm als besonders heroischer Akt, weil er dadurch für ein höheres Gut – die Freundschaft – Leid auf sich nimmt. Auch das ist ein, hier geheim vollzogenes, Ritual, das christliche Vorbilder hat. Don Karlos gestaltet für sich das Strafritual als Martyrium um, das dazu dienen soll, Marquis Posa als Freund zu gewinnen und nachhaltig zu verpflichten. Es soll zudem helfen, vor dem König und Vater Reife zu demonstrieren. Ja, das Bekenntnis soll Größe zeigen; Karl will Aufmerksamkeit von Seiten des Hofes und besonders endlich auch des eigenen Vaters erlangen, er will sich als Erwachsener zeigen, der zu Leid und Verantwortung fähig ist. Im Thalia-Fragment von Don Karlos ist dieser Aspekt noch deutlicher herausgearbeitet worden: Mein Stolz empörte sich [. . .] „Bin ich nicht ein geborner Fürst? Ists nicht der Boden meines Erbreichs, wo ich jetzt gleich einem Wurm mich winden muß? Wer sind sie, die diese knechtische Begegnung sehn? Wie heißen sie, wenn ich ein Mann sein werde?“ Jetzt fühlt ich keine Rute mehr, nur diese zermalmende Erinnerung – ein Blick – ein Blick auf dich, ich war vergnügt. Der König erbitterte des Knaben Heldenmut. Drei fürchterliche Stunden zwang er mich auf hartem Holz ihn knieend abzubüßen. So hoch kam mir der Eigensinn zu stehn [. . .].

(FA, 3, 38, 505–518)

Den aus heutiger Sicht absurden Machtkampf zwischen Vater und Sohn, der durch die Differenz der Ritualdeutung erheblich gestärkt wird, arbeitet die erweiterte Fassung des Thalia-Fragments noch präziser heraus; psychologisch plausibel erscheinen das Aufbegehren des pubertierenden Jünglings und die überzogene Strafe des Vaters, der darauf bedacht scheint, den Willen des Infanten unbedingt zu brechen und seine Unterordnung unter das Hofregime zu erzwingen. So erklärt sich etwa die zeitliche Ausdehnung der Strafe. Sichtbarer erscheint nun auch die implizite Theateranordnung, – mit Stollberg-Rilinger – der Aufführungscharakter des Rituals:11 Im Holzboden erkennen wir die Bühne der Erniedrigung; Karl interpretiert die Rolle des königlichen Erbfolgers, sein Peiniger die des königlichen Nachrichters; die Hofleute fungieren als Zuschauer und der Vater als allmächtiger Regisseur. Der Körper des Schauspielers zeigt mit seinem Blut Zeichen eines erfolgreichen Rituals, eine

11 Vgl. Stollberg-Rilinger: Rituale, S. 10–11 u. 154–159.

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unmittelbare Wirkungsintention aller Akteure. Theatersemiotisch wirken blutende Wunden wie Tränen; als unhintergehbare Körperzeichen künden sie von tatsächlichem und nicht gespieltem Leid. Daher scheint die Inszenierung gleichzeitig geradezu postdramatisch durchbrochen: Karl wird wirklich geschlagen, windet sich im realen Schmerz, und nur deshalb wirkt das Ritual nach frühneuzeitlicher Logik ordnungsstiftend. Rites de passage12 funktionieren nur im Modus des Authentischen; beim Übergangsritus – wie hier vom Knaben zum Mann – spielt man nicht, sondern – im Gegenteil – ist man ganz bei sich, um sich der Veränderung in Demut hinzugeben. Insofern ist das Theatrale gewissermaßen im Modus des Ritus suspendiert, die Rollendifferenz aufgehoben. Es wundert infolgedessen nicht, wenn die ‚vierte Wand‘13 durch die wechselnden Blicke von Don Karlos und Marquis Posa durchbrochen wird; ja, dieser Blickwechsel lässt den Schmerz vergessen, weil die Wandlung, die Anerkennung durch den zuschauenden Marquis Posa augenfällig wird. Die gleichwertige Freundschaft erscheint gleichursprünglich mit dem Erwachsenwerden des Thronfolgers. Man könnte einwenden, das erläuterte Beispiel sei keine richtige Ritualinszenierung, weil der Vorgang selbst nicht auf der Bühne zu sehen sei. Eine Spiel-im-Spiel-Situation liegt in der Tat auch nicht vor; das Ritual wird nur als retrospektive Erzählung vermittelt und ist nicht einmal als dramatischer Botenbericht oder zeitgleiche Teichoskopie zu erleben. Aber auch die Erzählung eines Rituals im Drama stellt eine Intarsie dar, die analog zum Spiel-im-Spiel metadramatisch interpretierbar ist.14 So können etwa – wie gesehen – unterschiedliche Intentionen der Ritualinszenierung auf der Handlungsebene sichtbar und Akteure der Inszenierung (Vater, Sohn, Freund, Publikum) ins Licht gesetzt werden.

12 Im Sinne von Gennep: Les rites de passage. 13 Vgl. Diderot, Denis: Œuvres Esthétiques. Hg. v. Paul Vernière. Paris 1988, S. 231; Müller, Klaus-Detlef (Hg.): Das Theater des Herrn Diderot. Übersetzt v. Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 1986, S. 340. 14 Vgl. Vieweg-Marks, Karin: Metadrama und englisches Gegenwartsdrama. Frankfurt/Main, Bern u. a. 1989; Hauthal, Janine: Metadrama und Theatralität. Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten. Trier 2009; Niefanger, Dirk: „Geschichte als Metadrama. Theatralität in Friedrich Schillers Maria Stuart und seiner Bearbeitung von Goethes Egmont“. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2007, 305–323; ders.: „La storia messa in scena. Il metadramma nel Wilhelm Tell di Friedrich Schiller“. In: estetica 2 (2006), S. 123–136 und ders.: „Metadramatische Anfänge im Lesedrama des 18. Jahrhundert“. In: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg. Freiburg 2012, 233–250.

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In Schillers Theaterpraxis spielen Ritualinszenierungen schon deshalb eine große Rolle, weil sie dramaturgisch wichtige Momente der Handlung – beispielsweise den Eid der Räuber in der Grenzschenke (vgl. FA, 2, 39–46) – akzentuieren können. Sie sind keineswegs an Erzählerfiguren auf der Bühne gebunden, sondern erscheinen in der Regel als Handlungen auf der Bühne. Konkrete Dokumente zu historischen Aufführungen von Schillers Dramen sind indes nur wenige vorhanden: Berichte, Streichfassungen und Briefe gelten allenfalls als Quellen zweiter Ordnung, sind selbst hinsichtlich der tatsächlichen Aufführung interpretierungsbedürftig und geben meist nicht viel mehr als einen vagen Eindruck von Schillers Theaterpraxis. Hinzu kommt, dass bei Dramen wie Don Karlos zumindest die historischen Aufführungen gegenüber der textlich gesteuerten Imagination ästhetisch gesehen deutlich defizitär waren und dies aus einem einfachen Grund: Auf der historischen Bühne war nur ein Bruchteil des Don-Karlos-Materials zu sehen. Die Dramen selbst sind natürlich nicht als unmittelbare Vorlagen für die Aufführung zu lesen, das zeigen schon die Bühnenbearbeitungen. Die Stücke als literarische Texte enthalten aber das, was man dramentheoretisch als Bühnendiegese (oder auch implizite Aufführung) bezeichnen kann, nämlich gewissermaßen die Erzählung eines idealen Bühnenablaufs, den wir in der Regel beim Lesen parallel zur Handlung rezipieren.15 Diese Bühnendiegese unterscheidet das Drama von einem epischen Text; beide Diegesen des Dramas sind mit der transgenerischen Narratologie als zeitgleich aufeinander beziehbare Erzählungen analysierbar und tragen zur Komplexitätssteigerung des Kunstwerks Drama erheblich bei. Die Ausgestaltung der Bühnendiegese sehe ich als (freilich nicht immer zuverlässigen) Referenzraum von Schillers Theaterpraxis, weil sie zumindest einige Hinweise auf praxeologische Konzepte offenlegt. Für unseren Diskussionszusammenhang ist daher zu unterscheiden, auf welcher Ebene des Dramas Ritualinszenierungen stattfinden und welche Funktionen sie hier etwa im Hinblick auf die Handlung, die Wirkung des Dramas als Text oder die Aufnahme der möglichen Theateraufführung haben. Ich unterscheide in diesem Sinne unterschiedliche Inszenierungsmodi: Wir haben gesehen, es gibt Ritualinszenierungen, die lediglich auf der Bühne erzählt werden, wie das zitierte Strafritual am Hof von Aranjuez in Don Karlos, den Eid in den böhmischen Wäldern, an den am Ende der alte Karl Moor erinnert (vgl. FA,

15 Vgl. Weber, Alexander: Episierung im Drama. Berlin 2017, S. 131–132. Vgl. hierzu auch meine demnächst erscheinenden Gedanken zum speziellen Werkcharakter von (Lese-)Dramen: Niefanger, Dirk: „Drama als Werk“. In: Das Werk: Verschwinden und Fortwirken eines grundlegenden literaturwissenschaftlichen Begriffs. Hg. v. Lutz Danneberg, Annette Gilbert u. Carlos Spoerhase. Berlin u. Boston 2019, S. 191–209.

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2, 156–159), oder die Krönung des jungen Harry Lancaster, die La Hire in Die Jungfrau von Orleans erzählt (vgl. FA, 5, 174–175). Hier werden Rituale durch den Redner auf der Bühne imaginiert, nicht aber im Bereich der Bühnendiegese vorgeführt. Eine solche Inszenierung bietet die Möglichkeit, exemplarische Rezipienten einzupflegen. Wir sehen auf der Bühne, wie narratologisch vermittelte Rituale funktionieren. Die meisten Ritualinszenierungen, die auf der Bühne als Handlung der Figuren gezeigt werden, wie der Rütlischwur in Wilhelm Tell (vgl. FA, 5, 421–438) oder die zweimalige Verschwörung der Männer um Verrina im Fiesco zu Genua (FA, 2, 343–346) zeigen uns keine externen Ritual-Zuschauer auf der Bühne, weil alle Anwesenden am Geschehen beteiligt sind. Verschwörungen dulden ja keine fremden Zeugen; jeder zeugt für den anderen. Analoges gilt für die höfischen und bürgerlichen Zeremonien, die in Kabale und Liebe gegeneinandergestellt werden (vgl. FA, 2, 569–572, 576–582, 639–642). Rituale im engeren Sinn erkenne ich im Stück eigentlich nicht, allenfalls beim erzwungenen Heiratsantrag Ferdinands (vgl. FA, 2, 593–600); dieser geschieht nicht vor Publikum, wird aber natürlich rasch den anderen Akteuren des Stückes bekannt. In Schillers Dramen finden sich aber auch Rituale vor Zuschauern, die gleichzeitig auf der Ebene der Handlung und der Bühnendiegese zu imaginieren sind: Zu nennen wäre etwa das zentrale Versöhnungsritual der zwei feindlichen Brüder in der Braut von Messina; hier fungieren die beiden Chöre als Zeugen, die später das Versöhnungsritual ihrer Anführer nachzeichnen (vgl. FA, 5, 299–311). Trotzdem stellen sie gewissermaßen das natürliche Bindeglied zum lebendigen Publikum dar, ja, repräsentieren es, wenn man Schiller selbst folgt, als Volk auf der Bühne (vgl. FA, 5, 285–287). In Körners Vormittag erleben wir zwar keine Rituale im engeren Sinne,16 aber eine Menge Alltags-Ritualisierungen (Rasieren, Besuche, Begrüßungen usw.) vor einem wechselnden Publikum auf der Bühne (vgl. FA, 5, 831–839). Es gibt auch Ritualinszenierungen, die in wesentlichen Teilen nur im Bereich der Bühnendiegese, nicht aber als sprachlich begleitete Handlung im engeren Sinn rezipierbar sind, wie – ganz unterschiedlich – das feierliche Sterben der Jungfrau von Orleans (vgl. FA, 5, 276–277) oder die Unterzeichnung des gefakten Treuepapiers im zweiten Wallenstein (vgl. FA, 4, 131–134). Natürlich kennen wir auch Ritualinszenierungen, die hinter der Bühne, ohne oder nur durch indirekte Teilhabe der Rezipienten stattfinden oder stattgefunden haben. Diese Form der Ritualinszenierung hat oft mit dem sogenannten ‚MedeaParadigma‘ zu tun, dem Verbot von (unglaubwürdigen) Gewalthandlungen auf

16 Wir erleben allenfalls „alltägliche Interaktionsrituale“. Stollberg-Rilinger: Rituale, S. 46.

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der Bühne.17 Zu nennen wäre die Hinrichtung Maria Stuarts (vgl. FA, 5, 141–142) oder die Ermordung Wallensteins, wenn diese denn überhaupt als ein Ritual bezeichnet werden kann (vgl. FA, 4, 289–290). Die Tatsache, dass die Mörder den Feldherrn nicht im Schlaf meucheln wollen, spricht übrigens für den Tyrannenmord als wiederholbare und regelgeleitete Handlung. Theaterlogisch sind also drei unterschiedliche Ebenen von Ritualinszenierungen möglich, die freilich kombiniert werden können: (1) Erzählte Ritualinszenierungen (etwa durch Boten oder die Teichoskopie), (2) Ritualinszenierungen, die in der Bühnendiegese stattfinden und daher vom Zuschauer in ihrer Theatralität identifiziert werden können, und (3) Ritualinszenierungen, die als Teil der Handlung stattfinden. In der Regel, das haben die Beispiele gezeigt, kann ein Auseinanderdriften von (2) und (3) nur bedingt analysiert werden. Je nach Ort der Ritualinszenierungen werden unterschiedliche Grade von Glaubwürdigkeit und Verpflichtung sichtbar. Nur berichtete Rituale wirken grundsätzlich weniger glaubwürdig und subjektiv wahrgenommen als vorgeführte. Erinnert sei an die Bestrafung von Don Karlos. Rituale, die im Bereich der Bühnendiegese aufwendig gestaltet werden, etwa das Ende der Jungfrau von Orleans, stellen den Inszenierungscharakter des Rituals aus. Grundsätzlich gilt auch hier, je stärker das Theater als inszeniertes sichtbar wird, desto stärker wirkt es auch metatheatral beziehungsweise selbstreflexiv. Dazu tragen Ritualinszenierungen bei. Nachfolgend sei noch exemplarisch ein historisch verbrieftes oder zumindest überliefertes Ritual auf der (imaginären) Bühne eingehender analysiert: der Rütlischwur in Wilhelm Tell. Das Problem dieser Szene, die in der Forschung verhältnismäßig wenig analysiert wird,18 ist sicherlich, dass sie – anders als die berühmte Apfelschuss- oder die ebenfalls legendäre Küssnacht-Szene – nicht besonders aktionsreich, ja im Grunde handlungsarm ist und der Held des Dramas selbst gar nicht auftaucht. Deshalb muss der wichtige historische Moment, den diese Szene ausmacht und der nicht nur für das ganze Drama, sondern eben auch für die Schweizer Geschichte so relevant ist, theatralisch herausgearbeitet werden. Dramaturgisch muss Schiller also die Situation in den Griff bekommen, dass zwei aktionsreiche Szenen historisch weniger wichtig und eine aktionsarme Szene historisch zentral ist. Um dies anzuzeigen, wird zunächst die Szenerie so gestaltet, dass man eine bedeutsame Handlung erwartet.

17 Vgl. „Doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte.“ Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Übers. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1992, S. 645. 18 Als Überblick vgl. Zymner, Rüdiger: Friedrich Schiller. Dramen. Berlin 2002, S. 143–156.

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Walther Fürst, Rösselmann der Pfarrer, Petermann der Sigrist, Kuoni der Hirt, Werni der Jäger, Ruodi der Fischer und noch fünf andere Landleute, alle zusammen, drei und dreißig an der Zahl, treten vorwärts und stellen sich um das Feuer. WALTHER FÜRST So müssen wir auf unserm eignen Erb’ Und väterlichen Boden uns verstohlen Zusammen schleichen wie die Mörder tun, Und bei der Nacht, die ihren schwarzen Mantel Nur dem Verbrechen und der sonnenscheuen Verschwörung leihet, unser gutes Recht Uns holen, das doch lauter ist und klar, Gleichwie der glanzvoll offne Schoß des Tages. MELCHTHAL Laßt’s gut sein. Was die dunkle Nacht gesponnen, Soll frei und fröhlich an das Licht der Sonnen.

(FA, 5, 426, 1098–1107)

Die Einleitungsworte umreißen das Prekäre der Situation. Hier treffen sich Unterdrückte heimlich, um ihr angestammtes Land, den väterlichen Boden, zu befreien. Die Lichtregie der Szene korrespondiert mit der Metaphorik Melchthals. Man versammelt sich ums Feuer; Licht verheißt Hoffnung und Freiheit in der Zukunft; die Dunkelheit steht für die notwendige Heimlichkeit, für Unterdrückung und Unfreiheit. Die Antagonismen scheinen intuitiv erkennbar. Die sukzessive Anordnung der Figuren im Kreis – also die proxemische Zeichengestaltung – offenbart eine zweite Stoßrichtung der Szene: die Gemeinschaftsbildung. Einer der Verschwörer, Rösselmann, proklamiert das politische Mandat der Versammelten: Hört was mir Gott in’s Herz gibt Eidgenossen! Wir stehen hier statt einer Landsgemeinde, Und können gelten für ein ganzes Volk [. . .].

(FA, 5, 427, 1108–1110)

Der Legitimationsakt der Versammlung scheint nicht durchs geltende Recht der Habsburger gedeckt, deshalb bezieht sich Rösselmann auf das archaische Mandat der Schweizer, genauer: auf ihr Naturrecht, sich zu versammeln und ihre Belange zu klären. Die Eidgenossen verpflichten sich feierlich auf das Wohl des ganzen Volkes und sehen sich in der Verantwortung für jene, denen es verwehrt ist, mitzuwirken – ein Gedanke übrigens, der an die alte Präambel des bundesdeutschen Grundgesetzes erinnert. Verantwortung und Naturrecht bei den Schweizern stehen Willkür und Anmaßung bei Gessler und seinen Schergen gegenüber; er war es schließlich, der seine Herrschaft durch einen Hut symbolisieren ließ und der in der Apfelszene seine Macht in demütigender Weise demonstrierte. Insofern korrespondieren zweiter

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und dritter Akt des Dramas; dort das Zeremoniell, das Herrschaft und Macht nachhaltig sichern soll, hier das Ritual, das eine Veränderung sichtbar macht. Man sieht das auch an den verwendeten Requisiten: Dem leblosen Hut auf der Stange stehen die Schwerter in den Händen der Schweizer – Symbole der Kampfkraft, Tat und Gerechtigkeit – entgegen. Der Hut auf der Stange bleibt starr, die Schwerter aber werden im Ritual ‚bedeutsam‘ bewegt: Die Eidgenossen pflanzen, im Kreis stehend, die Schwerter vor sich auf, teilen Machtansprüche, wählen ein Oberhaupt und schwören Einigkeit; hierfür tritt der Gewählte in die Mitte des Kreises: REDING tritt in die Mitte: Ich kann die Hand nicht auf die Bücher legen, So schwör’ ich droben bei den ew’gen Sternen, Daß ich mich nimmer will vom Recht entfernen. Man richtet die zwei Schwerter vor ihm auf, der Ring bildet sich um ihn her, Schwytz hält die Mitte, rechts stellt sich Uri und links Unterwalden. Er steht auf sein Schlachtschwert gestützt Was ist’s, das die drei Völker des Gebirgs Hier an des See’s unwirtlichem Gestade Zusammenführte in der Geisterstunde? Was soll der Inhalt sein des neuen Bunds, Den wir hier unterm Sternenhimmel stiften? STAUFFACHER tritt in den Ring: Wir stiften keinen neuen Bund, es ist Ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, Das wir erneuern! Wisset Eidgenossen! Ob uns der See, ob uns die Berge scheiden, Und jedes Volk sich für sich selbst regiert, So sind wir eines Stammes doch und Bluts, Und Eine Heimat ist’s, aus der wir zogen. WINKELRIED So ist es wahr, wie’s in den Liedern lautet, Daß wir von fern her in das Land gewallt? O, teilt’s uns mit, was euch davon bekannt, Daß sich der neue Bund am alten stärke.

(FA, 5, 428, 1147–1165)

Die Ritualinszenierung suggeriert, dass sie an eine alte Tradition anschließt; dies verleiht dem Handeln Gewicht. Der neue Bund sei, so die Versammelten, im Grunde nur die Aktivierung des historisch Überlieferten und habe daher seine Legitimation. Hier wird also keine Revolution angezettelt, sondern einem älteren Gesetz neue Gültigkeit verliehen. Winkelrieds Bitte zeigt, wie der Bund der historiografischen Beglaubigung bedarf. Wie jeder Staat sich seine Geschichte schreibt

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und dabei eine ältere Historie als die seinige akkulturiert, so vergewissert sich auch die Rütli-Gemeinschaft ihrer legitimierenden Nationalgeschichte. Die Wiedererzählung des Schweiz-Mythos durch Stauffacher, der ja im Tell-Drama Schillers quasi durch Wiederholung – als Befreiung vom kaiserlichen Protektorat – nachvollzogen wird, erscheint insofern als zentrales Moment des einheitstiftenden Schwurs. Dramentechnisch liegt ein narratives, analeptisches Implantat vor,19 das aber – die Kenntnis der Tell-Geschichte vorausgesetzt – proleptisch wirkt. Dabei beruft sich Stauffacher auf eine mündliche Überlieferung, die er als gemeinsames Kulturgut aktualisiert: „Hört, was die alten Hirten sich erzählen.“ (FA, 5, 429, 1166) Schillers Drama vermittelt so auch die nationale Vermitteltheit von Geschichte: Das Drama führt vor, wie jemand etwas erzählt, was er von archaischen Hirten gehört hat. Ob diese es erlebt haben oder was ihre Quellen sind, bleibt im Dunkeln. Der Mythos lebt durch die mündliche, sich freilich stets verändernde Überlieferung; dessen Kern ist die gemeinsame Abkunft aller Schweizer Stämme, die aus der erzählten Siedlungslegende ableitbar ist. Der so erzählerisch legitimierte ‚alte Bund‘ wird schließlich im Ritual gestisch erneuert: STAUFFACHER [. . .] In Mitte ihres Lands sich angesiedelt, Finden die Schwytzer Männer sich heraus, Es gibt das Herz, das Blut sich zu erkennen. Reicht rechts und links die Hand hin. AUF DER MAUER Ja wir sind eines Herzens, eines Bluts! ALLE sich die Hände reichend. Wir sind Ein Volk, und einig wollen wir handeln.

(FA, 5, 430, 1200–1204)

Verschwörungsrituale brauchen kein Publikum, sondern gegenseitige Zeugenschaft als besondere Form der Teilhabe, Vergewisserung und Gemeinschaftsstiftung. Später kann die Geltung der neuen Normen von einst anwesenden und teilhabenden Zeugen bestätigt, vermittelt, hinausgetragen und verbreitet werden. Als Modell wäre hier an die von Christus eingesetzten und legitimierten Apostel zu denken. So mag man schließlich die Verabredung der Zeichen für die Revolte in der Rütli-Szene interpretieren; die Anführer kehren in ihre Länder zurück, um der Revolte ihre Basis zu schenken; sie missionieren für die Freiheit,

19 Im Sinne der transgenerischen Narratologie vgl. Nünning, Ansgar u. Vera Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002.

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indem sie vom Rütlischwur glaubhaft berichten können. Erst die überzeugten Massen werden den Umsturz des Habsburger Regimes in den Schweizer Ländern dann realisieren. Durch den Gründungsmythos wurde die Einheit beschworen und das Versammlungs- und Beschlussrecht legitimiert. Nun muss noch das Verhältnis zur Obrigkeit, dem Kaiser, bestimmt werden. Denn der Landvogt Gessler beruft sich auf dessen Macht. Auch jetzt rekonstruieren Stauffacher und die anderen RütliLeute die Historie. Die Schweiz habe sich freiwillig unter die Schirmherrschaft des Kaisers begeben und ihm ihre Souveränität nur deshalb übertragen, weil er – im Gegenzug für militärische Hilfe der Schweizer – ihre Unabhängigkeit und Unversehrtheit sichert. Knechtschaft und Ausbeutung, wie sie vom Landvogt praktiziert werden, fallen nicht unter diesen Staatsvertrag. Widerstand gegen diesen Vertragsbruch erscheint also legitim. Beim Bruch des Staatsvertrags, das hat Schiller von Thomas Hobbes gelernt,20 tritt das alte Naturrecht wieder in Kraft. STAUFFACHER [. . .] Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! ALLE an ihre Schwerter schlagend. Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!

(FA, 5, 432, 1282–1289)

Als ein wichtiges Moment des Rituals kann man den gemeinschaftsstiftenden Aspekt sehen: Rituale sind Handlungsformen, die spezifisch abgrenzbare Gemeinschaften erzeugen, diese festigen und legitimieren.21 Sie erlauben es, Mitglieder in solche aufzunehmen oder auszugrenzen. Auch diese Funktion kann man im Tell leicht beobachten: Im Rütlischwur findet und legitimiert sich die Schweizerische Landsmannschaft und grenzt sich von Habsburg ab. „Der sei

20 „The Obligation of Subjects to the Soveraign, is understood to last as long, and no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them, can by no Covenant be relinquished“ [Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän währt – so versteht es sich – so lange und nicht länger, wie die Macht währt, mit deren Hilfe er die Untertanen schützen kann]. Hobbes, Thomas: Leviathan. Englisch/Deutsch. Eine Auswahl. Übers. v. Holger Hanowell. Hg. v. Jürgen Klein. Stuttgart 2013, S. 421–422. 21 Vgl. Stollberg-Rilinger: Rituale, S. 11–13.

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gestoßen aus dem Recht der Schweizer, / Wer von Ergebung spricht an Österreich!“ (FA, 5, 433, 1303–1304) heißt es daher. So werden die Vertreter des Volkes auf den Krieg eingeschworen. Wenn es um die Verteidigung von Frauen und Kindern geht, sind alle bereit zu kämpfen. Die anwesenden Schweizer sprechen sich schließlich per Abstimmung repräsentativ von Habsburg frei. Dann erst sind alle bereit. Auf ein Zeichen soll der Aufstand losbrechen. Nach den Beschlüssen sieht man die Morgenröte aufkommen und ein letztes Ritual folgt. Der eigentliche Rütlischwur wird inszeniert, ein kleines Spiel-im-Spiel mit Anfang und Ende, bei dem nur die Zuschauer auf der Bühne fehlen, weil alle Akteure einheitsstiftend beisammenstehen und Teil des Geschehens sind. Alle haben unwillkürlich die Hüte abgenommen und betrachten mit stiller Sammlung die Morgenröte. RÖSSELMANN Bei diesem Licht, das uns zuerst begrüßt Von allen Völkern, die tief unter uns Schweratmend wohnen in dem Qualm der Städte, Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. – Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, In keiner Not uns trennen und Gefahr. alle sprechen es nach mit erhobenen drei Fingern. – Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. wie oben. – Wir wollen trauen auf den höchsten Gott Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen. wie oben. Die Landleute umarmen einander.

(FA, 5, 437, 1443–1454)

In der Schwurszene hat das Ritual einen fast liturgischen Charakter: Wie ein Gebet wird der Schwur wiederholt, der die Gemeinschaft stiftet. Den Aussendungsbefehl formuliert Stauffacher dann nochmals, als er seine Landsleute nach Hause schickt, um für die beschlossene Einheit zu werben. Geradezu christlich wirkt auch die Bitte um Erduldung des Leids. Auch der Hinweis auf die Revolution erscheint überblendet von Vorstellungen des Jüngsten Tages, an dem die Schuld der Menschen berechnet wird: STAUFFACHER Jetzt gehe jeder seines Weges still Zu seiner Freundschaft und Genoßsame, Wer Hirt ist, wintre ruhig seine Herde, Und werb’ im Stillen Freunde für den Bund, – Was noch bis dahin muß erduldet werden,

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Erduldets! Laßt die Rechnung der Tyrannen Anwachsen, bis Ein Tag die allgemeine Und die besondre Schuld auf einmal zahlt. Bezähme jeder die gerechte Wut, Und spare für das Ganze seine Rache, Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache. Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen. (FA, 5, 437, 1454–1465)

Die Szene endet mit feierlicher Musik, ein pathetisches Landschaftsbild mit Sonnenaufgang schließt die Szene ab. Wie die christliche Metaphorik der Szene kennzeichnet auch das erhabene Naturbild die Grenze zwischen normaler Dramenhandlung und Ritual, sodass die Feierlichkeit des Augenblicks auf der Handlungsebene und der besondere Status des Rütlischwurs als reflexiv analysierbares Metadrama auf der dramentechnischen Ebene evident werden. Die Ausstellung des Rütlischwurs als konkrete historische und damit einmalige Handlung mit politischen Konsequenzen scheint auf den ersten Blick gegen eine Kategorisierung als Ritual zu sprechen, das ja an Wiederholung und Erwartbarkeit gebunden ist.22 Aber der politische Schwur, die Verschwörung, ist als Handlungsform wiederholbar und den Teilnehmern offenbar auch bekannt. Sie wird in der konkreten historischen Situation mit ritualtypischen Folgen genutzt. Versteht man nämlich ein Ritual im Gegensatz zur Zeremonie als grundsätzlich „transformativen“23 Schwellenakt, erkennt man im Rütlischwur den Übergang zur mündigen, freien Schweiz. Der Satz „Wir sind Ein Volk, und einig wollen wir handeln“ (FA, 5, 430, 1204) korrespondiert im Drama daher mit der Verkündigung der Befreiung nach dem Aufstand: „So seht ihr hier ein angstbefreites Volk“ (FA, 5, 497, 3097). Welche Funktion hat die herausgehobene, ‚als Inszenierung inszenierte‘ Darstellung des Schwur-Rituals hier? Sie vermittelt in erster Linie ihre kulturelle Setzung, von der es heißt, sie sei historisch verbürgt. Rituale vergegenwärtigen eine als ursprünglich gesetzte und damit als geltend angenommene Norm einer Gemeinschaft, hier die Eidgenossenschaft, die dann der Orientierung für individuelles Handeln dienen kann beziehungsweise muss; hier löst die Freiheits-Norm den Unabhängigkeitskampf aus. Die Ambivalenz des Rütli-Rituals besteht nun darin, dass es auf einen ursprünglichen, natürlichen Zustand rekurriert,

22 Vgl. ebd., S. 9. 23 Ebd., S. 14.

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vermittelt in der Schweizer Gründungslegende, und diesen als Normgröße für die Gegenwart proklamiert. Die neue Gemeinschaft beruft sich auf das überlieferte und wiedererzählte alte Schweizer Recht. So entstehen Auslegungsprobleme und Mehrdeutigkeiten; die Gefahr der Instrumentalisierung wächst. Das Ritual, das den Teilnehmern Sicherheit liefern soll, zeigt als metatheatraler Akt seine Ambivalenz; diese wird freilich nicht innerhalb der Handlung, sondern nur als Moment der Bühnendiegese sichtbar. Möglicherweise zeigt sich sogar eine generelle Skepsis gegenüber historisch-politischen Ritualen. Ihre Instrumentalisierbarkeit wird zumindest angedeutet, verweist das Drama doch mehrfach exemplarisch auf die Inszeniertheit politisch-historischer Legitimationsakte (zum Beispiel das Grüßen des Gessler-Hutes, der Rütlischwur, die Tell-Feier). Wohl nicht zu leugnen ist allerdings die positive Konnotation dieses einen Rituals auf dem Rütli: Es steht im Dienst der Freiheit und Unabhängigkeit; es sichert die Ordnung in revolutionärer Zeit und bindet unterschiedliche Kräfte sinnvoll zusammen. Der Inszenierungscharakter politisch-historischer Rituale spricht ja nicht gegen den sinnvollen Einsatz dieser Kommunikationsform. Auf die dahinterstehenden Ideen kommt es Schiller, trotz seiner Versessenheit auf publikumswirksame Effekte, wohl unbedingt an. Rituale sind Inszenierungsformen symbolischen Handelns, also prinzipiell unterschiedlich deutbar. Dabei sind unterschiedliche Inszenierungsmodi zu differenzieren (Teichoskopie, Botenbericht, Bühnenhandlung). Anders als statische Symbole setzen sie auf Prozesse, Dynamiken und Bewegungen, die es ermöglichen, Spielräume des Symbolisierten auszuloten oder zu verändern; sie markieren Phänomene des Übergangs und der Transformation.24 Im Tell setzt das Rütli-Ritual die Einigung der Schweiz in Gang, im Don Karlos das Strafritual die Auflehnung gegen den Vater. Beide erscheinen also als dynamische Faktoren des Dramas par excellence und bestimmen nicht unwesentlich seinen Fortgang. Dies gilt auch, obwohl das eine Ritual nur als Erzählung präsent ist und das andere ohne den Protagonisten des Dramas auskommen muss. Die Ritualinszenierungen in Schillers Dramen, insbesondere in den beiden diskutierten Dramen, dienen dazu – so meine abschließende These –, Machtinszenierungen als kulturelle Akte auszustellen, deren Erinnerung nicht nur das dramatische Geschehen (Auflehnung – Aufstand) forciert, sondern auch spezifische Interpretationsspielräume (Vater, Sohn, Freund – Stauffacher, Walter Fürst, Tell) zulässt.

24 Vgl. ebd., S. 55–73.

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„Ich mus mich im offenen dehnen.“ Körper-Erzählungen im Fiesko

1 Bolzschießen statt Kopfkino Es lief nicht gut. Geschockt musste Andreas Streicher miterleben, wie die erste Lesung des (noch unfertigen) Fiesko vor den Schauspielern des Mannheimer Theaters, zu der er Schiller begleiten durfte, völlig missglückte. Small Talk nach dem ersten Akt, Obst nach dem zweiten und der Vorschlag, doch lieber gemeinsam zum „Bolzschießen“ (NA, 4, 250)1 zu gehen. Am Ende, nach vier Stunden (da war Schiller noch gar nicht fertig), waren nur noch einige wenige übrig, darunter Iffland, der sich schließlich auch „entfernte“ (NA, 4, 250). Tagelang verlor Schiller nicht ein Wort über das Desaster, dann machte er sich „endlich Luft, und [. . .] sprach [. . .] den ernstlichen Vorsatz aus, daß, wenn er hier [in Mannheim] nicht als S ch au s p i el Di ch te r angestellt, oder sein Trauerspiel nicht angenommen werde, er selbst als S ch au s p i e ler auftreten wolle, indem eigentlich doch Niemand so declamiren könne wie er“ (NA, 4, 251). Der kluge Streicher enthielt sich des Kommentars, er „wollte dem mißlaunigten Freunde nicht geradezu widersprechen“ (NA, 4, 252). Schillers schwäbelndes, beinahe bewegungsloses Deklamationspathos hatte weder mit jener anthropologischen Schauspielkunst „arrangierter Natürlichkeit“2 etwas zu tun, wie sie in Mannheim unter Dalberg gerade diskutiert und austariert wurde, noch mit dem, was sich im „Nebenraum des Textes“3 in Schillers frühem Drama abspielt und den „antirhetorischen Affekt“4 dieser neuen Schauspielkunst bereits infrage stellt. Wie hätte diese unprofessionelle One-Man-Show auch den

1 Streicher, Andreas: Schiller-Biographie. Hg. v. Herbert Kraft. Mannheim 1974, S. 61; Streichers Biografie wird zitiert nach NA, 4. Im Nebenzimmer dieser Vortragstragödie fand dann die Komödie statt: Schauspieler Meyer fragte den angesichts der ungezogenen Ignoranz völlig fassungslosen Streicher, ob denn tatsächlich Schiller, der Verfasser der Räuber, das Stück geschrieben habe, es sei nämlich „das allerschlechteste [. . .], was [er] je in [s]einem Leben gehört“ (NA, 4, 251) habe. 2 Detken, Anke: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 37. 3 Begriff verwendet im Sinne von Detken: Im Nebenraum, S. 10. 4 Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main u. Basel 2000, S. 125. https://doi.org/10.1515/9783110667066-004

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komplexen Körper-Subtext, der Schiller vorschwebte, darstellen können? Aber immerhin: Schauspieler Meyer nahm das Manuskript mit nach Hause: Hier erst entstand das Drama im Kopf, ein imaginäres Theater, das den „ebenbürtigen Leser fordert“5 – längst hatte sie stattgefunden, die „Geburt des Zuschauers aus dem Geist des Lesens“.6 Nach durchlesener Nacht war Meyer endlich überzeugt und versprach, das Stück im Theaterausschuss von den Schauspielern lesen zu lassen und sich für seine Annahme zu verwenden (vgl. NA, 4, 252). Die wenig erfolgreiche Bearbeitungs- und Aufführungsgeschichte zeigt jedoch: Der große Spieler und Regisseur Fiesko hatte (und hat) es nicht leicht mit der Bühne. Und die SchillerBibliografie der letzten fünfzig Jahre bestätigt schon rein quantitativ, wie lange auch die Schiller-Community mit seinem zweiten Drama fremdelte. Erst in den letzten Jahren, im Zuge der Debatten etwa um Performativität, Theatralität, Body Politics und Macht geriet der Performer von Genua verstärkt in den Blick.7 Dabei 5 Detken: Im Nebenraum, S. 268. 6 Lehmann, Johannes F.: „Situation, Szene, ‚Tableau‘. Medientheoretische Aspekte der Anfänge von Schillers Don Karlos“. In: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg. Freiburg i.Br., Berlin u. Wien 2012, 215–232, S. 218. 7 Vgl. etwa Werber, Niels: „Technologien der Macht. System- und medientheoretische Überlegungen zu Schillers Dramatik“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), 210–243; Darras, Gilles: „Mit Leib und Seele. Körpersprache, Psychologie und Philosophie in Schillers frühen Dramen“. In: Euphorion 99 (2005), 69–101; Immer, Nikolas: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, bes. S. 234–257; Geulen, Eva: „Schillernde Eide – Bindende Flüche. Die Verschwörung des Verrina zu Genua“. In: Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte. Hg. v. Peter Friedrich u. Manfred Schneider. München 2009, 253–270; Horn, Eva: „Die Macht, die sich verschwört. Machiavelli – Shakespeare – Schiller“. In: Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Hg. v. Maximilian Bergengruen u. Roland Borgards. Göttingen 2009, 143–175; Meier, Albert: „Des Zuschauers Seele am Zügel. Die ästhetische Vermittlung des Republikanismus in Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Friedrich Schiller. Dramen. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Darmstadt 2009, 35–55; Guthrie, John: Schiller the Dramatist. A Study of Gesture in the Plays. Rochester (NY) 2009, bes. S. 72–84; Fulda, Daniel: „Tradition und Transformation des frühneuzeitlichen Politikverständnisses in der Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Zum Schillerjahr 2009. Schillers politische Dimension. Hg. v. Bernd Rill. München 2009, 25–33; Boyken, Thomas: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben.“ Männlichkeitsimaginationen im dramatischen Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2014, bes. S. 129–154. Fiesko spielt natürlich auch in den Publikationen eine Rolle, die um Vollständigkeit der Werklektüre bemüht sind: Hinderer, Walter: „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. In: ders.: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, 203–252; Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biografie 1. München 2000, S. 328–351; Zymner, Rüdiger: Friedrich Schiller. Dramen. Berlin 2002 (Klassiker Lektüren 8), S. 27–43. Einschlägige frühere Fiesko-Lektüren sind: Kluge, Gerhard: „Schauspielkunst in Schillers Jugenddramen“. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hg. v. Wolfgang Bender. Stuttgart 1992, 237–260; Michelsen, Peter: „Schillers Fiesko: Freiheitsheld

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steht immer wieder auch die Körpersprache im Fokus, wie sie in den expliziten und impliziten Regiebemerkungen eingefordert wird, die nun dezidiert als „narratives Element verstanden werden“.8 Flankiert von den grundlegenden Studien zur Anthropologie, zur Schauspielkunst im achtzehnten Jahrhundert9 (besonders zur eloquentia corporis im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neuen psychologisierenden Schauspielkunst) und zur Szenografie,10 rückt man nun also auch dem Maskenvirtuosen Fiesko zu Leibe. Auffällig ist dabei allerdings, dass die Überlegungen häufig doch bei der Frage nach der Kohärenz der Figuren (meist der Hauptfigur) landen.11 Ich schließe mich hier Eva Horns Beobachtung an, dass „die Forschung mit Hingabe“12 den „Charakter des Fiesko studiert“ (ebd.) habe. Einen Blick hinter die Maske zu werfen bleibt offenbar verführerisch, auch wenn man dahinter bloß weitere Masken entdeckt. Bereits 2009 konstatierte hingegen Eva Geulen, dass „jede Interpretation, die [. . .] das Stück von seinem Helden her interpretiert, seine politische [und ich ergänze: seine theatrale] Dimension verfehlen muss.“13 Was aber bleibt zu entdecken, folgt man stärker als bisher dem Narrativ der Nebenraum-Texte, der Körpersprachen- und Spielraum-Textur von Schillers Drama und bezieht zudem sowohl die Rede vom Körper als auch die Rede in Körper-Bildern mit ein? Erkennbar wird, so soll deutlich werden, ein weit verzweigtes Netz von Körper-Erzählungen, mit denen die Figuren präzise

und Tyrann“. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack. Tübingen 1990, 341–358. 8 Detken: Im Nebenraum, S. 393. Vgl. auch Korte, Barbara: „Körpertext im Schrifttext: Eine Skizze zur Evolution des nonverbalen semiotischen Systems im englischen Roman des 18. Jahrhunderts“. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposium. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart u. Weimar 1996, 617–632. 9 Vgl. dazu bes. Riedel, Wolfgang: „Die anthropologische Wende. Schillers Modernität“. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006, 143–163; Bender, Wolfgang: „Vom ‚tollen‘ Handwerk zur Kunstübung. Zur ‚Grammatik‘ der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert“. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hg. v. dems. Stuttgart 1992, 11–50; Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. 10 Vgl. Lehmann: „Situation, Szene, ‚Tableau‘“. 11 Schiller selbst behauptet in der Erinnerung an das Publikum (geschrieben für den Theaterzettel zur ersten Aufführung in Mannheim, 11. Januar 1784), dass „Fiesko [. . .] der grose Punkt dieses Stücks“ (NA, 4, 271) sei, und entwirft ein umfassendes Figurenporträt wie eine psychologische Fallstudie. Doch dies ist ein Werbetext – er zielt dezidiert auf den Publikumsgeschmack. 12 Horn: „Die Macht, die sich verschwört“, S. 173, vgl. auch S. 171. 13 Geulen: „Schillernde Eide“, S. 267–268.

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zueinander in Beziehung gesetzt werden, etwa durch Spiegelungen, Kongruenzen, Komplementaritäten.

2 „Der Graf lebt und ist ganz“ Fiesko bekommt seinen großen Monolog – die dramaturgische Insigne des „herausragenden Einzelnen“14 –, doch dieser große Monolog ist auftrittsdramaturgisch gewissermaßen längst implodiert. Schiller setzt darauf, dass die Zuschauer ihren Hamlet kennen,15 und kann deshalb für seinen Helden einen solchen monumentalen Reflexions- und Entscheidungsmonolog simulieren:

Abb. 1: „Republikaner Fiesko? Herzog Fiesko?“ Fiesko am Trapez in der Inszenierung von Frank Behnke am Theater Münster, Spielzeit 2015/16 (Fiesko: Jonas Riemer, Fotograf: Oliver Berg).

14 Immer: Der inszenierte Held, S. 14. 15 Vgl. ebd., S. 161–162.

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‚Bürger oder Tyrann?‘ soll hier angeblich die Frage sein, doch Ersteres war nie wirklich eine Option.16 Zwei Szenenwechsel, eine Aktgrenze, zwei Schauplatzund Tageszeitenwechsel zerschneiden den großen Auftritt. Damit ist auch das „lückenlose Zeremoniell ineinandergreifender Auftritte“,17 Grundlage klassizistischabsolutistischer Bühnenordnung, das Gottsched noch strikt eingefordert hatte, die Stürmer und Dränger nach Lessing’schem Vorbild aber längst unterhöhlt hatten, völlig außer Kraft gesetzt. Und auch die große Bühne bleibt dem großen Auftritt zunächst versagt. Im eigenen „Vorzimmer“ (NA, 4, 57, nach 5) imaginiert sich Fiesko, „sanftgeschmolzen“ (NA, 4, 64, 17), als „glüklich ste[n] Bürger“ (ebd.), als müsse er sich selbst mit solch rührenden Ideen im Gepäck antichambrieren. Als er sich dann, im zweiten Teil des Monologs (III,2), zum ersten Mal unmissverständlich in einem absolutistisch zentralisierten Raum positioniert – „Saal bei Fiesko“ (NA, 4, 66, nach 25) –, ist die liaison des scènes längst irreversibel zerrissen. In der „Nacht“ (NA, 4, 65, 4), in „furchtbarer Wildniß“ (NA, 4, 65, 2) haben sich Verrina und Bourgognino zuvor getroffen, hat Verrina seine Attentatsentscheidung offengelegt. Das Schauer-Setting des Sturm und Drang ist hier nur noch wohlportioniert eingesetzt. Es schafft raumdramaturgisch jene unruhige „offene Topographie“,18 jenen „Zustand der Ent-Ortung“ (ebd.), der jede souveräne Blickordnung im Drama konterkariert.19 Fiesko allerdings berauscht sich nichts ahnend gleich danach noch an der Zentralperspektive, deren Fluchtpunkt er selbst ist (Abb. 1): „Saal bei Fiesko. In der Mitte des Hintergrunds eine große Glasthüre, die den Prospekt über das Meer und Genua öffnet. [. . .] Fiesko [. . .] macht die Glasthüre auf.“ (NA, 4, 66, nach 25) 16 „Re publika ner Fiesko? He rzog Fie sko?“; NA, 4, 64, 1–2. Siehe dagegen beispielsweise Immer: Der inszenierte Held, S. 236, der in dieser Frage die für Fiesko „nahezu existentielle Entscheidungssituation aufgerufen“ sieht, „zwischen beiden Herrschaftssystemen wählen zu müssen.“ 17 Vogel, Juliane: „Raptus. Eröffnungsfiguren von Drama und Oper des 18. Jahrhunderts“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 4 (2009), 507–520, S. 508. Vgl. auch dies.: „Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers Don Carlos“. In: Schiller, der Spieler. Hg. v. Peter-André Alt, Marcel Lepper u. Ulrich Raulff. Göttingen 2013, 145–160. 18 Vogel: „Raptus“, S. 519. 19 Diese raumdramaturgische Unruhe bedeutete für die zeitgenössischen Theaterpraktiker de facto nichts als Stress. Beispielsweise schrieb Friedrich Wilhelm Großmann am 26. August 1783 über die Aufführung des Fiesko in Bonn an Christian Friedrich Schwan: „Wenn der liebe, feurige Mann [. . .] nur mehr Rücksicht auf Theater-Konvenienz nehmen, und besonders vom Maschinisten [. . .] nicht schier unmögliche Dinge verlangen wollte. Ein Schloßhof mit Mauern und Gitterwerk und Nacht und illuminirter Saal mit einer Spanischen Wand in einem Nu, und dergleichen Verwandlungen mehr, gehen fast nie ohne Unordnung und gewaltiges Geräusch ab; wie sehr das dem Dialog und der Handlung schadet, hab ich bey der Vorstellung des Fiesko gesehen.“; NA, 4, 265.

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Dem Zuschauer beziehungsweise dem Leser brennt sich dieses grandiose KörperBild des zukünftigen Potentaten von Genua ein – umso verblüffender, dass es schon bald in jener Körper-Erzählung wiederzuerkennen ist, mit der Fiesko die Machtbesessenheit ausgerechnet seines Widersachers Gianettino aufdecken will: „Izt fahre wohl Doria schöner Stern. Stolz und vorlaut standst du da, als hättest du den Horizont von Genua verpachtet.“ (NA, 4, 75, 19–21) Fiesko führt hier die Anklage des Gegners über dessen Körpersprache, die doch nur der Kinesik der eigenen Selbstapotheose entspricht. Hier findet sich Eva Horns These bestätigt, die, wie auch schon Peter-André Alt, auf die „taktische und politische Nähe Fieskos zu Gianettino“20 aufmerksam gemacht hat und beide „in der politischen Logik des Stücks [als] Neue Prinzen im Stile Machiavellis [identifiziert,] die sich jenseits von Verfassung, Recht oder Erbfolge an die Macht setzen wollen“.21 Fieskos Sehnsucht gilt freilich der Investitur. „[D]as Blut der Fiesker fließt nur unter dem Purpur gesund“ (NA, 4, 99, 11–12), erklärt Fiesko Leonore. Das Kleid des Herrschers „investiert“, so Albrecht Koschorke, „einen natürlichen Körper, aber es überschreibt ihn zeichenhaft mit den Attributen des Unsichtbaren, das er fortan verkörpert“.22 Einige Szenen zuvor hatte Bella, die Kammerzofe Leonores, nach dem inszenierten Mordanschlag Muley Hassans die gute Nachricht verkündet: „Der Graf lebt und ist ganz.“ (NA, 4, 51, nach 31) Hier ist zunächst die Unversehrtheit des natürlichen Körpers gemeint und doch wird mit dieser Botschaft die Körperfiktion fortgeschrieben, die sich von der ersten Szene des Dramas an um den Grafen von Lavagna legt, wenn Leonore den Ursprungsmythos vom „Halbgott der Genueser“ (NA, 4, 15, 18) folgendermaßen imaginiert: „Da er noch Fiesko war [. . .], ein blühender Apoll, verschmolzen in den männlichschönen Antinous. Stolz und herrlich trat er daher, nicht anders, als wenn das Du r chla u ch ti ge Ge nu a auf seinen jungen Schultern sich wiegte; [. . .].“ (NA, 4, 14, 18–22)23 Schiller, der Dramatiker der Macht, geschult am höfischen Zeremoniell, weiß um den „Anteil des Imaginären“,24 ohne den Autorität

20 Horn: „Die Macht, die sich verschwört“, S. 171. 21 Ebd. 22 Koschorke, Albrecht: „Macht und Fiktion“. In: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte. Bilder. Lektüren. Hg. v. Thomas Frank, Albrecht Koschorke u. a. Frankfurt/Main 2002, 73–84, S. 79. 23 Apollon ist der Gott des Lichtes und der Künste, Antinous (gest. 130 n. Chr.) war der Geliebte von Kaiser Hadrian. Beide wurden in der antiken Plastik als jugendlich-männliche Idealgestalten dargestellt. Auch im Mannheimer Antikensaal befanden sich Statuen von Apoll und Antinous. Diesen besuchte Schiller allerdings erst am 10. Mai 1784; vgl. FA, 2, 1246 u. NA 20, 103–104. 24 Matala de Mazza, Ethel: „Body Politics“. In: Einführung in die Kulturwissenschaft. Hg. v. Harun Maye u. Leander Scholz. München 2011, 169–187, S. 170.

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sich nicht etablieren lässt.25 Schiller hat dieses Als-ob-Spiel nie losgelassen, die Fragmente um falsche Prinzen und Zaren (Die Kinder des Hauses, Warbeck, Demetrius) haben ihn jahrelang immer wieder beschäftigt.26 Die Investitur findet jedoch nicht statt, obgleich für das Zeremoniell schon alles vorbereitet ist: Fie s ko. K alkagno . S acco. Ze nturione. Zibo. So ldaten mit Musik und Fahnen treten auf. [. . .] KALKAGNO. Mich laßt den Ersten seyn, der den großen Sieger in seinen Mauern willkommen heißt – Heil Ihnen – Senket die Fahnen tief! – Herzog vo n G e nua! ALLE nehmen die Hüte ab. He il, Hei l dem Herz og vo n G en ua! Fahnenmarsch. [. . .] KALKAKGNO. Volk und Senat stehen wartend, ihren gnädigen Oberherrn im Fürstenornat zu begrüßen [. . .] – (NA, 4, 112, nach 5–29)

Doch es kommt pausenlos etwas dazwischen: die Entdeckung der Ermordung Leonores, der Auftritt des Andreas Doria und schließlich die Hafenszene vor der Flucht von Bertha und Bourgognino. Erst in der vorletzten Szene des Dramas, in der Fiesko von Verrina ermordet wird, tritt Fiesko urplötzlich „im herzoglichen Schmuk“ (NA, 4, 117, 28) auf. Diese (beinahe komische) Aussparung der Investitur verweist auf den entleerten Ritus in modernen Zeiten. Fiesko ruft sich an Leonores Leiche kurzerhand, wie beiläufig und ganz ohne Einkleidungszeremoniell, selbst zum Herzog aus: „FIESKO steht gefaßt und vest auf. Höret Genueser – [. . .] Izt folgt euerm Herzog. gehen ab unter Fahnenmarsch.“ (NA, 4, 115, 38–116, 9) Am Start sind längst neue Rituale: LOMELLIN. [. . .] Kaum war das Wort Doria ausgesprochen [. . .] so zeigte sich Fiesko dem Volk. [. . .] Die ganze Versammlung hieng ihm odemlos in starren schröklichen Gruppen entgegen, er sprach wenig, aber streifte den blutenden Arm auf, das Volk schlug sich um die fallende Tropfen, wie um Reliquien. Der Mohr wurde seiner Willkühr übergeben, und Fiesko [. . .] – Fiesko begnadigte ihn. Izt raßte die Stille des Volks in einen brüllenden Laut aus, [. . .] Fiesko wurde auf tausendstimmigem Vivat nach Hause getragen. (NA, 4, 54, 29–55, 6)

25 Das Spiel funktioniert eben nur, wenn alle mitspielen, wenn sie bereit sind, „gleichsam ein zweites Kleid“ um den Körper des Herrschers oder des Prätendenten zu „legen: nämlich das Kleid ihrer Zuschreibungen“; Koschorke: „Macht und Fiktion“, S. 79. 26 Unter vollem Körpereinsatz arbeitet Fiesko an der eigenen Fiktionalisierung; Bella berichtet weiter: „Ich sah ihn durch die Stadt galoppieren. Nie sah ich unsern gnädigen Herrn so schön.“; NA, 4, 51, 32–33.

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Eine „massentheatralische performance“27 mit einem fast stummen „virtuellen Erregungsherd“,28 wie aus dem Lehrbuch für Diktatoren, von der der politische Kopf Lomellin in analytischer Teichoskopie hier berichtet. Das kalkulierte Chaos dieser Szene ist die Kontrafaktur des alten politischen Rituals, das die Feier des Körpers des Herrschers inszenierte.29 Zugleich wird deutlich, dass die moderne Polit-Performance dessen „Logik [der] Präsenzkultur“30 beerbt, dass in ihr „Reste der Magie des alten Königskörpers überdauern“.31 Mit märtyrerhafter Geste zeigt Fiesko beinahe wortlos nach dem fingierten Attentat Muley Hassans dem vor Schreck erstarrten Volk seinen (harmlos) blutenden Arm. Die dann einsetzende, vorhersehbare Empörung des Volks gilt noch dem Angriff auf den im höfischen Zeremoniell sakrosankten Körper des Herrschers. Weil Fiesko nur leicht verletzt ist und ansonsten noch „ganz“, wird paradoxerweise der blutende Arm dem Volk zum Zeichen der Unverwundbarkeit des Prätendenten, das heißt: zum Zeichen seiner Legitimität. Neben der massentheatralischen performance stellt das Drama dem alten Zeremoniell dann noch ein weiteres modernes, diesmal privates Ritual kontrafaktisch zur Seite: Bevor Fiesko die Glastür seines Saales öffnet, lautet die implizite Regieanweisung: „Ich mus mich im offenen dehnen.“ (NA, 4, 66, 34) Auf der Marbacher Tagung „Schiller, der Spieler“ (2009) hat Thomas Schmidt „Schillers Einspruch gegen eine körpertechnologisch orientierte Leibeskultur“32 im Kontext zeitgenössischer Leibesübungs-Konzepte erläutert. Am Beispiel der Bewegungslehre des Quedlinburger Philanthropen GutsMuths hat Schmidt die Geburt des homo gymnasticus aus dem Geiste Rousseaus und Winckelmanns nachgezeichnet. Der homo gymnasticus „weiß den [. . .] physischen Menschen [. . .] mit den

27 Matala de Mazza: „Body Politics“, S. 183. 28 Manow, Philip: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt/Main 2008, S. 134; auf Manow bezieht sich auch Matala de Mazza: „Body Politics“, S. 183. 29 Vgl. Alt, Peter-André: „Der Zeremonienmeister. Schillers politisches Theater und die Kontrafakturen des höfischen Rituals“. In: Alt, Lepper u. Raulff (2013), 161–187. 30 Stollberg-Rilinger, Barbara: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reichs. München 2008, S. 299, auch zit. bei Alt: „Der Zeremonienmeister“, S. 184. 31 Matala de Mazza: „Body Politics“, S. 183. 32 Schmidt, Thomas: „Ästhetisches vs. physisches Spiel. Der Dichter Schiller und der Leibespädagoge GutsMuths als Konkurrenten“. In: Alt, Lepper u. Raulff (2013), 262–279, S. 279. Zu Schillers „Abgrenzung von jedwedem leibgestützten Ganzheitskonzept“ (ebd., S. 273) vgl. besonders die Briefe Ueber die ästhetische Erziehung: „Durch gymnastische Uebungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freye und gleichförmige Spiel der Glieder die Schönheit.“; NA, 20, 327, 33–36.

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Mitteln der Vernunft durch ausgeklügelte Körpertechniken zu beherrschen“, er „bildet seinen Körper, um geistig leistungsfähig und moralisch gut zu sein“.33 Fieskos ‚Morgengymnastik‘ ist hingegen nicht auf die „Entschärfung der [im Leib] lauernden Bedrohungen für die Seele“34 ausgerichtet. Sie besetzt, tageszeitlich codiert, die Position des Levers, jenes höfischen Zeremoniells, das zum einen dem exklusiven, dabei machtlosen Publikum symbolische Teilhabe gewährte,35 zum anderen den tagtäglichen Auftakt für all die disziplinierenden Körperinszenierungen des höfischen Zeremoniells bildete, die den natürlichen Körper des Königs zum Verschwinden brachten. Fieskos morgendliche Dehnübungen finden dagegen privatissime statt und sprengen jegliches zeremonielles Korsett. „Der Harnisch, der des Pygmäen schmächtigen Körper zwingt, solte de r einem Riesenleib anpassen müssen?“ (NA, 4, 67, 6–8),36 fragt sich Fiesko, bevor er – es ist die Geste seiner „Schwungsucht“ (NA, 4, 64, 10) – mit „offnen Armen“ (NA, 4, 67, 10) dem Panorama der „majestätische[n] Stadt“ (ebd.) entgegeneilt. Was hier zelebriert wird, ist geradezu die Ermächtigung des Körpers. Moderne Selbstoptimierung beerbt die physische Selbstdressur im höfischen Zeremoniell.

3 Danse macabre Auf den ersten Blick erstaunlich: Fieskos Körperdehnung ist nicht die einzige Streckübung des Stücks. Als Fiesko Muley Hassan gestattet, ja ihn sogar anweist, die neue Zugehörigkeit öffentlich zu machen – wenn man ihn frage, solle er antworten, sein „Herr heisse Johann Ludwig Fiesko“ –, lautet die direkt folgende Regiebemerkung: „MOHR sich froh strekend.“ (NA, 4, 58, 30) Die Forschung hat es 33 Schmidt: „Ästhetisches vs. physisches Spiel“, S. 270. 34 Ebd. 35 Vgl. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. 5. Aufl. Frankfurt/Main 1990, S. 126–129. 36 Schon Jacob Friedrich Abel hatte in seiner Rede über das Genie (1776) zum Abschluss der Jahresfeiern der Akademie die „entnervten Zwergenseelen“ dem „Genie“ gegenübergestellt. Rede über das Genie. Werden große Geister geboren oder erzogen und welches sind die Merkmale derselbigen? Hg. v. Walter Müller-Seidel. Marbach/N. 1955, S. 13. Auch Schillers Rezeption von Graciáns El Héroe schlägt sich hier nieder: „Es stehe ein Held mit dem Glanz der Sonne auf. Immer hat er große Unternehmungen anzustreben, in den Anfängen aber die größten. Eine gewöhnliche Sache kann nicht zu außerordentlichem Ansehen führen, wie auch ein Pygmäen-Unternehmen nicht riesige Geltung zu beanspruchen vermag.“ Gracián, Baltasar: Der Held. Übers. v. Elena Carvajal Díaz u. Hannes Böhringer. Berlin 1996, S. 65. Vgl. Immer: Der inszenierte Held, S. 240. Schiller kannte Gracíans politische Verhaltenslehren wahrscheinlich aus Abels Lehrveranstaltungen. Vgl. dazu Alt: Schiller 1, S. 452–453.

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sich mit ihm lange leicht gemacht. Sie hat ihn, den „confiszirte[n] Mohrenkopf [mit der] Physionomie einer originelle[n] Mischung von Spizbüberey und Laune“ (NA, 4, 12, 4–5),37 kurzerhand zur komischen Figur, zur Verkörperung des naturhaft Bösen oder zur Verkörperung von Fieskos krimineller Seite erklärt.38 Iffland, der Theaterfuchs, wusste es – wie so oft – gleich besser. Er erkannte die Komplexität der Figur, der mit simpler Lavater’scher Physiognomie nicht beizukommen ist, mag der Eintrag im Personenverzeichnis das auch noch so sehr suggerieren. Er wies in seinem Gutachten darauf hin, dass „der ganze Mohr überhaupt“39 im gegenwärtigen Theater seinesgleichen suche. Erst Gerhard Kluge machte dann wieder stärker auf die Figur aufmerksam; trotz aller Shakespeare-Anleihen sei, so seine These, „der Mohr“ als „dramatische Rolle [. . .] ohne Vorbild“.40 Thomas Boyken hat ihm zuletzt, endlich, seinen historischen Kontext gegeben. Er reiht ihn ein in die bis ins achtzehnte Jahrhundert reichende Sklavereigeschichte.41 Muley Hassan selbst hatte im Übrigen an seiner Geschichte noch nie Zweifel aufkommen lassen: Bei der ersten Begegnung (er ist unterwegs mit Gianettinos Mordauftrag) mit Fiesko antwortet er auf dessen Frage „[W]er bist du?“ (NA, 4, 25, 34): „Ein Sklave der Republik.“ (NA, 4, 25, 35) Keiner spricht so häufig in Körper-Bildern wie Muley Hassan. Und er kennt seinen La Mettrie: „Aber nun hell auf Freund Haßan. In ein Weinhaus zuerst! Meine Füsse haben alle Hände voll zu thun – ich mus meinen Magen kareßieren,

37 „[C]onfiszirt[]“: „von verdächtigem, liederlichem Aussehen“; vgl. NA, 4, 426. 38 Für Hinderer wird in „Hassan [. . .] das ‚uneigentliche‘ Sein Fiescos auf einer unteren Ebene angespielt“; Hinderer, Walter: „,Ein Augenblick Fürst hat das Mark des ganzen Daseins verschlungen.‘ Zum Problem der Person und der Existenz in Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 230–274, S. 260, Anm. 193; Janz, Rolf-Peter: „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. In: Schillers Dramen. Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 2002, S. 68–104; Kluge: „Schauspielkunst“, S. 255–256; Alt: Schiller 1, S. 344. Noch in einer jüngst erschienenen Dissertation liest man: „Muley Hassan“ sei mit seiner „‚Physiognomie [sic] eine[r] originelle[n] Mischung von Spitzbüberei und Laune‘ eine amoralische Figur mit klamaukartigen Zügen“; Sander, Sarah: Literarische Selbstbeobachtung. Die politische Kommunikation des Geschichtsdramas im 18. Jahrhundert. Würzburg 2013, S. 167. Ein physiognomischer Kurzschluss aus dem Jahr 2013. 39 August Wilhelm Ifflands Gutachten zum Fiesko, 3. Dezember 1782; NA, 4, 258. 40 Kluge: „Schauspielkunst“, S. 256. 41 Boyken: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben“, S. 149–150. Allerdings hätte diese Kontextualisierung dann doch genauer ausfallen müssen, es fehlt der Hinweis darauf, dass Genua im sechzehnten Jahrhundert ein Monopol im Handel mit afrikanischen Sklaven besaß, (vgl. FA, 2, 1255), wobei auch der Kommentar der Frankfurter Ausgabe die historische Präzision des Stückes gleich wieder abschwächt und ohne Begründung behauptet: „[D]er Ausspruch des Mohren beleg[e] weniger diese historische Tatsache als einen politischen Widerspruch zwischen republikanischer Freiheit und Sklaverei.“ Ebd.

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daß er mir bei meinen Beinen das Wort redt.“ (NA, 4, 58, 31–34)42 „Der Mohr ist ständig in Aktion“,43 wie aus dem Nichts kommen seine Auftritte, ein Keuchen (vgl. NA, 4, 70, 4)44 ist seine Auftrittsmusik. Wie lauernde Raubtiere umkreisen sich Fiesko und Muley Hassan bei ihrem ersten Aufeinandertreffen. „MOHR sucht ihm näher zu kommen, Fiesko weicht aus.“; „MOHR rükt wieder näher.“; „MOHR [. . .] hart an ihm.“; „FIESKO springt auf die andre Seite.“; „MOHR wie oben. [= hart an ihm]“; „FIESKO retirirt sich wieder.“; „FIESKO tritt ihm vertraut näher.“; „MOHR [. . .] nistet sich hart an ihn. [. . .] Der Mohr geht laurend um ihn herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen.“; „FIESKO dreht sich geschikt, und fährt nach dem Arm des Mohren.“ (NA, 4, 26, 6–28) Dass dies an eine Tanzchoreografie erinnert, ist schon häufiger bemerkt worden. Doch mit den „Formfiguren des [höfischen] Balletts“,45 jenen aufwendigen Körperinszenierungen, die die Erinnerung an den natürlichen Körper durch mechanisierten, geometrischen Körpereinsatz auslöschen sollten, hat dieser ‚Raubtier‘-Tanz wohl weniger zu tun. Bereits als Karlsschüler hatte Schiller durch das Stuttgarter Theater neuere Tanzkonzepte kennenlernen können.46 Karl Eugens Chefchoreograf Jean-Georges Noverre (1760–1767) hatte seine Vorstellung vom Tanz als einer „getreue[n] Abbildung[] der schönen Natur“47 unter anderem mit neuartigen Kostümen – eng anliegenden Trikots – umgesetzt, die die „ästhetische Befreiung“48 des Körpers ermöglichen sollten. Trotzdem musste der Tanz, wie ihn Noverre in Anlehnung an die Malerei begriff, auf Übertreibung, auf Stilisierung des nachzuahmenden Natürlichen setzen, um verstanden zu werden.49 Schiller hat die sprechenden und malenden Gebärden des neuen Balletts vor Augen, und er nutzt diese Künstlichkeit des Natürlichen besonders für

42 „kareßieren“: Frz. caresser „liebkosen“; NA, 4, 461. 43 Kluge: „Schauspielkunst“, S. 255. 44 Akustisch baut sich hier das Klischee vom barbarisch-tierischen Körper auf. 45 Dies behauptet die insgesamt ungenaue, eher paraphrasierend angelegte Arbeit von Sander: Literarische Selbstbeobachtung, S. 168. 46 Darauf hat zuerst Peter Michelsen verwiesen: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers „Räubern“. Heidelberg 1979. Vgl. auch Darras, Gilles: L’âme suspecte, le corps complice. L’anthropologie littéraire dans les premières œuvres de Schiller. Paris 2005 und Guthrie: Schiller the Dramatist, S. 20. Vgl. außerdem Brandstetter, Gabriele: „,Die Bilderschrift der Empfindungen‘. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde“. In: Aurnhammer, Manger u. Strack (1990), 77–93. 47 Noverre, Jean-Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Aus dem Französischen übers. v. Gotthold Ephraim Lessing u. Johann Joachim Christoph Bode. Hamburg, Bremen [1769]. Hg. v. Kurt Petermann. München 1977, S. 3. 48 Alt: Schiller 1, S. 48. 49 Vgl. Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt, S. 26–27.

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die Choreografie des Pas de deux macabre zwischen Fiesko und Muley Hassan (Abb. 2). Doch hier tanzen nicht Gut und Böse miteinander, womöglich noch Fieskos ‚gute und böse Anteile‘,50 hier umkreisen sich lauernd der zukünftige Herrscherkörper und sein zum Barbaren entstelltes Spiegelbild.51 Der Sklave – sein sozialer Tod qua Geburt hat „ein monströses Leben [. . .] freigesetzt“.52 Muley Hassan ist ein „Geschöpf fremder Gattung“ (NA, 16, 8, 13); „Hurensohn der Hölle“ (NA, 4, 50, 19) nennt ihn Fiesko. Als das Andere der Zivilisation muss er unsichtbar bleiben (oder gemacht werden), deshalb taucht er im Stück so plötzlich auf, wird er hinaus ins Vorzimmer geschickt, muss sich verstecken und wird mit dem letzten ihm vor den Füßen landenden Geldbeutel aus dem Land geworfen. „[W]ild“ (NA, 4, 50, 22) tritt er auf, doch er ist nicht der „gute [. . .] Wilde aus den Sozialanthropologien des 18. Jahrhunderts“.53 Der „Barbar“, so Foucault, ist einer, der [. . .] sich nicht charakterisieren läßt und nur in Hinblick auf eine Zivilisation, von der er ausgeschlossen ist, beschrieben werden kann. Ein Barbar ist ohne einen zivilisatorischen Bezugspunkt [. . .] nicht denkbar. Ein zivilisatorischer Bezugspunkt [. . .], zu dem er in ein Verhältnis von Feindschaft und fortgesetztem Krieg tritt. [. . .] Der Barbar [. . .] ist der Mensch der Geschichte, der Plünderung und der Brandschatzung, er ist der Mensch der Herrschaftsausübung.54

Im gemeinsamen Tanz und in der gleichen raumgreifenden Geste des SichStreckens zeigt sich die bemerkenswerte Koalition zwischen Fiesko und Muley Hassan: Der Körper-Subtext macht die strukturelle Verwandtschaft zwischen

50 In diesem Sinne Hinderer: „Ein Augenblick Fürst“, S. 260, Anm. 193. 51 Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von: Vogl, Joseph u. Ethel Matala de Mazza: „Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie“. In: Vom Sinn der Feindschaft. Hg. v. Christian Geulen, Anne von der Heiden u. Burkhard Liebsch. Berlin 2002, 207–217. 52 Ebd., S. 208. 53 Ebd., S. 214. 54 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Übers. v. Michaela Ott. Frankfurt/Main 1999, S. 225–227. Dies darzustellen, gab die reale Theaterpraxis in Mannheim wohl nicht her, wie Dalbergs Aufführungskritik erahnen lässt: „Vorzüglich wirkte Herrn Bei l s natürliches, wahres Spiel und Haltung der Rolle des Mohren bis zum Ende.“ Protokoll des Kurfürstlichen HoftheaterAusschusses, datiert auf den 14. Januar 1784; NA, 4, 274. Kluge: „Schauspielkunst“, S. 255 nennt als „Ursprünge und Heimat des Mohren“ den „Mimus“. Er sieht in ihm die Ausnahme zur „anthropologisch fundierten Schauspielkunst in Schillers ersten Dramen“. Ob diese allerdings für Fiesko überhaupt so relevant ist, wie in den letzten Jahrzehnten immer wieder behauptet, soll in meinem Beitrag hinterfragt werden, geht es doch viel weniger um „Psychologie“ und den „dramatischen Charakter“, so Kluge, als um Techniken und Choreografien der Macht. Vgl. Alt: „Der Zeremonienmeister“, S. 187.

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Abb. 2: „Herr? – das ist wider die Abrede.“ Der gefolterte Muley Hassan in der Inszenierung von Frank Behnke am Theater Münster, Spielzeit 2015/16 (Muley Hassan: Bálint Tóth, Fiesko: Jonas Riemer, Fotograf: Oliver Berg).

Verbrecher und Despot sichtbar, die, wie Foucault gezeigt hat,55 in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts „zum Politikum“56 wurde. So ähneln sich auch ihre Strategien: Beide sind Meister moderner Arkanpolitik, die panoptische Strukturen an die Stelle der alten Antichambre-Techniken setzt. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen, und der ist im Text durch Tierbilder markiert: Nur Fiesko wird im Drama zum „Wolf“ (NA, 4, 119, 9) erklärt, Muley Hassan nennt sich selbst „Marder“ (NA, 4, 70, 16) oder „Maus“ (NA, 4, 70, 29).57 Fiesko nimmt sich das Recht, „[u]nter den Bürgern [. . .] der

55 Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen (Les Anormaux). Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Übers. v. Michaela Ott. Frankfurt/Main 2003, S. 124–125. 56 Vogl u. Matala de Mazza: „Bürger und Wölfe“, S. 215. 57 Verbindet man sonst mit Fiesko den Löwen, da er sich selbst in der Fabel (vgl. NA, 4, 49, 6–50, 15) mit ihm identifiziert, erklärt ihn Verrina in der Ermordungsszene – wie Gianettino – zum Wolf: „Und Abreissen ist doch sonst deine schlechteste Kunst nicht, davon weiß das Lamm Republik zu erzählen, das du dem Wolf Doria aus dem Rachen nahmst – es selbst aufzufressen.“; NA, 4, 119, 7–9.

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einzige Wolfsmensch“58 zu sein, deshalb kann er auch über den Körper Muley Hassans verfügen, ihn zunächst hierhin und dorthin schicken und dann der Folter überantworten: FIESKO [. . .] Du wirst geschleift werden. [. . .] MOHR sechs Schritte zurük. Herr? – das ist wider die Abrede. FIESKO. Sei ganz ruhig. Es ist nichts mehr denn ein Possenspiel. [. . .] Man wird dich peinlich verhören. MOHR. Ich bekenne dann oder läugne? FIESKO. Läugnest. Man wird dich auf die Tortur schrauben. Den ersten Grad stehst du aus. Diese Wizigung kannst du auf Konto deines Meuchelmords hinnehmen. Beim zweiten bekennst du. [. . .] Ich werde mir deine Bestrafung zur Genugthuung ausbitten, und dich (NA, 4, 50, 25–51, 7) dann vor den Augen der ganzen Republik pardonnieren!59

Die Folter, dieses „organisierte[] Ritual“60 mit all seinen „strengen Spielregeln“,61 macht den „Körper des Verurteilten [. . .] zum Ort der souveränen Rache, der offenbarten Macht und der Asymmetrie der Kräfte“.62 Indem er Muley Hassan begnadigt, besetzt Fiesko lange vor seinem Monolog an der geöffneten Glastür die Position des Souveräns: Der nämlich ist „bei der Hinrichtung nicht nur als die Macht, die das Gesetz rächt, gegenwärtig, sondern auch als die Macht, die sowohl das Gesetz wie die Rache suspendieren kann. Er allein vermag die ihm zugefügten Beleidigungen zu tilgen.“63 Fiesko höhlt auch dieses Ritual aus, indem er es als wohlkalkuliertes „Possenspiel“ (NA, 4, 50, 29) in die massentheatralische performance einbindet. Und Muley Hassan? Auch hier erweist er sich als Körper-Spiegel-Bild der modernen Macht: Er verschiebt die Bedeutung des Rituals, das seinen Körper beschädigen wird, für sich ins Private: „Ich lasse mirs gefallen. Sie werden mir das Gelenk auseinander treiben. Das macht geläufiger.“ (NA, 4, 51, 8–9) Folter

58 Vogl u. Matala de Mazza: „Bürger und Wölfe“, S. 215. 59 „Im 18. Jahrhundert ist die Gerichtsfolter Element jener sonderbaren Ökonomie, in der das Ritual der Wahrheitsermittlung mit dem Ritual der Bestrafung auf gleichem Fuße steht. Der in der Marter befragte Körper ist Zielscheibe der Züchtigung und Ort der Wahrheitserpressung. Und wie der Verdacht Untersuchungselement und Schuldfragment in einem ist, so bildet der Schmerzkalkül der Folter zugleich eine Strafmaßnahme und einen Ermittlungsakt.“ Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main 1977, S. 57. 60 Ebd., S. 47. 61 Ebd., S. 55. 62 Ebd., S. 73. 63 Ebd., S. 70–71.

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als Selbstoptimierungsübung. Beim nächsten Zusammentreffen von Fiesko und Muley Hassan verlieren sie über diese „Komödie“ (NA, 4, 51, 4) kein Wort mehr, wohl aber endet diese Szene mit der bereits erwähnten Regiebemerkung: „MOHR sich froh strekend.“ (NA, 4, 58, 30) Letztlich bleibt Muley Hassan, und wenn er sich noch so sehr Zutritt und Handschlag – Vermenschlichung – erhofft, was er als Barbar für die Zivilisierten zu sein hat, „bloßes, tötbares Leben“.64 Stand(un)rechtlich lässt Fiesko ihn aufhängen, besetzt damit abermals die Position des Souveräns, der „das exklusive Recht“ hat: „sterben zu machen“. Zum Herzog hat er sich da noch nicht einmal ausgerufen. Verrina kommt als Einziger (im letzten Gespräch mit Fiesko) auf den gehängten Muley Hassan zurück: „Nur im Vorbeigehen Herzog, sage mir, was verbrach denn der arme Teufel, den ihr am Jesuiterdom aufknüpftet?“ (NA, 4, 119, 10–11)65 Die Ermordung Muley Hassans geht der Ermordung Leonores unmittelbar voraus. Beide sind aufeinander bezogen, sie gehören zusammen: dort der baumelnde Körper des Heiden, des Monsters, des Barbaren, des exkludierten Menschentums; hier der tote, männlich verhüllte Körper der Frau. Die neue liaison des scènes entsteht in diesem Moment auf dem Theater im Akt des Sehens (Lesens) von Körperbildern, das heißt: im Bildgedächtnis der Zuschauer.

4 „Haare und Republiken!“ Schillers Drama arbeitet, so wollte ich bislang zeigen, mit einem dichten Netz aus Körper-Bildern, die aufeinander verweisen. Ein letztes Beispiel soll dies noch einmal veranschaulichen. Im dritten Akt platzt Fiesko in eine Unterredung zwischen Gianettino und der Gräfin, die er auf offener Bühne zudringlich zu berühren beginnt. In dieser bisher von der Schiller-Forschung unbeachteten Szene, die beinahe

64 Vogl u. Matala de Mazza: „Bürger und Wölfe“, S. 216; die folgenden Zitate ebd., nach Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main 1977, S. 165. 65 Tatsächlich hat Fiesko auch sein Muley Hassan gegebenes Versprechen gebrochen, ihn keinesfalls an eine „christliche Kirche“ (NA, 4, 111, 20), sondern an einen „eigenen Galgen“ (NA, 4, 111, 21–22) zu hängen. Siehe dagegen Immer: Der inszenierte Held, S. 252: „[D]er Mohr [findet] seinen Tod schließlich an einem eigens für ihn errichteten Galgen.“

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ausschließlich aus impliziten und expliziten Regiebemerkungen besteht, macht Fiesko an Julias Körper sein Machtbegehren sichtbar: FIESKO tritt zu Julien, küßt ihr respektvoll die Hand [. . .]. JULIA [. . .] ich erschreke an meinem Neglischee. Verzeihen Sie Graf. will in ihr Kabinet fliegen. FIESKO. O bleiben Sie schöne gnädige Frau. Das Frauenzimmer ist nie so schön, als im Schlafgewand lächelnd es ist die Tracht seines Gewerbes – Diese hinaufgezwungene Haare – Erlauben Sie, daß ich sie ganz durcheinanderwerfe. [. . .] FIESKO unschuldig gegen Gianettino. Haare und Republiken! Nicht wahr, das gilt uns (NA, 4, 80, 19–31) gleichviel?66

„Haare und Republiken! Nicht wahr, das gilt uns gleichviel?“ – dies ist die unverhohlen sexuelle Variante der Bertha-Erzählung, und wohl deshalb wurde sie für die Mannheimer Bühnenfassung zusammengestrichen und entschärft.67 Bertha – zunächst von Gianettino vergewaltigt, dann, die Haare „vom Trauerflor“68 bedeckt, durch den Vater „[m]it dem doppeldeutigen Wort ‚verblinde!‘ [. . .] in die Unsichtbarkeit“69 verbannt – verkörpert das bekannte Muster, das Verrina mit

66 Weiter heißt es: „Und auch dieses Band ist falsch angeheftet [. . .]. Lassen Sie mich Ihre Kammerfrau seyn. sie sezt sich, er macht ihr den Anzug zurecht. [. . .] an Juliens Busen beschäftigt. Sehen Sie – dies e s versteke ich weislich. Die Sinne müssen immer nur blinde Briefträger seyn, und nicht wissen was Phantasie und Natur miteinander abzukarten haben“; NA, 4, 80, 31–81, 5. Für Gianettino undurchsichtig, macht Fiesko an Julias Körper seine Arkan-Strategien sichtbar. Ihre Fortsetzung und ihren Höhepunkt findet diese Szene bekanntlich in Julias öffentlicher sexueller Demütigung durch Fiesko, an deren Ende sie schließlich abgeführt, das heißt durch ihre Inhaftierung unsichtbar gemacht wird. Gewissermaßen präludiert wird die konkrete Übergriffigkeit durch die Bildbetrachtung in der Szene mit dem Maler Romano (NA, 4, 59–62), wenn sich Fiesko, anders als von Verrina intendiert, „nicht mit dem Blick des erzürnten Vaters auf den zu ermordenden Tyrannen [identifiziert], sondern mit dem Blick des Tyrannen selbst auf den begehrenswerten Körper der Tochter“. Lüdemann, Susanne: „Revolution nach römischem Vorbild: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Hg. v. Albrecht Koschorke, ders. u. a. Frankfurt/Main 2007, 299–306, S. 305. „FIESKO Diesen Römerkopf findest du bewundernswerth? Weg mit ihm. Hier das Mädchen blik an. Dieser Ausdruk wie weich? wie weiblich! Welche Anmuth auch aus den welkenden Lippen? Welche Wollust im verlöschenden Blik?“; NA, 4, 61, 7–10. 67 Vgl. dazu Stephan, Inge: „Das Haar der Frau. Motiv des Begehrens, Verschlingens und der Rettung“. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. v. Claudia Benthien u. Christoph Wulf. Reinbek bei Hamburg 2001, 27–48, S. 31. 68 Geulen: „Schillernde Eide“, S. 265. 69 Ebd.

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dem Hinweis auf Virginia auch noch einmal explizit aufruft: Weibliche Keuschheit erhält politischen Zeichenwert, der vergewaltigte Körper der Tochter ist der von unlegitimierter Gewalt heimgesuchte Körper des Gemeinwesens. Julias durcheinandergebrachtes Haar signalisiert dagegen Promiskuität70 und erhält ebenfalls politischen Zeichenwert: Das wankelmütige Genua wird zugerichtet für die feindliche Übernahme.71 Haare tauchen dann im Stück noch einmal an prominenter Stelle auf. Als Andreas Doria, statt zu fliehen, um die Möglichkeit der Rückkehr nach Genua bittet, bekräftigt er dies mit einem magisch-metonymischen Körperzeichen: [N]imm diese eisgraue Haarloke mit – Sie war die Lezte, sagst du, auf meinem Haupt, und ging los in der dritten Jennernacht, als Genua losriß von meinem Herzen, und habe achtzig Jahre gehalten, und habe den Kahlkopf verlassen im achtzigsten Jahre – die Haarloke ist mürbe, aber doch stark genug, dem s c hl anke n J ü ng l in g den Purpur zu knüpfen. (NA, 4, 116, 33–117, 3)

Von jeher ist das männliche Haar Symbol männlicher Kraft.72 Die letzte Haarlocke ist, so der von Doria hier begründete Mythos, just in dem Moment ausgefallen, als Genua sich von seinem, so die Botschaft, einzig legitimen Souverän lossagte. Als sichtbares, magisch-reliquienartiges Zeichen auf den Weg gebracht, repräsentiert sie also zunächst den Machtverlust des Souveräns, dann den nun vaterlosen, gefährdeten kollektiven Körper und zuletzt den ungebrochenen Herrschaftsanspruch. Kein Fiesko-Kommentar konnte bislang klären, wer mit dem „schlanken Jüngling “ (NA, 4, 117, 3), dem die Haarlocke den „Purpur [. . .] knüpfen“ (ebd.) will, gemeint sein könnte. Ich lese ihn als die (noch leere) Figuration des dynastischen Prinzips, das Andreas Doria restituieren will und wird. Die „eisgraue Haarloke“ erinnert zudem an das Gemälde des Malers Romano, das Verrina Fiesko präsentiert. Auf dem Bild ist der vor Kummer „eisgraue[] Vater“ (NA, 4, 60, 36) der Virginia zu sehen, der die Vergewaltigung seiner Tochter rächen will und zum Tyrannenmörder wird. Andreas Doria

70 „[M]ein Wild“ (NA, 4, 98, 14), nennt Fiesko, der selbst legitimierte Wolfsmensch, die Gräfin. 71 Visuell (Julias wirre Haare) und räumlich (Berthas Verbannungsort ist der Kerker, die ‚Unterwelt‘, vgl. Geulen: „Schillernde Eide“, S. 265) markiert, lassen sich beide, Julia und Bertha, auch als Furien-Gestalten identifizieren. 72 Vgl. Stephan: „Das Haar der Frau“, S. 27.

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integriert am Ende also, als Vaterfigur, sogar republikanische Befindlichkeiten. Die Rückkehr Verrinas „zum Andreas“ (NA, 4, 121, 11) wird damit nicht zuletzt über das Körperzeichen plausibilisiert.

5 Körper-Erzählungen Das Sich-Strecken, die Tanzchoreografie und die Haar-Inszenierungen waren kinesische, proxemische und haptische Beispiele, an denen der Subtext des Körpers in Schillers frühem Drama punktuell sichtbar werden sollte. Es ließen sich unschwer Narrative etwa von Kniefällen, Handberührungen und deren Verweigerung, von Körperverrenkungen und Ver- und Enthüllungen anfügen. Schiller hat dabei vorwiegend konventionelle Gebärden im Gepäck, er bedient sich bei höfischer Oper, bei den Sturm-und-Drang-Kollegen und den Stilisierungskonzepten des neuen Balletts.73 So konventionell die Gesten, so unkonventionell dann jedoch ihre Kombination, ihre Variationen, die gegenseitigen Relativierungen und Kommentierungen. Es geht Schiller nicht (mehr) – und da mag die auch für Fiesko immer wieder bemühte „Vorrede“ zu den Räubern ruhig etwas anderes behaupten – darum, „die Seele [. . .] bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“ (NA, 3, 5, 4). Hier ist kein ‚philosophischer Arzt‘ am Werk, der die „Seele buchstäblich ‚zur Rede stellen‘ und zur Preisgabe ihrer Geheimnisse zwingen“ will.74 Fiesko ist kein „psychologisches Drama“,75 „differenzierte Abläufe seelischer Prozesse“76 werden höchstens angetäuscht. Deshalb braucht es auch keinen ‚echten‘ Helden. Schillers ergebnislose Suche nach einem ordentlichen Schluss ist dann nur konsequent. Was Schiller dagegen sucht, ist eine neue Rhetorik des Theatralen.

73 Vgl. dazu Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt; Kluge: „Schauspielkunst“, S. 249. Oder auch: „[T]here is a strong tendency in the gestural language of Fiesko to use ready-made gestures that apply to a wide range of characters and to reduce the element of psychological differentiation“ [Hinsichtlich des Gebrauchs von Gestus im Fiesko lassen sich zwei auffällige Tendenzen erkennen: zum einen der häufige Einsatz von vorgefertigten Gesten, die zu einer Vielzahl von Figuren passen; zum anderen die Reduktion der psychologischen Differenzierung]. Guthrie: Schiller the Dramatist, S. 81; eigene Übersetzung. Hingegen habe ich versucht zu zeigen, dass das Choreografische der Dramaturgie gerade durch die Analogien der Gesten erzeugt wird. 74 Vgl. dagegen Darras: „Mit Leib und Seele“, S. 70 u. 73. 75 Meier: „Des Zuschauers Seele am Zügel“, S. 43. 76 Kluge: „Schauspielkunst“, S. 253.

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So entstehen, nicht unbedingt chronologisch, Bilderfolgen jenseits der traditionellen liaison des scènes. Für den Don Carlos hat Johannes F. Lehmann im Anschluss an Kluge konstatiert,77 der Text simuliere, „für eine Bühne geschrieben zu sein, freilich für eine imaginäre Bühne im Kopf des Lesers“.78 Für die reale Bühne, etwa in Mannheim, funktionierten Schillers dramaturgische Ideen jedenfalls sicherlich nicht. Bereits im Schreibprozess selbst ist diese Tendenz zum ‚Lesedrama‘ angelegt.79 Zu Beginn der Arbeit an einem Drama, so erinnert sich Streicher, schrieb Schiller, nach gründlicher Recherche, wenn er dann „endlich den Plan im Gedächtniß gänzlich entworfen hatte, [. . .] den Innhalt der Acte und Auftritte in derselben Ordnung wie sie folgen sollten, aber so kurz und troken nieder, als ob es eine Anleitung für den KoulissenDirector werden sollte“ (NA, 4, 245). An seinen Fragmenten wird diese Methode sehr anschaulich. Schillers Bühnenkunst kommt also vom Narrativ her – in den Regiebemerkungen ist davon etwas aufgehoben.80 Fiesko endet mit dem üblichen schockstarren Tableau: „Alle bleiben in starren Gruppen stehn. Der Vorhang fällt.“ (NA, 4, 121, 12) Doch so ist es nicht vollständig: In Schillers zweitem Drama gibt es geradezu eine Inflation von Schlussbildern, ihre Zusammenschau aber ist Sache des Zuschauenden beziehungsweise des Lesenden: Muley Hassan hängt an der Jesuiterkirche, Leonores Leiche liegt unter dem scharlachfarbenen „Mantel“ (NA, 4, 111, 34), im Wasser schwimmt der Purpur des Herzogs,81 und am Horizont entfernt sich das Schiff

77 Ebd., S. 246–247. 78 Lehmann: „Situation, Szene, ‚Tableau‘“, S. 225. 79 Vgl. Schillers Erinnerung an das Publikum: „Warum ich aber jezt meiner eigenen Ersten Schilderung widerspreche, die den Grafen durch seine Herrschsucht umkommen läßt, ist eine andere Frage. [. . .] Vielleicht [. . .], daß ich für den ruhigen Leser, der den verworrensten Faden mit Bedacht auseinander löst, mit Fleis anders dichten wollte, als für den hingerissenen Hörer, der augenblicklich geniesen muß [. . .].“; NA, 4, 271. 80 Vgl. dazu schon Kluge: „Schauspielkunst“, S. 246: „In allen frühen Dramen Schillers finden sich Stellen, wo Regieanweisungen [. . .] so völlig in den Kontext integriert sind, daß man sie auch als Kommentar eines auktorialen Erzählers innerhalb eines dramatischpsychologischen Romans lesen könnte. Sie sprengen nicht die Illusion des Lesers, dienen der Spannungsbildung auf einer ‚inneren Bühne‘ [. . .].“ Vor dem Hintergrund der bislang gemachten Beobachtungen muss meines Erachtens allerdings gerade das illusionssprengende Moment stark gemacht werden. 81 Die Devestitur hier als das grotesk-brutale Gegenstück zur ausgefallenen Investitur; vgl. dazu Werber: „Technologien der Macht“, S. 233.

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mit Bertha, als könne die Idee des Gemeinwesens als Flaschenpost gerettet werden (vgl. NA, 4, 111–112 u. 120). Schiller setzt für sein Theater auf Simultaneität, die sich im ‚denkenden Auge‘ des Zuschauers oder Lesers ereignet – wie er es später in der Polizey am radikalsten angedacht hat. Er fordert den Zuschauer nicht als Psychologen, schon gar nicht als Physiognomen. Seine Dramaturgie setzt auf den Zuschauer mit Bildgedächtnis. Aus konventionellen, ja formelhaften Gesten generiert Schiller, indem er sie neu arrangiert, ein Geflecht von Körpererzählungen, eine Choreografie von Ermächtigung und Entmachtung.82

82 Ähnlich beobachtet, aber in einen völlig anderen Zusammenhang gebracht bei Koopmann, Helmut: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. dems. 2. Aufl. Stuttgart 2011, 373–383, S. 382: „[H]ier ist Funktionalität das oberste dramaturgische Prinzip, und um der Funktionalität willen wird vieles arrangiert, was sonst eher zu den Nebensächlichkeiten gehört hätte, aber nun im Verbund höchst theatralischer Wechselwirkungen steht.“ Auch Koopmann liest Fiesko freilich als „Charakterstudie“; ebd., S. 373.

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Schillers Szenografien Raumbildende Prozesse in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua Am 4. Mai 1786 schreibt Anna Louisa Karsch an Friedrich Schiller, sie habe Die Verschwörung des Fiesko zu Genua gesehen, jedoch ohne rechte Ergriffenheit: „[I]n der Verschwörung sol ich auff den engen raum der Bühne, mir die ganze Republik Vorstellen, und finde daß die Sache zu weitfeldig ist [. . .].“ (NA, 33.I, 98) Karschs Brief bleibt unbeantwortet. Ihre Beobachtung gibt jedoch Anlass für Überlegungen, die einen bedeutenden Aspekt von Schillers Theaterpraxis betreffen: die Inszenierung von Raum im Bühnenraum. Denn Karschs Bemerkung lässt sich nicht nur als Kritik an der oftmals vermerkten brüchigen, verzweigten und unentschlossenen Dramaturgie von Schillers zweitem Drama verstehen. Die aus der „[W]eitfeldig[keit]“ folgenden „Orientierungsprobleme“1 im Drama, wie sie Erich Kleinschmidt bezeichnet, lassen sich auch, so meine These, wörtlich nehmen und auf die Raumdisposition in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua beziehen. Aus dieser Perspektive wird der desorientierende Raum des Dramas nicht als mangelhafte, sondern als strategische Szenografie der Verschwörung verständlich. Schillers Raumdarstellung, die auf einen gezielten Einsatz von Bühnenbild, Theatermaschinerie, Beleuchtung, Klang und Bewegung referiert,2 dient einer Inszenierung von Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit. Damit wird das Thema der Verschwörung als verdeckte Operation vieler Akteure räumlich in Szene setzt. Die Einbeziehung der theaterpraktischen Bezüge eröffnet so neue Perspektiven auf den dramatischen Text. 1 Kleinschmidt, Erich: „Brüchige Diskurse. Orientierungsprobleme in Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2001), 100–121. 2 Eine der wenigen Forschungsarbeiten in diesem Feld stellt die Dissertation von Kuntz aus dem Jahr 1979 dar, die jedoch kaum Echo fand. Kuntz stellt fest: „[K]ein theatralisches Mittel bleibt von ihm [Schiller] ungenutzt: die gesamte Bühnenmaschinerie, akustische Effekte, die Beleuchtung, das Bühnenbild und seine wirkungsvolle Bespielung werden gezielt eingesetzt. Die Dramen sind sprachlich wie in der Spielführung der Personen bewusst auf die szenische Aufführung ausgerichtet.“ Kuntz, Marietta: Schillers Theaterpraxis. Zürich 1979, S. 2. Während Kuntz die Nutzung des Bühnenraums in Schillers Dramen als Teil des theaterbezogenen Handwerkszeugs Schillers untersucht und die diegetische Funktion der Schauplätze weitgehend außer Acht lässt, möchte ich die Raumdarstellung nicht nur als Theatereffekt, sondern auch als textuelle Strategie beschreiben. https://doi.org/10.1515/9783110667066-005

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Spätestens seit dem Topographical Turn in den 1990er Jahren ist es literaturwissenschaftlicher Common Ground, dass nicht nur Zeit ein Faktor ist, der literarische Texte maßgeblich organisiert, sondern auch Raum. Untersuchungen der spezifischen medialen Bedingungen, unter denen dramatische Texte Raum entwerfen, stellen jedoch immer noch ein Desiderat dar. Die Produktion von Raum in dramatischen Texten unterscheidet sich durch den gattungsspezifischen Bezug auf die theatrale Aufführung fundamental von der in Prosatexten: Der dramatische Text entwirft nämlich sowohl den Schauplatz der Handlung (dramatischer Raum) als auch eine Bühne, auf dem dieser Schauplatz zu einer (imaginären) Aufführung kommt (szenischer Raum). Dramentexte funktionieren insofern intermedial: Sie verweisen im Medium des Textes auf das Medium der Aufführung. Dramen zu lesen, erfordert ein imaginäres Dramenschauen. So stellt August Wilhelm Schlegel fest: „Wir sind schon darauf geübt, beym Lesen dramatischer Werke uns die Aufführung hinzu zu denken“.3 Daher betrachte ich auch den Nebentext, zentrales Instrument der Raumdarstellung, in einer doppelten Funktion: als präskriptive beziehungsweise regulative Vorgabe für die Bühne und als imaginative Anleitung für die Leserezeption.4 Im Folgenden möchte ich unter Berücksichtigung der historischen Theaterpraxis untersuchen, mit welchen spezifischen medialen beziehungsweise intermedialen Techniken die Erstdruckfassung von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua den Raum entwirft, wenn notwendig mit einem Seitenblick auf die Mannheimer Bühnenfassung. Schillers Bereitschaft, sein zweites Drama mehrfach umzuschreiben, um es für die Mannheimer Bühne aufführungsreif zu machen, belegt seine starke Orientierung an der Theaterpraxis. Die Verschwörung des Fiesko zu Genua gilt als „Theaterexperiment“,5 dem es, so Helmut Koopmann, weniger um die Verhandlung der republikanischen Idee, sondern – und nur dies erkläre das Durchdeklinieren der verschiedenen Schlüsse – vor allem

3 Schlegel, August Wilhelm: Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Erster Theil. Heidelberg 1809, S. 34. 4 Nebentexte als Instruktionen für die reale Theateraufführung, als Anweisungen des Dramenautors für Regisseur, Dramaturg, Schauspieler, aufzufassen, hat eine lange Forschungstradition, mit der allerdings ebenso theoretische wie praktische Probleme einhergehen. Jedoch mehren sich seit einigen Jahren auch diejenigen Stimmen, welche die Funktion des Nebentextes in erster Linie für die Lektüre betonen, also nicht die instruktive, sondern die assertive Dimension des Nebentextes betonen. vgl zusammenfassend: Tonger-Erk, Lily: „Das Drama als intermedialer Text. Eine systematische Skizze zur Funktion des Nebentextes“. In: Hauptsache Nebentext! Regiebemerkungen im Drama. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2018) H. 3, 421–444. 5 Koopmann, Helmut: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. dems. Stuttgart 1998, 354–364, S. 361–363.

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um eines geht: die Wirkung auf den Zuschauer. Weshalb man das Drama denn auch nicht „mit tiefsinnigen Interpretationen überfrachten“6 solle. Eine solche Diskrepanz zwischen theatraler Wirkungsorientierung und thematischer Stringenz des Dramas scheint mir jedoch nicht auf der Hand zu liegen. Vielmehr möchte ich einerseits die theaterbezogenen Techniken der Raumdarstellung in ihrer audiovisuellen Wirkungsbezogenheit erläutern und sie andererseits in Bezug auf das verhandelte Thema der Verschwörung funktionalisieren. Dazu werde ich nach einem kurzen Exkurs in die Raum-Theorie (1) vor dem Hintergrund des theaterhistorischen Kontexts (2) und dem intermedialen Setting (3) exemplarisch drei herausragende Techniken der Raumproduktion aufzeigen: Optik (4), Bewegung (5) sowie Akustik (6).

1 Raum-Theorie Während die Theaterwissenschaft dem Raum einen zentralen Stellenwert in ihrer Theoriebildung zuweist – als einer von drei aufführungskonstitutiven Kategorien (Darsteller, Zuschauer, Raum)7–, verfügt die Literaturwissenschaft noch immer über keine konsistente Terminologie, um den Raum im dramatischen Text zu beschreiben,8 und greift behelfsmäßig auf die der Theaterwissenschaft zurück.9 Der Theaterwissenschaftler Christoph Balme unterscheidet begrifflich vier Räume: den dramatischen Raum („im Theatertext niedergelegte Raumsemantik“10), den szenischen Raum (Bühnenraum), den theatralen Raum (Theatergebäude) sowie den ortsspezifischen Raum (Aufführungsort/Lebensraum des Publikums).11 Diese Terminologie überträgt Janine Hauthal auf das „literarische Drama“12 und unternimmt damit den bislang ersten und einzigen deutschsprachigen Versuch einer 6 Koopmann: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“, S. 362. 7 Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. Aufl. Berlin 2014, S. 121. 8 Vgl. hingegen zum Raum in narrativen Texten: Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes. Berlin u. New York 2009. 9 Vgl. Friedrich, Sabine: „Raum und Theatralität“. In: Handbuch Literatur und Raum. Hg. v. Jörg Dünne u. Andreas Mahler. Berlin u. Boston 2015, 105–114; Dünne, Jörg, Sabine Friedrich u. Kirsten Kramer (Hg.): Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Würzburg 2009. 10 Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 152. 11 Vgl. ebd. 12 Hauthal, Janine: „Von den Brettern, die die Welt bedeuten, zur ‚Bühne‘ des Textes: Inszenierungen des Raumes im Drama zwischen mise en scène und mise en page“. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hg. v. Wolfgang Hallet u. Birgit Neumann. Bielefeld 2009, 371–397, S. 372.

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begrifflichen Systematisierung des Raums im dramatischen Text. Hauthal schreibt dem dramatischen Text drei Raumdimensionen zu: (1) den dramatischen Raum als fiktiven oder imaginären Schauplatz der Handlung, (2) den im Text entworfenen szenischen Raum (den Bühnenraum bzw. das Bühnenbild) oder (3) den theatralen Raum, d. h.die einem Theatertext implizit eingeschriebene Bühnenform bzw. Architektur des Aufführungsortes.13

Vorsicht ist allerdings insofern geboten, als eine simple Übertragung der theaterwissenschaftlichen Begriffe der medienspezifischen Raumproduktion des dramatischen Textes nicht gerecht wird. Denn dramatischer und szenischer Raum sind im Dramentext nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden. Zudem lässt Hauthals Modell den symbolischen Raum außer Acht, der im dramatischen Text in eine Interaktion mit dem dramatischen und szenischen Raum tritt. Hinzuweisen ist nicht zuletzt auf die Prozessualität der Raumproduktion, die Norbert Otto Eke, Ulrike Haß und Irina Kaldrack in ihrem Buch Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater beschreiben.14 Die prozessuale Entstehung von Räumen durch performative Praktiken sehe ich nicht nur im Theater, sondern auch im Text am Werk: in der Szenografie.

2 Theaterlandschaft: Konvenienz vs. Wunsch-Theater In den 1770er Jahren lässt sich im Zuge des Angriffs auf die klassizistische Dramenpoetik ein revolutionärer Umbruch in der Dramaturgie des Orts beobachten, der in seinen massiven Folgen für die Dramatik bislang kaum gewürdigt wurde. Als Schiller Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 1783 in den Druck gibt, hat sich eine Lockerung der pseudo-aristotelischen Einheit des Ortes bereits durchgesetzt; sie erscheint jedoch für das Publikum noch bemerkenswert, für den Dramatiker rechenschaftspflichtig, für den Theater-Maschinisten als eine technische und für die Bühnenleitung als eine finanzielle Herausforderung. In Die Verschwörung des Fiesko zu Genua entwirft der Nebentext dreizehn verschiedene Schauplätze in rascher Folge und ohne sich an die fünf Aufzüge als traditionelle Einheiten des

13 Ebd., S. 371–372. 14 Eke, Norbert Otto, Ulrike Haß u. Irina Kaldrack (Hg.): Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014.

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Bühnenbildwechsels zu halten:15 Zu sehen sind verschiedene, teils prächtige Palastsäle, Palastzimmer mit Ausblick über ganz Genua, ein nächtlicher Schlosshof, ein einszeniges Intermezzo in einer „Furchtbare[n] Wildniß“ (NA, 4, 65, 2) und zum Finale eine „Große Strasse in Genua“ (NA, 4, 103, 2), die schließlich den Blick auf Genuas Hafen freigibt. Das sind – zum Vergleich – deutlich mehr Schauplatzwechsel, als sich Lessing erlaubt, und deutlich weniger, als Goethe in seiner Sturm- und Drangzeit produziert. Lessings Emilia Galotti (1772), deren Lektüre-Echo sowohl in Die Räuber als auch im Fiesko widerhallt,16 beschränkt sich noch auf eine Handvoll wechselnder Innenräume. Die mutigeren Szenenwechsel in Lessings Nathan der Weise scheinen bereits – wie 1781 in der Litteratur- und Theater-Zeitung – verteidigt werden zu müssen: Wir sind, wie ich glaube, [. . .] mit Recht von dem Gehorsam unter das Gesetz der strengen Einheit des Orts, unter welches ein Aubignac und andre die dramatischen Dichter zwingen wollten, zurückgekommen. Daß die Einheit der Handlung unverbrüchlich beobachtet werden muß, hat seine Richtigkeit [. . .]. Allein die strenge Foderung [sic], die ganze Währung des Stücks hindurch immer den nemlichen Saal, das nemliche Zimmer, oder den nemlichen Platz zur Scene zu behalten, müßte den Dichter in eine unerträgliche Verlegenheit setzen, und den Zuschauer um die schönsten Erfindungen bringen.17

Der massive Umbruch in der Dramaturgie des Orts stößt jedoch nicht überall auf Applaus. So kommentiert Sulzer die jüngere Entwicklung der „Scene“,18 also des „Ort[s], wo die Handlung des Schauspiehls vorfällt“, kritisch: Während griechische Trauerspiele ihre Handlung auf einen einzigen, unveränderlichen – und eben deshalb umso sorgfältiger gewählten – Schauplatz konsequent ausrichteten, folge in den neueren Stücken die Schauplatzgestaltung beliebig der Handlung und den Charakteren. Sulzer geißelt viele Schauplatzwechsel als reine Bequemlichkeit des Autors, die eben weniger „Erfindungskraft“ erfordere als die Begrenzung auf einen einzigen Schauplatz. Als Beispiel für die neueren

15 Rudloff-Hille, Gertrud: Schiller auf der deutschen Bühne seiner Zeit. Berlin u. Weimar 1969, S. 43 zählt offenbar anders: „Im Ganzen werden 11 verschiedene Bühnenbilder verlangt, darunter mindestens 5 große und tiefe Dekorationen. Ein Wechsel von kurzer und tiefer Bühne ist nicht konsequent durchgeführt.“ 16 Vgl. Martus, Steffen: „Schillers Metatheater in Die Räuber – mit einem Seitenblick auf Lessings Emilia Galotti“. In: Schiller, der Spieler. Hg. v. Peter-André Alt, Marcel Lepper u. Ulrich Raulff. Göttingen 2013, 126–144. 17 „Briefe an Madame B. über Lessings Nathan den Weisen. Sechster Brief“. In: Litteratur- und Theater-Zeitung 4 (1781) H. 5, 69–75, S. 71. 18 Sulzer, Johann George: „Scene“. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste 2. Leipzig 1774, 1011–1013; die folgenden Zitate ebd.

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Stücke nennt er nicht zufällig Goethes Götz von Berlichingen (1773), das sich bewusst von den Fesseln der drei Einheiten befreit und eine exzessive Reihung von über fünfzig kürzesten, den Ort wechselnden Szenen aufweist.19 Schon 1771 holt Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears Tag zum emphatischen Befreiungsschlag gegen das Dogma der drei Einheiten aus: Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft, und fühlte erst daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo da ich sahe wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte, und nicht täglich suchte ihre Türne zusammen zu schlagen.20

Diese dramatische Entwicklung ist der theatralen einen Schritt voraus. In den 1770er und 1780er Jahren ist der Fundus an Bühnenbildern in den deutschen Theatern noch klein, aktuelle Stücke erscheinen jedoch als willkommener Anlass, „den Dekorationsvorrat des Schauspiels zu vermehren und es darin der höfischen Oper gleichzutun“.21 Neue Bühnenbilder werden vom Publikum aufmerksam wahrgenommen und teils „mit Händeklatschen bebeifallt“22– wie bei der Erstaufführung von Emilia Galotti 1772 in Hamburg. Auch die Mannheimer Aufführung von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua erregt nicht zuletzt aufgrund ihrer prachtvollen Ausstattung den Beifall des Publikums, das sogar bereit ist, für das „Spektakel“23 neuer Dekorationen einen erhöhten Preis für

19 Damit überbietet Goethe selbst Shakespeare, auf den er sich in seiner Rede Zum Schäkespears Tag (1771) beruft. Goethe, Johann Wolfgang: „Zum Schäkespears Tag“. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe 1.2. Hg. v. Gerhard Sauder. München 2006, 411–414. Wolfgang Kayser vergleicht Shakespeares und Goethes Szenenwechsel in Zahlen: „Die Höchstzahl von 26 Szenenwechseln in dessen Heinrich VI. wird im Götz durch mehr als das Doppelte überboten. Die 59 Wechsel der I. Fassung verteilen sich folgendermaßen: I:5; II:10; III:22; IV:6; V:16.“ Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden (Dramatische Dichtungen II) 4. München 1990, S. 511. 20 Goethe: „Zum Schäkespears Tag“, S. 412. 21 Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 13. 22 Schütze, Johann Friedrich: Hamburgische Theatergeschichte. Hamburg 1794, S. 388; zit. nach Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne, S. 12; Vgl. Julius Braun (Hg.): Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen, Lessing und seine Werke betreffend 1. Nachdruck Hildesheim 1969, S. 381. 23 „Es war alles, was die schwachen Kräfte des Theaters vermochten, angewendet worden, um das Aeußerliche des Stükes mit Pracht auszustatten“, schreibt Streicher am 11. Januar 1784 über die Aufführung der bearbeiteten Bühnenfassung in Mannheim; NA, 4, 272. Die Mannheimer Zeitung berichtet synchron: Die „Aufführung glich an Pracht, Geschmack, Reichthum an

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Eintrittskarten zu zahlen und über bekannte Schwächen des Stückes hinwegzusehen. 1790 erkennt Johann Friedrich Schink in der Publikumslust am opulenten Schauplatzwechsel eine neue Theater-Mode: Jetzt muß in einem Drama, wenn es dem Publikum behagen soll, alle Augenblicke ein Vorhang aufrollen, bald ein Schloß, bald eine Bauernstube, bald ein Gefängnis, bald eine Landstraße, bald einen Turnierplatz, bald ein Feldlager produciren.24

Schiller nimmt, wie er am 13. Juli 1800 in einem Brief an Körner schreiben wird, die „[s]toffartige Wirkung“ solcher aus der Oper bekannten theatralen Mittel, die alle Sinne des Publikums ansprechen und „das Herz interessieren“ (NA, 30, 173), so ernst, dass er sie, laut Marietta Kuntz, „zu einem seiner dramatischen Hauptmittel“25 erhebt. In der Praxis überfordern dabei Schillers häufige und rasche Bühnenbildwechsel das zeitgenössische Theater in einem Ausmaß, das auf Kosten von Sinn und Illusion geht: Friedrich Wilhelm Großmann, dessen Gesellschaft Die Verschwörung des Fiesko zu Genua in Bonn zur Uraufführung bringt, schreibt an den Verleger Christian Friedrich Schwan: Wenn der liebe, feurige Mann (Schiller) nur mehr Rücksicht auf Theater-Konvenienz nehmen, und besonders vom Maschinisten, bey dem gewöhnlichen Gang unserer Dekorationen nicht schier unmögliche Dinge verlangen wollte. Ein Schloßhof mit Mauern und Gitterwerk und Nacht und illuminirter Saal mit einer Spanischen Wand in einem Nu, und dergleichen Verwandlungen mehr, gehen fast nie ohne Unordnung und gewaltiges Geräusch ab; wie sehr das dem Dialog und der Handlung schadet, hab ich bey der Vorstellung des Fiesko gesehen. Ich hab auf dem Hoftheater zu Bonn gethan, was Menschenhände nur thun können, und doch haperte es hier, und stockte da. (NA, 4, 265)

Unisono zählt der Mannheimer Intendant Wolfgang Heribert von Dalberg dieses Problem in einer langen Liste weiterer Kritikpunkte an Die Verschwörung des Fiesko zu Genua auf: „Die Maschinerie des Theaters ist zu sehr gehäuft.“ (NA, 4, 273) Dabei beherbergt das Mannheimer Theater (im Gegensatz zum provinziellen Stuttgarter Theater) das „non plus ultra der Theatermechanik“ (NA, 23, 18), wie

Personen allem, was sich von der schönen Einrichtung unsers Schauspielwesens erwarten ließ.“ Mannheimer Zeitung Nr. 6 vom 14. Januar 1784; NA, 4, 273. Auch Schiller selbst schreibt von „Pracht“ und „Pomp“ der Aufführung; NA, 4, 274. Hingegen kritisiert Iffland, das in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua „angebrachte Spektakel folgt nicht aus der Sache, ist für das Theater sehr beunruhigend, für das Auge nicht unterhaltend genug, und zieht gleichwol des Zuschauers Aufmerksamkeit von der Hauptsache ab.“ Protokoll des Kurfürstlichen Hoftheater-Ausschusses in Mannheim; NA, 4, 258. 24 Schink, Johann Friedrich: Dramaturgische Monate 3. Schwerin 1790, S. 751–752. 25 Kuntz: Schillers Theaterpraxis, S. 17.

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Schiller anlässlich der geplanten Aufführung der Räuber in einem Brief an von Dalberg schmeichelt. Ob die Herausforderung der Maschinerie der theaterpraktischen Unerfahrenheit des jungen Schiller geschuldet ist, sei dahingestellt. Dagegen spricht, dass Schiller nach der Kritik zwar in der Mannheimer Bühnenfassung die Schauplatzwechsel innerhalb der Aufzüge reduziert, allerdings keineswegs konsequent, und die Ausstattung der Bühnenbilder eher noch vermehrt.26 Tatsächlich zeigen Schillers opulente, an die Schaulust des Publikums appellierende Bühnenbilder eine starke Orientierung an einer sinnlichen Bühnenwirksamkeit – aber in einem imaginären Theater, einem womöglich zukünftigen Theater unbegrenzter Möglichkeiten, einem Theater der Wünsche.27 Und dieses imaginäre Theater schließt das des Lesers ein, dem der Nebentext in ausführlichen Schilderungen eine Vielfalt üppig ausgestalteter Bühnenräume vor Augen führt. „Auch der Leser ist für Schiller Zuschauer“, schreibt Gerhard Kluge, „in einem imaginären Theater, das er sich in seiner Phantasie erschafft und dessen Magie er selbst auch erliegen soll“.28

26 Ritzer weist darauf hin, dass die Mannheimer Bühnenfassung den Verstoß gegen die Schauplatzwechsel innerhalb der Akte im Blick auf die illusionsstörende Umbautechnik zurücknimmt; Ritzer, Monika: „Schillers dramatischer Stil“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, 240–269, S. 244. Sie bemerkt allerdings nicht, dass die Bühnenfassung ebenso anspruchsvolle Bühnenbilder verlangt: Die „[f]urchtbare Wildnis“ (NA, 4, 65, 2) fällt aus handlungsbezogenen Gründen weg, dafür wird der Konzertsaal, in dem Fiesko Julia dupiert, als „Chinesische[r] Saal“ (NA, 4, 220, 2) prunkvoll expliziert und Berthas Not im Kerker („Ein unterirrdisches Gewölb“; NA, 4, 204, 21) eindrücklicher illustriert. Auch Zymner verweist auf die vermeintliche Reduzierung von Regelverstößen gegen die klassizistischen Normen – mit Ausnahme der Schauplatzwechsel – und den gesteigerten Kunstanspruch im Fiesko im Vergleich zu den Räubern. Vgl. Zymner, Rüdiger: Friedrich Schiller. Dramen. Berlin 2002, S. 39. 27 Schiller selbst schreibt auch spätere Dramen – nach eigener Aussage – nicht für die „wirkliche[]“, sondern für eine „mögl ic he “ Bühne; vgl. NA, 10, 7. Der Wunsch nach einer anderen, besseren, zukünftigen Schaubühne mag ein Topos dieser Zeit sein. So schreibt Johann Benjamin Erhard an Johann Karl Osterhausen am 24. Februar 1786 mit Bezug auf Schillers Fiesko: „[W]ie ärgert’s mich, wenn bärtige Zeitungsschreiberbübchen sagen, er vergißt die Schaubühnen, seine Stücke sind nicht aufzuführen! Memmen, sagt lieber: Schande dir, Deutschland, daß deine Bühnen nicht für ihn sind, daß du seine Stücke nicht aufführen kannst!“; NA, 4, 282. 28 Kluge, Gerhard: „Über die Notwendigkeit der Kommentierung kleinerer Regie- und Spielanweisungen in Schillers frühen Dramen“. In: editio 3 (1989), 90–97, S. 96.

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3 „In der Mitte des Hintergrunds“: Intermedialität Schiller zeigt im Dramentext von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua nicht nur viele Schauplätze, er zeigt diese ganz explizit auf einer (imaginären) Bühne und stellt damit die intermediale Referenz des Dramentextes auf die Theateraufführung massiv aus. Während Schiller sein erstes Schauspiel Die Räuber als „d ra m a ti s c h en R o m an , und kein theatralisches Drama“ (NA, 3, 244)29 konzipiert und mutmaßt, es werde niemals aufgeführt, schreibt er nach dessen ebenso unerwartetem wie überwältigendem Bühnenerfolg sein zweites Stück Die Verschwörung des Fiesko zu Genua bekanntlich „von vornherein mit Blick auf das Mannheimer Nationaltheater“.30 Vergleicht man die Raumdarstellung in den beiden frühen Dramen, zeigt sich eine signifikante Differenz im Nebentext: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua ist Schillers erstes Drama, in dem der Text nicht nur den Schauplatz, also den dramatischen Raum, schildert, sondern ihn explizit in einem szenischen Raum situiert. Die Räuber DRITTER AKT ZWEYTE SCENE Gegend an der Donau. D ie Rä u b e r. gelagert auf einer Anhöhe unter Bäumen, die Pferde wayden am Hügel hinunter. MOOR. Hier muß ich liegen bleiben wirft sich auf die Erde. [. . .] Sie gehen ab. (NA, 3, 77–86) Die Verschwörung des Fiesko zu Genua FÜNFTER AUFZUG Nach Mitternacht – Große Strasse in Genua – Hie und da leuchten Lampen an einigen Häusern, die nach und nach auslöschen – Im Hintergrund der Bühne sieht man das

29 Dass die Behauptung der Unspielbarkeit „auch als Teil einer ‚Marketingstrategie‘ zu sehen“ sei, mit der Schiller seinen Erstling als Avantgarde nobilitiert, erklärt Wortmann eindrücklich; Wortmann, Thomas: „Kreative Netzwerke, Theater als moralische Anstalt und Kultur als Konjunkturmaßnahme: ‚Mannheimer Anfänge‘“. In: Mannheimer Anfänge. Beiträge zu den Gründungsjahren des Nationaltheaters Mannheim 1777–1820. Hg. v. dems. Göttingen 2017, 7–41, S. 18. 30 Roßbach, Nicola: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel (1783)“. In: Schiller Handbuch. Leben – Werk – Dichtung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart 2011, 53–65, S. 53.

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Thomasthor, das noch geschlossen ist. In perspektivischer Ferne die See – Einige Menschen gehen mit Handlaternen über den Plaz; darauf die Rund und Patroulle – Alles ist ruhig. Nur das Meer wallt etwas ungestüm. – E r s t e r Au f t r i t t F i es k o kommt gewaffnet, und bleibt vor dem Pallast des Andreas Doria stehen [. . .]. (NA, 4, 102, 1–10)

Der dramatische Raum wird in Die Räuber auf eine Weise erzählt, die im Bildgedächtnis des Lesers idyllische Landschaftstableaus aufruft, auf einer Bühne jedoch kaum umsetzbar erscheint. Wie etwa Pferde an einem Hügel auf der Bühne weiden sollen, während noch weiter oben die Räuber unter Bäumen lagern, erscheint schon aufgrund der vertikalen Staffelung schwierig, vom kreatürlichen Personal ganz zu schweigen. Als textuelles Skript der Idylle funktioniert die Raumdarstellung jedoch einwandfrei. Der szenische Raum wird im gesamten Dramentext so gut wie ausschließlich über die Abgänge markiert: als einzigen konventionellen Hinweis auf den (begrenzten) Bühnenraum. Dagegen beschreibt Die Verschwörung des Fiesko zu Genua nicht nur den dramatischen Raum, sondern positioniert diesen explizit im Bühnenraum. Dies bewirkt der Nebentext nachdrücklich erstens durch die Bezeichnung von Aufzug und Auftritt (statt Akt und Szene), wobei der Begriff ‚Aufzug‘ noch die Konnotation des Kulissenwechsels mit dem dazugehörigen Aufziehen des Bühnenvorhangs enthält. Damit korrespondieren explizite Verweise auf Zwischenvorhänge sowie der Hinweis „Der Vorhang fällt“31 am Schluss jeden Aufzugs.32 Zweitens ruft der Nebentext durch ein ausgefeiltes Management des Bühnenverkehrs („Fiesko kommt“ – „geht ab“) die Grenze zwischen onstage und offstage in Erinnerung. Drittens macht der Nebentext auf die künstlerische Gestaltung des Bühnenbildes durch die Beschreibung der „Prospekte“, also des jeweiligen bemalten hintersten Bühnenbildes („In der Mitte des Hintergrunds eine große Glasthüre, die den Prospekt über das Meer und Genua öffnet“; NA, 4, 66, 27–28), sowie der Maltechnik („In perspektivischer Ferne die See“; NA, 4, 103, 5) aufmerksam. Viertens fällt die ungewöhnlich direkte Referenz auf einen (imaginären) Bühnenraum auf, der durch die Achsen vorne/hinten („Im Hintergrund der Bühne sieht man“; NA, 4, 103, 3–4), links/rechts („zur Seite Schenk- und Spieltische“; NA, 4, 20, 1) sowie oben/unten („er stürzt ins Meer“, „sinkt unter“; NA, 4, 121, 2) seine räumlichen Koordinaten erhält. Die Gegenüberstellung der beiden Arten der Raumdarstellung

31 Einzig der zweite Aufzug schließt ohne expliziten Hinweis auf den Vorhang. 32 Neben dem Vorhang wird weitere Theatermaschinerie wie etwa eine Wellenmaschine („Nur das Meer wallt etwas ungestüm“; NA, 4, 103, 7) sowie eine ausgefeilte Beleuchtungstechnik durch die Beschreibung des diegetischen Raumes vorausgesetzt, jedoch nicht explizit als theatrale Maschinerie ausgewiesen.

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in Die Räuber und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua zeigt, wie divergent die historisch dicht aufeinanderfolgenden Dramen angelegt sind, indem Letzteres den szenischen Raum konsequent ausgestaltet. Die massiven Bühnenverweise im Nebentext von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua nur als instruktive Anleitungen für die in Mannheim erhoffte Aufführung zu verstehen, scheint mir zu kurz gegriffen zu sein – zumal im kurz darauf entstehenden, nun vertraglich für Mannheim konzipierten Trauerspiel Kabale und Liebe alle intermedialen Bühnenverweise bis auf wenige Ausnahmen zurückgenommen werden.33 Vielmehr löst das Verschwörungs-Drama zum einen das Defizit der zeitgenössischen Theatermaschinerie, indem es ein imaginäres Theaterideal in seinen Text integriert. Zum anderen lässt sich der im Dramentext entworfene szenische Raum als metatheatraler Hinweis auf Genua als Spiel-Raum von Fieskos Verschwörung verstehen.

4 „Aussicht“: Raum und Optik Verschwörungen, erklärt Walter Müller-Seidel, „setzen verdecktes Tun und Handeln voraus“.34 Das damit verbundene Spiel von Verdecken und Entdecken, von Nicht-Wissen und Erkennen wird nicht nur durch den Maskenball, das An- und Ablegen der Masken und der verschiedenfarbigen Dominos optisch in Szene gesetzt, sondern auch auf räumlicher Ebene inszeniert. Sowohl das theatron als Schau-Platz (bespielter Raum) als auch Genua als Schauplatz (gespielter Raum) erweisen sich dabei als topografische Inszenierungen von Undurchschaubarkeit. Das Ziel, den absoluten Überblick (und eine damit verbundene Machtposition) in der Verschwörung zu erlangen, erreicht, so möchte ich in den folgenden Abschnitten zeigen, dabei keine Figur – und noch nicht einmal der Zuschauer. Dass nicht nur die Übersicht der Figuren, sondern sogar die des Zuschauers infrage gestellt wird, ist eine Besonderheit von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, die durch eine spezifische Bühnentechnik zum Einsatz kommt: das

33 Kabale und Liebe ist nach Akt und Szene gegliedert, die Raumangaben dienen – bis auf den sensuell sensationellen Hinweis, der Hofmarschall von Kalb breite seinen „Bisamgeruch über das ganze Parterre“ (NA, 5, 33, 18) – allein der Entwicklung des dramatischen Raums. Bis auf sparsame Angaben zu den Koordinaten links/rechts, vorne/hinten enthält die Raumbeschreibung keine expliziten Verweise auf die Bühne, der Vorhang fällt allein am Ende des fünften Aktes. 34 Müller-Seidel, Walter: „Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen“. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack. Tübingen 1990, 422–446, S. 425.

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Aufziehen des Mittelhangs. Das sukzessive Enthüllen der Hinterbühne schränkt die ansonsten omnipotente Blickposition des Zuschauers ein und erlaubt ihm lediglich einen prozessualen Erkenntnisgewinn, der mit dem Ablegen einer Maske verglichen werden könnte. Diese Technik kommt gleich zweimal zum Einsatz: durch das Aufziehen des Mittelhangs am Ende von Szene I,4, das den Blick auf den Ballsaal frei gibt, sowie durch die Sprengung des Thomastors am Ende von Szene V,1. ERSTER AUFZUG Saal bei F i es k o. Man hört in der Ferne eine Tanzmusik, und den Tumult eines Balls. [. . .] Vi ert er A u ft ri tt [. . .] er eilt ab. Rauschendes Allegro, unter welchem der Mittelhang aufgezogen wird, und einen grosen illuminirten Saal eröfnet, worinn viele Masken tanzen. Zur Seite Schenk und Spieltische von Gästen besezt. (NA, 4, 13, 1–20, 2)

Wenn sich der Vorhang erstmalig hebt, erblickt das Publikum einen „Saal“, der akustisch und verbal als Nebenschauplatz markiert wird: „[I]n der Ferne“ sind die tumultartigen Geräusche des Balls zu hören, dort ist das festliche Treiben vieler Personen zu vermuten, von dort „fliehen“ die noch maskierten Figuren Leonore, Arabella und Rosa „zerstört auf die Bühne“ (NA, 4, 13, 5–6), dort scheint sich „[v]or“ Leonores „Augen“, wie sie mehrfach betont, ja im „im Angesicht des ganzen Adels von Genua“, etwas Schockierendes ereignet zu haben,35 das das Publikum jedoch nicht zu sehen bekommt. Die im hinteren Ballsaal verborgen geschehenen Ereignisse werden dem Publikum nur unzuverlässig durch Leonores allzu aufgewühlten Bericht im vorderen Saal entdeckt: Hat Fiesko Gianettino Dorias Schwester Julia außereheliche Avancen gemacht? Liebt Fiesko Julia gar? Vergisst und verrät er darüber Genua? Albert Meier behauptet, dass sich Schiller in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua strikt an eine Empfehlung in Diderots Abhandlung De l’art dramatique halte, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie weitergibt: „Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll.“36 Das stimmt in Bezug auf die Intentionen der Figuren, die an

35 „LEONORE aufstehend. Vor meinen Augen! eine stadtkundige Kokette! im Angesicht des ganzen Adels von Genua! wehmüthig Rosa! Bella! und vor meinen weinenden Augen“; NA, 4, 13, 11–13. 36 Lessing, Gotthold Ephraim: „Hamburgische Dramaturgie. 48 Stück“. In: ders.: Werke 4. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, 452–456, S. 453; vgl. Meier, Albert: „Des Zuschauers

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der Verschwörung beteiligt sind, wie Meier selbst bemerkt, allerdings nur mit Ausnahme der Hauptfigur, und wie hinzuzufügen wäre, schon gar nicht in Bezug auf die räumliche Inszenierung des Stückes. Weder wird dem Publikum gesagt noch gezeigt, was vorgegangen ist und noch vorgehen wird. In seinem ersten Monolog (IV,4), von dem das Publikum der Konvention nach eine unverstellte Innenschau erwarten darf, bejubelt Fiesko seine Liebe zu Julia, die sich später als bewusste Täuschung und Teil seiner Verschwörungsstrategie herausstellt. Ebenso verhält es sich mit der Raumgestaltung: Während Leonore im vorderen Saal erzählt, was sie im hinteren Ballsaal gesehen haben will, und Fiesko selbst in seinem Monolog seine Liebe für Julia bestätigt, vermitteln die anschließende Öffnung des Mittelhangs und die mit Spannung erwartete Einsicht in den eigentlichen Ort des Geschehens, den „illuminirten Saal“ (NA, 4, 19, 37) dem Publikum eben keine ‚Erleuchtung‘. Statt der erwarteten Einsicht und Übersicht setzt sich das Spiel der Täuschung fort. Die Öffnung des Mittelhangs kommt keineswegs einer Demaskierung gleich, Fieskos Intention bleibt über den gesamten ersten Aufzug undurchsichtig. Das mit dem Thema der Verschwörung verbundene Spiel von Verbergen und Enthüllen, von Vorhersehung und ungewissem Ausgang wird räumlich nochmals in Szene gesetzt, wenn erst die Sprengung des Thomastors plötzlich den Blick auf die hintere Bühne freigibt. FÜNFTER AUFZUG Nach Mitternacht – Große Strasse in Genua – Hie und da leuchten Lampen an einigen Häusern, die nach und nach auslöschen – Im Hintergrund der Bühne sieht man das Thomasthor, das noch geschlossen ist. In perspektivischer Ferne die See – Einige Menschen gehen mit Handlaternen über den Plaz; darauf die Rund und Patroulle – Alles ist ruhig. Nur das Meer wallt etwas ungestüm. – E r s t e r Au f t r i t t [. . .] FIESKO. [. . .] und nun, Verderben, gehe deinen Gang. er eilt in die hinterste Gasse – Trommeln tönen von allen Enden. Scharfes Gefecht am Thomasthor. Das Thor wird gesprengt, und öffnet die Aussicht in den Hafen, worinn Schiffe liegen, mit Fakeln erleuchtet. (NA, 4, 103, 1–104, 21)

Der finale Aufzug des Verschwörungsstückes eröffnet einen Raum, der meisterhaft den Zustand der Verschwörung anzeigt: vermeintliche Ruhe, verdeckte Aktion. Die Lichter verlöschen, die Genueser gehen schlafen, die Wache patrouilliert – alles scheint seinen geordneten, ruhigen Gang zu gehen. Allerdings

Seele am Zügel. Die ästhetische Vermittlung des Republikanismus in Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In: Friedrich Schiller. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Darmstadt 2009, 35–55, S. 39.

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stellt die Beschreibung des Thomastors als „noch geschlossen“ eine Prolepse dar, welche auf seine Sprengung vorausdeutet und der Forderung nach reiner Gegenwärtigkeit des Dramas entgegensteht. Auf ebensolche Weise funktioniert die Beschreibung der Geräuschkulisse: „Alles ist ruhig. Nur das Meer wallt etwas ungestüm“. Wem der historische Untergang Fieskos bekannt ist, wird durch die widersprüchliche Formulierung „etwas ungestüm“ auf dessen bevorstehendes „[E]rsaufen“37 (wie es in Duport du Tertres Geschichte der sowohl alten als neuern Verschwörungen heißt) im Hafen Genuas hingewiesen. Mit der Sprengung des Thomastors wird dann der zuvor verborgene Hafen enthüllt, und Fieskos Ende ist buchstäblich absehbar. Bemerkenswert ist auch hier die Betonung der visuellen Wahrnehmung – und zwar aus der Perspektive des Theaterzuschauers: Zunächst „sieht man“ (NA, 4, 103, 4) das Thomastor, nach dessen Sprengung „öffnet [sich] die Aussicht in den Hafen“ (NA, 4, 104, 20). Indem der Zuschauer nicht von vornherein die Position einer Übersicht erhält, sondern ihm sukzessive Einsichten eröffnet werden, wird er in das Spiel von Verbergen und Enthüllen einbezogen.

5 „Auflauf“: Raum und Bewegung Raum wird durch Bewegung geschaffen. Dass Räume aus Bewegung hervorgehen, ist eine Erkenntnis von Michel de Certeau, der eben darin die Differenz zum Ort sieht. Während der Ort eine „momentane Konstellation von festen Punkten“38 sei, entstehe der Raum durch Bewegung, also durch „Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit“. Damit ist der Raum ein Ort, „mit dem man etwas macht“: „[E]in Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren“. Statt Eindeutigkeit eignet dem Raum Ambiguität, statt Stabilität Prozessualität.

37 Zit. n. Torsten Hahn: Das schwarze Unternehmen. Zur Funktion der Verschwörung bei Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist. Heidelberg 2008, S. 179. Hahn erkennt in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua eine typische Verschwörungsgeschichte, die zwischen Zufall und Plan, Kontingenz und Steuerung schwankt. „Verschwörungen sind perfekt auf die ‚klassische‘ Funktion der dramatischen Form zugeschnitten, denn beide zielen auf die gleiche Sache: die Verringerung der Macht des Zufalls und seine weltimmanente Bannung“; ebd., S. 13. 38 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Voullié. Berlin 1988, S. 218; die folgenden Zitate ebd.

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Aus dieser Perspektive fällt in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua die hohe Geschwindigkeit, variable Richtung, strategische Vernetzung sowie zufällige Kreuzung der Bewegungen auf, die Genua als Kreuzungspunkt konfligierender politischer Richtungen ausweisen. Anders als die Intrige kann die Verschwörung nicht von einer Einzelperson ausgehen. Dies spiegelt sich im Wortgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts: Zedlers Universal-Lexicon kennt die Verschwörung nur als Kompositum: als „Zusammen-Verschwörung, Zusammen-Rottierung, heimliche Verbindung“39 vieler und als „Zusammenvers c h w ö ru n g d e s F i e s ko v o n G e n u a “ (NA, 4, 259) bezeichnet sogar Schillers Verleger Christian Friedrich Schwan das in der Presse befindliche Stück. Eine zentrale Funktion für die Zusammen-Verschwörung übernimmt die Figur Muley Hassan, „M o h r v o n Tu n i s“ (NA, 4, 12, 3). Als ‚dunkles‘ Pendant der Lichtgestalt Fiesko vernetzt er mit seinen Botengängen verschiedene Akteure. Muley Hassan holt für Fiesko in ganz Genua Erkundigungen ein und streut wiederum gezielt Informationen aus, er verknüpft die Republik kommunikativ mit Fiesko. Wann immer er von seiner wilden Jagd durch die Stadt berichtet, betont er seine ermüdeten Beine, Füße und Sohlen.40 In Bezug auf die zeitgenössische Theaterpraxis ist es wahrscheinlich, dass dabei komödientypische Lauftechniken zum Einsatz kamen. Moh r kommt. [. . .] MOHR wild. Meine Solen brennen noch. Was gibts schon wieder?

(NA, 4, 50, 21–22)

MOHR. [. . .] Meine Füsse haben alle Hände voll zu thun – ich mus meinen Magen kareßieren, daß er mir bei meinen Beinen das Wort redt. eilt ab [. . .] (NA, 4, 58, 32–34) Moh r keuchend. [. . . ] MOHR. [. . .] Ich glaube Genua ist um 12 Gassen kürzer worden, oder meine Beine um soviel länger. (NA, 4, 70, 4–10)

Durch Muley Hassans Botenberichte erfährt der (Leser als) Zuschauer nicht nur von dem Vorgehen an allen Ecken und Enden Genuas, durch die übertriebene Betonung seiner von der Bewegung ermüdeten Gliedmaßen bekommen die Dimensionen der Stadt auch eine körperliche Anschauung. Auf diese Weise muss Schiller nicht ganz Genua auf der Bühne zeigen, aber dem Leser/Zuschauer werden die räumlichen Ausmaße der Republik dennoch erfahrbar.

39 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 64. Leipzig u. Halle 1750, Sp. 745. 40 Die Betonung der Körperlichkeit weist auf die komische Anlage der Figur Muley Hassan hin, die in der Tradition der Commedia dell’Arte zu stehen scheint, man denke an Carlo Goldonis Il servitore di due padroni / Der Diener zweier Herren (1746).

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Nicht nur Muley Hassan bewegt sich konstant mit hoher Geschwindigkeit. Auch die anderen Figuren fliegen, jagen, stürzen, eilen, stürmen, hasten, springen – um nur einige der Bewegungsverben aus dem Nebentext aufzuführen. Und zwar nicht nur vorwärts, sondern oftmals „tumultuarisch“ (NA, 4, 50,15) durcheinander. Die hohe Geschwindigkeit kombiniert mit der Richtungs- und Orientierungslosigkeit stellt ein Spezifikum dieser Bewegungen dar, welche die Kopflosigkeit der Verschwörung anzeigt bzw. die Notwendigkeit eines Anführers, „der alles übersieht, lenkt und leitet“41 illustriert. Fiesko facht die Geschwindigkeit der Bewegungen nicht nur an, er allein dirigiert die Bewegungen in verschiedene Richtungen:42 Indem Fiesko Figuren zu den Plätzen und Toren Genuas, zur Vorstadt und zum Hafen, zur Mündung der Darsena entsendet, erhält Genua seine räumlichen Koordinaten (vgl III, 5). Die Position des Souveräns, also dessen, der ‚über allem steht‘ (lat.: superanus – ‚über allem stehend‘) entpuppt sich jedoch als ein Phantasma Fieskos. Auf dem Höhepunkt seiner Machtanmaßung (III,2) wird Fiesko zwar in einem Saal positioniert, dessen Glastür bei Sonnenaufgang „den Prospekt über [sic] das Meer und Genua“ (NA, 4, 66, 28–29) öffnet. Die eine phantasmatische Aneignung der Stadt ermöglichende Übersicht ist jedoch nicht von Dauer. Denn das Bühnenbild des fünften Aufzuges versetzt Fiesko in die Niederungen einer „Große[n] Strasse in Genua“ (NA, 4, 103, 2) mit vielen Seitengassen – hier in der doppelten Bedeutung von dramatischem und theatralem Raum, von kleiner Straße und Durchgang zwischen den seitlichen Kulissen. Die Gassen ermöglichen ein Maximum an Unübersichtlichkeit, an sich kreuzenden Bewegungen, an zufälligen und unvorhersehbaren Begegnungen zwischen verschiedenen Personen. Figuren treten auf und „eilen ab zu verschiedenen Strassen“ (NA, 4, 105, 33–34), rennen „in eine entgegengesezte Gasse“ (NA, 4, 117, 4–5), Leonore „wirft sich in eine Gasse. Auflauf. Bella wird weggedrängt“ (NA, 4, 108, 14–15), verschiedene Figuren, „Haufen“ (NA, 4, 108, 17) und „T r u p p “ (NA; 4, 109, 2) begegnen sich, und schließlich kommt es zu dem ebenso unerwarteten wie tödlichen Aufeinandertreffen von Leonore (in Gianettinos Mantel) und Fiesko (V,11).43 Durch die Bewegungen wird ein Raum des Aufstandes entworfen, der keine stabile Souveränität zulässt, sondern vielmehr eine unvorhersehbare Prozessualität inszeniert. Fiesko fällt diesem Raum buchstäblich zum Opfer, wenn er unbeabsichtigt im Gewühl seine Frau Leonore tötet.

41 Müller-Seidel: Verschwörung und Rebellion in Schillers Dramen, S. 425. 42 Vgl. „Sieh zu, daß sie hieher sich werfen“; NA, 4, 44, 20. 43 Marietta Kuntz zufolge unterstützt das Bühnenbild so die „sich ergebende tragische Ironie des Spiels“; Kuntz: Schillers Theaterpraxis, S. 40.

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Der Tod Fieskos wird schließlich als äußerst ungewöhnlicher vertikaler Abgang inszeniert: Der stramme Republikaner Verrina stürzt den selbst ernannten Herzog Fiesko ins Meer. „FIESKO ruft aus den Wellen. Hilf Genua! Hilf! Hilf deinem Herzog! sinkt unter.“ (NA, 4, 212, 1–2) Doch Fieskos Hilferuf, der just Genua adressiert, verhallt ungehört. Der Raum kommt ihm nicht zu Hilfe. Gertrud Rudloff-Hille weist zu Recht darauf hin, dass es schwer sei, hier der bildlichen Vorstellung des Dichters nachzukommen, wenn man an das feste Kulissengerüst der Bühne denkt. Eine Seite des Bildes muß die Hafenmauer, die aus dem Wasser herausragt, mit umfassen, wie das bei Bühnenbildern der Galli-Bibiena und anderer vorkam. Der Sturz geht entweder in eine Kulissengasse oder in eine getarnte Versenkung hinein.44

Aus theaterpraktischen wie wirkungsorientierten Überlegungen ist daher die Änderung des Schlusses in der Mannheimer Bühnenfassung naheliegend. Aus überlieferungsgeschichtlicher und nicht zuletzt symbolischer Perspektive hingegen ergibt der buchstäblich tiefe Fall des Aufrührers Sinn, transportiert er doch bildlich den Untergang Fieskos. Das vermeintlich von Fiesko eroberte Genua wird direkt nach seinem Tod als ambivalenter Herrschaftsraum sichtbar: „KALKAGNO schreit. Fiesko! Fiesko! Andreas ist zurük, halb Genua springt dem Andreas zu. Wo ist Fiesko?“ (NA, 4, 121, 6–7; Hervorhebung der Verfasserin). Erst vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Genua als politisch motiviertem Bewegungsraum erhalten Verrinas „berühmte, aber ebenso rätselhaft wie blaß erscheinende“45 Schlussworte des Dramas ihre Bedeutung: „Ich geh zum Andreas.“ (NA, 4, 121, 10–11; Hervorhebung der Verfasserin) Die Bewegung vieler hin zum Patriarchen Andreas und weg vom Verschwörer Fiesko visualisiert den Ausgang des Machtkampfes. Im Schlussbild wird der Konflikt dann buchstäblich stillgestellt: Die Verschwörung endet mit der in Szene gesetzten Bewegungslosigkeit aller Parteien: „Alle bleiben in starren Gruppen stehn. Der Vorhang fällt.“ (NA, 4, 121, 12)

6 „Tumult“: Raum und Akustik Raum wird nicht nur durch die Angabe von Koordinaten und durch Bewegung geschaffen, Raum entsteht auch durch Klang. Theater ist insofern nicht nur als 44 Rudloff-Hille: Schiller auf der deutschen Bühne seiner Zeit, S. 43. 45 Zymner: Friedrich Schiller, S. 34 hält den Schluss des Erstdrucks für wenig „theaterwirksam“ und erklärt den Erfolg von Carl Martin Plümickes Bearbeitung maßgeblich aus der Änderung des Schlusses.

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Schau-Raum (theatron), sondern auch als Hör-Raum zu beschreiben. Norbert Otto Eke betont: „Klänge (Stimme und Ton) schaffen Räume, d. h.: Wir hören Räume ‚und nicht bloß etwas im Raum‘.“46 Auch in dieser Hinsicht kann Die Verschwörung des Fiesko zu Genua als herausragendes Experimentierfeld der Verschriftlichung akustischer Möglichkeiten des Theaters gelten. Ich kenne kaum einen weiteren Dramentext, der so explizit Klänge ‚vor Ohren führt‘, und zwar nicht nur im Haupt-, sondern gerade auch im Nebentext: zunächst durch eine selten exakte Beschreibung der Stimmführung, -modulierung und -lautstärke,47 darüber hinaus durch die Darstellung von Geräuschen wie Wellenrauschen oder Sturmglocken und schließlich durch den Hinweis auf Musik (inklusive einer zeitgenössischen Bühnenmusik), auf „Trommeln, Hörner und Hoboen“ (NA, 4, 112, 4). Der Text sieht mit Bezug auf die Theaterpraxis sogar vor, dass Klänge – wie die Ballmusik im ersten Aufzug – offstage, hinter der Bühne, produziert werden, um den dramatischen Raum akustisch zu erweitern – eine Technik, die Schiller übrigens wieder in Weimar bei der Uraufführung von Wallensteins Lager einsetzt, um das Lager größer als den auf der Bühne gezeigten Ausschnitt wirken zu lassen. Zwei Szenen möchte ich exemplarisch hervorheben, weil sie in besonderer Weise Raum durch Akustik erzeugen. Die zeitgenössische Praxis sieht auch im Literaturtheater eine musikalische Begleitung vor: die Ouvertüre vor dem Öffnen des Vorhangs sowie die Zwischenmusiken (Entre-Actes, Zwischenakte) zwischen dem Fallen und Öffnen desselben während der Bühnenumbauten. Ziel der Entre-Actes ist die Fortsetzung der Illusion48 durch die Übertönung von etwaigen Bühnenumbaugeräuschen und die Kurzweil des Publikums, so, „daß das Publikum nicht zum Bewusstsein der zuweilen doch unvermeidlichen längeren Pausen kommt und

46 Eke, Norbert Otto: „Bühne als Wahrnehmungsraum. Stimme, Klang und Präsenz“. In: Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Hg. v. dems., Ulrike Haß u. Irina Kaldrack. Paderborn 2014, 29–46, S. 34. 47 Die überaus detaillierte Beschreibung von Gestik und Stimmführung im Nebentext von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua erscheint an rhetorischer actio geschult und bildet das Leistungsspektrum zeitgenössischer Schauspielkunst nicht nur ab, sondern fordert diese geradezu pädagogisch heraus. 48 Ein Zürcher Rezensent der Räuber hebt die Bedeutung der Zwischenmusik als Illusionsgehilfin hervor: „Amalia geht ab, Karl erscheint und der Zuschauer hätte zwischenweg kaum die Hand umwenden können. Dies geht nicht natürlich zu, muss er denken, und fort ist die Täuschung! Wäre hingegen der Vorhang gefallen, hätte das Orchester die kleinste Pause mit Musik gefüllt, so würde sich die Einbildungskraft der Anwesenden der Veränderung der Bühne und dem Gedanken an die weite Entfernung leichter angeschmiegt haben.“ Zit. n. Braun, Julius (Hg.): Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen, 1. Abt.: Schiller 1: 1781–1793. Leipzig 1882, S. 90.

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sonach das Pochen und Lärmen als Zeichen der Ungeduld und Aufforderung zum Wiederanfang vermieden [. . .] wird.“49 In der Mannheimer Erstaufführung der Verschwörung des Fiesko zu Genua werden „Ouvertüre, Zwischenakte, und die darinnen vorkommende Musik“ (NA, 4, 270) von Ferdinand Fränzl komponiert. Die theatermusikalische Konvention des achtzehnten Jahrhunderts gerät jedoch oft in Vergessenheit, da dramatische Texte üblicherweise keinerlei Referenzen darauf enthalten und die entsprechenden Bühnenmusiken in den Archiven meist nicht überliefert sind. Der Dramentext von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua verweist jedoch explizit auf die theaterübliche Bühnenmusik, schafft fließende Übergänge zu einer handlungsbezogenen Musik und verknüpft solchermaßen akustisch den Theaterraum mit dem dramatischen Raum. Gleich die erste Regiebemerkung des Dramas zeigt eine solche Verbindung an: ERSTER AUFZUG Saal bei F i es k o. Man hört in der Ferne eine Tanzmusik, und den Tumult eines Balls. [. . .] (NA, 4, 13, 1–3)

Die theaterpraktische Technik dieser akustischen Gestaltung der Eröffnungsszene spezifiziert die Mannheimer Bühnenfassung, welche die Herkunft der Klänge genauer lokalisiert und in eine imaginäre Aufführungssituation einbettet: Tanzmusik und Ballgetümmel erschallen aus dem Offstage-Bereich hinter der Szene, sobald die Ouvertüre, welche die Theaterbesucher empfängt, endet. Ein prächtig erleuchteter Saal im Pallast des Fiesko. Wie das Orchester endigt und der Vorhang aufgezogen wird, fängt hinter der Szene eine Tanzmusik an; man hört zugleich den Tumult eines Balls. (NA, 4, 131, 2–4)

Auf diese Weise stellt die Mannheimer Bühnenfassung ein – wenn auch leicht verschobenes – Klang-Kontinuum zwischen Theater-Ouvertüre und Maskenball-Tanzmusik her, die darauf abzielt, den szenischen Raum an den theatralen Raum zu binden. Nur kurz sei hier erwähnt, dass die Mannheimer Erstaufführung des Maskerade-Stücks am 11. Januar 1784 bewusst „bei Eröffnung des Carnevals“ (NA, 4, 269) gegeben und in diese „Lustbarkeiten“ (ebd.) eingefügt wurde.50 Damit überspielt das Stück die konventionelle Grenze zwischen Karneval und Maskenball, zwischen Parkett und Bühne. Doch auch in der Erstdruckfassung führt die Lokalisierung von Tanzmusik und Ballgetümmel „hinter der Szene“ beziehungsweise „in der Ferne“ zu einer 49 Düringer, Philipp u. Heinrich Ludwig Bartels: Theater-Lexikon. Theoretisch-praktisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters. Leipzig 1841, S. 1146. 50 Eine Überschwemmungskatastrophe verhindert letztlich ausgelassene Carnevals-Tage; vgl. NA, 4, 275.

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räumlichen Ausdehnung beziehungsweise Kontextualisierung des Schauplatzes. Szenisch präsentiert wird allein der Saal, die Existenz eines dahinterliegenden größeren Ballsaals wird allerdings akustisch angedeutet. So erhält jener ferne Ballsaal gleichwohl verborgene Präsenz. Diese Technik der akustischen Raumerzeugung setzt Schiller unter anderem wieder in Wallensteins Lager ein, das bekanntlich mit einem Soldatenlied beginnt – jedoch ohne die Technik wie in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua im Dramentext explizit kenntlich zu machen. Anton Genast, Schauspieler und Regisseur am Weimarer Hoftheater, erinnert sich an die Uraufführung 1798: Den ersten Vers [des Soldatenliedes] sang man, ehe der Vorhang aufgezogen wurde [. . .]. Der vierte und fünfte Vers wurden hinter den Kulissen gesungen, um dadurch anzudeuten, daß sich das Lager auf beiden Seiten noch ausdehne; dann wurde immer der Refrain auf offener Szene wiederholt, wodurch großes Leben in das Ganze kam. Zur Hauptprobe kam Schiller selbst von Jena herüber und änderte dabei noch manchen Vers. Über die Inszenierung war er entzückt [. . .].51

Bemerkenswert ist nicht nur das kontinuierliche Interesse Schillers für solche theaterwirksamen Techniken, die allerdings in seiner klassischen Zeit weniger Spuren im Text hinterlassen. Bedeutsam ist auch das breite Nutzungsspektrum dieser Technik: In Wallensteins Lager treten onstage und offstage durch die Wiederholung des Refrains in einen klanglichen Dialog, um die schier endlose Ausdehnung des Lagers anzudeuten, die jede Bühnendimension sprengt. Dagegen verbindet die Musik in Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (nach der Mannheimer Bühnenfassung) den theatralen Raum und den szenischen Raum. Im dramatischen Text markiert die Musik „in der Ferne“ eine Relation von Nebenschauplatz und Schauplatz, die das Publikum die Enthüllung des Ballsaals mit Spannung erwarten lässt. Mit einem „[r]auschende[n] Allegro“ (NA, 4, 19, 36) hebt sich der Mittelhang und rückt den Ballsaal durch das Crescendo in den Vordergrund. Die zweite und letzte akustische Technik der Raumerzeugung, die ich beschreiben möchte, besteht in der Hörbarmachung des Aufstands selbst. Im Gegensatz zur Verschwörung, die sich still und heimlich abspielt, ist der Aufstand lautstark: [Man hört ein Getöß von der Straße mit Geschrei vermengt.] FIESKO. Stille! horch! Was ist das für ein verworrenes Gesumse? MOHR ans Fenster fliegend. Es ist das Geschrei vieler

51 Anton Genasts Erinnerungen finden sich in denen seines Sohnes: Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Hg. v. Robert Kohlrausch. Stuttgart 1903, S. 60; Hervorhebung der Verfasserin.

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Menschen, die vom Rathhaus herabkommen. FIESKO. Heute ist Pr oku ra tor wa hl . [. . .] Ich will hinauf. [. . .] [Der Lärm kommt näher.] FIESKO. Der Tumult wälzt sich hieher. Horch. Das ist nicht das Gejauchze des Beifalls. [. . .] MOHR am Fenster, schreit. Was ist das? Die Strasse Balbi herunter – Troß vieler Tausende – Hellebarden blizen – Schwerdter – Holla! Senatoren – fliegen hieher – FIESKO. Es ist ein Aufruhr. (NA, 4, 44, 1–19; die in eckige Klammern gesetzten Nebentexte entstammen der Mannheimer Bühnenfassung NA, 4, 150, 5–18)

Die Perspektive der Figuren führt dem Leser bewegte Bilder und Geräusche vor Augen und vor Ohren – und lässt sich damit als eine filmische Technik avant la lettre beschreiben. So hat Gert Mattenklott die schnellen Wechsel, die realistische Ausgestaltung und „demonstrative Bildhaftigkeit“ von Schauplätzen in J. M. R. Lenz’ Sturm-und-Drang-Stücken als (stumm-)filmische Verfahren beschrieben.52 Die abgehackten Ausrufe „Troß vieler Tausende – Hellebarden blizen – Schwerdter“ wirken wie einzelne Fokussierungen einer Kamera. Die betonte Bewegungsrichtung auf die unbewegten ‚Zuschauer‘ Fiesko und Muley Hassan zu („wälzt sich hieher“, „fliegen hieher“) erscheint wie eine Vorwegnahme der berühmten Ur-Szene des Kinos: Der Stummfilm L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat der Brüder Lumière (1896) zeigt einen Zug, der frontal auf den Bahnhof zu- und den Zuschauern gewissermaßen entgegenfährt. Der Legende nach ergriffen die Zuschauer angesichts des sie scheinbar überrollenden Zuges (im noch ungewohnten Medium) die Flucht. Die Bedrohlichkeit der sich rasch nahenden Masse wirkt auch in Schillers Szene. Sie wird noch gesteigert durch das audiovisuelle Zusammenspiel. Denn die klassische Mauerschau, die mit dem Kennwort „Sieh!“ oder „Schau!“ eingeleitet wird, erscheint hier durch die zweimalige Wiederholung von „Horch!“ als auditive Mauerschau oder ‚Hör-Bericht‘.53 Der Aufstand vieler Tausender ist auf der Bühne nicht offen darstellbar. Dass das verdeckte Geschehen jedoch nicht nur gesehen, sondern vor allem gehört wird, erscheint mir der spezifischen Bedeutung des Aufruhrs geschuldet. Aufrührer, genauer gesagt: Rebellen, erklärt Zedlers Universal-Lexicon, seien Unruhestifter im Wortsinn, „welche durch häuffiges und lautes Geschrey oder andern Lermen den gemeinen Pöbel wider

52 Diesen Hinweis verdanke ich Peter-André Alt. Vgl. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968, S. 132. 53 Den Begriff „Hör-Bericht“ führt Thomas Boyken in Bezug auf Maria Stuart ein. Schiller entscheide sich theaterwirksam dafür, die Enthauptung nicht zu zeigen, sondern „einen eindringlichen (Hör-)Bericht der Hinrichtung“ zu schildern, „der die Grausamkeit sogar potenziert, weil sie im Vorstellungsbereich der Zuschauer bleibt“; Boyken, Thomas: ‚So will ich dir ein männlich Beispiel geben‘. Männlichkeitsimaginationen im dramatischen Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2014, S. 257.

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die ordentliche Obrigkeit auffzuwiegeln suchen.“54 Aus Sicht der beiden Figuren, welche das Geschehen hören und sehen, stellt das Gehör zunächst die unzuverlässige Wahrnehmung aus: Das „verworrene Gesumse“ will erklärt werden. Während die massive Menschenansammlung schnell sichtbar wird, bleibt ihre Bedeutung interpretierungsbedürftig. Erst die Kombination aus Gehör und Gesicht ermöglicht Fiesko nicht nur die Ortung des Geschehens, sondern auch ihre Interpretation: „Es ist ein Aufruhr.“ Die unruhige, unübersichtliche Choreografie des Dramas findet ihr Gegenstück in seiner unruhigen, verworrenen Akustik.

7 Schluss Fiesko zu Genua ist eine dramatische Figur, die allererst durch den Raum Kontur gewinnt, den sie zu beherrschen anstrebt, und an diesem Raum scheitert. „Da er noch Fiesko war“, erinnert sich Leonore zu Beginn des Dramas, trat er ihr als männliches Idol gegenüber, so „herrlich [. . .], als wenn das Du r ch lau c ht ig e G en u a auf seinen jungen Schultern sich wiegte“ (NA, 4, 14, 18–22). „Genuas gröste[r] Mann“ (NA, 4, 14, 33), wie Leonore den einstigen und ihrer Hoffnung nach zugleich zukünftigen55 Fiesko beschreibt, wird metonymisch durch Genua zu seiner Größe gebracht und fällt diesem Raum schließlich zum Opfer. Fiesko büßt seine souveräne Position als Kopf der Verschwörung ein und geht buchstäblich unter. Versteht man Dramentext und Theaterpraxis nicht als Vorher-NachherRelation, sondern als intermediale Interaktion, ergeben sich neue Perspektiven auf den dramatischen Text. Indem Schiller Räume imaginär zu sehen und zu hören gibt, appelliert er an die Sinne der Leser als geübte Zuschauer. Die Analyse der theaterbezogenen Techniken der Raumdarstellung (Bühnenbilder, Choreografie, Akustik) im Dramentext von Die Verschwörung des Fiesko zu Genua stellt die Verschränkung von szenischem und dramatischem Raum als Spiel des Enthüllens und Verbergens, der Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit aus. Der desorientierende Raum des Dramas wird als Szenografie der Verschwörung lesbar und Genua als ambivalenter, prozessualer Raum konfligierender Herrschaftsansprüche.

54 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 30. Leipzig u. Halle 1741, Sp. 1233–1234. 55 Leonore gibt die bereits an ihrem Hochzeitstag formulierte Hoffnung auf Fieskos Führerschaft über Genua nicht auf: „Fiesko [. . .] wird [. . .] uns Ge nua von sei nen Tyr an nen er l ö s e n!“; NA, 4, 15, 4–6.

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„Szenen für die Augen, voll Handlung und Bewegung“ Die Spektakel der Legitimität in Schillers Demetrius-Projekt Für Rolf-Peter Janz

In seiner berühmten Schrift Politik als Beruf (1919) legt Max Weber das Fazit seiner Überlegungen über die Formen der Legitimation von Macht vor. Seine Typologie sieht dabei die Grundlage der Legitimität nicht etwa in einer externen, mit universellen Formen des gesellschaftlichen Lebens wie Familie, Krieg oder Handeln korrelierenden Beziehung. Weber bringt sie vielmehr in Zusammenhang mit einem subjektiven Glauben an die Geltung der Macht, der man zu Gehorsam verpflichtet ist. Aus der soziologisch-deskriptiven Perspektive Webers erfasst der Legitimitätsbegriff die Rechtfertigungsmechanismen der Macht, die tatsächlich in jeder organisierten menschlichen Gemeinschaft vorhanden sind.1 Es wird also die Frage aufgeworfen, inwiefern sich Macht plausibel und wirksam legitimieren lässt – sowohl aus Sicht des Herrschers als auch des Beherrschten. Der Glaube an die Legitimität einer bestimmten Macht äußert sich in drei Formen, denen sich drei Idealtypen von Herrschaft zuschreiben lassen: traditionelle, charismatische und gesetzmäßige Macht. Nach Weber besteht die Legitimation der traditionellen Macht in der Autorität „d[e]s ewig Gestrige [n]“.2 Ohne seine Quelle anzugeben, beruft sich der Soziologe hier auf den berühmten Achsenmonolog Wallensteins, der offensichtlich seiner damaligen Leserschaft bekannt war. Dieser Verweis auf Schiller in Webers Politik als Beruf gilt als Indiz, dem nachzuspüren sich lohnt, in der etwas weiter gefassten Frage, ob und in welchem Maße Schillers Dramen Gedankenansätze zum

1 Zur Einführung immer noch aufschlussreich: Hofmann, Hasso: „Legalität, Legitimität“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5. Hg. v. Joachim Ritter. Darmstadt 1980, Sp. 161–166; Würtenberger, Thomas: Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte. Berlin 1973, S. 329; ders.: „Legitimität, Legalität“. In: Geschichtliche Grundbegriffe 3. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1982, 677–740. 2 Vgl. Weber, Max: „Politik als Beruf 1919“. In: Max Weber-Gesamtausgabe. Studienausgabe. Abt. I/17. Hg. v. Wolfgang. J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgit Morgenbrod. Tübingen 1992, S. 37. Weber selbst verweist nicht explizit auf Schiller; die entsprechende Stelle wäre NA, 8, NII, 17. https://doi.org/10.1515/9783110667066-006

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Legitimitätsbegriff in seiner Zeit enthalten – Ansätze, die sich erst viel später, im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts, haben entfalten können. Die Idealtypologie Webers wurde bereits des Öfteren zur Interpretation von Schillers Dramen bemüht, insbesondere in Bezug auf sein letztes unvollendetes Stück Demetrius. Wie man in der Forschung der letzten Jahrzehnte immer noch lesen kann, verdeutliche Schiller darin die Grenzen und Gefahren einer im Grunde subjektiv-charismatischen Machtlegitimation.3 Das Charisma, das Demetrius’ Thronbesteigung begünstigt, wird von seiner Überzeugung genährt, der echte Zarewitsch zu sein. Doch als er erfährt, dass sein Thronanspruch nicht legitim ist, sondern nur zum Zweck einer vertrackten Intrige vorgegaukelt wurde, erweist sich diese Macht, die Demetrius aus seiner Überzeugung heraus, der wahre Thronerbe zu sein, angestrebt hat, in seinen eigenen Augen als bar jeder Legitimation. In der Logik des Protagonisten und der dramatischen Handlung bestünde damit – so auch die neuere Forschung4 – die einzig plausible Form der Herrschaftslegitimation in der traditionellen dynastischen Erbfolge. Die von Schiller damit dargebotene Lösung sei implizit restaurativ, denn er erkenne letztendlich nur die traditionelle Monarchie als die einzige legitime Regierungsform an. Ich möchte mich hier von dieser Lesart entfernen und eine andere Richtung einschlagen. Dabei ist mir nicht daran gelegen, begriffliche Konstrukte aus dem Dramentext herauszulösen, um sie auf die vermeintlichen politisch-ideologischen Positionen des Autors oder seiner Zeitgenossen zurückzuführen. Der naturrechtliche Diskurs von Hobbes bis Rousseau basiert auf einer immer wieder vorkommenden Annahme: Es wird ein Prozess der Zivilisation postuliert, der Gewalt und Feindschaft neutralisieren und danach streben soll, die autonome Dynamik der Macht und des Konflikts durch die Logik des Vertrags, des Rechts und des Austauschs zu ersetzen. Vor dem Hintergrund dieses philosophisch-politischen Projekts ist der Beitrag Schillers nicht zu unterschätzen. Auch seine späten historischen Dramen von Wallenstein bis Wilhelm Tell sind als politische Dramen 3 So die maßgebliche Lesart von Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Von der Aufklärung bis zum Idealismus 1. Heidelberg 1976, S. 451–466. 4 Auf das Weber’sche Vokabular Schmidts beruft sich die Forschung des letzten Jahrzehnts noch immer: Sow, Alioune: „Die Frage nach der Legitimität der Macht in Schillers DramenFragment Demetrius“. In: Germanistik in und zwischen den Kulturen. Festschrift für David Simo. Hg. v. Esaïe Djomo u. Albert Gouaffo. Leipzig 2004, 30–44; Springer, Mirjam: „Endlose Geschichte. Schillers letztes Drama Demetrius“. In: Schiller und die Geschichte. Hg. v. Michael Hofmann, Jorn Rüsen u. ders. München 2006, 226–238; Robert, Jörg: „Selbstbetrug und Selbstbewußtsein: Demetrius oder das Spiel der Identitäten“. In: Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Hg. v. Jörg Robert. Würzburg 2007, 113–141.

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zu lesen,5 die in einem komplexen Wechselspiel aus Brechung und Verfremdung der politisch-sozialen Umwälzungen um 1800 grundsätzliche und zentrale Fragen der damaligen europäischen juristischen Begrifflichkeit wiedergeben. Aber bei dieser juristischen Begrifflichkeit – das ist der Punkt – kann die Theatersprache Schillers jene Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten zutage fördern, die sonst in den zu engen Maschen des publizistischen und akademischen Diskurses seiner Zeitgenossen verborgen blieben.6 Schiller stellt sich die Politik durch das Theater vor, und das Theater durch die Politik. Das geschieht auch im Fall der Legitimitätsfrage, die im DemetriusProjekt jede Kategorie des naturrechtlichen Diskurses endgültig verabschiedet. In den nachgelassenen dramatischen Fragmenten stößt man auf erstaunliche dramaturgische Entwürfe, die das politische Thema neu erhellen können. Ohne rückwirkend philosophisch-politische Kategorien aus dem zwanzigsten Jahrhundert auf den Text unvermittelt anzuwenden, geht es also darum, das nicht für selbstverständlich hinzunehmen, was womöglich als Resultat einer gewagten Unternehmung Schillers selbst angesehen werden könnte. Wie zu zeigen sein wird, schlägt das letzte unvollendete Drama neue Wege ein: Aufgrund innovativer dramaturgischer Mittel werden zugleich auch unerwartete juristisch-politische Perspektiven eröffnet. Im Demetrius-Projekt werden zentrale Elemente der Schiller’schen Dramaturgie in beeindruckenden Massenszenen und in politischen Choreografien in solchem Maße auf die Spitze getrieben, dass eine neue Sichtweise auf die Frage der Legitimität im theatralischen Medium erzeugt wird. Wie jüngst hervorgehoben, sind Ritualinszenierungen in Schillers Theater nichts Neues. Im Don Karlos, in der Maria Stuart, in der Jungfrau von Orleans sind Kontrafakturen von höfischen Ritualen des Absolutismus in der Frühen Neuzeit zu lesen. Beinhalten sie einerseits szenische Elemente, bieten sie andererseits den Bühnen auch ein Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, die, wie Wilhelm von Humboldt 1799 in Bezug auf die Pariser Theater beobachtete, von ihren sozialen Funktionen abgekoppelt werden und sich verselbstständigen 5 Vgl. Alt, Peter-André: „‚Arbeit für mehr als ein Jahrhundert.‘ Schillers Verständnis von Ästhetik und Politik in der Periode der französischen Revolution (1790–1800)“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), 102–133. Dazu zuletzt die einführenden Bemerkungen von Peter Schnyder: „‚Die Zeit bringt Rath.‘ Schillers Wilhelm Tell als Drama der Temporalität“. In: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hg. v. Michael Gamper u. Helmut Hühn. Hannover 2014, 245–247. 6 Im deutschen Sprachraum werden die staatstheoretischen Bedeutungen im semantischen Feld von ‚legitim‘ erst ab dem neunzehnten Jahrhundert bezeugt. Vgl. Würtenberger: Die Legitimität, S. 24–26. Im Demetrius-Fragment kann man – wie hier zu zeigen sein wird – in der dramaturgischen Reflexion Schillers über die Formen der politischen Machtrepräsentation noch nicht bezeugte Bedeutungen von Legitimität erkennen.

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können. In Schillers Kontrafakturen interagiert die Autonomie der künstlerischen Darstellung mit der politisch-sozialen Symbolik, die in das höfische Ritual eingeschrieben ist, und trägt in sich die Spuren der Erosion der Glaubwürdigkeit der Ordnungen des Ancien Régime.7 Im Demetrius weist diese Art der Inszenierung weitere Valenzen auf. In der Entstehungsgeschichte des Projektes sticht eine entscheidende Wende besonders hervor. Im März 1805 verwirft Schiller endgültig die sogenannte Samborfassung, in deren Exposition der Protagonist in seinem unschuldigen und privaten Zustand gezeigt wird. In der Reichstagsfassung hingegen beginnt das Drama direkt in medias res: Der Held hat bereits von seiner angeblichen Identität erfahren und fordert in seinem ersten Auftritt vor dem versammelten Parlament in Krakau seinen legitimen Titel als Zarewitsch ein. Die Regieanweisung zu dieser Eröffnungsszene, der ein Stich aus dem siebzehnten Jahrhundert als Vorbild diente,8 gibt auf den ersten Blick ein Porträt der alten vorrevolutionären Ordnung der streng getrennten Ständegesellschaft wieder. Doch die Notizen im Nachlass deuten auf etwas anderes hin. Tatsächlich hatte Schiller vor, verschiedene Regierungs- und Legitimitätsformen miteinander zu vergleichen: Der polnische Republikanismus wird dem zaristischen Despotismus gegenübergestellt.9 Im Studienheft schreibt Schiller: „Ungeheurer Abstand der Pohlen und Rußen ist darzustellen, jene frei, unabhängig, diese knechtisch, unterwürfig.“ (NA, 11, 99, 18–20) Die Freiheit der Polen, so ist in den Notizen überdies zu lesen, ist eine republikanische Freiheit, der Herrscher wird gewählt, es wird eine „absolute Gleichheit aller Polnischer Edelleute“ (NA, 11, 68, 38) gegenüber dem König anerkannt. Die Szene mit dem versammelten polnischen Parlament in Krakau impliziert also Züge eines republikanischen Rituals. In Frankreich schafft im achtzehnten Jahrhundert die Ordnung der republikanischen Verfassung neue Symbole und sucht nach neuen Formen der öffentlichen Repräsentation.10 Die Pariser Aufmärsche während der Französischen Revolution entdecken die religiösen Prozessionen, die Triumphzüge der römischen Antike 7 Vgl. Alt, Peter-André: „Der Zeremonienmeister. Schillers politisches Theater und die Kontrafakturen des höfischen Rituals“. In: Schiller, der Spieler. Hg. v. Peter-André Alt, Ulrich Raulff u. Marcel Lepper. Göttingen 2013, 161–187. 8 Das Bild findet sich in: Connor, Bernard: Beschreibung des Königreichs Polen und GroßHertzogthums Litthauen. Durch D. Bernard Connor, Medicum in Londen, vormahls Leib-Medicum Königs Johannis III in Polen. Leipzig 1700, S. 32. 9 Vgl. Demmer, Sybille: „‚ . . . ein gesittetes Volk aus Wilden‘. Schillers Russlandbild“. In: Russen und Russland aus deutscher Sicht im 18. Jahrhundert: Aufklärung. Hg. v. Mechthild Keller. München 1987, 576–581. 10 Vgl. Althoff, Gerd u. Barbara Stollberg-Rilinger: „Einleitung“. In: Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Hg. v. Gerd Althoff, Jutta Götzmann u. a. Darmstadt 2008,

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oder die königlichen Entrées der Neuzeit neu und finden einen Kulminationspunkt im revolutionären Fest.11 War das Zeremoniell der Krönung nach der Logik der zwei Körper des Königs aufgebaut, so sollten die revolutionären Feste die Souveränität des Volkes aufzeigen, die Nation als abstrakte Gemeinschaft Gleichgestellter.12 Das große Versöhnungsfest 1790 auf dem Pariser Marsfeld fand seinen Höhepunkt in dem Eid der Anwesenden auf dem Altar des Vaterlandes, wobei das antike Ritual des Eidschwurs umgewandelt wurde. Wie schon der Rütlischwur der Eidgenossen in Wilhelm Tell beweist, sind dem Schiller’schen Theater solche für die neue Ausübung der Macht typischen und mit republikanischen Konnotationen aufgeladenen Massenszenen nicht fremd. Republikanische Implikationen sind auch in der Eröffnungsszene des Demetrius-Fragments nicht zu übersehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Ausgang der öffentlichen Debatte entscheidend, um die Relevanz der Reichstagsszene im Hinblick auf den Diskurs der Legitimität zu begreifen. Im polnischen Parlament laufen die Debatten nach den in der Verfassung festgelegten Regeln ab, so wird etwa auf die genaue Einhaltung der Prozedur geachtet, die das Vetorecht beinhaltet.13 Der polnische Magnat Sapieha wird das Vetorecht in Anspruch nehmen, beschränkt sich jedoch nicht darauf, sondern wird die Grundlagen der republikanischen Ordnung selbst infrage stellen. Indem Sapieha die Entwicklung der gesamten Dramenhandlung vorwegnimmt, klagt er das ganze „Geweb der Arglist“ (NA, 11, 21, 410) der Unterstützer von Demetrius an, ohne jedoch die eigenen Interessen preiszugeben, die er selbst in Absprache mit dem König hinter den Kulissen insgeheim verfolgt. Doch vor allem kulminiert sein Redebeitrag in einer fatalen Aussage: „Die Mehrheit? / Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, / Verstand ist stets bei wengen (sic) nur gewesen. [. . .] Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen [. . .].“ (NA, 11, 23, 460–467) Das Parlament, dem Demetrius die Anerkennung seines Rechtes

14–19. Vgl. auch: Stollberg-Rilinger, Barbara: „Herrschaftszeremoniell“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 5. Hg. v. Friedrich Jaeger. Darmstadt 2007, Sp. 416–424. 11 Vgl. Thamer, Hans-Ulrich: „Rituale in der Moderne“. In: Althoff u. Stollberg-Rilinger (2008), 63–68; Schröer, Christina: „Spektakel des Umbruchs. Politische Inszenierungen in der Französischen Revolution zwischen Tradition und Moderne“. In: Althoff u. Stollberg-Rilinger (2008), 216–222. 12 Dazu siehe auch Koschorke, Albrecht, Thomas Frank u. a. (Hg.): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/Main 2007. 13 Eine interessante kulturwissenschaftliche Untersuchung zum Topos des polnischen Reichstags: Meyerweissflog, Maddalena: „‚Polnischer Reichstag‘ in Schillers Demetrius-Fragment: Inszenierung des Legitimierungsdiskurses in der deutschen Dramatik“. In: Migrationen / Standortwechsel: Deutsches Theater in Polen. Hg. v. Artur Pełka u. Karolina PrykowskaMichalak. Łódź 2007, 155–168.

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anvertraute, wird dadurch vollkommen diskreditiert. Die Schmährede von Sapieha offenbart und bewirkt zugleich die radikale Delegitimierung der ganzen Versammlung. Die Gesetzmäßigkeit, die Einhaltung der festgelegten Rechtsnormen, wird als reiner Formalismus desavouiert. In der Geschichte der europäischen Institutionen ist die Kritik am Mehrheitsprinzip nichts Neues, sie wird aber nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts und darüber hinaus auf der Basis veränderter Paradigmen verhandelt. In Bezug auf den historischen Kontext der Entstehung des Dramenfragments ist die Reichweite der Äußerung von Sapieha in der ‚republikanischen‘ Szene offensichtlich. Sie wirkt wie eine Kritik an den Illusionen einer repräsentativen Demokratie. Die Einwände des polnischen Magnaten klingen wie eine überraschende Anklage ante litteram gegen die Grenzen des Parlamentarismus und seiner Prozeduren. Sapiehas Schmährede gegen das Mehrheitsprinzip markiert in der Tat den Abschied vom republikanischen Ritual, seine komplette Auflösung: „[A]llgemeiner Aufstand, der König steigt vom Thron, die Schranken werden eingestürzt, es entsteht ein tumultuarisches Getöse. Landboten greifen zu den Säbeln [. . .].“ (NA, 11, 23, vor 460). Die öffentliche Debatte im Parlament endet im versuchten Lynchmord an einem seiner Mitglieder. Es ist also nicht die rationale Argumentation, die vom Recht geregelte Auseinandersetzung, die über die Glaubwürdigkeit der Forderungen von Demetrius entscheidet. Aber was entscheidet dann über seine Legitimität? Eine Notiz im Nachlass gibt diesbezüglich einen wichtigen Hinweis. Beim Erwägen der Stärken und Schwächen seiner Arbeit vermerkt Schiller an einer markanten Stelle zu den Vorteilen seines Dramas gehöre: „Der Effekt des Glaubens an sich selbst und des Glaubens anderer. Demetrius hält sich für den Czar und dadurch wird ers. – Die Rußen glauben an ihn und so wird er zu dem Throne emporgetragen.“ (NA, 11, 109, 18–22) Der „Glauben an sich selbst“ charakterisiert nicht nur die subjektive Selbstwahrnehmung des Protagonisten. „Glauben“ ist als ein Schlüsselbegriff im gesamten Dramenprojekt zu erkennen:14 Er taucht etwa dreißig Mal auf, und, was noch bezeichnender ist, dies gilt genauso für den Begriff „Glauben anderer“. Was Schiller hier beabsichtigt, in Szene zu setzen, ist nicht nur die Wirkung des Glaubens der Hauptfigur an sich selbst, seine verhängnisvolle Selbsttäuschung, sondern auch die Wirkung des Glaubens anderer. Wie die Reichstagsszene zeigt, lässt Schillers letztes dramatisches Experiment die Optionen verschiedener Staats- und Regierungsformen und die geläufigen Kategorien

14 Im Kontext einer ganz anderen Fragestellung hat Binder das Vorkommen von „Glauben“ im Text hervorgehoben: Binder, Wolfgang: „Schillers Demetrius“. In: Euphorion 53 (1959), 252–280, S. 271.

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des politischen Diskurses seiner Zeit hinter sich. Dies ist nur möglich, weil das Drama weniger darum bemüht ist zu zeigen, auf der Grundlage welchen Prinzips die Macht gerechtfertigt werden kann. Vielmehr inszeniert es die Wirkung des Glaubens im Bereich des politischen Handelns, als bestimmendes und integrales Element bei der Legitimität beziehungsweise Legitimierung jeglicher Macht. Im Demetrius-Fragment wird die Wirkung des Glaubens als begriffliches Element des postrevolutionären politischen Denkens über die Legitimität dramaturgisch gestaltet. Wie zutreffend dargestellt wurde,15 handelt es sich um eine Legitimität, für die jede Macht, um sich als solche bezeichnen zu können, nicht nur eine Selbstrechtfertigung benötigt, sondern sich dazu auch manifestieren muss. Sie muss sich vor allem zeigen, damit man an sie glaubt. Die Selbstdarstellung der Macht dient somit dem Zweck, einen Beweis für ihre Vertrauenswürdigkeit als Objekt des Glaubens zu liefern. Im Fall des Demetrius-Projekts geht es nicht darum, eine begriffliche Formulierung ausfindig zu machen, die in einer Textpassage explizit ausgedrückt wäre, sondern herauszuarbeiten, wie der „Effekt des Glaubens“ (NA, 11, 109, 18), den Schiller als entscheidenden Vorteil in seinem russischen Sujet erkannte, in der Theatersprache realisiert werden könnte. Zwischen den dramaturgischen Absichten und dem Stoff der polnischrussischen Staatsaktion entsteht in der Tat eine beachtliche Reihe an Wechselwirkungen, die im Licht der gewagten experimentellen Offenheit des späten Schiller betrachtet werden müssen.16 Auch in anderen Entwürfen aus dem Nachlass liest man von „Scenen für die Augen, voll Handlung und Bewegung“ (NA, 12, 319). In der Genese der Marfa-Szene im zweiten Aufzug fällt eine visionäre Komponente in Schillers Schreiben auf: ein anhaltender Fluss an (Natur- und Landschafts-)Bildern und Assoziationen, dem Schiller während des Schreibprozesses freien Lauf lässt.17 Es könnte somit nicht ganz fehl am Platz sein zu vermuten, dass hier diese imaginierten Bühnen teilweise dazu beitragen, den Stoff dramaturgisch zu gestalten. Im Falle des Demetrius scheint diese neue Dramaturgie sich selbst überbieten zu wollen, im Streben nach dem Großformatigen, dem 15 Erhellend: Münkler, Herfried: „Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung“. In: Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht. Hg. v. Gerhard Göhler. Baden-Baden 1995, 213–230. 16 Wichtig: Frick, Werner: „Trilogie der Kühnheit. Die Jungfrau von Orleans, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell“. In: Schiller. Werk-Interpretationen. Hg. v. Günter Sasse. Heidelberg 2005, 137–174. Zum Demetrius-Projekt als Rekapitulierung der Schiller’schen Dramaturgie siehe auch: Linder, Jutta: Schillers Dramen. Bauprinzip und Wirkungsstrategie. Bonn 1989, S. 13. 17 Vgl. Robert, Jörg: „‚Punctum saliens‘ und empirische Wende. Schillers späte Fragmente und ihre Poetik“. In: Schillers Schreiben. Hg. v. Silke Henke u. Nikolas Immer. Weimar 2013, 11–40, S. 13–17.

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Kolossalen, dem Nie-Gesehenen.18 Einer der größten Vorteile des Projektes besteht gerade darin, dass es „ganz Handlung ist“ und „[v]iel für die Augen hat“ (NA, 11, 179, 27). In den Notizen zeichnet sich eine fast programmatisch verfolgte Verdichtung des Ausdrucks zugunsten des Visuellen ab: „Vorzüglich ist das zu beobachten, daß alles in Handlung erscheint, und [. . .] von bloßen Reden so wenig als möglich vorkommt.“ (NA, 11, 117, 6–9) Das Visuelle bestätigt somit eine historisch erfolgte Transformation der theatralen Beziehung zwischen Schauspieler und Publikum. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird der Zuschauer nicht mehr als Adressat einer Kommunikation gedacht, die nach dem rhetorischen Modell der Kopräsenz von Redner und Zuhörer funktioniert. Letzterer wird eher zu einem als abwesend imaginierten Zuschauer, zum Beobachter. Das Theater wird der Ort, wo man sieht und gesehen wird, wo Menschen andere Menschen beobachten.19 Im Demetrius-Projekt wird Schillers Dramaturgie nun zu einer Dramaturgie für die Augen, die mit öffentlichen und Massenchoreografien arbeitet, das heißt mit den Spektakeln der Macht. Die große Eröffnungsszene im Reichstag sollte kein Einzelfall bleiben. In Schillers Notizen ist die Rede von „s i n n l i ch en und zum Theil p rä ch ti ge n Darstellungen“ (NA, 11, 109, 29–38) und von „Züge[n] brutaler Zargewalt [. . .], Siege[n], Ceremonien us. f.“ (ebd.). Die Hypertrophie des Spektakulären, die diese Art von Inszenierung zulässt, reduziert sich nicht auf einen externen, dekorativen Faktor. Sie wird zielsicher und effektiv eingesetzt. Auf diesem Weg trifft sie sich mit jener Seite der Legitimierung der Macht, die, um überhaupt bestehen zu können, sich selbst manifestieren muss, damit man an sie glaubt. Es lohnt sich, nun auf die oben zitierte Textstelle zurückzugreifen: „Der Effekt des Glaubens an sich selbst und des Glaubens anderer. Demetrius hält sich für den Czar und dadurch wird ers. – Die Rußen glauben an ihn und so wird er zu dem Throne emporgetragen.“ (NA, 11, 109, 18–22) Diesmal muss man aber die genannte Stelle mit der nachträglich lapidar an den Rand geschriebenen Notiz zusammen lesen: „Art auf das Volk zu wirken.“ (NA, 11, 109) Im Demetrius wird damit das altchristliche und machiavellische Motiv,20 demzufolge das

18 Vgl. Springer: „Endlose Geschichte“, S. 230. Zu dieser Tendenz in den späten Dramen vgl. Frick: „Trilogie der Kühnheit“, S. 155. 19 Vgl. Lehmann, Johannes Friedrich: „Der Zuschauer als Paradigma der Moderne. Überlegungen zum Theater als Medium der Beobachtung“. In: Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Hg. v. Cristopher Balme, Erika Fischer-Lichte u. Stephan Grätzel. Tübingen u. Basel, 155–166. 20 Zum Komplex Machiavelli–Machiavellismus im deutschen politisch-philosophischen Diskurs des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Meyer, Annette u. Cornelius Zwierlein: „Einleitung“.

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Volk mehr den Augen als den Ohren glaubt, aufgegriffen. „Das Volk prüft nicht lange, es wird durch die Sinne und durch Ideen bewegt, selbst das abentheuerlichste findet bei ihm Glauben“ (NA, 11, 87, 25–28), heißt es im Studienheft. Nachdem Demetrius die russische Grenze mit seiner Armee erreicht hat, werden seine Emissäre, versorgt mit Ankündigungen, in das ganze Land geschickt. Im Studienheft schreibt Schiller: „Das Manifest des Demetrius wird in einem rußischen Dorf vorgelesen. [. . .] Man zweifelt keinen Augenblick an der Wahrheit – Symbol der Leichtigkeit womit man auf das Volk wirken kann, durch die gröbsten Mittel.“ (NA, 11, 131, 37–132, 4) In einer späteren Arbeitsphase drückt Schiller sich noch expliziter aus: „Die [. . .] Absicht dieser Scene ist, darzustellen, wie schnell das abentheuerliche bei dem gemeinen Volk Eingang findet [. . .] und durch welche Wege es wirkt.“ (NA, 11, 206, 4–6) Offensichtlich radikalisiert eine solche Dramaturgie des Sehens die Aufwertung der Theatralität, die Schiller in Weimar durch die unmittelbar vorangehenden Dramen für sich entdeckt hat. In Bezug darauf ist die bekannteste Stellungnahme Schillers in der Schrift Ueber den Gebrauch des Chors zu lesen, die als Vorrede zur Braut von Messina (1803) publiziert wurde: „Aber das tragische Dichterwerk wird erst durch die theatralische Vorstellung zu einem Ganzen“ (NA, 10, 7, 6–7). Wie Schiller in der Vorrede erläutert, kommt dem Dichter der „modernen Tragögie“ (NA, 10, 15) die Aufgabe zu, durch die Wiedereinführung des antiken Chors eine öffentliche Szene im Zeichen der Kunstautonomie neu zu schaffen. So ist es im Falle des Demetrius vielleicht nicht allzu gewagt, Drama und Theater anzunähern, das heißt Werkautonomie und Ästhetik des Performativen nebeneinanderzustellen.21 Dieses Nebeneinander der beiden Dimensionen zu betrachten, hilft dabei, den einzigartigen Zusammenhang zwischen politischer und ästhetischer Sphäre und vor allem das raffinierte dramaturgische Spiel Schillers zu erhellen, der nun dem Zuschauer eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Effekts des Glaubens zuschreibt. Im Dramenfragment ist in der Tat mehrmals eine in Schillers Theater bisher nicht erprobte Beziehung zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum, zwischen Schauspielern und Zuschauern, zwischen bühneninternem und bühnenexternem Publikum vorgesehen. Schiller begnügt sich nicht damit, dass das

In: Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. Hg. v. dens. München 2010, 1–23; Meyer, Annette: „Machiavellilektüre um 1800. Zur marginalisierten Rezeption in der Popularphilosophie“. In: Meyer u. Zwierlein (2010), 191–214. In der älteren Schiller-Forschung: Wölfel, Kurt: „Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik“. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer, Friedrich Strack u. Klaus Manger. Tübingen 1990, 319–340. 21 Vgl. Frick: „Trilogie der Kühnheit“, S. 159.

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Volk als Kollektiv auf der Bühne glaubt, was es mit seinen Augen sieht und damit die Legitimation des Prätendenten Demetrius bezeugt. Diese Erfahrung sollte auch für jene Zuschauer gelten, die im Theater sitzen. Beim Eintritt Demetrius’ im Reichstag lautet die Regieanweisung wie folgt: „Alsdann stellt er sich so, daß er einen großen Theil der Versammlung und des Publikums, von welchem angenommen wird daß es im Reichstag mit sitze, im Auge behält [. . .].“ (NA, 11, 8, nach 31) Es sind dann auch die Blicke der Zuschauer im Saal, die ihn als Thronfolger legitimieren.22 Der im Gesamtprojekt mitgedachte Zuschauer ist nicht nur der Mitspielende der Reichstagsszene, der, wie man an einer anderen Textstelle des Nachlasses liest („man hat ganz vergeßen, daß er nicht der Czaarowiz seyn könnte“ NA, 11, 94, 28–29), in dem Moment vergessen haben sollte, dass Demetrius nicht der echte Thronprätendent sein kann. Im Lauf der Aufführung soll der Zuschauer wieder als der eigentlich als abwesend imaginierte Beobachter auftreten, der Adressat einer ästhetischen Erziehung, einer Moralpädagogik, ist. Das geschieht schon, wenn Demetrius die Tränen der Marfa, seiner angeblichen Mutter, als vermeintlichen Beweis seines Thronanspruchs dem vor dem Zelt versammelten russischen Volk zur Schau stellt.23 Noch deutlicher in öffentlichpolitischer Hinsicht passiert das aber beim Einzug in Moskau, bei dem die auf der Bühne vorgesehenen Zuschauer und diejenigen im Zuschauerraum gleichzeitig als Kollektive adressiert werden. Das Szenar reflektiert im Detail die Disposition dieser Szene und arbeitet noch einmal mit dem entscheidenden Effekt des Glaubens anderer: [M]an blickt [. . .] in ein unermeßliches Gewühl von Häusern und Thürmen [. . .] in den Coulißenstücken unterscheidet man Zuschauer aus Fenstern und Dächern und Gerüsten.

22 In Bezug auf die Zuschauerrolle im Nachlass hat zuerst Springer die Relevanz dieser Regieanweisung hervorgehoben: Springer, Mirjam: „Und plötzlich mittendrin. Der Zuschauer in Schillers ‚Seestücken‘“. In: „Das Theater glich einem Irrenhause“. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hermann Korte u. Hans-JoachimJakob. Heidelberg 2012 (Proszenium 1), 133–158, S. 152–153. Mit wichtigen Bemerkungen zur Manipulierbarkeit des Zuschauers beziehungsweise zur Macht als ‚Augen-Schein‘ in der älteren Forschung: Utz, Peter: „Auge, Ohr und Herz. Schillers Dramaturgie der Sinne“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1985), 62–97, S. 94–95. Zuletzt hat Pleschka gezeigt, wie die parergonale Inklusion des Publikums die dargestellte Öffentlichkeit auf der Bühne integriert beziehungsweise modifiziert. In seiner dramenästhetischen Untersuchung bleiben allerdings die politischgeschichtlichen Konnotationen des Legitimitätsbegriffs eher ausgeblendet. Vgl. Pleschka, Alexander: Theatralität und Öffentlichkeit. Schillers Spätdramatik und die Tragödie der französischen Klassik. Berlin u. Boston 2012, S. 214–223. 23 Utz: „Auge, Ohr und Herz“, S. 95; Pleschka: Theatralität und Öffentlichkeit, S. 223.

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[. . .] Da die Zuschauer in dieser Scene eine Rolle mitspielen, so kann ihnen auch mehr (NA, 11, 219, 18–25) Raum gegeben werden.24

Hier könnte der Abstand zwischen bühneninternem und bühnenexternem Publikum nicht deutlicher sein. Im Unterschied zum Volk auf der Bühne, das seinen vermeintlich neuen Zar bejubelt, weiß das Publikum im Theater es nun besser: Es kann nicht mehr ignorieren, dass der Betrüger nun sein Ziel erreicht hat. Eben diese Szene betrachtete Schiller als den „Gipfel [. . .] der Handlung“ (NA, 11, 178, 14–15), die „Hauptscene des Stücks in Rücksicht auf stoffartiges Intereße“ (NA, 11, 219, 17). An diesem Punkt zeigt die theatralische Vorstellung die Politik selbst als Inszenierung. Wie das Theater kann auch die Politik sich als eine Maschinerie von Täuschungen, Kunstgriffen oder Fiktionen entpuppen. Durch das Oszillieren zwischen bühneninternem und bühnenexternem Publikum inszeniert Schiller den Effekt des Glaubens zugleich als ästhetisches Spiel des Theaters im Theater. Die Tragik des Titelhelden folgt der Logik des Schauspielers. Der ästhetische Schein selbst offenbart sich als Matrix von Täuschung und Illusion. Zum Schluss könnte die theatralische Vorstellung auf sich selbst zurückfallen. Der Monolog des Kosaken, der zum neuen Thronanwärter avanciert, „kann die Tragödie schließen indem er in eine neue Reihe von Stürmen hinein blicken läßt und gleichsam das [. . .] Alte von neuem beginnt“ (NA, 11, 226, 1–3). Somit würde das Drama des Usurpators en bonne foi in eine Reihe von Spiegelungen münden und in dieser Selbstreflexivität aufgehen. Das kritische Potenzial dieses letzten Experiments Schillers erschöpft sich nicht nur auf der ästhetisch-dramaturgischen Ebene. Will man den historischpolitischen Kontext ausfindig machen, der dem Dramenfragment angemessen ist, dann sollte man auf die geschickte Kombination von unterschiedlichen Formen der politischen Legitimierung blicken, die Napoleon in Paris zu seiner Kaiserkrönung 1804 in Szene setzte. Bei dieser Gelegenheit wurde die Gottesgnade durch die Anwesenheit des Papstes angedeutet; die Autonomie des Politischen manifestierte sich in der Geste der Selbstkrönung; die Volkssouveränität wurde durch das Plebiszit bestätigt. Das Ganze wurde in ein Medienereignis von europäischer Tragweite verwandelt. Als solches wurde die Krönung auch in Weimar rezipiert. Davon berichteten zahlreiche Artikel in der Stadt verbreiteten Zeitschriften, wie dem Weimarischen Wochenblatt oder in der Minerva, deren

24 Im Gegensatz zu der Eröffnungsszene handelt es sich hier nicht um das Theaterpublikum, sondern um die gespielten Zuschauer des Einzugs auf der Bühne. Vgl. dazu Springer: „Und plötzlich mittendrin“, S. 152.

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Herausgeber Johann Wilhelm Archenholz Schiller gut kannte. In London und Paris von Bertuch schildert ein Anonymus die Pariser Festlichkeiten als eine Riesen-Farce.25 Wenige Jahre zuvor hatte Schiller in einem Brief an Goethe aus der Entstehungszeit der Maria Stuart geschrieben, dass er den Stoff „in historischer Hinsicht [. . .] etwas reicher behandelt und Motive aufgenommen [hat], die den nachdenkenden und instruierten Leser freuen können“ (NA, 30, 85, 23–25). Damit meinte er die Anspielungen auf die damals aktuellen Hinrichtungen aus staatspolitschen Gründen in Paris und in Wien, die er in die Tragödie der schottischen Königin eingefügt hatte.26 Es waren diejenigen Motive, die seine gebildeten und interessierten Zeitgenossen entziffern sollten. Einem ähnlichen Leser oder, noch besser gesagt, einem ähnlichen „nachdenkenden und instruierten“ Zuschauer war höchstwahrscheinlich auch Demetrius zugedacht. Zur Erziehung des Volkes hingegen, um ihm eine Lehre des politischen Realismus zu erteilen, hätten die „Scenen für die Augen, voll Handlung und Bewegung“ (NA, 12, 319) allemal genügt.

25 Vgl. Mahlmann-Bauer, Barbara: „Die Psychopathologie des Herrschers: Demetrius, ein Tyrann aus verlorener Selbstachtung“. In: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hg. v. Georg Braungart u. Bernard Greiner. Hamburg 2005, 107–137. Mahlmann-Bauer sieht in Schillers Entscheidung zum Demetrius-Stoff eine kritische Stellungnahme zur Politik Napoleons und weist dabei auf die Berichterstattungen einiger politisch-historischer Zeitschriften der Zeit hin: siehe zum Beispiel die „Schilderungen der Feierlichkeiten bei der Kaiserkrönung in Paris“. In: London und Paris 13 (1804), 349–376; Archenholz, Johann Wilhelm: „Noch etwas über die Kayserwürde in Frankreich“. In: Minerva 2 (1804), 529–536. Auf die implizite Auseinandersetzung Schillers mit Napoleon geht auch Müller-Seidel ein; Müller-Seidel, Walter: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München 2009, S. 247–281. 26 Zu den impliziten Anspielungen auf die Hinrichtung der französischen Königin 1791 in Schillers Maria Stuart, vgl. Foi, Maria Carolina: „Recht, Macht und Legitimation in Schillers Dramen. Am Beispiel von Maria Stuart. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006, 227–243; Alt, Peter-André: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, 136–155; zu den Hinrichtungen nach den JakobinerProzessen 1794 in Wien: Foi, Maria Carolina: „Schiller und Erhard, Literatur und Politik in der Weimarer Klassik“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 49 (2005), 193–223.

II Psychologie

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„ . . . ein so eingefleischter Teufel – Nein! das ist nicht möglich!“ Shakespeares Richard III. als Vorbild für Schillers Räuber Shakespeares Richard III. ist seit Beginn der Shakespeare-Rezeption in Deutschland vielfach übersetzt, für die Bühne bearbeitet und inszeniert worden. Wie viele andere Autoren hat sich auch Schiller intensiv mit der Tragödie auseinandergesetzt. Das manifestiert sich in seiner Konzeption des Franz Moor in den Räubern. Auf die starken Parallelen zwischen beiden Figuren hat Schiller selbst hingewiesen. So vergleicht er die „unmoralische[n] Charaktere“ (FA, 2, 17, 19) seines Stücks in der Vorrede zu den Räubern mit „Shakespears Richard“ (FA, 2, 17, 36); und im Dramentext selbst wird Franz Moor vom Pastor Moser davor gewarnt, ähnlich wie „Richard“ (FA, 2, 146, 20) im Sterben erkennen zu müssen, dass es wider seine Überzeugungen einen Gott gibt, von dem er für seine Verbrechen gestraft werden wird. Trotz dieser expliziten Verweise ist die Frage, inwiefern sich Schiller an Shakespeares Tragödie orientiert hat, bislang nur selten ins Blickfeld der literaturwissenschaftlichen Forschung gerückt. Meist werden schlagwortartig ganz verschiedene Dramen angeführt, die Schiller während seiner Arbeit an den Räubern als Vorbild gedient haben sollen – Othello, Macbeth, Julius Caesar, Timon von Athen, König Lear und Richard III.1 Konkrete Bezüge werden, mit Ausnahme von König Lear, in der Regel nicht oder nur in wenigen Sätzen hergestellt.2 Wie produktiv Schiller Shakespeares Theatertext rezipiert hat, soll im Folgenden gezeigt werden. Dabei wird zuerst die Handlungsebene in den Blick genommen und erläutert, dass und wie Shakespeare und Schiller ihre Protagonisten als Bösewichter modellieren. Im zweiten Schritt wird mit Blick auf die Darstellungsebene illustriert, wie radikal Schiller mit seiner neuartigen ästhetischen Konzeption des Bösen mit den dramenästhetischen Konventionen seiner Zeit bricht.

1 Eine Ausnahme ist John Guthrie, der auf die vielen Shakespeare-Bezüge in Schillers Räubern genauer eingeht, vgl. Guthrie, John: „Schillers Räuber und die shakespearische Tragödie“. In: Angermion. Yearbook for Anglo-German Literary Criticism, Intellectual History and Cultural Transfers/Jahrbuch für Britisch-Deutsche Kulturbeziehungen 4 (2011), 53–73. 2 Zu den Parallelen zwischen den Räubern und König Lear vgl. u. a. Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München, Wien u. a. 2006. https://doi.org/10.1515/9783110667066-007

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1 Zur Handlungsebene: Der Atheist als genialischer Bösewicht Paradigmatisch für Shakespeares Tragödien ist die Konkurrenz zweier Welterklärungsmodelle, die das Potenzial für die dramatischen Konflikte liefern. Inwiefern? In seinen Dramen orientiert sich Shakespeare an der Vorstellung der chain of being: Dieses „Weltenmodell basiert auf der Ansicht von einer sich auf allen Seinsebenen wiederholenden hierarchischen Ordnung und damit auf einer zum Gesetz erhobenen Anschauung, daß alles und jedes seinen ‚authentischen Platz‘ in der Seinsordnung habe.“3 Respektieren die Menschen die dem Gedanken der Egalität entgegenstehenden kosmischen Gesetze, herrschen „Friede, Einigkeit und Wohlstand“. Ihre Verletzung stiftet hingegen „Zwietracht, Aufruhr und Bürgerkrieg“.4 Die chaotischen Folgen, die sich aus der Missachtung der chain of being ergeben, thematisiert Shakespeare in seinem Drama Troilus und Cressida (1603), wenn er Ulysses erklären lässt: Take but degree away, untune that string, / And hark what discord follows. [. . .] Strength should be lord of imbecility, / And the rude son should strike his father dead; / Force should be right – or rather, right and wrong, / Between whose endless jar justice resides, / Should lose their names, and so should justice too. / Then everything includes itself in power, / Power into will, will into appetite, / And appetite, an universal wolf, / So doubly seconded with will and power, / Must make perforce an universal prey, / And last eat up himself. [Nimm Rangordnung den Tönen, verstimm diese Saite, / Und hör, welch Mißklang folgt. [. . .] Die Stärke würde Herr sein über Schwäche, Der rohe Sohn schlüg seinen Vater tot; Gewalt wär Recht – nein, vielmehr: Recht und Unrecht, / Wozwischen ewig sich Gerechtigkeit versucht, / Verlör den Sinn – wie die Gerechtigkeit höchstselbst. / Dann läuft’s nur noch hinaus auf reine Macht / Und Macht auf Willkür, Willkür auf Begier, Und Gier, ein weltfressender Wolf, zweifach / Gestützt von Willkür und Macht, die muß / Notwendig ganz die Welt als Beute reißen / Und frißt zuletzt sich selbst.]5

3 Fietz, Lothar: „,Thou, nature, art my goddess‘ – Der Aufklärer als Bösewicht im Drama der Shakespeare-Zeit“. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, 184–205, S. 190. 4 Weiß, Wolfgang: „Das elisabethanische Zeitalter“. In: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. Mit einem Geleitwort v. Wolfgang Clemen. 3. Aufl. Hg. v. Ina Schabert. Stuttgart 1992, 2–40, S. 21. 5 Shakespeare, William: Troilus und Cressida. Zweisprachige Ausgabe. Übers. v. Frank Günther. München 2002, S. 46–48.

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Verletzen die Menschen die kosmische Ordnung, so Ulysses, verlieren alle moralischen und ethischen Werte, die das friedliche und freiheitliche Zusammenleben der Menschen garantieren, an Bedeutung. An ihre Stelle treten Gewalt, Anarchie und Gesetzlosigkeit, weil sich die Individuen nur noch von ihrem Willen zur Macht leiten lassen. Dieser Machthunger wird von Ulysses als „universal wolf“ beschrieben, der die Welt ins dumpfe Chaos stürzt, bis er sich zum Schluss selbst vernichtet. Mit Richard III. führt Shakespeare ähnlich wie mit Edmund aus König Lear eine Figur vor, die deshalb als teuflisches Ungeheuer gelten muss, weil sie sich bewusst dafür entscheidet, die kosmische Ordnung und die sich aus ihr ableitenden Normen und Werte zu negieren. Sie orientiert sich an einem mit der chain of being konkurrierenden Naturmodell, das keine transzendente Dimension kennt und in dem allein das Faustrecht gilt. „Es ist eine innerweltliche Naturanschauung, im Rahmen derer das Wirkliche nicht als Schöpfung in Beziehung zu einem Schöpfer gesetzt, sondern die Autonomie der ‚inneren Welt‘ behauptet wird.“6 So erklärt Richard III. im dritten Teil von Shakespeares Historiendrama Heinrich VI.: Why, Love forswore me in my mother’s womb: / And, for I should not deal in her soft laws, / She did corrupt frail Nature with some bribe, / To shrink mine arm up like a wither’d shrub; / To make an envious mountain on my back, / [. . .] To disproportion me in every part, / [. . .] And am I then a man to be belov’d? / O monstrous fault to harbour such a thought! / Then, since this earth affords no joy to me / But to command, to check, to o’erbear such / As are of better person than myself, / I’ll make my heaven to dream upon the crown; / And, whiles I live, t’account this world but hell, / Until my misshap’d trunk that bears this head / Be round impaled with a glorious crown. [Ja, Göttin Liebe schwor im Mutterleib mir ab: / Und, daß ich nicht ihr süßes Recht kann fordern, / Bestach sie’s käuflich-schwache Weib Natur, / Mir meinen Arm zum dürren Ast zu schrumpfen; / Mir bösen Buckelberg zu baun am Rücken, / [. . .] Rundum zum Mißverhältnis mich zu machen / [. . .]. Und bin ich dann ein Mann, der Liebe weckt? / Ein Monster-Irrtum, solches Denken hegen! / Drum, da die Welt mir keinen Spaß sonst bietet / Als die zu knechten, treten, zu beherrschen, / Die besserer Gestalt sind als ich selbst, / Soll’s mir mein Himmel sein, vom Thron zu träumen; / Und stets die Welt als Hölle nur zu sehn; / Bis mein verwachsner Rumpf, der diesen Kopf trägt, / Rundum umringt ist von ’ner Glorienkrone.]7

Das Zitat veranschaulicht zweierlei: Erstens wird deutlich, dass Richard die Existenz eines metaphysischen Sinnsystems negiert und sich selbst zum Weltlenker

6 Fietz: „,Thou, nature, art my goddess‘“, S. 184. 7 Shakespeare, William: König Heinrich VI. (Teil 3). 2. Aufl. Zweisprachige Ausgabe. Übers. v. Frank Günther. Cadolzburg 2014, S. 136–137.

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erhebt, indem er Himmel und Hölle in das eigene Ich verlagert. Als autonomes Subjekt will er auch selbstbestimmt agieren. Daher erhebt er das Erringen der Krone zu seinem säkularen Himmel und erklärt, die Welt so lange als Hölle wahrnehmen zu wollen, bis er dieses Ziel erreicht hat. Wie er später betont, will er dazu skrupellos alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel wie Gewalt, Verstellung, Manipulation und Täuschung strategisch einsetzen, was ein Höchstmaß an Affektkontrolle erfordert. Nicht zufällig vergleicht er sich mit Machiavelli, der von den Elisabethanern als „Erzschurke[]“8 verteufelt worden ist – vor allem deswegen, weil er in seinen staatstheoretischen Schriften nicht mehr die metaphysischen Gesetze, sondern die rücksichtslose Durchsetzung diesseitiger Machtinteressen zum Bezugspunkt politischen Handelns gemacht und so die „Entheiligung, Entgötterung und Entzauberung der Welt“9 vorangetrieben hat. Zweitens zeigt das Zitat, dass Richards Wille, über andere herrschen zu wollen, aus seiner körperlichen Missbildung resultiert. Er ist davon überzeugt, dass er aufgrund seiner physischen Deformationen von dem Glück, geliebt zu werden, ausgeschlossen bleiben wird. Daraus zieht er die radikale Konsequenz, aus der Menschengemeinschaft herauszutreten und sich von allen Bindungen zu lösen. Sich als isoliertes Ich in einer gottlosen Welt begreifend, entscheidet er sich dafür, die eigenen egoistischen Wünsche zu verabsolutieren und ein Bösewicht zu werden.10 Zumindest zeitweise gelangt er zu uneingeschränkter Macht, weil er seine teuflischen Pläne gewissenlos verfolgt und sich vor seinem sozialen Umfeld durch einen messerscharfen Verstand, taktische Klugheit, eine vollendete Verstellungsgabe sowie durch brillante rhetorische und manipulative Fähigkeiten auszeichnet. Wie von Ulysses in Troilus und Cressida beschrieben, agiert er als „universal wolf“, der seinem Machthunger alles zum Opfer bringt, bis er zuletzt selbst vernichtet wird – und zwar physisch und psychisch. Denn in der Nacht vor seinem Tod wird Richard, der seine Autonomie auf sein vernunftgeleitetes Denken gründet, von seinen Schuldgefühlen überwältigt. Schweißgebadet erwacht er aus einem Albtraum, in dem ihm alle Opfer seiner Verbrechen als Geister erschienen sind. Durch „strikte Rationalität“11 versucht er nun, sich von

8 Weiß: „Das elisabethanische Zeitalter“, S. 22. 9 Fietz: „,Thou, nature, art my goddess‘“, S. 192. 10 Ganz ähnlich argumentiert Richard III. im Übrigen auch in seinem Eröffnungsmonolog in Shakespeares gleichnamiger Tragödie. Hier heißt es: „And therefore, since I cannot prove a lover / [. . .] I am determined to prove a villain“ [Und drum, weil ich nicht gehen kann als Verliebter / [. . .] Bin ich entschlossen und geh vor als Schurke]. Shakespeare, William: König Richard III. 2. Aufl. Zweisprachige Ausgabe. Übers. v. Frank Günther. München 2009, S. 10–13. 11 Matt: Die Intrige, S. 190; die folgenden Zitate ebd.

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seiner Furcht vor einer göttlichen Strafe und von seinen Gewissensbissen zu befreien. Dabei verstrickt er sich zwar nicht in Widersprüche, allerdings ist er „nicht mehr imstande“, sich mit seinen logischen Argumenten „die Ruhe zu verschaffen“, durch die er „sicher und siegreich handeln könnte“. Seine Affekte triumphieren über seinen Verstand, so dass er am Ende realisieren muss: „All several sins, all us’d in each degree, / Throng to the bar, crying all „Guilty, guilty!‘ / I shall despair.“ [Und jede Sünde, jede jeden Grads, / Drängt vor den Richtstuhl, schreit ihr: „Schuldig, schuldig!“ / Ich werd verzweifeln.]12 Richards innerpsychischer Krise, die dem Rezipienten dessen metaphysischen und ethischen Nihilismus als Irrweg bewusst macht, folgt seine physische Vernichtung am nächsten Tag in der finalen Schlacht bei Bosworth. Inwiefern dient Richard nun als Vorbild für die Figurengestaltung des Franz Moor? Shakespeares Tragödie vergleichbar, werden auch in den Räubern zwei Weltmodelle miteinander kontrastiert: ein metaphysisches, das von der „ganze[n] Welt [als] Familie“ mit einem „Vater dort oben“ (FA, 2, 98, 18–19) ausgeht, um Karl Moor zu zitieren, und ein rational-immanentes, das keine Transzendenz kennt. Die Konkurrenz dieser beiden Modelle liefert auch in Schillers Drama die Grundlage für den dramatischen Konflikt. Das sei im Folgenden konkretisiert. Wie Hans-Jürgen Schings und Wolfgang Riedel plausibilisiert haben, lassen sich Schillers Räuber vor dem Hintergrund seiner Jugendphilosophie lesen.13 In seiner Zweiten Karlsschulrede (1780) und in der Theosophie des Julius (1786) beschreibt Schiller Gott als ein vollkommenes geistiges Wesen, das sich auf „dem Weg einer wie auch immer zu denkenden Emanation“14 unendlich geteilt hat und sich in jeder Erscheinung der empirischen Realität manifestiert, wenn auch „zu unzähligen Graden, Maßen und Stufen vereinzelt“ (FA, 8, 227, 7–8). Die Menschen begreift Schiller demgemäß als Fragmente des unendlich geteilten göttlichen Ganzen. Ihre Vereinzelung lässt sich allerdings durch die „Urkraft“ (FA, 8, 222, 20) der altruistischen Liebe überwinden. Sie zieht alle Subjekte magnetisch

12 Shakespeare: König Richard III., S. 286–287. 13 Vgl. Riedel, Wolfgang: „Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), 198–220; Schings, Hans-Jürgen: „Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. Die Räuber im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I)“. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), 71–95; ders.: „Schillers Räuber: Ein Experiment des Universalhasses“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 1–25. 14 Riedel: „Die Aufklärung und das Unbewusste“, S. 200.

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zueinander hin und fungiert als „universales, ebenso natürliches wie metaphysisches Band“,15 das sie zu einer Gemeinschaft empfindender und denkender Geister zusammenschließt. So erklärt Schiller in seiner Zweiten Karlsschulrede: Nicht geringer, als die allwirkende Kraft der Anziehung in der Körperwelt, die Welten um Welten wendet, [. . .] ist in der Geisterwelt das Band der allgemeinen Liebe. [. . .] Liebe ist es, die aus der grenzenlosen Geisterwelt eine Einzige Familie, und soviel Myriaden Geister zu soviel Söhnen Eines alliebenden Vaters macht. Liebe ist der zweite Lebensodem in der Schöpfung; Liebe das große Band des Zusammenhangs aller denkenden Naturen. (FA, 8, 75, 26–76, 3)

Wie das Zitat deutlich macht, entwirft Schiller hier das Weltmodell einer chain of love. Sie stiftet den Zusammenhalt des göttlichen Ganzen und wird von ihm daher als „zweite[r] Lebensodem in der Schöpfung“ bezeichnet. Ähnlich wie bei Shakespeare die Missachtung der chain of being führt die Missachtung der chain of love für Schiller zu Anarchie und Chaos. So heißt es in der Rede weiter: Würde die Liebe im Umkreis der Schöpfung ersterben, [. . .] wie bald würde das Band der Wesen zerrissen sein, wie bald das unermeßliche Geisterreich in anarchischem Aufruhr dahintoben, eben so als die ganze Grundlage der Körperwelt zusammenstürzen, als alle Räder der Natur einen ewigen Stillstand halten würden, wenn das mächtige Gesetz der Anziehung aufgehoben worden wäre. (FA, 8, 76, 3–10)

Größte Gefährdung der chain of love ist der Egoismus. Das eigennützig handelnde Subjekt negiert die göttliche Ordnung, indem es den „himmlischen Trieb“ (FA, 8, 224, 22–23) der altruistischen Liebe „aus der menschlichen Seele hinweg zu spotten“ (FA, 8, 224, 23) sucht und die „eigene Beschränkung zum Maßstab des Schöpfers“ (FA, 8, 224, 31–32) macht. Das hat politisch-gesellschaftliche Konsequenzen, führt laut Schiller nämlich zu schrankenloser Gewalt- und Willkürherrschaft. So stellt er der Liebe als „mitherrschende[r] Bürgerin eines blühenden Freistaats“ (FA, 8, 226, 6–7) den Egoismus als „Despot in einer verwüsteten Schöpfung“ (FA, 8, 226, 8) gegenüber. Mit Franz Moor führt Schiller nun eine Figur vor, die die beiden obersten Annahmen der Theosophie negiert: Zum einen verleugnet er die Existenz eines Schöpfergottes, wenn er erklärt: „Es war etwas und wird nichts – [. . .] der Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt.“ (FA, 2, 115, 18–24) Zum anderen erkennt er die altruistische Liebe als Trieb und Empfindung des Menschen nicht an und erhebt stattdessen den Egoismus zum handlungsleitenden Prinzip. Für ihn ist klar: „[D]er ist ein 15 Ebd.

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Narr, der wider seine Vorteile denkt.“ (FA, 2, 114, 27–28) Franz’ hemmungsloser Materialismus und Egoismus ist wie bei Shakespeare Konsequenz mangelnder Anerkennung, die er auf seine körperliche Missbildung zurückführt. So konstatiert er im viel zitierten Monolog des ersten Akts: Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein [. . .]. Warum mußte sie mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? [. . .] Wirklich ich glaube sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworfen, und mich daraus gebacken. [. . .] Warum ging sie so parteilich zu Werke? [. . .] Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. [. . .] Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze. [. . .] Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt daß ich nicht He rr bin. Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht. (FA, 2, 28, 7–30, 27)

Wie das Zitat zeigt, fühlt sich Franz Moor ähnlich wie Richard III. von der Natur entstellt und dadurch von dem Glück, geliebt zu werden, ausgeschlossen. Das lässt ihn an einer durch einen Schöpfergott harmonisch eingerichteten Weltordnung zweifeln. Aus diesem Grund hält er es für legitim, sämtliche Normen und Werte, die aus der metaphysischen Ordnung abgeleitet werden, zu annullieren – so auch die familiäre und die Nächstenliebe; und er fühlt sich dazu berechtigt, die eigenen egoistischen Interessen gegen jeden Widerstand durchzusetzen. Mit Gewalt will er sich die Anerkennung verschaffen, die ihm durch seine fehlende „Liebenswürdigkeit“ versagt bleibt. Genauso wie Richard III. entscheidet sich Franz ganz bewusst dafür, ein Bösewicht, mithin ein despotischer Herrscher zu werden. Nachdem er sich seiner Familie entledigt und die Grafschaft des Vaters an sich gerissen hat, will er seinen Untertanen „[. . .] die zackichte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geißel versuchen.“ (FA, 2, 68, 34–36) Seine verbrecherischen Pläne verfolgt er wie Shakespeares Titelfigur mit äußerster Gewissen- und Mitleidlosigkeit, wobei er alle Empfindungen, die sich seinen Untaten entgegenstellen, durch strikte Rationalität zu entkräften sucht. Über sein soziales Umfeld triumphiert er, neben seinen Verstellungskünsten und seinem manipulativen und rhetorischen Geschick, vor allem durch seine intellektuelle Brillanz sowie sein anthropologisches, philosophisches und medizinisches Wissen. Ähnlich wie Richard III. scheitert er allerdings im fünften Akt an sich selbst. Wie Shakespeares Figur erwacht er nachts aus einem Albtraum, in dem er vom Jüngsten Gericht für seine Verbrechen schuldig gesprochen worden ist. Um sich von seinen Gewissensbissen und der Furcht vor einer göttlichen Strafe zu befreien, sucht er die Existenz eines metaphysischen Sinnsystems mit rationalen Argumenten zu widerlegen. Dabei findet er wie Richard nicht mehr zu innerer Ruhe, was sich in seiner Körpersprache manifestiert. Franz „sinkt unmächtig

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nieder“ (FA, 2, 141, 10), ist „verwirrt“ (FA, 2, 141, 16), geht „unruhig im Zimmer auf und ab“ (FA, 2, 146, 32), „wirft sich in seinem Sessel herum in schröcklichen Bewegungen“ (FA, 2, 149, 3–4), wird schließlich „wahnsinnig“ (FA, 2, 150, 36) und bringt sich um. Der „unerschrockene Denker der reinen Immanenz“,16 der seine Autonomie auf die Freiheit von Empfindungen gebaut hat, wird wie Richard III. von seinen eigenen Affekten widerlegt.

2 Zur Darstellungsebene: Der genialische Bösewicht als Provokation In Orientierung an Shakespeare stellt Schiller mit Franz Moor einen „metaphysisch-spizfündigen Schurken“ (FA, 2, 925) ins Zentrum seines Dramas, so Schiller im Brief vom 12. Dezember 1781 an Wolfgang Heribert von Dalberg. Auf diese Weise bricht er radikal mit den dramenästhetischen Normen seiner Zeit, wie im Folgenden näher ausgeführt wird. In seiner Poetik schließt Aristoteles den Bösewicht als Protagonisten der Tragödie aus. Er fordert die Darstellung weitgehend rechtschaffener Figuren, die durch einen Fehler – eine menschliche Schwäche – in ein unverhältnismäßig großes Unglück gestürzt werden. Dieses Gebot bleibt für die meisten Dramentheoretiker und Theaterautoren der Gottsched-Lessing-Ära verbindliche Norm. Die Zuschauer sollen den tragischen Helden aufgrund seiner Tugenden bewundern oder bemitleiden; in jedem Fall soll er ihre Sympathien auf sich ziehen. Selbstverständlich gehören auch Bösewichter zum dramatischen Personal der Tragödie. Als Antagonisten haben sie zum einen die dramaturgische Funktion, den dramatischen Konflikt auszulösen, zuzuspitzen oder den tragischen Helden zu Fall zu bringen. Zum anderen besitzen sie eine didaktische Funktion. Zur „Beförderung des Guten und [. . .] Ausrottung des Bösen“17 orientieren sich die meisten Dramatiker der Zeit am Prinzip der poetischen Gerechtigkeit. Während die Tugend als nachahmenswert vorgeführt wird, wird das Laster am Ende des Handlungsverlaufs bestraft. Das Böse steht also im Dienst der sittlichen Abschreckung und – über den Kontrast – der Profilierung des Guten.

16 Riedel: „Die Aufklärung und das Unbewusste“, S. 207. 17 Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Durchgehends mit den Exempeln unsrer besten Dichter erläutert. 3. Aufl. Leipzig 1742, S. 570.

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Diese kontrastierende Gegenüberstellung von Tugend und Laster korreliert im Drama des achtzehnten Jahrhunderts meist mit einer relativ eindimensionalen und schematischen Figurenzeichnung, sieht man mal von der Höhenkammliteratur ab. Das gilt auch für Christian Felix Weißes Alexandrinertragödie Richard der Dritte von 1759, die er ohne Kenntnis des Shakespeare’schen Originals und in Orientierung an Gottscheds Regelpoetik verfasst hat. Das Drama führt nicht Richards Aufstieg zum König, sondern die letzten Tage vor seinem Tod vor. Ab der ersten Szene wird er als despotischer, von seinen Untertanen gehasster Herrscher gezeigt, der nun fürchtet, seine durch unzählige Verbrechen errungene Machtposition wieder zu verlieren. Weiße präsentiert ihn ungebrochen als Inkarnation des Bösen: Er agiert äußerst brutal und gewissenlos, ist zum Mitleiden unfähig, hat eine sadistische Freude daran, andere zu quälen, und er lässt sich ganz von seinen destruktiven Leidenschaften leiten, von Hass, Hochmut, Jähzorn und „Mordsucht“.18 Im Gegensatz dazu sind Richards Gegenspieler – darunter seine Schwägerin und deren Tochter Elisabeth – als vollkommen tugendhafte, moralisch-empfindsame Figuren konzipiert. Nicht zufällig hat Elisabeth die meisten Auftritte im Drama. Sie ist die einzige Figur, die mit einem inneren Konflikt zu kämpfen hat, denn sie muss sich entscheiden, ob sie sich von Richard III. erpressen lassen und ihn heiraten will, um das Leben ihrer beiden Brüder zu retten. Insofern muss sie als eigentliche Protagonistin des Stücks gewertet werden. Obwohl sich Weiße damit implizit an das aristotelische Gebot hält, keinen Bösewicht als tragischen Helden vorzuführen, ist sein Drama unter anderem von Lessing heftig kritisiert worden. In der Hamburgischen Dramaturgie bezeichnet er Weißes Richard als das „größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen“19 hat. Vor diesem Hintergrund formuliert er zwei Kritikpunkte. Erstens bemängelt er im Rekurs auf die eigene Aristoteles-Deutung, dass Weißes Tragödie das wirkungsästhetische Ziel, Mitleid und Furcht zu erregen, verfehle. Da Richard durch und durch böse sei und die Zuschauer keine emotionale „Nähe zum Leidenden“20 herstellen könnten, evoziere sein „Untergang“21

18 Weiße, Felix Christian: „Richard der Dritte. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“. In: ders.: Trauerspiele. Erster Theil. Karlsruhe 1778, 113–230, S. 181. 19 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie 1. Hg. v. Leopold Magon. Berlin 1952, S. 281. 20 Alt, Peter-André: „Kein Drama der Theodizee. Lessings Wirkungspoetik und die Psychologie des Bösen in Weißes Richard der Dritte (1759)“. In: Lessing Yearbook 41 (2014), 87–107, S. 94. 21 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 281.

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weder Mitleid noch die Furcht davor, dass sie „ein ähnliches Unglück treffen könne“.22 Der einzige Affekt, den das Trauerspiel errege, sei der Schrecken, verstanden als „Erstaunen über unbegreifliche Missetaten“,23 als „Entsetzen über Bosheiten, die unsern Begriff übersteigen“ und als „Schauder [. . .], der uns bei Erblickung vorsätzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, überfällt“. Zweitens wirft Lessing Weiße vor, mit dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit zu brechen, weil Richard für seine zahllosen Untaten am Ende des Handlungsverlaufs nicht bestraft werde, sondern auf dem Schlachtfeld „als ein Mann, auf dem Bette der Ehre“24 sterbe. Umgekehrt gerieten die tugendhaften Figuren vollkommen unverschuldet ins Unglück. Beides verbiete sich, weil das „Trauerspiel als,Schattenriß‘ der vernünftigen Schöpfung Gottes deren innere Balance zur Geltung zu bringen“25 habe. Wie Lessings Kritik illustriert, provoziert Weißes Tragödie dadurch, dass er eine aus der aristotelischen Poetik abgeleitete ästhetische Norm ignoriert: Er stellt einen Bösewicht ins Zentrum seiner Tragödie, den er noch dazu nicht dezidiert der Abschreckungsprogrammatik verpflichtet, auch wenn er am Ende von Richmond erschlagen wird. Im Rekurs auf Shakespeare erhebt Schiller nun den radikalen Bruch mit den dramenästhetischen Konventionen seiner Zeit zum Programm. So macht auch er Figuren zu Protagonisten seines Dramas, die „das feinere Gefühl der Tugend beleidig[en], und die Zärtlichkeit unserer Sitten empör[en].“ (FA, 2, 15, 21–23) Während Gottsched und Lessing das Böse aus wirkungsästhetischen Gründen aus dem Drama auszuschließen beziehungsweise didaktisch zu funktionalisieren suchen, wird es von Schiller unter Berufung auf Shakespeare als eigenständige Größe wieder ins Drama eingeführt. Dabei denkt er im Unterschied zu Weiße nicht in binären Oppositionen. Anstatt Tugend und Laster miteinander zu kontrastieren, plädiert er für Ambivalenz. Davon zeugen seine beiden Vorreden zu den Räubern. Hier hebt er die Faszinationskraft des Bösen hervor, wenn er von „ehrwürdige[n] Missetäter [n]“ und „Ungeheuer[n] mit Majestät“ (FA, 2, 162, 37) spricht, die „Medea der alten Dramatiker [. . .] bei all ihren Greueln noch“ als „großes staunenswürdiges Weib“ bezeichnet und sich sicher ist, dass „Shakespears Richard [. . .] so gewiß am Leser einen Bewunderer“ habe, „als er ihn auch hassen würde, wenn er ihm vor der Sonne stünde.“ (FA, 2, 17, 34–18, 1) Um die ambige Darstellung des Bösen im Drama zu legitimieren, führt Schiller zwei Gründe an. Erstens argumentiert er naturphilosophisch. Ähnlich wie Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears Tag begreift er die Natur als eine „Einheit von 22 23 24 25

Ebd., S. 295. Ebd., S. 281; die folgenden Zitate ebd. Ebd., S. 299. Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München 2010, S. 182.

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Gegensätzen, deren geheimes Prinzip die Korrespondenz des scheinbar Unterschiedenen ist“.26 Das Böse repräsentiert für ihn nur eine Seite des Guten, ist ein Element der „letzthin harmonisch[]“ organisierten „Natur“. Da das Drama die Totalität der Natur erfassen soll, muss es auch die Faszinationskraft des Bösen zeigen. So erklärt Schiller: Wenn es mir darum zu tun ist, ganze Menschen hinzustellen, so muß ich auch ihre Vollkommenheiten mitnehmen, die auch dem bösesten nie ganz fehlen. Wenn ich vor dem Tyger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne blendende Fleckenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tyger beim Tyger vermisse. (FA, 2, 18, 1–6)

Im Hinblick auf die dafür notwendige psychologisch-anthropologisch glaubwürdige Figurenzeichnung orientiert sich Schiller an Shakespeare. Er ist für ihn ein so begnadeter Menschenkenner und „Menschenmaler“ (FA, 2, 15, 23), dass er sogar in „seinen naturwissenschaftlichen Dissertationen Fundstücke“ (ebd.) aus dessen Dramen angeführt hat, so, als seien es „Belege aus dem wirklichen Leben“.27 Zweitens führt Schiller ein wirkungsästhetisches Argument an, um seine Entscheidung für die facettenreiche Darstellung genialischer Verbrecher zu rechtfertigen. Solch eine statische und eindimensionale Figur wie Weißes Richard, der „ganz Bosheit“ (FA, 2, 18, 7) ist, hält er für „kein[en] Gegenstand der Kunst“ (FA, 2, 18, 7–8), weil er den Leser „zurückst[ö]ß[t]“ (FA, 2, 18, 9), anstatt seine „Aufmerksamkeit“ (FA, 2, 18, 9) zu fesseln. „Man würde umblättern, wenn er redet.“ (FA, 2, 18, 10), so Schiller. Indem Schiller die Attraktivität des Bösen akzentuiert, weist er ihm eine eigene ästhetische Qualität jenseits einer didaktischen Wirkungsabsicht zu. Konsequent zielt er weder auf die sittliche Abschreckung vor dem Laster wie Gottsched noch auf die sanfte Rührung der Zuschauer wie Lessing. Vielmehr geht es ihm um eine möglichst starke Affizierung des Publikums. Aus Lust am Extrem macht er Verbrecher zu Protagonisten. Überdies thematisiert und zeigt er brutale Gewaltverbrechen auf offener Bühne, wodurch er gegen das Gebot der bienséance verstößt. Er verzichtet auf ein versöhnliches Schlusstableau, und er fordert von den Akteuren qua Nebentext „extreme Affekte und körperliche Ausdrucksformen wie Aufstampfen, Fortrennen, Kleideraufreißen oder Augenrollen, [. . .] die nicht

26 Ders.: „Aufgeklärte Teufel. Modellierungen des Bösen im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts“. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Hg. v. Volker C. Dörr u. Helmut J. Schneider. Bielefeld 2006, 89–126, S. 95; die folgenden Zitate ebd. 27 Zumbrink, Volker: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen ‚Wilhelm Meisters Theatralische Sendung‘ und ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Münster 1997, S. 216.

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zu ihrem nach wie vor vom höfischen Theater geprägten Ausdrucks- und Darstellungsrepertoire“28 gehören. In seiner programmatischen Vorrede zu den Räubern gibt Schiller zwar vor, dem Bösen eine didaktische Funktion zuzuweisen, wenn er erklärt, es in seiner „nackten Abscheulichkeit“ (FA, 2, 15, 32) vorführen zu wollen, weil er „sich den Zweck vorgezeichnet“ (FA, 2, 15, 29–30) habe, „das Laster zu stürzen, und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen“ (FA, 2, 15, 30–31). Diese Behauptung dient aber vor allem dazu, Leser und Zuschauer ob seines Bruchs mit den theatralen Sehgewohnheiten zu beschwichtigen. Nicht zufällig findet dieses Wirkungsziel in der unterdrückten Vorrede zu den Räubern keine Erwähnung. Wie stark sich Schiller über die theaterästhetischen Normen seiner Zeit hinweggesetzt hat, zeigt unter anderem die Aufführungsgeschichte der Räuber. Das Drama ist im achtzehnten Jahrhundert „meistens in Bearbeitungen bzw. durch Zensureingriffe in verstümmelter Form aufgeführt“ worden, „sofern es nicht überhaupt verboten wurde“ (FA, 2, 913). Dabei sind die Theateradaptionen von dem Bemühen gekennzeichnet, die Ambivalenzen in der Figurengestaltung zurückzunehmen, um das Tugend-Laster-Schema aufrechtzuerhalten und das Drama in den Dienst der sittlichen Abschreckung stellen zu können. So werden Karls Verbrechen in der Theaterfassung von Carl Martin Plümicke (1783) dadurch verringert, dass er dem Räuber Schweizer das Leben rettet und seinen Vater nicht wortwörtlich zu Tode erschreckt.29 Im Unterschied dazu werden Franz’ Untaten durch die Räuber geahndet, die ihn statt des alten Moors in den Hungerturm werfen. Noch schematischer ist die Figurengestaltung in der anonymen Bühnenbearbeitung Die Grafen von Moor (1785), die während des PugatschowAufstandes (1773–75) spielt und ganz ohne Räuber-Motiv auskommt. Hier wird Karl als tugendhafter Held gezeigt, der sich nach dem Bruch mit seinem Vater gegen seine Rachegefühle und für seine Pflichten als Staatsbürger in der Armee Katharinas II. entscheidet, wofür er am Ende von ihr ausgezeichnet wird. Im Gegensatz dazu wird der tyrannische Franz für seine Verbrechen bestraft, indem er

28 Plachta, Bodo: „Schillers Räuber auf dem Mannheimer Nationaltheater (1782)“. In: „Das Theater glich einem Irrenhaus“. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hermann Korte u. Hans-Joachim Jakob. Heidelberg 2012, 115–132, S. 117. 29 Vgl. Die Räuber. Trauerspiel von Friedrich Schiller. Für die Bühne bearbeitet v. Carl Martin Plümicke. Mit einem Nachwort hg. v. Nina Birkner. Hannover 2015.

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beim Anblick seines Vaters leblos zusammenbricht. Das Stück endet mit der moralischen Lehre, dass Franz’ Tod ein „schreckliches Beispiel schändlichen Neides“30 sei.

3 Fazit Mit Franz Moor und Richard III. führen Schiller und Shakespeare faszinierende Ungeheuer vor. Ungeheuerlich faszinierend sind sie weniger wegen ihrer Taten – seit der Antike kennt das Drama Intriganten und Mörder –, sondern wegen ihres scharfen und radikalen Denkens. Beide ziehen die Vorstellung von einer durch einen Schöpfergott harmonisch eingerichteten Welt- und Menschenordnung in Zweifel, weil sie sich aufgrund ihrer defizitären Gestalt von der Natur benachteiligt und von ihrem sozialen Umfeld missachtet fühlen. Kompromisslos ziehen sie daraus die Konsequenz, sämtliche Normen und Werte, die aus der metaphysischen Ordnung abgeleitet werden, zu negieren und zu Bösewichtern zu werden. Indem Schiller Franz Moor als genialischen Verbrecher konzipiert, bricht er mit den dramenästhetischen Konventionen seiner Zeit. Entgegen den aus der aristotelischen Poetik hergeleiteten Geboten macht er einen Bösewicht – genau genommen mehrere Bösewichter – zu Protagonisten seines Schauspiels. Auch wenn Franz’ philosophische Positionen im Handlungsverlauf demontiert werden, stellt er die Figur nicht in den Dienst der sittlichen Abschreckung. Vielmehr bricht er mit dem Tugend-Laster-Schema und weist dem Bösen durch seine facettenreiche, an Shakespeare orientierte Figurengestaltung eine eigene ästhetische Qualität zu. Sein Ziel ist es, die Zuschauer aus Lust am Extrem möglichst stark zu affizieren, wenn nicht gar zu schockieren. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Figur des Franz Moor zahlreiche Rezensenten empört hat, so auch Adolph Freiherr von Knigge, der sich in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1781) zu dem Ausruf hat hinreißen lassen: „[. . .] ein so eingefleischter Teufel! – Nein! das ist nicht möglich!“ (FA, 2, 959)

30 Die Grafen von Moor. Eine Bühnenbearbeitung von Schillers Räubern. Nach der Handschrift von 1785. Hg. v. Nina Birkner u. Gerhard Kay Birkner. Hannover 2013, S. 105.

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Karl Moors satanische Rebellion Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, [. . .] heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht! (FA, 2, 965–966)

Bei der Uraufführung von Schillers dramatischem Erstling lässt sich an den „rollende[n] Augen“ und an den „geballte[n] Fäusten“ im Zuschauerraum erkennen, dass das Stück eine ausgesprochen physische Wirkung auf sein Publikum hatte. Der Bericht aus dem Theater endet mit der Beobachtung, dass wie im Chaos eine „allgemeine Auflösung“ stattgefunden habe, aus dessen Nebeln dann eine „neue Schöpfung“ hervorbreche. Diese Wirkung, die Schillers eigene Erwartungen weit übertraf und die sich vielleicht nicht bei jeder Aufführung einstellt, zeigt, dass die theologische Dimension des Stückes schon bei der ersten Aufführung wahrgenommen wurde. Die ältere Schiller-Forschung hat das oft betont und Schillers Verbindung mit dem Barockdrama oder dem Mysterienspiel hervorgehoben. Sie sah das Stück als theologisches Drama. So schrieb zum Beispiel Kurt May: Die Räuber sind uns heute als religiöse Dichtung vertraut. In ihrer Sinn- und Kraftmitte steht von Anfang an Gott als die höchste, im metaphysischen Sinn eigentlich handelnde Person des Dramas. Gott ist der entscheidende Gegenspieler aller Menschen. Gott ist die Allmacht; mit ihrem Sieg in den Kämpfen der Menschenbrust feiert Gott seinen Triumph.1

Nicht viele würden Schillers Erstlingsdrama heute wohl in diesem Sinne verstehen, aber die Tradition, Schillers Räuber als Läuterungsdrama zu begreifen, ist durchaus noch lebendig. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass das Stück zwar eine theologische Dimension hat (was nicht bedeutet, dass es keine Aussage über die Gesellschaft zur Zeit Schillers macht), diese aber besser begriffen wird, wenn man sie aus einer Perspektive betrachtet, die die zentrale Stellung des satanischen Helden stärker betont als die eines christlichen Gottes. Ich beziehe mich damit auf den Satan aus Miltons Paradise Lost; Schiller las Miltons Werk als Schüler der Karlsschule. In der Forschung wird oft darauf hingewiesen, dass Karl Moor aus Paradise Lost zitiert, nicht aber auf die weitreichende Bedeutung der Satansfigur für Schillers Weltbild.2 Ich will damit keineswegs

1 May, Kurt: Schiller. Idee und Wirklichkeit. Göttingen 1948, S. 23. 2 Ausgenommen Staiger, Emil: Friedrich Schiller. Zürich 1967, S. 52; Michelsen, Peter: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers „Räubern“. Heidelberg, S. 83 u. 98. https://doi.org/10.1515/9783110667066-008

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sagen, dass Schiller das Weltbild Miltons geteilt hat. Ganz gewiss teilte er nicht die Idee der Erlösung nach dem Sündenfall. Schillers Beschäftigung mit der Figur Satans aber bietet den Schlüssel zu seinem Weltbild. Seine Interpretation der Satansfigur weicht von derjenigen ab, die in Deutschland zu seiner Zeit gängig war; die die religiöse Botschaft des Gedichts hervorhob, sie dem deutschen Pietismus oder der Empfindsamkeit anglich oder aber, wie bei Gottsched in Leipzig, das Gedicht Miltons als absurd verwarf.3 Vielmehr ähnelt Schillers Interpretation derjenigen der englischen Romantiker, für die Satan der eigentliche Held des Epos war. Schillers Zeitgenosse Robert Burns sprach von der unerschrockenen Großzügigkeit, von der wagemutigen, unnachgiebigen Unabhängigkeit, von der verzweifelten Kühnheit und edlem Trotz der Härte, die man in der großartigen Figur Satans finde.4 William Blakes berühmtes Wort über Milton, er gehöre der Partei Satans an, ohne sich dessen bewusst zu sein, fiel zwischen 1790 und 1793.5 Der Cambridger Student Coleridge, der Schillers Räuber 1794 las, war durch die Lektüre erschüttert und fragte seinen Dichterfreund Robert Southey, ob Schiller sein Stück unter dem Kreischen von Teufeln geschrieben habe. Er verglich Schillers Stück mit Miltons Paradise Lost und fand Ähnlichkeiten in der Darstellung des Satanischen. Coleridge fühlte sich angezogen von dem „alcohol of egotism“ [Alkohol des Egoismus], den er bei Karl Moor und Satan entdeckte.6 Die Schiller-Forschung geht oft davon aus, dass es Franz Moor sei, der das Satanische schlechthin darstelle.7 In der Uraufführung des Stückes, in der Iffland die Rolle von Franz Moor spielte, fiel diese Figur besonders auf, insbesondere durch die Gestik der Darstellung. In seinem Bericht über Ifflands Gastspiel in Weimar fühlte sich Karl August Böttiger durch das Mienen- und Gebärdenspiel an Klopstocks Adramelech erinnert, an den „in seinem Blute auf dem Schlachtfelde sich

3 Vgl. Gottsched, Johann Christoph: „Versuch einer critischen Dichtkunst. Das VI. Capitel. Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie“. In: ders.: Ausgewählte Werke VI/1. Hg. v. Joachim Birke u. Brigitte Birke. Berlin u. New York 1973, 255–282, S. 270–272. 4 „[The] dauntless magnanimity; the intrepid, unyielding independence; the desperate daring, and noble defiance of hardship, in that great personage Satan“; zit. bei Forsyth, Neil: The Satanic Epic. Princeton 2003, S. 2. 5 Vgl. Blake, William: „The Marriage of Heaven and Hell (1790–93)“. In: ders.: The Poetical Works. London 1906, 247–260. 6 Vgl. Coleridge, Samuel Taylor: „To Robert Southey“. In: ders.: Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge 1. Hg. v. Earl Leslie Griggs. Oxford 1956, 121–122, S. 122. 7 Vgl. McCardle, Arthur: Schiller and Swabian Pietism. New York 1986, S. 167. Ibel, Rudolf: Friedrich Schiller. Die Räuber. 11. Aufl. Frankfurt/Main u. a. 1982, S. 32: „satanische Konsequenz“. Hans Richard Brittnacher: „Die Räuber“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, 344–372, S. 348–349.

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wälzenden Gottesläugner“.8 (Bei Klopstock ist Adramelech ein Widersacher Satans, der versucht, diesen an Arglist und Bosheit zu übertreffen.) Der Vergleich ist wohl überzogen, deutet aber darauf hin, dass die Gestik in der Darstellung Ifflands eine metaphysische Dimension hatte. Gert Sautermeister vermutet, dass auf der deutschen Bühne eine Tradition der Gestik bestehe, die von Iffland zu Gründgens reiche.9 Die Schiller-Forschung sieht Franz Moor oft als ein Urbild der Verderbtheit, als einen Vorläufer des Übeltäters im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts, aber gleichzeitig auch als eine Figur, dessen Amoralismus eine gewisse Größe erreicht.10 Wie ist es nun um dem Ursprung des Bösen bei Franz Moor bestellt? Schiller hat sich mit Franz Moor von der biblischen Tradition des Teufels als Verführer und Initiator des Sündenfalls entfernt und einen Bösewicht geschaffen, der in seine eigene Zeit gehört, der von Egoismus und Eifersucht getrieben wird. Was Franz Moor mit dem Satan Miltons gemeinsam hat, ist, dass er eine Rebellion gegen den Vater in Gang setzt. Der Vater ist Schöpfer, Patriarch, Vertreter der göttlichen und weltlichen Ordnung. Franz Moor widersetzt sich dem Erstgeburtsrecht und damit Bruder und Vater zugleich. Gegen die Gesellschaft und die Weltordnung hat er aber keine tiefgreifendere Klage; er wäre damit zufrieden, wenn die Macht in seinen Händen läge und die Hierarchie der Feudalgesellschaft bestehen bliebe. Seine Beweggründe sind hauptsächlich persönlicher Natur, dabei überwiegt die Eifersucht. Schiller hat hier aus den biblischen Geschichten der feindlichen Brüder geschöpft (Kain und Abel, Jakob und Esau), wo Eifersucht zum Verfall der Familie führt. Ähnlichkeiten hat Franz auch mit den Bösewichtern Shakespeares, die er offensichtlich aus seiner Lektüre gut kennt: von Richard III. den benachteiligten Körper, von Edmund den Hass auf den Bruder und von Iago den Trieb zur Rache. Jedoch besteht zwischen Franz Moor und den Bösewichtern Shakespeares ein großer Unterschied, den Schiller in seiner Vorrede nicht erwähnt. Das wird sichtbar, wenn man die Szene, in der Franz Amalia zu verführen versucht, mit der Szene am Anfang von Richard III. vergleicht, wo Richard um Lady Anne wirbt, Witwe des eben gestorbenen König Edwards. Dort geht es nicht nur um die Macht eines Mannes und die Schwäche einer Frau, sondern auch um den gewagten Schritt zum Aufstieg

8 Böttiger, Karl August: Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem weimarischen Hoftheater im Aprillmonath 1796. Leipzig 1796, S. 316–318. 9 Vgl. Sautermeister, Gert: „Die Räuber. Ein Schauspiel (1781)“. In: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Matthias Luserke-Jacqui. Stuttgart 2005, 1–45, S. 12 u. 19. 10 „Mehr als jede andere Zeit vor uns werden wir für die infernalische Größe und Verfassung eines Franz Moor Verständnis haben [. . .]. Wir sind auch fähig, seine amoralische Größe zu sehen.“ Ibel: Die Räuber, S. 70.

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Richards zur königlichen Macht. Franz dagegen will geliebt werden, weil man ihn vernachlässigt hat. Aber sein Wunsch, Amalia zu besitzen, wird nicht von erotischen Begierden getrieben. Er verabscheut die Vorstellung, dass sein Verhalten durch körperliches Begehren bestimmt sein könnte. Er weiß, dass er der „kalte, hölzerne Franz“ (FA, 2, 24, 11) ist. Darin ist er Satan sehr unähnlich. Er ist ein schlechter Schauspieler und der Verstellungskunst nicht Herr, wenngleich in Ifflands Händen ein höchst wirksamer theatralischer Bösewicht. So wie Franz seinen Shakespeare gut kennt, ist er auch in der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts bewandert. Er kennt Holbach, Helvetius und La Mettrie und bekennt sich zum Materialismus. Er sieht den Körper als Maschine, ist aber bereit, den Gang des Körpers zu beeinflussen, da er sich für den „gescheide[n] Arzt“ (FA, 2, 53, 19) hält. Hier hat Schiller Franz Moor als einen Menschen gezeigt, der sich selbst für klug hält und seine bösen Absichten vor sich selbst rechtfertigt. Schiller will damit nicht zeigen, dass die Fortschritte der Heilkunde und der anthropologischen Ärzte leicht zu pervertieren sind. Franz Moors Materialismus führt konsequent dazu, dass er auch Atheist ist. Den Atheismus teilt Franz auch mit den Shakespeare’schen Bösewichtern, die er bewundert. Sein Atheismus aber ist schwach und widerspruchsreich. Geht er bei der Erzählung seines Traumes vom Jüngsten Gericht von einem materialistischen Standpunkt aus („Träume kommen ja aus dem Bauch“; FA, 2, 141, 8), nimmt er danach Stellung als Agnostiker und schwankt zwischen Trotz, Unglauben und Unterwerfung. Er bittet um Vergebung und darum, dass andere für ihn beten, weil er selbst nicht beten kann. Schiller hat das betont, um den Würgegriff des schwäbischen Pietismus zu zeigen, unter dem er selbst gelitten hat. Am Ende will Franz allem trotzen; er bittet seinen Diener, ihn umzubringen, tötet sich schließlich aber doch selbst. Seine Intrige ist gescheitert; er kann sich nicht entscheiden, er ist ein Feigling ohne die Konsequenz und Entschlossenheit Satans. Man findet ihn wie „eine Katze verreckt“ (FA, 2, 151, 12). Es ist kein edler Tod, keine Frage der Größe oder der Erlösung. Schiller war sich bewusst, dass er mit Franz Moor möglicherweise zu viel des Bösen in die Figur gesteckt hatte, er nannte ihn einen „heuchlerischen, heimtückischen Schleicher“ (FA, 2, 178), „ein[en] s c hle ic he nd e [n] Teufel“ (FA, 2, 297).11 Die Rolle des Teufels hat Franz Moor schlecht besetzt, denn seine Intrige ist gescheitert. Es ist der Teufel, der ihn schließlich selbst holt: „[D]er Teufel ists und will euren Herrn holen“ (FA, 2, 150, 12).

11 Vgl. Brief an Dahlberg, 12. Dezember 1781: „So verhält es sich auch mit dem ganzen Karakter Franzens, diesem spekulativischen Bösewicht, diesem metaphysisch-spizfündigen Schurken; FA, 11, 13. Vgl. Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt, S. 101.

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Bei Miltons Satan ist es anders: Sein Kampf findet im Weltall statt, und er hat Erfolg. Wie oben angedeutet, wurde er als tragische Figur gesehen, die Würde besaß. Schillers Bewunderung für die Figur des Satans bei Milton ist sehr ausgeprägt. In der gedruckten Vorrede zu den Räubern behauptet er, dass, während wir bei Klopstocks Adramelech Bewunderung empfinden, die sich „in Abscheu schmilzt“ (FA, 2, 17), wir Miltons Satan „mit schauderndem Erstaunen durch das unwegsame Chaos“ (ebd.) folgen. In der Selbstrezension wird Milton als der Panegyriker der Hölle gesehen, der „auch den zartfühlendesten Leser einige Augenblicke zum gefallenen Engel macht“ (FA, 2, 297). Im „Unterdruckten Bogen B“, dem gestrichenen Teil der Szene I,2, in dem Karl Moor das Gesetz für unbrauchbar erklärt und den Drang nach Freiheit lobt, fragt ihn einer der Räuber, ob er den Milton gelesen habe, denn dort fände er einen Charakter, „der es nicht dulden konnte daß einer über ihm war, und sich anmaßte den Allmächtigen vor seine Klinge zu fordern“ (FA, 2, 168, 1–3). War dieser Satan nicht, so fragt Moor weiter, „ein außerordentliches Genie“ (FA, 2, 168, 3)? Satan, der Krieger, wird gleichgesetzt mit dem kreativen Impuls, wird zum Bruder Prometheus, dessen Flamme Moor wieder zu entfachen gedenkt. Im Schiller-Gedicht ‚Monument Moors des Räubers‘ (1781), ist Moor „[m]ajestätischer Sünder“ (FA, 1, 532, 3), der von einer schändlichen Höhe gefallen ist, ausgestoßen, seine furchtbare Rolle vollbringt und Ruhm und Bewunderung erreicht. Ähnliche Bemerkungen finden wir in der unterdrückten Vorrede. Dort spricht Schiller von einem „Ungeheuer mit Majestät“ (FA, 2, 162) und demjenigen, der den Teufel umarmt, „weil er der Mann ohne seines Gleichen ist“ (FA, 2, 163). In Über das Pathetische, wo Schiller das „Erhabene der Fassung“ (FA, 8, 440) bespricht, kommt er noch einmal auf Miltons Satan zurück und auf die Bewunderung, die dieser hervorruft, weil er sich selbst einen Himmel in der Hölle baut. Das Paradox, das in der Verbindung von Himmel und Hölle steckt, wird im vierten Akt von Schillers Räubern von Karl Moor heraufbeschworen. Die SchillerForschung hat das immer wieder zur Kenntnis genommen, aber dann keine näheren Untersuchungen darüber angestellt. Welche Züge des Milton’schen Satans hat Schiller bei der Gestaltung Karl Moors übernommen? Wie kommt es, dass der junge deutsche Held sich im späten achtzehnten Jahrhundert mit ihm identifizieren kann? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns zunächst den Ursprüngen der Rebellion Karl Moors zu. Sie fängt mit der selbst gewollten Trennung von der Familie an, mit dem Studentenleben und dem Leben eines Libertins in Leipzig. Spontan beginnt Moor mit einem Angriff auf die Gesellschaft und deren Gesetze. Das scheint untrennbar zu sein von dem eigenen Wunsch, Größe zu erreichen. Dem folgt der Gedanke, eine Räuberbande zu gründen, die in den böhmischen Wäldern leben wird. Die Diskussionen darüber finden in einer Kneipe an der sächsischen Grenze statt. Die jungen Männer hören zuerst die Stimme der Natur. Scheint einerseits die Idylle sie hierherzulocken, „die gesunde

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Natur“ (FA, 2, 31, 35), wie Moor sie nennt, die durchaus im Rousseau’schen Sinne als positiver Kontrast zum Stadt- und Hofleben, zum Familienleben, zu verstehen ist, stellt sich diese Idylle bald als trügerisch heraus. Das wilde Naturleben, ja das Chaos der Natur, lässt sich fühlen. Es eröffnet sich eine Welt, die amoralisch ist, unmenschlich, in der Gewalt und Bestien herrschen. Die wichtigsten Spieler sind dabei auf metaphorischer Ebene Tiere. Als der Plan, eine Räuberbande zu gründen, konzipiert wird, erweitert sich das Spektrum um die mächtigen und gefährlichen Tiere (der Löwe, der Bär, das Krokodil, der Wolf, die Hyäne) sowie die listige Schlange und den unterirdischen Wurm. Der Hinweis auf die listige Schlange ist sicherlich eine Anspielung auf die biblische Tradition oder Miltons Satan; genauso wichtig ist, dass Satan sich bei Tieren zu Hause fühlt. Bevor er die Rolle der listigen Schlange übernimmt, verwandelt er sich in einen Löwen und einen Tiger, um sich dem menschlichen Paar zu nähern.12 Die Nähe zur Tierwelt, die im Dialog der jungen Männer zutage tritt, äußert sich dann in deren körperlichem Verhalten, das bald zu Gewalt und Unkontrollierbarkeit führt. Durch die regressive, atavistische Tendenz im Verhalten der Räuber stellt sich die Verbindung zum Chaos her. Nachdem diese viele Gewalttaten ausgeführt haben, wird diese Neigung chorisch triumphierend im Räuberlied im vierten Akt dargestellt.13 Die Idee, der Natur in diesem Sinne nahe zu sein – Regression und Atavismus sind hier ausschlaggebend –, ist verbunden mit dem Drang, sich von der patriarchalischen Autorität zu lösen und Freiheit zu erreichen. Der Wunsch, sich von den Gesetzen der Gesellschaft zu lösen, wird in dieser ambivalenten Welt gezeitigt. Während Moor aus den Büchern gelernt hat, worin Größe besteht, und sich angespornt fühlt, Größe zu erlangen, wird er sich bald bewusst, dass dies nur mit Gewalt möglich ist. Die Frucht der Lektüre ist ein Ausbruch der körperlichen Gewalt: Seine erste Geste ist „auf den Boden stampfend“ (FA, 2, 32, 15) der Ausruf: „Hölle und Teufel!“ (ebd.). Das ist nicht nur eine Redewendung, sondern ein Signal, dass Moor bereit ist, sich dem Chaos zu nähern. Moor weiß, dass er, um den Gipfel des Ruhms zu besteigen, auf Schandsäulen klettern muss. Es scheint für den Augenblick so, dass er dies Spiegelberg überlassen will, der eifrig seine eigenen Pläne schmiedet, während Moor mit dem Gedanken spielt, zu seinem Vater und seiner Amalia nach Hause zurückzukehren. Der Brief seines Bruders bringt ihn davon ab und wird zum Auslöser der Gewalttaten, deren Grundstein schon

12 Milton, John: „Paradise Lost“. In: ders.: Works. Hg. v. Stephen Orgel u. Jonathan Goldberg. Oxford 1991, 355–618, S. 430–431. 13 „Der Wald ist unser Nachtquartier, / [. . .] So machen wir uns Mut und Kraft, / Und mit dem Schwarzen Brüderschaft, / Der in der Hölle bratet. / Das Wehgeheul geschlagner Väter, / [. . .] Ausbrüllen wie Kälber umfallen wie Mucken“; FA, 2, 124, 19–125, 11.

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gelegt worden war. Man kann deshalb nicht behaupten, dass Karl Moors Rebellion auf dem grandiosen Irrtum eines gefälschten Briefes beruht.14 Der Brief des Bruders steigert die Frustration Moors über die Gesellschaft und vertieft den Bruch mit ihr. Hinzu kommt der Hass auf den Vater und auf den Bruder, der sich zu einem Universalhass auf den Menschen und auf Gott auswächst. Moor glaubt, dass der Vater ihn verstoßen habe und dass der Bruder vorgezogen wird. Es ist der Brief, der Moor zum Zittern bringt und bei Spiegelberg, der seine Chance wittert, einen Ausbruch der körperlichen Gewalt verursacht. Grimm kommentiert Moors Verhalten folgendermaßen: „Er macht Gestus wie beim sankt Veits Tanz.“ (FA, 2, 37, 34–35). Noch im neunzehnten Jahrhundert war eine Erklärung für den Veitstanz, dass der Leib des Tänzers vom Teufel besessen sei.15 Eine wilde Gebärde entsteht und damit ein Projekt, das nur mit Gewalt zu erreichen ist. Spiegelbergs Idee ist es dann auch, eine Räuberbande zu gründen. Später sagt Razmann zu ihm: „Der Satan mag seine Leute kennen, dass er dich zum Mäckler gemacht hat“ (FA, 2, 74, 13–14). Spiegelberg ist, wie Satan und seine Gesellen, „ein Meister-Redner“ (FA, 2, 41, 10), dem es wichtig ist, dass Moor ehrgeizig ist, Ruhm und Glanz zu erkämpfen. Bereits bevor Moor zum Hauptmann erklärt wird, sagt Roller, er verpfände seine Seele dem Teufel, was Spiegelberg dazu bringt, zu behaupten, dass ein satanisches Fest stattfinden werde, wenn die Räuber einmal in der Stadt eintreffen. Wenn Scharen vorausgesprengter Kuriere unsere Niederfahrt melden, daß sich die Satane festtäglich herausputzen, sich den tausendjährigen Ruß aus den Wimpern stäuben, und myriaden gehörnter Köpfe aus der rauchenden Mündung ihrer Schwefel Kamine hervorwachsen, unsern Einzug zu sehen? (FA, 2, 43, 1–7)

Miltons Satan brütet seine Pläne für eine Rebellion gegen Gott im Bündnis mit den anderen abgefallenen Engeln aus, nachdem er aus dem Himmel geworfen worden ist. Seine Beweggründe sind Stolz und Rache sowie der Hass auf Gott, der seinen Sohn vorgezogen hat. Satan benutzt den Menschen, um sich zu rächen. Er hasst den Menschen, weil Gott ihn geschaffen hat, aber paradoxerweise liebt er ihn zugleich.16 Zunächst muss er andere Engel davon überzeugen, dass es sich lohnt, gegen Gott zu kämpfen. Die Debatte, die in dem von den gefallenen Engeln selbst gebauten Pandämonium entsteht, ist voller Anspielungen auf den Bürgerkrieg in England zur Zeit Miltons. Miltons Teufel, Moloch,

14 Vgl. Hofmann, Michael: Schiller: Epoche, Werk, Wirkung. München 2003, S. 40. 15 Vgl. Sohler, Joseph Andreas: Abhandlung über den Veitstanz. Wien 1826, S. 21. 16 So sagt Satan, dass er das menschliche Paar lieben könnte, weil sie Gott ähnlich sind: „so lively shines / In them divine resemblance“; Milton: „Paradise Lost“, S. 430.

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Belial, Mammon, Beelzebub, die „zu heimlichem Konklave, fern der Menge“17 diskutieren, hat man als Sinnbild der demokratischen Politik des siebzehnten Jahrhunderts gesehen, für die Milton eine einfühlsame Faszination zeige, im Gegensatz zu der autokratischen Politik Gottes im Himmel. Man kann Paradise Lost als Miltons Kritik der kurzlebigen englischen Republik lesen, die während des Bürgerkriegs etabliert wurde. Satan ist dabei der vollendete Politiker, der das Parlament der abgefallenen Engel manipuliert und sie führt.18 Aber seine Rebellion führt zu Mord und Krieg. Ein Grund für das Scheitern der Revolte ist paradoxerweise einer, der das Gedicht Miltons heutzutage noch relevant macht. Die Interpretation von Patrick McGuiness betont das: McGuiness sieht Satan als zur Hälfte existenzialer Held, zur Hälfte Ur-Teenager und das Verhältnis Satans zu Gott als typisch für die Adoleszenz. Satan ist bedürftig, gewalttätig, legt ein passivaggressives Verhalten an den Tag, begründet seine Eigenständigkeit, ist aufgeblasen, hat in dem einen Augenblick ein hohes Selbstbewusstsein und ist im nächsten Augenblick zerrüttet und ohne Hoffnung. Er ist daher ganz und gar menschlich und spielt sogar mit der Möglichkeit der Reue.19 Schillers junge Helden sind in den böhmischen Wäldern gelandet, weil sie es selbst so wollten. Aber sie sind auch aus der Gesellschaft ausgestoßen. Sie rebellieren gegen die Beschränkungen der Gesellschaft, gegen die autokratische Politik der Klassengesellschaft so, wie sie gegen Gott rebellieren. Sie wollen Redefreiheit und niemanden, der über ihnen steht oder ihnen sagt, was sie tun sollen. Die Idee einer Republik wird kurz erwähnt; die herrschende Idee dabei ist die Steigerung der Gewalt: „Rom und Sparta [sollen dagegen] Nonnenklöster sein“ (FA, 2, 32, 28–29), Moor „wirft den Degen auf den Tisch und steht auf“ (FA, 2, 32, 29–30). Die Revolte der Räuber ist eine Revolte gegen die herrschende Gesellschaft, es ist eine Revolte von Jugendlichen. Sie sind politisch unerfahren, und ihr politisches Programm ist wenig durchdacht. Der Gedanke, dass Redefreiheit herrschen muss, ist zwar verständlich, aber artet schnell in Anarchie und Gewalt aus. „Ein feiner politischer Kopf muß das sein“ (FA, 2, 43, 19–20), der die Bande führt, aber „das Tier muß auch seinen Kopf haben“ (FA, 2, 43, 10–11). Moor wird sich an die Spitze einer Bande junger gewalttätiger Männer setzen, „ein Heer Kerls wie ich“ (FA, 2, 32, 27). Die Suche nach der gesunden Natur ist völlig aus dem Blick verschwunden, und das Leben des Outlaws beginnt. Moor wird sich mit seinen Räubern

17 „[I]n close recess and secret conclave“ [hinter beschlossenen Schrancken in einem abgesonderten Gemache]. Milton: „Paradise Lost“, S. 375; Bodmer, Johann Jakob: Johann Miltons Verlust des Paradieses. Ein Helden-Gedicht: In ungebundener Rede übersetzet. Zürich 1732, S. 35. 18 Forsyth: Satanic Epic, S. 111. 19 McGuiness, Patrick: The Essay. Paradise Lost. BBC Radio 3, 14. September 2017.

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gegen die Menschen schlagen, obwohl es sein Ziel ist, größere soziale Gerechtigkeit für sie zu erzielen. In seiner Selbstrezension sagt Schiller: „R ä u be r M o o r ist nicht Dieb, aber Mörder. Nicht Schurke, aber Ungeheuer“ (FA, 2, 298). Tatsächlich aber ist Karl Moor ein Dieb. Als Dieb wird er auch gesehen, und seine Männer stehlen in seinem Namen. Aber er ist ein Dieb nach dem Vorbild Robin Hoods, der, wie Razmann anmerkt, ein Drittel seiner Beute an Waisenkindern verteilt (vgl. FA, 2, 74, 33–35). Der Hinweis auf Robin Hood ist dabei nicht ironisch,20 sondern unterstreicht die Ambivalenz der Figur des Räuberhauptmanns. In der englischen Folklore ist Robin Hood der Outlaw und Held, dessen Name zur Zeit Schillers durch Balladen bekannt wurde. Der Bewunderer der Französischen Revolution Joseph Ritson verwandelte Robin Hood von einem pikaresken Banditen in einen Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit.21 Hat Robin Hood einerseits ein politisches Programm, verbindet Moor andererseits seinen Namen mit seinem eigenen Kampf um Größe und Unsterblichkeit. Von Robin Hood bis zum Teufel ist es nicht allzu weit. Eine Theorie über den Ursprung seines Namens vermutet eine Verwandtschaft mit dem Teufel. Der Vorname „Robin“ spielt auf die Farbe Rot und auf das Blut an; der Nachname „Hood“ (auf walisisch „hud“) bedeutet Teufel. Robin Hood wird jedenfalls von Karl Moor als ambivalenter Charakter gesehen. Das ist der Grund, warum er ihn in dem Gespräch mit Kosinsky erwähnt und sich von ihm distanziert. Moor wird sowohl von seinen eigenen Männern, die bewusst einen Teufelspakt schließen, als satanische Figur gesehen, als auch von dem Priester, der sich in das Drachennest begibt, um die giftige Otternbrut und Höllenbrut anzugreifen (vgl. FA, 2, 85, 4–16). Auf der Höhe seiner Kampagne wird Moor von dem Priester verflucht: Herzog der Beutelschneider! Gauner-König! Groß-Mogol aller Schelmen unter der Sonne! – Ganz ähnlich jenem ersten abscheulichen Rädelsführer, der tausend Legionen

20 Vgl. Brittnacher: „Die Räuber“, S. 335, der die Meinung vertritt, dass Karl Moor eher dem Vorbild des gerechten Landesvaters folgt. 21 Vgl. Tombs, Robert: The English and their History. London 2014, S. 128–129. Ritsons Ballade erschien etwa fünfzehn Jahre nach Veröffentlichung der Räuber. Michelsen vermutet, dass Schiller durch seinen Lehrer an der Hohen Karlsschule, Joseph Gosse, auf die Legende von Robin Hood aufmerksam gemacht worden war. Robin Hood wird auch bei Shakespeare erwähnt (Two Gentlemen of Verona, As You Like It). Vgl. Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt, S. 87.

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schuldloser Engel in rebellisches Feuer fachte, und mit sich hinab in den tiefen Pfuhl der Ver(FA, 2, 85, 23–28) dammnis zog.22

Dann folgen Jesu Worte an Satan: „[H]ebe dich weg von mir!“ (FA, 2, 86, 1–2). Die Worte stammen aus Matthäus 4:10. Wie Michelsen bemerkt, wird Moor in Schillers Selbstrezension und in der Trauerspiel-Version „Fürst“ (FA, 2, 284, 10 u. 308) genannt, was die Parallele zu Satan umso stärker macht.23 Es handelt sich um die Bemerkung Schillers zu dem Auszug aus seinem Stück, der mit Karls Mord an Amalia endet: „Die Räuber preisen den Sieg ihres Fürsten“ (FA, 2, 308, 19). Karl erklärt in der Trauerspiel-Version seinem Bruder: „Du hast mich zu ihrem [der Räuber] Fürsten gemacht!“ (FA, 2, 284, 10–11), und in einer Szenenanweisung wird ihm ausdrücklich, wie Michelsen noch anführt, eine „majestätische Stellung“ (FA, 2, 283, 20) vorgeschrieben. Nach seinem Triumph aber verwickelt sich Moor in einen Widerspruch nach dem anderen. Schon bevor der Priester ankommt, berichtet Schufterle von dem Angriff auf „Kindbetterinnen [. . .] und hochschwangere Weiber“ (FA, 2, 81, 29–30). Moor erlebt einen Sinneswandel. Er schwankt und wird von Zweifeln an seiner Kampagne und an seinem Verhältnis zur Welt geplagt. Der Angriff des Priesters bestärkt ihn in seiner Wut und Entschlossenheit. Doch gleichzeitig wünscht er sich, nach Hause zurückzukehren und die Kindheitsidylle wiederbeleben zu können. Er bewundert den Sonnenuntergang an der Donau; die Idylle taucht plötzlich wieder in ihm auf, aber er sieht sich als den Ausgestoßenen, der vom Bösen umgeben ist, „von Nattern umzischt“ (FA, 2, 98, 24–25). Das führt dazu, dass er kurz überlegt, ob er den Weg des reumütigen Teufels der Empfindsamkeit, Abbadona, einschlagen soll. Doch nichts dergleichen setzt er tatsächlich um: Er fühlt sich vom Räuberleben wieder angezogen und wird sich nur schwer davon lösen. Im Brutus-Cäsar-Dialog, den er in IV,5 rezitiert (FA, 2, 129, 1–130, 18), vergleicht er sich mit dem Attentäter Brutus. Die Parallele zu Satan ist ihm noch im Kopf, als er nach seinem Hamlet-Monolog, in dem er über Suizid nachdenkt, triumphierend verkündet: „I ch bin mein Himmel und 22 Schillers Herausgeber und Kommentatoren verweisen hier auf die Bibel: Offenbarung 12:9 und 12:20. Vgl. Grawe, Christian: Friedrich Schiller. Die Räuber. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2006, S. 53 u. FA, 2, 1075. 23 Michelsen: Bruch mit der Vater-Welt, S. 88. Michelsen erwähnt Satan in diesem Zusammenhang nicht. In Paradise Lost ist Satan zuerst ein Prinz des Himmels. Beelzebub redet ihn folgendermaßen an: „O prince, O chief of many thronèd powers, / That led the embattled seraphim to war / Under thy conduct, and in dreadful deeds / Fearless, endangered heaven’s perpetual King“ [O Prinz, o Haupt vieler gethronten Fürsten, welche unter deinem Stabe die geschlossenen Linien der Seraphim, in den Streit geführt und in schröcklicher Gefahr unerschrocken den ewigen König des Himmels in Gefahr gesetzt]. Milton: „Paradise Lost“, S. 359; Bodmer: Johann Miltons Verlust des Paradieses, S. 6–7.

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meine Hölle“ (FA, 2, 131, 22–23). Mit seinem Zitat aus Paradise Lost ruft Moor die Stelle in Erinnerung, in der Satan die Hölle gegen den Himmel tauscht und auf die elysischen Felder mit Traurigkeit zurückschaut.24 An dieser Stelle besteht die allerengste Verbindung auf psychologischer Ebene zwischen dem Satan Miltons und dem Räuber Schillers. Moor projiziert sein Ich in den Kosmos und akzeptiert die Konsequenzen daraus, dass er versucht hat, Gott mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.25 Eine Folge davon ist die Verzweiflung Satans: [. . .] horror and doubt distract / His troubled thoughts, and from the bottom stir / The hell within him, for within him hell / He brings, and round about him, nor from hell / One step no more than from himself can fly / By change of place: now conscience wakes despair / That slumbered, wakes the bitter memory / Of what he was, what is, and what must be / Worse; of worse deeds worse sufferings must ensue. / Sometimes towards Eden which now in his view / Lay pleasant, his grieved look he fixes sad, / Sometimes towards heaven and the full-blazing sun, / Which now sat high in his meridian tower: / Then much revolving, thus in sighs began. [Schrecken und Zweifelmuth reissen seine verstörten Gedancken hin und her, und erschüttern in seiner Brust die Hölle von Grund auf, denn er bringt die Hölle in seiner Brust mit und bey sich, und kann durch die Veränderung des Platzes nicht einen Schritt weit so wenig als von sich selbst von der Hölle wegfliegen. Jetzt wecket das Gewissen die Verzweifelung wieder auf, welche schlummerte, wecket das bittere Andencken dessen, was er ware, was er ist, und was noch schlimmers werden müßte; Denn auf schlimmere Thaten müssen noch schlimmere Plagen erfolgen; Zuweilen wendet er seine betrübten Blicke trauerig auf Eden, welches ihm jetzo voll Anmuth in dem Gesicht lage; Zuweilen gegen den Himmel und der Sonne, welche nun mit vollkommnen Scheine hoch auf ihrem Mittagsthurme sasse; Er schluge sich häfftig mit den Gedancken, und fieng darnach mit vielen Seufzern also an.]26

24 „Farewell, happy fields / Where joy forever dwells: hail horrors, hail / Infernal world, and thou profoundest hell / Receive thy new possessor: one who brings / A mind not to be changed by place or time. / The mind is its own place, and in itself / Can make a heaven of hell, a hell of heaven. / What matter where, if I be still the same, / And what I should be, all but less then he / Whom thunder hath made greater? Here at least / We shall be free“ [Gehabe dich wohl glückseliges Gefilde, wo die Freude auf ewig wohnet. Seyd gegrüßt Schrecken und Angst, ich grüße dich tiefste Welt, und du, unterste Hölle, empfange deinen neuen Besitzer, einen der ein Gemüthe mit sich bringet, welches sich durch keine Umstände der Zeit oder des Platzes ändern läßt]. Milton: „Paradise Lost“, S. 362; Bodmer: Johann Miltons Verlust des Paradieses, S. 12. 25 Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt, S. 100 ist der Ansicht, dass Schiller den Gedanken Miltons radikalisiert habe. Er nehme „eine grundsätzliche Beziehungslosigkeit zwischen Außenund Innenwelt“ (ebd.) an. Aus ihr resultiere die Unabhängigkeit wie die Isolation des Selbst. Michelsen sieht hier sehr scharf die Ambivalenz der Figur Karl Moors, zieht aber dann die übliche Parallele zu der Personalstruktur des Bruders Franz, der ich nicht zustimmen kann. 26 Milton: „Paradise Lost“, S. 421; Bodmer: Johann Miltons Verlust des Paradieses, S. 116.

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Schiller lässt die melancholischen Gedanken Satans aus, aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Karl Moor der Erbe der Verzweiflung Satans ist. Seine Rebellion und das Wissen um deren Scheitern führen zu Melancholie und Verzweiflung. Der Ursprung der Verzweiflung Moors, seine Erfahrung der Hölle, sein Gewissen, seine Einsicht, dass schlimmeres Leiden auf dem Fuße schlimmerer Tat folgt, und sein Wunsch, den Paradiesgarten wiederzufinden, sind in der Tat eine Widerspiegelung der Laufbahn Satans.27 Als Karl Moor erfährt, dass sein Bruder die Intrige inszeniert hat, um ihn um sein Erbe zu bringen, entschließt er sich zur Rache und zerreißt seine Kleider („von oben an bis unten“; FA, 2, 136, 29). Michelsen will hierin eine Anspielung auf ein Ballett Noverres erkennen, La Mort d’Hercule (1762), das wiederum auf einem Stück Corneilles basiert, in dem die Verzweiflung und Wut Herkules’ gezeigt wird.28 Diese Geste benutzt Moor, um den Angriff auf seinen Bruder zu beginnen. Dazu bemerken die Räuber: „Es ist ein Belials Streich.“ (FA, 2, 137, 7) Belial ist ein gefallener Engel. Die Söhne Belials sind die gesetzlosen Männer, und der Streich ist vermutlich die Anstiftung von Aufständen.29 In Paradise Lost ist Belial, wie Satan, eine ambivalente Figur, ein guter Redner, der einerseits das

27 Borchmeyer verbindet die Hölle und die Verzweiflung mit der Sünde, aber nicht mit der Rebellion Satans. Vgl. Borchmeyer, Dieter: „Die Tragödie vom verlorenen Vater: Der Dramatiker Schiller und die Aufklärung – Das Beispiel der Räuber“. In: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Hg. v. Helmut Brandt. Weimar 1987, 160–184, S. 182. Gerhard Kluge verweist auf die Wichtigkeit des Motivs der Verzweiflung in Die Räuber, vgl. FA, 2, 875, 992–995 u. 1015. Er erklärt die Verzweiflung aus der Perspektive der Psychologie des Schwärmers: „Im Schwärmer reiben sich die Extreme und die Gegensätze“; FA, 2, 875. Vgl. auch Bell, Matthew: „Melancholy in Schiller’s Dramas“. In: Who is this Schiller now? Hg. v. Jeffrey L. High, Nicholas Martin u. Norbert Oellers. Rochester (NY) 2011, 37–54. 28 Michelsen: Der Bruch mir der Vater-Welt, S. 30–32, merkt an, dass die Worte „[d]er sterbende Herkules sey heut Parole“, die auf einen selbst stilisierten Heroismus Karl Moors schließen lassen, in der ersten anonymen Ausgabe des Schauspiels (1781) ausgelassen wurden. Die Szenenanweisung blieb. 29 „In courts and palaces he also reigns / And in luxurious cities, where the noise / Of riot ascends above their loftiest towers, / And injury and outrage: and when night / Darkens the streets, then wander forth the sons / Of Belial, flown with insolence and wine“ [Seine Regierung erstrecket sich auch über Königliche Höfe, vornehme Palläste, und wollüstige Städte, wo das Getümmel der Schwelger, und das Wehklagen der Nothleidenden, und Verwundeten, bis über die höchsten Thürme hinaufsteiget; Und wann die Nacht die Gassen dunckel machet, dann kriechen die Belials-Buben aus ihren Gelachen hervor, und wer den von dem Wein und ihrem ausgelassenen Muth willen herum gejagt]. Milton: „Paradise Lost“, S. 368; Bodmer: Johann Miltons Verlust des Paradieses, S. 22. Die Schillerforschung sieht hier eine Anspielung auf die Bibel, aber nicht auf Miltons Paradise Lost. Im „Unterdrückten Bogen B“ fragt Moor: „Wer möchte nicht lieber im Backofen Belials braten mit Borgia und Katilina als mit jedem Alltags-Esel dort droben zu Tische sitzen?“; FA, 2, 168, 18–20.

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Laster um seiner selbst willen liebt, andererseits aber menschlich ist, würdig und schön.30 Moors Plan, sich an seinem Bruder zu rächen, wird vereitelt, was seine Verzweiflung noch steigert. Seine Verzweiflung, seine Reue und Schuld werden durch den Tod seines Vaters und der Geliebten noch erhöht. Es ist wohl kaum ein größerer Gegensatz möglich als der zwischen dem alten Moor und Gott. Schillers Figur ist auf theatralischer Ebene ein Misserfolg; er konnte sich von ihr keine große Wirkung erhoffen. Jedoch ist er regierender Graf gewesen, Vertreter der alten Ordnung, weder unehrlich noch böse, von beiden Söhnen verraten, die er dann auch verliert. Miltons Gott, der seine Macht behält, hat auch etwas verloren, den Menschen, so wie der Mensch seine Unschuld verloren hat. Satan hat mit seinen gefallenen Engeln einen Erfolg errungen; einen Erfolg, der ihm zwar Verdammnis einbringt, aber ihm zugleich Unsterblichkeit sichert. So ergeht es auch Karl Moor. Er hat gegen den Vater rebelliert und gegen die Weltordnung, die dieser vertritt. Er hat seinen Vater und dessen Liebe verloren. Das bereut er zwar, kann es aber nicht rückgängig machen. Er muss, wie Schiller betont, seine Amalia umbringen, um in einem positiven Licht zu erscheinen. Ob seine Tat ihn als feurigen Liebhaber zeigt, wie Schiller behauptete, erscheint zweifelhaft.31 Der Mord an Amalia zeigt ihn aber als die gespaltene Figur, die er von Anfang an war. Er ist immer noch Banditenführer, und indem er Amalia umbringt, hält er den in den böhmischen Wäldern geschlossenen Teufelspakt aufrecht. Vorsätzlich und mit Wut bringt er sie um und vergrößert dadurch seine Schuld. Kurz bevor er seine Waffen verächtlich den Räubern zu Füßen wirft, bereut er seine Taten und schimpft sich einen Narren, „der ich wähnete die Welt durch Greuel zu verschönern“ (FA, 2, 159, 29–30). Aber umbringen will er sich nicht, keine große Opfertat inszenieren, sondern sich der Justiz ergeben. Das mag wie ein großes Opfer aussehen, das Schiller aber in dieser Form auch gestaltet haben mag, um die Radikalität seines Stückes abzumildern und der Landesregierung Zugeständnisse zu machen. In der Trauerspiel-Version wirkt der Schluss noch konservativer (Franz wird ermordet; Schweizer und Kosinski erben die Moor’schen Güter und dienen dem Staat). Dazu sollte die Fortsetzung des Stückes, Die Braut in Trauer, „eine völlige Apologie des Verfaßers über den ersten Theil seyn [. . .], worinn alle Immoralitæt in die erhabenste Moral sich auflösen muß.“32 Wer dem Innenleben des Räubers Moor gefolgt ist, weiß, dass eine Kehrtwende zum Guten nicht möglich ist. Moors letzte Geste zeigt dann auch sein 30 „Belial, in act more graceful and humane; / A fairer person lost not heaven“; Milton: „Paradise Lost“, S. 378. 31 Vgl. Brief an Dahlberg, 12. Dezember 1781; FA, 11, 33. 32 Brief an Dahlberg, 24. August 1784; FA, 11, 121.

Karl Moors satanische Rebellion

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ambivalentes Verhalten: Es bedeutet keine innere Wandlung. Er geht ins Gefängnis und kehrt somit in den Kerker seines Ichs zurück, den er selbst gebaut hat. Das Beispiel, das er dadurch der Nachwelt setzt, ist nicht das eines Verbrechers, der bereut oder alles zurücknimmt. Was ihn dazu bringt, sind Verzweiflung und zudem ein nicht zu unterdrückender Zug der Selbstbewunderung und der Selbstverherrlichung. Die Räuber sagen: „Es ist die Groß-Mann-Sucht“ (FA, 2, 160, 30). Ein Nachruf auf Karl Moor wird ihn als „de n g ro ß e n Räu b e r “ darstellen. In der Trauerspiel-Version werden diese Worte mit Nachdruck versehen (FA, 2, 160, 36 u. 292, 18). Der Mann mit elf Kindern, der die Belohnung für den Kopf Moors bekommt, ist kein Symbol für den Sieg der Justiz. Darin schwingt ein Seitenhieb auf eine Gesellschaft mit, in der Ungleichheit herrscht und Verbrechertum nötig zu sein scheint. Die Reichen werden zahlen. Moors Geste erinnert an Robin Hood und die mit ihm verbundene satanische Laufbahn. Moor will in Erinnerung gerufen werden, für das, was er getan hat, und nicht dafür, dass er seine Taten bereute. Er wird kein moralisches Beispiel abgeben. Ihm wird ein Denkmal gesetzt werden, er soll als der majestätische Sünder gelten, der er sein wollte. Majestätischer Sünder! Deine furchtbare Rolle vollbracht. [. . .] hinter ihm schlagen die Pforten zusammen! Geizig schlingt ihn der Rachen der Nacht! [. . .] Zu den Sternen des Ruhms Klimmst du auf den Schultern der Schande!

(FA, 1, 532, 3–24)

Schillers Worte erinnern an Moors Scheltworte an Spiegelberg im ersten Akt („Steig du auf Schandsäulen zum Gipfel des Ruhms“; FA, 2, 37, 3–4). Moor hat nun selbst den Gipfel erreicht und die Rolle Satans gespielt. Räuber Moor triumphiert, aber der Triumph ist zweideutig. Nicht um die Wege Gottes vor den Menschen hochzuhalten und zu verteidigen,33 sondern als ein großer Räuber möchte er im Gedächtnis bleiben. Wie Miltons Satan wird er sagen können, dass sein Kampf nicht unrühmlich, wenngleich der Ausgang grimmig war: „that strife / Was not inglorious, though the event was dire“ [und auch mit ihm nicht sonder Ruhme fochten, wiewohl der Ausgang des Streites gräulich ware].34 Die Räuber sind ein auf den Kopf gestelltes theologisches Drama.

33 Vgl. „And justify the ways of God to men“; Milton: „Paradise Lost“, S. 356. 34 Milton: „Paradise Lost“, S. 371; Bodmer: Johann Miltons Verlust des Paradieses, S. 27.

Uta Degner

Maria Stuarts hate speech Zum Kalkül verletzender Rede auf der Bühne der Politik Nichts lebt in mir in diesem Augenblick, Als meiner Leiden brennendes Gefühl. In blut’gen Haß gewendet wider sie Ist mir das Herz, es fliehen alle guten Gedanken, und die Schlangenhaare schüttelnd Umstehen mich die finstern Höllengeister.

(NA, 9 N1, 93, 2182–94, 2187)

So annonciert sich schon vor dem persönlichen Aufeinandertreffen „die große Szene“1 von Friedrich Schillers Maria Stuart aus dem Munde der Protagonistin. Bereits hier wird deutlich, dass Hoffnung auf eine positive Wendung unangebracht ist: „Nie ist zwischen uns Versöhnung“ (NA, 9 N1, 94, 2205), erklärt die schottische Königin apodiktisch, und in der Tat wird sich erfüllen, was Shrewsbury zwar tadelt, aber implizit erwarten lässt, dass nämlich „Haß dem Haß begegnet“ (NA, 9 N1, 94, 2190). Hass ist eines der Leitmotive der Tragödie,2 und ihre Herzszene lässt sich lesen als Bravourstück über dessen theatralische Qualitäten: Maria und Elisabeth performieren in ihrem großen Rededuell im dritten Akt Hassreden par excellence. Der erst in neuerer Zeit gebildete Terminus der hate speech, zu Deutsch „Hassrede“, bezeichnet, so Wikipedia – im Duden findet sich der Begriff noch nicht, er kennt nur den viel harmloser klingenden Begriff „Schmährede“ –, „sprachliche Ausdrucksweisen von Hass mit dem Ziel der Herabsetzung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Personengruppen.“3

1 Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der „großen Szene“ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg i.Br. 2002; zu Maria Stuart, S. 211–235. 2 Hass ist bereits ein Thema in Schillers dramatischem Frühwerk; vgl. Schings, Hans-Jürgen: „Schillers Räuber: Ein Experiment des Universalhasses“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 1–25. 3 Wikipedia-Eintrag: Hassrede. https://de.wikipedia.org/wiki/Hassrede (Stand: 28. Januar 2018). Grundlegend für das neue Forschungsinteresse zu Hassrede ist Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt/Main 2006; vgl. auch die neuere Forschungsliteratur zum Thema Hassrede/hate speech: Herrmann, Steffen Kitty, Sybille Krämer u. Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld 2007; Krämer, Sybille u. Elke Koch (Hg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. Paderborn u. München 2010; Meibauer, Jörg (Hg.): Hassrede/Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion. Gießen 2013; Bonacchi, Silvia (Hg.): Verbale Aggression. https://doi.org/10.1515/9783110667066-009

Maria Stuarts hate speech

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Seitens Elisabeths wird das Ziel der Herabsetzung der Gegnerin als Motivation für eine Begegnung schon im Vorfeld deutlich: Sie hat sich zu dem Treffen nur durch das Argument überreden lassen, diese Gelegenheit zur Demütigung ihrer Feindin im Beisein ihrer (vermeintlichen) Getreuen nicht verpassen zu dürfen: LEICESTER [. . .] gewähr es ihr als Strafe! Du kannst sie auf das Blutgerüste führen, Es wird sie minder peinigen, als sich Von deinen Reizen ausgelöscht zu sehn. Dadurch ermordest du sie, wie sie dich Ermorden wollte – Wenn sie deine Schönheit Erblickt [. . .] – dann hat Die Stunde der Vernichtung ihr geschlagen.

(NA, 9 N1, 87, 2024–2035)

Anders scheint die Ausgangslage bei Maria: Erklärtermaßen will sie Elisabeth „rühren“ und „bewegen“ (NA, 9 N1, 93, 2180), ihr „Herz ergreifen, aber nicht verletzen“ (NA, 9 N1, 98, 2290), doch in der Negation ist bereits präsent, was unterschwellig Marias ganzes Sprechen bestimmt und sich am Ende unaufhaltsam Bahn bricht. Die Verletzung durch Rede erweist sich als ihr eigentliches Telos: Spreng endlich deine Bande, tritt hervor Aus deiner Höhle, langverhaltner Groll – Und du , der dem gereizten Basilisk Den Mordblick gab, leg’ auf die Zunge mir Den gift’gen Pfeil –

(NA, 9 N1, 103, 2439–2443)

Traditionell wird die Dramatik dieser Szene darin gesehen, dass Maria ihren Stolz nicht bezwingen kann und nicht Herrin ihrer Affekte bleibt – diese (vermeintlich) typisch weibliche hamartia zerstört eine mögliche Versöhnung mit Elisabeth und besiegelt die Katastrophe am Ende. Maria und Elisabeth sind jedoch Zeitgenossen Machiavellis;4 Schillers Stück spielt auf diesen Hintergrund

Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache. Berlin u. Boston 2017; „Themenheft. Hate Speech/Hassrede“. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 13 (2017) H. 2, 98–191; Klinker, Fabian, Joachim Scharloth u. Joanna Szczęk (Hg.): Sprachliche Gewalt. Formen und Effekte von Pejorisierung, verbaler Aggression und Hassrede. Stuttgart 2018. 4 Auf Machiavelli als historische Folie weist auch Stefan Zweig in seiner Maria-StuartBiografie hin; vgl. Zweig, Stefan: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Maria Stuart. Frankfurt/ Main 1981, S. 353–354. Zu Schiller vgl. Wölfel, Kurt: „Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik“. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack. Tübingen 1990, 318–340. Wölfel interpretiert Marias Ende allerdings als Zerbrechen der machiavellistischen Fessel, vgl. ebd., S. 338.

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in vielfältiger Weise an, wie noch zu zeigen sein wird. Daher sollte auch in der Begegnung der beiden Königinnen machiavellistische Vorsicht geboten sein: „Wenn man beim Feind einen schweren Fehler bemerkt, so muß man immer annehmen, daß eine List dahintersteckt.“5 Entsprechend soll im Folgenden mit dem Begriff der hate speech eine andere Akzentuierung von Marias (vermeintlich fataler) ‚Entgleisung‘ vorgenommen werden: Wie die neuere Forschung zur verletzenden Rede herausgearbeitet hat, sind Hassreden nämlich mehr als affektgesteuerte, persönliche Verunglimpfungen. Motiviert sind sie von einem politischen Kalkül (wenn sich auch die Hassredner dessen nicht zwangsläufig bewusst sind), und zwar einem doppelten: Sie zielen auf eine Desavouierung ihrer Gegner und dienen zugleich der Stärkung der eigenen Position und des Zusammenhalts innerhalb einer Gruppe. Der Hass, den Hassreden zum Ausdruck bringen, ist daher niemals ein nur individueller, sondern ein geteilter; Hassreden tauchen wesentlich im Plural auf: „[D]er Sprecher [einer Hassrede] erneuert die Zeichen der Gemeinschaft, indem er dieses Sprechen wieder in Umlauf bringt und damit wiederbelebt.“6 Hassreden finden damit immer auf einer – im weitesten Sinne – politischen Bühne statt, gleichwohl sie eine Pervertierung von Politik darstellen, insofern sie nicht auf Argumentation und Konsens aus sind, sondern möglichst verletzend den Gegner um jeden Preis zu erniedrigen und letztlich ‚auszuschalten‘ trachten. Marias ars dicendi wird in der Begegnung mit Elisabeth zur machiavellistischen arte della guerra,7 mit der sie nicht nur in rhetorischer Hinsicht über ihre Gegnerin triumphiert, sondern auch ein politisches Kalkül realisiert, das sich am Ende der Tragödie als äußerst machtvoll erweisen wird. Dass Maria ihre verbale Aggression selbst nicht kritisch sieht, zeigt sich in dem unmittelbar auf das Rededuell folgenden Dialog, verdeutlicht noch durch den Kontrast zur Auffassung ihrer Amme Hanna Kennedy. Diese deutet den Verlauf als Besiegelung der Katastrophe: „O was habt ihr gethan! Sie geht in Wuth! / Jetzt ist es aus und alle Hoffnung schwindet.“ (NA, 9 N1, 104, 2452–2453) Maria

5 So der Titel des achtundvierzigsten Kapitels des dritten Buches der Discorsi. Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Übers. v. Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 402. Die Unstimmigkeit der Szene konstatiert 1891 schon Otto Ludwig: „[M]an weiß nicht, wie sie [Maria] dazu kommt, eben jetzt, wo ihr ganzes Schicksal daran hängt, die Selbstbeherrschung zu verlieren, die, nach den übrigen Scenen zu urteilen, ihr eigentlicher Charakter ist.“ Zit. n. Vogel: Die Furie und das Gesetz, S. 215. 6 Butler: Hass spricht, S. 68; Hervorhebungen der Verfasserin. 7 Vgl. zu diesem Zusammenhang bei Machiavelli Hoeges, Dirk: Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein. München 2000, S. 179.

Maria Stuarts hate speech

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jedoch teilt solche Bedenken nicht, ganz im Gegenteil ist sie regelrecht euphorisch: Sie geht in Wuth! Sie trägt den Tod im Herzen! (der Kennedy um den Hals fallend) O wie mir wohl ist, Hanna! Endlich, endlich Nach Jahren der Erniedrigung, der Leiden, Ein Augenblick der Rache, des Triumphs! Wie Bergeslasten fällts von meinem Herzen, Das Messer stieß ich in der Feindin Brust.

(NA, 9 N1, 104, 2454–2459)

Es gehört zur Kunst von Schillers Stück, immer wieder die doppelte Lesbarkeit von (nicht nur Marias) Handlungen als differierende Sichtweisen seines Dramenpersonals auf die Bühne zu bringen und die Zuschauer dazu anzuregen, das scheinbar Selbstverständliche als bloßen Schein zu hinterfragen. Marias Euphorie scheint zunächst auf einer furchtbaren Verkennung der Tatsachen zu beruhen, als „Triumph[]“ (NA, 9 N1, 104, 2457) misszuverstehen, was in Wahrheit ihren Untergang besiegelt. Doch wie als Bestätigung der neueren Forschung zur verletzenden Rede verbalisiert Marias Metaphorik von dem „Messer [. . .] in der Feindin Brust“ (NA, 9 N1, 104, 2459) ein Wissen um die symbolische Kraft der Hassrede: Ihr „Sieg“ (NA, 9 N1, 105, 2465) speist sich aus der erfolgreichen Erniedrigung ihrer Opponentin: „Sie [Elisabeth] trägt den Tod im Herzen“ (NA, 9 N1, 104, 2454), so weiß sie. Zentral für die fatale Wirkung der Worte ist dabei die Anwesenheit von Zeugen; die ‚Erniedrigung‘ Elisabeths fand „[v]or Lesters Augen“ (NA, 9 N1, 105, 2464) statt: Er sah es, er bezeugte meinen Sieg! Wie ich sie niederschlug von ihrer Höhe, Er stand dabey, mich stärkte seine Nähe!

(NA, 9 N1, 105, 2465–2467)

Als Adressat von Marias Hassrede rückt damit nicht nur Elisabeth in den Blick, sondern auch die Gruppe der Hofmänner. Wichtig ist hier zunächst Lord Leicester, mit dem Maria in geheimer Korrespondenz steht. Zum Zeitpunkt der Szene setzt Maria Hoffnung in eine Befreiung durch ihn und versteht schon die unmittelbar vorangehenden Geschehnisse als dessen Werk (vgl. NA, 9 N1, 91, 2124–2128). Als sie von Shrewsbury erfährt, dass auch „Graf von Lester“ (NA, 9 N1, 95, 2219) bei der Begegnung mit Elisabeth anwesend sein wird, sieht sie bestätigt, dass Leicester auf ihr geheimes Schreiben reagiert und die Gelegenheit zum Zusammentreffen mit Elisabeth arrangiert hat (vgl. NA, 9 N1, 95, 2220–2223). Die Erniedrigung Elisabeths dient Maria dazu, sich vor Lord Leicester als souveräne Königin zu präsentieren, die seine Befreiungsbemühungen weiterhin wert ist.

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Doch nicht nur Leicester ist Zeuge der Szene; wie wir kurz darauf erfahren, hat auch Mortimer alles mitgehört – und ist begeistert von Marias Auftritt: Du hast gesiegt! Du tratst sie in den Staub, Du warst die Königin, s ie der Verbrecher. Ich bin entzückt von deinem Muth, ich bete Dich an, wie eine Göttin groß und herrlich, Erscheinst du mir in diesem Augenblick.

(NA, 9 N1, 104, 2469–2473)

Mortimer wiederholt und bestätigt Marias eigene Rede vom „Sieg“ (NA, 9 N1, 105, 2465) und formuliert die Macht ihrer Hassrede als symbolische Umkehrung der aktuellen realen Machtverhältnisse: „Du warst die Königin, s i e der Verbrecher.“ Das Ausmaß seines „[E]ntzück[ens]“ zeigt die machtvolle Suggestivität von Marias Auftritt: Mortimer wird kurz darauf so weit gehen, für seine „Göttin“ Maria sein Leben zu lassen. Maria, die von seiner Entdeckung nichts weiß, hofft noch im fünften Akt auf eine Befreiung durch ihn (vgl. NA, 9 N1, 151, 3386–3396). – Marias verbale Attacke hat also zwei Richtungen: Sie zielt nicht nur gegen Elisabeth, sondern appelliert zugleich an Verbündete wie Leicester und Mortimer. Die beiderseitigen Beleidigungen in den Hassreden der beiden Königinnen sind nicht „von persönliche[m] Ressentiment bestimmt“8; sie haben vielmehr zum Ziel, die königliche Legitimität infrage zu stellen und dadurch die Gegnerschaft gegen das andere Königshaus wiederzubeleben. Maria ist auch in anderen Szenen eine geschickte Netzwerkerin, die ihre Hand nicht zuletzt nach Elisabeths Verbündeten ausstreckt – man beachte den Nebentext – und versucht, diese für sich zu gewinnen: Ach edler Schrewsbury! Ihr kommt, Vom Himmel mir ein Engel zugesendet!

(NA, 9 N1, 93, 2171–2172)

(seine Hand ergreifend). Ach Talbot! Ihr war’t stets mein Freund – daß ich In eurer milden Haft geblieben wäre! Es ward mir hart begegnet, Schrewsbury!

(NA, 9 N1, 95, 2213–2215)

Omnipräsent ist Marias unterschwellige Anklage, von Elisabeth allzu „hart“ behandelt worden zu sein;9 zugleich schmeichelt sie Elisabeths Gefolgsleuten durch Komplimente, welche eine Opposition zur eigenen Königin unterstellen, wie hier

8 So zum Beispiel Diecks, Thomas: „‚Schuldige Unschuld‘. Schillers Maria Stuart vor dem Hintergrund barocker Dramatisierungen des Stoffes“. In: Aurnhammer, Manger u. Strack (1990), 233–246, S. 241. 9 Vgl. auch: „Ich bin zu schwer verletzt – sie hat zu schwer / Beleidigt [. . .]!“; NA, 9 N1, 94, 2204–2205.

Maria Stuarts hate speech

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in dem Kontrast von „hart“ und „mild[]“. Marias Worte zeigen Wirkung: Schon in dem dritten Auftritt des zweiten Aktes agiert Shrewsbury als ihr Fürsprecher und scheint so von ihr eingenommen zu sein, dass er sich den Tadel Elisabeths zuzieht (vgl. NA, 9 N1, 60, 1398).10 Selbst Burleigh, Marias „böser Engel“ (NA, 9 N1, 95 2218) spricht sie gegenüber Elisabeth als „Verführt[e]“ von persönlicher Verantwortung frei: Denn dieß Geschlecht der Lothringer erkennt Dein heilig Recht nicht an [. . .] [. . .] Sie warens, die die Thörichte Verführt, sich Englands Königin zu schreiben.

(NA, 9 N1, 56, 1287–1291)

Burleigh gibt damit einen Hinweis auf die ‚Genealogie‘ von Marias Hass, und auch sie selbst betont Elisabeth gegenüber ihre beiderseitige Sozialisierung im Zeichen des Hasses: Ein böser Geist stieg aus dem Abgrund auf, Den Haß in unsern Herzen zu entzünden, Der unsre zarte Jugend schon entzweyt. Er wuchs mit uns, und böse Menschen fachten Der unglückselgen Flamme Athem zu. Wahnsinn’ge Eiferer bewaffneten Mit Schwerdt und Dolch die unberufne Hand – Das ist das Fluchgeschick der Könige, Daß sie, entzweyt, die Welt in Haß zerreißen, Und jeder Zwietracht Furien entfesseln.

(NA, 9 N1, 99, 2309–2318)

Marias mythisierende Rede („böser Geist“, „Furien“) verschleiert hier zugleich, was sie benennt:11 Wer waren die „böse[n] Menschen“ und „[w]ahnsinn’ge[n] Eiferer“? Was geschah konkret in Marias „zarte[r] Jugend“? Der aufmerksame Zuschauer beziehungsweise Leser von Schillers Stück weiß darüber schon mehr: Im ersten Gespräch mit Mortimer äußert sich Maria über

10 Vgl. auch Shrewsburys an Elisabeth gerichtete Aufforderung: „Laß dich erbitten, königliche Frau, / Dein Aug’ auf die Unglückliche zu richten, / Die hier vergeht vor deinem Anblick.“; NA, 9 N1, 97, 2239–2241. Wenn Shrewsbury Maria als „schwer [G]ereizte[]“ (NA, 9 N1, 103, 2444) bezeichnet, schwingt darin der implizite Vorwurf mit, dass Elisabeth Maria zu sehr gereizt habe. Vgl. auch Leicesters Aussage über Shrewsbury: „Er war ihr Wächter einst, / Die List’ge hat mit Schmeicheln ihn bethört.“; NA, 9 N1, 86, 1993–1994. 11 „Elisabeth denunziert die Berufung auf ‚die Geschicke‘ als listige Ablenkung“; Henkel, Arthur: „Wie Schiller Königinnen reden läßt“. In: Aurnhammer, Manger u. Strack (1990), 398–406, S. 405.

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ihrer „zarten Jugend Führer“ (NA, 9 N1, 25, 470):12 Es handelt sich um ihren Onkel Karl von Guise, den Kardinal von Lothringen, ein, so Maria, „vielgeliebte[r]“ (NA, 9 N1, 25, 469) und „erhabne[r] Mann[]“ (ebd.). Von Mortimer erfahren wir, worin die außerordentliche Führungskompetenz des Kardinals besteht, nämlich in einer äußerst gewandten politischen Rhetorik, die Mortimer – wie „Tausende“ (NA, 9 N1, 26, 488) andere – gerade am eigenen Leib erfahren hat: Drauf fing er an, mit herzerschütternder Beredsamkeit mir euer Märtyrthum Und eurer Feinde Blutgier abzuschildern. Auch euern Stammbaum wieß er mir, er zeigte Mir eure Abkunft von dem hohen Hause Der Tudor, überzeugte mich, daß euch Allein gebührt in Engelland zu herrschen, Nicht dieser Afterkönigin, gezeugt In ehebrecherischem Bett, die Heinrich, Ihr Vater, selbst verwarf als Bastardtochter. [. . .] Ich weiß nunmehr, daß euer gutes Recht An England euer ganzes Unrecht ist, Daß euch dieß Reich als Eigenthum gehört, Worin ihr schuldlos als Gefangne schmachtet.

(NA, 9 N1, 27, 515–533)

Mortimers Bericht macht transparent, wo Marias Vorwurf an Elisabeth, eine unrechtmäßige „Bastard“-Königin (NA, 9 N1, 104, 2447) zu sein, herkommt.13 Im Gewand des Geistlichen verfolgt der Kardinal ein zutiefst politisches Programm. Wenn Maria den Kardinal nicht nur als ihren „Freund“ (NA, 9 N1, 27, 514), sondern auch als „Redliche[n]“ (NA, 9 N1, 27, 513) bezeichnet, so unterstreicht dies nicht nur den rhetorischen Modus seiner Politik, sondern bezeugt auch, dass sie seine Ansichten inhaltlich teilt.14 Dass der Kardinal ein Hassprediger ist,

12 Elisabeth ist über die Machenschaften dieses „Oheim[s]“ (NA, 9 N1, 100, 2349) Marias sehr wohl informiert und bringt sie im Rededuell mit Maria mehrmals zur Sprache; vgl. NA 9 N1, 100, 2333 u. 2356. 13 Von Mortimer noch einmal wiederholt in NA, 9 N1, 124, 2815: „Bastardkönigin“. 14 Der Widerspruch zu ihrer oben zitierten Rede, wo sie die Hass entfachenden Elemente Elisabeth gegenüber als „böse“ (NA, 9 N1, 99, 2312) qualifiziert, gibt nochmals einen Hinweis auf Marias geschickte Adressatenorientiertheit: Ihr Wort sollte man nicht allzu schnell für bare Münze nehmen. Was Maria wirklich denkt, bleibt im Dunkeln, da wir sie immer nur im sozialen Kontext sehen, sie ist nie alleine auf der Bühne.

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suggeriert Mortimer, der ja gerade von ihm kommt und äußerst gern das Wort ‚Hass‘ im Mund führt.15 Wolfgang Riedel kommentiert dazu: Der französische Klerus führt seinen Glaubenskrieg mit allen, auch perfiden Mitteln. Unter anderem bildet er vormoderne special agents aus, die in geheimer Mission den Kanal überqueren, um die englische Königin zu liquidieren. Diese ‚Agenten‘, wie der historische Babington oder der von Schiller erfundene Mortimer, sind zu allem entschlossen, auch zum Opfer des eigenen Lebens. Wir würden sie heute als ‚Selbstmordattentäter‘ bezeichnen, als ‚Terroristen‘ [. . .].16

In der Tat nimmt Mortimer den eigenen Tod in Kauf – ja ist noch stolz, sich zu opfern:17 Mich schrecken Nicht Babingtons, nicht Tichburns blut’ge Häupter, Auf Londons Brücke warnend aufgesteckt, Nicht das Verderben der unzähl’gen andern, Die ihren Tod in gleichem Wagstück fanden, Sie fanden auch darin den ew’gen Ruhm, Und Glück schon ist’s, für eure Rettung sterben.

(NA, 9 N1, 32, 655–660)

Riedel erwähnt Maria in diesem Kontext nicht – doch auch sie hat die Schule des „erhabne[n] Prediger[s]“ (NA, 9 N1, 26, 490) durchlaufen, und auch sie schreckt nicht vor dem eigenen Tod zurück: „Nicht das Schafott ist’s, das ich fürchte, Sir“ (NA, 9 N1, 31, 621). Dies bezeugt keine Schicksalsergebenheit, denn Maria artikuliert zugleich die Angst vor einem „stillere[n]“ (NA, 9 N1, 31, 622) Meuchelmord. Die Deutung, wonach sie den Tod auf dem Schafott für so unwahrscheinlich hält, dass sie sich vor ihm nicht zu ängstigen braucht, kann durch Mortimers vorangehende Beteuerung ausgeräumt werden: „Sie [Elisabeth] wird es wagen. Zweifelt

15 Vgl. zum Beispiel „verhaßte Larve“ (NA, 9 N1, 23, 395); „verhaßter Mensch“ (NA, 9 N1, 23, 404); „Haß schwur ich nun dem engen dumpfen Buch“ (NA, 9 N1, 25, 457). 16 Riedel, Wolfgang: „Religion und Gewalt in Schillers späten Dramen (Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans)“. In: Würzburger Schiller-Vorträge 2009. Hg. v. dems. Würzburg 2011, 23–44, S. 28. Riedel betont „das funktionale Setting, die Tatsache, dass begeisterungsfähige Jünglinge wie Mortimer nur als nützliche Idioten für Männer wie den Kardinal von Lothringen dienen, welche ihrerseits genau keine Schwärmer sind, sondern kühl kalkulierende Interessenpolitiker und Machtstrategen“ (ebd., S. 29). Der Kardinal zieht im Hintergrund die Fäden – dazu passt, dass er selbst nie auf die Bühne kommt. Schiller scheint die Figur des Mortimer erfunden zu haben, um genau diesen Hintergrund Marias transparent zu machen. 17 Zum dahinterstehenden Konzept des Pro patria mori vgl. Kantorowicz, Ernst H.: „Pro patria mori im politischen Denken des Mittelalters“. In: ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Hg. v. Eckhart Grünewald u. Ulrich Raulff. Übers. v. Walter Brumm. Stuttgart 1998, 290–314.

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nicht daran.“ (NA, 9 N1, 30, 602) – Was aber macht ihr den öffentlichen Tod wünschenswerter als einen hinterhältigen? Hier zeigt sich Marias politisches Kalkül, das dann auch ihr Verhalten in der vierten Szene des dritten Aufzugs bestimmen wird: Sie versteht die Folgen, welche ihre Hinrichtung für ihre Gegnerin Elisabeth haben wird. Mit einer Vollstreckung des Todesurteils steht nämlich deren „Ruhm“ (NA, 9 N1, 174, 3907) auf dem Spiel, sie wird „s o die eigne Majestät [. . .] im Staube wälzen“ (NA, 9 N1, 30, 603–604), ihr Name wird „[d]em Abscheu aller Zeiten Preiß gegeben“ (NA, 9 N1, 178, 3993). Elisabeth selbst ist sich dessen schon früh bewusst: [. . .] ic h muß die Vollziehung anbefehlen. Mich immer trifft der Haß der That. Ich muß Sie eingestehn, und kann den Schein nicht retten. Das ist das schlimmste!18

(NA, 9 N1, 68, 1596–1599)

Man hört hier ein direktes Echo aus Machiavellis Maxime, dass es vor allem auf den Schein ankomme: „Alle sehen, was du scheinst, aber nur wenige erfassen, was du bist [. . .].“19 Deshalb, so folgert Machiavelli, ist es „nicht erforderlich, alle [. . .] guten Eigenschaften wirklich zu besitzen, wohl aber den Anschein zu erwecken, sie zu besitzen“20: Ein Fürst muß also sehr darauf achten, [. . .] daß er, wenn man ihn sieht und hört, ganz von Milde, Treue, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit erfüllt scheint. Und es gibt keine Eigenschaft, deren Besitz vorzutäuschen, notwendiger ist, als die letztgenannte. [. . .] [D]enn der Pöbel läßt sich immer von dem Schein und dem Erfolg mitreißen; und auf der Welt gibt es nur Pöbel [. . .].21

In der Tat ließe sich zeigen, dass das Spiel mit dem Schein als Form der Politik auf allen Ebenen praktiziert wird; die Personen des Stücks selbst verwenden dafür Begriffe des Theaters wie „Gaukelspiel“ (NA, 9 N1, 43, 970) und „Schauspiel“ (NA, 9 N1, 30, 611 u. 51, 1125)22 und wähnen sich auf einer „Bühne“ (NA, 9 N1, 77, 1798). Noch die scheinbar lautersten Gefühle sind von einer solchen Verstellungskunst nicht ausgenommen, ja man muss noch „[i]n den Schwüren /

18 Vgl. : „Ach wie sehr befürcht’ ich, / Wenn ich dem Wunsch der Menge nun gehorcht, / Daß eine ganz verschiedne Stimme sich / Wird hören lassen – ja daß eben die, / Die jetzt gewaltsam zu der That mich treiben, / Mich, wenns vollbracht ist, strenge tadeln werden!“; NA, 9 N1, 138, 3071–3076. 19 Machiavelli, Niccolò: Il Principe/Der Fürst. Übers. v. Philipp Rippel. Stuttgart 1986, S. 139. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 141. 22 Vgl. auch „euren König wollt er spielen“; NA, 9 N1, 20, 317.

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Der treusten Liebe einen Fallstrick fürchten“ (NA, 9 N1, 126, 2835–2836).23 Für die Personen des Stücks sind Schein und Sein oft nicht entwirrbar24– und selbst der Zuschauer des Dramas kommt an seine Grenzen. Nicht weniger wichtig ist in diesem Zusammenhang noch eine andere ‚Lektion‘ des Kardinals: Er lehrt nämlich, so berichtet Mortimer, „der Verstellung schwere Kunst“ (NA, 9 N1, 28, 545).25 Mortimer hat sie von ihm gelernt, und es gehört zu den nicht wenigen Ironien des Stücks, dass es gerade Elisabeth ist, die ihn für seine gute Maskerade lobt – und sich zugleich selbst von ihr täuschen lässt: Ihr zeigtet einen kecken Muth und seltne Beherrschung eurer selbst für eure Jahre. Wer schon so früh der Täuschung schwere Kunst Ausübte, der ist mündig vor der Zeit, Und er verkürzt sich seine Prüfungsjahre.

(NA, 9 N1, 67, 1572–1576)

Auch Maria wurde von dem Kardinal erzogen, sogar noch gründlicher, und auch sie beherrscht die Kunst der Simulation und Dissimulation in Perfektion. Aus dem Mund ihrer Amme erfahren wir beiläufig, wie Maria diese in der Vergangenheit gar vor Gericht erfolgreich eingesetzt hat: Im eignen Tempel der Gerechtigkeit, Zwangt ihr mit frechem Possenspiel die Richter, Den Schuldigen des Mordes loszusprechen –

(NA, 9 N1, 21, 351–353)

23 „Weg, mit der Verstellung!“ (NA, 9 N1, 72, 1679); „Weg mit Verstellung!“ (NA, 9 N1, 83, 1923); „falsche Weiberthräne“ (NA, 9 N1, 17, 258); „Der Schein ist gegen mich, doch darf ich hoffen, / Daß ich nicht nach dem Schein gerichtet werde!“ (NA, 9 N1, 130, 2925–2926); „Was man sc he int , / Hat jedermann zum Richter, was man i s t, hat keinen“ (NA, 9 N1, 68, 1601–1602); „Heuchelschein“ (NA, 9 N1, 70, 1638); „Wie du die Welt, so täusch’ ich dich“ (NA, 9 N1, 70, 1633); „Den Schein der Gnade vor der Welt zu geben“ (NA, 9 N1, 82, 190); „falschen Schein / Hab’ ich verschmäht“ (NA, 9 N1, 103, 2423–2424); „falsche, gleißnerische Königin“ (NA, 9 N1, 70, 163). Zur Rolle des Scheins bei Machiavelli vgl. Hoeges: Niccolò Machiavelli, S. 177–198. Zum Machiavellismus in Schillers Stücken mag auch seine intensive Beschäftigung mit den Dramen Shakespeares beigetragen haben: „Machiavellis Ratschläge [. . .] tauchen auch als Handlungsmaximen etlicher literarischer Verschwörer wieder auf, auch der Shakespeares’ [sic] und Schillers“; Horn, Eva: „Die Macht, die sich verschwört. Machiavelli – Shakespeare – Schiller“. In: Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Hg. v. Maximilian Bergengruen u. Roland Borgards. Göttingen 2009, 143–175, S. 148. 24 Vgl. zum Beispiel die Szene IV,5. 25 Vgl. auch die Bemerkung Leicesters über „Kathrinens Sohn“: „In guter Schule / Hat er des Schmeichelns Künste ausgelernt.“; NA, 9 N1, 78, 1803–1804.

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Wie Kennedy betont, tat Maria dies „[s]o zarten Alters“ (NA, 9 N1, 19, 295) – also unter dem direkten Einfluss ihres Onkels. Wenn also Maria in der Begegnung mit Elisabeth scheinbar die Kontrolle über sich verliert, „außer sich“ (NA, 9 N1, 103, 2444) gerät, so ist dies mit äußerster Vorsicht zu genießen – denn es ist vielleicht nur ein weiteres „Possenspiel“ (NA, 9 N1, 21, 352) ihrer Verstellungskunst.26 Schillers Nebentext scheint zwar zwischen Echtheit und Verstellung durchaus zu differenzieren – während es in Bezug auf Elisabeth explizit heißt: „stellt sich überrascht und erstaunt“ (NA, 9 N1, 96, 2234), lesen wir bei Maria nur „mit steigendem Affekt“ (NA, 9 N1, 97, 2261), „auffahrend“ (NA, 9 N1, 102, 2412), „von Zorn glühend“ (NA, 9 N1, 103, 2421). Aber sagen solche Regieanweisungen nicht nur, was der Zuschauer sehen soll? Sie sind keine Introspektionen in ein Seelenleben, sondern notieren die Choreografie der Gesten auf der Bühne, die nicht weniger kalkulierte Inszenierung sein können als die Worte selbst. Die Differenz zwischen Maria und Elisabeth ist dann nicht die zwischen Authentizität und Verstellung, sondern die zwischen schlechtem und kunstvollem Spiel: Während Elisabeths Verstellung als eine solche merkbar ist, erscheint Marias Spiel ungebrochen ‚authentisch‘. Marias Verhalten ist schon von Beginn der ‚großen Szene‘ an Theatralität nicht abzusprechen. Noch bevor sie zu sprechen beginnt, sieht sie der Zuschauer „halb ohnmächtig auf die Amme gelehnt“ (NA, 9 N1, 96, nach 2231); nach einem ersten Blick auf Elisabeth „schaudert [sie] zusammen und wirft sich wieder an der Amme Brust“ (ebd.); als sei dies noch nicht ostentativ genug, lässt sie der Nebentext folgende Pantomime spielen: „Maria rafft sich zusammen und will auf die Elisabeth zugehen, steht aber auf halbem Weg schaudernd still, ihre Gebärden drücken den heftigsten Kampf aus.“ (NA, 9 N1, 97, nach 2241) Die Botschaft von Marias äußerst expressivem Gebärdenspiel ist deutlich: Hier tut sich jemand gegen sein Herz äußersten Zwang an. Marias Schaudern und der dargestellte „heftigste[] Kampf“ lassen alle Augenzeugen wissen, wie sehr es ihren ureigenen Gefühlen zuwiderläuft, sich Elisabeth als Unterlegene zu nähern – und wie sehr sie doch gewillt ist, sich darum zu bemühen. Ihr theatralisches Hin und Her markiert demonstrativ ihren guten Willen und zugleich ihr königliches Selbstverständnis und es setzt Elisabeth darüber hinaus in ein wenig schmeichelhaftes Licht, denn Marias extremer Widerwille muss ja eine Ursache haben. Elisabeth kommentiert die hinter diesem höchst auffälligen Schauspiel liegende Botschaft einer Verweigerung des zeremoniellen Aptums

26 Dass Maria „außer sich“ (NA, 9 N1, 103, 2444) sei, wird von Shrewsbury formuliert. Er entschuldigt Marias „rasende[]“ (NA, 9 N1, 103, 2444) Rede als ‚verzeihbare‘ Reaktion auf die „schwer []reiz[ende]“ (ebd.) Provokation durch Elisabeth.

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auch sogleich – ihrerseits unter Adressierung der „Milords“ (NA, 9 N1, 97, 2242): „Eine Stolze find’ ich, / Vom Unglück keineswegs geschmeidigt.“ (NA, 9 N1, 97, 2243–2244) Doch nicht nur Marias körperliche Gesten, auch ihre Rede ist durchgehend von einem analogen double bind betroffen: Wo sie einerseits den Willen zur Unterwerfung proklamiert, artikuliert sie zugleich eine gegenläufige Anklage: Sey’s! Ich will mich auch noch diesem unterwerfen. Fahr hin, ohnmächt’ger Stolz der edeln Seele! Ich will vergessen, wer ich bin, und was Ich litt, ich will vor ihr mich niederwerfen, Die mich in diese Schmach herunterstieß.

(NA, 9 N1, 97, 2245–2249)

In der Beteuerung, das erfahrene Unrecht vergessen zu wollen, verbalisiert es Maria allererst und ruft damit ins Gedächtnis ‚wer sie ist und was sie litt‘. Elisabeth wird von ihr von Anfang an als tyrannische Täterin präsentiert, die einer „edeln Seele“ Leid zufügte und diese in eine „Schmach herunterstieß“. Marias folgender Kniefall erscheint vor dem Hintergrund dieser Worte weniger als eine freiwillige Unterwerfung denn als anklagende ‚Bebilderung‘ der erlittenen Demütigung: Der Himmel hat für euch entschieden, Schwester! Gekrönt vom Sieg ist euer glücklich Haupt, Die G ot th eit bet’ ich an, die euch erhöhte! (Sie fällt vor ihr nieder.) Doch seid auch i hr nun edelmüthig, Schwester! Laßt mich nicht schmachvoll liegen, eure Hand Streckt aus, reicht mir die königliche Rechte, Mich zu erheben von dem tiefen Fall.

(NA, 9 N1, 97, 2250–2256)

Die von der Forschung registrierten „taktischen Fehler“27 sind als kalkulierte Angriffe zu interpretieren. Ihr Appell an Elisabeth, nun „auch [. . .] edelmüthig“ zu handeln, setzt ihre eigene ‚edle Seele‘ als Vorbild, der die Königin imperativisch

27 Vgl. „Maria, im Stoßgebet, entsagt diesem ‚Stolz‘, begeht aber den taktischen Fehler, daß sie ‚die G o tth ei t‘ anbeten wolle, ‚die Euch erhöhte!‘: damit aber bringt sie ihre Demut in den religiösen Raum ein und verweigert sich zugleich der ihr gegenüberstehenden Person. Taktisch ist auch dies verhängnisvoll, daß sie [. . .] nicht nur überhastet und voreilig an die Gegnerin appelliert und sie zugleich, deklassierend, an der Güte Gottes mißt, sondern daß das adelsfamiliäre ‚Schwester‘ in ihrer Lage auf eine Gleichrangigkeit zu pochen scheint, wo doch jene die tiefste Demütigung, die Schmach im Staub sehen will.“ Henkel: „Wie Schiller Königinnen reden läßt“, S. 403–404.

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nacheifern soll. Marias rhetorisch brillante Rede performiert ihren Anspruch auf das Königtum, indem sie von Anfang an den Verlauf der Szene und die Rollenverteilung bestimmt. Sie drängt Elisabeth in die Rolle der eiskalten, machiavellistisch-grausamen Königin28 und stellt sich selbst als Opfer dar. Den befehlenden Ton wird Maria noch länger beibehalten: „Denkt“ (NA, 9 N1, 97, 2261), „Verehret, fürchtet sie“ (NA, 9 N1, 98, 2263), „Steht nicht da, schroff und unzugänglich, wie / Die Felsenklippe, die der Strandende / Vergeblich ringend zu erfassen strebt“ (NA, 9 N1, 98, 2269–2271).29 Schon vor der Eskalation am Ende der Szene und ihrem expliziten Anspruch, Elisabeths „König“ (NA, 9 N1, 104, 2451) zu sein, offenbart ihre Rhetorik ihre Ambition auf Vormachtstellung. Durchgehend pocht Maria darauf, die Regisseurin der Szene zu sein. Ihr Leben hängt ihr selbst zufolge nicht von Elisabeth ab, sondern von ihren eigenen Worten und ihrer „Thränen Kraft“: Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick, An meiner Worte, meiner Thränen Kraft, Lößt mi r das Herz, daß ich das eure rühre!

(NA, 9 N1, 98, 2272–2274)

Maria zeichnet dabei ein wenig schmeichelhaftes Bild der britischen Königin: Wenn ihr mich anschaut mit dem Eisesblick, Schließt sich das Herz mir schaudernd zu, der Strom Der Thränen stockt, und kaltes Grausen fesselt Die Flehensworte mir im Busen an.

(NA, 9 N1, 98, 2275–2278)

In der Tat reagiert Elisabeth auf diese Worte „kalt und streng“ (NA, 9 N1, 98, nach 2278). Doch schaut man auf die vom Nebentext entfaltete Blickregie, zeigt sich eine äußerst interessante Entwicklung: Zunächst ist die Rede von „dem gespannten Blick der Elisabeth“ (NA, 9 N1, 96, nach 2231); Elisabeth wirft dann zunächst nur „einen finstern Blick auf Leicestern“ (NA, 9 N1, 96, nach 2234); erst nachdem Maria über dreißig Verse das beschriebene verbale und körperliche Gebaren an den Tag gelegt hat, wird Elisabeth „kalt und streng“ (NA, 9 N1, 98, nach 2278) und wechselt dann zu „einem Blick stolzer Verachtung“ (NA, 9 N1, 102, nach 2412). Nimmt man diese Regieanweisungen ernst, erweist sich Elisabeths Kälte

28 Zwar hatte Elisabeth von Anfang an Interesse daran, sich gegenüber Maria als Überlegene zu präsentieren, wie oben gezeigt wurde (vgl. II,9); zugleich jedoch scheint sie auf eine echt scheinende Unterwerfung Marias durchaus mit Milde zu reagieren, wie ihre Tränen nach der Lektüre von Marias Brief nahelegen: „Welch andre Sprache führt sie jetzt als damals, [. . .].“; NA, 9 N1, 65, 1534. 29 Vgl. auch die Imperative „redet“ und „Nennt“ (NA, 9 N1, 99, 2321); „macht“ und „sprecht“ (NA, 9 N1, 101, 2386); „Sprecht“ und „Sagt“ (NA, 9 N1, 101, 2390).

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als Effekt von Marias präskriptiven Worten noch vor Beginn des Dialogs: „O Gott, aus diesen Zügen spricht kein Herz!“ (NA, 9 N1, 96, 2232) Maria produziert durch ihre Anklagen den kalten Blick der Elisabeth allererst. Wie auch sollte Elisabeth anders als „kalt“ (NA, 9 N1, 98, nach 2278) reagieren auf Marias Beschreibung ihrer Person als grauenerregendes Medusenhaupt! Maria hat auch später die Regie inne: Womit soll ich den Anfang machen, wie Die Worte klüglich stellen, daß sie euch Das Herz ergreifen, aber nicht verletzen! O Gott, gieb meiner Rede Kraft, und nimm Ihr jeden Stachel, der verwunden könnte! Kann ich doch für mich selbst nicht sprechen, ohne euch Schwer zu verklagen, und das will ich nicht.

(NA, 9 N1, 98, 2288–2294)

Das Explizitwerden der rhetorischen Strategien und Kategorien – wie hier die Anspielungen auf exordium, elocutio und movere – bezeugen die rednerische Professionalität Marias, welche sie bis zum Ende beibehält. Doch sollte nicht gerade diese meisterhafte Beredtheit zu denken geben, gerade im Vergleich mit Elisabeth, die „für Zorn sprachlos“ (NA, 9 N1, 103, nach 2444) wird? Raffiniert ist der schon beobachtete doppelte Boden von Marias Rede: Obwohl sie deklariert, gerade dies nicht zu wollen, fährt Maria fort, Elisabeth über zehn Verse hinweg nochmals „[s]chwer zu verklagen“, indem sie sie mehrerer Verstöße gegen die Rechtsordnung bezichtigt: – Ihr habt an mir gehandelt, wie nicht recht ist, Denn ich bin eine Königin wie ihr, Und ihr habt als Gefangne mich gehalten, Ich kam zu euch als eine Bittende, Und ihr, des Gastrechts heilige Gesetze, Der Völker heilig Recht in mir verhöhnend, Schloßt mich in Kerkermauern ein, die Freunde, Die Diener werden grausam mir entrissen, Unwürd’gem Mangel werd’ ich preiß gegeben, Man stellt mich vor ein schimpfliches Gericht – Nichts mehr davon! Ein ewiges Vergessen Bedecke, was ich grausames erlitt. (NA, 9 N1, 98, 2295–99, 2306; Hervorhebungen der Verfasserin)

Marias Rede praktiziert damit letztlich das Gegenteil von dem, was sie predigt. Noch am Schluss dieses Ausschnitts, wenn Maria zum „Vergessen“ aufruft, betont sie zum wiederholten Male das „[G]rausame[]“, das sie

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„erlitt“.30 Ihr „kaltes Grausen“ (NA, 9 N1, 98, 2277) vor Elisabeth erweist sich damit als nachdrücklicher Hinweis auf deren kalte Grausamkeit.31 Nach dem bislang Gehörten ist es nicht überraschend, wenn der Dialog der Königinnen mehr und mehr eskaliert. Die persönlichen Ausfälle am Ende aber als „Streit der Fischweiber“32 zu verstehen, in dem es nur um private Konkurrenz ginge, verkennt, was darin zum Ausdruck kommt, nämlich die gegenseitige Aberkennung einer legitimen Herrschaftsposition. Wenn Elisabeth Maria vorwirft, sie sei nur als „allgemeine Schönheit“ (NA, 9 N1, 102, 2417) erachtet, weil sie „für a lle “ (NA, 9 N1, 102, 2418) „die g em e i ne “ (ebd.) sei, negiert sie deren königliche Würde. Ebenso Maria: Sie erwähnt Elisabeths Abkunft von Anne Boleyn in Vorbereitung auf den „Bastard“-Vorwurf, der Elisabeths Legitimität in Abrede stellt: Der Thron von England ist durch einen Bastard Entweiht, der Britten edelherzig Volk Durch eine list’ge Gauklerin betrogen. – Regierte Recht, so läget I hr vor mir Im Staube jetzt, denn i ch bin euer König.

(NA, 9 N1, 104, 2447–2451)

Die durch den Gedankenstrich markierte Pause und die gesperrt gesetzten Akzentuierungen heben die kalkulierte Nachdrücklichkeit von Marias hate speech hervor. Geschickt differenziert sie zwischen der Königin und ihrem Volk: Während sie Erstere abwertet, schmeichelt sie Letzterem mit dem Epitheton „edelherzig“ und versucht so, einen Keil zwischen die Regentin und ihre Untertanen zu treiben. Sie verletzt ihr Gegenüber mittels Verbalinjurien und unterwandert Elisabeths Bündnis mit ihren Getreuen. Bereits 1960, zur Entstehungszeit der Sprechakttheorie, hat Paul Böckmann die illokutionäre Kraft als ein Spezifikum der Schiller’schen Dramensprache charakterisiert: Die Sprache besitzt für ihn Bedeutung nicht als individuell bestimmte Sprachgebärde oder durch die Vielsinnigkeit der Sprachbilder und des Sprachgefüges, sondern zunächst und vor allem durch die handelnde Kraft des Wortes. Das Wort gewinnt für ihn erst dramatische Bedeutung, sofern es zwischen Gedanke und Tat, Charakter und Handlung vermittelt. So geht es bei dem Verständnis dieser Sprache um den Anteil des Wortes am

30 Vgl. auch nochmals: „Ihr habts erreicht, / Ich bin nur noch der Schatten der Maria. / Gebrochen ist in langer Kerkerschmach / Der edle Muth – Ihr habt das äußerste an mir / Gethan, habt mich zerstört in meiner Blüthe!“; NA, 9 N1, 101, 2381–2385. 31 Vgl. auch die neuerliche Verwendung des Adjektivs „grausam“ in NA, 9 N1, 101, 2389. 32 Brecht, Bertolt: „Der Streit der Fischweiber (Zu Schillers Maria Stuart, 3. Akt)“, In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Schriften 1933–1942, Bd. 22.2, g. v. Werner Hecht, Jan Knopf, u. a. Frankfurt/Main, Berlin u. Weimar 1993, 834–839.

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Handlungsvorgang, nicht um stilistische Figuren; nicht um die Sprache als Diktion, sondern um das Wort als Aktion. Schillers Dramen entwickeln ihre Konflikte nicht schon aus dem Zusammentreffen gegensätzlicher Charaktere oder aus der geschichtlichen Situation als solcher, sondern entfalten sich aus den an Sprache gebundenen Handlungen.33

Marias Worte haben tatsächlich die Kraft, Elisabeths (ja ihrerseits symbolische) Rolle als Regentin durch Unterminierung ihrer Legitimität und durch Infragestellung ihres königlichen Nimbus in Vorwürfen der Grausamkeit und Ungerechtigkeit symbolisch zu verletzen. Elisabeths letzte Worte in der Begegnung mit Maria, bevor sie dann „für Zorn sprachlos“ (NA, 9 N1, 103, nach 2444) wird, formulieren klar den Moment der Anagnorisis: „Jetzt zeigt ihr euer wahres / Gesicht, bis jetzt war’s nur die Larve.“ (NA, 9 N1, 103, 2419–2420) Elisabeth ist klug genug, um Marias Scheinheiligkeit zu durchschauen – und zwar bemerkenswerterweise schon vor Marias furiosem Hass-Finale. Marias eigentliches Wirkungsziel besteht weniger darin, ihre Mitmenschen zu rühren, als im concitare, im Aufstacheln der Hofmänner gegen die Königin. Das fiktionale Publikum der Szene ist daher von herausragender Bedeutung. Schon rein grammatikalisch sind Marias Adressaten zunächst die anwesenden Männer, wie die Erwähnung Elisabeths in der dritten Person deutlich macht (vgl. NA, 9 N1, 104, 2248–2249). Diese Adressatenorientiertheit bleibt auch dann noch relevant, wenn Maria im Folgenden zur direkten Ansprache Elisabeths übergeht. Zentral sind Leicester und Mortimer, von denen sie ihre Befreiung erhoffen kann, aber auch Shrewsbury und Paulet, die sie versucht, auf ihre Seite zu ziehen. Indem Maria Elisabeth deren Beratern gegenüber in ein schlechtes Licht des Unrechts rückt, versucht sie, deren Loyalität brüchig werden zu lassen – eine Taktik, die sich am Ende als erfolgreich erweisen wird. Das Perfide und zugleich Geniale ihrer Rede vor Zeugen besteht darin, Elisabeth der Freiheit zu berauben: nämlich ihrer Entscheidungsfreiheit, ob sie Maria begnadigt oder nicht. Wenn sie Elisabeth wiederholt droht: „Weh euch, wenn ihr mit diesem Wort nicht endet!“ (NA, 9 N1, 102, 2397; vgl. auch NA, 9 N1, 103, 2427), und ihr ihre Worte vordiktiert (vgl. NA, 9 N1, 101, 2390–102, 2392), so verunmöglicht Marias Befehl, was er vorgeblich erreichen will: Dieser Order zur Begnadigung kann Elisabeth nicht folgen, ohne als von Maria gezwungen zu erscheinen; eine Begnadigung wäre für die Königin nach dem aggressiven verbalen Schlagabtausch ein Gesichtsverlust. Vielmehr wird Elisabeth geradezu provoziert, die Vollstreckung des Todesurteils zu unterschreiben, obwohl sie sich damit selbst über eine höfische Regel hinwegsetzen muss, denn „[d]as Urtheil

33 Böckmann, Paul: „Gedanke, Wort und Tat in Schillers Dramen“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 4 (1960), 2–41, S. 4–5.

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kann nicht mehr vollzogen werden, / Wenn sich die Königin ihr genahet hat, / Denn Gnade bringt die königliche Nähe“ (NA, 9 N1, 65, 1525–1527). Maria selbst spricht die absehbaren negativen Folgen für Elisabeth aus: Denn wenn ihr jetzt nicht segenbringend, herrlich, Wie eine Gottheit von mir scheidet – Schwester! Nicht um dieß ganze reiche Eiland, nicht Um alle Länder, die das Meer umfaßt, Möcht ich vor euch so stehn, wie ihr vor mir!

(NA, 9 N1, 102, 2398–2402)

Elisabeth weiß, dass sie von ihrem Volk abhängig ist: „Umgeben rings von Feinden hält mich nur / Die Volksgunst auf dem angefochtnen Thron.“ (NA, 9 N1, 142, 3212–3213) Wenn sie in der Verurteilung Marias also den schönen Schein nicht wahren kann, steht ihre eigene Herrschaft auf dem Spiel. Shrewsbury bestätigt diese Sicht der Dinge: „Dieser Federzug / Entscheidet deines Lebens Glück und Frieden.“ (NA, 9 N1, 139, 3095–3096) Er malt die abzusehenden Konsequenzen für Elisabeth bildlich aus: Du zitterst jetzt Vor dieser lebenden Maria. Nicht Die Lebende hast du zu fürchten. Zittre vor Der Todten, der Enthaupteten. Sie wird Vom Grab’ erstehen, eine Zwietrachtsgöttin, Ein Rachegeist in deinem Reich herumgehn, Und deines Volkes Herzen von dir wenden. Jetzt haßt der Britte die gefürchtete, Er wird sie r äc hen , wenn sie nicht mehr ist. Nicht mehr die Feindin seines Glaubens, nur Die Enkeltochter seiner Könige, Des Hasses Opfer und der Eifersucht Wird er in der bejammerten erblicken! Schnell wirst du die Veränderung erfahren. Durchziehe London, wenn die blut’ge That Geschehen, zeige dich dem Volk, das sonst Sich jubelnd um dich her ergoß, du wirst Ein andres England sehn, ein andres Volk, Denn dich umgiebt nicht mehr die herrliche Gerechtigkeit, die alle Herzen dir Besiegte! Fu r ch t, die schreckliche Begleitung Der Tyranney, wird schaudernd vor dir herziehn, Und jede Straße, wo du gehst, veröden.

(NA, 9 N1, 139, 3114–140, 3136)

Maria selbst hat eine solche ‚Rache‘ eines toten Königs am eigenen Leib erfahren: Die Ermordung ihres zweiten Gatten hat sie selbst politisch zur Strecke gebracht, wie sie schon gegen Anfang der Tragödie bekennt:

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Ich erkenn’ ihn. Es ist der blut’ge Schatten König Darnleys, Der zürnend aus dem Gruftgewölbe steigt, Und er wird nimmer Friede mit mir machen, Bis meines Unglücks Maaß erfüllet ist.

(NA, 9 N1, 18, 272–275)

Frischblutend steigt die längst vergebne Schuld Aus ihrem leichtbedeckten Grab empor! Des Gatten Rachefoderndes Gespenst Schickt keines Messedieners Glocke, kein Hochwürdiges in Priesters Hand zur Gruft.

(NA, 9 N1, 19, 286–290)

Maria formuliert hier Tragödienwissen: Schon in der Orestie des Aischylos kommt der Schatten der toten Klytaimnestra zurück, um Rache für ihre Ermordung zu fordern.34 Ein rekurrentes Motiv ist die Rückkehr der Ermordeten als Rachegeister zudem in den Bühnenwerken eines Zeitgenossen Marias und Elisabeths, nämlich in Shakespeares Tragödien, von denen bekannt ist, wie sehr Schiller sie schätzte.35 In Dramen wie Hamlet, Richard III. und Macbeth, das Schiller in zeitlicher Nähe zur Arbeit an Maria Stuart bearbeitete, ist das gestaltet, was Maria in der bereits zitierten, mythisierenden Erzählung auch für ihre eigene Situation in Anspruch nimmt: das „Fluchgeschick der Könige“ (NA, 9 N1, 99, 2316).36 Im Kontext ihrer Rede scheint ein solcher Schicksalsglaube jedoch unglaubwürdig, da sie davor Elisabeth für das erlittene Unrecht zur Rechenschaft zieht. Wenn sie ausruft: „[S]eht! Ich will alles eine Schickung nennen, / I h r seid nicht schuldig, i ch bin auch nicht schuldig“ (NA, 9 N1, 99, 2307–2308), so erweist sich darin die tragische Dimension der „Schickung“ als eine sprachliche Verbrämung eines in Wirklichkeit höchst schuldhaften Verhaltens. Das „[r]achefodernde[] Gespenst“ (NA, 9 N1, 19, 288) ist ihr wohl nicht tatsächlich im Traum erschienen – dafür gibt es jedenfalls keine weiteren Indizien; sie benutzt es vielmehr als tragödienhistorisches Zitat, um politisches Wissen zu artikulieren: Während die Albträume und Geistererscheinungen in der antiken Tragödie und bei Shakespeare noch ein Schicksal ankündigen,37 so durchschaut Maria die schicksalsgleiche, aber eben nicht mehr schicksalhafte politische Konsequenz zur Gänze: „Und blutig wird sie [die „blut’ge

34 Vgl. den Beginn der Eumeniden, V. 94–116; Aischylos: Die Orestie. Übers. v. Emil Staiger. Stuttgart 2002, S. 112. 35 Vgl. Henning, Hans: „Schillers Shakespeare-Rezeption“. In: Shakespeare-Jahrbuch 122 (1986), 110–128. 36 Vgl. die im Schlaf heimgesuchte Lady Macbeth in der ersten Szene des fünften Aktes; NA, 13, 146, 1902–149, 1983. 37 Vgl. hierzu Koppenfels, Martin von: „Alptraum und Geschichte: Richard III“. In: William Shakespeare. Hg. v. Dominic Angeloch, Astrid Lange-Kirchheim u. Carl Pietzcker. Würzburg 2018, 71–103.

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That“] auch an mir sich rächen“ (NA, 9 N1, 20, 321 [320]). Ihr Königsmord zwang sie, nach England zu fliehen, und gibt dort ihren Feinden ein Argument zur Hand, sie zu diskreditieren und zu verurteilen – sie ist politisch angreifbar geworden. „Die Macht verführte mich“ (NA, 9 N1, 103, 2422), so gesteht sie freimütig, meint damit aber nicht eine Schicksalsmacht, sondern die Verheißung politischer Macht. Maria kennt die fatalen politischen Nachwirkungen des Königsmords also aus eigener Erfahrung: Zwar verspricht er zunächst Souveränität, schwächt diese aber gerade im Gegenzug langfristig entscheidend. Dieses aus eigener Erfahrung gewonnene Wissen ist auch der Grund dafür, dass sie selbst die Option eines Königinnenmords an Elisabeth entschieden von sich weist: „Den Mord allein, die heimlich blut’ge That, / Verbietet mir mein Stolz und mein Gewissen, / Mord würde mich beflecken und entehren.“ (NA, 9 N1, 43, 952–954) Schon im ersten Aufzug fordert sie indes, Elisabeth solle es aufgeben, „mit des Verbrechens Früchten / Den heil’gen Schein der Tugend zu vereinen, / Und was sie i s t, das wage sie zu scheinen!“ (NA, 9 N1, 44, 972–974) Bereits hier wird ihre Absicht erkennbar, die auch ihr Verhalten in der ‚großen Szene‘ bestimmen wird, denn indem sie dort die Situation eskalieren lässt, provoziert sie Elisabeth zu einer „grausam[en]“38 Gegenreaktion, mit der sie ihre machtpolitische Souveränität aufs Spiel setzt.39 Es kann daher ganz und gar nicht überraschen, dass Maria kurz vor ihrer Hinrichtung die Rede von ihrem „Triumph[]“ (NA, 9 N1, 104, 2457) erneuert: Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele! [. . .] Ihr seid zu eurer Königin Triumph, zu ihrem Tode nicht gekommen.

(NA, 9 N1, 157, 3493–3497)

Die besonders von Guthke herausgearbeitete Problematik einer (psychologisch gedachten) „Wandlung“40 zur „schönen Seele“41 erübrigt sich in der hier

38 So schon Burleighs Beurteilung in NA, 9 N1, 46, 1035. 39 In der Tat unterschreibt Elisabeth die Vollstreckung unter dem Eindruck der erlittenen Erniedrigung: „Mit welchem Hohn sie auf mich nieder sah, / Als sollte mich der Blick zu Boden blitzen! / [. . .] (Mit raschem Schritt nach dem Tische gehend und die / Feder ergreifend.) / Ein Bastard bin ich dir? – Unglückliche! / Ich bin es nur, so lang du lebst und athmest.“; NA, 9 N1, 143, 3239–3244. Bereits hier hat sie eine Vorahnung der fatalen Konsequenzen ihrer Tat: nach der Unterschrift „läßt“ sie „die Feder fallen, und tritt mit einem Ausdruck des Schreckens zurück“; NA, 9 N1, 144, nach 3248. 40 Guthke, Karl S.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, S. 207–233. 41 Sautermeister, Gert: „Maria Stuart. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort“, In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1979, 174–216, S. 195.

Maria Stuarts hate speech

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vorgestellten Interpretation. Maria ist und bleibt ihrem Selbstverständnis nach Königin und agiert auch im Angesicht des Todes als politischer Körper. „[D]aß die gesetzliche Fiktion von den zwei Körpern des Königs für das englische politische Denken in der Zeit Elisabeths und der ersten Stuarts charakteristisch war“,42 bezeugt Maria dadurch, dass sie für ihren politischen Triumph buchstäblich über ihre Leiche geht. Der Augenblick des Todes ihrer natürlichen Person wird zum Triumph des body politic, ihre Transsubstantiation zur Märtyrerin und „Heldin“ (NA, 9 N1, 150, 3380).43 Zur Symbolpolitik Marias passt auch ihr katholisches Schaugepränge im Angesicht des Todes. Wie grundsätzlich in dem Stück zeigt sich im fünften Akt Politik als religiös überformt;44 dabei steht die Religion ganz im Dienst politischer Inszenierung. Dass Maria „weiß und festlich gekleidet“ (NA, 9 N1, 156, vor 3480) ist, betont nicht nur ihre Königinnenwürde, sondern auch ihre Rolle als Märtyrerin. Sie inszeniert ihren königlichen Tod und ihre politische ‚Auferstehung‘ ganz nach dem Modell der imitatio Christi.45 Die Jesus-Evokationen sind zahlreich: Wie schon zu Beginn des Stückes hat Maria „ein Crucifix in der Hand“ (NA, 9 N1, 150, vor 3480).46 Auf dieses „Bildniß des Gekreuzigten“ (NA, 9 N1, 158, 3539) lässt sie ihre Dienerschaft schwören; „am Halse trägt sie an einer Kette von kleinen Kugeln ein Agnus Dei“ (NA, 9 N1, 156, vor 3480). Sie versetzt sich selbst in die Rolle Jesu, wenn sie ihre Verbündeten „segne[t]“ (NA, 9 N1, 157, 3520), wenn auch in deren Abwesenheit; Melvil wird als Bote fungieren. Transparent wird in dieser Evokation der Mitglieder ihres Netzwerks der letztlich politische Horizont ihrer Inszenierung:

42 Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. „The King’s Two Bodies“. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 64. Kantorowicz zeigt in seiner Analyse von Shakespeares König Richard II., wie das Stück diese „Fiktion“ ihrer mystischen Qualitäten beraubt. Vgl. ebd., S. 47–63. Historisch kann man Marias postumen Triumph darin sehen, dass ihr Sohn Elisabeth auf den Thron nachfolgt. 43 Vgl. Alt, Peter-André: „Ästhetik des Opfers. Versuch über Schillers Königinnen.“ In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), 176–204, bes. S. 194–199. Marias „Tod beleuchtet das Moment einer Verklärung der gefangenen Königin, das sich mit der Restitution ihrer früheren Rolle verbindet. Die gefaßt zur Hinrichtung schreitende Heldin inszeniert sich in einem Ensemble von Bildern, die ihrem Sterben eine symbolische Dimension zueignen“ (ebd., S. 199). In diese Richtung bereits ders.: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie 2. München 2000, S. 501–505. 44 Vgl. schon zu Beginn das skeptische Urteil Paulets: „Den Christus in der Hand, / Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzen.“; NA, 9, N1, 12, 143–144. 45 Die Bibel war bezeichnenderweise das einzige Buch, das Maria im Gefängnis studieren konnte: „Die Bibel ließ man ihr.“; NA, 9 N1, 9, 43. 46 Vgl. die fast identische Formulierung „Den Christus in der Hand“; NA, 9 N1, 12, 143.

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Ich segne Den allerchristlichsten König, meinen Schwager, Und Frankreichs ganzes königliches Haus – Ich segne meinen Oehm, den Kardinal, Und Heinrich Guise, meinen edlen Vetter. Ich segne auch den Papst, den heiligen Statthalter Christi, der mich wieder segnet, Und den katholschen König, der sich edelmüthig Zu meinem Retter, meinem Rächer anbot –

(NA, 9 N1, 157, 3520–158, 3528)

In der Begegnung mit Lord Leicester „nimmt“ sie nicht nur „das Crucifix, und küßt es“ (NA, 9 N1, 170, vor 3816), sie verstärkt die Christus-Analogie wiederum verbal: „Mein Heiland! Mein Erlöser! / Wie du am Kreuz die Arme ausgespannt, / So breite sie jetzt aus, mich zu empfangen.“ (NA, 9 N1, 170, 3816–3818) – Sie stellt sich somit direkt in die Nachfolge Jesu, ihrer politischen Auferstehung gewiss. Maria macht selbst explizit, um was es ihr geht: um ihren „Nachruhm“ (NA, 9 N1, 157, 3499); dafür ist es wieder konstitutiv, dass es „Zeuge[n]“ (NA, 9 N1, 157, 3502) gibt. Sie steuert nicht nur durch ihr Gebaren – „mit ruhiger Hoheit“ (NA, 9 N1, 156, vor 3480) –, sondern auch verbal die Elemente ihrer ‚biografischen Legende‘47: Sie charakterisiert sich als „freie[] große[] Königin“ (NA, 9 N1, 156, 3487) mit „würd’ge[m] Stolz, [einer] „edeln Seele“ (NA, 9 N1, 157, 3494) und einem „zärtlich liebend Herz“ (NA, 9 N1, 170, 3834) – in Leicesters Worten: eine „Perle“ (NA, 9 N1, 171, 3843). Dieses letzte Bild der Maria zu ihren Lebzeiten soll auch ihr postumes bestimmen. Wenn die Interpreten des Stücks die „schöne Seele“48 Marias betonen, sind sie dieser Inszenierung ebenso auf den Leim gegangen wie Marias direkte Zeugen. Schiller hat viel Sorgfalt darauf verwendet, nach Marias Hinrichtung noch darzustellen, wie ihr Kalkül aufgeht: Elisabeth wird von der prophezeiten Angst ergriffen: „Was zittr’ ich? Was ergreift mich diese Angst?“ (NA, 9 N1, 173, 3897) und steht am Ende ganz alleine dar, mit nur bezwungener „ruhiger Fassung“ (NA, 9 N1, 180, nach 4033). Sie kann, so Shrewsbury, ihren „edlern Theil“ (NA, 9 N1, 179, 4027) nicht retten, sondern ist durch die Vollstreckung gezwungen, ‚zu scheinen, was sie ist‘. Marias Inszenierung ihres Todes als „Märtyrthum“ (NA, 9 N1, 27, 516) in der Nachfolge Christi entfaltet eine äußerst machtvolle politische Mobilisierung, wie man an Leicesters politischer Katharsis sieht: Bislang ein Opportunist, der

47 Vgl. hierzu Tomaševskij, Boris: „Literatur und Biographie“. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u. a. Stuttgart 2000, 49–64. 48 Vgl. Sautermeister: „Maria Stuart“, S. 195.

Maria Stuarts hate speech

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zwischen beiden Königinnen die Seiten wechselte, läuft er nun – nach seiner als Peripetie inszenierten Hör-Erfahrung in der zehnten Szene des fünften Aktes – zu Marias Seite über und setzt sich nach Frankreich ab (vgl. NA, 9 N1, 180, 4033): Wir ahnen, zu wem ihn sein Weg dort führt. Wie aber verhält sich eine solche Deutung der Maria-Figur zu Schillers eigener Tragödientheorie? Wenn sich das vermeintlich Tragische zu kalkulierter Politik depotenziert sieht, was bleibt dann für die Tragödie übrig? Zunächst einmal lässt sich sagen, dass die Figur der Maria gerade in der Betonung ihrer machiavellistischen Zurichtung eine neue Dimension des Tragischen bekommt. Nimmt man ihre Erziehung zum Hass ernst, wird die Souveränität der so stolzen Königin brüchig. Sie erscheint in ihrem authentischen Hass weniger autonom als vielmehr als ein ‚törichtes‘, williges Instrument eines fremden Machtwillens.49 Aus politischer Raison geht sie buchstäblich über ihre eigene Leiche – freilich nicht wirklich ‚freiwillig‘ im emphatischen Schiller’schen Sinne, sondern aus hassbefeuerter Machtpolitik. Gerade aber in dieser radikalen „Consequenz im Bösen“ (NA, 20, 220, 13) wird Maria zum geeigneten Modell, um die ästhetische Erhabenheit in Reinform, ohne moralische Verwässerung, vorzuführen: Ein Lasterhafter fängt an, uns zu interessieren, sobald er Glück und Leben wagen muß, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen [. . .]. Rache, zum Beyspiel, ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt. Nichts desto weniger wird sie ästhetisch, sobald sie dem, der sie ausübt, ein schmerzhaftes Opfer kostet. Medea, indem sie ihre Kinder ermordet, zielt bey dieser Handlung auf Jasons Herz, aber zugleich führt sie einen schmerzhaften Stich auf ihr eigenes, und ihre Rache wird ästhetisch erhaben, sobald wir die zärtliche Mutter sehen. Das ästhetische Urtheil enthält hierinn mehr wahres, als man gewöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, welche von Willensstärke zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freyheit an, als Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen [. . .]. Woher sonst kann es kommen, daß wir den halbguten Karakter mit Widerwillen von uns stoßen, und dem ganz schlimmen oft mit schauernder Bewunderung folgen? (NA, 20, 220–221)

Die tragische Erfahrung des Stücks, dass es für seine Figuren keinen Ausstieg aus dem hässlichen Machtkampf der Politik gibt, kann erst auf der Seite des Zuschauers beziehungsweise Lesers auf Distanz gebracht werden.50 Von Leicester 49 Vgl. das bereits zitierte Urteil Burleighs in NA, 9 N1, 56, 1290–1291. 50 Grundsätzlich hierzu vgl. „Schillers Publikum erscheint nicht passiv, sondern als agierender Teil des Rezeptionsvorgangs. Genau deshalb wird es in den Stücken als beachtenswerte Größe erachtet, also bei der Gestaltung von Dramentexten mitgedacht.“ Niefanger, Dirk: „Geschichte als Metadrama. Theatralität in Friedrich Schillers Maria Stuart und seiner Bearbeitung von Goethes Egmont“. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006, 305–323, S. 307.

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in einem zweimaligen, metaleptischen „Horch!“ (NA, 9 N1, 172, 3871 u. 3874) adressiert, wird er dazu aufgerufen, das zu hören, was unsichtbar bleibt: eben nicht beim äußeren Schein zu verharren, sondern das Kalkül hinter der Fassade wahrzunehmen. Darauf stößt ihn auch die im Verlauf des Stücks immer wieder inszenierte Kippfigur von Schein und Sein. Schiller bringt den Rosenkrieg von der politischen Bühne auf die des Theaters und macht ihn damit intelligibel. Nicht Katharsis, sondern Anagnorisis als intellektuelle Freiheit des Betrachters steht im Zentrum der tragödienpraktischen Konzeption von Maria Stuart – ein analytisches Erkenntnisvermögen, das mit der Konjunktur von hate speeches im Augenblick neue Virulenz gewinnt.

III Grenzgänge

Norbert Christian Wolf

„Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben“ Ansätze einer Gattungspoetik in Paratexten zu Schillers Dramen In einem Aufsatz über die „Funktion von Paratexten für die Organisation von Aufmerksamkeit und Distinktion im literarischen Feld“1 des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts hat Thomas Wegmann vor einigen Jahren die diskursiven, ökonomischen und werkpolitischen Implikationen der „Konkurrenz um qualitativ fundierte Aufmerksamkeiten bzw. symbolisches Kapital“ untersucht. In diesem Kontext stellt er fest, der spezifisch moderne Agon im Feld der Kunstproduktion werde „in nicht unwesentlichen Teilen über Meta-, Sekundär- und Paratexte ausgetragen, durch Texte über Texte also, die um 1800 – nicht zuletzt durch eine Fülle einschlägiger Periodika – quantitativ und qualitativ an Bedeutung gewinnen“. Wegmann hebt dabei insbesondere auf Epitexte ab, „also solche Texte, die sich zwar auf ein bestimmtes literarisches Werk beziehen, aber anders als etwa Vorwort oder Titel nicht materiell mit ihm verbunden sind.“ So analysiert er unter anderem einen von Friedrich Schiller verfassten Theaterzettel zur Erstaufführung seines Schauspiels Die Räuber (1781), der später unter der (vom Mannheimer Intendanten Wolfgang Heribert von Dalberg stammenden) Überschrift Der Autor an das Publikum Eingang in die Schiller-Werkausgaben fand. Wegmann arbeitet heraus, dass der Dichter in diesem Begleittext Anfang 1782 dem Stück publikumswirksam eine „Ästhetik des Schreckens“ zuschreibe, die der Aufnahme des Schauspiels im Sinne der Vorstellungen des Autors entschieden befördert habe. Dass im Zusammenhang der gewieften Schiller’schen Aufmerksamkeitsökonomie2 und

1 Wegmann, Thomas: „Der Dichter als ‚Letternkrämer‘? Zur Funktion von Paratexten für die Organisation von Aufmerksamkeit und Distinktion im literarischen Feld“. In: Das achtzehnte Jahrhundert 36 (2012) H. 2, 238–249; die folgenden Zitate stammen aus ebd., S. 240. 2 Vgl. Birkner, Nina: „Die Theaterkritik als Instrument der Selbstpositionierung betrachtet – Friedrich Schillers Rezensionspraxis und die Schaubühne“. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 61 (2011) H. 4, 395–406; Kaiser, Gerhard: „Distinktion, Überbietung, Beweglichkeit: Schillers schriftstellerische Inszenierungspraktiken“. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hg. v. Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser. Heidelberg 2011, 121–140. Zum Kontext vgl. auch Misch, Manfred: „Gesetzgeber, Richter und publizistischer https://doi.org/10.1515/9783110667066-010

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Werkpolitik3 generell nicht nur Epi-, sondern auch die in unmittelbarer Umgebung des primären Textes publizierten Peritexte in den analytischen Fokus geraten sollten,4 versteht sich fast von selbst, nachdem diese sich häufig nur publikationspragmatisch von jenen abgrenzen lassen – man denke etwa an das entstehungsgeschichtlich kontinuierliche Verhältnis zwischen ‚unterdrückten‘ und ‚approbierten‘ Vorreden. Beides soll daher gleichermaßen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen, die sich in eine noch recht junge Linie der Schiller-Forschung einreihen,5 inhaltlich aber auf gattungspoetische Aspekte6 der Werkpolitik konzentrieren.

1 Poetik des Sturm und Drang Dass der junge Schiller durchaus um gattungsspezifische Implikationen der dramatischen Form Bescheid wusste, ohne deshalb allzu viel Aufhebens darum zu machen oder gar eine besondere Aufmerksamkeit darauf zu richten, erfährt man etwa in der offiziellen Vorrede (1781) zur ersten Auflage seines Schauspiels Die Räuber: Man nehme dieses Schauspiel für nichts anders, als eine dramatische Geschichte, die die Vortheile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benuzt, ohne sich übrigens in die Schranken eines Theaterstüks

Stratege. Schiller als Literaturkritiker“. In: Schiller publiciste / Schiller als Publizist. Hg. v. Raymond Heitz u. Roland Krebs. Bern 2007, 23–41. 3 Vgl. Martus, Steffen: „Schillers Werkpolitik“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), 169–188. Martus hebt dabei insbesondere auf zwei werkpolitische Strategien ab, die im gegenwärtigen Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle spielen: „Individualisierung“ und „Historisierung“; vgl. ebd., S. 171. 4 Die Terminologie bezieht sich auf Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main 2001, S. 10 u. passim. 5 Vgl. Binczek, Natalie: „Epistolare Paratexte: Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts in einer Reihe von Briefen“. In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Hg. v. Klaus Kreimeier u. Georg Stanitzek. Berlin 2004, 117–133; Dörr, Volker: „Schillers Horen: klassischer Epitext“. In: Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen von Werk und Autorschaft. Hg. v. Martin Gerstenbräun-Krug u. Nadja Reinhard. Wien 2018, 147–162. 6 Zu gattungspoetischen Überlegungen Schillers im Rahmen seiner dramaturgischen Paratexte vgl. Gesse, Sven: „Genera mixta“. Studien zur Poetik der Gattungsmischung zwischen Aufklärung und Romantik. Würzburg 1997, S. 135–151; Mertens, Martina: Anthropoetik und Anthropoiesis. Zur Eigenleistung von Darstellungsformen anthropologischen Wissens bei Friedrich Schiller. Hannover 2014, bes. S. 269–299 u. 344–354.

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einzuzäunen, oder nach dem so zweifelhaften Gewinn bei theatralischer Verkörperung zu geizen. (NA, 3, 5)

Wie hier die gattungspoetisch unspezifische Rede von der „dramatische[n] Geschichte“ zeigt, präsentiert der junge Schiller seine Entscheidung für die Form des Dramas noch als relativ arbiträr und vor allem als primär inhaltlich begründet: Nur oder insbesondere in dieser Gattung, die in ihrer damals geläufigen Ausprägung die Figuren sich unmittelbar aussprechen ließ und keine distanzierende Erzählstimme als Vermittlungsinstanz kannte, könne man „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen [. . .] ertappen“.7 Es geht ihm also zur Gewährleistung „psychologische[r] Authentizität des Stückes“ und dessen angeblich dadurch verbürgter „wirkungspoetische[r] Authentizität“ allererst um eine möglichst weitgehende Eliminierung von Distanz zwischen der dargestellten Welt, der Darstellung und dem Publikum – ganz gleich, ob es sich um ein Lese- oder um ein Theaterpublikum handelt. Tatsächlich hat der angehende Dichter zunächst gar nicht unbedingt an die Aufführbarkeit seines Dramenerstlings geglaubt, wie sich der damals unveröffentlichten Unterdrückten Vorrede zur ersten Auflage des Schauspiels entnehmen lässt: Es mag beym ersten i n d ie Hand neh men auffallen, daß dieses Schauspiel niemals das Bürgerrecht auf dem Schauplaz bekommen wird. Wenn nun dieses ein unentbehrliches Requisitum zu einem Drama seyn soll, so hat freilich das meinige einen grossen Fehler mehr. (NA, 3, 243)

Expliziter noch führt der junge Schiller gegen Ende seiner Unterdrückten Vorrede an, „daß mirs gar nicht darum zu thun war, für die Bühne zu schreiben. Nicht aber das Auditorium allein, auch selbst das Theater schrökte mich ab“ (NA, 3, 245). Diese Versicherung dient nicht zuletzt als Argument gegen den Vorwurf, er habe mit seinem Schauspiel willentlich „Wahrheit und Tugend“ (ebd.) verletzt. Ungeachtet dieser apologetischen Worte wäre die hier angedeutete angebliche ‚Unspielbarkeit‘ aus Sicht der damals zweifellos geltenden gattungskonstitutiven Anforderungen an ein Drama tatsächlich ein gewaltiger „Fehler“ (NA, 3, 243)8 des Textes der Räuber. Dieser Einwand ist angesichts der 7 Kaiser: „Distinktion, Überbietung, Beweglichkeit“, S. 128–129; die folgenden Zitate ebd. 8 Nach Martus sind es gerade die Fehler, die als „Verstoß gegen die Konventionen“ Schiller zufolge beim aufmerksamen Publikum „ein eigentümliches Interesse am Werk“ begründen sollen, „so wie die Verbrechen im Werk das eigentümliche Interesse der Beobachter erregen.“ Anders gesagt: „Fehler sind dann eben kein Zeichen mangelnder literarischer Kompetenz, sondern Fehler werden zu Zeichen von ‚Eigenheit‘, von ‚Tiefe‘ und ‚Männlichkeit‘, kurz: Fehler bezeichnen die Individualität eines Autors, der Aufmerksamkeit beansprucht [. . .].“ Martus: „Schillers Werkpolitik“, S. 174–175.

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Aufführungsgeschichte, die einen beispiellosen und von Schiller nicht mehr wiederholten Triumph des Schauspiels auf den damaligen Bühnen dokumentiert, freilich gegenstandslos geworden. In legitimatorischer Absicht fährt Schiller indes fort, es stehe „zu vermuthen“, dass die sinnliche Vorbildung erst auf die Idee des Dramas geführt habe: in der Folge aber fand sichs, daß schon allein die Dramatische Methode[,] auch ohne Hinsicht auf theatralische Verkörperung, vor allen Gattungen der rührenden und unterrichtenden Poesie[,] einen vorzüglichen Werth habe. Da sie uns ihre Welt gleichsam gegenwärtig stellt, und uns die Leidenschafften und geheimsten Bewegungen des Herzens in ei ge nen Ae u s se ru n ge n der Personen schildert, so wird sie auch gegen die beschreibende Dichtkunst um so mächtiger würken, als die lebendige Anschauung kräfftiger ist, denn die historische Erkenntniß. (NA, 3, 243; die folgenden Zitate ebd.)

Das Drama wird hier unabhängig von der konkreten Aufführung unter „allen Gattungen der rührenden und unterrichtenden Poesie“ aufgewertet, indem wiederum die „[G]egenwärtig[keit]“ und illusionäre Kraft – also die historische und soziale sowie sprachliche, mimische und gestische Unmittelbarkeit oder eben Distanzlosigkeit der dramatischen Form – ins Zentrum der ästhetischen Erfahrung und der durch sie beförderten publikumswirksamen Didaxe rückt. An die Stelle einer vermittelnden epischen „[B]eschreib[ung]“ tritt im Drama die unvermittelte Darstellung, deren sinnliche „Anschauung“ und Illusion „lebendige[r]“, mithin „kräfftiger“ wirke als die über den Intellekt verlaufende nachvollziehende „historische Erkenntniß“. In Übereinstimmung damit und fast gleichlautend wie in der gedruckten Vorrede zum Schauspiel Die Räuber bestimmt Schiller es auch schon in deren erster Fassung gattungspoetisch als ein „große[s] Vorrecht der Dramatischen Manier, die Seele gleichsam bey ihren verstohlensten Operationen zu ertappen“. Ihr mimetisch-illusionäres Vermögen, zu dessen konsequenter Realisierung es allerdings letztlich ‚undramatischer‘ Monologe bedarf, werde freilich dann nicht in Anspruch genommen, wenn eine klassizistische Poetik es verhindere: So sei es etwa „für den Franzosen durchaus verloren“, wie Schiller unter Bezug auf die seit Lessing topische Polemik gegen die tragédie classique ausführt: „Seine Menschen sind, (wo nicht gar Historiographen und Heldendichter ihres eigenen hohen Selbsts) doch selten mehr als eißkalte Zuschauer ihrer Wuth, oder altkluge Professore ihrer Leidenschafft“. Gegenüber der inkriminierten klassizistischen Poetik kühler Distanziertheit setzt der junge Dramendichter auf die besondere Gegenwärtigkeit und sinnliche Unmittelbarkeit des Schauspiels als Gattung: Wahr also ist es, daß der ächte Genius des Dramas, [. . .] der wahre Geist des Schauspiels tiefer in die Seele gräbt, schärffer ins Herz schneidet, und lebendiger belehrt als Roman und Epopee, und daß es der sinnlichen Vorspiegelung gar nicht einmal bedarf uns diese

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Gattung von Poesie vorzüglich zu empfehlen. Ich kann demnach eine Geschichte Dramatisch abhandeln, ohne darum ein Drama schreiben zu wollen. Das heißt: Ich schreibe einen d ram at is ch en Rom an, und kein theatralisches Drama. Im ersten Fall darf ich mich nur den allgemeinen Gesezen der Kunst, nicht aber den besondern des Theatralischen Geschmacks unterwerffen. (NA, 3, 243–244)

Poetischer ‚Tiefgang‘ in „Herz“ und „Seele“ sind demnach genauso wie ‚lebendige Belehrung‘ ein Proprium der darstellenden Dramenform beziehungsweise deren hervorstechende Eigenschaft gegenüber den erzählenden Gattungen „Roman und Epopee“, wobei es wiederum nicht auf eine tatsächliche Aufführung ankomme, ja nicht einmal auf die dramatische Form im engeren Sinn: Unabhängig davon nämlich werde „diese Gattung von Poesie“ sprachlichstrukturell durch ihre spezifische darstellerische Vermittlung und Machart empfohlen. Indem er „einen d r a mat is c he n R o man , und kein theatralisches Drama“ verfasse, müsse der Dichter sich „nur den allgemeinen Gesezen der Kunst, nicht aber den besondern des Theatralischen Geschmacks unterwerffen“. Insofern sieht der junge Schiller durchaus noch eine kategorielle Differenz zwischen „den allgemeinen Gesezen der Kunst“ und „den besondern des Theatralischen Geschmacks“, denen sich das gegen alle Konventionen anrennende (verspätete) Sturm-und-Drang-Genie keineswegs beugen möchte – eine Position, die er später revidieren wird, wie noch gezeigt werden soll. Zu Beginn seiner literarischen Laufbahn jedenfalls nimmt Schiller vor allem den für die Stürmer und Dränger topischen Abstand zwischen ‚natürlichem‘ Genie und ‚konventionellem‘ Geschmack wahr,9 weniger aber spezifische Formzwänge der unterschiedlichen Gattungen und Formen der Dichtkunst, wie aus seiner Selbstrezension der Trauerspielfassung der Räuber hervorgeht, die Anfang 1782 im ersten Stück der Vierteljahresschrift Wirtembergisches Repertorium der Litteratur anonym erschien.10 Der dichterischen Selbstdeutung zufolge verdankt der Dramenheld Karl Moor, „dieser seltene Mensch[,] seine Grundzüge dem Plutarch und Cervantes, die durch den eigenen Geist des Dichters nach Shakespearischer Manier in einem neuen, wahren und harmonischen Charakter unter sich amalgamiert sind“ (NA, 22, 120). Biografien, Romane und Dramen werden hier neben-, ja durcheinander als angebliche Inspirationsquellen für die Charaktergestaltung von Karl Moor und auch dessen Bruder Franz genannt, ohne dass Schiller auf mögliche

9 Vgl. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001, S. 63–69. 10 Vgl. dazu auch Birkner: „Die Theaterkritik als Instrument der Selbstpositionierung betrachtet“, S. 397–401; Kaiser: „Distinktion, Überbietung, Beweglichkeit“, S. 127–128.

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medien- oder gattungsbedingte Differenzen der Figurenanlage und Figurenzeichnung überhaupt eingeht: Einen überlegenden Schurken, dergleichen F ra nz, der jüngere Moor, ist, auf die Bühne zu bringen – oder besser (der Verfasser gesteht, daß er nie an die Bühne dachte) ihn zum Gegenstand der bildenden Kunst zu machen, heißt mehr gewagt, als das Ansehen Shakespeares, des größten Menschenmalers [. . .], entschuldigen; mehr gewagt, als die unglückseligste Plastik der Natur verantworten kann. (NA, 22, 120–121)

Die Verschiedenheit bild- und sprachkünstlerischer Genres scheint dem angehenden Dichter noch keinen Anlass darzustellen, über ihre unterschiedlichen Vermögen und Leistungen oder gar über Formen gattungsspezifischer Eigengesetzlichkeit nachzudenken. Wenn Schiller in diesem Zusammenhang überhaupt von „Gattung“ spricht, dann hat er auch nicht die Dichtung im Visier, sondern die menschliche Spezies im Sinne damaliger Anthropologie und Naturgeschichte: „Die moralischen Veränderungen kennen ebensowenig einen Sprung als die physischen; auch liebe ich die Natur meiner Gattung zu sehr, als daß ich nicht lieber zehenmal den Dichter verdamme, eh ich i hr eine solche krebsartige Verderbnis zumute.“ (NA, 22, 121) Innerhalb der Dichtkunst werden Gattungswahl und Machart folglich weniger aus einem feststehenden überindividuellen Gattungssystem, das sich in Subkategorien mit jeweils eigenen Gesetzen ausdifferenziert, als vielmehr aus dem persönlichen Charakter des individuellen Poeten abgeleitet: Rä u ber war einmal die Parole des Stücks, der lärmende Waffenton hat den leisern Flötengesang überstimmt. Der Geist des Dichters scheint sich überhaupt mehr zum Heroischen und Starken zu neigen als zum Weichen und Niedlichen. Er ist glücklich in vollen saturierten Empfindungen, gut in jedem höchsten Grade der Leidenschaft, und in keinem Mittelweg zu gebrauchen. (NA, 22, 124)

So scheint allererst die Persönlichkeit des Dichters für die besondere Machart seines Stückes verantwortlich zu sein. Demgegenüber verwendet der junge Schiller in seiner Selbstrezension die literarischen Gattungsbegriffe fast durchwegs unspezifisch beziehungsweise metaphorisch; so heißt es über die Liebe zwischen Karl Moor und Amalia: „Möglich war keine Ve r ei n ig u ng mehr, unnatürlich und höchst u nd r ama ti s ch wär eine Re s ig na ti o n gewesen.“ (NA, 22, 127) Oder über Franz Moor: „Überhaupt muß ich in der Kritik dieses letztern noch nachholen, daß sein Kopf mehr verspricht, als seine Intrigen erfüllen, welche, unter uns gesagt, abenteuerlich grob und romanhaft sind.“ (NA, 22, 129) Oder über die Gesamtanlage des Schauspiels: „Die Sprache und der Dialog dörften sich gleicher bleiben und im ganzen weniger poetisch sein. Hier ist der Ausdruck lyr i sc h und e p is c h, dort gar me t ap h ys i s ch, an einem dritten Ort b ib li s ch , an einem vierten p la tt .“ (NA, 22, 130) Die Termini ‚dramatisch‘,

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‚lyrisch‘, ‚episch‘ und ‚romanhaft‘ purzeln da wild durcheinander, von einer genuin poetologischen Begriffsverwendung in engerem Sinn kann keine Rede sein; deutlich wird hingegen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Kritik der outrierten sprachlichen Emphase des Sturm und Drang, die hier inhaltlich beziehungsweise charakterologisch motiviert erscheint: Franz sollte durchaus anders sprechen. Die blumigte Sprache verzeihen wir nur der erhitzten Phantasie, und Franz sollte schlechterdings kalt sein. Das Mädchen hat mir zu viel im Klopstock gelesen. Wenn man es dem Verfasser nicht an den Schönheiten anmerkt, daß er sich in seinen Shakespeare vergafft hat, so merkt man es desto gewisser an den Ausschweifungen. Das E rh abe ne wird durch poetische Verblümung durchaus nie erhabener, aber die Empfindung wird dadurch verdächtiger. Wo der Dichter am w ahr s te n fü h lt e und am d u rch dri ng en ds te n b ew eg te , sprach er wie unser einer. Im nächsten Drama erwartet man Besserung, oder man wird ihn zu der Ode verweisen. (NA, 22, 130)

Dem forcierten Sprachstil der Genieperiode wird hier wenige Monate nach der Fertigstellung des Stücks eine klare Absage erteilt. Schon in der frühen Selbstrezension richtet Schiller – aufmerksamkeitsökonomisch geschickt – einen Ordnungsruf zur Mäßigung in der Affektdarstellung an sich selbst. Er bezieht sich dabei mehr implizit als explizit auf den locus classicus der Medienkomparatistik und Gattungsästhetik: Auch sollte durchgängig mehr Anstand und Milderung beobachtet sein. Laokoon kann i n der N at u r aus Schmerz brüllen, aber in der anschaulichen Kunst erlaubt man ihm nur eine leidende Miene. Der V. kann vorwenden: ich habe Rä ub er geschildert, und R äu be r be s che ide n zu schildern wär ein Versehen gegen die Natur – Richtig, Herr Autor! Aber warum haben Sie denn auch Räu b er geschildert? (ebd.)

Wie Steffen Martus11 und Thomas Wegmann gezeigt haben, dient die Selbstkritik hier genauso wie die in anderen Epitexten zu den Räubern artikulierte nicht zuletzt der auktorialen Aufmerksamkeitsmaximierung: Die Positionierung Schillers im literarischen Feld verknüpft somit eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die das Publikum als wichtige Größe einbezieht, mit kompetitiver Distinktion, die sich gleichermaßen von massenwirksamer ‚Fabrikware‘ wie von der spätaufklärerischen Ästhetik der Vorgängergeneration abgrenzt – und damit etwas Neues in Aussicht stellt. Deutlich wird dabei erstens, dass Schillers Poetik auf einer Technik des Kombinatorischen basiert, auf einem Procedere der De- und Rekontextualisierung[,] und zweitens, dass gerade sein Frühwerk mit einem paratextuellen Apparat aus Vorreden, Selbstrezensionen und kommentaren verquickt ist, die der literarischen Profilierung und Positionierung dienen.12

11 Vgl. neben den oben zitierten Stellen auch Martus: „Schillers Werkpolitik“, S. 178–179. 12 Wegmann: „Der Dichter als ‚Letternkrämer‘“, S. 242–243.

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Zur Erregung größtmöglicher Aufmerksamkeit sind kritische Rezensionen auch heute noch genauso förderlich wie lobende; entscheidend ist dabei nicht der Ausschlag des Urteils, sondern das Entstehen eines eigenen Diskurses über das Werk. Entsprechendes gilt auch für den ebenfalls von Schiller selbst verfassten Anhang über die Vorstellung der Räuber, der 1782 im ersten Stück des Wirtembergischen Repertoriums der Litteratur unmittelbar im Anschluss an die zitierte Selbstrezension erschien; dort heißt es gegen Ende wiederum durchaus nicht unkritisch: Wenn ich Ihnen meine Meinung teutsch heraussagen soll – dieses Stück ist [. . .] kein Theaterstück. Nehme ich das Schießen, Sengen, Brennen, Stechen und dergleichen hinweg, so ist es für die Bühne ermüdend und schwer. Ich hätte den Verfasser dabei gewünscht, er würde viel ausgestrichen haben, oder er müßte sehr eigenliebig und zäh sein. Mir kam es auch vor, es waren zu viele Realitäten hineingedrängt, die den Haupteindruck belasten. Man hätte drei Theaterstücke daraus machen können, und jedes hätte mehr Wirkung getan. Man spricht indes langes und breites davon. Übermäßige Tadler und übermäßige Lober. Wenigstens ist dies die beste Gewähr für den Geist des Verfassers. (NA, 22, 310–311)

So wird der vorderhand kritisch apostrophierte Verfasser paradoxerweise schließlich durch sich selbst auf Kosten seines „unregelmäßige[n] Stück[s]“ (NA, 22, 309) und dessen manifester „Fehler“ (NA, 3, 243)13 klar aufgewertet – ganz gleich, wie durchwachsen die markigen Urteile über das Schauspiel ausfallen: Der Hr. Verfasser hat es freilich für die Bühne umgearbeitet, aber wie? Gewiß auch nur für die, die der tätige Geist Dalbergs beseelt; für alle übrige, die ich wenigstens kenne, bleibt es, nach wie vor, ein unregelmäßiges Stück. Unmöglich wars, bei den fünf Akten zu bleiben; der Vorhang fiel zweimal zwischen den Szenen, damit Machinisten und Schauspieler Zeit gewännen, man spielte Zwischenakte, und so entstanden sieben Aufzüge. (NA, 22, 309)

Tant pis, möchte man hier sagen, denn gattungspoetische Rücksichten und formale Disziplin haben beim jungen Schiller eindeutig das Nachsehen gegenüber aufmerksamkeitsökonomischen und werkpolitischen Erwägungen. Dies ändert sich dann aber grundlegend in der sogenannten klassischen Phase, ohne dass deshalb werkpolitische Aspekte unerheblich wären, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

13 Vgl. Martus: „Schillers Werkpolitik“, S. 174–175.

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2 Klassizistische Poetik Spätestens seit seiner Übereinkunft mit Goethe im Jahr 1794 arbeitete Schiller mit großem Nachdruck an einer Überwindung der vordem behaupteten kategoriellen Differenz zwischen „den allgemeinen Gesezen der Kunst“ (NA, 3, 244) und „den besondern des Theatralischen Geschmacks“ (ebd.), denen er sich im Gegenteil freiwillig zu unterwerfen anschickte. Mehr aber noch laborierte er an einer Substitution der vom Sturm und Drang propagierten Ästhetik der Unmittelbarkeit durch eine klassizistische Ästhetik strikter Distanz, die sich nun auch in den Postulaten der Gattungspoetik niederschlägt – ohne dass Schiller deshalb den (nicht nur von ihm) so häufig konstatierten dramaturgischen „Fehler[n]“ der französischen Klassiker anheimfallen wollte.14 Diese „Fehler“ bewertete er freilich anders als die Mängel seines eigenen Frühwerks – nämlich nicht als Ausweis künstlerischer Individualität. Besonders deutlichen Niederschlag findet die neue, strenge Poetik in der Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, die als Vorrede zum Trauerspiel Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder (1803) konzipiert und in der Erstausgabe des Dramentextes vor dessen Beginn abgedruckt wurde. Sie stellt somit wiederum den Peritext eines Dramas dar – diesmal aber gerade den eines dem Publikum schwer zugänglichen Schauspiels –, der zur Apologie des eigentlichen Kunstwerks dient. Der im literarischen Feld mittlerweile etablierte Autor postuliert darin, den dramatischen Chor „in der Oeconomie des Trauerspiels“ (NA, 10, 7; die folgenden Zitate ebd.) nicht mehr heterogen „als ein Aussending“ – „ein fremdartiger Körper und [. . .] ein Auffenthalt“ – zu behandeln, das „nur den Gang der Handlung unterbricht“, „die Täuschung stört“ und „den Zuschauer erkältet“. Um dies zu vermeiden – und um mithin sich von den inkriminierten „Franzosen“ (NA, 10, 11) abzuheben –, müsse man dem Chor jetzt jene „sinnlich mächtige Begleitung“ (NA, 10, 7; die folgenden Zitate ebd.) zurückerstatten, die „das tragische Dichterwerk“ durch seine „theatralische Vorstellung“, welche neben den „Worte[n]“ des Dichters auch „Musik und Tanz“ umfasse, erst zu einem lebendigen „Ganzen“ werden lasse. Das Drama ist demnach – ganz anders als noch bei den Räubern – nicht mehr ohne seine Aufführung denkbar. Schiller setzt dabei im Sinne seiner nunmehr subjektiv-idealistischen Philosophie voraus, „daß die Kunst nur dadurch wahr ist, daß sie das Wirkliche ganz verläßt und 14 Zum literaturgeschichtlichen Kontext vgl. Borchmeyer, Dieter: „‚ . . . dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären . . . ‘. Zu Goethes und Schillers Bühnenreform“. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers. Stuttgart 1984, 351–370.

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rein ideell wird. Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt“ (NA, 10, 9–10). Ausgehend davon entwickelt er im weiteren Verlauf der Vorrede seine ‚klassische‘ Gattungspoetik: Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben, und es läßt sich ohne Mühe von dem jetzt gesagten auf die Tragödie die Anwendung machen. Auch hier hatte man lange und hat noch jezt mit dem gemeinen Begriff des N a tü rl ic he n zu kämpfen, welcher alle Poesie und Kunst gerade zu aufhebt und vernichtet. Der bildenden Kunst giebt man zwar nothdürftig, doch mehr aus convenzionellen als aus innern Gründen, eine gewisse Idealität zu, aber von der Poesie und von der dramatischen insbesondere verlangt man Il lu s i on, die, wenn sie auch wirklich zu leisten wäre, immer nur ein armseliger Gauklerbetrug seyn würde. (NA, 10, 10)

Schiller schwört somit dem von einer langen poetologischen Tradition und einst auch von ihm selbst propagierten „gemeinen Begriff des N at ü rli c he n“ sowie der darauf fußenden illusionistischen Dramaturgie ein für alle Mal ab und diskreditiert beides als antipoetisch, ja als generell antikünstlerisch, nämlich als Komplement ‚niederer‘ Jahrmarktsvergnügungen. In unmittelbarer Folge hebt er dann an zu einer Apotheose elaborierter Künstlichkeit als neuem Leitbegriff einer wahrhaft ‚klassischen‘, konsequent „symbolische[n]“ Kunst, wobei er den Begriff des Symbolischen nicht im Goethe’schen Sinn verwendet, sondern als analogon veritatis: Alles äußere bei einer dramatischen Vorstellung steht diesem Begriff entgegen – alles ist nur ein Symbol des Wirklichen. Der Tag selbst auf dem Theater ist nur ein künstlicher, die Architectur ist nur eine symbolische, die metrische Sprache selbst ist ideal, aber die Handlung soll nun einmal real seyn und der Theil das Ganze zerstören. So haben die Franzosen, die den Geist der Alten zuerst ganz misverstanden, eine Einheit des Orts und der Zeit nach dem gemeinsten empirischen Sinn auf der Schaubühne eingeführt, als ob hier ein anderer Ort wäre als der bloß ideale Raum, und eine andere Zeit als bloß die stetige Folge der Handlung. (NA, 10, 10)

Die besonderen Gesetze der einzelnen Gattungen von Poesie und von Kunst entsprechen demnach durchaus ihrem allgemeinen „Ganzen“ und schlagen sich etwa pars pro toto in der Tragödie nieder. Wie in allen Künsten müsse auch in dieser Untergattung der „gemeine[ ] Begriff des N at ü r lic he n“ (ebd.) bekämpft und durch reflexive Vermittlung im Sinne der Theorie des ‚Sentimentalischen‘ ersetzt werden: „[W]eder der Mensch überhaupt noch der Dichter insbesondre darf sich der Gesetzgebung der Natur anders entziehen, als um sich unter die entgegengesetzte der Vernunft zu begeben“ (NA, 20.1, 485). Zu diesem Zweck verabschiedet Schiller die vordem von ihm ins Extrem getriebene ‚naturalistische‘ Illusionspoetik des Sturm und Drang und stellt ihr eine Forcierung darstellerischer Künstlichkeit entgegen. Damit einher geht seine programmatische Revision des einst von ihm ganz selbstverständlich mitvollzogenen historischen Übergangs „vom Vers zu der

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als wirklichkeitsnäher und ‚natürlicher‘ empfundenen Prosa im bürgerlichen Trauerspiel“15 – und nicht nur dort –, den er nun genauso wie die ‚Chorlosigkeit‘ des modernen Dramas verwirft: Durch Einführung einer metrischen Sprache ist man indeß der poetischen Tragödie schon um einen grossen Schritt näher gekommen. Es sind einige lyrische Versuche auf der Schaubühne glücklich durchgegangen, und die Poesie hat sich durch ihre eigene lebendige Kraft, im Einzelnen, manchen Sieg über das herrschende Vorurtheil errungen. Aber mit den einzelnen ist wenig gewonnen, wenn nicht der Irrthum im Ganzen fällt, und es ist nicht genug, daß man das nur als eine poetische Freiheit duldet, was doch das Wesen aller Poesie ist. (NA, 10, 10–11)

Um endlich dem postulierten „Wesen aller Poesie“ zu entsprechen, müsse die Artifizialität der dramatischen Darstellungsmittel durch eine zusätzliche Revision der dramentechnischen Implikationen jener ‚Verbürgerlichung‘, die sich im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts unter aktiver Mitwirkung des jungen Schiller vollzogen hat, zusätzlich zu der hier als ‚Lyrisierung‘ verstandenen Remetrifizierung weiter gesteigert werden: Die Einführung des Chors wäre der lezte, der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer seyn, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren. (NA, 10, 11)

Schiller setzt damit auf die programmatische Wiedereinführung eines formgeschichtlich damals längst verschwundenen (und erst gegenwärtig wieder erstaunlich aktuell gewordenen) dramaturgischen Instruments, welches nur sehr vordergründig betrachtet „einheimisch und ein lebendiges Gefäß der Tradition ist“ (NA, 32, 20; vgl. NA, 10, 308), wie er Körner gegenüber am 10. März 1803 brieflich – also in einem Epitext – beschwört. Er inszeniert somit seine umstrittene dramaturgische Entscheidung als gleichsam geschichtsphilosophisch zwingend und erläutert in diesem Zusammenhang die besondere Gestaltung des Chors in Die Braut von Messina: Wegen des Chors bemerke ich noch, daß ich in ihm einen doppelten Charakter darzustellen hatte, einen allgemein menschlichen nehmlich, wenn er sich im Zustand der ruhigen Reflexion befindet, und einen specifischen[,] wenn er in Leidenschaft geräth und zur handelnden Person wird. In der ersten Qualität ist er gleichsam außer dem Stück und bezieht sich also mehr auf den Zuschauer. Er hat, als solcher, eine Ueberlegenheit über die handelnden Personen, aber bloß diejenige, welche der ruhige über den paßionierten hat, er

15 Göttsche, Dirk: „Mündlichkeit/Schriftlichkeit als Bestimmungskriterium“. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. v. Rüdiger Zymner. Stuttgart u. Weimar 2010, 37–39, S. 38.

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steht am sichern Ufer, wenn das Schiff mit den Wellen kämpft. In der zweiten Qualität, als selbsthandelnde Person, soll er die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse darstellen, und so hilft er die Hauptfiguren herausheben. (NA, 32, 19–20; vgl. NA, 10, 306)

Der Chor ist demnach alles andere als homogen, er widerspricht in seiner Anlage diametral den illusionistischen Erwartungen an einen in sich stimmigen, singulären und ‚gemischten‘ Charakter, wie sie Lessing formuliert hat, ja soll ihnen programmatisch nicht genügen. Lessing hatte es im 59. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie noch ganz im Sinne eines größtmöglichen dramaturgischen Illusionismus als selbstverständlich hingestellt, dass „wir Neuern [. . .] den Chor abgeschafft“16 haben und überdies „unsere Personen größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen“ (ebd.) – dass die dramatischen Redebeiträge also nicht an ein imaginäres, extradiegetisches17 Publikum gerichtet sind. Dabei stellt er mit Blick auf die angesprochenen dramatischen Figuren eine charakteristische rhetorische Frage: [W]as können wir für Ursache haben, sie dem ohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hören; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind, und weder Lust noch Muße haben, Ausdrücke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mit handelte, und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm.18

So argumentiert Lessing entsprechend seiner Theorie von der fehlenden vierten Wand, die den unsichtbaren Zuschauer zum Paradigma der Dramaturgie erhebt,19 und ergänzt seine Argumentation für eine illusionistische Poetik durch den stilkritischen Hinweis im Sinne des mimetischen Authentizitätsgebots: „Bei einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeigt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen.“20 Demgegenüber verficht der um eine neue Dramenform ringende späte Schiller eine dezidiert antiillusionistische Ästhetik und weiß dabei sehr wohl um die forcierte Artifizialität seines poetischen Unterfangens, wie er wiederum in seinem legitimatorischen Peritext Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie betont:

16 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke: Dramaturgische Schriften, 4. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. Karl Eibl. München 1973, 503–507, S. 504. 17 Zur Terminologie vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998, S. 163–164. 18 Lessing: Werke 4, S. 504. 19 Vgl. dazu Lehmann, Johannes F.: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i.Br. 2000, S. 57–252. 20 Lessing: Werke 4, S. 504.

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Der Chor war [. . .] in der alten Tragödie mehr ein natürliches Organ, er folgte schon aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens. In der neuen Tragödie wird er zu einem Kunstorgan, er hilft die Poesie he rvo rb rin g en. Der neuere Dichter findet den Chor nicht mehr in der Natur, er muß ihn poetisch erschaffen und einführen, das ist, er muß mit der Fabel, die er behandelt, eine solche Veränderung vornehmen, wodurch sie in jene kindliche Zeit und in jene einfache Form des Lebens zurück versezt wird. (NA, 10, 11; die folgenden Zitate ebd.)

Es handelt sich ganz offensichtlich um eine sentimentalische Operation der dezidiert künstlichen Suggestion poetischer ‚Naivität‘ und ‚Natürlichkeit‘ unter den Bedingungen der modernen, prosaisch gewordenen und komplexen Wirklichkeit, wie Schiller im Weiteren ausführt, um der Sperrigkeit seines klassizistischen Dramas auf dem Theater peritextuell eine geschichtsphilosophisch begründete Legitimation zu verleihen: Der Chor leistet daher dem neuern Tragiker noch weit wesentlichere Dienste als dem alten Dichter, eben deßwegen, weil er die moderne gemeine Welt in die alte poetische verwandelt, weil er ihm alles das unbrauchbar macht, was der Poesie widerstrebt, und ihn auf die einfachsten, ursprünglichsten und naivsten Motive hinauftreibt.

Mit anderen Worten: Anhand des archaisch wirkenden Chors will der ‚klassische‘ Schiller im Trauerspiel Die Braut von Messina dem unaufhörlich voranschreitenden Abstraktwerden der modernen, ausdifferenzierten und ‚entseelten‘ Welt beziehungsweise ihrer Wahrnehmung, das in eine Serie von „abgezogenen Begriff[en]“ (NA, 10, 12) münde, mit künstlerischen Mitteln entgegenwirken: Der Dichter muß die Palläste wieder aufthun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wieder herstellen, und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und u m denselben, das die Erscheinung seiner innern Natur und seines ursprünglichen Charakters hindert, wie der Bildhauer die modernen Gewänder, abwerfen, und von allen äussern Umgebungen desselben nichts aufnehmen, als was die Höchste der Formen, die menschliche, sichtbar macht. (ebd.)

Die historisch gewachsene, reale Künstlichkeit der Moderne soll – so der apologetische Selbstkommentar im Peritext – durch eine programmatisch erschaffene, ideelle Künstlichkeit konterkariert werden. Die postulierte ‚Entabstrahierung‘ erweist sich mithin als eine hochartifizielle künstlerische Legitimationsstrategie, wie Schiller daraufhin in einer Reihe von medienkomparatistischen Analogieschlüssen beispielhaft veranschaulicht: [E]ben so, wie der bildende Künstler die faltige Fülle der Gewänder um seine Figuren breitet, um die Räume seines Bildes reich und anmuthig auszufüllen, um die getrennten Parthien desselben in ruhigen Massen stetig zu verbinden, um der Farbe, die das Auge reizt

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und erquickt, einen Spielraum zu geben, um die menschlichen Formen zugleich geistreich zu verhüllen und sichtbar zu machen, eben so durchflicht und umgiebt der tragische Dichter seine streng abgemessene Handlung und die festen Umrisse seiner handelnden Figuren mit einem lyrischen Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weitgefalteten Purpurgewand, die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen Würde und hoher Ruhe bewegen. (NA, 10, 12)

Das tertium comparationis zwischen bildender Kunst und tragischer Dichtung besteht demzufolge in der Ermöglichung ‚edler Freiheit‘, ‚gehaltener Würde‘ und ‚hoher Ruhe‘ der dargestellten Handlung und ihrer Charaktere. Der dramatische Chor habe mithin die Aufgabe, das, was der in der Moderne unhintergehbaren Reflexion „an sinnlichem Leben fehlt, durch den Vortrag wieder [zu] gewinnen“ (NA, 10, 13; die folgenden Zitate ebd.) und somit „die zwey Elemente der Poesie[,] das Ideale und Sinnliche“, in der Tragödie von neuem „innig“ zu verbinden. In diesem Sinne erfülle der Chor in der Tragödie ein ganz spezifisches gattungspoetisches Pensum, das in keiner anderen literarischen Gattung seinesgleichen hat, wie Schiller in völliger Abstraktion von der konkreten dramatischen Gestaltung des in sich durchaus widersprüchlichen21 Chors in Die Braut von Messina ausführt: Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff, aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert. Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen, und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht – und er thut es von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet. (NA, 10, 13)

Der im idealtypisch verstandenen Chor zum Ausdruck kommende abstrakte „Begriff“ werde durch seine sinnliche und sinnfällige Vermittlung auf der Bühne mittels einer textuell-rhythmisch-musikalischen Medienkombination zu einem herausragenden Instrument der „Phantasie“, wodurch sich das Gesetz der dramatischen Gattung als solches offenbare: Der Chor r ei nig t [. . .] das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert, und eben durch diese Absonderung sie selbst mit poetischer Kraft ausrüstet; eben so wie der bildende Künstler die gemeine Nothdurft der Bekleidung durch eine reiche Drapperie in einen Reiz und in eine Schönheit verwandelt. (ebd.)

21 Vgl. dazu etwa Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2. München 2000, S. 545–546.

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Wiederum ist es eine Serie von Analogien zur bildenden Kunst – und nicht eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Chor seiner eigenen Tragödie –, mittels derer Schiller versucht, innerhalb der von ihm betriebenen Dichtkunst ein genuines Spezifikum der dramatischen Gattung schlechthin herauszuarbeiten: Aber eben so wie sich der Mahler gezwungen sieht, den Farbenton des Lebendigen zu verstärken, um den mächtigen Stoffen das Gleichgewicht zu halten, so legt die lyrische Sprache des Chors dem Dichter auf, verhältnißmäßig die ganze Sprache des Gedichts zu erheben und dadurch die sinnliche Gewalt des Ausdrucks überhaupt zu verstärken. Nur der Chor berechtiget den tragischen Dichter zu dieser Erhebung des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das ganze Gemüth erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nöthigt ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen, und seinem Gemälde dadurch die tragische Größe zu geben. Nimmt man den Chor hinweg, so muß die Sprache der Tragödie im Ganzen sinken, oder was jezt groß und mächtig ist, wird gezwungen und überspannt erscheinen. Der alte Chor in das französische Trauerspiel eingeführt, würde es in seiner ganzen Dürftigkeit darstellen und zunichte machen; eben derselbe würde ohne Zweifel Shakespeares Tragödie erst ihre wahre Bedeutung geben. (NA, 10, 13–14)

Die seit Lessing gepflegten dramaturgischen Feindbilder werden hier erneut bemüht, um jedoch einer ganz ‚unlessingschen‘ Dramaturgie der Desillusionierung, Distanz und Dezenz zum Durchbruch zu verhelfen – wenngleich bei Schiller wie auch bei Lessing der gewaltige Unterschied zwischen dramatischer Theorie und historischer Theaterpraxis in Rechnung zu stellen ist. Tatsächlich hatte Lessing im Anschluss an seinen siebzehnten Brief, die neueste Literatur betreffend, in dem das englische Theater Shakespeares erstmals öffentlichkeitswirksam dem noch von Gottsched propagierten Paradigma der französischen tragédie classique entgegengestellt wurde, jedoch einen Auszug aus seinem Fragment Faust publiziert. Die darin vorkommenden Geisterszenen appellieren zwar an eine unmittelbare und starke Empfindung des Publikums, streben dies aber eben keineswegs mittels einer illusionistischen Poetik und Dramaturgie an.22 Poetologie- und formgeschichtlich gesehen argumentiert Schiller in eine Richtung, die in mancher Hinsicht schon auf die programmatische Episierung des Theaters durch Brecht vorausdeutet, indem sie den jahrhundertealten Traditionsfaden der überkommenen Katharsis-Deutungen gleichsam mit einem

22 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke: Literaturkritik, Poetik und Philologie, 5. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, 70–73, S. 72–73; ders.: Werke: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, 2. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1971, 487–491, S. 487–489; freundlicher Hinweis von Dirk Niefanger.

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Schwerthieb durchtrennt und die dramatische Erregung von Affekten und Emotionen in klare, nämlich durch die Vernunft definierte Schranken verweist: So wie der Chor in die Sprache L ebe n bringt, so bringt er R u he in die Handlung – aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edeln Kunstwerkes seyn muß. Denn das Gemüth des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, es soll kein Raub der Eindrücke seyn, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet. (NA, 10, 14)

Das vom legitimatorisch verfahrenden Peritext des ‚klassischen‘ Schiller imaginierte Publikum entspricht in keiner Weise dem historisch-realen Publikum mit seinem ‚niederen‘, ‚stofflichen‘ Unterhaltungsbedürfnis, vielmehr einem kontrafaktischen, wünschenswerten, nämlich gebildeten und reflektierten. Dieses lässt sich idealiter nicht mehr sinnlich überwältigen oder zu unkontrollierten Affekten hinreißen, sondern hat darüber aus erhabener Distanz stets reflexive Kontrolle zu bewahren: Dadurch, daß der Chor die Theile aus einander hält, und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, giebt er uns unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde. Auch die tragischen Personen selbst bedürfen dieses Anhalts, dieser Ruhe, um sich zu sammeln; denn sie sind keine wirkliche Wesen, die blos der Gewalt des Moments gehorchen, und blos ein Individuum darstellen, sondern ideale Personen und Repräsentanten ihrer Gattung, die das Tiefe der Menschheit aussprechen. (NA, 10, 14)

Indem sie solcherart den Vorschein einer menschlichen Annäherung an das Ideal vermittelt, entspricht die klassische Tragödie als literarische Subgattung jener idealistischen Bestimmung des Menschen, deren imaginative Verwirklichung der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung zufolge das Ziel jeder modernen Dichtkunst sein muss: Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene s i nnl ic he Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als m ora li s ch e Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, sich äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande w ir kli ch statt fand, existirt jetzt bloß idea li s ch ; [. . .] als ein Gedanke, der erst realisirt werden soll, nicht mehr als Thatsache seines Lebens. (NA, 20.1, 437)

Keine Gattung der modernen Dichtkunst könne sich dem geschichtsphilosophisch begründeten Pensum entziehen. Dies gilt auch für die Tragödie, deren Figurenzeichnung dem skizzierten Auftrag zu entsprechen habe, wobei der Chor eine entscheidende Rolle übernehme: Die Gegenwart des Chors, der als ein richtender Zeuge sie vernimmt, und die ersten Ausbrüche ihrer Leidenschaft durch seine Dazwischenkunft bändigt, motiviert die Besonnenheit,

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mit der sie handeln, und die Würde, mit der sie reden. Sie stehen gewissermassen schon auf einem n at ür l ich en T he at er, weil sie vor Zuschauern sprechen und handeln, und werden eben deßwegen desto tauglicher von dem Kunst-Theater zu einem Publikum zu reden. (NA, 10, 14)

Lessings Theorie von der fehlenden vierten Wand, die den unsichtbaren Zuschauer zum Paradigma einer illusionistischen Dramaturgie erhob, wird hier mit Nachdruck verabschiedet. Schillers peritextuelle Rede vom „Kunst-Theater“, das er dem „n at ü rl ic he n Theater“ gegenüberstellt, kann überdies als Inversion seiner eigenen Poetik der Geniezeit verstanden werden: Während diese die Beschaffenheit des einzelnen dramatischen Werks aus einer Vorstellung übergeordneter Individualität des Dichters abgeleitet hat, die als Naturform jeglicher generischen Konventionalität vorgängig sei, setzt er nun eine immanente Systematik von formgesetzlich begründeten Gattungskonventionen voraus, die jedem Stück Literatur und damit auch jedem einzelnen Drama zugrunde liege. Der Peritext zum Trauerspiel begründet also die Weise, wie dessen Dramentext überhaupt zu lesen und zu bewerten sei, ohne konkrete Anhaltspunkte der Interpretation zu geben. Erst vor diesem Hintergrund wird jener „grobe[ ] Mißgriff in der Wahl des Stofs für die Dichtart oder der Dichtart für den Stoff“ überhaupt denkbar, den Schiller durch seine ‚klassische‘ Gattungspoetik „unmöglich zu machen“ (NA, 29, 176) strebt, wie er Goethe am 26. Dezember 1797 berichtet. Hatte er vordem ähnlich wie „frühneuzeitliche Poetiken noch vorausgesetzt, dass jeder beliebige Stoff in nahezu jeder beliebigen Gattung dargestellt werden“23 könne – freilich unter der dezidiert modernen Maßgabe, dass dies der Individualität des Dichters entspreche –, legt das vorderhand traditionell erscheinende, aber qualitativ neue „Bewusstsein von der inneren Gesetzlichkeit“ jeder individuellen Dichtung wieder „ein unmittelbares Entsprechungsverhältnis von Gattung und Gegenstand zugrunde“. An die Stelle der ausschlaggebenden Individualität des Dichters im Sinne einer subjektivistisch-genialischen Produktionsästhetik tritt nun die intrinsisch verstandene „Individualität des Kunstwerks“ im Verständnis einer objektivistisch-autonomen Werkästhetik: Demnach enthält nur das singuläre Kunstwerk selbst das Gesetz, nach dem allein es im Rahmen der Gattungsvorgaben beurteilt werden muss, seine Qualität bemisst sich ausschließlich daran. Die werkerschließende Funktion von Peri- und Epitexten wird zwar dem expliziten ästhetischen Anspruch nach negiert, nicht aber in der impliziten schriftstellerischen Praxis aufgehoben: Während Schillers frühe dramaturgische Paratexte vor allem der auktorialen Aufmerksamkeitsmaximierung dienten, sollten die

23 Oschmann, Dirk: „Gattungstheorie um 1800“. In: Zymner (2010), 206–209, S. 207; die folgenden Zitate ebd.

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späten Selbsterläuterungen genau jene von der mitgelieferten Gattungspoetik autonomieästhetischer Signatur eigentlich ausgeschlossene werklegitimierende Funktion erfüllen, das schwer zugängliche Werk einem größeren Publikum doch noch kommensurabel zu machen. Auch das ist ein Element von Schillers Werkpolitik – ungeachtet des ironischen Umstands, dass der Peritext Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie die konkrete Machart des Chors in Die Braut von Messina gar nicht oder nur auf einer recht abstrakten Ebene adäquat erfasst.24 Eine weitere, besondere, doch vom Autor konsequent verkannte Ironie besteht freilich im Paradox, dass das vom schriftstellerisch vollkommen erfahrungslosen jungen Schiller angeblich gar nicht für das Theater verfasste Schauspiel Die Räuber nach dem frühen Sensationserfolg dauerhafte Bühnenpräsenz erlangte, während das vom erfahrenen Dramatiker Schiller ausdrücklich für die Schaubühne und ihre Reform bestimmte Trauerspiel Die Braut von Messina trotz eines anfänglichen Achtungserfolges beim studentischen Publikum in Weimar kein dauerhaftes „Bürgerrecht“ (NA, 3, 243) auf dem Theater erlangte – um mit dem frühen Wort des Dichters zu sprechen.25 Daran konnten die in seinen diversen Peri- und Epitexten manifeste, forcierte auktoriale Werkpolitik sowie Schillers paratextuelles Engagement generell wenig ändern.

24 Vgl. etwa Alt: Schiller, S. 545–546. 25 Vgl. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden: Klassische Dramen 5. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Frankfurt/Main 2008, S. 682.

Gilles Darras

Ästhetik, Diätetik und Ethik in Schillers Theaterpraxis am Beispiel einiger Bühnenangaben in seinen frühen Dramen Die Forschung hat in den letzten drei Jahrzehnten den maßgeblichen Einfluss ausführlich nachgewiesen, den die Lehrjahre des jungen Schiller an der Stuttgarter Karlsschule, nicht zuletzt durch das Medizinstudium und den bahnbrechenden Unterricht des Philosophieprofessors Abel, auf seinen geistigen und literarischen Werdegang ausgeübt haben.1 Rückblickend wird Schiller – siehe die Ankündigung der Rheinischen Thalia (NA, 22, 93–97) – bekanntlich nicht mit Kritik an dem strengen Erziehungsmodell dieser Kaderschmiede sparen, welche sich zur Züchtung und Züchtigung staatstreuer Beamter besser eigne als zur ausgewogenen Heranbildung freidenkender Bürger. Nichtsdestotrotz hat der Autor der medizinischen Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, des psychopathologischen Protokolls Über die Krankheit des Eleven Grammont und des Schauspiels Die Räuber – drei im selben Abschlussjahr 1780 parallel redigierte Texte – an den Seziertischen der Akademie das anthropologische Handwerk gelernt, das er zeitlebens in allen Bereichen seines vielseitigen Schaffens als Dramatiker, Erzähler, Geschichtsschreiber und Kunstphilosoph einsetzen konnte. Durch das gleichzeitige Betreiben von Studien auf dem Gebiet der theoretischen und praktischen Medizin einerseits und auf dem der Literatur andererseits erwarb Schiller an der Karlsschule einen breiten Wissensgrundstock, von dem ausgehend er Reflexionen zur Wechselbeziehung von Physis und Psyche anstellte. Dieser Problematik spürte er in seinem ganzen Werk nach, und zwar von den frühen akademischen psychophysiologischen Schriften bis hin zu den kunsttheoretischen Abhandlungen der Weimarer Klassik über die Dramen und die historischen Schriften, wobei er stets fach- und gattungsübergreifend die

1 Vgl. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg 1985; ders.: Jakob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Würzburg 1995; Alt, Peter-André: Friedrich Schiller: Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. München 2000; Hinderer, Walter: „Schiller und die empirische Seelenlehre“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), 187–213. https://doi.org/10.1515/9783110667066-011

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ästhetischen, diätetischen und ethischen Implikationen dieses Zusammenhanges erforschte. Immer wieder geht es dem unermüdlichen philosophischen Arzt und kritischen Aufklärer Schiller darum, Beispiele und therapeutische Lösungsansätze für das gestörte innermenschliche und zwischenmenschliche Gleichgewicht zu bieten. Vom anatomischen zum literarischen Theater, von der Heilanstalt zur Schaubühne als moralischer Anstalt ist es ein kurzer und naheliegender Weg, den Schiller noch in seinen Schuljahren beschreitet, wobei er im Grunde nur ein Beobachtungs- und Experimentierfeld für ein anderes verlässt, die Leichenschau durch das Schauspiel ersetzt. Entsprechend lautet die Bezeichnung seiner Räuber, deren programmatische Vorrede als richtungsweisend für Schillers anthropologische Dramenästhetik erscheint: Man nehme dieses Schauspiel für nichts andres, als eine dramatische Geschichte, die die Vorteile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benutzt [. . .]. Das Laster wird hier mitsamt seinem ganzen innern Räderwerk entfaltet. (FA, 2, 15–16)

Der junge Dramenautor suchte seine Vorbilder bei dem griechischen Bildhauer, der seine Helden und Götter nackt darstellt, ebenso wie bei Shakespeare, welcher, anders als der als naturfremd verpönte Corneille (stellvertretend für die französische klassizistische Dramenästhetik), seine Könige eine authentische Sprache sprechen lässt, die ihre conditio humana unvermittelt und unverhüllt zum Vorschein bringt.2 Um diese ‚gefährlichen Liebschaften‘ der beiden Naturen besser auszuforschen, greift Schiller eben dadurch zur dramatischen Methode, dass er, vor allem in seinen frühen Stücken, von der Körpersprache – sprich von den Bühnenangaben – einen häufigen und äußerst präzisen Gebrauch macht.3 Davon verspricht sich der Dramendichter, Pädagoge und Therapeut eine unmittelbare, sichtbare Wirkung, auf die es ihm – siehe den Titel seiner zweiten Schaubühnenrede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? – grundsätzlich ankommt, und zwar bei allen Zweifeln an der fragwürdigen Rezeptivität der Zuschauer, die er gleichzeitig (vor allem im ersten der zwei Texte, Über

2 „Die Menschen des Peter Korneille sind frostige Behorcher ihrer Leidenschaft – altkluge Pedanten ihrer Empfindung. [. . .] Der leidige Anstand in Frankreich hat den Naturmenschen verschnitten. [. . .] Zu Paris liebt man die glatten zierlichen Puppen, von denen die Kunst alle kühne Natur hinwegschliff. Man wägt die Empfindung nach Granen, und schneidet die Speisen des Geistes diätetisch vor, den zärtlichen Magen einer schmächtigen Marquisin zu schonen.“; FA, 8, 170–171. 3 Vgl. dazu Kluge, Gerhard: „Über die Notwendigkeit der Kommentierung kleinerer Spiel- und Regieanweisungen in Schillers frühen Dramen“. In: editio 3 (1989), 90–97.

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das gegenwärtige teutsche Theater) nicht verkennt. Nur geht es ihm eben darum, einen Mittelweg zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Ideal und Skepsis zu finden. Charakteristisch ist diese Dialektik für einen Dramentheoretiker und -praktiker, der weit über seine Anfänge hinaus stets über die Potentialitäten seiner Kunst nachdenkt und sie reichlich ausnutzt, ohne jedoch die Grenzen ihrer Wirksamkeit aus dem Blick zu verlieren. Er kennt ihre Flüchtigkeit und Fragilität; er weiß auch, dass sie leicht zu verpuffen droht, sobald die Grenze – medizinisch gesprochen die Dosis – überschritten oder aber auch unterschritten wird.4 In seinen späteren dramenästhetischen Schriften wird Schiller nicht müde zu betonen, wie wichtig es für den Theaterdichter sei, dem Helden und dem Zuschauer „die ganze volle Ladung des Leidens“ (FA, 8, 424) zu verabreichen, um die Seelenstärke des Helden beim Zuschauer erst recht zu beglaubigen, um das (Mit-)Leid des Zuschauers mit ihm zu ermöglichen, ja, um dem Zuschauer gleichsam homöopathisch das Übel, das der leidenden Figur widerfährt, einzuimpfen – um Schillers medizinische Definition des Pathetischen in Über das Erhabene aufzugreifen.5 Schon in seinem psychophysiologischen Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen führt der Medizinstudent zur Veranschaulichung seiner These ein Zitat aus seinen zeitgleich verfassten Räubern an, und zwar die Szene, in der Franz Moor, eben aus einem apokalyptischen Alptraum erwacht, der die spektakuläre Wiederkehr des verdrängten Bewusstseins seiner Untaten manifestiert hat, die Bühne in einem verwirrten, fiebrigen Zustand betritt, der ihn punktgenau in Ohnmacht fallen lässt, als sich ihm die Erinnerung an die Alptraumvision aufdrängt: „FRANZ [. . .] ich hatte so eben einen lustigen Traum er sinkt unmächtig nieder.“ (FA, 2, 141, 9–10)6 Die dramatische Bühne erscheint hier wie eine Art verlängertes medizinisches Labor, in dem der experimentierlustige junge Schiller seine Figuren 4 Davor warnt er schon ausdrücklich in der eben zitierten Stelle aus dem ersten Schaubühnentext, wo er, aus einer für ihn typischen Sorge um die richtige Balance, die Exzesse der Trivial- und der Sturm-und-Drang-Dramatik ebenso kritisiert, wie er die Defizite des französischen Theaters bemängelt. 5 „Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.“; FA, 8, 837. 6 Zur Fiebermetaphorik vgl. Schuller, Marianne: „Körper, Fieber, Räuber. Medizinischer Diskurs und literarische Figur beim jungen Schiller“. In: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Eine Festschrift für K. Pestalozzi. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Ulrich Stadler. Berlin 1994, 153–168.

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gewaltigen Leidenschaftsausbrüchen beziehungsweise emotionalen Schocks aussetzt, die sich in körperlichen Reaktionen ausdrücken, wobei diese Reaktionen von den Bühnenangaben gleichsam symptomatisch erfasst und seismografisch nachgezeichnet werden. Dass die dramatische Bühne als Untersuchungsraum gerade auch eine forensische Bühne ist, lässt sich allein schon an der Wortwahl Schillers in der oben zitierten programmatischen Räuber-Vorrede erkennen, wo es ja hieß, die Seele solle in ihren geheimsten (sprich: suspekten) Operationen ertappt werden, genauso wie ein Delinquent bei der Vorbereitung oder Ausübung einer Tat in flagranti gefasst wird. Tatsächlich sind die Protagonisten der ersten drei Stücke Schillers Opfer einer Entgleisung, welche sie zu Kriminellen macht. Für Fiesco aber auch für Ferdinand gilt nämlich, was der Autor von Karl Moor behauptet, er sei „ausgerüstet mit allen Gaben zum Fürtrefflichen, und mit allen Gaben verloren“ (FA, 2, 178). Die Hoffnung des Hauses Moor, der Tyrannenhasser Karl, der von einem falschen Verleugnungsbrief in Rage versetzt wird, wütet mit seiner Räuberhorde durch das Land, ehe er seine Geliebte umbringt. Fiesco, der Abgott Genuas, verrät die republikanische Sache und tötet seine Frau infolge einer tragischen Verwechslung. Schließlich wird Luise von ihrem Idol, dem Idealisten Ferdinand, den ein fingierter Liebesbrief zur eifersuchtsbedingten Weißglut treibt, ermordet, ehe er sich dann selbst das Leben nimmt. Angesichts dieser ernüchternden Bilanz – der katastrophalen Verirrung dreier aussichtsreicher, scheinbar liberal-republikanisch gesinnter Persönlichkeiten – ist man geneigt, sich an die Empfehlungen zu erinnern, die Karl Philipp Moritz in seinem zeitgenössischen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde den philosophischen Ärzten ans Herz legt, indem er sie auffordert, die Pathologien der Seele mit derselben Sorgfalt zu untersuchen wie der Arzt die Krankheiten des Körpers: Wie nahm die Entzündung in dem schadhaften Gliede allmählich zu? Wie hätte dem Übel noch beizeiten vorgebeugt, der Schaden noch geheilt werden können? [. . .] In welchem Dorn hatte sich der gesunde Finger gereizt? Welcher kleine unbemerkte Splitter war darin stecken geblieben, der nach und nach ein so gefährliches Geschwür erweckte? Wie weit mannigfaltiger, verderblicher, und um sich greifender als alle körperlichen Übel, sind die Krankheiten der Seele!7

Diese quasi detektivischen Richtlinien sind eben die, die dem jungen Anthropologen Schiller als Vorgaben dienen, so wie er sie in seiner Vorrede zur Kriminalerzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1792) darlegt:

7 Moritz, Karl Philipp: „Variante. Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde“. In: ders.: Werke, Bd. 3. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt/Main 1981, 759–761, S. 760.

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Die Heilkunst und Diätetik [. . .] haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbe-Betten gesammelt. [. . .] Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Moral sollten billig diesem Beispiel folgen [. . .]. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären, warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? (FA, 7, 562–564)

Wann und warum tritt die Entgleisung ein? In welchem Zustand befindet sich da die Seele, wie verbinden sich interne und externe Umstände (psychologische Veranlagungen und äußere Faktoren) zur Veranlassung des Ausbruchs (um bei der vulkanologischen Metaphorik zu bleiben) und welche physischen Symptome begleiten die Gemütsregungen beziehungsweise Gemütsschwankungen des krisengefährdeten Individuums, das Schiller in seinen frühen Dramen mit besonderer Vorliebe schildert? Die Leidenschaft wirkt in dieser Hinsicht wie ein Katalysator oder wie ein Reagenz, das die ‚gebrechliche Einrichtung‘ der Figur (um ein kleistsches Wort zu verwenden) schlagartig aufdeckt, und zwar dem Gesetz entsprechend, das in der Vorrede zum Verbrecher aus verlorener Ehre erwähnt wird: „Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter [. . .].“ (FA, 7, 562) Die narzisstische Wunde, die dem abgöttisch verehrten Thronerben des Hauses Moor, Karl, durch die väterliche Verleugnung zugefügt wird, bewirkt eine Krise, die sich durch das ganze Stück hinzieht und mehrere Erscheinungsformen annimmt. Sie lässt den ‚Patienten‘ zwischen Wutausbrüchen, depressiven Schüben und selbstmörderischen Fantasien schwanken. Als er den vermeintlichen Brief seines Vaters mit der Nachricht über die eigene Enterbung erhält, verlässt Karl ruckartig die Bühne und bleibt einen Augenblick weg, als würde sein physisches Fernbleiben eben die zeitweilige Ausschaltung des Verstandes veranschaulichen, die das Trauma verursacht hat. Nun gebiert der Schlaf der Vernunft – um mit dem Zeichner Goya zu sprechen – 8 bekanntlich Ungeheuer, und als der verstoßene Karl wieder die Bühne betritt, ist er nur noch Wut und Rachelust, wie die Körpersprache es nachdrücklich belegt: „Moor tritt herein in wilder Bewegung, und läuft heftig im Zimmer auf und nieder [. . .] schäumend auf die Erde stampfend“ (FA, 2, 206, 29–207, 33). Auf diesem fruchtbaren Nährboden eines verletzten Egozentrismus entwickelt sich nun in ihm, einem infektiösen Keim gleich, der Gedanke, Räuber zu wer-

8 So lautet der Titel von Goyas berühmten Capricho aus dem Jahre 1799.

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den, um Rache zu nehmen an einer undankbaren Welt.9 Dabei greift Karl den Vorschlag eines seiner Gefährten prompt auf, und diese kurze, aber bedeutende Sequenz ist körpersprachlich höchst aufschlussreich: SCHWARZ Komm mit uns in die böhmischen Wälder! Wir wollen eine Räuberbande sammeln, und du – (Moor stiert ihn an) [. . .] MOOR Wer blies dir das Wort ein? Höre, Kerl! (Indem er Schweizern hart ergreift) Das hast du nicht aus deiner Menschenseele hervorgeholt! wer blies dir das Wort ein? Ja, bei dem tausendarmigen Tod, das wollen wir, das müssen wir, der Gedanke verdient Vergötterung – R ä u b e r u n d Mö r d e r ! – So wahr meine Seele lebt, ich bin euer Hauptmann! (FA, 2, 45, 8–21)

Wenn es je einen besonderen Zeitraum gibt, wo die Seele sich bei einer ihrer „geheimsten Operationen“ augenscheinlich ertappen lässt, so hier an dieser Stelle, wo Schiller die Entstehung des kriminellen Triebs beschreibt, und zwar sehr genau zwischen dem Vorschlag Schwarzens („Wir wollen eine Räuberbande sammeln“) und der Antwort Karls („Ja, [. . .] das wollen wir, das müssen wir, der Gedanke verdient Vergötterung“), wobei Karls Gesichtsausdruck („stiert ihn an“), der seinem erschrockenen Gesprächspartner buchstäblich die Sprache verschlägt, das symptomatische Indiz einer tief verborgenen psychischen Operation bildet. Die Geburt des Bösen aus dem Geist des Ressentiments wird dem Zuschauer somit wortwörtlich vor Augen geführt. Der zutiefst gekränkte Karl fällt dieser Versuchung anheim, die es ihm – so meint er – erlauben soll, sich eine negative Ersatzidentität wiederaufzubauen auf den Trümmern derer, die der väterliche Entschluss soeben zerstört hat. Kann er sich Liebe und Bewunderung nicht als Engel verschaffen, so will er sie sich als Teufel ertrotzen. Sehr schnell aber sieht der selbsternannte Würgengel den aporetischen Charakter seines Unterfangens ein: Auf Wut und fieberhafte Erregung folgen nun bald, wie bei einem manisch-depressiven Subjekt, und nicht zuletzt unter dem Einfluss des wachsenden Schuldgefühls, Niedergeschlagenheit und Melancholie. Dies tritt besonders in der Donauszene zutage, wo der erschöpfte Karl einem gefallenen Gefährten nachtrauert. Der Anfall gipfelt gleichzeitig in alptraumartigen Visionen und konvulsivischen Körperbewegungen, die sich – so wie später beim Bruder Franz in der schon erwähnten Wiederkehr des Verdrängten – wechselseitig bedingen. Ausgerechnet auf der Höhe der Krise 9 Vgl. Schings, Hans-Jürgen: „Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. Die Räuber im Kontext von Schillers Jugendphilosophie“. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/1981), 71–95; ders.: „Schillers Räuber. Ein Experiment des Universalhasses“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 1–21.

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kommt die Bühnenangabe vor, um den Zusammenhang zwischen mentaler und physischer Zerrüttung zu dokumentieren, wobei die absteigende Phase, im Zeichen der Melancholie, dicht hinter dem Höhepunkt einsetzt: MOOR [. . .] wild zurückfahrend. Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmiedet an das Laster mit eisernen Banden – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr [. . .]. MOOR mit Wehmut. Dass ich wiederkehren dürfte in meiner Mutter Leib. (FA, 2, 98, 16–32)

Dieses Nachlassen des Fiebers, das übrigens von einem der anwesenden Zeugen mit quasi ärztlicher Präzision registriert wird – „Nur Geduld! der Paroxysmus ist schon im Fallen.“ (FA, 2, 99, 1–2) –, drückt sich in entsprechenden elegisch-nostalgischen Visionen aus, welche den provisorischen Abschluss der Krise markieren. Provisorisch aber nur deshalb, weil Schiller seinen Helden in den letzten zwei Akten einer Reihe von heftigen emotionalen Schocks unterwirft, indem er ihn mit geliebten Wesen aus seiner Vergangenheit (seiner Geliebten, seinem Diener, seinem Vater) konfrontiert, die ihm die schier unerträgliche Diskrepanz zwischen seiner einstigen und seiner gegenwärtigen Identität brutal vorführen. Somit ist der nächste Anfall eigentlich schon vorprogrammiert. Als der Diener Daniel ihm die Augen über die Ränke seines Bruders öffnet, gerät der betrogene Karl wieder in eine Krise, die dem Schock nach der Ankündigung der väterlichen Verleugnung im ersten Akt frappierend ähnlich ist. Erneut fällt die Übereinstimmung zwischen den eruptiven Offenbarungen der Psyche und den Zuckungen des Körpers unter dem Einfluss eines mächtigen Affekts auf, wobei Karls verbale Selbstquälerei ihr physisches Pendant findet in Selbstverletzungsversuchen angesichts des (erneut) gekränkten Stolzes und der Einsicht in die groteske Nichtigkeit seines bisherigen Unternehmens, seines Ersatzdaseins als Räuber: MOOR auffahrend aus schröcklichem Pausen: Betrogen, betrogen! [. . .] Spi tz bübi sch e K ü ns t e! Mör der , Räu b er durch spitzbübische Künste! [. . .] oh ich Ungeheuer von einem Toren [. . .] oh ich blöder, blöder, blöder Tor! Wider die Wand rennend. [. . .] oh Büberei, Büberei! das Glück meines Lebens bübisch, bübisch hinwegbetrogen. Er läuft wütend auf und nieder. (FA, 2, 119, 24–36)

Diese akute Identitätskrise steigert sich in der letzten Szene des vierten Aktes, als die sukzessiven psychischen Spannungen die Figur an den Rand des Abgrundes und des Selbstmordes führen. Die quälende Erinnerung an die Untaten seiner Räuberbande verursacht Alptraumbilder, die sowohl Leib und Seele hart zusetzen. Aufschlussreich ist hier die Tatsache, dass der Körper die proklamierte Seelenstärke Lügen straft und den Verstand desavouiert, mag die Figur auch noch alles aufbieten – seinem Bruder darin nicht unähnlich –, um diese Erscheinungen

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materialistisch wegzurationalisieren. Die Glut-Metapher verrät dabei die genaue und konkrete Wahrnehmung des psychophysischen Fiebers durch den leidenden Karl: MOOR Glaubt ihr, ich werde zittern? Geister meiner Erwürgten! ich werde nicht zittern. heftig zitternd [. . .] Euer banges Sterbegewinsel – euer schwarzgewürgtes Gesicht – eure fürchterlich klaffenden Wunden [. . .] hängen zuletzt an meinen Feierabenden, an den Launen meiner Ammen und Hofmeister, am Temperament meines Vaters, am Blut meiner Mutter – von Schauer geschüttelt. Warum hat mein Perillus einen Ochsen aus mir gemacht, daß die Menschheit in meinem glühenden Bauche bratet? (FA, 2, 130, 34–131, 8)

Nicht von ungefähr koinzidiert der Höhepunkt des Fiebers mit der nihilistischen Versuchung, der Karl verfällt, beziehungsweise mit dem Ausbruch einer moralischen Krise, die der philosophische Arzt Schiller 1786 in seinen Philosophischen Briefen mit der Aussage „Skeptizismus und Freidenkerei [seien] die Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes [. . .]“ (FA, 8, 209) treffsicher diagnostizieren wird. In der letzten Szene des Stückes, die reich an Handlungsumschwüngen ist und in der die Kurve der dramatischen Spannung stets nach oben zeigt, häufen sich dann die schockartigen Vorgänge. Die immer zahlreicheren Bühnenanweisungen zur Gestik und Mimik der Figur tragen dieser Verdichtung des äußeren und gleichzeitig inneren Geschehens Rechnung. Auf engem Raum und in einer äußerst verkürzten Zeitspanne wird Karl einer Reihe verschiedener, widersprüchlicher Affekte unterworfen, und zwar im engen Zusammenhang mit der tragischen Kollision seiner beiden Identitäten (als Räuber und als Abgott des Hauses Moor), die ihn dem Wahnsinn, genauer gesagt der Schizophrenie, bedenklich nahe führt. Von den sukzessiven Etappen dieser Krise liefert die Auflistung der Didaskalien ein beredtes und breitgefächertes Zeugnis, wobei sie sich wie eine Art (panto)mimische Untermalung und für den Leser der „dramatische[n] Geschichte“ (so Schiller in seiner Vorrede, FA, 2, 15) gleichsam narrative Kommentierung des Bühnengeschehens ausnimmt: MOOR [. . .] schlägt mit dem Dolch auf einen Stein daß es Funken gibt [. . .] erschrocken [. . .] Betroffen [. . .] sehr gerührt [. . .] in der heftigsten Bewegung [. . .] stammelnd [. . .] in der fürchterlichsten Beklemmung gen Himmel sehend [. . .] stürzt vor ihm nieder [. . .] weichmütig aufstehend [. . .] tritt scheu zurück [. . .] und sucht sich zu verbergen [. . .] tritt weiter zurück [. . .] weicht weiter zurück [. . .] aufspringend [. . .] froh empor hüpfend [. . .] zurückspringend [. . .] sich losreißend [. . .] Mit gezogenem Degen auf die Räuber losgehend [. . .] wider eine Eiche rennend [. . .] Er will davon fliehen [. . .] schleudert sie von sich [. . .] aufblühend in ekstatischer Wonne [. . .] Er fällt auf die Knie [. . .] weinet heftig [. . .] Er hängt an ihrem Mund, sie bleiben in stummer Umarmung [. . .] läßt ihre Hand fahren [. . .] Kalt [. . .] auf den Leichnam mit starrem Blick [. . .] mit bitterem Gelächter. (FA, 2, 151, 25–159, 14)

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Neben Franz Moor zitiert der philosophische Arzt Schiller in seinem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen eine historische Gestalt, die er zur Hauptfigur seines zweiten, „republikanische[n] Trauerspiel[s]“ (FA, 2, 315) machen wird, nämlich Fiesco von Lavagna. Hat ihm Franz Moors Ohnmachtsanfall als Beispiel für die Auswirkungen der moralischen Verkommenheit auf den Körper gedient, so führt er wiederum den Fall Fiescos zur Veranschaulichung der negativen Folgen physischer Exzesse für den Geist an: Zerrüttungen im Körper können auch das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen, und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen. Ein durch Wollüste ruinierter Mensch wird leichter zu Extremis gebracht werden können als der, der seinen Körper gesund erhält [. . .]. Katilina war ein Wollüstling, ehe er ein Mordbrenner wurde; und Doria hatte sich gewaltig geirret, wenn er den wollüstigen Fiesko nicht fürchten zu dörfen glaubte. (FA, 8, 151)

Schillers Fiesco führt bekanntlich auch ein solches Leben. Er tut dies aber, um sowohl Freund als auch Feind über seine geheimen Verschwörungspläne hinwegzutäuschen und um sein verborgenes Werk ungehindert vollenden zu können. Wie könnte dieser geniale Schauspieler, virtuose Manipulator und feine Kenner der menschlichen Psychologie aber einem sinnlos-banalen Unfall zum Opfer fallen wie sein historisches Vorbild? Ein solcher unspektakulärer Ausgang widerstrebt offenkundig dem anthropologischen Dramatiker Schiller, für den die menschlichen Handlungen dem strengen Gesetz der Kausalität unterworfen sind und sowohl mit der Struktur der Seele als auch mit den externen Einflüssen zusammenhängen. In seinem Essay Über die tragische Kunst (1791) hebt Schiller, den der jüngste Umgang mit Geschichte und Geschichtsschreibung (siehe die zwei Chroniken zum Dreißigjährigen Krieg und zum Abfall der Vereinigten Niederlande) dafür umso sensibler gemacht hat, die Notwendigkeit einer psychogenetischen Rekonstruktion der dramatischen Handlung und der dramatischen Charaktere hervor: Mehrere als Ursache und Wirkung in einander gegründete Begebenheiten müssen sich mit einander zweckmäßig zu einem Ganzen verbinden, wenn die Wahrheit [. . .] erkannt werden soll. [. . .] Es kommt also darauf an, daß wir die vorgestellte Handlung in ihrem ganzen Zusammenhang verfolgen, daß wir sie aus der Seele ihres Urhebers durch eine natürliche Gradation unter Mitwirkung äußrer Umstände hervorfließen sehen. So entsteht und wächst und vollendet sich vor unsren Augen die Neugier des Oedipus, die Eifersucht des Othello. (FA, 8, 270–271)10

10 Siehe dazu Darras, Gilles: „D’une histoire à l’autre. L’histoire intérieure dans les premiers drames, les récits de fiction et les écrits historiques de Friedrich Schiller“. In: Études Germaniques 60/4 (2005), 695–714.

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Darf es also kein Produkt des Zufalls sein, so kann (und soll) das Versagen des Helden hingegen als Quittung für dessen moralische Entgleisung erscheinen, die ihn zum Verrat an der anfangs von ihm verfochtenen republikanischen Sache führte, und zwar aufgrund eines übersteigerten, krankhaften Narzissmus, in dem der Keim aller folgenden Verirrungen steckt. Dabei setzt das Abgleiten der Hauptfigur genau im zweiten Monolog ein, wenn der selbstherrliche Fiesco der monarchischen Versuchung anheimfällt (III, 2). Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs lässt Schiller dann den verblendeten Helden seine Frau ermorden, die sich selbst, einer plötzlichen schwärmerischen Eingebung folgend, in den Purpurmantel des toten Tyrannen Gianettino gehüllt hat und ihrem Gemahl unter dieser Erscheinung begegnet. Fiesco, der Meister der Täuschung und der Verkleidung, fällt nun selbst einer tragischironischen Sinnestäuschung zum Opfer. Grausamer, ja geradezu grotesker könnte „das Spiel des Schicksals“ (so der Titel einer Erzählung Schillers) für den betrogenen Spielleiter und Schauspielkünstler nicht ausfallen. Befremdend, ja nahezu unwahrscheinlich mag dieses ungeheure Missverständnis aber nur dem vorkommen, der die besondere Geistesverfassung des Protagonisten zu diesem Zeitpunkt des Stückes nicht bedenkt, nämlich die hitzige Aufregung und fiebrige Spannung eines von zwei obsessiven Vorstellungen beherrschten, getriebenen Helden. Fiesco ist ja sowohl von einem unersättlichen Hass auf seinen Intimfeind erfüllt als auch von einer unmäßigen Selbstliebe, die die kleinste Kränkung – sei es auch nur der magere Preis (hundert Zecchinen), den der Tyrann Gianettino Muley Hassan für den Tod des Grafen angeboten hat – nicht duldet. Eben diesen kleinen „unbemerkte[n] Splittern[]“11 in den geheimsten Winkeln der Seele (um einen Ausdruck aus der oben zitierten Vorrede zum moritzschen Magazin der Erfahrungsseelenkunde aufzugreifen) gilt aber bekanntlich das Augenmerk des detektivischen Anthropologen Schiller. Als Fiesco den purpurnen Mantel erblickt, sieht er buchstäblich rot und steuert darauf zu, wie ein todgeweihter Stier auf die Muletta losschießt: Sein tödlicher Hass auf den (vermeintlichen) Träger und seine grenzenlose Liebe zur Macht gehen hier ein unseliges Bündnis ein, das in die angekündigte Katastrophe mündet. „[W]ütende Wünsche“ (FA, 2, 556) in einem „brennenden Busen“ (ebd.) attestiert Schiller ja seinem Helden in der Erinnerung an das Publikum, womit er die Risikofaktoren benennt, die unvermeidlich zum Ausbruch der Krise führen werden. Leonores Ermordung und die spektakuläre traumatische Reaktion Fiescos, die darauf folgt, bilden den Paroxysmus dieser Krise. Schon die konstant

11 Moritz: „Variante“, S. 760.

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ansteigende hysterische Stimmung der Figur unmittelbar vor dem Mord, die vom Gradmesser der Bühnenanweisungen präzise dokumentiert wird – „Fiesko tritt hitzig auf [. . .] zornig [. . .] wild [. . .] auffahrend [. . .] außer Fassung“ (FA, 2, 429, 2–19) –, erscheint als erschwerender Umstand, der die Entgleisung begünstigt, wobei die doppelte Obsession – Rachelust und Machtgier – durch das plötzliche Erblicken des symbolgesättigten roten Tuches reflexartig aktiviert wird. Nun hatte der Medizinstudent in seinen psychosomatischen Schriften aus der Karlsschulzeit die Übermacht der fixen Ideen untersucht, wobei die benutzte Wortwahl, wie hier in dieser Passage aus Philosophie der Physiologie, eine in Bezug auf den Fall Fiescos höchst aufschlussreiche Analogie zwischen Politik und Psychophysiologie nahelegt: Alle Moralität des Menschen hat ihren Grund in der Aufmerksamkeit, d. h.im tätigen Einfluß der Seele auf die materiellen Ideen im Denkorgan. Wird nun eine materielle Idee kraft dieses tätigen Einflusses öfters in starke Lebhaftigkeit gesetzt, so wird sie endlich eine gewisse Stärke auch nachher noch beibehalten. [. . .] Sie wird die Seele treffender rühren. Sie wird in allen Assoziationen dem Verstand mächtiger sich aufdringen, ihn mächtiger bestimmen, sie wird die Tyrannin des zweiten Willens werden, da der erste Wille gar nicht ausgeübt war [. . .] sie fesselt die Seele an sich, sie herrscht über den Verstand und Willen. (FA, 8, 56; Hervorhebung des Verfassers)

Eben dieses Phänomen einer ‚Machtergreifung‘ der Zwangsvorstellung im psychischen Haushalt veranschaulicht Schiller in seinem „republikanische[n] Trauerspiel“ (FA, 2, 315), indem er Fiescos Seele gerade im dramatisch höchst fruchtbaren Augenblick der Entgleisung ‚ertappt‘ und den Mord an Leonore als eine regelrechte affektgesteuerte Triebhandlung darstellt. Kaum aber ist der außer sich geratene Triebtäter wieder zu sich selbst gekommen, erleidet er prompt eine gewaltige psychische Erschütterung, als er die Identität seines Opfers entdeckt, wobei diese schmerzliche Erkenntnis mit der Erreichung seines politischen Ziels, nämlich mit der Erlangung der begehrten Herzogswürde zusammenfällt. An grausamer Ironie lässt sich diese Szene kaum noch überbieten: FIESKO hält still, wirft von der Seite einen forschenden Blick darauf, den er starr und langsam unter Verzerrungen zurückzieht: Nein, Teufel – Nein, das ist kein Gianettinogesicht, hämischer Teufel! die Augen herumgerollt Genua mein, sagt ihr? Me in – hinauswütend in einem gräßlichen Schrei. Spiegelfechterei der Hölle! Es ist mein Weib. Sinkt durchdonnert zu Boden. Verschworene stehen in toter Pause und schauervollen Gruppen.12 (FA, 2, 432, 9–16)

12 In der Mannheimer Bühnenfassung von 1784, wo Fiesco in der Schlussszene der Herzogswürde entsagt, entfällt demzufolge auch Leonores Ermordung, wobei dieser alternative Dramenschluss, der die faszinierende abgründige Ambivalenz der Hauptfigur künstlich glättet, nicht richtig zu überzeugen vermag.

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Psychische Schwankungen und physische Manifestationen des Traumas, die sowohl in der Mimik als auch in der Gestik zum Vorschein kommen, verstärken sich ja wechselseitig nach dem Kardinalgesetz, das der ganzen medizinischen Reflexion des jungen Schillers zugrunde liegt. „Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine“ (FA, 8, 121) und „[d]ie Stimmungen der Seele folgen den Stimmungen des Körpers“ (ebd.), so lauten signifikanterweise die Überschriften zweier Abschnitte der Dissertation über den psychosomatischen Zusammenhang, und ein dritter, „Physiognomik der Empfindungen“ (FA, 8, 122), weist die vielfachen Interaktionen zwischen den Affekten und ihrem körperlichen Ausdruck nach: [D]ie Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, könnte man mit eben dem Recht, als Plato die Leidenschaften Fieber der Seele nannte, als Konvulsionen des Denkorgans betrachten. Diese Konvulsionen pflanzen sich schnell durch den ganzen Umriß des Nervengebäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Mißstimmung, die seinen Flor zernichtet, und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt. [. . .] Die Seele wird durch tausend dunkle Sensationen vom drohenden Ruin ihrer Werkzeuge unterrichtet, und von einer ganzen Schmerzempfindung übergossen, die sich an die ursprüngliche geistige anheftet, und solcher einen desto schärferen Stachel gibt. [. . .] Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht (FA, 8, 144–145) viel weniger als die hitzigsten Fieber.13

Um das System der psychophysischen Korrespondenzen zu systematisieren, strebt der Anthropologe Schiller nichts anderes und nichts Geringeres als eine Art Nomenklatur (beziehungsweise Grammatik der Körpersprache) an, wobei sich dieser Versuch einer normativen Symptomatik und Semiotik der Leidenschaften in seinem minutiösen Umgang mit den Bühnenangaben niederschlägt, und zwar seiner Überzeugung gemäß, „[j]eder Affekt [habe] seine spezifiken

13 Zur theatergeschichtlichen Bedeutung der Anthropologie im Rahmen der Aufklärung und im Zusammenhang mit einer körperorientierten Bühnen- und Schauspielkunst vgl. Košenina, Alexander: „Entwicklung einer neuen Schauspielkunst“. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hg. v. Wolfgang Bender. Stuttgart 1992, 51–70; Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995; Jeschke, Claudia: „Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“. In: ebd., 85–112; vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Der Körper als Zeichen und Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen“. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Hg. v. ders. u. Jörg Schönert. Göttingen 1999, 53–68; Käuser, Andreas: „Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie“. In: Fischer-Lichte u. Schönert, 39–51.

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Äußerungen, und so zu sagen, seinen eigentümlichen Dialekt, an dem man ihn [kenne]“ (FA, 8, 154).14 Die Krise, in die Fiesco nach der Entdeckung seines Verbrechens gerät, weist manche Parallele mit den verschiedenen traumatischen Erfahrungen Karl Moors auf und charakterisiert sich zudem durch ähnliche psychopathologische Zeichen. Im Unterschied zu seinem ersten Stück aber entscheidet sich Schiller dafür, die Krise hier auf eine einzige Szene zu konzentrieren, wodurch sie aufgrund dieser Verdichtung eben gleichzeitig pointierter und bühnenwirksamer erscheint. Binnen Kurzem durchläuft Fiesco verschiedene psychische Zustände, und wieder einmal verzeichnet die Körpersprache, welche sich in eine beeindruckende Menge an Didaskalien auffächert, die mannigfaltigen Oszillationen der Fieberkurve, das ständige Auf und Ab der Figur zwischen Aggression und Apathie, Hysterie und Melancholie. Aus der Erfassung der Bühnenangaben geht schließlich so etwas wie ein klinisches Diagramm der Krise hervor, das in der damaligen Dramaturgie seinesgleichen sucht: FIESKO matt aufgerichtet, mit dumpfer Stimme [. . .] tritt ihr näher, mit leiser, bebender Stimme [. . .] zürnt sie dumpfig an [. . .] heftiger [. . .] wütend [. . .] rasend gegen sie taumelnd [. . .] todesmatt zurückwankend [. . .] Fiesko sucht mit verdrehten Augen im ganzen Kreis herum, darauf mit leiser schwebender Stimme, die stufenweis bis zum Toben steigt [. . .] viehisch um sich hauend [. . .] mit frechem Zähnblöken gen Himmel [. . .] in hohles Beben hinabgefallen [. . .] rascher, wilder [. . .] dringt auf ihn ein mit gräßlicher Freude [. . .] den stieren Blick in einen Winkel geheftet [. . .] mit Schauern zur Leiche gehend [. . .] erschöpft und stiller, indem er im Zirkel herumblickt [. . .] in stillen Schmerz geschmolzen [. . .] sinkt weinend an ihr nieder [. . .] weich, mit Wehmut [. . .] lebhafter [. . .] rührender [. . .] er weint heftiger, und verbirgt sein Gesicht an der Leiche. Rührung auf allen Gesichtern. (FA, 2, 432, 17–435, 6)

Wie sehr der Dramatiker Schiller, der ja durch seine Arbeit am Mannheimer Nationaltheater mit dem Handwerk perfekt vertraut war, auf optische und akustische Effekte großen Wert legt, zeigt dieses reichhaltige Affekt- und Bewegungsregister, das die Kunst der Choreografie und Pathografie zu einer dramatischen Partitur neuer Art verschmilzt, in der die sich regelmäßig abwechselnden Ton- und Ausdrucksangaben (von „leise[]“ zu lauter, rasender Wut und wieder zu „leise[]“) an die entsprechenden Bezeichnungen im musikalischen Bereich erinnern (piano, forte, diminuendo, crescendo).

14 Eine ähnliche Analogie zwischen Naturwissenschaft und Seelenkunde kommt in der Vorrede zum Verbrecher aus verlorener Ehre zum Ausdruck, wo Schiller sich für die menschlichen Triebe und Neigungen eine Klassifikation nach dem Vorbild der botanisch-zoologischen Taxonomie eines Linné wünscht; vgl. FA, 7, 562–563.

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Dass dieses massive Aufgebot an Affekten seine Wirkung auf die umstehenden Zeugen nicht verfehlen kann, zeigt die emotionsbeladene Reaktion der Mitverschworenen – „Alle Verschworene hängen gerührt an ihren Waffen. Einige wischen Tränen aus den Augen. [. . .] Rührung auf allen Gesichtern“ (FA, 2, 434, 19–435, 6) –, die wiederum an deren oben erwähnte Bestürzung unmittelbar nach der Leichenentdeckung anknüpft – „stehen in toter Pause und schauervollen Gruppen“ (FA, 2, 432, 16). Als Musterschüler Lessings entwickelt der junge Schiller, der medizinischen Bedeutung des Katharsis-Begriffs eingedenk, eine Affekt- und Effektdramaturgie, deren Hauptzutaten – erst Furcht, dann Mitleid – hier in rascher Abfolge und komprimierter Form zum Einsatz kommen.15 Augenfällig scheint sich das vom Helden ausgehende Leiden den anwesenden Zeugen/Zuschauern auf der Bühne mimetisch und sympathetisch mitzuteilen (dieses psychophysiologische Phänomen der Sympathie hat der Mediziner in seinen Schriften beschrieben) und soll sich damit, so die implizite Erwartung des Dramatikers, umso leichter auf die realen Zuschauer übertragen können. Um diese freilich heikle Identifikation zwischen Figur und Zuschauer überhaupt möglich zu machen, ja, um diese Vielfalt an Tonarten und Lautstärken erst recht bewältigen zu können, bedarf es allerdings eines mit besonderen Modulationsfähigkeiten begabten Schauspielers, der die richtige Balance zwischen den Exzessen eines naturalistischen und den Unzulänglichkeiten eines distanziert-artifiziellen Spiels zu finden und aufrechtzuerhalten vermag. Was für den Autor gilt, gilt ebenso gut für den Interpreten der Rolle. Eben diesen goldenen Mittelweg beschreibt Schiller in seinem ersten Schaubühnentext, wo er den Idealtyp eines Schauspielers entwirft, der seine Lehrjahre – wie der Dramatiker – auch bei den philosophischen Ärzten gemacht und dort alle Finessen und Subtilitäten des psychosomatischen Zusammenhanges gelernt hätte. Nur ein solcher mit den Erkenntnissen der Anthropologie (insbesondere der Pathognomik) vertrauter Schauspieler könnte wahrscheinlich diese Hochleistung absolvieren, welche die Krise Fiescos darstellt, oder aber auch mit dieser Szene aus Kabale und Liebe fertig werden, in der der narzisstische Schwärmer Ferdinand, der soeben von dem vermeintlichen Betrug seiner Geliebten Luise erfahren hat, sich zum Mord entschließt, um seinen göttlichen Status wiederherzustellen, um die Beleidigung seiner eigenen Majestät – wie Karl und Fiesco vor ihm – auf eine radikal-absolutistische Art und Weise zu

15 Vgl. Meier, Albert: „Die Schaubühne als eine moralische Arznei betrachtet. Schillers erfahrungsseelenkundliche Umdeutung der Katharsis-Theorie Lessings“. In: Lenzjahrbuch 2 (1992), 151–162.

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rächen: „Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel! die Augen graß in einen Winkel geworfen“ (FA, 2, 637, 26–28). Erwartungsgemäß wird wie bei seinen Vorgängern die Depotenzierung der Vernunft von der körperlichen Begleiterscheinung (dem verstörten Blick nämlich) simultan registriert und abgebildet. Die Wandlung Ferdinands zum Mörder, die übrigens vom Drahtzieher der Kabale, dem seelenkundigen Wurm, mit geradezu chemischer Präzision vorausgesehen worden war,16 vollzieht sich dabei in einem Monolog, welchem eine signifikante Bühnenangabe vorangeht, in der der Tötungstrieb wahrhaftig Gestalt annimmt, sich eben im eigentlichen Sinne verkörpert: „FERDINAND nach einem langen Stillschweigen, worin seine Züge einen schrecklichen Gedanken entwickeln“ (FA, 2, 637, 12–14).17 Scheint hier auf einmal nur noch der Körper zum Ausdruck zu kommen, so wahrscheinlich deshalb, weil die Seele sich in einem Zustand der höchsten chaotischen Verwirrung befindet, von der nur noch, bei offenkundiger Ausschaltung und Desaktivierung des Logos, die non-verbale Sprache zu zeugen fähig scheint. Einen kurzen Augenblick lang scheint die Zeit stillzustehen, das Leben zu erstarren und die ganze Dramenhandlung sich ins Innere der Figur zu verlagern. Die geheim operierende Seele wird auf einmal zur Protagonistin eines inneren Dramas, von dem der Körper gewissermaßen die Außenbühne darstellt, die Projektionsfläche bildet, und auf dem die Zuschauer die Konkretisierung des Mordwunsches in Echtzeit verfolgen können. Der Schlaf der Vernunft gebiert tatsächlich Ungeheuer: Von diesem Aphorismus der Spätaufklärung scheint der junge Dramatiker hier durch dieses stumme Mienenspiel, das die Inbesitznahme des Verstandes durch den Trieb sichtbar werden lässt, ein eloquentes Beispiel zu geben. „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“,18 wird Georg Büchner, ein wie der junge Schiller von der Triebherrschaft im Menschen geradezu faszinierter anderer Mediziner und Dramatiker, fünfzig Jahre später fragen. Als Arzt und Aufklärer aber, der Schiller in seinem Wirken und Schaffen stets bleiben wird, kann er es (anders als der entschieden antiidealistische Autor des Woyzeck) bei der Erstellung dieser nüchternen Diagnose eben nicht

16 „Ich müßte mich schlecht auf den Barometer der Seele verstehen, oder der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe. [. . .] Ein G r an Hefe reicht hin, die ganze Masse in eine zerstörende Gärung zu jagen.“; FA, 2, 613, 7–12. 17 Eine ausführlichere Untersuchung des Stückes aus derselben Perspektive findet sich in Darras, Gilles: „Mit Leib und Seele. Körpersprache, Psychologie und Philosophie in Schillers frühen Dramen“. In: Euphorion 99 1/2 (2005), 69–101. 18 Büchner, Georg: „An die Braut. Gießen um den 9.–12. März 1834“. In: ders.: Werke und Briefe. Hg. v. Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub u. a. München u. Wien 1988, 288–289, S. 288.

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Gilles Darras

bewenden lassen, und die Notwendigkeit einer Therapiefindung drängt sich ihm schon in seinem Frühwerk auf. Die Diätetik, Ethik und Ästhetik vereinende Idee einer Physis und Psyche spielerisch versöhnenden Erziehung, die zehn Jahre nach den frühen Dramen in den entsprechenden Briefen und den kunsttheoretischen Schriften ihre ausgereifte Form finden sollte, entsteht schon hier auf der Experimentierbühne des Nationaltheaters. Auf ihr aufbauend entwickelt Schiller, seine medizinischen Experimente mit anderen Mitteln fortsetzend, eine originelle Dramaturgie, in der dem Körper eine im weitesten Sinne des Wortes ‚sprechende‘ Hauptrolle zukommt. Diese Überzeugung, dass die Schauspielkunst eine zugleich therapeutische, didaktische und letzten Endes politische Funktion erfüllt, durchzieht in der Tat die gesamte dramenästhetische Reflexion eines Autors, der aus dem Theater nichts weniger als eine Schule der Freiheit machen will, in der der Mensch sich – um das Credo der Anthropologen aufzugreifen – als ganzer Mensch empfinden könne, als Sinnes- und Vernunftwesen, um sich erst dann zu einem vollkommenen Bürger heranzubilden.

Stefan Börnchen

Das Theater um den Geisterseher Paranoia, Schaubühne und Vierte Wand in Schillers Romanfragment

Schillers Geisterseher beginnt Knall auf Fall. Wenige Seiten nach Beginn der Handlung, der erste Mordanschlag auf den Prinzen ist da schon überstanden, sieht der Erzähler „den Kopf“ (FA, 7, 593, 34–35) eines Venezianers fallen. Das geschieht „in einem Kreise“ (FA, 7, 593, 20–24; die folgenden Zitate ebd.) „schwarz gekleidet[er]“ „alter Männer“ in einem „ganz[] [. . .] mit schwarzen Tüchern behangenen und sparsam erleuchtet[en]“ Saal. Wenig später bringt „de[r] Sicilianer“ den Prinzen „[m]it der Geisterwelt in Verbindung“,1 indem er in einem „verfinsterte[n] [. . .] Saal“ (FA, 7, 604, 29–31; die folgenden Zitate ebd.) zwei „blutig[e]“ „menschliche Figur[en]“ auftreten lässt. Tatsächlich ist, wie schon diese Szenen andeuten und wie es sich im Verlaufe des Romans bestätigt, die Dunkelheit ein zentrales Thema des Geistersehers. Vieles im Roman spielt sich im Dunkeln ab. Als, nur ein Dutzend Seiten nach der Enthauptungs-Szene, der Sizilianer mit seiner Geisterbeschwörung des Betrugs überführt ist und durchsucht wird, stellt sich heraus, dass er unter anderem „Terzerolen“ (FA, 7, 609, 12), also Pistolen, bei sich trägt. Kurz darauf fällt, nachdem schon der Magier auf die von ihm beschworene „Erscheinung“ (FA, 7, 605, 17) geschossen hat, der zweite Schuss: „Laß doch sehen, ob sie geladen sind“, sagte einer von den Häschern, indem er eines von den Terzerolen nahm und in’s Kamin abschoß. „Jesus Maria!“ rief eine hohle menschliche Stimme, eben die, welche wir von der ersten Erscheinung gehört hatten – und in demselben Augenblick sahen wir einen blutenden Körper aus dem Schlot herunter stürzen. [. . .] Die Kugel hatte ihm das rechte Bein zerschmettert. (FA, 7, 609, 10–23)

Der Verwundete ist ein „armer Barfüßer“-Mönch (FA, 7, 609, 27), der gegen Bezahlung seine Stimme aus dem Kamin heraus dem vom Sizilianer beschworenen

1 Das Zitat ist in der Frankfurter Ausgabe nicht enthalten, daher sei hier abweichend auf die Nationalausgabe verwiesen; NA, 16, 56, 21. Anmerkung: Beim vorliegenden Aufsatz handelt es sich um ein stark gekürztes Kapitel aus meiner Habilitationsschrift „Alles ist eins.“ Romantische Metaphorologie des Mediums, die 2020 bei Wilhelm Fink, Paderborn, erscheinen wird. https://doi.org/10.1515/9783110667066-012

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phantasmagorischen Geist geliehen hatte. Kurios ist hier vor allem, wie sich das herausstellt, denn es ist der aufs Geratewohl ins Dunkel des Kamins abgefeuerte Schuss, der hier – sozusagen Fall auf Knall – Aufklärung bringt. Auch fürs Dunkel gilt also die noch im Verlaufe dieser Szene vom Prinzen ausgegebene Maxime „[d]ahinter ist mehr“ (FA, 7, 611, 10–11), mit der er zugleich die verschwörungstheoretische, um nicht zu sagen paranoide Formel für den Roman insgesamt formuliert.2 Darin liegt, so haben etwa Friedrich Kittler und Ralf Simon argumentiert, eine Art Dialektik der Aufklärung,3 wie sie charakteristisch für viele romantische Texte ist. Den Begriff ‚romantisch‘ hat Schiller selbst mit Blick auf seinen Roman verwendet.4 Im Roman ist die Rede von „eine[r] romantische[n] Erscheinung“ (FA, 7, 1064), das heißt einer attraktiven jungen Frau. Dabei ist noch die Etymologie des Wortes ‚romantisch‘ präsent, löst doch eine solche Erscheinung einen „romanhaften Schwung“ (FA, 7, 709,

2 Vgl. Simon, Ralf: „Commercium und Verschwörungstheorie. Schillers Geisterseher und Jean Pauls Titan“. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41 (2006), 221–245; Vgl. zur „kunstreich aufgebaut[en]“ „Paranoia“ des Romans auch Kittler, Friedrich: „Die Laterna magica der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), 219–237, S. 229; im Roman selbst insbesondere FA, 7, 627. Zur Theorie als per Definition paranoischer Theorie schreibt Adorno: „Da ist keine [Theorie], die nicht vermöge ihrer Konstitution als eines festen Strukturzusammenhangs ein Moment von Verdinglichung an sich trüge: paranoische Züge ausbildete. Diese gerade verschaffen ihr die Wirksamkeit. Der Begriff der fixen Idee trifft nicht die bloße Aberration, sondern ein Ingredienz von Theorie selber, den totalen Anspruch eines Partikularen, der aufsteigt, sobald ein einzelnes Moment isoliert festgehalten wird. [. . .] Meist bezieht sich, wie beim Verfolgungswahn, die fixe Idee auf die Zuteilung von Schuld. Das Wahnsystem vermag das Wahnsystem [. . .] nicht zu durchschauen. Darum wird auf ein ausgesondertes Prinzip losgeschlagen, bei Rousseau die Zivilisation, bei Freud den Ödipuskomplex, bei Nietzsche das Ressentiment der Schwachen. Ist die Theorie anders geartet, so kann immer noch die Rezeption sie paranoisieren. [. . .] Denker, denen das paranoide Element ganz abgeht [. . .][,] bleiben wirkungslos oder werden schnell vergessen.“ Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben 4. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 2003, S. 294. 3 Simon argumentiert, dass Der Geisterseher, einer „der wohl radikalsten Texte der dunklen Aufklärung“, „vor dem Hintergrund von Schillers Philosophie der Physiologie gelesen“, als Reflexion „sein[es] anthropologische[n] Zentraltheorem[s] in die schwindelerregende Dialektik der dunklen Aufklärung hinein“ kenntlich werde. Simon: „Commercium und Verschwörungstheorie“, S. 223, 232. Kittler wiederum kommt zu dem Schluss, dass die „Logik“ der „Mediengeschichte“ eben nicht „Fortschritt“ heiße. Kittler: „Die Laterna magica der Literatur“, S. 237. 4 Schiller spricht im Zusammenhang mit „der schönen Griechinn [sic]“, in die sich der Prinz gegen Ende des Romanfragments verliebt, von einem „recht romantische[n] Ideal“, in dem „liebenswürdige[] Schönheit“ durch „abgefeimte Betrüger[ei]“ zustandekomme. Brief an Charlotte von Lengefeld u. Caroline von Beulwitz vom 26. Januar 1789. FA, 7, 1029.

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11–12) der „Leidenschaft[en]“ (FA, 7, 709, 12) aus, wie sie überhaupt „zu einem Roman“ (FA, 7, 719, 17) taugt. Was wiederum die narrativen Unstimmigkeiten seines Romans angeht – Stichwort: „Ich habe vergessen zu erzählen, daß“ (FA, 7, 611, 25–26) –, hat Schiller wie in Vorwegnahme von Samuel Taylor Coleridges berühmter Formulierung von der „willing suspension of disbelief“5 darauf gepocht, dass der Leser es doch um der „wunderbar[en]“6 „Imagination“ des Romans willen mit seiner Genauigkeit „nicht so genau [. . .] nehmen“ möchte: [E]in[es] [. . .] aber ist das Interesse einer F ar ce, wie der Geisterseher doch eigentlich nur ist, ein andres das Interesse eines Romans oder einer Erzählung, wo man jedem Schritt, den der Dichter im menschlichen Herzen thut ruhig und aufmerksam nachgeht. Der Leser des Geistersehers muß gleichsam einen still schweigenden Vertrag mit dem Verfaßer machen, wodurch der leztere sich anheischig macht, seine Imagination wunderbar in Bewegung zu setzen, der Leser aber wechselseitig verspricht, es in der Delikateße und Wahrheit nicht so genau zu nehmen. (FA, 7, 1032)

Bemerkenswert ist hier Schillers Bezeichnung des Geistersehers als „F a r c e “. Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart definiert „Farce“ folgendermaßen: Die Farße, [. . .] 1) In den Küchen, klein gehacktes mit Semmel, Gewürz u.s.f. vermengtes Fleisch, welches entweder besonders angerichtet, oder zu Füllung verschiedener Speisen gebraucht wird. 2) Eine Komödie, welche bloß Lachen erregen soll, ein Possenspiel; ingleichen ein jeder mit Possen und niedrigen Scherzen angefüllter Aufsatz.7

Schillers Hinweis könnte mit beiden Bedeutungsfacetten des Wortes zu tun haben. Denn wenn auch nicht mit „Scherzen“ im eigentlichen Sinne „angefüllt[]“, so handelt es sich doch beim Geisterseher als Schauerroman um einen der Gattung nach „niedrigen“ Text, der zudem zumindest teilweise – nämlich in seinem für die 5 „[I]t was agreed, that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith“ [Wir vereinbarten, dass ich meine Bemühungen auf übernatürliche oder zumindest romantische Personen und Figuren konzentrieren sollte; dies aber derart, dass unserer nach innen gewandten Natur genügend menschliches Interesse und Anschein von Wahrheit entspringen möge, um diesen Schatten der Einbildungskraft für einen Augenblick jene willentliche Aussetzung des Unglaubens zukommen zu lassen, die den Glauben an die Poesie ausmacht]. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Literaria. [London 1817] Auckland 2009, S. 239; eigene Übersetzung. 6 Brief an Charlotte von Lengefeld u. Caroline von Beulwitz vom 12. Februar 1789; FA, 7, 1032; die folgenden Zitate ebd. Vgl. auch „die Farce“; FA, 7, 721, 9. 7 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart 2 (F–L). Wien 1811, Sp. 47; die folgenden Zitate ebd.

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Buchversionen gekürzten beziehungsweise ausgemusterten Philosophischen Gespräch – 8 einem „Aufsatz“9 im Sinne einer philosophischen Abhandlung ähnelt. Vor allem aber handelt es sich um einen Text, der ganz wie die „Farße“ nach Adelungs erster Definition mit allerlei Zutaten „angefüllt“ ist, nämlich unter anderem mit jenen Philosophemen rund um die commercium-Frage, mit denen Schiller schon zwei Dissertationen bestritten hatte.10 Vorausgesetzt, man sieht in der Ablehnung von Schillers Dissertation Philosophie der Physiologie eine kleine Tragödie, „ereigne[t]“11 sich – mit Karl Marx’ Bonmot – auch Schillers Auseinandersetzung mit dem commercium-Problem „zweimal“, nämlich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. „[R]eflektiert“ (FA, 7, 617, 21) habe sich die Phantasmagorie auf der „Wand“ (FA, 7, 617, 20) über dem Kamin beziehungsweise in dem „von ihrem Scheine beleuchtet[en]“ (FA, 7, 616, 30) Rauch, erläutert der mittlerweile inhaftierte Sizilianer seine Geisterbeschwörung im Nachhinein und ruft mit dem Wort ‚reflektieren‘ die Assoziation eines Spiegels auf.12 Schon zuvor hatte es eine Spiegelszene gegeben. Gerade hat der Prinz den vermissten Schlüssel in der ihm per Lotterie-Los zugefallenen Tabatiere wiedergefunden, da wendet sich der Sizilianer zum Prinzen. „Gnädigster Herr, [. . .] Würden sie die Person erkennen, wenn sie sie vor sich sähen?“ „Ohne Zweifel.“ Hier schlug der Sicilianer seinen Mantel zurück, und zog einen Spiegel hervor, den er dem Prinzen vor die Augen hielt. „Ist es diese?“ Der Prinz trat mit Schrecken zurück. „Was haben sie gesehen?“ frug ich. „Den Armenier.“ (FA, 7, 598, 30–599, 8)

Es ist diese Szene, die den Prinzen dazu bewegt, vom Magier „eine Probe“ (FA, 7, 600, 14) seiner „Kunst“ (ebd.) zu „verlangen“ (FA, 7, 600, 12) und den Prinzen „eine Erscheinung sehen“ (FA, 7, 600, 15) zu lassen. Und natürlich ist, wie 8 Die Thalia-Ausgabe enthält das ganze „Philosophische Gespräch“, ebenso die GeisterseherBuchausgabe von 1789. In der Ausgabe von 1792 ist das Gespräch gekürzt, 1798 wird es nochmals gekürzt; vgl. FA, 7, 1061 u. 1008–1017. 9 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Sp. 47; die folgenden Zitate ebd. 10 Der Prinz spricht von „Philosophien“; FA, 7, 591, 29. 11 „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. In: ders. u. Friedrich Engels: Werke 8. 3. Aufl. Berlin/DDR 1972, 115–123, S. 115. 12 Vgl. auch das Zitat in Anm. 17.

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sich später herausstellt, auch hier ein Trick im Spiel. „‚Meine Rolle ist ausgespielt‘“ (FA, 7, 613, 12), sagt der Sizilianer im Verhör nach seiner misslungenen Geisterbeschwörung, um dann dem Prinzen Rede und Antwort zu stehen: „Sie haben mich das Gesicht des Armeniers in Ihrem Spiegel sehen lassen. Wodurch bewirkten Sie dieses?“ „Es war kein Spiegel, was Sie gesehen haben. Ein bloßes Pastellgemälde hinter einem Glas, das einen Mann in armenischer Kleidung vorstellte, hat Sie getäuscht.“ (FA, 7, 613, 17–21)

Dieser taschenspielerische Schachzug des Magiers ist schon deshalb geschickt, weil er die Paranoia des Prinzen samt seiner gerade kurz zuvor geprägten Formel vom „[d]ahinter ist mehr“ (FA, 7, 611, 10–11) nährt. Tatsächlich ist ja ganz buchstäblich „hinter [d]em Glas“ (FA, 7, 613, 20) „mehr“ (FA, 7, 611, 11), nämlich das Pastellgemälde eines Mannes in armenischer Kleidung. Es handelt sich also offenbar um eine Art halbdurchlässigen Spiegel. In ihm spiegelt sich zum einen der Prinz selbst samt seinen Erwartungen, denn er sieht ja, vom Sizilianer suggestiv vorbereitet, „das Gesicht des Armeniers“ (FA, 7, 613, 17), obwohl das Pastellgemälde anscheinend bloß „einen Mann in armenischer Kleidung vorstellt[]“ (FA, 7, 613, 20–21). Zum anderen aber scheint durch das Glas tatsächlich etwas ganz buchstäblich Dahinterliegendes. Woher auf einmal die Spiegel- und Reflexionsmetaphorik? Zwei Argumente lassen sich anführen, ein technisches und ein intertextuelles. Beide ergeben sich aus dem Bezug auf Schillers Ende Juni 1784 gehaltene Vorlesung Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, die also kurz vor Beginn der Arbeit am Geisterseher entstanden war.13 Zum einen verwendet Schiller in der Schaubühne gleich vier Mal und mit Nachdruck die Metapher vom Spiegel. Insofern könnte die Spiegelmetaphorik im Geisterseher ein metaphorischer Überhang der Schaubühnen-Vorlesung sein. Dass, wie es in dieser Vorlesung heißt, die Schaubühne beziehungsweise das Theater „der großen Klasse von Toren den Spiegel vorhält“ (FA, 8, 193, 22–23), ist eine seit der Antike allgemein etablierte Metapher.14 Hier allerdings steht sie, ganz konkret, in textentstehungsgeschichtlicher Nähe zur

13 Den hier angeführten Vortragstitel „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ änderte Schiller 1802 in „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“; vgl. FA, 8, 1247. 14 Vgl. zu dieser Metapher Cornelius Motschmann, der sich auf die folgende Passage aus Horaz’ Satiren (2,7) bezieht: Der „Sklave[] Davus [hält] seinem Herren unter dem Schutze der Saturnalienfreiheit den Spiegel vor[].“ Motschmann, Cornelius: „Gelehrsamkeit in der römischen Verssatire“. In: Gelehrte in der Antike. Alexander Demandt zum 65. Geburtstag. Hg. v. Andreas Goltz, Andreas Luther u. Heinrich Schlange-Schöningen. Köln, Weimar u. Wien 2002, 105–120, S. 112.

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eben zitierten Geisterseher-Szene, in der der Sizilianer dem Prinzen einen Spiegel vorhält. Einen Spiegel, von dem sich zudem später herausstellt, dass er – darin ist er dem Spiegel gleich, den das Theater metaphorisch dem Publikum vorhält – gar kein Spiegel im eigentlichen Sinne ist, sondern bloß dafür gehalten wird. Ist also die gerade zitierte Schaubühnen-Stelle nicht eine Parallelstelle dieser Geisterseher-Szene, und heißt das dann nicht, dass der Prinz im Geisterseher als einer jener „Toren“ vorgeführt wird, über die sich Schiller im Schaubühnen-Aufsatz geäußert hatte? Dafür spräche jedenfalls auch der Umstand, dass der Sizilianer seinen eigenen Worten zufolge wie ein Theaterschauspieler „[]eine Rolle [. . .] []gespielt“ (FA, 7, 613, 12) hat. Zum anderen spricht ein technisches Detail für einen – auch, aber nicht nur – über die Spiegel-Metaphorik hergestellten Zusammenhang zwischen Geisterseher und Schaubühnen-Aufsatz: und zwar die Erwähnung eines Hohlspiegels in einer Schaubühnen-Passage, die, obgleich unausgesprochen, deutlich eine nigromantische Geisterbeschwörung qua Laterna magica evoziert: Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. (FA, 8, 190, 29–36)

Schiller spricht hier von einem „Hohlspiegel“ (FA, 8, 190, 34; die folgenden Zitate ebd.). Damit bringt er die Laterna magica ins Spiel, einen Apparat, in dem der Schein einer Flamme durch einen „Hohlspiegel“ gebündelt wird und auf diese Weise phantasmagorische Licht- und Schattenbilder erzeugt werden. Dass hier nun der Hohlspiegel, der das für die Projektion der Phantasmagorie notwendige Licht reflektiert, ausdrücklich mit den „Schatten“ assoziiert ist, dass also, obwohl es um die Laterna magica geht, nicht von Lichtbildern, sondern von „Schatten“ gesprochen wird, ist bezeichnend für das komplizierte Verhältnis, das hier zwischen Licht und Schatten besteht.15 Der Roman selbst benennt es, nämlich als „Verblendung“ (FA, 7, 723, 4) durch das „Blendwerk“ (FA, 7, 637, 1) der Phantasie beziehungsweise Phantasmagorie. ‚Blenden‘ bedeutet, so heißt es im Grimmschen Wörterbuch, „im eigentlichen sinn [. . .] der augen berauben“,16 und zwar „durch ausstechen oder ausbrennen“ (ebd.). Auch

15 Vgl. zu Licht- als Schattenbildern beziehungsweise zur Schattenschrift Amelunxen, Hubertus von: „Skiagraphia – Silberchlorid und schwarze Galle. Zur allegorischen Bestimmung des photographischen Bildes“. In: Allegorie und Melancholie. Hg. v. Willelm van Reijen. Frankfurt/ Main 1992, 90–123. 16 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch 2 (Biermörder–D). Leipzig 1860, 104–106, Sp. 104; die folgenden Zitate ebd.

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das Licht selbst kann, wenn es nicht nur „ins Auge f[ä]ll[t]“,17 sondern – metaphorisch gesprochen – ins Auge sticht, blenden: „heftiger glanz blendet die augen, dasz sie nicht sehen können: die sonne, der blitz blendet mich; den kranken blendet das licht.“18 Das setzt nicht notwendig ein Zuviel von Licht voraus, denn, so das Grimmsche Wörterbuch, auch „der schein, das glück blendet“,19 ganz so, wie im Geisterseher phantasmagorische „Geistererscheinung[en]“ (FA, 7, 607, 14–15) „Blendwerk“ (FA, 7, 637, 1) sind. ‚Blenden‘ ist, so betrachtet, die dialektische Kehrseite – Steigerung und Gegenbegriff zugleich – von ‚Wissen‘. Oder genauer: ‚Blenden‘ ist die Steigerung von ‚Wissen‘ bis in den Gegenbegriff hinein, und zwar von ‚Wissen‘20 verstanden als epistḗmē, die im oder als Licht im Dunkel durch Belichtung vor dem Auge erscheint und so als Erkenntnis sichtbar oder anschaulich wird. Dieser Logik entspricht, dass sich später im neunzehnten Jahrhundert die fotografischen Fachbegriffe ‚Blende‘ beziehungsweise ‚Blendenöffnung‘ etablieren. Für die Camera obscura sind sie offenbar noch nicht geläufig. Sie sind jedenfalls 1811 bei Adelung und 1860 bei Grimm nicht in diesem Zusammenhang belegt.21

17 Vgl. im Geisterseher die „Gesichtszüge des Marquis [, die] sehr ins Auge fallen“ (FA, 7, 616, 27–28). Auf die Frage des Prinzen, wie er „die Gestalt hervor[brachte], die an der Wand über dem Kamin erschien“ (FA, 7, 615, 6–7), antwortet der Sizilianer: „‚Durch die Zauberlaterne, welche an dem gegenüberstehenden Fensterladen angebracht war, wo Sie auch die Öffnung dazu bemerkt haben werden.‘ [. . .] ‚Die Gestalt‘, fuhr der Prinz fort, ‚schien wirklich eine flüchtige Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Freunde zu haben; besonders traf es ein, daß sie sehr blond war. War dieses bloßer Zufall oder woher schöpften Sie dieselbe?‘ ‚Eure Durchlaucht erinnern Sich, daß Sie über Tische eine Dose neben sich hatten liegen gehabt, auf welcher das Portrait eines Offiziers in **scher Uniform in Emaille war. Ich fragte Sie, ob Sie von Ihrem Freunde nicht irgend ein Andenken bei sich führten, worauf Sie mit Ja antworteten; daraus schloß ich, daß es vielleicht die Dose sein möchte. Ich hatte das Bild über Tische gut in’s Auge gefaßt, und weil ich im Zeichnen sehr geübt, auch im Treffen sehr glücklich bin, so war es mir ein leichtes, dem Bilde diese flüchtige Ähnlichkeit zu geben, die Sie wahrgenommen haben; und um so mehr, da die Gesichtszüge des Marquis sehr in’s Auge fallen.‘ ‚Aber die Gestalt schien sich doch zu bewegen. –‘ ‚So schien es – aber es war nicht die Gestalt, sondern der Rauch, der von ihrem Scheine beleuchtet war.‘“ (FA, 7, 615, 8–616, 31) 18 Grimm: Deutsches Wörterbuch 2, Sp. 104. 19 Ebd., Sp. 105. 20 „wissen, vb, scire, novisse. h e r k u n ft u n d be d e u t u n g. wissen ist ein gemeingermanisches präteritopräsens: got. wait, ahd., mhd. weiz, as., afr. wēt, ags. wāt, an. veit, zu ai. vēda, gr. οἶδα, lat. vidi, aslav. vedeti, von einer wurzel ṷeid- ‚erblicken, sehen‘ (dann auch ‚finden‘), deren bedeutung in lat. vidi, gr. aor. εἶδον, ἰδεῖν durchsieht“. Dies.: Deutsches Wörterbuch 14/2 (Wilb–Y). Leipzig 1960, 743–770, Sp. 748. 21 Vgl. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart 1 (A–E). Wien 1811, Sp. 1064–1065; Grimm: Deutsches Wörterbuch 2, Sp. 104.

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Was nun im Geisterseher im Zusammenhang mit der Phantasmagorie ‚Blenden‘ heißt, ähnelt, so betrachtet, jenem „Blick“22 als „Spiel von Licht und Undurchdringlichkeit“, um das sich Jacques Lacans Ausführungen zu „Linie und Licht“ in den Vier Grundbegriffen der Psychoanalyse (1964) drehen. Spricht Lacan dabei von einem „Schirm/écran“, der „nicht durchlässig, traversierbar ist“, sondern „ein Spiegeln“ zeigt, in dem „das Licht“ – man möchte mit Blick auf die deutsche Übersetzung sagen: ausgerechnet –23 „als ein Schillern erscheint“24 und dem so „stets etwas von der Ambiguität eines Juwels [eignet]“, dann beschreiben all diese Formulierungen auch das phantasmagorische Blendwerk des Geistersehers. In der Tat ist eine Phantasmagorie das, was sich schillernd – „die Gestalt schien sich [. . .] zu bewegen“ (FA, 7, 616, 29) – auf dem „Schirm/écran“ des vom Schein der „Zauberlaterne“ (FA, 7, 615, 8) beleuchteten „Rauch[s]“ (FA, 7, 615, 13) zeigt. Bleiben Lacans Ausführungen zu Blick, Licht und Farbe wohl, für sich genommen, ein wenig dunkel, so gewinnen sie doch an Anschaulichkeit, wenn man sie vor dem Hintergrund der hier in Rede stehenden Metaphorik von Licht und Dunkel, Projektion und Erscheinen von ‚Wissen‘ liest. „Spiegel[]“25 und „Bild/tableau“26 zugleich, wie es bei Lacan heißt, ist jedenfalls nicht nur ganz buchstäblich jenes „Pastellgemälde hinter einem Glas“ (FA, 7, 613, 20), das der Sizilianer dem Prinzen zeigt, sondern „Hohlspiegel“ (FA, 8, 190) und nach dem

22 Lacan, Jacques: „Linie und Licht“. In: ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan 11. 2. Aufl. Übers. v. Norbert Haas. Olten u. Freiburg i.Br. 1980, 97–111, S. 102–103; die folgenden Zitate ebd. 23 Vielleicht lässt sich auch der „Schillertaft“ bei Kleist im Sinne von Lacans „Schillern“ lesen: „Eginhardt. Sie sey so gerührt, daß ihre Augen, wie zwei Quellen, niederträufelten, und ihre Schrift ertränkten; – die Sprache, an die sie sich wenden müsse, ihr Gefühl auszudrücken, sei ein Bettler. – Er habe, auch ohne dieses Opfer, ein ewiges Recht an ihre Dankbarkeit, und es sei, wie mit einem Diamanten, in ihre Brust geschrieben; – kurz, einen Brief voll doppelsinniger Fratzen, der, wie der Schillertaft, zwei Farben spielt, und weder ja sagt, noch nein.“ Kleist, Heinrich von: „Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe, ein großes historisches Ritterschauspiel“. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe 1. Dramen. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. München u. Frankfurt/Main. 2010, 501–627, S. 567. Ein ausdrücklich auf Friedrich Schiller gemünztes „Schillern“ findet sich jedenfalls bei Karl Marx: „Du hättest [. . .] von selbst mehr shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutendsten Fehler anrechne.“ Brief von „Karl Marx an Ferdinand Lassalle vom 19. April 1859“. In: Marx, Karl u. Friedrich Engels: Werke 29. Berlin/DDR 1978, 590–593, S. 592. 24 Lacan: „Linie und Licht“, S. 102–103; die folgenden Zitate ebd. 25 Ebd., S. 103. 26 Ebd.

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Emaille-Porträt auf der Tabatiere gearbeitetes „Bild/tableau“27 sind eben auch bei den beiden phantasmagorisch erzeugten „Geistererscheinung[en]“ (FA, 7, 607, 14–15) im Spiel. Dass es bei diesen beiden Phantasmagorien tatsächlich um ‚Wissen‘ geht, wie es mit der aufklärerischen Vorstellung vom Licht verbunden ist, das ins Dunkle gebracht wird, zeigt sich in der Doppelung der Geistererscheinung: Soll doch offenbar die erste Geistererscheinung gerade dadurch als sozusagen dunkle Phantasmagorie erkannt werden, dass eine zweite, in hellerem Licht erscheinende folgt. So suggeriert es jedenfalls der Umstand, dass erst das Auslöschen des durch den brennenden Spiritus erzeugten Lichts, also die Verwandlung des Saals in eine Camera obscura, die erste Geistererscheinung sich zeigen lässt, bei Erscheinen der zweiten Geistererscheinung hingegen nicht bloß „ein Blitz [. . .] das Zimmer“ (FA, 7, 605, 6–10, die folgenden Zitate ebd.) kurzzeitig „erleuchtet[]“, sondern vor allem „[d]er Spiritus [. . .] von selbst [. . .] an[fängt] zu brennen[] und der Saal“ auf diese Weise dauerhaft „hell wie zuvor“ wird, sich die Camera obscura also in eine Camera lucida verwandelt. Doch diese weitere Erhellung und Öffnung des Innenraums, in dem Wissen erscheint, hin zur äußeren Welt schafft keine Klarheit. Denn es herrscht Paranoia, und deshalb lässt sich der etablierten Metaphorik zum Trotz, derzufolge Licht Aufklärung bringt, nicht entscheiden, ob das Licht des – hier verdächtigerweise „von selbst“ wieder brennenden – Spiritus nun die Ungewissheit des zuvor herrschenden Dunkels ausgetrieben, also Klarheit und Wissen geschaffen hat: oder ob dieses Spiritus-Licht nicht vielmehr bloß auf höherer Beleuchtungsstufe den obskurantistischen Betrug wiederholt und gerade mit dieser Täuschung den Verschwörern im Hintergrund in die Hände arbeitet. Vieles ist und bleibt ungewiss. Oder genauer: Was ‚Wissen‘ ist und was „Blendwerk“ (FA, 7, 637, 1), lässt der Roman entweder systematisch oder aber durch seine Unabgeschlossenheit im Dunkeln. Dass jedoch der Roman eben diese Probleme erörtert – ‚Wissen‘ und „Blendwerk“ (ebd.), aufklärende Erhellung und obskurantistische Dunkelheit samt ihren medialen Apparaten – , das lässt sich kaum von der Hand weisen. Darin liegt gerade das Wesen der Farce: Man sieht, was in ihr zusammengebracht wird, aber größere und vor allem zwingende Zusammenhänge sind, nachdem sie einmal „klein gehackt[]“28 sind (Adelung), schwierig zu rekonstruieren.29 So gesehen spiegelt – und dieser 27 Ebd. 28 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch 2, Sp. 47. 29 Zu diesen Schwierigkeiten zählt auch die Antwort auf die ausdrücklich diskutierte Frage, ob es sich bei der Geisterbeschwörung um einen einzigen „zusammengesetzten Betrug von Seiten des Armeniers“ (FA, 7, 640, 22–23) handelt oder um mehrere einzelne.

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Ausdruck zeigt einmal mehr, dass man der hier in Rede stehenden Metaphorik kaum entkommt – der Metaphernkomplex von „Verblendung“ (FA, 7, 723, 4) und „Blendwerk“ (FA, 7, 637, 1) im optischen Register jene Frage nach dem ‚Wissen‘, die spätestens mit der Rede des Prinzen von der „Allwissenheit“30 eines ausgerechnet selbst „unsichtbare[n] Wesen[s]“ aufkommt, die beziehungsweise das „um“ ihn „schwebt“ wie jener „dicke[]“ (FA, 7, 615, 13), den „Saal“ (FA, 7, 615, 14) „verfinster[nde]“ (ebd.) – Lacan: „opak[e]“31 – „Rauch“ (FA, 7, 615, 13), in den der Sizilianer – den Rauch so, mit Lacan, als „Schirm/ écran“32 nutzend – seine Phantasmagorie projiziert. Im „Philosophischen Gespräch“ des Geistersehers entwickelt der Prinz ein philosophisches Gleichnis: Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen, und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor, und raten und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen, und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemalt, lachender oder finstrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspektive. Auch manche Gaukler nutzten diese allgemeine Neugier, und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen. Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke, keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor, alles was man hörte, war ein hohler Widerhall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. (FA, 7, 676, 10–28)

Bewegen sich in diesem Gleichnis Schattenbilder über die Decke und klingt in der „hohle[n]“ (ebd.) Akustik der Szene möglicherweise noch die Vorstellung einer Höhle wie der Platons nach, dann spricht das in der Tat dafür, dass es sich bei der hier beschriebenen „Schattenwelt“,33 mit Bernd Busch, um ein „‚theatrum mundi‘ der Höhle“ (ebd.) handelt, und das heißt eben auch: um eine Theaterszene. Denn dass es Schatten sind, die über die Theaterbühne wandeln, ist ein Topos, spätestens seit Macbeth es so gesagt hat: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; / Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht / Sein

30 „Was ist das? sagte er zu mir, als wir einen Augenblick allein waren. Eine höhere Gewalt jagt mich. Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muß den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben.“; FA, 7, 597, 18–22. 31 Lacan: „Linie und Licht“, S. 103. 32 Ebd. 33 Busch, Bernd: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, München 1989, S. 20; die folgenden Zitate ebd.

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Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr / Vernommen wird“.34 Oder, noch einmal mit Shakespeare: „Die ganze Welt ist Bühne / und alle Frau’n und Männer bloße Spieler“.35 Das gilt auch für den Geisterseher, wenngleich hier zunächst nur Männer auf der Bühne stehen.36 So jedenfalls deutet es sich schon in den Worten des Prinzen an, die gleich auf seine zuletzt zitierten Ausführungen folgen: Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern nicht hinter diese Decke blicken zu wollen – und das weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen. Aber indem ich diesen unüberschreitbaren Kreis um mich ziehe, und mein ganzes Sein in die Schranken der Gegenwart einschließe, wird mir dieser kleine Fleck desto wichtiger, den ich schon über eiteln Eroberungsgedanken zu vernachlässigen in Gefahr war. (FA, 7, 677, 1–8)

Dass der Prinz hier behauptet, die „Gefahr“ (FA, 7, 677, 8) sei jetzt vorüber, lässt sich mit Blick auf die im selben Atemzug geäußerte Metapher vom „unüberschreitbaren Kreis“ (FA, 7, 677, 4–5), den der Prinz „um [s]ich zieh[t]“ (FA, 7, 677, 5), bezweifeln. Denn gerade diese Metapher verweist ja zurück auf die Inszenierung der Phantasmagorie, wie sie der Sizilianer vornimmt. Die Szene ist folgendermaßen vonstatten gegangen: Wir fanden, als wir in den Saal zurück kamen, mit einer Kohle einen weiten Kreis beschrieben, der uns alle zehen bequem fassen konnte. Ringsherum an allen vier Wänden des Zimmers waren die Dielen weggehoben, daß wir gleichsam auf einer Insel standen. Ein Altar, mit schwarzem Tuch behangen, stand mitten im Kreis errichtet, unter welchen ein Teppich von rotem Atlas gebreitet war. (FA, 7, 603, 27–33)

Nicht nur ist also mit Kohle ein Kreis für die Zuschauer beschrieben. Vor allem werden sie durch das Wegheben der Dielen „gleichsam“ (FA, 7, 603, 30–31) auf die Dielen-„Insel“ (FA, 7, 603, 31) mitten im Raum gezwungen, sodass der Sizilianer am Ende tatsächlich einen – mit den Worten des Prinzen aus dem „Philosophischen Gespräch“ – „unüberschreitbaren Kreis um“ (FA, 7, 677, 4–5) den Prinzen und sein Gefolge gezogen hat. Damit aber hat der Sizilianer seine Zuschauer nicht nur in eine Camera obscura, sondern zugleich auf eine Bühne gestellt und so – ob sie es wissen und wollen oder nicht – zu Mitspielern des von

34 Shakespeare, William: „Macbeth“. Übers. v. August Wilhelm von Schlegel. In: Shakespeare, William: Shakespeare’s dramatische Werke 12. Übers. v. August Wilhelm von Schlegel u. Ludwig Tieck. 3. Aufl. Berlin 1844, 299–400, S. 393. 35 Shakespeare, William: „Wie es euch gefällt“. In: ders.: Shakespeare’s dramatische Werke 6. Übers. v. August Wilhelm von Schlegel u. Ludwig Tieck. Berlin 1841, 239–333, S. 277. 36 Später tritt noch die schöne Griechin auf; vgl. FA, 7, 699–700.

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ihm aufgeführten Stücks gemacht. Denn dass die Dielen-Insel, auf der alle Personen stehen, eine Bretter-Bühne ist, zeigt sich ja im Nachhinein in aller Deutlichkeit. Zum einen, indem der „Altar“ (FA, 7, 608, 23) als Kulisse des Stücks „weggeräumt und die Dielen des Saals aufgebrochen“ (FA, 7, 608, 23–24) werden, sodass man unter ihnen die „Elektrisiermaschine“ (FA, 7, 608, 27–28) findet, zum anderen durch Enttarnung der „magische[n] Laterne“ (FA, 7, 608, 33) als Projektionsmaschine und der „Trommeln“ (FA, 7, 608, 37) als akustischer Maschinen. Bretter aber, unter, hinter und über denen man so viele, mit den Worten des Sizilianers, „gehörig gerichtet[e]“ (FA, 7, 629, 31–32) Maschinen findet, müssen geradezu die Bretter einer Bühne sein. Um es mit den Worten von Goethes Direktor aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ (Faust) zu sagen: Der Sizilianer „schonet [. . .] nicht“37 seine Maschinen. Auch lässt sich hier sagen, dass es sich bei der vom Sizilianer arrangierten kreisförmigen Bühne um ein theatrum mundi handelt, das – noch einmal mit den Worten des Schauspieldirektors – „in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus[schreitet]“.38 Präsentiert also, so gesehen, der Geisterseher eine Theaterbühne in der Camera obscura, dann stellt er mit dieser Szene emblematisch jenes TheaterDispositiv vor Augen, das sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als (allerdings erst später so genannte) Guckkastenbühne etabliert.39 Für diese Bühne ist eine Art Scheidewand konstitutiv, nämlich die Vierte Wand,40 die sie vom Zuschauerraum trennt, in dem die Betrachter im Dunkeln sitzen. Darin unterscheidet sich die Guckkastenbühne von jener runden, nach allen Seiten hin offenen und von den zum Teil stehenden Zuschauern umgebenden Bühne, wie sie zuvor üblich war und heute etwa in der Rekonstruktion des Shakespeare’schen Globe Theatre in London besichtigt werden kann. Der springende Punkt im hier gegebenen Kontext ist nun der, dass das Denkmodell von Außen und Innen, das heißt von äußerer körperlicher Welt und innerem geistigem Erkenntnisraum, in dem das ‚Wissen‘ der äußeren Körper-Welt zur Erscheinung kommt, ein tertium comparationis von commercium37 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust. Eine Tragödie 1“. In: ders.: Faust. Texte/Kommentare. Hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt/Main u. Leipzig 2003, S. 20, V. 233–234. 38 Ebd., V. 239–240 39 „[G]ewöhnlich erscheint guckkasten in vergleichen, häufig mit dem theater, meist in abfälligem sinne“. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch 4/1,6. Leipzig 1935, 1043–1044, Sp. 1043. 40 Hierzu grundlegend: Lehmann, Johannes Friedrich: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i.Br. 2000. Vgl. zur unklaren Herkunft des von Denis Diderot verwendeten und von Lessing ins Deutsche übernommenen Begriffs „Vierte Wand“ ebd., S. 14.

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Problem, wie es ausführlich im „Philosophischen Gespräch“ des Geistersehers verhandelt wird, und Guckkastenbühnen-Dispositiv bildet. Denn die Guckkastenbühne ist, ganz buchstäblich, eine Camera obscura, und in ihrem Inneren wird tatsächlich ein Bild von der äußeren Welt zur Erscheinung gebracht. Ganz ähnlich erscheint – und hier werden körperliches (buchstäbliches) Innen und geistiges (metaphorisches) ‚Innen‘ gleichgesetzt – im sogenannten inneren, also geistigen, Auge oder auch im ebenfalls geistigen „Kopftheater“41 ein ‚Wissen‘ von der äußeren Welt, sodass sich epistemisch ein commercium zwischen äußerlicher, körperlicher Welt und innerem Geist herstellt. Die Theatertheorie hat dieses Blick- und Erkenntnis-Dispositiv einer, so Johannes Lehmann in seiner grundlegenden Studie Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, „nur in eine[r] Richtung transparent[en]“, „semipermeable[n] Blickmembran“ als „Vierte Wand“ beschrieben.42 Jacques Diderot hat dieses Konzept geprägt, Gotthold Ephraim Lessing hat es in seiner Übersetzung mit dem Titel Das Theater des Herrn Diderot ins Deutsche gebracht. Lessing schreibt: Man denke also, sowohl während dem Schreiben, als während dem Spielen, an den Zuschauer ebensowenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr [sic] abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.43

Diderot und Lessing proklamieren hier einen theaterhistorischen Paradigmenwechsel. „Anstatt“, so Lehmann, „die Schauspieler im Halbkreis aufzustellen, mit einem Mienenspiel, das zu drei Vierteln dem Publikum zugekehrt ist, nutzt Diderot die Bühne nicht“ mehr „als Plattform für Mitteilungen, sondern als Raum.“44 Diderot „ersetzt“ damit „den (rhetorischen) Kommunikationsbegriff eines Zeichentransfers, der eine offene Anwesenheitssituation der Kommunikationspartner“, wie sie etwa im Globe Theatre besteht, „zugleich voraussetzt und erfordert, durch die Beobachtung von Kommunikation“. Es ist also kein Wunder, dass sich in die Beschreibung der Vierten Wand systemtheoretische Töne mischen. Bei Lehmann heißt es: Das Blicksetting der Vierten Wand durchschneidet die visuelle und kommunikative Reziprozität zwischen Zuschauer und Schauspieler. Da Letztere so tun, als seien gar keine Zuschauer da, ist eine offene, wechselseitige Kommunikation zwischen beiden Seiten

41 Ebd., S. 149. 42 Ebd., S. 88–89. 43 Lessing, Gotthold Ephraim: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen 11. Hg. v. Julius Petersen u. Waldemar von Olshausen. Berlin, Leipzig u. a. 1925, S. 289–290. 44 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 97 und S. 100; die folgenden Zitate ebd.

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unmöglich. An die Stelle einer offenen face-to-face-Relation tritt so für die Zuschauer die Beobachtung von Kommunikation, mitunter die Beobachtung von Beobachtern. Das ist neu.45

„Beobachtung von Kommunikation“ und „Beobachtung von Beobachtern“: Das klingt nach Niklas Luhmanns „psychische[n] [. . .] Systeme[n]“,46 die „es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun [bekommen]“ und dabei beobachtet werden. Worauf es hier nun ankommt, ist die Konsequenz, die die Vierte Wand für den Blick der Zuschauer auf die Schauspieler hat. Es ist nämlich nicht so, wie man vielleicht zunächst denken könnte, dass die Schauspieler auf der Bühne von drei Seiten durch Wände vor der Beobachtung geschützt wären, weil das Publikum eben nur vor der Vierten Wand sitzt. Das Gegenteil ist der Fall: Der Blick der Zuschauer auf die Schauspieler wird, so Lehmann, „totalisiert“.47 Das wiederum hat mit dem neuartigen Konzept der Bühne als Raum zu tun, so wie Diderot es will: Die Bühne als Raum zu nutzen, zielt nicht auf einen zentralperspektivischen, optischgeometrischen Raum, nicht auf eine Repräsentation der Welt, die von einem idealen Augpunkt abhängt, sondern auf den empirischen Raum der Figuren. In ihm verteilt Diderot Menschen, die zeit-[] und ortgebunden sind. Als „menschlicher“ Raum ist er daher gerade nicht [. . .] virtueller Repräsentationsraum [. . .], sondern als realer Raum in sich abgeschlossen. Die Erfindung der Vierten Wand ist damit zugleich die Bedingung der Möglichkeit ihrer Abschaffung. Denn im Grunde können alle Wände vierte Wände sein [. . .]. Genau diese Phantasie äußert Diderot, um die Schauspieler an die Totalität des Blicks zu gewöhnen, die ihm vorschwebt: [„D]och ich wünschte, Sie hätten für Ihre Proben eine besondere Bühne – so zum Beispiel nur einen großen, runden oder viereckigen Raum ohne Vordergrund, ohne Seiten und ohne Hintergrund, um den herum Ihre Beurteiler amphitheatralisch placiert wären. [. . .][“ (Diderot)] Zumindest in der Probenpraxis soll die völlige imaginäre Abwesenheit der Zuschauer als ihre allseitige imaginäre Gegenwart realisiert werden.48

Die Pointe in Hinblick auf Schillers Geisterseher ist nun, dass der Roman eben jenen Zusammenhang von Vierter Wand und „Totalisierung des Blicks“,49 den Lehmann hier im Anschluss an Diderot und Lessing umreißt, auf raffinierte Weise inszeniert, und zwar emblematisch in jener Dielen-Szene, also am

45 Ebd., S. 121; die folgenden Zitate ebd. 46 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main. 1987, S. 156; das folgende Zitat ebd. 47 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 153. 48 Ebd., S. 98–99. 49 „Eisenstein hat 1943 in einem kurzen Aufsatz, ‚Diderot a parlé de cinéma‘ [. . .] die Totalisierung des Blicks durch die Vierte Wand mit der beweglichen Kamera in Beziehung gesetzt.“ Ebd., S. 99.

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Beispiel jener Bretter-Bühne, auf die der Sizilianer den Prinzen und sein Gefolge positioniert. Dort nämlich stehen sie nun zum einen als von den Lesern in ihrer Imagination des Geschehens beobachtete Darsteller des Romans. Weder der fiktionale Erzähler Graf von O** noch der Autor Schiller denken – ganz nach Diderots und Lessings Forderung – hier auch nur daran, den fiktionalen Vorhang zu den Lesern aufzuziehen, obwohl ein solcher Fiktionsbruch, etwa durch Leseransprache, in der Literatur der Zeit immer wieder vorkommt. Das zeigt zum Beispiel Laurence Sternes Tristram Shandy. Sind aber, so betrachtet, der Prinz und seine Leute sozusagen die Schauspieler auf der Bühne des durch die Vierte Wand der Fiktion50 vom Leser getrennten Romangeschehens, dann darf Diderots Satz vom Dramatiker, der „während dem Schreiben“51 nicht an die „Zuschauer“ seines zu schreibenden Stücks denken soll, auch für Schillers Prosatext gelten. Denn der hier ja nur ausnahmsweise als Romancier, viel häufiger jedoch als Dramatiker schreibende Schiller stellt sein Romanpersonal in dieser – wie soll man anders sagen? – Szene ostentativ auf eine Bühne. Dort aber werden der Prinz und seine Entourage nicht nur vom hinter der Vierten Wand der Fiktion sitzenden Lesepublikum des Romans beobachtet, also von einem Publikum außerhalb der fiktionalen Welt des Romans,52 sondern zugleich innerhalb dieser fiktionalen Welt von jener Romanfigur, die dem Prinzen zufolge immer ‚allwissend‘ um ihn schwebt und unentfliehbar „alle [s]eine Schritte“ (FA, 7, 597, 21) bewacht,53 vom Armenier also, der sich damit innerhalb der Diegese als allegorische Verkörperung jener „Totalisierung des Blicks“54 entpuppt, die – so Lehmann – aus der Vierten Wand resultiert. So gesehen geht die den gesamten Roman durchziehende Paranoia des Immerbeobachtet-undmanipuliert-Werdens nicht allein auf den Armenier zurück, der aus schaueroder kriminalromantisch motivierten, ansonsten jedoch nicht weiter zu klärenden

50 Vgl. das Coleridge-Zitat in Anm. 5. 51 Lessing: Lessings Werke, S. 289; das folgende Zitat ebd. 52 Auch das passt zum Prinzip der Vierten Wand: „Die Vierte Wand als Produktionsprinzip besteht somit in einer doppelten Schließung. Zum einen schließt der Dichter den Raum seiner Imagination gegen Fremdadressierung ab, indem er sich allein für das interessiert, was er auf seiner inneren Bühne sieht, hört und beobachtet. [. . .] Um diesen Ausschluß des Publikumsbezugs leisten zu können, um selbst ausschließlich für seine Figuren interessant zu sein, bedarf auch der Dichter – wie der Zuschauer – eines Vierte-Wand-Settings. Er muß sich gewissermaßen gegen seine eigene Imagination abschließen und als Zuschauer ‚von außen‘ die imaginierten Szenen beobachten. So wiederholt sich im Kopf des Autors die Trennung der Vierten Wand in Zuschauer und Szene.“ Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 151. 53 Vgl. Anm. 30. 54 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 99.

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dramaturgischen Gründen eine „Totalität des Blicks“55 personifiziert, sondern auf ein historisch ganz spezifisches Theater-Dispositiv, nämlich das der Vierten Wand. Das wiederum heißt, dass im Dispositiv von Guckkastenbühne und Vierter Wand schon im Keim die Anlage zu jener Paranoia liegt, die der Roman sowohl auf der Handlungsebene wie auch in der Figurenrede ausfabuliert. Darin kann man eine Medienkritik des Romans sehen. Aus dem Gesagten ergeben sich Schlussfolgerungen. Lehmann schreibt über das Bühnen-Dispositiv der Vierten Wand, an Diderots Satz „Man muß nicht nur mit dem Gesicht spielen, sondern auch mit dem ganzen Körper“56 anschließend: „Das Zuschauen ist allem Anschein nach mehr als ein tastendes und erratendes Umkreisen der Figuren gedacht, entspricht also mehr der Rezeption einer Plastik, wie sie Herder beschreibt, als der visuellen Perzeption mimisch-rhetorischer Zeichen [. . .].“57 Diese Formulierungen beschreiben – und dies im Unterschied zum Guckkastenbühnen-Theater, in dem die Zuschauer nicht tatsächlich im Kreis oder auch nur Halbkreis um die Schauspieler herum gruppiert sind – tatsächlich die Situation, in der sich der Prinz und seine Leute befinden. Die Phantasmagorie ist „unter“ (FA, 7, 605, 11) sie und buchstäblich in ihren Kreis getreten. Jener „ganze[] Körper“,58 der Diderots neuem Theater-Paradigma zufolge auf der Bühne steht und dort, wie Lehmann im Bewusstsein der Metaphorizität seiner Formulierungen vorsichtig schreibt, anscheinend wie eine Plastik im Museum vom Zuschauer imaginär oder virtuell „[u]mkreis[t]“59 werden soll, steht im Geisterseher als – so kommt es ausdrücklich dem Erzähler vor – „körperliche Gestalt“ (FA, 7, 605, 7) wirklich mitten auf einer Bühne. Und dort ist sie tatsächlich von Zuschauern ‚umkreist‘: Ist die Gestalt doch „unter“ (FA, 7, 605, 11) ihnen und damit in ihrem zweimal so genannten „[K]reis[]“ (FA, 7, 603, 28) – wo sie sich im Übrigen vielleicht auch betasten ließe, wenn sie nicht selbst nach dem englischen Lord griffe. So verstanden, gilt a fortiori für die phantasmagorische Inszenierung des Geistersehers, was wohl die zentrale Aussage von Lehmanns Studie ist: D i e V i e r t e W a n d er z e u g t , tr e n nt u n d k o p p e lt z w e i ‚ Rä ume ‘. Auf Seiten der Zuschauer entsteht ein Raum innerer imaginärer Beteiligung, ein []Innen-Raum, der [. . .] den imaginierten [Außen-]Raum des oder der beobachteten Anderen mitbedingt und miterzeugt.60

55 Ebd. 56 Diderot, Denis: Ästhetische Schriften 1. Hg. v. Friedrich Bassenge. Frankfurt/Main 1968, S. 338. 57 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 100. 58 Diderot: Ästhetische Schriften, S. 338. 59 Lehmann: Der Blick durch die Wand, S. 100. 60 Ebd., S. 146; die folgenden Zitate ebd.

Das Theater um den Geisterseher

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Anders gesagt: Im geistigen „Innen-Raum“ erscheint „imaginär[]“ als ‚Wissen‘ oder ‚Anschauung‘, was sich im äußeren Raum der Bühne körperlich befindet. Das wiederum bedeutet, dass im Geisterseher der Rauch als Medium im Sinne einer Vierten Wand fungiert. Denn es ist ja der Rauch, der zwei Räume – Außen- und Innen-Raum – zugleich „trennt und k oppelt“: jene äußere Camera obscura des verdunkelten Saals, aus der die im Rauch – durch ihn und mit ihm und in ihm – „e r z eu g t[ e ] “ Phantasmagorie in die innere geistige Camera obscura der Zuschauer hineinmarschiert, um dort als ‚Wissen‘ zu erscheinen. Indem hier aber der Rauch als sichtbares Medium zwischen zwei black boxes vermittelt, ähnelt er jenen unsichtbaren, gleichwohl nach den zeitgenössischen Theorien fluidal und ätherisch – also Rauch-ähnlich – gedachten magnetischen Kräften, wie sie der Mesmerismus beschreibt. Es verwundert also nicht, dass ausgerechnet die Vierte Wand keine Ab- oder Eingrenzung des Blicks, sondern vielmehr eine ‚Allgegenwart des Blicks‘61 mit sich bringen soll: Füllt und durchdringt doch nun, um es in Diderots Sinne, aber mit den Worten des Prinzen zu sagen, der „[a]llwissen[de]“ (FA, 7, 597, 19) und um die Darsteller seiende Blick der Zuschauer, ganz nach Art des magnetischen Fluidums und Olibanum-Rauches, den gesamten Bühnen-Raum und alle, die sich darin befinden. Lehmann schreibt: Durch den Bau einer fiktiven, undurchsichtigen Mauer als Paravent gegen die Blicke des Zuschauers wird dessen Blick im Grunde totalisiert. Der ignorierte Blick wird zum [. . .] allgegenwärtigen Blick [–]62

eben so, als handele es sich um einen fluidalen, alles umfließenden und alles durchdringenden Blick: also keinen, um noch einmal die Begriffe Lacans aufzunehmen, „geometralen“63 Blick „in der Geraden“, sondern vielmehr einen mit dem Licht „diffundier[enden]“, Raum-„füll[enden]“ Blick. Das ist die ‚Allwissenheit‘ des Armeniers.

61 Ebd. 62 Ebd., S. 153; die folgenden Zitate ebd. 63 Lacan: „Linie und Licht“, S. 100; die folgenden Zitate ebd.

Thomas Boyken

„Das war ein Schuß! Davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ Einige Überlegungen zum Nebentext in der Apfelschuss-Szene von Schillers Wilhelm Tell

1 Ein Schuss, der nicht gezeigt wird? Es muss schon eine außergewöhnliche Handlung sein, wenn selbst Geßlers Gefolgsleute mit Superlativen nicht sparen. So stellt der Söldner Leuthold fest: „Das war ein Schuß! Davon | Wird man noch reden in den spätsten Zeiten.“ (NA, 10, 220, 2037–2038) Und aus dem Stallmeister platzt es förmlich heraus: „Erzählen wird man von dem Schützen Tell, | Solang die Berge stehn auf ihrem Grunde.“ (NA, 10, 220, 2039–2040) Die Tat, auf die sich diese Bemerkungen beziehen, ist Wilhelm Tells berühmter Apfelschuss. Dass sowohl Leuthold als auch Rudolph der Harras das Erzählen über diese Tat betonen, verweist auf die Bedeutung der Geschichten, die über Tell innerhalb des Schauspiels kursieren. Die Tat an sich besitzt noch keine Wirkung. Erst wenn sie narrativ eingebunden wird, kann sie ihre Wirkungsmacht entfalten. Dies gilt umso mehr, als das Erzählen von exorbitanten Handlungen auch vor Ausschmückungen nicht gefeit ist. Einen Apfel vom Kopf seines eigenen Sohnes zu schießen, scheint eine aus zahlreichen Gründen ideale Projektionsfläche einer solchen Heldenandichtung.1 Da zudem allerhand Augenzeugen dieser Tat beiwohnen, ist es auch kein Wunder, dass sich der Bericht über den Apfelschuss wie ein Lauffeuer verbreiten wird. Ohne Frage handelt es sich um eine herausragende Handlung, die für das Drama Wilhelm Tell im Laufe der Rezeptionsgeschichte zur ikonischen Szene wird. Wenn man sich aber die Passage, in der der Apfelschuss geschildert wird, genauer anschaut, muss man konstatieren, dass es auf der Ebene der dargestellten Handlung eigentlich keinen wahren Augenzeugen für die Tat gibt. Noch bevor der Nebentext den Schuss anzeigt, bemerkt eine Figur den geglückten Schuss. Es ist Werner Stauffacher, der als erster darauf hinweist: „Der Apfel ist gefallen!“ (NA, 10, 219, 2031) Das in der Figurenrede verwendete Perfekt

1 Vgl. Boyken, Thomas: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben“. Männlichkeitsimaginationen im dramatischen Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2014, S. 353. https://doi.org/10.1515/9783110667066-013

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verweist temporal auf die Abgeschlossenheit der Handlung. Aspektuell verweist das Verb in der Perfektform auf den für die Gegenwart relevanten Resultatzustand: Der Apfel liegt jetzt nicht mehr auf Walthers Kopf, sondern ist heruntergeschossen worden.2 Stauffacher sieht den (mutmaßlich) durchbohrten Apfel und folgert daraus, dass der Schuss vollzogen wurde. Den Schuss hat also keine Figur beobachtet; lediglich das Ergebnis ist zu sehen. Tells herausragende Tat bleibt innerhalb der dargestellten Handlung unbeobachtet. Aber auch mit Blick auf den Dramentext und die damit implizierte Aufführung ist die Darstellung der Apfelschuss-Szene fraglich. Denn erst nach der Figurenrede folgt der Nebentext, der den Schuss anzeigt. Bemerkenswert ist auch hier die verwendete Perfekt-Form: „[I]ndem sich alle nach dieser Seite gewendet und Bertha zwischen Rudenz und den Landvogt sich geworfen, hat Tell den Pfeil abgedrückt“ (NA, 10, 219, nach 2031). Während des Disputs zwischen Rudenz und Geßler, in den sich Bertha körperlich hineindrängt, um Rudenz von einem Kampf mit Geßler abzuhalten, „hat Tell den Pfeil abgedrückt“. Es wird auf die Gleichzeitigkeit der Handlungen hingewiesen, die allesamt zum Zeitpunkt der Informationsvergabe im Nebentext in der Vergangenheit liegen. Diese Feststellung ist mit Blick auf die im Dramentext angelegte Aufführbarkeit und den Informationsstand des Lesers brisant. Denn an dieser Stelle führt der Nebentext in Wilhelm Tell die Textsorte Drama an ihre Grenzen. Der Nebentext ist insbesondere in der Form expliziter Regiebemerkungen für das nichtsprachliche Handeln im Drama relevant.3 Mit Roman Ingardens Unterscheidung

2 Aus linguistischer Sicht weisen Zeitformen einerseits eine temporale Funktion auf, andererseits sind sie aspektueller Art. Beide Funktionen sind den Zeitformen des Deutschen inhärent und organisieren das Verhältnis von Sprechzeit, Betrachtungszeit und Resultatzustand. Tempus bezieht sich dabei auf das Verhältnis von dargestelltem Ereignis und Sprechzeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft); Aspekt bezieht sich auf die Frage der Realisation des dargestellten Ereignisses: Ist es in der Vergangenheit abgeschlossen (vollendeter Aspekt) oder dauert es bis in die Sprechgegenwart an (unvollendeter Aspekt)? Vgl. Leiss, Elisabeth: Die Verbalkategorien des Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Berlin u. New York 1992, S. 233–281; Sieberg, Bernd: „Zur Untersuchung der Tempuskategorien Perfekt und Imperfekt“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 108 (1989), 85–96. 3 Mit dem Begriff Regiebemerkung übernehme ich einen Vorschlag von Anke Detken, den sie als Alternative zu Ingardens Nebentext-Begriff bildet. Vgl. Detken, Anke: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 8–12. Detken unterscheidet zwischen expliziten und impliziten Regiebemerkungen. Unter expliziten Regiebemerkungen fasst sie die im Nebentext gegebenen Handlungsanweisungen, während implizite Regiebemerkungen der Figurenrede zugerechnet werden und damit dem Haupttext angehören. Ich möchte in meinem Beitrag die Differenzierung von Detken aufgreifen, jedoch Regiebemerkung nicht als Alternativbegriff zu Nebentext fassen. Meines Erachtens sind explizite Regiebemerkungen ein Teil des Nebentexts. Die Sprecherbezeichnungen, die Szenen- und

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zwischen Haupt- und Nebentext lässt sich der Unterschied zwischen sprachlicher Interaktion, die im Haupttext situiert ist, und körperlicher Aktion, die in erster Linie über den Nebentext vermittelt wird, konzise fassen.4 Zum Nebentext werden gemeinhin diejenigen Textpassagen gerechnet, die der Rezipient zwar lesen kann, die für den Zuschauer in der Aufführungssituation allerdings nicht zu hören sind. Hinsichtlich der Informationsvergabe ist der Nebentext gegenüber der Figurenrede zudem logisch privilegiert.5 Aber auch für den Medienwechsel besitzt der Nebentext eine entscheidende Funktion, da er die Transposition des Dramentextes zur Inszenierung und Aufführung vorbereitet. Insofern kann man auch aus dem Nebentext auf den (intendierten) Medienwechsel, also auf implizite Aufführungs- und Inszenierungsangebote schließen. Während dem Leser der Nebentext hilft, das fertige Drama zu imaginieren, nimmt der Theaterzuschauer den Nebentext in seiner „inszenatorischen Aktualisierung“6 wahr. Der Nebentext soll also in Handlung oder Aktion umgesetzt werden.7 Geht man von diesem Verständnis von Nebentext und expliziter Regiebemerkung aus, dann muss zum einen die Reihenfolge von Haupt- und Nebentext in der Apfelschuss-Szene irritieren. Denn üblicherweise wird eine Aktion in dem Moment ihrer Durchführung angezeigt und nicht, nachdem sie beendet wurde. Zum anderen ist das gewählte Tempus für den Nebentext ungewöhnlich. Gattungstheoretisch ist dieser Sachverhalt durchaus bemerkenswert. So hat bereits Julius Petersen in einer Studie aus dem Jahr 1904 Schillers Verständnis vom

Akteinteilungen oder auch die Ortsangaben sind ebenfalls zum Nebentext zu rechnen. Nebentext ist in diesem Verständnis ein Oberbegriff, unter dem sich zum Beispiel Regiebemerkung, Sprecherbezeichnung, Personenregister summieren lassen. 4 Vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. 3. Aufl. Tübingen 1965, S. 220 [Erstausgabe 1931]. Trotz der bestehenden Kritik an Ingardens hierarchisierender Terminologie halte ich an der Unterscheidung – mit meinem Differenzierungsvorschlag (s. Anm. 3) – fest. Auch terminologische Alternativen, die oftmals aus den Theaterwissenschaften stammen, beheben das implizite Problem der Hierarchie in der Regel nicht. Vgl. zum Beispiel Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 297–304. 5 Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter: „Nebentexte, groß geschrieben. Zu Marlene Streeruwitz’ Drama New York. New York“. In: Forum Modernes Theater 21 (2006) H. 1, 37–52, S. 37. 6 Platz-Waury, Elke: „Nebentext“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte 2 (H–O). Gemeinsam mit Georg Braungarten, Klaus Grubmüller u. a. hg. v. Harald Fricke. Berlin u. New York 2007, 693–695, S. 694. 7 Ob man tatsächlich den Paratext zum Nebentext rechnen sollte, wie es Ingarden und auch Platz-Waury machen, wäre ausführlicher zu diskutieren.

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Drama als einer vergegenwärtigenden Literaturform gegenüber der vergangenheitsverhafteten Epik rekonstruiert.8 In einem Vergleich zwischen dem Briefroman (als einer Form, die ebenfalls aus direkter Rede besteht) und dem Drama arbeitet er heraus, dass es die Bühnenanweisungen sind, die laut Schiller den Übergang von der Epik zum Drama vollziehen, indem sie der auch als episch zu verarbeitenden Figurenrede einen dramatischen Rahmen verschaffen. Dieser Rahmen ist, wie Petersen betont, im Präsens gehalten, da die Dramenhandlung im Hier und Jetzt stattfindet.9 Gegen den vergegenwärtigenden Gestus des Dramas steht in der Apfelschuss-Szene die im Nebentext verwendete Zeitform. Dass die Vergangenheitsform in der Apfelschuss-Szene kein Zufall oder Versehen ist, belegt eine weitere Passage. Noch bevor die Umstehenden ihrer Faszination und Überraschung Ausdruck verleihen können, bringt der Sohn seinem Vater den durchschossenen Apfel. Hiernach heißt es in der Regieanweisung: „Tell stand mit vorgebognem Leib, als wollt’ er dem Pfeil folgen“ (NA, 10, 219, nach 2036; das folgende Zitat ebd.). Erst jetzt wechselt das Tempus vom Präteritum ins Präsens: „die Armbrust entsinkt seiner Hand – wie er den Knaben kommen sieht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, und hebt ihn mit heftiger Inbrunst zu seinem Herzen hinauf, in dieser Stellung sinkt er kraftlos zusammen. Alle stehen gerührt.“ Der Nebentext stellt den Leser, sofern er diesen als Anweisung hinsichtlich der theaterpraktischen Umsetzung versteht, vor das Problem der zeitlichen Abfolge. Mit dem Präteritum wird eine zum Zeitpunkt des eingesetzten Nebentextes abgeschlossene Handlung angezeigt, die keinen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart haben muss. Mit Blick auf die theaterpraktische Realisation suggeriert der Nebentext an dieser Stelle, dass der Zuschauer zu keinem Zeitpunkt die statuenhafte Erstarrung Tells sieht. Zu sehen ist hingegen das Hinsinken der Armbrust. An zwei zentralen Stellen der Apfelschuss-Szene wechselt der Nebentext ins Perfekt beziehungsweise ins Präteritum. Dies hat Folgen für die logische Rekonstruktion der dargestellten (oder nicht dargestellten) Handlung: In 8 Vgl. Petersen, Julius: Schiller und die Bühne. Ein Beitrag zur Litteratur- und Theatergeschichte der klassischen Zeit. Berlin 1904, S. 1–8. 9 Davon zu unterscheiden wäre das, was Petersen „epische Bühnenanweisungen“ nennt. Hierunter versteht Petersen Textverfahren, die nur für Leser des Dramas – und nicht für die Zuschauer der Aufführung – einen Effekt erzielen. Petersen hält das für eine ‚Jugendsünde‘ unerfahrener Theaterautoren, die ihren Schreibstil noch nicht den Gegebenheiten des Theaterprozesses angepasst haben. Grundsätzlich diskutiert Petersen zwei Fragen: Zum einen untersucht er, inwiefern sich im Gebrauch der Bühnenanweisungen die Theateraffinität im Stil des Autors Schiller abzeichnet. Zum anderen nimmt er in den Blick, wie sich in den Bühnenanweisungen die Leistungsfähigkeit von Theater und Schauspielkunst einer Zeit spiegeln. Vgl. Petersen: Schiller und die Bühne, S. 6–7.

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welcher Reihenfolge finden die Handlungen statt? Wer sieht welche Handlung? Und wie sollen diese nachgeschobenen Handlungen eigentlich inszeniert werden? Insbesondere die letzte Frage ist theaterpraktisch relevant, denn über das Tempus wird angezeigt, dass sowohl das Abdrücken des Pfeils als auch die seltsam statuenhafte Position Tells bereits vergangen sind, wenn der Nebentext einsetzt. Freilich kann entgegengehalten werden, dass Schiller an diesen Stellen das Drama ins Epische tendieren lässt. Dann müsste man Wilhelm Tell aber in einem Spannungsverhältnis von poetischem Anspruch und theaterpraktischer Anforderung deuten.10 Schiller als Theaterpraktiker zu bezeichnen, käme – zumindest für diese Textpassagen – wohl nicht infrage. Dies gilt umso mehr, da eine theaterpraktisch konforme Lösung einfach gewesen wäre: Der Hinweis auf den Apfelschuss hätte ja auch vor Stauffachers Bemerkung gemacht werden können. Und Tells Erstarrung, die als Stellvertretung für den erfolgten Schuss fungiert, hätte nach Stauffachers Bemerkung erfolgen können, um deutlich zu machen, was wann geschieht. Diese Regiebemerkungen hätten im Präsens formuliert werden können, wie der Großteil der expliziten Regiebemerkungen in Wilhelm Tell. Wenn Stauffacher den Schuss bemerkt, bevor der Nebentext dies indiziert, dann wird die Darstellung des Apfelschusses fraglich. Oder pointiert formuliert: Wird in der berühmten Apfelschuss-Szene also eigentlich gar kein Apfelschuss dargestellt? Ist der Schuss schon erfolgt, wenn sich die Figuren umdrehen? Schiller hat dies für die theatrale Realisation selbst nahegelegt. An den Schauspieler Karl Wilhelm Emanuel Schwarz, der in der Inszenierung am Breslauer Theater den Wilhelm Tell spielte, schrieb er am 24. März 1804: „Tell schießt nicht wirklich, sondern schnellt nur ab, denn der Pfeil kann in der Luft nicht gesehen werden.“ (NA, 32, 119)11 Gleichwohl ist das Abschnellen des Pfeiles in den betreffenden expliziten Regiebemerkungen

10 Petersens Argumentation läuft im Prinzip auf dieses Spannungsverhältnis hinaus. Allerdings spielt er das Lesedrama gegen Schauspiele, die einen deutlichen Theaterbezug aufweisen, aus. Petersen zeichnet ein Bild des Theaterdichters Schiller, der dem Zeitgeschmack und den praktischen Bedingungen verpflichtet ist, der dabei aber den dramatischen Stil so weit beherrscht, dass die Bühnenanweisung als das, was bei anderen Dichtern „nur dem äusseren Effekt dient, [. . .] zum bedeutenden Motiv und zur poetischen Notwendigkeit erhoben ist“. Petersen: Schiller und die Bühne, S. 467. Den Umschlagspunkt zu diesem typischen dramatischen Stil erkennt Petersen im Don Karlos, wo das Poetische die Oberhand gewinne, nachdem in den Jugenddramen die Konzeption als Theaterstück (und nicht als Dramentext) durchgehend spürbar sei. Deutlich wird bei Petersen eine Hierarchisierung, die den Dramentext im Gegensatz zur Konzeption als Theaterstück höher gewichtet. 11 Schiller und Schwarz waren miteinander bekannt, da Schwarz während seines Engagements am Hamburger Stadttheater (1801–1802) auch in Weimar gastierte.

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nicht erwähnt. Das theaterpraktische Argument, das Schiller selbst in seinem Brief an Schwarz anführt, ist mit Blick auf den Dramentext nicht stichhaltig. Wenn das Tempus in der Regiebemerkung auf das Nicht-Zeigen des Apfelschusses verweisen sollte, dann rückt die dramaturgische Funktion dieser Leerstelle in den Blick. Meines Erachtens kann der versteckte Apfelschuss auf drei Ebenen gedeutet werden. Im Kontext des szenischen Spannungsaufbaus ließe sich die Leerstelle als Höhepunkt deuten. Dieser Höhepunkt wird jedoch nicht effektvoll auf der Bühne inszeniert, sondern auf die Hinterbühne verschoben. Welche Funktionen damit verbunden sind, werde ich im Folgenden diskutieren. Dabei werde ich auf den dramaturgisch geschickten Auftritt der Figuren in der ApfelschussSzene eingehen. Die Aussparung der grauenhaften Tat könnte möglicherweise auch auf Schillers politische Ästhetik verweisen, wie er sie in Auseinandersetzung mit der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution entwickelt hat. In dieser Deutungslinie gerät einerseits die staatstheoretische Perspektive, die im Wilhelm Tell verhandelt wird, in den Blick.12 Andererseits wird argumentiert, dass im Drama keine Gewalttaten dargestellt werden. Schiller arrangiere eine ideale Revolution, die unblutig als Kontrast zur barbarischen Entwicklung der Französischen Revolution zu verstehen sei.13 Dass dies in letzter Konsequenz zu diskutieren ist, belegt Tells Mordtat. Denn Gewalt wird keineswegs komplett aus dem Drama getilgt, wenn Tell den Landvogt hinterrücks erschießt. An dieser Stelle thematisiert der Nebentext übrigens auch einen Schuss: „[E]in Pfeil durchbohrt [Geßler], er fährt mit der Hand ans Herz und will sinken.“ (NA, 10, 253, 2785) Dieser im Nebentext angezeigte Schuss wird im Präsens präsentiert und mitten in den Vers gesetzt. Das oft herangezogene Argument, Schiller achte im Sinne der klassizistischen Ästhetik darauf, den Vers nicht zu unterbrechen, weswegen der Apfelschuss nachgereicht werden müsse, ist mit dieser Parallelstelle zu

12 Vgl. Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie 2. München 2000, S. 565–580, insbes. S. 575; Knobloch, Hans-Jörg: „Wilhelm Tell“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. 2. Aufl. Stuttgart 2011, 515–543; Müller-Seidel, Walter: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München 2009, S. 192–211. 13 Vgl. Borchmeyer, Dieter: „‚Altes Recht‘ und Revolution. – Schillers Wilhelm Tell“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 69–111, S. 70; Knobloch, Hans-Jörg: „Wilhelm Tell. Historisches Festspiel oder politisches Zeitstück?“. In: Schiller heute. Hg. v. ders. u. Helmut Koopmann. Tübingen 1996, 151–166; Krah, Hans: „‚ . . . Der Freiheit ewig Zeichen‘. Schillers Wilhelm Tell als klassische Lösung revolutionärer Probleme“. In: Recherches germanistiques 32 (2002), 1–25.

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widerlegen.14 Während Schiller beim Apfelschuss ferner die darstellerische Unmöglichkeit reflektiert, scheint dies für den Schuss auf Geßler nicht zu gelten.15 Dies legt den Verdacht nahe, dass der Apfelschuss nicht oder nicht nur wegen der Unmöglichkeit seiner Darstellbarkeit verdeckt wird. So wäre schließlich zu diskutieren, ob sich der irritierende Nebentext an dieser Stelle im Rahmen eines intertextuellen Bezugs verorten ließe. Der nicht dargestellte Apfelschuss steht, so meine leitende These, in einer Verbindung zu Schillers Rezeption von Winckelmanns Konstruktion der griechischen Antike. Insbesondere die Laokoon-Gruppe könnte ein Schlüssel zum Verständnis des Nebentextes sein. Im Folgenden werde ich genauer darauf eingehen, wie sich der Spannungsaufbau aus den Figurenauftritten und ihrer Anordnung im Raum ergibt. Welche Funktion die Leerstelle des nicht dargestellten Apfelschusses hat, wird in diesem Kontext thematisiert. In einem zweiten Schritt rückt der intertextuelle Zusammenhang in den Fokus. Hier möchte ich meinen Deutungsvorschlag erörtern, dass in der Apfelschuss-Szene eine Re-Inszenierung Laokoons erfolgt.16

2 Spannungsaufbau, Auftrittsfrequenz, Figurenanordnung Der Spannungsbogen der dritten Szene des dritten Aufzugs ist auf den Apfelschuss als Höhepunkt hin konzipiert. Die Szene beginnt zunächst ruhig. Friesshardt und Leuthold beschweren sich im Dialog über die Sinnlosigkeit ihrer Aufgabe, vor dem aufgestellten Hut Wache zu halten. Während Leuthold die Augen zudrücken will, sofern tatsächlich jemand vorbeikommt, ist Friesshardt pflichtbewusster. Dieser Diensteifer ist der Ausgangspunkt für den Apfelschuss: Als Tell und sein Sohn grußlos an dem aufgestellten Hut vorübergehen, werden sie von dem eifrigen Wachmann gestellt. Bemerkenswert ist nun, dass Tell

14 Vgl. Petersen: Schiller und die Bühne, S. 448. 15 Auch an dieser Stelle gibt die explizite Regiebemerkung keinen Hinweis auf das Abschnellen, da der Schuss aus der Kulisse kommt. Tell ist als Urheber des Schusses nicht zu sehen. Erst als er sich auf dem Felsvorsprung zeigt und die Tat für sich reklamiert, ist eindeutig geklärt, dass er der Täter ist. 16 Die Kontextualisierung innerhalb einer politischen Ästhetik führe ich im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht weiter aus. Hier sei auf die bereits genannten, einschlägigen Studien verwiesen.

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zunächst keineswegs deeskalierend reagiert: Er „greift in die Pike“ (NA, 10, 208, vor 1818) und schüttelt Friesshardt, als dieser ihn einen Verräter nennt. Um die vier Figuren versammeln sich langsam weitere Passanten, die einerseits vom Disput zwischen Tell und Friesshardt angelockt, andererseits direkt von Tells Sohn gerufen werden. Um Tell, Walther, Friesshardt und Leuthold bildet sich ein Kreis aus Schweizern. Während Leuthold in der Auseinandersetzung kaum eine Rolle spielt, fühlt sich Friesshardt in seiner Autorität angegriffen. Als weitere Schweizer hinzueilen, wird die Situation für die Wachen gefährlich. Die herbeieilenden Landleute rufen: „Wir helfen euch. Was giebts? Schlagt sie zu Boden.“ (NA, 10, 210, 1845). Es bahnt sich ein Aufstand an. Erst jetzt erkennt Tell die Brisanz der Situation und ist nun sichtlich um Deeskalation bemüht: „Ich helfe mir schon selbst. Geht, gute Leute“ (NA, 10, 210, 1846). Doch Friesshardt ist so aufgebracht, dass er weiter um Hilfe schreit; ein Ruf, der schnell erhört wird. Geßler tritt mit einem Gefolge bewaffneter Knechte auf. Wenn man den Theaterpraktiker Schiller diskutiert, dann wäre Geßlers Auftritt zu Pferde, den Schiller in einem Brief an Iffland als essenziell erachtet, ebenfalls bemerkenswert.17 Es ist das erste Mal seit den Räubern, dass Schiller Pferde auftreten lässt, was theaterpraktisch bekanntlich schwierig umzusetzen ist.18 Fokussiert man jedoch die Bewegungsregie der auftretenden Figuren, dann kann zwar keine definitive Aussage über die konkrete Figurenanordnung gemacht werden, doch ergibt sich eigentlich nur eine logische Anordnung, wenn man den Theater- und Aufführungsbezug mitdenkt: Wilhelm Tell, Walther Tell, Friesshardt und Leuthold stehen umschlossen von den Schweizern, während die Schweizer ihrerseits von den bewaffneten Knechten Geßlers umschlossen werden. Es bilden sich also zwei konzentrische Kreise, in deren Mitte Tell steht. Lothar Pikulik hat in seiner Studie über Schiller und das Theater daran erinnert, dass Schillers Dramen eine bemerkenswerte Raumkomposition aufweisen.19

17 „Auch muß ich bitten, daß ich Geßlern einmal zu Pferd auf die Bühne bringen kann. Er ist auf allen Kupfern, wo der Schuß nach dem Apfel dargestellt ist, zu Pferde sitzend abgebildet, auch dient mir dieses zu wesentlichen Zwecken der Darstellung in dieser Scene.“ Schiller an Iffland am 5. August 1803; NA, 10, 371. 18 Petersen klagt in seiner Studie über die Theatermode um 1800, Tiere auf die Bühne zu bringen, weil dies lediglich um des Effektes willen geschehe. Über Wilhelm Tell sagt Petersen dennoch: „Wenn Schiller im Tell zum ersten Mal seit den Räubern wieder Pferde auf die Bühne brachte, so haben wir das nicht als Nachgiebigkeit gegen die Mode aufzufassen, wenngleich die Mode diesen Luxus nur ermöglichte. Hier war er künstlerisch berechtigt, denn wie viel eindrucksvoller wird der rasche Tod Gesslers, wenn der Tyrann noch eben stolz zu Rosse das knieende Bauernweib in den Staub trat.“ Petersen: Schiller und die Bühne, S. 258. 19 Pikulik, Lothar: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Hildesheim, Zürich u. New York 2007, S. 140–142.

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Dass die konkret räumliche Realisation der Apfelschuss-Szene meines Wissens bislang in der Schiller-Forschung noch nicht genauer betrachtet wurde, mag wegen ihrer auffälligen Dramaturgie überraschen. Die Auftritts- und Raumregie in der Apfelschuss-Szene scheint mir sowohl für den Spannungsbogen als auch für das Arrangement zum Apfelschuss entscheidend zu sein. In dieser Massenszene richtet sich der Blickfokus nun auf den Dialog zwischen Geßler und Tell. Wollte man theaterpraktisch argumentieren, dann müssten sich die beiden Kreise zu zwei Halbkreisen öffnen, damit Geßler und Tell Blickkontakt aufbauen können. Freilich bleibt dies spekulativ; Hinweise im Text finden sich hierzu nicht. Mit Blick auf die szenische Realisation wäre diese Anordnung aber naheliegend. Auf eine genaue Analyse des Dialogs zwischen Tell und Geßler verzichte ich an dieser Stelle. Zwei Dinge möchte ich gleichwohl hervorheben: Erstens schweigt Geßler nach Tells Entschuldigung, dass er aus „Unbedacht“ (NA, 10, 212, 1870) den Hut nicht gegrüßt habe, und seiner Bitte um Gnade zunächst. Danach hebt er mit einem neuen Thema an, wenn er konstatiert, dass Tell „ein Meister auf der Armbrust“ (NA, 10, 212, 1874–1875; das folgende Zitat ebd.) sei und fragt: „Man sagt, du nehmst es auf mit jedem Schützen?“ Damit deutet Geßler bereits den Apfelschuss als mögliche Aufgabe an und koppelt ihn an die sich im Umlauf befindlichen Heldenerzählungen, indem er auf nicht näher spezifizierte kursierende Erzählungen verweist. Zweitens findet das Gespräch an einem öffentlichen Ort mit zahlreichen Zeugen statt. Die Öffentlichkeit scheint Geßler nutzen zu wollen, um Tell zu entmystifizieren. Möglicherweise fordert er auch deswegen die unverhältnismäßige Tat: Wenn Tell handlungsunfähig gemacht wird, entsteht eine Diskrepanz zwischen den kursierenden Heldenerzählungen und den faktischen Taten. Geßler will Tell auf der Wiese bei Altorf als Handlungsunfähigen vorführen, um seinen Heldenstatus als narrativ geformt zu entlarven.20 Als Geßler die Prüfung formuliert hat, reagieren die Umstehen mit „Zeichen des Schreckens“ (NA, 10, 213, nach 1889). Freilich ist auch Tell entsetzt. Seine innere Notlage wird über den Nebentext veranschaulicht: Tell „spannt die Armbrust und legt den Pfeil auf“ (NA, 10, 216, nach 1979). Im nächsten Augenblick „läßt [er] die Armbrust sinken“ (NA, 10, 216, nach 1982) und ihm wird schwindelig. Schließlich steht Tell „in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend, und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet“ (NA, 10, 217, nach 1990). Die spontane Rettungstat des ersten Aufzugs, wo er Baumgarten in einer waghalsigen Aktion über den vom Sturm aufgewühlten

20 Vgl. hierzu bereits Boyken: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben“, S. 345–346.

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Vierwaldstättersee schiffte, ist für Tell nicht mehr möglich. Die Handlungsunfähigkeit resultiert mutmaßlich daraus, dass Geßler Tells Vaterrolle instrumentalisiert. Tell gefährdet jetzt nicht mehr nur sein eigenes Leben – wie bei der Rettung Baumgartens – , sondern auch das Leben seines Sohnes. Als Tell erneut anlegt, tritt Rudenz aus der Gruppe der Umstehenden hervor und spricht Geßler direkt an. Mit dieser Rede setzt eine subtile Fokusverschiebung ein: Nicht mehr Tells Ringen um den Schuss steht im Zentrum, sondern Rudenz’ Versuch, den Apfelschuss zu verhindern. Weder der Haupt- noch Nebentext geben Informationen über Tell und sein derzeitiges Handeln. Tell und sein Dilemma werden über immerhin vierzig Verse nicht mehr erwähnt. Hingegen geht es um die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Prüfung. Wenn man die Figurenanordnung im Raum bedenkt, dann wäre es plausibel anzunehmen, dass Rudenz nicht nur sprachlich den Fokus auf sich und Geßler zieht, sondern auch körperlich. Dass Tell in den Folgeversen nicht mehr erwähnt wird, verweist möglicherweise darauf, dass er auch nicht mehr zu sehen ist. Rudenz verdeckt die Sicht auf Tell, Tell und sein Sohn werden auf die Hinterbühne verdrängt, während sich auf der Vorderbühne der Streit zwischen Rudenz und Geßler anbahnt. Erst als Rudenz selbst zum Schwert greifen will, geht der Blick der Szene zurück zu Tell. Der nachgeschobene Nebentext macht deutlich, dass es sich um eine Fokusverschiebung handelt.21 Der Schuss wird im Sinne eines größtmöglichen Spannungsaufbaus für den Leser nachgereicht. Der Zuschauer der Dramenhandlung bekommt den Schuss nur in vermittelter Variante über die Reaktion von Stauffacher zu sehen.22 Während auf der Vorderbühne der Dialog zwischen Rudenz und Geßler stattfindet, hat Tell auf der Hinterbühne seinem Sohn den Apfel vom Kopf geschossen. Stauffacher kann ja nur feststellen, dass der Apfel gefallen ist, wenn der Schuss schon erfolgte. Dass diese Reihenfolge, so irritierend sie zunächst auch scheinen mag, weder zufällig noch ein Fehler oder Versehen ist, habe

21 Freilich kann man auch narratologisches Vokabular bemühen. Mit dem Konzept der Fokalisierung wäre das von mir skizzierte Phänomen gewiss zu beschreiben. Zur Anwendbarkeit und Produktivität einer transgenerischen Narratologie vgl. die einschlägigen Studien von Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003; Lipinski, Birte: Romane auf der Bühne. Form und Funktion von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater. Tübingen 2014; neuerdings auch Weber, Alexander: Episierung im Drama. Ein Drama zur transgenerischen Narratologie. Berlin u. Boston 2017. 22 Ich möchte betonen, dass sich diese Szene gewiss auch anders inszenieren lässt. Wenn man aber dem Dramentext folgt, scheint mir die hier entwickelte Variante die im Text angelegte Aufführung zu sein.

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ich eingangs bereits erläutert.23 Mit Blick auf die Parallelstelle in der schmalen Gasse bei Küßnacht und in Anbetracht des zweiten Nebentextes, der in der Vergangenheitsform steht, halte ich es für plausibel, dass die Anordnung und die Tempusverwendung sinnhaft eingesetzt werden. Insofern ist es evident, und man könnte dies auch mit der Figurenanordnung auf der Bühne argumentieren, dass der Apfelschuss nicht gezeigt wird. Im Dramentext wird er narrativ nachgereicht, eine präsentische Anzeige der Handlung erfolgt nicht. Wenn der effektvolle Höhepunkt der Szene verdeckt bleibt, rücken die emotiven Folgen des Schusses ins Zentrum. Und hier ist es dann wieder die Bewegungsregie, die wichtig wird: „Walther Fürst schwankt und droht zu sinken“ (NA, 10, 219, nach 2032), während Walther Tell „mit dem Apfel gesprungen“ (NA, 10, 219, nach 2034) kommt. Hier ist aber auch die zweite, irritierende Formulierung zu finden: „Tell stand mit vorgebognem Leib, als wollt’ er dem Pfeil folgen“ (NA, 10, 219, nach 2036). Auch die Körperhaltung, die stellvertretend als Schuss gedeutet werden kann, wird in Vergangenheitsform präsentiert. Selbst die Aktion ist nicht mehr im Körper sichtbar: Der Oberkörper hat die Flugbahn beschrieben, jetzt fällt die Armbrust aus der Hand und Tell in Ohnmacht. Nimmt man das Präteritum an dieser Stelle ernst, so ist Tell erst zu sehen, wenn er die Armbrust aus der Hand sinken lässt, da das Präteritum Ereignisse anzeigt, die in der Vergangenheit abgeschlossen wurden und keinen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart besitzen.

3 „[E]dle Simplicität“ und „ruhige, gehaltne Kraft“ – die mythische Ebene Aufgrund der Tempusform und der Anordnung von Haupt- und Nebentext ist es plausibel, dass Tell eigentlich gar nicht in seiner Lähmung zu sehen ist. Insofern entwickelt die explizite Regiebemerkung im Präteritum eine eigentümliche Paradoxie: Einerseits wird Tells statuenhafte Erstarrung dem Blick entzogen,

23 Petersen führt die unkonventionelle Reihenfolge von direkter und indirekter Regiebemerkung auf Ungenauigkeit zurück: „Übrigens pflegt nicht nur der Beleuchtungsinspizient zu späte Angaben zu erhalten; dieselbe Regel gilt auch für alle anderen Vorgänge, die hinter der Szene in die Handlung eingreifen. Schiller legt darin manchmal so wenig Wert auf Genauigkeit, dass er die indirekte Anweisung vor die direkte setzt, das heißt die Personen hören etwas, ehe es eingetreten ist.“ Petersen: Schiller und die Bühne, S. 207.

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andererseits wird sie (im dramatischen Text) betont. Auf Basis dieser Beobachtung schlage ich vor, die Apfelschuss-Szene im Lichte Laokoons zu deuten.24 Wenn man behauptet, dass die Tell-Figur in ihrer Anlage auf Laokoon zurückgeht, kann man Schiller selbst als Gewährsmann anführen. In dem bereits zitierten Brief an Karl Schwarz weist Schiller bei der Beschreibung der schauspielerischen Umsetzung nur oberflächlich verkappt auf Johann Joachim Winckelmann hin, indem die berühmte Maxime von „edle[r] Einfalt“25 und „stille[r] Grösse“ leicht modifiziert für die Tell-Figur in Anschlag gebracht wird. Schiller charakterisiert Tell ganz im Lichte von Winckelmanns Griechenvorstellung: „Die Rolle erklärt sich selbst: eine edle Simplicität, eine ruhige, gehaltne Kraft ist der Charakter [. . .], durchaus eine edle schlichte Manneswürde.“26 Wie Winckelmann in seiner bekannten Betrachtung der Laokoon-Gruppe eine „edle Einfalt“ und „stille Grösse“ erkennt, attestiert Schiller seinem Protagonisten eine „edle Simplicität“ und „eine ruhige, gehaltne Kraft“. Auffällig ist ferner, dass Schiller in seinen dramentheoretischen Schriften immer wieder auf Laokoon eingeht. Dabei ergeben sich erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Schillers Laokoon-Rezeption und der Figurenanlage des Wilhelm Tell: In Auseinandersetzung mit Winckelmanns Laokoon-Beschreibung und der Aeneis des Vergil plädiert Schiller für einen existenziell leidenden Protagonisten in der Tragödie. Schiller führt in Ueber das Pathetische aus, dass Erhabenheit und Pathos in der literarischen Darstellung durch die „E rt r ag u ng“ (NA, 20, 198) des Leidens „bey allem Gefühl für dasselbe“ (ebd.), entstehe. Allerdings sei „nie das Leiden an sich, nur der Widerstand gegen das Leiden pathetisch und der Darstellung würdig“ (NA, 20, 201). Der Widerhall dieser Vorstellung findet sich in den bereits zitierten Regiebemerkungen, die Tells Reaktion auf Geßlers Befehl anzeigen. Nicht das Leid oder der Schock werden zum Ausdruck gebracht, sondern Tells Widerstand gegen das Leiden, wenn insbesondere der „fürchterliche[] Kampf“ (NA, 10, 217, nach 1990), in dem sich Tell

24 Im Rahmen meiner Dissertation habe ich diese Lesart bereits vorgeschlagen. Vgl. Boyken: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben“, S. 349–353. Im vorliegenden Beitrag greife ich auf wesentliche Argumente zurück, erweitere die hier vorgelegte Argumentation aber um zusätzliche Belege und einen ergänzenden Deutungsschritt. 25 Die bekannte Stelle lautet vollständig: „Das allgemeine und vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesezte Seele.“ Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage. Dresden u. Leipzig 1756, S. 21. 26 Brief an Karl Schwarz am 24. März 1804; NA, 32, 118.

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befindet, hervorgehoben wird. Insofern verwundert es nicht, dass Schiller in seiner Deutung der Laokoon-Gruppe zu einem Schluss kommt, der an die Darstellung Tells in der Apfelschuss-Szene erinnert, eben weil Schiller die Vaterrolle Laokoons betont: In was für einem Moment auch die Schlangen ihn [Laokoon] ergriffen haben möchten, es würde uns immer bewegt und erschüttert haben. Daß es aber gerade in dem Momente geschieht, wo er als Vater uns achtungswürdig wird, daß sein Untergang gleichsam als unmittelbare Folge der erfüllten Vaterpflicht, der zärtlichen Bekümmerniß für seine Kinder vorgestellt wird – dieß entflammt unsre Theilnahme aufs höchste. Er ist es jetzt gleichsam selbst, der sich aus freyer Wahl dem Verderben hingiebt, und sein Tod wird eine Willenshandlung. (NA, 20, 210)

Für Schillers Konzeption von Pathos und Erhabenheit, die sich an diese Passage anschließt, wurde immer wieder auf die Bedeutung des erhabenen Widerstands gegen das erlebte Leid hingewiesen.27 Dass Schillers Laokoon-Deutung jedoch die Vaterrolle hervorhebt und damit eine Verbindung zu Tells Lage herstellt, wurde bislang nicht erörtert. Die Parallelführung von Vaterrolle und Leiderfahrung potenziert die Tragik und Brisanz von Tells Situation und macht sie mit der Laokoons vergleichbar. Tells psychisches Dilemma wird im Nebentext durch drastische Worte bebildert: Das An- und Ablegen der Armbrust, das Aufreißen seiner Brustkleider, seine zuckenden Hände und rollenden Augen erweisen sich als paradigmatische Umsetzung einer pathetisch-erhabenen Szene, in der der Widerstand gegen das Erleiden von äußerer Gewalt visualisiert wird. Man kann sich über den Nebentext, der Tells Gestik und Mimik beschreibt, an die bekannte Laokoon-Gruppe erinnert fühlen.28 Es könnten zudem noch weitere Textstellen herangezogen werden, die eine Analogie zwischen Tell und Laokoon über Schillers Konzept des Pathetischen plausibilisieren (vgl. NA, 20, 196). Im Lichte von Schillers Laokoon-Deutung wäre Tell also ein leidender Held, der sich in einer existenziell ausweglosen Situation befindet, dem aber die glückliche Lösung in einem erhabenen Akt gelingt. Dies wird auf Figurenebene übrigens von Stauffacher als „männlich[e]“ (NA, 10, 220, 2046–2047) Lösung bezeichnet und scheint mir nicht unwesentlich, denn mit Winckelmanns

27 Vgl. Alt: Schiller, S. 93 oder Riedel, Wolfgang: „Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller“. In: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Hg. v. Georg Bollenbeck u. Lothar Ehrlich. Köln, Weimar u. Wien 2007, 59–71. Riedel macht auf die stoizistische Tradition von Schillers Erhabenheitskonzept aufmerksam und gibt die daran angeschlossene Entkopplung von moralischen Implikationen zu bedenken. 28 Dies gilt vor allem für den zum Himmel gerichteten Blick und die rollenden Augen.

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Ästhetik ist eine normative Männlichkeitsvorstellung verbunden, die sich auch in Schillers Dramen realisiert.29 Im Vergleich zu Laokoon kommt es bei Wilhelm Tell aber zu einer maßgeblichen Verschiebung: Tell gefährdet durch sein Handeln nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben seines Sohnes. Mit der Verschiebung, dass sich der Vater nicht nur mit seinem Tod und dem des Sohnes abfindet, sondern das Leben des Sohnes aktiv durch sein eigenes Handeln riskiert, bekommt Tells männliche Erhabenheit eine moralische Schieflage. Für den autonom Handelnden besteht jedoch keine andere Möglichkeit als zu schießen. Geßler erkennt die Bruchstelle, die sich zwischen Vater und autonom Handelndem auftut, und will Tell mit dieser unmöglichen Aufgabe entmystifizieren. Allerdings könnte in Geßlers Versuchsanordnung der Grund liegen, warum der Apfelschuss nicht gezeigt wird. Zum einen wird rezeptionsästhetisch der Schwerpunkt auf die Lust am Leiden gelegt: Nicht der Schuss, sondern das Ringen um den Schuss wird dargestellt. Dies wird zudem mit der Vaterrolle gekoppelt. Tell kommt überhaupt nur in diese Notlage, weil er ein liebevoller Vater ist. Für diese These kann Ernestine Voss’ Bericht über die Uraufführung angeführt werden: Ich saß in Schillers Loge neben ihm, und ich sah in seinem unbeschreiblich heitern Gesicht, wie jedes Gelungene in der Aufführung und jeder Beifall, der dem Dichter galt, auf ihn wirkte; besonders die Szene mit dem Apfel, welche von Vater und Kind so gegeben ward, daß jeder Zuschauer von der Angst ergriffen ward, als ob er Wirklichkeit vor sich sähe. Auch ich mußte ihm die Hand reichen, die er mir herzlich drückte.30

Die Aufführung scheint einen wirklichkeitskonstituierenden Effekt entwickelt zu haben. Dies scheint die Grundlage für das Mitleiden der Zuschauer. Wie man mit dem Vater Laokoon leidet, so leidet man mit dem Vater Tell. Mit Blick auf die dargestellte Handlung (also: die fiktive Welt) erweist sich Tell zum anderen als autonomer Einzelner.31 Dass er den Tumult nicht nutzt, um mit seinem Sohn zu fliehen, sondern von allen unbemerkt auf den Apfel schießt, beweist seine Außergewöhnlichkeit, die aber eine moralische Ambivalenz offenlegt. Man könnte erneut Schillers Dramenpoetik hinzuziehen und

29 Zu der Verbindung von Winckelmanns Konstruktion der griechischen Antike und einer normativen Männlichkeitsvorstellung vgl. Boyken, Thomas: „‚An die Rippen pocht das Männerherz‘. Imaginationen des Männlichen in Schillers Lyrik“. In: Schillers Lyrik. Beiträge des Weimarer Schillervereins. Hg. v. Nikolas Immer u. Silke Henke. Weimar 2012, 57–80. 30 Schmidt, Josef: Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1995 [1969], S. 78. Für den Hinweis auf diesen Bericht danke ich Nikolas Immer. 31 Vgl. Immer, Nikolas: Der inszenierte Held. Schillers dramentheoretische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 412–413.

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behaupten, dass es ästhetisch hier weniger ausschlaggebend ist, wie die Figur handelt. Wesentlich ist hingegen, dass sie handelt, genauer: dass sie zum Handeln fähig ist. Da es sich aber nicht um die „Darstellung der moralischen Selbstständigkeit im Leiden“ (NA, 20, 195) handelt, sondern um den Ausweg aus einer Situation, der nur mit einer moralischen Ambivalenz erkauft wird, wird der Apfelschuss möglicherweise nicht dargestellt.32 Nach dem erfolgreichen Schuss und seiner kurzen Ohnmacht präsentiert sich Tell erneut als „Mann edle[r] Einfalt, und [. . .] stille[r] Grösse“.33 Als er gefesselt wird, bleibt er ruhig, während sich die anderen Altdorfer empören. Er erträgt stumm den Befehl Geßlers, ihn festzunehmen. Von Stauffacher angesprochen, setzt Tell die erhabene Selbstbeherrschung als normatives Handlungsideal für alle Umstehenden: „Bezwinge sich, wer meinen Schmerz gefühlt!“ (NA, 10, 222, 2089) Tells Aufforderung, seine eigene Schweigsamkeit und sein Handeln verweisen in dieser Szene auf das Winckelmann’sche Vorbild. Gleichzeitig eröffnet sich mit dieser Deutung eine Mythosaneignung, die über den Nebentext dezent aus dem Sichtfeld des Zuschauers geschoben wird. Wie das antike Orakel und seine Metaphysik in Wallenstein ins Feld der Politik verschoben wird, wird das Mythologische in Wilhelm Tell auf die Hinterbühne verschoben.

4 Schiller, der Theaterpraktiker? Schlussbemerkungen Bei meiner Lesart der Apfelschuss-Szene bin ich zunächst vom ungewöhnlichen Tempus des Nebentextes ausgegangen. Dass in Schillers dramatischem Werk noch weitere Nebentexte zu finden sind, die in der Vergangenheitsform stehen, ist wenig überraschend. Für Wilhelm Tell wären insgesamt vier Passagen zu nennen (NA, 10, 174, nach 985; 191, nach 1443; 195, nach 1512; 241, nach 2499). Allerdings handelt es sich hierbei um Nebentexte, die weder Leser noch Zuschauer vor Probleme der zeitlichen und logischen Abfolge stellen. Es gibt in den anderen Dramen Schillers Nebentexte, die aufgrund des verwendeten Tempus Irritationen hervorrufen müssten und damit eine vergleichbare mythologische Operation durchführen. In Die Jungfrau von Orleans endet 32 Zu Schillers Tragödientheorie im Kontext des moral sense und der daraus resultierenden Spannung vgl. Alt, Peter-André: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 40–41. 33 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung, S. 21.

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der elfte Auftritt des fünften Aufzugs mit dem berühmten Kettensprengen der Johanna. Inhaltlich und strukturell ist diese Szene durchaus mit der ApfelschussSzene in Wilhelm Tell vergleichbar. In Die Jungfrau von Orleans ist im Nebentext ebenfalls eine seltsame Verschränkung von Perfekt und Präsens festzustellen, wenn es heißt: „Sie hat ihre Ketten mit beiden Händen kraftvoll gefaßt und zerrissen. In demselben Augenblick stürzt sie sich auf den nächststehenden Soldaten, entreißt ihm sein Schwert und eilt hinaus. Alle sehen ihr mit starrem Erstaunen nach.“ (NA, 9, 311, nach 3481) Wie bei Wilhelm Tell liegt hier eine Kernszene vor und wie bei Schillers Eidgenossen-Drama erfolgt die Informationsvergabe über eine außerordentliche Tat im Perfekt.34 Die explizite Regiebemerkung stellt die zeitliche Parallelität der Handlungen heraus, die aber durch die verschiedenen Tempora fragwürdig erscheint: Wie kann sich Johanna in „demselben Augenblick“ von den Ketten befreien und dem Soldaten das Schwert entwenden? Vielmehr müssen zuvor die Ketten gesprengt werden, danach kann sie den Gegner überwältigen. Diese zeitliche Abfolge wird über das Perfekt und das Präsens angezeigt. Lediglich für die anwesenden Figuren erscheint es, als ob all dies zeitlich parallel stattfindet. Es stellt sich aber auch hier die Frage, ob das Kettensprengen überhaupt dargestellt wird oder ob man nur sieht, dass Johanna den Soldaten überwältigt und davonläuft. In diesem Fall würde die Aspektseite des Perfekts dominieren, also die Ausdehnung des beschriebenen Ereignisses in Relation zum Betrachtungszeitraum: Die Befreiung von den Ketten ist der für die Gegenwart relevante Resultatzustand einer in der Vergangenheit liegenden Handlung, die aber nicht notwendigerweise zeitlich parallel stattfinden und auch nicht dargestellt werden muss, da das Kettensprengen Voraussetzung für die Bewaffnung und Flucht ist. Eine übermenschliche Tat wird dem Blick entzogen. Dass es auch hier – wie in der Apfelschuss-Szene – die staunende Masse gibt, die als Zeuge fungiert, ohne tatsächlich Augenzeuge zu sein, scheint mir für die Verschiebung des Mythos auf die Hinterbühne bei Schiller essenziell. Inwiefern noch weitere Passagen in Schillers Dramen ausfindig zu machen sind, die die hier vorgeschlagene Deutung einer mythologischen Operation unterstützen, wäre separat zu prüfen. Differenzierter – und unabhängig von Schillers Funktionalisierung des Nebentextes – bleibt meines Erachtens der Einsatz der Zeitformen in den Regiebemerkungen zu erörtern. Schiller besitzt zweifelsohne ein bemerkenswertes Gespür für theatrale Effekte. In Maria Stuart bleibt Leicester bekanntlich allein im Zimmer. Er kann der Hinrichtung nicht beiwohnen (vgl. NA, 9, 155, 3839–156, 3875). Als er zu

34 Die latente Verbindung zwischen Johanna und Tell erörtert auch Alt, indem er auf vergleichbare Gemütszustände der Figuren hinweist; vgl. Alt: Schiller, S. 581–582.

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seinem Schrecken bemerkt, dass er in dem Raum, in dem er sich befindet, die Hinrichtung hören kann, will er möglichst rasch entfliehen. Jedoch findet er die Tür, durch die er wenige Szenen zuvor noch ohne Probleme hineinspazieren konnte, jetzt verschlossen vor. Der Zweck dieser verschlossenen Tür liegt auf der Hand: Leicester muss im Zimmer bleiben, um Maria Stuarts Hinrichtung als eine Art Live-Reporter zu präsentieren. Mittels des eindringlichen Hörberichts vermeidet es Schiller einerseits, Theaterkonventionen zu brechen.35 Andererseits wird der Schrecken der Hinrichtung durch diese Sonderform der Teichoskopie potenziert. Das Grauen wird über den Hörbericht in den Vorstellungsbereich der Zuschauer verschoben. Wer aber die Tür, durch die Leicester zuvor noch eintreten konnte, verschlossen hat, wird nicht geklärt. Wegen solcher Effekte mag Friedrich Dürrenmatt zu folgender Einschätzung gekommen sein: [Schiller weiß] aufs genauste Bescheid über alle Regeln, Kniffe, Möglichkeiten, man staunt da nur, wie versteht er nur zu exponieren, einzuteilen, zu steigern, zu retardieren, die Abgänge und Aufgänge zu gestalten, Schlusspointen zu setzen [. . .], was sind das nur für letzte Verdichtungen, wie setzt er aber auch Effekte ein, oft unbedenklich, Hollywood könnte es nicht besser und dicker.36

Den Apfelschuss, das würde ich jedoch behaupten, hätte Hollywood genüsslich und in aller Ausführlichkeit in Szene gesetzt, wahrscheinlich sogar in Superzeitlupe, aus der Perspektive des Pfeils. Dass Schiller eine andere Art der Darstellung wählt, mag weniger der theaterpraktischen Umsetzung als vielmehr der Kunstform Drama geschuldet sein. Auch weil Schiller sich in seinen Dramen meist als Theaterpraktiker erweist, dürfte die Beachtung der Stellen, die sich der theaterpraktischen Realisation widersetzen, besonders ertragreich sein. Schillers Schauspiel Wilhelm Tell ist eben doch kein Hollywoodfilm.

35 Zum Begriff „Hörbericht“ vgl. Boyken: „So will ich dir ein männlich Beispiel geben“, S. 110, 258. 36 Dürrenmatt, Friedrich: „Friedrich Schiller“. In: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte, Reden. Hg. v. Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1998, 82–102, S. 87–88.

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Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller Im vorliegenden Beitrag handelt es sich um die Wiederaufnahme, Vertiefung und Erweiterung von Gedankengängen aus meiner Dissertation zu Schillers früher dramatischer Wirkungspoetik.1 Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei der im Frühwerk entwickelten Liebes- und Freundschaftsphilosophie um einen Schlüssel für das Verständnis von Schillers Theaterpraxis2 handelt. Dieses Verständnis ist alles andere als selbstverständlich, zeichnet sich Schillers Werk doch durch Heterogenität und Hybridität aus. Es soll im Folgenden aber nicht darum gehen, diese Komplexität im klassisch-hermeneutischen Sinnhomogenisierungsstil auf eine Einheit in Schillers Werk zu reduzieren, sondern das Funktionieren von Schillers Theaterpraxis vor dem Horizont seiner Jugendphilosophie aufzuzeigen. Diese Jugendphilosophie, bei der es sich grosso modo um eine theosophische Liebesphilosophie handelt, zeichnet sich durch eine Multifunktionalität im Hinblick auf das literarische Werk im Allgemeinen und das Dramenwerk im Besonderen aus. Die (theosophische) Liebesphilosophie hat neben der semantischen Funktion als Bedeutungs- und Sinnhorizont für die Dramenhandlungen auch eine poetologische Funktion als dramaturgisches Prinzip. Kommunikationstheoretisch gesprochen: Schillers Liebesphilosophie ist Bestandteil des inneren wie auch des äußeren Kommunikationssystems des Dramas, das heißt sowohl der sprachlich (im schriftlichen Dramentext) und physisch (in der Bühnenaufführung) evozierten fiktiven Dramenwelt als auch der durch das Verhältnis zwischen Dichter und Rezipienten bestimmten wirklichen Welt. Die Multifunktionalität der Liebesphilosophie macht die begrifflich-konzeptionelle Grenze zwischen Philosophie und Poesie durchlässig: Die dramatische Wirkungspoetik hat einen liebesphilosophischen Überbau, und die Liebesphilosophie birgt ihrerseits bereits ein wirkungsästhetisches Potenzial. Pointiert könnte man sagen, dass Schillers Theaterpraxis immer auch eine philosophische Praxis ist – und umgekehrt.

1 Vgl. Gschwind, Christoph: Die dramatische Wirkungspoetik im Frühwerk Schillers. Eine analytische Annäherung an das Konzept des Ideendichters. Berlin u. Boston 2017. 2 Unter „Theaterpraxis“ fasse ich hier und im Folgenden sowohl die schriftlich fixierten als auch die auf der Bühne physisch realisierten Dramentexte Schillers. https://doi.org/10.1515/9783110667066-014

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Diese Durchlässigkeit ist schon fast symptomatisch für Schillers Frühwerk. Bezeichnend dafür ist die erste Dissertation Philosophie der Physiologie, an deren Titel sich die Verquickung zweier Disziplinen direkt ablesen lässt. Dabei ist es müßig, nach Huhn oder Ei zu fragen oder einzelne Disziplinen und die an sie gekoppelten sprachlichen Stilregister gegeneinander auszuspielen. Mit größerem Erkenntnisgewinn ist von einer Rekursivität zwischen Philosophie und Physiologie oder Philosophie und Poesie auszugehen, die sich trotz zunehmender terminologischer Ausdifferenzierung und Systematisierung auch noch im nachkantischen, klassischen Spätwerk zeigt, bekanntermaßen in der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793–1795). Für Schiller greifen die verschiedenen Disziplinen und ihre originären Denkmodi ineinander, und deshalb stellt etwa der poetische Modus in wissenschaftlichen Texten3 – und umgekehrt – für ihn auch kein Problem dar. Die inhaltliche Durchlässigkeit zeigt sich in der unterschiedlichen gattungspoetischen Realisierung der Liebesphilosophie einerseits in epischen Texten (Philosophische Briefe, Der Geisterseher, Der Spaziergang), lyrischen Texten (die Laura-Gedichte in der Anthologie auf das Jahr 1782), dramatischen Texten (besonders ausgeprägt in Kabale und Liebe, ansatzweise auch in den Räubern, im Fiesko und im Don Karlos), in philosophischen Texten (Philosophie der Physiologie, Die Tugend in ihren Folgen betrachtet) und dramenpoetischen Texten (in den theatertheoretischen Reden Über das teutsche Theater und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? sowie im Bauerbacher Brief). Natürlich bedeuten die Hybridität der Textformen und die Flexibilität im Umgang mit den verschiedenen Inhalten, Stilregistern und Denkmodi noch kein anything goes, sodass immer noch sinnvoll nach einem Zusammenspiel zwischen diesen gefragt werden kann. Und auch beim Romanfragment Philosophische Briefe, das so etwas wie den Archimedischen Punkt von Schillers Jugendphilosophie darstellt, handelt es sich um eine Mischform in Bezug auf die Aussagelogik (ein Text mit faktualen und fiktionalen Elementen), die Gattungspoetologie (ein epischer Text in dramatischem Modus mit lyrischen Einschüben) und die Textsorte (ein poetischer und philosophischer Text). Ich lege den Fokus im Folgenden im Sinne des Themas dieses Bandes auf das Zusammenspiel von metaphysischer Liebesphilosophie und dramatischer

3 Vgl. Anderegg, Johannes: Leseübungen. Kritischer Umgang mit Texten des 18. bis 20. Jahrhunderts. Göttingen 1970, S. 70–82; Koopmann, Helmut: „Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), 218–250; Hinderer, Walter: „Versuch über die Schreibweise der offenen Denkform. Anmerkungen zu Schillers Philosophischen Briefen und Kallias, oder über die Schönheit“. In: „Ein Aggregat von Bruchstücken“. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers. Hg. v. Jörg Robert. Würzburg 2013, 161–181.

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Wirkungspoetik und tue dies anhand von vier Schritten. Erstens wird der Inhalt der theosophischen Liebesphilosophie so knapp wie möglich, aber so umfassend wie für die folgenden Ausführungen nötig erläutert. Zweitens wird die semantische Funktion der Liebesphilosophie als inhaltlicher Referenzrahmen für die frühen Dramen Schillers anhand einiger Schlaglichter auf das frühe Dramenwerk illustriert. Drittens wird die poetologische Dimension der Liebesphilosophie als wirkungsästhetisches Prinzip sowohl an dramatischen Metatexten als auch an dramatischen Primärtexten aufgezeigt. Viertens und abschließend soll das Schauspiel Wilhelm Tell unter der bis dahin gewonnen Perspektivierung beleuchtet werden. Dabei bildet das Verhältnis zwischen dem inneren Kommunikationssystem zwischen den Dramenfiguren und dem äußeren Kommunikationssystem zwischen dem Autor Schiller, seinem Dramenwerk und den Rezipienten den Rahmen der Analyse, die selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, aber wenigstens Denkanstöße für die Frage nach Schillers Theaterpraxis geben soll. Im Vordergrund steht ein Vergleich zwischen den beiden Geschichtsdramen Don Karlos und Wilhelm Tell, also zwischen dem Schwellentext, dessen Genese mit Schillers Übergang von der Früh- in die Spätphase einhergeht, und seinem letzten vollendeten Drama. Wie sich zeigen wird, liegt der heuristische Wert dieses Vergleichs in der thematischen Konvergenz bei gleichzeitiger dramaturgischer, das heißt hier visuell-epistemologischer Divergenz.

1 Die Liebesphilosophie Wie oben bereits angedeutet, wird Schillers frühe Liebesphilosophie in verschiedenen Texten unterschiedlicher Textsorten entfaltet. Die zentralen Theoreme finden sich im Traktat „Theosophie des Julius“ (NA, 20, 115), der als „verlorene[r] Aufsaz“ (ebd.) in das Briefroman-Fragment Philosophische Briefe integriert ist, der ersten Dissertation Philosophie der Physiologie (1779) sowie der Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet (1780). Die theosophische Liebesphilosophie ist ein Konvolut aus verschiedenen philosophischen und anthropologischen Strömungen4 wie dem Neuplatonismus, der Physikotheologie,5 der Hermetik oder der Emanationslehre. Die zentrale

4 Zum anthropologischen Horizont der Liebesphilosophie vgl. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985. 5 Zur physikotheologischen Dimension vgl. Stachel, Thomas: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010, S. 44–52.

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Idee besteht darin, dass es sich bei der Natur um ein Abbild eines sich vereinzelten Gottes handle und der Mensch danach strebe, die Vereinzelung wieder auf die göttliche Einheit zurückzuführen. Der Vereinzelung Gottes korrespondiert demnach die Vereinzelung des Menschen, der sich durch ein geliebtes Gegenüber wieder zu komplettieren sucht. Die Liebe ist dabei das Vehikel, mit dem die „Mannichfaltigkeit“ (NA, 20, 121; die folgenden Zitate ebd.) der Natur wieder in die „große Einheit“ überführt, sprich: Gott hervorgebracht werden kann. Ihr kommt ein reflexives und kumulatives Moment zu: Einerseits führt sie zur Selbstbespiegelung in der Anschauung des Gegenübers, andererseits bewirkt sie eine Selbsterweiterung durch die Aneignung fremder Eigenschaften: „Mit Wohlgefallen erkenne ich meine Empfindungen wieder in dem Spiegel der deinigen, aber mit feuriger Sehnsucht verschlinge ich die höheren, die mir mangeln.“ In der zweiten Karlsschulrede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet konkretisiert Schiller das kumulative und reflexive Moment noch: So kann die Wissenschaft des Einen in die Seele des Andern fliessen; So kann der rohe Gedanke des Einen durch die schärfere Denkkraft des Andern verfeinert werden. [. . .] So kann das Jugendliche Feuer eines brausenden Geists durch den bedachtsamern Ernst des reifern Manns milder und mäsiger werden. [. . .] So kann sich Seele in Seele spiegeln. (NA, 20, 33)

Hier klingt deutlich die neuplatonische Vorstellung des Menschen als Mängelwesen an, das seit der Vereinzelung nach der anderen Hälfte sucht. Von der Mangelempfindung nimmt Schiller auch Gott nicht aus: „Freundlos war der große Weltenmeister, / fühlte Mangel, darum schuf er Geister, / sel’ge Spiegel s e i ne r Seligkeit.“ (NA, 20, 125, 1–3) Der Triebkraft der Liebe als Instrument zur Monosemierung göttlicher Einheit und Vollkommenheit liegt also eine spiralförmige Bewegung zugrunde, insofern sich der Einzelne durch die Selbstreflexion um die eigene Achse dreht und durch die reziproke Seinserweiterung gleichzeitig nach oben, namentlich zur „Gottähnlichkeit“ (NA, 20, 124) schraubt.

2 Die semantische Funktion der Liebesphilosophie Für Schillers Frühwerk wurden schon mehrfach die inhaltlichen Korrespondenzen zwischen den liebesphilosophischen Theoremen aus dem BriefromanFragment Philosophische Briefe und dem darin eingelagerten Traktat „Theosophie des Julius“, einigen Gedichten aus dem Zyklus Anthologie auf das Jahr

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1782 (darunter insbesondere die Laura-Gedichte sowie die partiell in die „Theosophie“ integrierten Gedichte ‚Die Freundschaft‘ und ‚Der Triumph der Liebe‘), der ersten Dissertation Philosophie der Physiologie sowie der Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet auf der einen Seite und den Reden einiger Dramenfiguren auf der anderen Seite hervorgehoben. Besonders häufig zitierte Beispiele sind Ferdinand von Walter aus Kabale und Liebe (1784)6 oder Amalia aus den Räubern (1782).7 Ansätze insbesondere aus den neuplatonischen Komponenten der Liebesphilosophie finden sich aber etwa auch in der Freundschaft zwischen Don Karlos und Marquis Posa (vgl. Abschnitt 3). Liebesphilosophisches Gedankengut ist demnach ein zentraler Stoff mindestens von Schillers frühen, das heißt vorklassischen und vorkantischen Dramen. Das Setting der Philosophischen Briefe wird in der Theaterpraxis in verschiedenen Konfigurationen und Modifikationen durchgespielt, womit Schillers Dramenwerk als „facettenreiches Erprobungsfeld seiner Liebesphilosophie“8 angesehen werden kann. Idealistische Ideen und ein entsprechendes sprachliches Register der Julius-Figur aus den Philosophischen Briefen werden von den Dramenfiguren reproduziert (vgl. etwa Leonore aus dem Fiesko oder Prinzessin Eboli aus dem Don Karlos). Ferdinand von Walter aus Kabale und Liebe wurde in der Schiller-Forschung deshalb schon mehrfach als Sprachrohr von Schillers Liebesphilosophie interpretiert.9 Dass sich diese opinio communis bei genauerer Betrachtung dieser Figur als unterkomplex erweist, soll hier nicht weiter ausgeführt werden.10 Immerhin lassen sich in Ferdinands Reden das weiter oben beschriebene Moment der

6 Vgl. hierzu Saße, Günter: „Liebe als Macht. Kabale und Liebe“. In: Schiller. WerkInterpretationen. Hg. v. dems. Heidelberg 2005, 35–56, S. 35; ders.: „‚Der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe‘ – Schillers Liebeskonzeption in den Philosophischen Briefen und in Kabale und Liebe“. In: Konflikt – Grenze – Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge. Hg. v. Jürgen Lehmann, Tilmann Lang u. a. Frankfurt/Main 1997, 173–184. 7 Vgl. Schings, Hans-Jürgen: „Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. ‚Die Räuber‘ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I)“. In: Jahrbuch des Wiener GoetheVereins 84/85 (1980/81), 71–95. 8 Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit 6/III. Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002, S. 457. 9 Vgl. Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 177; Wiese, Benno von: Friedrich Schiller. 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 199. Noch Günter Saße hält diese Feststellung in seinem Aufsatz zu Schillers Liebeskonzeption in Kabale und Liebe für „gerechtfertigt“. Saße: „Der Herr Major“, S. 175. 10 Für genauere Ausführungen hierzu vgl. Gschwind: Die dramatische Wirkungspoetik, S. 156–159.

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Selbstbespiegelung und die kosmologisch-göttliche Dimension der Liebe aus der theosophischen Liebesphilosophie wiedererkennen, so etwa in der folgenden Aussage: „Der Augenblik, der diese zwo Hände trennt, zerreißt auch den Faden zwischen M i r und der S ch ö pf u n g.“ (NA, 5 N, 72, 25–27) Dieses Spezifikum der Schiller’schen Frühdramatik, in der die Beziehungen zwischen den Figuren einen liebesphilosophisch-theosophischen Überbau haben, hat zur Konsequenz, dass auch die Wirkungskategorie des Tragischen eine kosmologische Dimension hat, womit die Grenze zwischen der semantischen und der poetologischen Funktion der Liebesphilosophie ein erstes Mal durchlässig wird. Die idealistische Liebesphilosophie des Julius birgt bereits das Wirkungspotenzial des Tragischen. So bewirken die Intrigen der Bösewichte wie etwa des Sekretärs Wurm in Kabale und Liebe oder Franz von Moors in den Räubern nicht nur Beziehungskrisen wie zum Beispiel jene zwischen Ferdinand und Louise oder zwischen Karl von Moor und seinem Vater, sondern es handelt sich dabei um Störungen11 in einem idealistisch gedachten, durch Liebe und Tugend harmonisierten Weltsystem. In ihrer positiven Form als gesellschaftliche Determinationen transzendierendes Idyll kommt die idealistische Liebe wenigstens in den frühen Dramen nur als Utopie vor, die etwa in der Version Ferdinands von Walter aus Kabale und Liebe die Gestalt eines säkularisierten „Liebesevangeliums“12 annimmt: Mein Vaterland ist, wo mich Louise liebt. Deine Fußtapfe in wilden sandigten Wüsten [ist] mir interessanter, als das Münster in meiner Heimat – Werden wir die Pracht der Städte vermissen? Wo wir seyn mögen, Louise, geht eine Sonne auf, eine unter – Schauspiele, neben welchen der üppigste Schwung der Künste verblaßt. Werden wir Gott in keinem Tempel mehr dienen, so ziehet die Nacht mit begeisternden Schauern auf, der wechselnde Mond predigt uns Buße, und eine andächtige Kirche von Sternen betet mit uns. (NA, 5 N, 100, 28–35)

So besteht die Tragik in Kabale und Liebe auch in der Unmöglichkeit, diese Utopie einer Zweisamkeit im „idyllische[n] Nirgendwo“13 unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen zu realisieren, sowie in Louises Ausweg aus dieser Situation an einen „d r it t e n Ort“ (NA, 5 N, 152, 30 u. 154, 1), mit dem sie

11 Vgl. Alt, Peter-André: Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie des Intriganten im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2007) H. 1, 1–28. 12 Koopmann, Helmut: „Kabale und Liebe“. In: Schiller-Handbuch. Hg. v. dems. Stuttgart 1998, 365–378, S. 377. 13 Guthke, Karl S.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. 2. Aufl. Tübingen 2005, S. 117.

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den Tod meint. Mit dieser Hoffnung auf ein Paradies nach dem Tod instanziiert14 die Figur der Louise Miller den Typus des egoistisch Tugendhaften, den Schiller alias Julius im Abschnitt „Aufopferung“ (NA, 20, 122) der „Theosophie“ demjenigen des altruistisch Liebenden gegenüberstellt (vgl. NA, 20, 122–123). Das begriffliche Setting der Philosophischen Briefe ist also die Basis für die dramatische Konfiguration in Kabale und Liebe: Die begriffliche Gegenüberstellung von bürgerlicher Tugendideologie und theosophischer Liebesideologie wird durch die beiden Figuren Louise und Ferdinand illustriert, das heißt in Handlung gesetzt. In der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung der Räuber ist dieses Liebesidyll in die Fiktionalität von Amalias Lautengesang verschoben, der im Stil der Laura-Gedichte aus der Anthologie auf das Jahr 1782 Schillers metaphysische Liebesphilosophie in lyrischer Form repräsentiert: Schön wie Engel, voll Walhalla’s Wonne, Schön vor allen Jünglingen war er, Himmlisch mild sein Blick, wie Mayen Sonne Rükgestralt vom blauen Spiegel-Meer. Sein Umarmen – wütendes Entzüken! – Mächtig feurig klopfte Herz an Herz, Mund und Ohr gefesselt – Nacht vor unsern Blicken – Und der Geist gewirbelt himmelwärts. Seine Küsse – paradisisch Fühlen! – Wie zwo Flammen sich ergreiffen, wie Harfentöne in einander spielen Zu der himmelvollen Harmonie, Stürzten, flogen, raßten Geist und Geist zusammen, Lippen,Wangen brannten, zitterten, – Seele rann in Seele – Erd und Himmel schwammen Wie zerronnen, um die Liebenden. Er ist hin – vergebens ach! vergebens Stöhnet ihm der bange Seufzer nach. Er ist hin – und alle Lust des Lebens Wimmert hin in ein verlornes Ach! –

(NA, 3, 73, 27–74, 12)

14 Zum literarischen Verfahren der Instanziierung als Veranschaulichung eines abstrakten Begriffs durch figurales Handeln vgl. Köppe, Tilmann: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn 2008, S. 97.

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3 Poetologische Funktion: Die Liebesphilosophie als Darstellungsprinzip Die Vorstellung einer in die Natur emanierten göttlichen Einheit, die vom Menschen eben nur in ihrer Vereinzelung erfasst werden kann, findet sich auch in Schillers Rede Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782): Wir Menschen stehen vor dem Universum, wie die Ameise vor einem grossen majestätischen Palaste. Es ist ein ungeheures Gebäude, unser Insektenblick verweilet auf diesem Flügel, und findet vielleicht dies e Säulen, di es e Statuen übel angebracht [. . .]. (NA, 20, 82)

Schiller schreibt dem Theater in diesem Zusammenhang die Funktion zu, dieses unfassbare „Universum“ auf der Theaterbühne auf ein – im wahrsten Sinne – überschaubares Modell zu konzentrieren, das ein repräsentativer Teil des Ganzen sein soll. In Schillers eigenen Worten: Der Dramendichter soll die ganze Welt „in unsern Gesichtskreis verkleinert“ (NA, 20, 83; die folgenden Zitate ebd.) stellen, indem er die „Harmonie des Grossen“ in der „Harmonie des Kleinen“ und die „Symmetrie des Ganzen“ in der „Symmetrie des Theils“ darstellt. Schiller zufolge ist der Dichter in der Pflicht, die Welt nicht durch einen mimetisch-metonymischen Ausschnitt, das heißt als „ge tr e u es t [e] Kopie“, sondern durch ein poetisch-symbolisches Abbild zu repräsentieren. Ein „Versehen“ (auch hier im Sinne einer visuellen Epistemologie durchaus wörtlich zu verstehen) in dieser Sache sei „eine Ungerechtigkeit gegen das ewige Wesen, das nach dem unendlichen Umriß der We lt, nicht nach einzelnen herausgehobenen Fragmenten beurtheilt seyn will.“ Die evidentia („Fasslichkeit“) der Darstellung auf produktionsästhetischer Seite ermöglicht dem Zuschauer aus rezeptionsästhetischer Perspektive einen „panoptische[n] Blick“15 auf die künstlich vergegenwärtigte Welt des Theaters, das in dieser Ästhetik als „panoptische[s]“ theatrum mundi fungiert.16 Das Theater ermöglicht es dem Menschen in dieser Konzeption also, den stufenweisen Aufstieg zur Gottähnlichkeit qua theosophischer Liebe künstlich zu überspringen und die great chain of being17 mit einem einzigen Schritt zu nehmen.

15 Robert, Jörg: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin u. Boston 2011, S. 124. 16 Zur Konzeption der Schaubühne als Panoptikum vgl. ebd. 17 Vgl. zu dieser Denkfigur Riedel: Die Anthropologie, S. 76 u. 114–118. Die Idee einer Wesenskette stammt ursprünglich aus dem Fundus des neuplatonischen Gedankenguts und findet sich im achtzehnten Jahrhundert wieder in den Theorien des Biologen Charles Bonnet sowie in Alexander Popes Essay on Man, hier als „Vast Chain of Being“ [Der Wesen Kette]. Pope, Alexander: Vom

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Die Funktion, den Menschen zu den letzten Dingen (Vervollkommnung, Glückseligkeit, Gottähnlichkeit) zu führen, wird der Kunst dann auch in Schillers Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) zugeschrieben. Das Theater soll demnach zur „Beförderung allgemeiner Glückseligkeit“ (NA, 20, 88) beitragen. Damit wird die dramatische Wirkungspoetik wieder mit der theosophischen Liebesphilosophie verlinkt, insofern Julius die Liebe als „Begierde nach fremder Glükseligkeit“ (NA, 20, 119) definiert. Im sogenannten Bauerbacher Brief, einem Schreiben Schillers an seinen späteren Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald aus dem Bauerbacher-Exil vom 14. April 1783, wird die Dramenpoetik mit der theosophischen Liebesphilosophie explizit kurzgeschlossen. Dabei werden zentrale Philosopheme aus der theosophischen Liebesphilosophie in der „Theosophie des Julius“ als Prinzipien einer dramatischen Wirkungspoetik umcodiert. Das Mängelwesen ist hier nicht der metaphysische Gott, sondern der Dramendichter als poeta alter deus, der sich nicht „in sich selbst zurükziehen und mit sich begnügen“ (NA, 23, 79–80) mag und deshalb fiktive Figuren konzipiert, die „in unsrer Seele alle [. . .] nach ihren Urstoffen schlafen“ (NA, 23, 79). Die so geschaffenen literarischen Figuren sind – konsequenterweise – „zulezt nur w i r s elb s t “ (ebd.), sodass das Mitleid mit diesen Figuren eigentliches Selbstmitleid ist. Das ist die Mitleidspoetik Lessings, der Sympathie in der Hamburgischen Dramaturgie als das „auf uns selbst bezogene Mitleid“18 bestimmt, das heißt – wie es Schiller formuliert – als die „Anschauung unserer Selbst in einem andern Glase“ (NA, 23, 79). In den Philosophischen Briefen vertritt Julius seinem Mentor Raphael gegenüber entsprechend die These, dass „in dem glüklichen Momente des Ideales, der Künstler, der Philosoph und der Dichter die großen und guten Menschen wirklich sind, deren Bild sie entwerfen“ (NA, 20, 118). Diese poetologisch-„künstliche Täuschung“ (NA, 23, 79) korrespondiert der anthropologisch-„glüklichen Täuschung“ (NA, 20, 118) in der „Theosophie“, dass „es unser eigener Zustand ist, wenn wir einen fremden empfinden“ (ebd.), womit das philosophische Traktat durch eine anthropologisch-epistemologische Modellierung der theatralen Identitätsillusion19 ihr dramaturgisches Potenzial offenbart.

Menschen. Essay on Man. Übers. v. Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung hg. v. Wolfgang Breidert. Englisch – deutsch. Hamburg 1993, Brief I, S. 32–33. 18 Gotthold Ephraim Lessing: „Hamburgische Dramaturgie“. In: ders.: Werke 4. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, 229–720, S. 579. 19 Zum Begriff der Identitätsillusion in Abgrenzung zu anderen Illusionstypen wie der Wahrnehmungsillusion oder der Wahrheitsillusion vgl. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 4. Aufl. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 198–200. Zum ideengeschichtlichen Horizont von Schillers Illusionsbegriff vgl. Gschwind, Christoph: „‚diesseit und jenseit den Lampen‘ –

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Im Begriff der Täuschung – genauso wie in demjenigen der Sympathie20 – zeigt sich also wiederum, wie fließend die Grenzen zwischen Philosophie, Anthropologie, Epistemologie und Poetologie bei Schiller sind. Im Brief an Reinwald ist das Objekt für die selbstreflexive Sympathie das literarische Werk Don Karlos, von dem ausgehend Schiller seine theosophische Wirkungsästhetik – im Modus der Spontaneität – entwickelt. Die Ausführungen im Bauerbacher Brief kulminieren in der Pointe, Dichtung sei „nichts anderes, als eine enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unsers Kopfes“ (NA, 23, 79). In der Vorrede des Don Karlos in seiner fragmentarischen Thalia-Fassung (1785) greift Schiller diesen Gedanken wieder auf und gibt gleichzeitig die „Gefahr“ (NA, 6, 343) einer solchen affektiven Einstellung zum eigenen literarischen Werk zu bedenken, nämlich das Ganze aus den Augen zu verlieren: „Mit den Lieblingswerken unsers Geistes ergeht es uns beinahe wie mit unsern Mädchen – endlich werden wir blind für ihre Flecken, und stumpf durch Genuß.“ (NA, 6, 343) Hier kommt die potenzielle Leserschaft (die ThaliaFragmente sind als Lesedrama konzipiert) des Don Karlos ins Spiel, mit der Schiller eine Art Freundschaftsbund schließt,21 wenn er sie als „geschmackvolle fühlende Freunde“ (NA, 6, 343; die folgenden Zitate ebd.) anspricht. Dieser Freundschaftsbund soll auf „Wohlwollen“ und Empathie gegenüber Autor und Werk basieren. Durch den Aufruf zu einem kritischen Blick auf den Text lässt Schiller die Rezipienten am Entstehungsprozess teilhaben und begründet damit auch die serielle Veröffentlichung des Don Karlos „in Bruchstücken“. Damit geht er noch einen Schritt weiter als in seiner dramatischen Wirkungspoetik, wie sie sich aus den frühen Theater-Reden abstrahieren lässt, insofern er dem Rezipienten durch die Darstellung der fiktiven Welt als Panoptikum nicht nur Übersicht über seine „Schöpfungen“ verschafft, sondern auch Einsicht in deren

poetologische Illusionskonzepte und ihre epistemologischen Implikationen zwischen Aufklärung und Romantik“. In: „Der Augen Blödigkeit“. Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmung und visuelle Epistemologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Evelyn Dueck u. Nathalie Vuillemin. Heidelberg 2016, 173–186. 20 Der Sympathie-Begriff war schon im 18. Jahrhundert terminus technicus verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wie der Musikologie (als Symphonie, also harmonische Übereinstimmung von Klängen), der anthropologischen Medizin und Moralphilosophie (als psychophysischer Monismus von Körper und Seele) oder der Dramentheorie (als Mitleiden mit dem tragischen Helden). Vgl. zu den verschiedenen Traditionen des Begriffs Riedel: Die Anthropologie, S. 121–151. Riedel geht davon aus, dass Schiller die facettenreiche Anwendung des Sympathie-Begriffs direkt bei seinem Karlsschul-Lehrer Jakob Friedrich Abel, der selbst eine Sympathie-Theorie aufgestellt hatte, kennenlernte. 21 Vgl. hierzu Stockinger, Claudia: „Der Leser als Freund. Das Medienexperiment ‚Dom Karlos‘“. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006) H. 3, 482–503, S. 489.

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Entstehungsprozess gewährt. Vor dem Hintergrund des von Schiller hier als „erste[s] Requisit der Tragödie“ (NA, 6, 345) qualifizierten dramaturgischen Credos Diderots und Lessings, dass „unser Anteil [am dramatischen Geschehen] um so lebhafter und stärker“22 werde, „je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben“ (ebd.), lässt sich auch das „Medienexperiment“,23 dass das Publikum den Text „voraus empfängt“ (NA, 6, 343), als wirkungsästhetische Maßnahme auffassen. Damit korrespondiert der Verlinkung von theosophischer Liebesphilosophie und dramatischer Wirkungspoetik im Bauerbacher Brief die Verstrickung von Drameninhalt und Darstellungsform im Don-Karlos -Komplex, insofern die Vorsehung, die innerhalb des Dramas immer wieder thematisiert wird, nicht nur als inhaltliches Motiv, sondern auch als dramaturgisches Prinzip zur Evokation emotiver Effekte wie Mitleid und Rührung fungiert. Dabei wird die Vorsehung von den Dramenfiguren nicht einfach im Sinne eines metaphysischen Idealismus als sinnhomogenisierende, gerechtigkeitsstiftende und göttlich-gütige Ordnungsinstanz anerkannt, sondern als ambivalente und zuweilen auch sinnwidrige contingentia problematisiert. Dies zeigt sich etwa in den Szenen I/2 und I/5 der Erstausgabe, in denen Karlos den Konflikt zwischen den persönlichen Neigungen und den politischen Konstellationen beklagt: Rodrigo [gemeint ist Marquis Posa], enthülle du diß wunderbare Räzel der Vorsicht mir – Warum von tausend Vätern just eben di es en Vater mir? und ihm just di es en Sohn von tausend bessern Söhnen? [. . .] Furchtbares Loos! warum mußt es gescheh’n?

Große Vorsehung, ich will es dir v er g eben , will vergessen, wie unaussprechlich selig ic h mit ihr [Königin Elisabeth] geworden wäre – wenn nur er [König Philipp] es ist, Er ists ni ch t – hör es große Vorsehung! so frevelhaft beschimpft er deine Gabe! er ist es ni cht – Das, das ist Höllenquaal! er ist es nicht, und wird es niemals werden! Du nahmst mir meinen Himmel nur, um ihn in Philipps Armen zu vertilgen.

22 Lessing: „Hamburgische Dramaturgie“, S. 452. 23 Vgl. Stockinger: „Der Leser als Freund“.

(NA, 6, 371, 633–372, 643)

(NA, 6, 380, 795–804)

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Die fiktionsinterne Thematisierung der Vorsehung ist kein Novum in Schillers Dramenwerk, sondern findet sich bereits in den Räubern. Entscheidend ist aber, dass auch das in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten angesprochene dramaturgische Prinzip des rezeptionsseitigen Informationsvorsprungs gegenüber den Dramenfiguren mit der Buchfassung des Don Karlos unterminiert und die Leserschaft quasi dramaturgisch hintergangen wird. Zusammen mit den Dramenfiguren inklusive König Philipp werden auch die Rezipienten bis zum Auftritt des Großinquisitors über das vorbestimmte Schicksal des Marquis Posa, das schon „angefangen und beschlossen in der Santa Casa heiligen Registern“ (NA, 6, 327, 6044–6045) liegt, im Dunkeln gelassen. Der blinde und am Stock gehende Großinquisitor hat damit – ironischerweise – als Einziger den Überblick. Es ist konsequent im Sinne der theosophischen Liebesphilosophie, dass die Konzeption einer unübersichtlichen Welt an die Aufkündigung des Freundschaftsbundes zwischen dem Autor als alter deus und den Rezipienten gekoppelt ist. Entsprechend fühlt sich ein Rezensent der Allgemeinen LiteraturZeitung durch die Auflösung in der Großinquisitor-Szene von Schiller denn auch hinters Licht geführt, indem „wir uns fälschlich für etwas als für die Haupthandlung interessirt haben, welches im Grunde nicht die Haupthandlung war“ (NA, 7/II, 533), und „wir nur ein Gaukelspiel sahen, dessen wahrer Grund bis itzt verborgen blieb, obwohl er offenbar schien“ (ebd.). Und weiter: Eine solche Idee, an welche der ganze Faden der Geschichte sich knüpfen soll, muß gleich vom Anfange in die Handlung so verwebt werden, daß man sie nie ganz aus dem Gesichte verliert, damit das Interesse ja nicht auf einen falschen Weg gerathe, von dem der Zuschauer oder Leser nicht ohne Unmuth wieder abgebracht wird. (ebd.)

Unabhängig davon, welchen Grad an intersubjektiver Gültigkeit man diesem Leseeindruck beimessen will, entzieht Schiller mit dem Schluss des Don Karlos in der Erstausgabe dem Rezipienten die Evaluationskompetenzen, die er ihm in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten noch verliehen hatte. Wurde ihm dort noch die Aufgabe anvertraut, den vom zu langen „Hinsehn“ (NA, 6, 343) getrübten und verschwommenen Blick des Autors durch die Distanz des Außenstehenden wieder zu erhellen, so entzieht ihm derselbe Autor hier durch die Fragmentierung des ursprünglich als „ganzes Tableau“ (ebd.)24 angelegten Don Karlos die „Perspektive des Ganzen“ (NA, 6, 343) und damit auch den „panoptische[n] Blick“.25 So lässt Schiller nun also auch den Dramenrezipienten mit

24 So bezeichnet Schiller den Don Karlos in einem Brief vom 5. Dezember 1786 an den Verleger Georg Joachim Göschen. 25 Robert: „Vor der Klassik“, S. 124.

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jenem „Insektenblick“ (NA, 20, 82) auf die „unabsehbar“ (NA, 20, 79) gewordene fiktive Dramenwelt schauen, mit dem der gewöhnliche Mensch wie „die Ameise vor einem grossen majestätischen Palaste“ (NA, 20, 82) die wirkliche Welt erfasse. War der Rezipient in der Schauspiel-Fassung der Räuber durch die Retrospektive Karls von Moor noch über die fiktive Dramenwelt erhaben, so erlebt er die binnenfiktional thematisierte Vorsehung in der Buchfassung des Don Karlos gewissermaßen am eigenen Leibe. Durch die Auflösung der dramaturgischen Vorsehung als prospektive praevidentia („Voraussehen“) beziehungsweise praescientia („Vorwissen“)26 funktioniert auch die Wirkungskategorie des Tragischen nicht mehr. Dadurch, dass sich die Komplexität der dargestellten Welt der panoptischen Erfassung entzieht, wird sie zu bedenken gegeben. Der Konflikt, den Schiller aus der Grundkonstellation der theosophischen Liebesphilosophie gesponnen hat und wie er etwa i den Dramen Die Räuber und Kabale und Liebe binnenfiktional vergegenwärtigt wird, verschiebt sich mit der Buchfassung des Don Karlos vom inneren Kommunikationssystem, bestehend aus den fiktiven Dramenfiguren, ins äußere Kommunikationssystem, bestehend aus Autor, Dramentext und Rezipienten. Ist diese epistemische Degradierung des Rezipienten mit der frühen dramatischen Wirkungspoetik, wie sie weiter oben kurz skizziert wurde, inkompatibel, so folgt sie dem im faktualen Vorwort der Philosophischen Briefe formulierten Prinzip, dass man „den Irrthum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen“ (NA, 20, 107) müsse, „ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinauf arbeiten“ (ebd.). Schiller orientiert sich dabei an einem epistemischen Modell Alexander Gottlieb Baumgartens, wie dieser es in den Prolegomena der Aesthetica entwickelt: „Aber sie [die Verworrenheit] ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Entdeckung der Wahrheit, da die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens. Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgenröte zum Mittag.“27 Dieser Konnex von Liebesphilosophie und Dramenästhetik wird später noch im poetologisch-performativen28 Gedicht ‚Die Künstler‘ (1789)29 nahegelegt, in dem der

26 Zum philosophischen Begriff der Vorsehung vgl. Schüßler, Werner: „Vorsehung“. In: Metzler-Philosophie-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. Stuttgart u. Weimar 1996, S. 558. 27 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/58). Übers. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 5. 28 Zur Performanz dieses Gedichts vgl. Robert: „Vor der Klassik“, S. 240. 29 Vgl. „Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget / Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein, / Das malerische Tal – auf einmal zeiget.“ Costazza, Alessandro: „Die ästhetische

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Kunst beziehungsweise Schönheit dieselbe epistemische Funktion wie in den Philosophischen Briefen der Liebe zugeschrieben wird: „Nur durch das Morgenthor des Schönen / drangst du [der Mensch] in der Erkenntnis Land. / An höhern Glanz sich zu gewöhnen, / übt sich am Reitze der Verstand.“ (NA, 1, 202, 34–37) Sowohl die Liebe als auch die Kunst fungieren als Vast chain of being,30 die man sich in den Philosophischen Briefen entsprechend als Stufenleiter der Liebe, „Arm in Arme, höher stets und höher“ (NA, 20, 124, 31), und in ‚Die Künstler‘ als „der Dichtung Blumenleiter“ (NA, 1, 213, 428) vorzustellen hat. Das Konstrukt der Philosophischen Briefe, dass eine idealistischmetaphysische Liebesphilosophie als Produkt eines ‚naiven‘ Zustands durch materialistische Einflüsse in eine Skeptizismus-Krise umschlägt, liegt namentlich der Dramaturgie von Schillers Bürgerlichem Trauerspiel Kabale und Liebe (1784) zugrunde. Der Erkenntnisprozess von einem ‚naiven‘ Glauben über eine Skeptizismus-Krise zu einer „ruhigen Weisheit“ (NA, 20, 107), wie er im faktualen Vorwort des Briefroman-Fragments vor dem eigentlichen Briefwechsel expliziert wird, ist ein Topos in Schillers Dramenwerk. Die Figuren fungieren diesbezüglich als „idealische Stellvertreter der Zuschauer“,31 die sie zum kognitiven Mitvollzug ihrer Erkenntnisprozesse einladen. Ein Beispiel für diese Stellvertreter-Funktion gibt etwa der Marquis Posa ab, der im argumentativen Dialog mit König Philipp in der Szene III/10 des Don Karlos die Kopräsenz der Rezipienten fingiert und diese damit in seine Argumentation involviert: „O könnte die Beredsamkeit von allen / den Tausenden, die dieser großen Stunde / theilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, [. . .].“ (NA, 6, 191, 3848–3850) Dieser Erkenntnisprozess ist der Entwicklung der Figuren Karl von Moor aus den Räubern, Don Karlos aus dem gleichnamigen Drama, Johanna von Orléans aus der Jungfrau von Orléans und in besonders drastischer Weise dem Wilhelm Tell aus Schillers letztem vollendeten Drama untergelegt. Johanna von Orléans und Wilhelm Tell werden erst durch den Bruch in ihrem ‚naiven‘ Gott- beziehungsweise Naturglauben zu ‚mittleren Helden‘ und damit zu Identifikationsfiguren. So findet die durch das Fragmentarische Theorie in Schillers Gedicht ‚Die Künstler‘“. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Hg. v. Peter-André Alt, Alexander Košenina u. a. Würzburg 2002, 239–263, S. 260–261. 30 Zur Traditionslinie der Wesenskette vom Neuplatonismus (hier: aurea catena) über die Renaissance bis zur Aufklärung vgl. Koukou, Kalliope: „‚Des Gottes schöne Trümmer‘. Zum anthropologischen Konzept der ‚Theosophie des Julius‘“. In: „Ein Aggregat von Bruchstücken“. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers. Hg. v. Jörg Robert. Würzburg 2013, 57–72, S. 68. 31 Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur. Bonn u. Leipzig 1923, S. 44.

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der Philosophischen Briefe32 unvollendete Entwicklung des an Skeptizismus leidenden Julius in Schillers Dramenwerk seine Fortsetzung. Schiller hievt damit den Rezipienten auf eine nächste Stufe im Erkenntnisprozess von einem ‚naiven‘ metaphysischen Glauben in eine sinnhafte, wohlgeordnete Welt, wobei dieser Glaube über den Zweifel und die Skepsis gegenüber diesem Weltbild „endlich in eine allgemeine, geläuterte und festgegründete Wahrheit“ (NA, 20, 108) münden soll. Vor diesem Hintergrund kann das Bild einer kontingenzbestimmten Welt, wie es Karl von Moor aus den Räubern in seiner Sinnkrise zeichnet, als metatheatrale33 Präfiguration der fiktiven Dramenwelt des Don Karlos gelesen werden: Es wird alles zu Grund gehn. Warum soll dem Menschen das gelingen was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt, was ihn den Göttern gleich macht? – oder ist hier die Mark seiner Bestimmung? [. . .] ich habe die Menschen gesehen, ihre Bienensorgen, und ihre Riesenprojekte – ihre Götterplane und ihre Mäusegeschäfte, das wunderseltsame Wettrennen nach Glükseligkeit; – dieser dem Schwung seines Rosses anvertraut – ein anderer der Nase seines Esels – ein dritter seinen eigenen Beinen; dieses bunte Lotto des Lebens, worein so mancher seine Unschuld, und – seinen Himmel sezt, einen Treffer zu haschen, und – Nieten sind der Auszug – am Ende war kein Treffer darinn. Es ist ein Schauspiel, [. . .] das Tränen in deine Augen lockt, wenn es dein Zwerchfell zum Gelächter kizelt. (NA, 3, 78, 13–29)

Der Großinquisitor im Don Karlos erweist sich als Exemplifikation für die Unmöglichkeit der Antizipation, wenn er König Philipp das Scheitern seiner Pläne mit dem Marquis Posa vorwirft: Durch uns zu sterben war er [Posa] da. Ihn schenkte der Nothdurft dieses Zeitenlaufes Gott, in seines Geistes feierlicher Schändung die prahlende Vernunft zur Schau zu führen. Ihn hätten wir – auf langer Seelenfolter zur Mißgeburt verzerrt – dem schaudernden Gelächter seiner Rotte vorgewiesen.

32 Wie etwa Kalliope Koukou zeigt, lässt sich der Fragmentcharakter des Textes auch auf den Zustand Julius’ übertragen. Vgl. Koukou: „Des Gottes schöne Trümmer“, S. 59–60. 33 Zur Metatheatralität der Räuber in der Schauspielfassung vgl. Martus, Steffen: „Schillers Metatheater in Die Räuber – mit einem Seitenblick auf Lessings Emilia Galotti“. In: Schiller, der Spieler. Hg. v. Peter-André Alt, Marcel Lepper u. Ulrich Raulff. Göttingen 2013, 126–144 sowie ders.: „Enttäuschung am Anfang. Aufmerksamkeitssteuerung in Schillers Die Räuber“. In: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg. Freiburg i.Br. 2012, 317–336.

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Das war mein überlegter Plan. Nun liegt sie hingestreckt, die Arbeit vieler Jahre! Wir sind bestohlen, und Sie haben nichts, als blut’ge Hände.

(NA, 6, 328, 6069–329, 6079)

Während der moralisch fehlgeleitete Karl von Moor in der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung der Räuber die durch den versuchten Vatermord seines Bruders und die als Hauptmann selbst zu verantwortenden Schandtaten der Räuber aus den Fugen geratene Welt durch seine Selbstauslieferung an die Justiz wenigstens der metaphysischen Idee nach wieder in eine harmonische Welt überführt und dabei im Sinne des panoptischen theatrum mundi über die moralphilosophische Dimension dieser Handlung räsoniert,34 endet die ebenfalls als Lesedrama konzipierte Erstausgabe des Don Karlos in Dissonanzen einer Groteske, wie sie Karl in seiner Sinnkrise skizziert. Aus einer aisthesiologischen und epistemologischen Perspektive ist dem Rezipienten die „lebendige Anschauung“ (NA, 3, 243),35 das heißt die anschauende Erkenntnis einer künstlerisch überschaubar aufbereiteten Wirklichkeit, nicht mehr möglich, da die evidentia („Fasslichkeit“) einer panoptischen theatrum-mundi-Konzeption, wie sie die frühen Dramen Die Räuber, Fiesko und Kabale und Liebe noch bestimmt, im Entstehungsprozess des Don-KarlosKomplexes vom Thalia-Fragment zur Erstausgabe von der contingentia subvertiert wird. Mit der Depotenzierung des theatrum mundi in der Buchfassung des Don Karlos von 1787 enttrivialisiert Schiller also das Verhältnis zwischen Literatur und Leben. Diese Enttrivialisierung korrespondiert einer Entautomatisierung der eingeschliffenen, an ein letztlich metaphysisch-sinnhaftes Weltsystem gewöhnten Rezeptionsroutine. Ähnliches lässt sich etwa auch am sinnkonstituierenden Ordnungsprinzip der poetischen Gerechtigkeit36 zeigen, das in den klassischen Dramen nicht mehr (konventionell) funktioniert. So hat die Rezensenten der Wallenstein-Trilogie das Element des Zufalls irritiert.37 Bisher kann zusammenfassend Folgendes festgehalten werden:

34 Im Vorwort zur ersten Auflage der Räuber legitimiert Schiller den moralischen Gehalt dieses Schauspiels als „moralische[s] B[u]ch[]“ (NA, 3, 8) mit der Bitte, es doch „ganz zu lesen“ (ebd.), womit er wahrscheinlich auch auf dieses Räsonnement verweist. 35 Schiller braucht den Begriff in der Vorrede zur Erstausgabe der Räuber, um die Vorzüge der „[d]ramatische[n] Methode“ (NA, 3, 243) zu beschreiben, und grenzt ihn hier von der „historische[n] Erkenntniß“ (ebd.) ab. 36 Vgl. Eibl, Karl: „Poetische Gerechtigkeit als Sinngenerator“. In: Poetische Gerechtigkeit. Hg. v. Sebastian Donat, Roger Lüdecke u. a. Düsseldorf 2012, 215–240. 37 Vgl. Beise, Arnd: „Schillers ‚moderner‘ Wallenstein im Spiegel der zeitgenössischen Rezeption der ersten Buchausgabe“. In: Wallensteinbilder im Widerstreit. Eine historische Symbolfigur

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Schillers Jugendphilosophie, eine Liebesphilosophie mit theosophischen und ethischen Implikationen, wie sie in verschiedenen Texten unterschiedlicher Textsorten konzipiert wird, ist der Horizont, vor dem das Dramenwerk betrachtet werden kann. In Bezug auf das Dramenwerk hat sie erstens eine inhaltliche Funktion, insofern ihre Theoreme tel quel oder in modifizierter Form Bestandteil der Figurenreden, also des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems sind. Sie hat zweitens eine wirkungspoetische Funktion, insofern ihre Grundkonstellation ein Potenzial für die Evokation von Tragik birgt. Drittens hat sie eine poetologische Funktion, insofern das sie konstituierende metaphysische Modell einer fragmentarisierten Totalität (Wahrheit in einem emphatischen Sinn und Göttlichkeit), die durch Liebe und Tugend wiederherstellbar ist, in Schillers (früher) Dramenästhetik auch dem äußeren, fiktionsexternen Kommunikationssystem zwischen Autor, Werk und Rezipient zugrunde liegt. Schließlich hat sie viertens eine darin implizierte epistemologische Funktion, insofern sie einen epistemischen Dreischritt (‚naive‘ Denkweise – Verwirrung und Skepsis – Erkenntnis der Wahrheit) deklarativ (im faktualen Vorwort) und prozedural (im fiktionalen Briefwechsel) vermittelt, der einerseits die Entwicklung der Dramenfiguren konstituiert und andererseits die Rezeptionsweise bestimmt. Für die als Lesedrama konzipierte Erstausgabe des Don Karlos lässt sich zeigen, dass Schiller mit dem unvorhersehbaren Schluss des Dramas dem Rezipienten seinen Sonderstatus als Voraus- und Überschauender, wie er in der Wirkungspoetik der Theater- und Schaubühnen-Rede vorgesehen ist und in der Schauspiel-Fassung der Räuber umgesetzt wird, entzieht und ihn damit die binnenfiktional reflektierte und inszenierte contingentia selbst erleben lässt. Damit lässt Schiller sein lesendes Publikum genauso ratlos zurück wie Raphael seinen Schüler Julius in den Philosophischen Briefen. Vor dem Hintergrund der poetologisch umcodierten Liebesphilosophie und der in der Vorrede zu den ThaliaFragmenten inszenierten Komplizenschaft zwischen Dichter und Rezipienten, die in den Schaffensprozess involviert werden, kommt diese Degradierung des Rezipienten einem Freundschaftsbruch gleich. Schließlich haben die dramaturgische Komposition einer letztlich kontingenzbestimmten und unübersichtlichen Welt sowie der daran gekoppelte Entzug des rezeptionsseitigen panoptischen Blicks auch gattungspoetologische Konsequenzen, insofern einerseits die retardierende Informationsvergabe emotive Effekte wie Furcht und Mitleid verhindert und andererseits die Entautomatisierung der an das theatrum mundi gewöhnten Rezeptionsroutine eine kognitive Leseweise in der Form

in Geschichtsschreibung und Literatur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Joachim Bahlcke u. Christoph Kampmann. Köln, Weimar u. Wien 2011, 133–146.

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eines Nachdenkens oder Bedenkens initiiert. Von dieser Ausgangslage aus soll nun noch ein Blick auf Schillers letztes vollendetes Drama, den Wilhelm Tell, geworfen werden.

4 Wilhelm Tell So wie die Karlsschul-Reden über die Tugend und das Theater den moralphilosophischen und ästhetischen Referenzrahmen von Schillers frühen Dramen darstellen, so bildet die Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) den ästhetischen und anthropologischen Horizont für das letzte vollendete Drama Schillers, den Wilhelm Tell (1804). Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theorie und Dramenpraxis, die die Schiller-Forschung bis heute immer wieder aufs Neue herausfordert, drängt sich auch im Kontext des Wilhelm Tell und hier vielleicht in besonders drastischer Weise auf. Die Bezüge zwischen den Theoremen dieser Abhandlung und dem Dramentext sind derart deutlich, dass eine Analyse desselben jenseits von diesem theoretischen Horizont unterkomplex ausfallen muss. Die Herausforderung besteht bei einer solchen Analyse aber insbesondere in einer angemessenen Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Schrift und dem Wilhelm Tell. Dass zwischen der Theorie und dem Drama eine Eins-zu-eins-Beziehung im Sinne einer dramaturgischen Umsetzung etwa durch figurale Instanziierung abstrakter Begriffe besteht, konnte in der Schiller-Forschung mittlerweile mit guten Gründen zumindest infrage gestellt werden.38 Sehr viel schwieriger zu beantworten ist allerdings die dieser Feststellung inhärente Frage, wie dieses Verhältnis denn zu bestimmen ist. Dieses Problem lässt sich noch weiter zuspitzen in der Frage, welcher Unterart sentimentalischer Dichtung, die Schiller von ‚naiver‘ Dichtung abgrenzt, das Drama Wilhelm Tell zugeordnet werden kann: der ‚Satyre‘ (Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit), der ‚Elegie‘ (Wechsel

38 Vgl. bereits Oellers, Norbert: „Idylle und Politik. Französische Revolution, ästhetische Erziehung und die Freiheit der Urkantone“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 114–137, S. 125. Für einen kurzen Überblick vgl. Riedel, Wolfgang: „Unwiederbringlich. Elegische Konstruktion und unentwickelte Tragödie im Wilhelm Tell“. In: Würzburger Schiller-Vorträge 2009. Hg. v. dems. Würzburg 2011, 45–62. Wesentlich älter ist hingegen der Standpunkt, die Schrift ließe sich schon aufgrund ihrer Aporien nicht dramatisch umsetzen. Gemäß Horst Rüdiger etwa ist eine solche Umsetzung bereits theologisch unmöglich, weil sie „den Sündenfall zu tilgen hätte, ohne auf die Früchte vom Baume der Erkenntnis zu verzichten“. Rüdiger, Horst: „Schiller und das Pastorale“. In: Euphorion 53 (1959), 229–251, S. 241.

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zwischen Ideal und Wirklichkeit) oder der ‚Idylle‘ (Harmonie von Ideal und Wirklichkeit)? Bei aller thematischen Stringenz, kompositorischen Systematik und begrifflichen Ausdifferenzierung lassen sich auch für diese Schrift eine disziplinäre Hybridität und eine Vermischung philosophisch-symbolischer und poetischintuitiver Denkweisen ausmachen.39 Genauso wie das Briefroman-Fragment Philosophische Briefe hat auch die Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung einen anthropologischen Ausgangs- und Fluchtpunkt. Hier wie dort dreht sich alles um die Vereinzelung des Menschen, seinen Übergang von einem natürlichen in einen künstlichen Zustand und die Möglichkeit, die verloren gegangene Einheit wiederherzustellen. Entsprechend ähneln sich auch die Beschreibungen der damit einhergehenden Verlusterfahrungen. In der philosophischen Schrift heißt es: „Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frey geworden, und haben beydes verloren.“ (NA, 20, 427) In den Philosophischen Briefen klagt Julius: „Selige paradiesische Zeit, da ich noch mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte [. . .]. Ich e m p f an d und war glüklich. Raphael hat mich d en ke n gelehrt, und ich bin auf dem Wege meine Erschaffung zu beweinen.“ (NA, 20, 109) Die Wiederherstellung einer verloren gegangen Totalität erweist sich damit als durchgängiges Motiv von Schillers Ästhetiktheorie.40 Grundlegend für das Verständnis der Abhandlung ist die bereits im Titel angelegte Unterscheidung zwischen ‚naiver‘ und ‚sentimentalischer Dichtung‘ beziehungsweise – das ist Schillers Ausgangspunkt – zwischen dem ‚naiven‘ und dem ‚sentimentalischen‘ Dichter. Während der ‚naive‘ Dichter die begrenzte „Wirklichkeit“ (NA, 20, 440) darstelle, versuche der ‚sentimentalische‘, diese Wirklichkeit auf unendliche „Idee[n]“ (NA, 20, 441) zu beziehen. Des Weiteren ist die Unterscheidung zwischen dem Idyll als Dichtungsgegenstand, der Idylle als literarischer Gattung („Gedichtart[]“; NA, 20, 466) und der Idylle als „Dichtungsweise“ (ebd.) zentral. Bei der Idylle, um die es Schiller in seiner Schrift primär geht, handelt es sich um einen typologischen Begriff, der vom klassifikatorischen der Idylle als einer literarischen Gattung abzugrenzen ist.41

39 Vgl. Barner, der an der Abhandlung das „begriffslogisch kohärent[e] Ganz[e]“ vermisst. Barner, Wilfried: „Anachronistische Klassizität. Zu Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1993, 62–80, S. 65. 40 Vgl. Koukou: „Des Gottes schöne Trümmer“, S. 72. 41 Zum Unterschied von klassifikatorischen und typologischen Begriffen vgl. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 102–104.

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Die Idylle in diesem spezifischen Sinn ist ein dramaturgisches „Mittel“ (NA, 20, 467), das eine bestimmte Disposition zur Vermittlung bestimmter Emotionen aufweist (vgl. NA, 20, 449). Von den Elementen, die einen thematischen Bezug zwischen dem Drama Wilhelm Tell und der Idyllen-Theorie aus der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung nahelegen, sollen im Folgenden einige kurz vorgestellt werden. So verweist etwa die folgende Aussage Melchthals auf den die Dichtungsweise konstituierenden Zusammenfall von Ideal und Wirklichkeit: „So stehen wir nun fröhlich auf den Trümmern / Der Tyrannei, und herrlich ists erfüllt, / Was wir im Rütli schwuren, Eidgenossen.“ (NA, 10, 260, 2923–2925) In der Aussage Walther Fürsts, das Werk sei „angefangen, nicht vollendet“ (NA, 10, 260, 2926), lässt sich der Versuch erkennen, durch die Aufhebung des Gegensatzes von Ideal und Wirklichkeit nicht in eine „Ruhe der [. . .] Trägheit“ zu verfallen, sondern eine der „Vollendung“ (NA, 20, 473; die folgenden Zitate ebd.) zu erreichen, durch die das „Gemüth“ zwar „befriedigt“ wird, „aber ohne daß das Streben darum aufhöre“. Im Sinne dieses Paradoxons einer bewegten Ruhe ließe sich auch der anthropologisch nachvollziehbare, aber moralisch zumindest fragwürdige, im wahrsten Sinne des Wortes hinterhältige Mord an Gessler durch Tell im ästhetischen Gesamtkonzept der Idylle verorten. Denn trotz der Parricida-Szene, die Schiller zufolge die Funktion hat, Wilhelm Tell durch den Kontrast mit dem von unlauteren Motiven getriebenen Vatermörder moralisch zu rehabilitieren,42 bleibt die Schuldfrage als Frage zum Verhältnis zwischen Zweck und Mittel bis zuletzt im Raum, sodass es sich bei der Tell-Handlung tatsächlich um eine Art „unentwickelte Tragödie“43 handelt. Die Wiederherstellung des alten paradiesischen Zustands (revolutio im ursprünglichen Sinn) unter den Bedingungen der Moderne ist das zentrale Moment des Rütlibundes: „Wir stiften keinen neuen Bund, es ist / Ein uralt Bündniß nur von Väter Zeit, / Das wir erneuern!“ (NA, 10, 181, 1155–1157). Die Figur des Wilhelm Tell lässt sich als Instanziierung des Übergangs von einem ‚naiven‘ in einen reflektierten Zustand interpretieren, wie er im Monolog der Szene IV/3 gezeigt wird. Ob es 42 In einer Reaktion auf Ifflands kritischen Kommentar zur Parricida-Szene, die ihn „befremdete“ (NA, 10, 458; die folgenden Zitate ebd.), da sie „von der Sache weg“ führe, formuliert dies Schiller so: „Tells Mordthat wird durch ihn [Parricida] allein moralisch und poetisch aufgelößt. Neben dem ruchlosen Mord aus Impietaet und Ehrsucht steht nunmehr Tells nothgedrungne That, sie erscheint schuldlos in der Zusammenstellung mit einem ihr so ganz unähnlichen Gegenstück [. . .].“ Wie bereits im Vorwort zur Erstauflage der Räuber versucht Schiller also auch hier, das Schauspiel als „moralische[s] B[u]ch[]“ (NA, 3, 8) zu legitimieren. 43 Riedel: „Unwiederbringlich“, S. 60–61. Riedel sieht im Schweigen Tells in der letzten Szene, in der sich alle anderen Figuren „mit lautem Frohlocken“ (NA, 10, 276, nach 3280) vor Tells Haus gruppieren, eine Manifestation des Tragischen.

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sich dabei auch um die Transformation in eine „sentimentalische Existenzform“44 handelt, sei hier einmal dahingestellt. Infrage steht dies jedenfalls schon durch Schillers eigene Terminologie, in der nicht sentimentalisch, sondern reflektierend das Antonym von naiv ist, dessen Wiederherstellung „u n t e r d en Be d in g u n g e n d e r Ref l e x i on “ die „sentimentalische Stimmung“ evoziere (NA, 20, 473). Jedenfalls trifft auf die Figur des Tell in signifikanter Weise zu, was Schiller in der philosophischen Schrift über den Menschen im Allgemeinen sagt: Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene s i nnl ic he Harmonie [zwischen den Sinnen und der Vernunft] in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als m or ali s ch e Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, sich äußern. (NA, 20, 437)

Damit liegt dem Wilhelm Tell eine ähnliche Wirkungspoetik zugrunde wie den Philosophischen Briefen, in denen Julius die aufklärerisch-materialistische Entzauberung seiner idealistisch-metaphysischen Theosophie der Liebe beklagt, und an denen damit eine Etappe auf dem epistemischen Weg vom intuitiven Empfinden über das rationale Denken zu einer zwischen den „Extremen“ (NA, 20, 107) austarierten Wahrheitserkenntnis, einer „ruhigen Weisheit“ (ebd.), vergegenwärtigt wird. Genauso wie Julius in den Philosophischen Briefen exemplifiziert auch die Figur des Wilhelm Tell „Revolutionen und Epochen des Denkens“ (NA, 20, 108), wie es dort in der Vorrede heißt,45 und fungiert damit als Projektionsfläche für den emotiven und kognitiven Mitvollzug der Transformation von einem Objekt der Natur in ein moralisches Subjekt. Bei Gertruds Appell an ihren Mann Stauffacher („Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich“; NA, 10, 145, 325) klingt schließlich die Aufgabe des Idyllen-Dichters an, den Menschen „vorwärts zu unsrer Mündigkeit“ (NA, 20, 472), das heißt ihn, „der nun einmal nicht mehr nach A rk a di e n zurückkann, bis nach Eli s iu m “ (ebd.) zu führen. Auch noch im Kontext des Wilhelm Tell und Schillers Idyllen-Theorie kommt der Liebe eine herausragende Funktion zu, die über die affektpoetologische Evokation von Mitleid oder Rührung hinausgeht. Das Motiv der säkularisierten Liebesphilosophie, in der die Liebe zu einem Menschen an die Liebe zum Vaterland gekoppelt ist, sowie die Utopie der Liebe als gesellschaftliche

44 Hinderer, Walter: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, S. 348. Vgl. auch Riedel: „Unwiederbringlich“, S. 60; vgl. Alt, Peter-André: Schiller: Leben – Werk – Zeit, Bd. 2. 2. Aufl. München 2004, 581–582. 45 In den Philosophischen Briefen wird dieser Mitvollzug durch die konzeptionelle Mündlichkeit des Briefwechsels, in dem Orts- und Zeitdeiktika Spontaneität suggerieren, begünstigt.

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Determinationen transzendierendes Idyll, wie sie etwa in Kabale und Liebe (Ferdinand und Louise) oder dem Don Karlos (Karlos und Elisabeth) vergegenwärtigt wird, werden im Wilhelm Tell durch die Liebe zwischen Bertha und Rudenz wiederaufgenommen und dieses Mal ins Positive gewendet, sodass die Utopie hier zum Heterotopos, zu einer „tatsächlich realisierte[n] Utopie“,46 zu werden scheint: Fahr’ hin, du eitler Wahn, der mich [Rudenz] bethört! Ich soll das Glück in meiner Heimat finden. Hier wo der Knabe fröhlich aufgeblüht, Wo tausend Freudespuren mich umgeben, Wo alle Quellen mir und Bäume leben, Im Vaterland willst du die Meine werden! Ach, wohl hab’ ich es stets geliebt! Ich fühls, Es fehlte mir zu jedem Glück der Erden.

(NA, 10, 203, 1692–1699)

Ausgehend vom wirkungsästhetischen Potenzial der theosophischen Liebesphilosophie, wie es in den Philosophischen Briefen (zwischen Julius und Raphael) angelegt ist und wie es insbesondere im Bürgerlichen Trauerspiel Kabale und Liebe (zwischen Ferdinand und Louise), aber auch in den Räubern (zwischen Karl von Moor und Amalia sowie zwischen Karl von Moor und seinem Vater), dem Fiesko (zwischen Fiesko und Leonore) oder dem Don Karlos (zwischen Karlos und Elisabeth, Karlos und König Philipp sowie Karlos und Marquis Posa) in unterschiedlichen Konfigurationen modelliert wird, ist es konsequent, dass die Überwindung individueller und gesellschaftlicher Schranken durch die Liebe zwischen Bertha und Rudenz im Wilhelm Tell mit der „Überwindung der Tragödie“47 korreliert. Die Szene, die ziemlich genau in der Mitte des Schauspiels angesiedelt ist, präfiguriert den harmonischen Zustand des Schluss-Tableaus, in dem sich Landleute „zu einem Ganzen gruppiren“ (NA, 10, 276) und ihre ErlöserFigur48 Tell „mit lautem Frohlocken“ (NA, 10, 276) empfangen. Rudenz beschreibt sein Liebesglück mit den folgenden Worten:

46 Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. v. Karlheinz Barck. Leipzig 1991, 34–46, S. 39–42. 47 Vgl. Römer, Horst: „Die Überwindung der Tragödie – Schillers Wilhelm Tell als ‚Schauspiel‘“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 59 (2015), 135–155. 48 Die Stilisierung Tells als Erlöser mit Christuszügen zeigt sich etwa am Ende der Szene V/1, in der Stauffacher seine Landsleute dazu aufruft, „nach seinem Haus zu wallen“ (NA, 10, 267, 3085) und „Heil dem Retter von uns allen“ (NA, 10, 267, 30856) zu rufen. Vgl. zu dieser religiös-christlichen Stilisierung auch Alt: Schiller, S. 580.

Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller

Und all mein Ehrgeitz war nur meine Liebe. Könnt ihr [Bertha] mit mir euch in dieß stille Thal Einschließen und der Erde Glanz entsagen – O dann ist meines Strebens Ziel gefunden, Dann mag der Strom der wildbewegten Welt Ans sichre Ufer dieser Berge schlagen –

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(NA, 10, 202, 1678–1683)

Die Realisierung des Liebesideals spiegelt sich auf einer ästhetischen Ebene, insofern die Sprechbeiträge der Figuren sowohl durch den jambischen Versfuß als auch durch gekreuzten Endreim eine harmonisierte Metrik aufweisen: Wo wär die sel’ge Insel aufzufinden, Wenn sie nicht hier ist in der Unschuld Land? Hier, wo die alte Treue heimisch wohnt, Wo sich die Falschheit noch nicht hingefunden, Da trübt kein Neid die Quelle unsers Glücks, Und ewig hell entfliehen uns die Stunden. – Da seh ich D i ch im ächten Männerwerth, Den Ersten von den Freien und den Gleichen, Mit reiner freier Huldigung verehrt, Groß wie ein König wirkt in seinen Reichen.

(NA, 10, 203, 1700–1709)

Insbesondere in der Figur des Rudenz scheint sich der von Schiller in seinem Idyllen-Konzept angedachte Prozess der gesamten Menschheit von der Zerrissenheit und Zersplitterung durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung zu deren Auflösung in einer idyllischen Harmonie zu vollziehen.49 Bei näherer Betrachtung offenbaren sich aber bei allen Handlungssträngen des Stücks, die am Ende zusammengeführt werden und in das Schlusstableau münden, Divergenzen zwischen dem Ideal und der Realität der fiktiven Welt. Diese Divergenzen, die die dramenästhetische Realisierung des Idyllischen zumindest infrage stellen, weisen die Disposition zur Initiation einer Reflexion auf und verschieben die in der Epoche der Klassik in Aussicht gestellte Sinnhomogenisierung gewissermaßen auf die Metaebene. Die Realisierung des paradiesischen Zustands wird nicht in die gesellschaftlichen Bedingungen integriert, sondern von ihnen separiert, was sich bereits symbolisch im Kontrast zwischen dem Künstlichen der harmonischen Metrik und dem Natürlichen der „wilde[n] Waldgegend“ zeigt, in die Bertha und Rudenz „eingeschlossen[]“ (NA, 10, 199) sind. Rudenz will sich mit Bertha in das „stille Thal / Einschließen und der Erde

49 Zu dieser Korrelation von Onto- und Phylogenese vgl. bereits Kaiser, Gerhard: Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978, S. 193.

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Glanz entsagen“ (NA, 10, 202, 1679–1680), sodass „diese Felsen um uns her“ (NA, 10, 202, 1686) eine „undurchdringlich feste Mauer“ (NA, 10, 202, 1687) bilden, die dieses Arkadien der Liebe begrenzt und von der Außenwelt abschließt. Die Rede Berthas von „der Unschuld Land“ (NA, 10, 203, 1701) als einer „Insel“ (NA, 202, 1700) verweist darüber hinaus auf die Isolation der Schweizer Berglandschaft vom Rest der Welt. Somit handelt es sich bei dieser Liebeserfüllung also gerade nicht um die idyllenkonstitutive Realisierung eines Arkadiens unter den Bedingungen der Kultur, was in ähnlicher Weise auch auf die Revolution der Eidgenossen zutrifft. Diese erfolgt aus der Perspektive der zeitgenössischen Rezipienten nicht unter den Bedingungen frühindustrieller Ausdifferenzierung, der „höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung“ (NA, 20, 472), sondern führt eher „hinter die Geschichte“,50 eben in ein Land der Unschuld, als „in sie hinein“51 und evoziert damit das für die Elegie konstitutive Verlustgefühl.52 Der temporalen und geografischen Konvergenz zwischen Deutschland zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in den Nachwirren der Französischen Revolution und der Schweiz im dreizehnten Jahrhundert im äußeren Kommunikationssystem korrespondiert die topografische und gesellschaftliche Differenz im inneren Kommunikationssystem zwischen den Schweizer Alpen und den Tälern. Diese Topografie der Separation und Isolation hat auch eine epistemische Dimension, insofern sie eine spezifische visuelle Epistemik des Rezipienten generiert. Beim Wilhelm Tell handelt es sich um ein Schauspiel im wahrsten Sinn des Wortes, insofern durch das Arrangement der Szenen beziehungsweise Bühnenbilder eine klar definierte Lenkung der Blickrichtung vorgenommen wird. Dabei hat diese Blickrichtung sowohl topografische als auch temporale Dimensionen. Der Blick ist beispielsweise prospektiv durch das Vorspiel, das als Präfiguration der Folgehandlung und damit als Vorschau rezipiert werden kann.53 Diese Präfiguration manifestiert sich etwa in der doppeldeutigen Sturmwarnung des Fischers Ruodi, man solle das Schiff an Land ziehen, da der „graue Thalvogt“ (NA, 10, 132, 38) komme. Mit dieser meteorologischen Meta-

50 Borchmeyer, Dieter: „Altes Recht und Revolution. Schillers ‚Wilhelm Tell‘“. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Hg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, 69–113, S. 96. 51 Ebd. 52 Vgl. Riedel: „Unwiederbringlich“, S. 55 sowie Alt: Schiller, S. 586. 53 Vgl. hierzu bereits Seidlin, Oskar: „Das Vorspiel zum Wilhelm Tell“. In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno Wiese. Hg. v. Vincent J. Günther, Helmut Koopmann u. a. Berlin 1973, 112–128.

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pher zur Bezeichnung von Nebel und Regenwolken wird bereits auf den despotisch herrschenden Landvogt Gessler angespielt. Es handelt sich bei dieser Prospektion also nicht um den affektpoetologischen Informationsvorsprung, das heißt das Rührung und Mitleid erzeugende Wissen über tragische Sachverhalte, das der Rezipient bestimmten Figuren voraushat, sondern um eine Vorahnung oder – epistemologisch gesprochen – eine dunkle Erkenntnis eines Begriffs.54 Ähnlich funktioniert auch die Vision des sterbenden Attinghausen, der den Schluss des Dramas sibyllinisch voraussagt: „Der Adel steigt von seinen alten Burgen, / Und schwört den Städten seinen Bürgereid“ (NA, 10, 238, 2430–2431). Schiller stattet den Zuschauer hier also wieder mit der innerhalb der Dramen immer wieder thematisierten Vorsehung aus, die er ihm mit der Erstausgabe des Don Karlos entzogen hatte. Das Pendant zu dieser Voraussicht sind die retrospektiven Szenen, in denen die Figuren vergangene Ereignisse der fiktiven Dramenhandlung Revue passieren lassen. Dazu gehört etwa der Monolog Tells vor dem Mord an Gessler in der Szene IV/3. Durch das partielle ad-spectatoresSprechen des Monologs wird der Rezipient in die moralphilosophischen Reflexionen und retrospektiven Rekonstruktionen vergangener Ereignisse involviert und zu einem kognitiven Mitvollzug animiert. Das gegenwärtige Schauen der Zuschauer zeichnet sich durch eine Lenkung der Blickrichtung und Blickweite aus, die durch die alpine Topografie der fiktiven Welt am Vierwaldstättersee bedingt ist. So „umschliessen“ (NA, 10, 243) zum Beispiel Felsen „die ganze Scene“ (ebd.) IV/3. In der Szene IV/1 wird der „Prospekt“ (NA, 10, 224) von „seltsam gestalteten schroffen Felsen“ (ebd.) geschlossen, und die Aussprache zwischen Bertha und Rudenz in III/2 geschieht eben in einer „eingeschlossene[n] wilde[n] Waldgegend“ (NA, 10, 199). Die Komplexität einer ausdifferenzierten Moderne in den vorindustriellen Tälern wird vom Blickfeld des Zuschauers isoliert und existiert nur ob scena im gesprochenen Raum. Vor seiner Besinnung auf seine Herkunft bedeutet die Welt „jenseits dieser Berge“ (NA, 10, 168, 832) für Rudenz eine Verheißung, eine „Welt des Ruhms“ (NA, 10, 168, 831), die im krassen Gegensatz zur Schweizer Hochlandschaft steht, wo man „[n]ichts als den K u hr ei h ’n und der Heerdeglocken / Einförmiges Geläut“ (NA, 10, 168, 837–838) vernehme. Aus der Sicht des naturverbundenen Tell hingegen stellt dieselbe Welt eine Bedrohung dar. In der Replik auf die Frage seines Sohnes Walther nach einer Welt, „wo ni ch t Berge sind“ (NA, 10, 206, 1786), beschreibt Tell diese Welt als landschaftliches Idyll, „[w]o die Waldwasser nicht mehr brausend 54 Zu den verschiedenen Erkenntnisweisen vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Meditationes de cognitione, veritate et ideis“ [Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen]. In: ders.: Philosophische Schriften. Kleine Schriften zur Metaphysik 1. Hg. u. übers. v. Hans Heinz Holz. 2. Aufl. Darmstadt 1965, 33–47.

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schäumen, / Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn“ (NA, 10, 207, 1790–1791), in der sich aber bereits eine Veräußerung des Eigentums und eine Entfremdung des Menschen vollzogen haben: „Das Feld gehört dem Bischoff und dem König. [. . .] / Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. [. . .] / Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König. [. . .] / Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen.“ (NA, 10, 207, 1802–208, 1810) Das Verhältnis zwischen der topografischen Beschränktheit und der Gedankenfreiheit in den Schweizer Bergen ist jenseits dieser Berge in ihr Gegenteil verkehrt: „Vater, es wird mir eng im weiten Land“ (NA, 10, 208, 1811). Aus den Augen bedeutet hier also nicht aus dem Sinn und gleich im Anschluss an diesen Dialog zwischen Tell und seinem Sohn Walther erweisen sich „die bösen Menschen“ (NA, 10, 208, 1814), denen die „Gletscherberge“ (NA, 10, 208, 1813) vorgezogen werden, in der Person Gesslers als bereits in die vermeintlich abgeschottete Welt der alpinen Schweiz eingedrungen: „Ey, Vater, sieh den Hut dort auf der Stange.“ (NA, 10, 208, 1815) Die Handlung des Wilhelm Tell wird also nicht einfach nur in eine aus der Perspektive des zeitgenössischen Publikums vormoderne Vergangenheit verlegt, was das elegische Verlustempfinden bewirken kann, sondern sie besteht bereits aus Interferenzen zwischen einem „ästhetischen Staat“55 und einer in diesen hereinbrechenden modernen Gesellschaftsform, was Reflexionen initiieren kann. Es wird eine Differenzerfahrung vergegenwärtigt, das heißt die Erfahrung der Differenz zwischen dem ‚naiven‘ Naturzustand des Menschen in einem „goldne[n] Alter“ (NA, 20, 468) und der Zersplitterung des Individuums in den „künstlichen Verhältnissen der größern Societät“ (NA, 20, 467), wie Schiller die zunehmend ausdifferenzierte Moderne im Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung bezeichnet. Die Perversion des Zwangs, das Leben des eigenen Kindes zu riskieren, hat Wilhelm Tell mit sich selbst uneins gemacht56 und ihn gleichzeitig für die „Zerstückelung“57 des Menschen in die Summe der von ihm in der modernen Kultur verfolgten Ziele sensibilisiert. So sinniert er in seinem Monolog der Szene V/3 auf einer Steinbank über die vorbeiziehenden Wanderer: 55 Unter „ästhetischer Staat“ versteht Sautermeister die „ideale Verbundenheit der mit sich selbst versöhnten Menschen“; Sautermeister, Gert: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen. Stuttgart 1971, S. 227. Vgl. auch Kaiser: Von Arkadien nach Elysium, S. 209. Borchmeyer zufolge wird das „politische Ideal“ des ästhetischen Staats im Wilhelm Tell „ungetrübt“ wirklich. Borchmeyer: „Altes Recht und Revolution“, S. 108. 56 Vgl. zu dieser Entzweiung etwa auch Riedel: „Unwiederbringlich“, S. 59. 57 Zelle, Carsten: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“. In: SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart u. Weimar 2005, 451–479, S. 452.

Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller

Denn hier ist keine Heimat – Jeder treibt Sich an dem andern rasch und fremd vorüber, Und fraget nicht nach seinem Schmerz – Hier geht Der sorgenvolle Kaufmann und der leicht Geschürzte Pilger – der andächtge Mönch, Der düstre Räuber und der heitre Spielmann, Der Säumer mit dem schwer beladnen Roß, Der ferne her kommt von der Menschen Ländern, Denn jede Straße führt ans End der Welt. Sie alle ziehen ihres Weges fort An ihr Geschäft [. . .].

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(NA, 10, 245, 2611–2621)

Auch diese Szene, in der sich Tells Übergang von einer ‚naiven‘, sich in Sentenzen manifestierenden Denkart in einen reflektierenden, abwägenden Denkmodus vollzieht, ist von Felsen begrenzt, wobei die Wanderer „von der Höhe“ (NA, 10, 243) bereits zu sehen sind. Während Schiller die Rezipienten schon durch die Buchfassung des Don Karlos mit einem nicht-teleologischen, kontingenzbestimmten Geschichtsbild konfrontiert, wie es auch in der ästhetischen Schrift Über das Erhabene (1801) gezeichnet wird und wie es durch die Komposition dieses Dramas auch extrafiktional erfahrbar gemacht wird, geht er im Wilhelm Tell noch einmal vor den „Anfang[] der Kultur “ (NA, 20, 467) zurück, aber nur, um den Eintritt in diese zu inszenieren. Erst in der letzten Szene wird der bis hierhin topografisch eingeschränkte Blick auf „den ganzen Thalgrund“ mitsamt „den Anhöhen, welche ihn einschließen“ (NA, 10, 276), ausgeweitet. Aber dieser Blick ist bereits im inneren Kommunikationssystem getrübt durch die Aussichten auf einen wahrscheinlichen Vergeltungsschlag des Königs, wie ihn Walther Fürst befürchtet: Das Werk ist angefangen, nicht vollendet. Jezt ist uns Muth und feste Eintracht noth, Denn seid gewiß, nicht säumen wird der König, Den Tod zu rächen seines Vogts, und den Vertriebnen mit Gewalt zurück zu führen.

(NA, 10, 260, 2926–261, 2930)

Dass Schiller hier nicht auf die poetische Realisierung des Ideals, sondern dessen Problematisierung zu zielen scheint, manifestiert sich auch im Leseeindruck des Schauspielers und Dramenautors August Wilhelm Iffland. Dieser lässt Schiller im Hinblick auf die Aufführung des Wilhelm Tell über den Sekretär Pauli einen Fragebogen zustellen, der vom Autor partiell kommentiert wird. Zur Szene V/1 merkt Iffland an:

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Als im 5. Act Stauffacher den Mord Kaiser Alberts erzählt, dacht ich, nun werden die Schweizer die That verabscheuen, den Schluß fassen, die Mörder nicht aufzunehmen, und dann wird alles zu Tell sich wenden und in der größten Einigung das Stück enden. Nun war mir es, als hielte sich alles Volck zu lange [. . .] bei dem Briefe der Königin. (NA, 10, 458)

Schiller kommentiert Letzteres lapidar: „Hier kann etwas abgekürzt werden.“ (NA, 10, 458). Damit erweist sich das Schauspiel Wilhelm Tell als Hybridform zwischen ‚naiver‘ und ‚sentimentalischer‘ Dichtungsweise, insofern es einerseits ein „Werk für das Auge“ (NA, 20, 440; die folgenden Zitate ebd.) ist, das „in der Begrenzung seine Vollkommenheit“ hat, und andererseits „ein Werk für die Einbildungskraft“, das diese Vollkommenheit „auch durch das Unbegrenzte“ erreicht. Es handelt sich bei diesem Stück demnach nicht um eine elegische Konstruktion58 im engen Sinn, denn es wird nicht einfach ein Ideal gezeigt und temporal wie topografisch in eine vergangene Zeit an einen entlegenen Ort entrückt. Schiller stellt nicht einfach „das Gemählde der unverdorbenen Natur oder des erfüllten Ideales rein und selbstständig“ (NA, 20, 449) vor die Augen, um durch den Kontrast mit der zeitgenössischen „Erfahrung der Verderbniß [. . .] die Empfindungsart [. . .] in uns elegisch [zu] machen“ (ebd.), sondern er vergegenwärtigt die Durchsetzung des Ideals von einer aus metaphysischer Perspektive fragwürdigen Wirklichkeit. Dass das idealistische Gesamtbild bereits Risse aufweist, wird durch eine gezielte Lenkung der Blickrichtung subtil zu erkennen gegeben. Schiller unterläuft damit das weiter oben erläuterte theatrum-mundi-Prinzip einer proportionalen Repräsentation der wirklichen Welt im Mikrokosmos der fiktiven Dramenwelt, wie er es in seiner frühen Theatertheorie konzipiert, insofern sich die Visibilität des Ideals (im Liebesidyll zwischen Bertha und Rudenz oder im Rütlischwur) in ihrer topografischen Beschränktheit auch als ‚naiv‘-beschränkte Sichtweise auf ein bedenkliches Ganzes erweist und das Ideal damit einer Reflexion zugänglich gemacht wird. Auf einem Kontinuum ‚sentimentalischer‘ Empfindungsweisen (satirisch – elegisch – idyllisch) rückt das Schauspiel in die Nähe des Satirischen, insofern der „Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ (NA, 20, 442) im Stück selbst angelegt und durch die Wirklichkeit der Rezipienten mit den Erfahrungen der Französischen Revolution gewissermaßen beglaubigt wird. Die für Schillers Werk konstitutive Hybridität ergibt sich somit auch durch eine Verstrickung von elegischer und satirischer Dichtungsweise. Durch die Differenzerfahrung der Rezipienten, die aus einer historischen Perspektive den Verlust eines verloren gegangenen Arkadiens bedauern können,

58 Vgl. Riedel: „Unwiederbringlich“, S. 55.

Liebesphilosophie und Dramenpoetik bei Schiller

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ist das Drama im Schiller’schen Sinn elegisch, durch die partielle Vergegenwärtigung dieses Verlusts in der fiktiven Dramenwelt selbst ist es satirisch. Vor diesem Hintergrund hat auch die historische Entrückung des Dramengeschehens die kognitive Funktion einer Reflexionsinitiation. Vermitteln sowohl der Don Karlos in seiner Erstausgabe als auch der Wilhelm Tell ein nicht-idealistisches, nichtmetaphysisches und damit komplexes Weltbild, so unterscheiden sich die beiden Dramen durch die Art und Weise, wie das Bewusstsein für dieses Weltbild jeweils konstituiert wird. Dass es sich bei der Revolution der Eidgenossen um die Realisierung von Posas Ideal einer auf Gedankenfreiheit gründenden Republik handelt, wie dieser es in der Szene III/10 König Philipp gegenüber vertritt, greift jedenfalls zu kurz. Denn einerseits ist die Revolution nur durch die topografische und kulturelle Entrücktheit der Schweizer Alpen möglich, und andererseits wird der gordische Knoten, den man mit dem Mord an Gessler zu zerschlagen meint, im Grunde erst geschürzt. Der Brief der Königin, den Iffland in seinem Fragebogen erwähnt, und die wahrscheinliche Rache des Königs entlarven die naive Formel: „Es ist Ein Feind, vor dem wir alle zittern, / Und Eine Freiheit macht uns alle frei!“ (NA, 10, 204, 1730–1731) als unterkomplex angesichts einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Kultur, in der Macht auf viele verschiedene Personen verteilt ist. Vielmehr führen die Eidgenossen einen Kampf gegen die vielköpfige Hydra, der zwei neue Köpfe wachsen, wenn man ihr einen abschlägt. Auch wenn viele von Schillers eigenen Aussagen darauf hindeuten, dass er mit dem Wilhelm Tell auf den Publikumserfolg zielte und die Zuschauerinnen und Zuschauer im Theater den Schluss als Happy End empfinden mochten,59 so weist dieses Drama auch einen subtilen Nihilismus oder wenigstens Pessimismus auf. Dieser wird aber eher vom Auge des „bedachtsamen Lesers“ (NA, 3, 246; die folgenden Zitate ebd.) erfasst, der mehr Finessen der dramatischen Dichtung wahrnehmen kann, ohne vom „gewaltigen Licht der Sinnlichkeit“ einer Theateraufführung „geblendet“ zu werden, wie es Schiller in seiner Vorrede zur ersten Auflage der Räuber formuliert.

59 Vgl. Römer: „Überwindung der Tragödie“, S. 154–155.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1

„Republikaner Fiesko? Herzog Fiesko?“ Fiesko am Trapez in der Inszenierung von Frank Behnke am Theater Münster, Spielzeit 2015/16 (Fiesko: Jonas Riemer, Fotograf: Oliver Berg) 58

Abb. 2

„Herr? – das ist wider die Abrede.“ Der gefolterte Muley Hassan in der Inszenierung von Frank Behnke am Theater Münster, Spielzeit 2015/16 (Muley Hassan: Bálint Tóth, Fiesko: Jonas Riemer, Fotograf: Oliver Berg) 67

https://doi.org/10.1515/9783110667066-015