Pendelmigration aus Oberschlesien: Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas [1. Aufl.] 9783839421338

Das Konzept »transnationaler Räume« hat der Migrationssoziologie neue Impulse gegeben. Wenig Beachtung hingegen fand bis

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German Pages 406 [423] Year 2014

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Pendelmigration aus Oberschlesien: Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas [1. Aufl.]
 9783839421338

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Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien

Kultur und soziale Praxis

Ewa Palenga-Möllenbeck (Dr. rer. soc.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Forschungsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethoden, Migrations- und Transnationalismusforschung, Gender und Care-Arbeit.

Ewa Palenga-Möllenbeck

Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas

Diese Arbeit wurde 2011 unter dem Titel »Gelebter Alltag und historische Imagination: Transnationale Arbeitsmigranten aus Oberschlesien« an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation zugelassen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2133-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2133-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einleitung | 9 Kontextbeschreibung: Oberschlesien als historisches Grenzland | 17

Die Geschichte der Region zwischen Deutschland und Polen im 19. und 20 Jahrhundert | 17 Emigration aus Oberschlesien in die Bundesrepublik zwischen 1945 und 1992 | 27 Temporäre Arbeitsmigration der oberschlesischen Doppelstaatler nach 1989 | 28 Forschungsstand | 43

Sind oberschlesische Arbeitsmigranten »unvollständige Migranten«? | 44 Die oberschlesische Migration aus regionaler Perspektive | 47 »Grenzidentitäten« in Oberschlesien | 64 Integration und Identitäten oberschlesischer Aussiedler | 72 Temporäre Migration von Polen nach Deutschland | 81 Theoretischer Teil | 91

Theorien der Migration | 91 Was ist transnationale Migration? | 98 Der recurrent migrant als ergänzender Idealtypus der Migration | 113 Transnationale Infrastruktur | 117 Soziale Strukturen und Intersektionalitätsanalyse | 122 Identität | 131

Methodischer Teil | 137

Methodologie | 137 Methodik der Untersuchung | 143 Empirischer Teil | 169 Transnationale Migrationsstrategien: Sozio-materielle Infrastruktur und Lebensprojekte | 171 Zwischenfazit | 219 Soziale Strukturen: Intersektionen von Ethnizität, Staatsangehörigkeit, Klasse, Geschlecht, Generation, Lebenszyklus und familiärer Konstellation | 221 Zwischenfazit | 284 Transnationale subjektive Verortungen | 292 Zwischenfazit | 345 Schlussfolgerungen und Desiderate | 349

Sind oberschlesische Arbeitsmigranten Transmigranten? Schlussfolgerungen zum Transnationalismus-Konzept | 349 Realtypologische Migrationstrategien: soziale Praxis und ihre Strukturierung | 352 Sinnwelten | 353 Doppelte Staatsangehörigkeit | 354 Arbeitswelt | 354 Institutionalisierung und Formalisierung der Migration | 355 Historisch-imaginierter und gelebter Transnationalismus | 356 Ausblick und Desiderate für zukünftige Forschungen | 357 Literaturverzeichnis | 361 Anhang | 395 Übersicht über die geführten Interviews | 395 Transkriptionsregeln | 402

Danksagung

Zuallererst möchte ich all meinen Interviewpartnern und -partnerinnen herzlich danken, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben und damit wertvolles Datenmaterial »schenkten«, das die Arbeit überhaupt ermöglicht hat. Zur Fertigstellung dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Insbesondere danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Ludger Pries und meiner zweiten Betreuerin und Zweitgutachterin Frau Prof. Helma Lutz, die mich beide von Anfang an mit zahlreichen konstruktiven Gesprächen und freundlicher Unterstützung begleitet haben. Mein Dank gilt auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihrer Promovendenkolloquien in Bochum bzw. Münster und später in Frankfurt am Main für zahlreiche fruchtbare Diskussionen. Die finanzielle Unterstützung durch das Allgemeine Promotionskolleg und die Research School der Ruhr-Universität Bochum verschaffte mir die nötige Zeit und gute Arbeitsbedingungen. Meinem Ehemann Thorsten danke ich besonders für seine sprachliche Unterstützung, seinen kritischen Blick und sein großes Verständnis. Er hat auch mein Interesse an der Soziologie geweckt und mich auf die Idee gebracht, das Konzept der transnationalen Migration auf die Region Oberschlesien anzuwenden. Meine Schwiegereltern Hans-Peter und Irmtrud Möllenbeck haben mich in jeder Hinsicht unterstützt und – ebenso wie Elise Pape und Eva Reichov – Teile der Arbeit korrekturgelesen. Ohne die Unterstützung meiner Mutter ElĪbieta Palenga bei der Erhebung von Interviews in Polen und später auch bei der Betreuung unseres kleinen Sohnes wäre die Arbeit vielleicht nicht entstanden. Widmen möchte ich die Arbeit ihr und meinem Vater Krystian Palenga, der sich sehr gefreut hätte, sie lesen zu können. Ewa Palenga-Möllenbeck Frankfurt im Mai 2013

Einleitung

2007 erschien in Polen »Der schwarze Garten« – eine teilweise literarisch verfremdete historische Reportage in Buchlänge. Die bekannte Journalistin Małgorzata Szejnert dokumentierte darin 100 Jahre aus dem Leben der Bergarbeitersiedlung Gieschewald (Giszowiec), die heute ein Teil der Stadt Kattowitz im oberschlesischen Industrierevier ist. Der Ort fungiert als Bühne, auf der die Einwohner als Darsteller das Leben einer zwischen zwei Nationen hin- und hergerissenen Grenzregion aufführen. Eine Szene aus dem Jahr 1913 illustriert recht gut die damalige Situation der Menschen der Region: Damals beginnt in Gieschewald, das noch zum Deutschen Reich gehört, ein Streik – ausgerufen von der katholischen Gewerkschaft »Polnische Berufsvereinigung« (Zjednoczenie Zawodowe Polskie), die 1902 in Bochum (!) gegründet wurde. Die deutschen Arbeitgeber vor Ort in Oberschlesien behaupteten, bei dem Streik gehe es »nicht um einen ökonomischen, sondern um einen nationalen Kampf, darum […] Antipathie gegen die deutschen Besitzer der großen Konzerne zu wecken« (Szejnert 2007: 72). Der zwanzigjährige Arbeiter Wojciech Bywalec wird entlassen und landet auf einer »Schwarzen Liste« – an einen Arbeitsplatz in der Region ist nicht mehr zu denken. Bywalec lässt sich daraufhin von einem Arbeitsvermittler anwerben, der Menschen nach Westfalen und ins Rheinland entsendet (Szejnert 2007: 73). Sieben Jahre lang lebt und arbeitet Bywalec daraufhin in Dortmund. Nach dem Ersten Weltkrieg ist Oberschlesien Streitobjekt zwischen Deutschland und dem wiederhergestellten polnischen Staat; eine Volksabstimmung soll über die künftige staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Bywalec kehrt dem Ruhrgebiet den Rücken und kehrt zurück in seine Heimatregion, wo er sich in einem Verband oberschlesischer Remigranten engagiert.« Er wird schließlich als »Agitator« festgenommen. Was tut er? »Die haimaty, wie er Deutschland nannte, haben ihm so zugesetzt, dass er am Ende des Jahres sein gesamtes Hab und Gut, auch die Möbel, auf einen Güterzug packt und nach Katowice in Oberschlesien geht« (Szejnert 2007: 100).

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60 Jahre später, gleicher Schauplatz: Seit 1945 gehört Oberschlesien vollständig zu Polen. Zwischen Westen und Osten steht der Eiserne Vorhang, die Mobilität zwischen Polen und der Bundesrepublik ist stark eingeschränkt – lediglich deutschstämmige Oberschlesier können Polen mit großer Mühe (und durch finanzielle Zugeständnisse der Bundesregierung) »auf Antrag« verlassen, oder wie ihre nichtdeutschstämmigen Landsleute in den Westen »fliehen«, indem sie von Reisen in den Westen nicht zurückkehren. Bis Anfang der 90er Jahre wandern auf diesem Wege viele Oberschlesier nach Deutschland aus und werden dort als Spätaussiedler aufgenommen – so viele, dass letztlich nach Schätzungen des Soziologen Robert RauziĔski (2002: 184) auf jeden Oberschlesier in Polen 1,2 Verwandte in der Bundesrepublik kommen. Anders als damals bei Wojciech Bywalec ist die Auswanderung in jener Zeit eine »einfache Fahrt« – bis 1989 gab es aus politischen Gründen keine Rückfahrkarten. Wer sich entschied, im Westen zu arbeiten, entschied sich damit zugleich dafür, fortan dort zu leben – heute dagegen erlauben die politischen Verhältnisse, Arbeit und »Leben« in geografisch weit auseinander liegenden und politisch getrennten Räumen zu organisieren. Einblicke in diese grundsätzlich gewandelte Lebenswelt liefern narrativbiographische Interviews, die für die vorliegende Arbeit 2003 und 2005/06 mit insgesamt 23 Migranten1 geführt wurden. Einer der Befragten – Peter2 – schildert anhand seiner eigenen Geschichte den Kontrast zwischen damals und heute: 1977 kam er, damals 37 Jahre alt, zu Besuch zu seiner Cousine nach Aachen – und kehrte nicht mehr nach Polen zurück. Später kam seine ganze Familie zu ihm nach Bochum, wo er sich niedergelassen hatte. 2004 berichtete er: »Im Sozialismus, klar, es war nicht so wie man es sich wünschte. Da ich nicht in der Partei war, hat man mich schlecht behandelt, man hat mir unterschiedliche Sachen unterstellt, also habe ich mich entschieden auszuwandern [...] aber nicht als so ein großer Deutscher… die Abstammung hatten wir ja, weißt du… Vater und Mutter auch, aber es war daran mehr polni-

1

Hinweis zur Frage des geschlechterneutralen Sprachgebrauchs: Der Verlagsempfehlung folgend wird bei abstrakten Begriffen wie »Befragte«, »Migranten«, »Akteure« usw. (für »Personen, die befragt wurden«, »migrieren« bzw. »handeln«) die Grundform mit maskulinem grammatischem Geschlecht verwendet, sofern nicht auf konkrete Personen Bezug genommen wird, deren biologisches bzw. soziales Geschlecht im Kontext Bedeutung haben kann. Dies ist auch durch die Wahl des Themas begründet: Aufgrund der durch die Nachkriegsjahrzehnte hindurch noch dominierenden männlichen Ernährerrolle wurden für die vorliegende Arbeit überwiegend männliche Migranten untersucht. Eine durchgängige Doppelnennung maskuliner und femininer Formen in Kontexten, in denen das biologische Geschlecht nicht thematisiert werden soll, könnte daher irreführend wirken.

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Für alle Befragten werden anonymisierte Vornamen verwendet.

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sche als deutsche Abstammung. Und so wollte man den Kindern ein besseres Leben sichern, in dieser westlichen Welt.«

Als Rentner lebt Peter heute wieder mit seiner Frau in Oberschlesien – er ist ein klassischer Rückkehrmigrant, genauer: ein retirement migrant. Beide Eheleute fahren regelmäßig nach Deutschland, um sich medizinisch untersuchen zu lassen, da sie immer noch in Deutschland krankenversichert sind. Bei diesen Gelegenheiten besuchen sie auch ihre vier Kinder und deren Familien, sowie Verwandte und Freunde, die in Deutschland geblieben sind. Ganz anders sieht das Leben des 29-jährigen Ludwik aus, der 25 Jahre später, also in den 90er Jahren, mit seiner Familie in Polen lebt. Bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hörte die Bundesrepublik auf, die Aufnahme von Deutschstämmigen aus Polen aktiv zu fordern; zugleich aber verleiht sie weiterhin großzügig die deutsche Staatsangehörigkeit an Oberschlesier (bzw. »stellt sie fest«). Es ist nunmehr möglich – und auch finanziell attraktiv – in einem Land mit der Familie zu leben und im anderen zu arbeiten. Eine neue Generation oberschlesischer Migranten macht von dieser Situation Gebrauch; Ludwik ist einer von ihnen. Zum Zeitpunkt des Interviews (2005) arbeitete er inzwischen seit elf Jahren im Bausektor in Deutschland. Mit 19 hatte er seine unbefristete Stelle in Polen gekündigt und begonnen, in Deutschland zu arbeiten – so wie viele seiner Freunde, die immer öfter einen vorhandenen Arbeitsplatz in Polen gegen einen in Deutschland tauschen. Seine Frau und zwei Kinder sind in Oberschlesien geblieben; Ludwik pendelt wöchentlich 500 bis 1000 Kilometer zwischen seinem Arbeitsplatz in Deutschland und seiner Familie in Polen: »Mit der Arbeit im Westen ist es so. Auf viele Sachen muss man verzichten, vieles opfern, aber materiell steht man besser da [...] also manchmal hat man eben keine Wahl, man muss wieder die Taschen packen und sie am Sonntagabend in den Kofferraum werfen und die 500 oder 1000 Kilometer fahren, je nachdem, wo die Baustelle ist, und bis Freitag da bleiben. Und am Freitag oder Samstagmorgen ist man wieder zu Hause, ein wenig unausgeschlafen, ein wenig müde von dieser Autofahrt. Man muss hier wieder was anpacken, denn hier hat der Wind was kaputt gemacht, da ist was passiert oder es hat geschneit, wie heute [...] Seit sechs Jahren bin ich bei einem Unternehmen, aber wer weiß, das kann sich von Tag zu Tag ändern, heute arbeitet man, aber es kann sich in einem Tag, in einer Woche, in einem Monat ändern [...] Also, man kann sich nicht darauf einstellen, dass wir bis zur Rente beschäftigt sein werden [...] Andererseits sehe ich keine lange Zukunft da in Deutschland, es ändert sich von Monat zu Monat und wird immer schlechter… Daher muss man sich noch dieses eine Ziel setzen, hier etwas anzufangen und so besser das Familienleben mit der Arbeit zu vereinbaren. Es zumindest versuchen. Wenn es nicht klappt, dann hat man immer diese Zufriedenheit, dass ich es probiert habe. Klappt es nicht, ja, wenn es nötig sein wird, dann werde ich zurück fahren.«

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Diese drei Migrationsgeschichten sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich – zugleich jedoch weisen sie wichtige Gemeinsamkeiten auf. Drei typische Lebensgeschichten von Menschen aus einer Region, Oberschlesien, repräsentieren drei verschiedene Epochen, politische Situationen, ökonomische und technische Möglichkeiten. Wojciech Bywalec, der politisch engagierte Bergmann, lebt im Zeitalter der Industrialisierung und migriert zwischen zwei industriellen Zentren – dem Ruhrgebiet und Oberschlesien – innerhalb eines einzelnen politischen Raums, dem Deutschen Reich. Arbeitsmigration ist damals mit einem Aufwand verbunden, allerdings ist auch Rückkehrmigration nach einigen Jahren, bedingt durch ökonomische Zyklen und die politische Situation, nicht ungewöhnlich. Charakteristisch für diese Zeit sind nationale Antagonismen zwischen Polen und Deutschland, die auch diese Biographie deutlich prägen. Eine starke Affinität zu einer dieser beiden Nationalitäten, wie hier Wojteks politisches Engagement für das »Polentum«, ist dagegen eher untypisch – schon damals zeichnete die autochthonen Oberschlesier ein eher nüchtern-pragmatischer Umgang mit der Nationalitätsfrage aus. Der Aussiedler Peter wandert weniger aus politischen als aus ökonomischen Gründen von Polen in die Bundesrepublik aus. Allerdings sind es politische Gründe, die ein Zurück nach Polen unmöglich machen – die Trennung des ehemaligen deutsch-polnischen Migrationsraums durch den Eisernen Vorhang. Peter integriert sich in Deutschland »auf Dauer«, seine Lebensgeschichte ist typisch für die der Aussiedler in Deutschland. Auch seine »uneindeutige« nationale Identität ist unter schlesischen Aussiedlern verbreitet – weniger hingegen seine Rückkehr nach Polen im Rentenalter, die anderseits jedoch auch nicht gerade eine Ausnahme darstellt. Die dritte Generation der oberschlesischen Migranten schließlich besitzt meist seit den 1990er Jahren einen deutsch-polnischen »Doppelpass« und pendelt regelmäßig zwischen Polen und Deutschland. Ein typischer Vertreter dieser dritten Generation ist Ludwik: Einerseits knüpft er mit seiner Erwerbsbiographie an die Erfahrungen seiner Großmutter an, die als Saisonarbeiterin regelmäßig ins deutsche »Kernland« fuhr, bzw. die des Großvaters, der als Bergmann ins Ruhrgebiet ging. Zugleich aber ist sie eindeutig in der modernen Gegenwart verankert: Sie steht stellvertretend für die temporäre Arbeitsmigration »moderner Nomaden«, die – mit Morokvasic (1994: 185) gesprochen – »pendeln, um zu Hause bleiben zu können«, ein Phänomen, das seit Beginn der 1990er Jahre für Osteuropa charakteristisch geworden ist. Was verbindet nun diese drei Beispiele für Migration aus dem Oberschlesien der letzten 150 Jahre? Es sind die – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung der involvierten Akteure – fortbestehenden historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Bindungen der ehemaligen Grenzregion an das heutige Deutschland. Auch wenn es sich aus objektiver Sicht vielfach um bloße Projektionen handelt, gilt hier wie überall das Thomas-Theorem: »Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich« (Thomas/Swaine 1928: 572).

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So prägen diese Projektionen bis heute direkt oder indirekt Identitäten, Alltagspraktiken und Migrationsverhalten der Menschen in Oberschlesien. Wie die geschilderten Lebensgeschichten zeigen, können die Lebensschwerpunkte der Migranten entweder im Zielland (Emigranten) oder im Herkunftsland (Rückkehrmigranten) liegen – es kommt aber durchaus vor, dass innerhalb einer einzigen Biographie gleichermaßen Bindungen zum »Herkunfts- und »Ankunftskontext« aufgebaut werden. In der vorliegenden Arbeit geht es um diese dritte Generation der Migranten, die seit Anfang der 90er Jahre zur Arbeit in den Westen pendelt, ohne dauerhaft aus Polen auszuwandern. Meine These lautet, dass diese pendelnden Oberschlesier einen Prototyp transnationaler Migranten darstellen, der quasi ein europäisches Pendant zur Situation lateinamerikanischer, insbesondere mexikanischer, Migranten in den USA darstellt, anhand dessen das Phänomen transnationaler Migration in den 90er Jahren erstmals beschrieben wurde. Denn wie die oben angeführten historischen Beispiele zeigen, kann man Oberschlesien als frühes Beispiel eines »transnationalen sozialen Raums« interpretieren: Lange Zeit war sie eine politisch und ethnische Grenz- und Kontaktregion; in der industriellen Revolution zog sie Zuwanderer aus dem polnischen und deutschen Umland an. Bilingualität war weit verbreitet, es entstand eine »kreolische« Alltagssprache, und es bildete sich eine spezifische regionale Identität heraus, die weder polnisch noch deutsch war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet durch eine angesichts der ethnischen Komplexität unvermeidlich willkürliche Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen geteilt, wodurch zahlreiche Familien gezwungenermaßen über Nacht »transnational« wurden. Mehrere Jahrzehnte später wird nun an die »transnationale Tradition« dieser Region angeknüpft: Nach 1989 erhielten viele Autochthone die deutsche Staatsangehörigkeit3, ohne dass sie dazu den polnischen Pass zurückgeben mussten. So wurde eine Pendelmigration mit unterschiedlich langen Intervallen möglich, wobei die Doppelstaatler gegenüber anderen Polen durch ihre volle rechtliche Gleichstellung mit anderen deutschen Staatsbürgern einen entscheidenden Vorteil haben, der die Ausprägung transnationaler Migrationsmuster fördert. In dieser Studie geht es um die Frage, ob das Konzept der transnationalen Migration geeignet ist, dieses Phänomen adäquat zu beschreiben und zu interpretieren. Dabei soll gezeigt werden, was die oberschlesische »Transnationalität« ausmacht und welche Rolle dabei die wechselhafte Geschichte der Region und ihrer Einwohner spielt.

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Rechtlich gesehen wird ihnen – anders als sonst bei einbürgerungswilligen Migranten der Fall – die Staatsangehörigkeit nicht »verliehen«, sondern diese wird aufgrund der persönlichen Umstände »festgestellt«.

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Das Buch gliedert sich in sechs Teile. Der Einführung folgt im zweiten Kapitel eine historisch-gesellschaftliche Kontextbeschreibung von Oberschlesien als einer historischen Grenzregion mit ausgeprägter Migrationskultur. Zunächst richtet sich der Blick auf dessen wechselhafte Geschichte im 19. bzw. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – diese ist gekennzeichnet durch wachsende Antagonismen zwischen den Nationalismen und später Nationalstaaten, die zunehmend auch den Alltag ihrer Bewohner bestimmte. Im zweiten Schritt dann werden die Konsequenzen der politischen Umbrüche nach 1945 und 1989 für das Wanderungsverhalten der Oberschlesier – von politisch motivierter Emigration bis zu wirtschaftlicher Pendelmigration – erläutert. Im dritten Kapitel wird der Forschungsstand aus der deutsch- und polnischsprachigen Literatur vorgestellt; insbesondere letztere wird ausführlicher zitiert, da ihre Ergebnisse aufgrund der Sprachbarriere international nur sehr eingeschränkt rezipiert werden. Hinzu kommt, dass auch die relevante polnische Literatur keineswegs einen homogenen Korpus aufeinander Bezug nehmender Beiträge darstellt. Vielmehr stehen in ihr verschiedene thematische Stränge – etwa Arbeiten zur regionalen Identität und Kultur in Oberschlesien, Studien zu polnischen Aussiedlern in Deutschland sowie zur aktuellen Arbeitsmigration von Polen nach Deutschland – relativ disparat nebeneinander. Es galt daher, aus diesem »Puzzle« eher spärlicher und fragmentierter Beiträge für die Interpretation der eigenen Forschungsfrage und -ergebnisse hilfreiche Ansätze zu gewinnen. Im vierten Kapitel wird der theoretische Rahmen der Studie vorgestellt: Zunächst führe ich das hier verwendete Konzept der transnationalen Migration ein, um dann näher auf drei Konzepte einzugehen, die sich für die Interpretation des empirischen Materials als fruchtbar erwiesen haben: transnationale Infrastruktur, Intersektionalität und Identität. Das anschließende fünfte Kapitel ist methodologisch ausgerichtet; es befasst sich zunächst allgemein mit dem qualitativen Ansatz in der Sozialforschung und beschreibt dann den hier gewählten methodischen Zugang der biographischen Methode. Die Ergebnisse deren Anwendung bilden den Gegenstand des sechsten Kapitels. Im ersten Unterkapitel wird dargestellt, dass sich die oberschlesische Pendelmigration auf eine teilweise hoch formalisierte, materielle und organisatorische grenzenüberschreitende Infrastruktur stützt, und wie diese Infrastruktur vielfältige transnationalen Erwerbspraktiken fördert und stabilisiert. »Herzstück« dieses Unterkapitels (und des gesamten empirischen Kapitels) ist eine Realtypologie von Erwerbsstrategien oberschlesischer Arbeitsmigranten. Diese versucht, die Vielfalt der vorgefundenen Praktiken zwischen völliger »Transnationalität« und völliger »Sesshaftigkeit« in Typen zu ordnen; weiterhin legt sie dar, welche Rolle transnationale Infrastruktur, sozialen Positionierungen und »Identi-

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tätsbehauptung« als drei das Handeln der Akteure entscheidend bestimmende Aspekte dabei spielen. Daran anknüpfend geht das zweite Unterkapitel näher auf die Frage der sozialen Positionierungen ein. Es zeigt an zwei Falldarstellungen exemplarisch, wie das Migrationshandeln der Akteure mit sechs aus der Literatur zum Thema Intersektionalität stammenden sozialstrukturellen Kategorien – nämlich Ethnizität/Staatsangehörigkeit, Klasse, Geschlecht, Generation, Lebenszyklus und familiäre Konstellation – erklärt werden kann. Das dritte Unterkapitel schließlich richtet den Fokus auf die symbolische Dimension dieser Migration – nämlich die Identitätskonstruktion der Pendler und die historischen Narrative und mentalen Karten, auf die sie dabei zurückgreifen. Abschließend rekapituliert das siebte Kapitel die zentralen Ergebnisse der vorangegangen und skizziert Desiderate für die zukünftige Forschung, die sich daraus ableiten lassen.

Kontextbeschreibung: Oberschlesien als historisches Grenzland

D IE G ESCHICHTE DER R EGION ZWISCHEN D EUTSCHLAND UND P OLEN IM 19. UND 20. J AHRHUNDERT Die soziologische Literatur zur transnationalen Migration befasst sich – wie im Kapitel zum Forschungsstand ausführlicher dargestellt – bisher überwiegend mit Nordamerika, konkret mit der Migration zwischen lateinamerikanischen Herkunftsgesellschaften (Karibik, Mexiko) und den USA als Ankunftsgesellschaft. Für Europa hat sich dagegen noch kein paradigmatisches Beispiel herausgebildet. Allerdings weist die Migration zwischen Polen und Deutschland seit Beginn der 90er Jahre zahlreiche Merkmale auf, die sie geradezu als Idealtyp transnationaler Migration innerhalb Europas erscheinen lassen: So ist die Oder-Neiße-Linie noch immer eine krasse Wohlstandsgrenze, die auch nach dem Beitritt Polens zur EU und zum Schengen-Raum noch mit dem US-amerikanisch-mexikanischen Prototyp vergleichbar ist. Nicht zufällig hat der polnische Sozialgeograf Tadeusz Stryjakiewicz (2002: 108) den Begriff »Rio-Grande-Syndrom« verwendet, um die besondere kollektiv-emotionale Wahrnehmung dieser Grenze zu illustrieren.1 Besondere Relevanz hat in diesem Zusammenhang die Region Oberschlesien; aus noch zu erläuternden historischen Gründen besitzen deren Bewohner häufig seit langem sowohl die polnische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit – obwohl traditionell weder das deutsche noch das polnische Recht eine solche Möglichkeit vorsehen. Polen hindert seine Bürger nicht daran, zusätzlich weitere Staatsangehörigkeiten zu erwerben bzw. zu besitzen, betrachtet diese jedoch rechtlich als nicht existent (Górny u.a. 2007: 148, 150 f.). Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wiederum setzt in der Regel die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit

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Für einen Vergleich der administrativen Aspekte beider Grenzgebiete vor dem polnischen EU-Beitritt vgl. Witt (2003).

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voraus2; erst seit 2007 wird bei Bürgern von EU-Staaten in Deutschland grundsätzlich von dieser Anforderung abgesehen (Naujoks 2009: 5). Zahlreichen Oberschlesiern wurde jedoch im Rahmen der bisherigen deutschen Gesetzgebung seit jeher unproblematisch die deutsche Staatsangehörigkeit erteilt, ohne dass die Aufgabe der polnischen dafür Voraussetzung gewesen wäre; genauer gesagt, wurde die Staatsangehörigkeit – quasi rückwirkend – lediglich »festgestellt«. Die Gründe dafür liegen in der spezifischen Geschichte Oberschlesiens. Diese besondere historische Entwicklung der Region ist auch die Ursache dafür, dass sich dort spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert ein Vorläufer eines transnationalen Sozialraums in einem Mikrokosmos etabliert hat – was sie für das vorliegende Thema besonders relevant macht. Oberschlesien stellte eine Grenzregion zwischen deutschen und polnischen Siedlungsgebieten dar. Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wurde sie – ähnlich wie das Ruhrgebiet – primär aufgrund ihrer Steinkohlevorkommen zu einem dynamisch wachsenden Industrierevier, das Arbeitssuchende aus dem näheren und ferneren Umland anzog. Dabei handelte es sich um Binnenmigration: Da Polen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen bzw. dem Deutschen Reich, Österreich (bzw. Österreich-Ungarn) und dem Russischen Reich geteilt war, stammten die Ankömmlinge im bis dahin polnischsprachigen Oberschlesien meist aus deutschsprachigen Gebieten. Im Laufe der Zeit kam es zu einer weitgehenden Vermischung der Ethnien: Es entstand eine »kreolische« Alltagssprache aus dem lokalen slawischen Dialekt mit deutschen Beimischungen; zugleich bildete sich eine spezifische regionale Identität3 heraus. Diese war weder eindeutig polnisch noch eindeutig deutsch, auch keine bloß »hybride« (»verschnittene«) Kombination von beidem, sondern eine qualitativ andere, eigene Identität. Dabei war sie allerdings keineswegs einheitlich, es existierten in ihr durchaus auch Unterschiede und Konfliktlinien: So gab es, je nach politischer oder kultureller Präferenz, »polnische«, »deutsche« und »schlesische Schlesier«. In dem Maße, wie sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die nationalen Spannungen zwischen Deutschen und der polnischen Bevölkerung verschärften, kam es auch hier zu einer zunehmenden Polarisierung; insgesamt blieb die nationale Identität der meisten Bewohner Oberschlesiens jedoch ambivalent.

2

Hinzuzufügen ist, dass umgekehrt beim Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit die deutsche automatisch erlischt, was im polnischen Recht nicht der Fall ist.

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Der Begriff »Identität« soll hier nur als Provisorium dienen und keinen unreflektierten Gebrauch implizieren; zur Problematik des Begriffs siehe S. 131 ff. Als »Arbeitsdefinition« wird der Begriff an dieser Stelle verstanden im Sinne einer Selbstzuschreibung, die u.U. durch äußere Umstände angeregt wird.

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Wie komplex die Hintergründe dieser Entwicklung sind, illustriert ein Zitat des Schriftstellers Horst Bienek, welcher der Region und ihren Bewohnern in einer Romantetralogie ein literarisches Denkmal gesetzt hat. In Die erste Polka beschreibt er die Verhältnisse am Beispiel des Politikers Wojciech Korfanty, der im Kaiserreich Reichstagsabgeordneter der sog. »Polenpartei« gewesen war, nach dem Ersten Weltkrieg die oberschlesischen Aufstände organisierte, die einen Anschluss der Region an den neuen polnischen Staat erzwingen sollten, und später kurzzeitig designierter polnischer Ministerpräsident war. Korfanty war, so Bienek, »zweisprachig aufgewachsen, wobei seine Bildung ganz von der deutschen Sprache geprägt war, er hätte ebenso wie Rosa Luxemburg in der deutschen Politik einflussreich sein können. K. war am Anfang so polnisch wie er deutsch war. Oder umgekehrt. […] Niemand wird begreifen, der nicht in dieser Gegend aufgewachsen ist oder hier längere Zeit gelebt hat, was das bedeutet: polnisch zu sprechen und Deutscher zu sein. Oder umgekehrt: deutsch zu sprechen und Pole zu sein (was freilich viel seltener vorkam).« (Bienek 1993: 113).

Weiter zitiert der Autor den ebenfalls aus der Region stammenden Schriftsteller August Scholtis: »Die Tragödie des Oberschlesiers ist, dass er weder Pole noch Deutscher ist, […] und dass ihm auf jeden Fall Unrecht getan wird, wenn er zu Polen oder […] zu Deutschland zugeschlagen wird« (Bienek 1993: 113). In einer Rezension hat Heinrich Böll (1975) die in Bieneks Romanen geschilderte historische Situation treffend beschrieben: »Oberschlesien ist nicht Schlesien, es ist beides nicht eindeutig: weder deutsch noch polnisch, und seine Unabhängigkeitsansprüche waren gar nicht weit hergeholt, wenn auch politisch hoffnungslos. […] zerquetscht und ständig hin und her gerissen zwischen zwei anspruchsvollen, total humorlosen Nationalismen, waren’s die Leute einfach leid, ständig ›bekennen‹ zu müssen.« (Hervorhebung EPM)

Dieses »Leidsein«, sich in einer von »eindeutigen« nationalen Identitäten bestimmten Umwelt »bekennen zu müssen«, ist allgemein ein wesentliches Merkmal von »Transnationalen«, denen die Kategorie der Nationalität fremd oder zumindest suspekt ist. Ähnliches lässt sich übrigens auch für andere, vergleichbare Grenzräume bzw. die Identitäten ihrer Bewohner konstatieren – etwa für die Region Kaschubien4 an der Ostseeküste, Hauptschauplatz eines ungleich bekannteres Romans: Gün-

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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Episode aus dem polnischen Präsidentschaftswahlkampf 2005, in dem der ebenfalls aus Kaschubien stammende Liberale Donald Tusk gegen den nationalkonservativen Lech KaczyĔski antrat. Kurz vor der Wahl enthüllte ein enger Mitarbeiter KaczyĔskis, dass Tusks kaschubischer Großvater im

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ter Grass’ Blechtrommel. Der Figur der Großmutter des Protagonisten Oskar Matzerath werden darin folgende Worte in den Mund gelegt, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Bölls oben zitierter Feststellung aufweist: »So isses nu mal mit de Kaschuben, Oskarches. Die trefft es immer am Kopp. Aber ihr werd ja nun wägjehn nach drieben, wo besser is, und nur de Oma wird blaiben. Denn mit de Kaschuben kann man nich kaime Umzüge machen, die missen immer dablaiben und Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtich polnisch is und nich richtig deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deutschen noch de Pollacken. De wollen es immer genau haben.« (Grass 1987: 512, zitiert nach Mazurkiewicz 1998: 585, Hervorhebung EPM)

Nach dem Ersten Weltkrieg eröffnete der gleichzeitige Zusammenbuch der drei großen, mehr oder weniger multiethnischen Reiche Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn, die Mittel- und Osteuropa bis dahin beherrscht hatten, vielen Ethnien in der Region die Möglichkeit zum Aufbau einer eigenen Staatlichkeit. Der Zeitgeist war geprägt von der Idee des »Selbstbestimmungsrechts der Völker«, wobei »Volk« als politischer Begriff einerseits (demos) und als ethnischer Begriff andererseits (ethnos) weitgehend gleichgesetzt wurden: Die Souveränität des demos – im Sinne der Überwindung vorbürgerlicher Machtverhältnisse – wurde vermengt mit der Souveränität des ethnos – im Sinne der Abwesenheit oder Unterwerfung von »Fremden«. In dem Begriff der »Fremdherrschaft«, die es abzuschütteln galt, war schwer zu sagen, ob der Akzent eher auf illegitimer »Herrschaft« oder auf

Zweiten Weltkrieg freiwillig Soldat der deutschen Wehrmacht gewesen sei (was sich später als falsch herausstellte). KaczyĔski selbst distanzierte sich formell von dieser Äußerung, doch die Information war in der Welt. Es wird in Polen allgemein angenommen, dass sie die Stimmung in der Bevölkerung zugunsten KaczyĔskis beeinflusst hat; er gewann die Wahl überraschend im zweiten Wahlgang, nachdem er im ersten Wahlgang hinter Tusk zurückgelegen hatte. 5

Mazurkiewicz liefert eine Fülle an weiteren Zitatbeispielen für das Aufgreifen entsprechender Befindlichkeiten in fiktionalen Texten. Diese Zitate dienen hier freilich nur der Illustration, sie können nicht ohne weiteres mit den Interviewaussagen realer Befragter verglichen werden. Allerdings ist auch immer wieder auf die soziologische Aussagekraft literarischer Texte hingewiesen worden: Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang wohl Wolf Lepenies (1985) Positionierung der Soziologie als einer Disziplin zwischen Literatur und exakten Wissenschaften. In jüngerer Zeit sind in einem von Thomas Kron und Uwe Schimank (2004) herausgegebenen Tagungsband mehrere Beiträge erschienen, die anhand einzelner Romane das Verhältnis von Soziologie und fiktionaler Literatur thematisieren.

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»fremd« lag; jedenfalls verlagerte er sich allmählich in Richtung »fremd« – die bloße Anwesenheit »fremder« Ethnien wurden nun tendenziell als illegitim und als Bedrohung politischer Selbstbestimmung empfunden (vgl. Koller 2005, klassisch zum Spannungsverhältnis der Begriffe ethnos und demos Francis 1965). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde ein unabhängiger polnischer Staat wiederhergestellt, dessen Grenze zum Deutschen Reich jedoch insbesondere in Schlesien umstritten war; beide Staaten beanspruchten Oberschlesien mit seiner wichtigen Industrie komplett für sich. Daraufhin wurde 1921 unter Aufsicht des Völkerbundes ein Referendum abgehalten, das über die künftige staatliche Zugehörigkeit der Region entscheiden sollte. Bezogen auf das gesamte Abstimmungsgebiet entschied sich darin eine klare Mehrheit für den Verbleib beim Deutschen Reich (59,43% gegenüber 40,57% für Polen), die Verteilung der Stimmen war jedoch räumlich sehr unterschiedlich und nicht eindeutig mit sprachlichen oder ethnischen Verhältnissen kongruent. Offensichtlich votierten viele Stimmberechtigte »strategisch«: So waren viele der Ansicht, der neu entstandene polnische Staat sei wirtschaftlich und politisch zu instabil und entschieden sich deshalb für die vermeintlich »sicherere« Option Deutschland, die eine verlässlichere weitere Lebensplanung zu ermöglichen schien. Dem deutschen Geograph Wilhelm Volz fiel an der Stimmenverteilung im Referendum auf, »[…] dass in den Gebieten sozialen Tiefstands die polnischen Stimmen zahlreich sind; an den großen Verkehrslinien wird deutsch gestimmt, wo es keine alten Verkehrssprachen, keine Eisenbahn gibt dagegen polnisch, wo der Hüttenarbeiter, der in sozial besserer Lage ist, vorherrscht, gibt es deutsche Majoritäten; wo der Grubenarbeiter dagegen die Mehrheit hat, finden wir starke polnische Stimmenzahlen; wo besserer Boden zwischen Latifunden auf kleinsten Wirtschaften der Landmann sich plagen muss, um sein Leben zu fristen, sind polnische Majoritäten […] Damit aber wird die ganze oberschlesische Frage zur kulturellen, sozialen Frage. Es ist ein großer Irrtum, in ihr ein nationales Problem zu sehen.« (Volz 1922, ohne Seitenangabe zit. in Becher/Borodziej/Maier 2001: 141)

Vor und nach der Abstimmung kam es zu bürgerkriegsartigen Zuständen, die oftmals von außerhalb eingeschleusten nationalistischen deutschen und polnischen Agitatoren und paramilitärischen Verbänden provoziert wurden. Nach dem verlorenen Referendum wollte sich die polnische Seite nicht mit dem Ergebnis abfinden und begann einen weiteren Aufstand, mit dem vollendete Tatsachen geschaffen werden sollten. Schließlich wurde das Gebiet 1922 durch eine Grenze geteilt, deren Verlauf angesichts der von Volz beschriebenen komplexen ethnischen Gemengelage zwangsläufig nur willkürlich sein konnte und – um die oben zitierten Worte August Scholtis’ aufzugreifen – den Einwohnern »auf jeden Fall Unrecht« tun musste: Gewach-

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sene wirtschaftliche und soziale Strukturen, auch Familien, wurden quasi über Nacht zwischen zwei Nationalstaaten aufgeteilt, die sich zudem feindselig gegenüberstanden. Für viele Bewohner der Region bedeutete diese Situation eine erheblich praktische und auch emotionale Belastung dar – zumal ihnen selbst die Kategorie der Nationalität oft neu und fremdartig war. Ein aus heutiger Sicht geradezu kurios anmutendes Beispiel: Einige Oberschlesier, die sich auf der polnischen Seite der Grenze wiederfanden, wandten sich an das eigens für die Region eingerichtete Schiedsgericht des Völkerbunds in Genf – und zwar mit der Bitte, man möge ihnen offiziell mitteilen, »wer sie sind«, da sie sich unschlüssig seien, ob sie ihre Kinder auf eine reguläre polnische Schule oder eine für Angehörige der deutschen Minderheit schicken sollten (Rose 1935: 277, zitiert nach BerliĔska 1999: 88). Auch nach der völkerrechtlich verbindlichen Festlegung der Grenze 1922 blieb die Zwischenkriegszeit gekennzeichnet von permanenten Spannungen zwischen der Weimarer Republik und dem neuen polnischen Staat. Bis auf die Kommunisten wollte sich in Deutschland keine Partei mit den erzwungenen Gebietsabtretungen an Polen abfinden, die als Bestandteil des »Diktats von Versailles« empfunden wurden; doch auch in Polen betrachteten einflussreiche Stimmen die Gebietszugewinne u.a. in Oberschlesien nicht als ausreichend und forderten weitergehende Annexionen. Ein wichtiges Thema in den deutsch-polnischen Streitigkeiten waren die beiderseits der Grenze verbliebenen Minderheiten sowie das jeweils als eigene Minderheit reklamierte, national unentschiedene »schwebende Volkstum«. Deren Behandlung durch die beiden Staaten war – neben dem zur »Freien Stadt« erklärten Danzig und dem »polnischen Korridor«, der Ostpreußen nun vom Hauptteil des deutschen Territoriums trennte – Hauptstreitpunkt in den Auseinandersetzungen. Das Deutsche Reich versuchte durch ein kompliziertes, geheimes System, die deutsche Minderheit in Polen zu unterstützen und so zum Verbleib dort zu motivieren, um sie als Begründung für die eigenen Ansprüche auf die »urgermanischen« Gebiete instrumentalisieren zu können. Paradoxerweise hörten diese Streitigkeiten bald nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten auf – zur Stabilisierung seines Regimes schloss Hitler 1934 den Nichtangriffspakt mit Polen, durch den auch die Minderheitsproblematik vorläufig von der Tagesordnung verschwand. 1939 schließlich sah sich NSDeutschland kriegsbereit und kündigte das Abkommen auf. Damit brach der Konflikt mit voller Wucht wieder auf und mündete wenige Monate später in den deutschen Angriff auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann (allgemein Broszat 1980, Kellermann 1970; zur Problematik der deutschen Minderheit in Polen Krekeler 1973). Nach der folgenden Zerschlagung des polnischen Staates durch NS-Deutschland und die Sowjetunion wurde der östliche Teil Oberschlesiens, den Deutschland an

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Polen hatte abtreten müssen, wieder in das Reich eingegliedert. Ein Teil der politisch aktiven Angehörigen der deutschen Minderheit identifizierte sich mit den neuen Machthabern und kollaborierte mit ihnen. Insgesamt aber sahen sich die Deutschen nunmehr vor dem schwierigen Problem, die in großen Teilen ethnisch heterogene und ambivalente Bevölkerung zu kategorisieren. Zu diesem Zweck erließ die deutsche Verwaltung 1941 schließlich eine »Deutsche Volksliste« mit vier Abteilungen. In Abteilung I gehörten dabei Personen, die sich vor 1939 aktiv zur deutschen Nationalität bekannt hatten, in Abteilung II solche, die sich lediglich passiv zum »Deutschtum« bekannt, dieses aber »nachweislich bewahrt« hatten. Abteilung III umfasste deutschstämmige Personen, die »im Lauf der Jahre Bindungen zum Polentum eingegangen waren, bei denen aber die Voraussetzungen gegeben waren, sie wieder zum Deutschtum zurückzuführen«. Darunter fielen alle »völkisch nicht klar einzuordnenden, blutsmäßig und kulturell zum Deutschtum hinneigenden Bevölkerungsgruppen mit slawischer Haussprache«. Sofern diese »sich vor dem 1. September 1939 im Volkstumskampf aktiv für das Deutschtum eingesetzt« hatten, konnten sie auch in Abteilung I heraufgestuft werden, sofern sie sich zumindest »ihr Deutschtum nachweislich bewahrt haben«, in Abteilung II. Abteilung IV schließlich betraf deutsche Volkszugehörige, »die politisch im Polentum aufgegangen sind« (nach Blahusch o.J.: Anm. 8, Urban 1992: 22). Ganz unabhängig davon, dass eine ethnische Einordnung der oberschlesischen Bevölkerung in vier Kategorien sachlich nur geringfügig sinnvoller war als eine in zwei Kategorien, wurde deren Erfassung im Rahmen dieses Verfahrens durch weitere Faktoren »verfälscht«: Zum einen nutzten die deutschen Verwaltungsbeamten ihren großen Ermessenspielraum oft nach reinen Zweckmäßigkeitserwägungen und setzten nicht selten Zwang ein; zum anderen ging die zu erfassende Bevölkerung bei ihren Anträgen ebenfalls nach pragmatischen Gesichtspunkten vor. So machten die deutschen Behörden die Erfahrung, wie es 1941 in einem von dem Historiker Michael G. Esch (1998: 178) zitierten behördeninternen Schreiben hieß, »dass eine Anzahl von Familien es im Dezember 1939 so gehandhabt haben, dass ein Ehegatte die Volkszugehörigkeit polnisch [...] und der andere die Volkszugehörigkeit deutsch angegeben hat. Dies sei ganz bewusst geschehen, um sich nach beiden Seiten abzudecken.« (Schreiben SD-Abschnitt Kattowitz an Regierung Kattowitz, 2. Mai 1941)

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer radikalen Verschiebung des polnischen Staatsgebiets nach Westen. Die deutschen Gebiete östlich der Oder und Lausitzer Neiße (mit Ausnahme des Nordens von Ostpreußen) wurden von der Sowjetunion unter polnische Verwaltung gestellt – nach dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens nur vorläufig, faktisch jedoch wurden diese Gebiete in die neue Volksrepublik Polen inkorporiert. Somit wurde aus der bisherigen Grenzregion Oberschle-

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sien eine Region, die hunderte Kilometer von der deutschen Ostgrenze entfernt lag, deren Bevölkerung ihren »Grenzcharakter« aber selbstverständlich nicht über Nacht ablegen konnte. So stellte sie einmal mehr einen ethnische Homogenität anstrebenden Nationalstaat – diesmal den polnischen – vor kaum lösbare Probleme. Die zuvor beschriebene Erfassung und Kategorisierung der Bevölkerung wiederholte sich unter umgekehrten Vorzeichen: Wiederum relativ willkürlich und die ethnische Komplexität zwangsläufig krass reduzierend wurde die Bevölkerung nun in »Deutsche« und »Polen« eingeteilt; die »Deutschen« wurden (bis auf wenige, durch wirtschaftliche Notwendigkeiten diktierte Ausnahmen) deportiert, die »Polen« durften bleiben – und die ehemaligen »Volksdeutschen« hatten sich einem sog. Verifizierungsverfahren zu unterziehen, das dem Volkslistenverfahren vergleichbar war. Von dessen Ausgang hing ab, ob die Betroffenen ebenfalls zwangsausgesiedelt wurden oder – zum Teil mit strafrechtlichen Sanktionen – sozusagen als zu repolonisierende »Volkspolen« in Oberschlesien bleiben durften. Auf jeden Fall sollte für »eindeutige« ethnische Verhältnisse, eine klare Trennung zwischen Deutschen und Polen, gesorgt werden. So gab Aleksander Zawacki, der Verwaltungschef der neu eingerichteten polnischen Provinz (Woiwodschaft) Schlesien die Losung aus: »Wir wollen keinen einzigen Deutschen, und wir geben keine einzige polnische Seele her« (zitiert nach Borodziej/Lemberg 2003: 355). Bei der Umsetzung dieser Vorgabe machten die polnischen Behörden jedoch eine ähnliche Erfahrung wie sie zuvor die Deutschen gemacht hatten: nämlich dass die zu erfassende Bevölkerung das ihr abverlangte nationale »Bekenntnis« offensichtlich nicht ausreichend ernst nahm, sodass ehemalige »Volksdeutsche« sich nun wieder als Polen deklarierten, um möglichst in der Heimatregion bleiben zu können. Angesichts dessen konstatierte Zawacki 1945 frustriert: »Wenn Polen kommt, dann sind die Schlesier Polen und wenn die Deutschen kommen – dann sind sie Deutsche« (zitiert nach Esch 1998: 183). Ein solches Verhalten ist sowohl von deutscher als auch von polnischer Seite – und zwar bis heute – immer wieder als Opportunismus ausgelegt worden, und zwar bis in die neuere wissenschaftliche Literatur hinein. So wirft etwa die Soziologin Maria Szmeja (2000: 21) die Frage auf, ob die »zerrissene nationale Identität« der Oberschlesier tatsächlich »typisch für Grenzgebiete ist, oder ob sie eher ›konjunkturell‹ bedingt« sei. Auch von deutscher Seite wurde immer wieder der Generalverdacht des Opportunismus vorgebracht. So stellte etwa der selbst aus einer deutschpolnischen Familie stammende Journalist F.E.O. Jagemann über die sich nach der politischen Wende von 1989 – nicht nur, aber primär – in Oberschlesien organisierende »neue« deutsche Minderheit folgende Überlegungen an: »Hier liegt der Ursprung dessen, was heute der Kern der neu erwachten deutschen Minderheit in Polen ist: Enttäuschung der Erwartungen, die sich nach 1945 mit der Option für Polen verbunden hatten! Eine nach soziologischem Verständnis als nationale ›Schwimmschicht‹ cha-

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rakterisierte Gruppe driftet in mögliche verschiedene Richtungen – gestern diese, heute in jene. Ob sich das nach moralischen Kategorien bewerten lässt, muss dahin gestellt bleiben. […] Es handelt sich um eine Bevölkerungsgruppe, die in sich diffus zerklüftet, zum Teil rein regionalistisch, zum Teil propolnisch und in den letzten Jahren auch wieder mehr prodeutsch orientiert ist. Wobei diese drei Richtungen sich zahlenmäßig kaum objektiv ermitteln lassen. Die Fluktuation […] zwischen ihnen schwankt immer wieder, je nach wirtschaftlicher und politischer Konjunktur […].« (Hervorhebungen EPM)

Während sich sachlich wenig gegen diese Beobachtung einwenden lässt, ist die Tendenz, angesichts der Fluktuation des nationalen »Bekenntnisses« eine Frage nach deren »moralischer« Bewertung zu stellen, aus wissenschaftlicher Sicht als fragwürdig zu betrachten: Tatsächlich besteht für Menschen wenig Grund, mit Kategorien, die von außen oktroyiert werden und die ihnen aufgrund ihrer eigenen Lebenswelt irrelevant erscheinen, anders als eben »opportunistisch« umzugehen. Michael G. Esch (1998: 183f.) interpretiert das Verhalten der Betroffenen wie folgt: »Diese Menschen verstanden sich in erster Linie als Schlesier [...] und waren zuallererst an dem interessiert, was sie tatsächlich anging: daran, auf ihrem Besitz oder mit ihrer Arbeit möglichst unbehelligt und sicher leben zu können.«

Das eingeforderte Bekenntnis zu einem abstrakten »Deutschtum« und/oder »Polentum« konnte für sie somit allenfalls Mittel sein, dieses Interesse zu verwirklichen. In auffälliger Ähnlichkeit zu diesem Befund beschreibt die Migrationssoziologin Mirjana Morokvasic-Müller in Bezug auf heutige polnische Arbeitsmigranten, die aus ihrer Heimat Richtung Westen pendeln: Diese verfolgten ihre Strategie der Migration gerade, »um zuhause bleiben zu können« (Morokvasic 1994: 185) – eine Formulierung, auf die noch zurückzukommen sein wird. Wie an den oben angeführten historischen Beispielen deutlich wird, haben solche Strategien – wenn auch in einem ganz anderen Sinne und Kontext – in Oberschlesien also durchaus eine lange Tradition. Doch zunächst zurück zur Situation nach 1945: Die geplante »Repolonisierung« der autochthonen Bevölkerung, jener »driftenden Schwimmschicht« (Jagemann) verlief nur teilweise erfolgreich. Zwar konnte zumindest die aktive Bilingualität (bzw. Trilingualität, sofern man das slawische Oberschlesische nicht als Dialekt, sondern als Sprache einstuft) weitgehend ausgemerzt werden; das öffentliche Leben näherte sich bald der geforderten ethnischen Homogenität an. Auch wenn sie formal gleichberechtigte Bürger der Volksrepublik waren, fühlten sich die verbliebenen Autochthonen im kommunistischen polnischen Nationalstaat stark diskriminiert. Es blieb eine tiefe Kluft zwischen ihnen und den aus anderen Teilen Polens zugezoge-

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nen, Standard-Polnisch sprechenden »Allochthonen« (den napływowi, wörtlich etwa: »Eingeströmte«). Diese bildeten fortan in Oberschlesien eine politisch und kulturell privilegierte und dominierende Schicht. Insofern kann man den Status Oberschlesiens innerhalb der Volksrepublik Polen durchaus als den einer »interne Kolonie« oder – um Michael Hechters (1975) Begriff aufzugreifen – als Germanic fringe bezeichnen. Die Oberschlesier empfanden sich als eine wirtschaftlich ausgebeutete, politisch und kulturell unterprivilegierte und moralisch kriminalisierte innere Kolonie (vgl. Szmeja 2000: 58-74). So diagnostiziert F.E.O. Jagemann (1992: 4) zutreffend: »Die ›Autochthonen‹, die unter früherer deutscher und dann polnischer Obrigkeit ›einheimisch‹ gebliebenen Bewohner Oberschlesiens wurden weithin enttäuscht, weil sie sich nicht gebührend beteiligt fühlten an der Gestaltung vor allem ihrer eigenen Region im Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zweifellos nicht zu Unrecht. Galten sie doch den zentralen Stellen des kommunistisch geführten Polen nur als halbwegs verkappte Deutsche.«

Völlig verfehlt wäre es jedoch, die Autochthonen pauschal als »deutsche Minderheit« zu etikettieren – wie es aus simplifizierender offizieller deutscher Sicht teilweise geschieht, und womit die staatliche Zuschreibung als »verkappte Deutsche« nur reifiziert würde. Wie weiter oben von Jagemann beschrieben, griffen viele Autochthonen die deutschen Elemente ihrer Identität vielmehr gerade vor dem Hintergrund einer als diskriminierend empfundenen Behandlung neu auf – und betonten diese folglich weitaus stärker und unkritischer, als sie es womöglich unter anderen Umständen getan hätten. Wie sich die Diskriminierung »verkappter Deutscher« in der Realität auswirkte – und welche Folgen sie hatte – illustriert die folgende autobiographische Schilderung des Slawisten Heinrich Olschowsky, der bis 1957 im Oppelner Schlesien aufwuchs: »In der Oberschule, in einer Phase reflektierter Selbstwahrnehmung wurde mir ein Identitätskonflikt aufgezwungen. Das Geschichtsbild der Schule kollidierte mit meinen Vorstellungen. Mein Name bildete immer wieder den Anhaltspunkt, mich für einen Polen zu halten und als einen solchen zu beanspruchen. Wenn ich zu sagen versuchte, ich sei Deutscher, fasste man das als eine feindselige Provokation auf. Deutsche? – die gab es doch nicht. Wenn man aber öffentlich nicht der sein darf, der man ist, so erzeugt das psychische Traumata. […] Ein Erlebnis aus dem Jahr 1953. Bei einem Oppelner Gymnasiasten, einem Autochthonen, fand man unter der Schulbank die Neue Berliner Illustrierte. Der Skandal war perfekt. Die Zeitung aus der ›befreundeten‹ DDR erfüllte für die Schulleitung den Tatbestand der antipolnischen Provokation. Der Schulverweis konnte gerade noch abgewendet werden.« (Olschowsky 1995: 526ff., zitiert nach Becher/Borodziej/Maier 2001: 264)

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Olschowsky selbst wurde in der Klasse von einem Lehrer mit antideutschen Aussagen provoziert: »[…] [O]ffenbar wollte es nicht in seinen Kopf, dass jemand, mit einem Namen wie meinem, Deutscher sein kann und überdies Einsen im Polnischunterricht sammelte. Folglich verbreitete er im Lehrerzimmer, dass ich gewiss zur ›fünften Kolonne‹ gehöre, denn weshalb sonst sollte ein Deutscher gut Polnisch lernen. […] Eine solche Atmosphäre hat die Deutschen in Schlesien verbittert, renitent und uneinsichtig gemacht […] Wenn jegliche deutsche Äußerung, ob Gebet, Volkslied oder eben eine DDR-Zeitung, ausreichte, um als […] ›hitlerowiec‹ gestempelt zu werden, so regte sich als Antwort die beleidigte, trotzige, undifferenzierte Verteidigung alles Deutschen. Die emotionale Abwehr der Diskriminierung versperrte den Weg zur fälligen – ohnehin schwierigen – nationalen Gewissenserforschung.« (Olschowsky 1995: 526ff., zitiert nach Becher/Borodziej/Maier 2001: 264)

Dies ist eine geradezu idealtypische Beschreibung jenes Phänomens, das Hechter (1975) als reactive ethnicity definiert hat, ein Begriff, der – so auch Szmeja (2000: 58 ff.) – durchaus auf die »innere Kolonie« Oberschlesien übertragen werden kann. Olschowskys Bestandsaufnahme aus den 1950er Jahren hat sich seitdem nicht grundsätzlich verändert. Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, welche Rolle u.a. diese reactive ethnicity in der Zeit der Volksrepublik für die Emigration von Oberschlesiern in die Bundesrepublik gespielt hat.

E MIGRATION AUS O BERSCHLESIEN ZWISCHEN 1945 UND 1992

IN DIE

B UNDESREPUBLIK

Bis Ende der 1940er Jahre wurden infolge der deutsch-polnischen Grenzverschiebung und der nationalen Homogenisierungspolitik Polens aus Polen ca. 3,5 Millionen Deutsche ausgesiedelt oder vertrieben, darunter ein Teil aus Oberschlesien (Solga 2002: 62 f.). Nach 1950 blieben in Polen schätzungsweise zwischen 120– 160.000 (nach polnischen Quellen) und 1,7 Millionen (nach deutschen Quellen) Deutsche zurück – hier wurde die ganze autochthone Bevölkerung östlich der NeißOder-Grenze pauschal als »deutsch« angesehen) (Solga 2002: 64). 1950 wurde ein Abkommen zwischen dem Polnischen und dem Internationalen Roten Kreuz geschlossen, mit dem die Zusammenführung der Familien liberalisiert wurde. Die Auswanderung in die DDR wurde durch ein separates Abkommen zwischen der Volksrepublik Polen und DDR geregelt. Zwischen 1951 und 1955 kam die Auswanderung der Deutschstämmigen zum Erliegen. 1955 bis 1959 stieg die Auswanderung infolge der zweiten »Aktion zur Familienzusammenführung« wieder an; aus dem Oppelner Oberschlesien sind in dieser Zeit 52.600 Personen ausgewandert

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Olschowsky selbst wurde in der Klasse von einem Lehrer mit antideutschen Aussagen provoziert: »[…] [O]ffenbar wollte es nicht in seinen Kopf, dass jemand, mit einem Namen wie meinem, Deutscher sein kann und überdies Einsen im Polnischunterricht sammelte. Folglich verbreitete er im Lehrerzimmer, dass ich gewiss zur ›fünften Kolonne‹ gehöre, denn weshalb sonst sollte ein Deutscher gut Polnisch lernen. […] Eine solche Atmosphäre hat die Deutschen in Schlesien verbittert, renitent und uneinsichtig gemacht […] Wenn jegliche deutsche Äußerung, ob Gebet, Volkslied oder eben eine DDR-Zeitung, ausreichte, um als […] ›hitlerowiec‹ gestempelt zu werden, so regte sich als Antwort die beleidigte, trotzige, undifferenzierte Verteidigung alles Deutschen. Die emotionale Abwehr der Diskriminierung versperrte den Weg zur fälligen – ohnehin schwierigen – nationalen Gewissenserforschung.« (Olschowsky 1995: 526ff., zitiert nach Becher/Borodziej/Maier 2001: 264)

Dies ist eine geradezu idealtypische Beschreibung jenes Phänomens, das Hechter (1975) als reactive ethnicity definiert hat, ein Begriff, der – so auch Szmeja (2000: 58 ff.) – durchaus auf die »innere Kolonie« Oberschlesien übertragen werden kann. Olschowskys Bestandsaufnahme aus den 1950er Jahren hat sich seitdem nicht grundsätzlich verändert. Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, welche Rolle u.a. diese reactive ethnicity in der Zeit der Volksrepublik für die Emigration von Oberschlesiern in die Bundesrepublik gespielt hat.

E MIGRATION AUS O BERSCHLESIEN ZWISCHEN 1945 UND 1992

IN DIE

B UNDESREPUBLIK

Bis Ende der 1940er Jahre wurden infolge der deutsch-polnischen Grenzverschiebung und der nationalen Homogenisierungspolitik Polens aus Polen ca. 3,5 Millionen Deutsche ausgesiedelt oder vertrieben, darunter ein Teil aus Oberschlesien (Solga 2002: 62 f.). Nach 1950 blieben in Polen schätzungsweise zwischen 120– 160.000 (nach polnischen Quellen) und 1,7 Millionen (nach deutschen Quellen) Deutsche zurück – hier wurde die ganze autochthone Bevölkerung östlich der NeißOder-Grenze pauschal als »deutsch« angesehen) (Solga 2002: 64). 1950 wurde ein Abkommen zwischen dem Polnischen und dem Internationalen Roten Kreuz geschlossen, mit dem die Zusammenführung der Familien liberalisiert wurde. Die Auswanderung in die DDR wurde durch ein separates Abkommen zwischen der Volksrepublik Polen und DDR geregelt. Zwischen 1951 und 1955 kam die Auswanderung der Deutschstämmigen zum Erliegen. 1955 bis 1959 stieg die Auswanderung infolge der zweiten »Aktion zur Familienzusammenführung« wieder an; aus dem Oppelner Oberschlesien sind in dieser Zeit 52.600 Personen ausgewandert

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(Solga 2002: 65). In den 1960er Jahren wurde die Emigration durch die polnische Seite erschwert (die Bearbeitung der Anträge wurde über Jahre hinausgezögert) – man ging in Polen davon aus, dass die Familienzusammenführung in den 1950er Jahren »das Problem« gelöst haben müsste und eine Auswanderung für das internationale Ansehen und wirtschaftliche Entwicklung Polens von Nachteil sei; aus der Oppelner Woiwodschaft sind in der Zeit 23,500 Personen ausgewandert. 1970 wurde im Rahmen mehrerer zwischen Polen und der Bundesrepublik geschlossenen Verträge zur »Normalisierung« der Beziehungen die Ausreise für polnische Bürger und Deutschstämmige liberalisiert. Die Zahl der Personen, die im Rahmen dieser Vereinbarung ausgewandert sind, beträgt 52.500. Ende der 1970er Jahre begann dann der »Exodus der Oberschlesier«, der bis in die 1990er Jahre anhielt, nachdem immer mehr Polen illegal mit dem Touristenvisum im Ausland blieben. Die meisten »Aussiedler« aus dieser Periode behielten auf diese Weise zwei Staatsangehörigkeiten – sie mussten ihren polnischen Pass nicht aufgeben und bekamen in Deutschland als Deutschstämmige ihre deutsche Staatsangehörigkeit festgestellt (Solga 2002: 66ff).

T EMPORÄRE ARBEITSMIGRATION D OPPELSTAATLER NACH 1989

OBERSCHLESISCHER

Politische Praxis: doppelte Staatsangehörigkeit In den 1980er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage Polen zunehmend, die politische Situation war von zunehmender Repression gekennzeichnet. Im Zuge dessen verstärkte sich unter Oberschlesiern die Tendenz, das deutsche Element ihrer Identität »wiederzuentdecken«. Eine nicht unwesentliche Motivation war dabei zweifellos die Möglichkeit, als »Deutschstämmige« in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu können. Wie Danuta BerliĔska (zitiert nach Urbanek 2003) zugespitzt formuliert: »Niemand hat die Schlesier effektiver ins Deutschtum getrieben als die Regierung der Volksrepublik.« Diese Auswanderungen basierten auf einem politischen Tauschgeschäften zwischen Bundes- und Volksrepublik Polen: Als Gegenleistung für Kreditzusagen gestattete die polnische Regierung ihren »deutschstämmigen« Staatsangehörigen im Rahmen festgelegter Quoten die Ausreise. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs bedeutete dies noch eine ganz traditionelle Form der Migration – also ein einmaliges und irreversibles Wechseln von einem nationalstaatlichen »Container« in einen anderen, schon auf symbolischer Ebene: Mit der Ausreiseerlaubnis war meist auch die formelle Aberkennung der polnischen Staatsangehörigkeit sowie die Überschreibung von Immobilieneigentum an den

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(Solga 2002: 65). In den 1960er Jahren wurde die Emigration durch die polnische Seite erschwert (die Bearbeitung der Anträge wurde über Jahre hinausgezögert) – man ging in Polen davon aus, dass die Familienzusammenführung in den 1950er Jahren »das Problem« gelöst haben müsste und eine Auswanderung für das internationale Ansehen und wirtschaftliche Entwicklung Polens von Nachteil sei; aus der Oppelner Woiwodschaft sind in der Zeit 23,500 Personen ausgewandert. 1970 wurde im Rahmen mehrerer zwischen Polen und der Bundesrepublik geschlossenen Verträge zur »Normalisierung« der Beziehungen die Ausreise für polnische Bürger und Deutschstämmige liberalisiert. Die Zahl der Personen, die im Rahmen dieser Vereinbarung ausgewandert sind, beträgt 52.500. Ende der 1970er Jahre begann dann der »Exodus der Oberschlesier«, der bis in die 1990er Jahre anhielt, nachdem immer mehr Polen illegal mit dem Touristenvisum im Ausland blieben. Die meisten »Aussiedler« aus dieser Periode behielten auf diese Weise zwei Staatsangehörigkeiten – sie mussten ihren polnischen Pass nicht aufgeben und bekamen in Deutschland als Deutschstämmige ihre deutsche Staatsangehörigkeit festgestellt (Solga 2002: 66ff).

T EMPORÄRE ARBEITSMIGRATION D OPPELSTAATLER NACH 1989

OBERSCHLESISCHER

Politische Praxis: doppelte Staatsangehörigkeit In den 1980er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage Polen zunehmend, die politische Situation war von zunehmender Repression gekennzeichnet. Im Zuge dessen verstärkte sich unter Oberschlesiern die Tendenz, das deutsche Element ihrer Identität »wiederzuentdecken«. Eine nicht unwesentliche Motivation war dabei zweifellos die Möglichkeit, als »Deutschstämmige« in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu können. Wie Danuta BerliĔska (zitiert nach Urbanek 2003) zugespitzt formuliert: »Niemand hat die Schlesier effektiver ins Deutschtum getrieben als die Regierung der Volksrepublik.« Diese Auswanderungen basierten auf einem politischen Tauschgeschäften zwischen Bundes- und Volksrepublik Polen: Als Gegenleistung für Kreditzusagen gestattete die polnische Regierung ihren »deutschstämmigen« Staatsangehörigen im Rahmen festgelegter Quoten die Ausreise. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs bedeutete dies noch eine ganz traditionelle Form der Migration – also ein einmaliges und irreversibles Wechseln von einem nationalstaatlichen »Container« in einen anderen, schon auf symbolischer Ebene: Mit der Ausreiseerlaubnis war meist auch die formelle Aberkennung der polnischen Staatsangehörigkeit sowie die Überschreibung von Immobilieneigentum an den

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polnischen Staat verbunden. Die Aussiedler wurden lediglich mit einem »Reisedokument« ausgestattet, die den Vermerk »Der Inhaber dieses Dokumentes ist kein polnischer Staatsangehöriger« trug (Urbanek 2003). Anders verhielt es sich mit Polen, die sich als Touristen im Westen illegal von ihren Reisegruppen absetzten; diesen wurde die Staatsangehörigkeit nicht entzogen, auch wenn sie zwischenzeitlich die deutsche oder eine andere annahmen. Danuta BerliĔska beschreibt, dass die Motive der »deutschstämmigen« und »nur-polnischen« Emigranten dabei unterschiedlich interpretiert wurden: »Von den Polen, die in dieser Zeit legal oder illegal aus dem Land ausreisten, sagte man, dass sie die Freiheit wählten, von den Schlesiern, dass sie flohen. […] Die Polen reisten aus auf der Suche nach einem besseren Leben, die Schlesier flohen vor der Diskriminierung, mit der sie in ihrer eigenen Region konfrontiert wurden«. (zitiert nach Urbanek 2003).

Das oben beschriebene, relativ reibungslose Überwechseln von einem nationalstaatlichen Container in den benachbarten wurde nach 1989 schrittweise beendet – die Bundesrepublik geht nunmehr davon aus, dass Deutsche bzw. Deutschstämmige in Osteuropa seither keinem Vertreibungsdruck mehr ausgesetzt sind. Mit dem Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes (1. Juli 1990) bzw. des Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (seit 1. Januar 1993) wurden die Privilegien, mit denen Immigranten aus Polen administrativ begleitet in die deutsche Gesellschaft integriert wurden, aufgehoben. Allerdings besteht die Möglichkeit fort, dass polnische Staatsbürger unter bestimmten Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen. Die Voraussetzungen dafür sind: •



Vorfahren (bei vor dem 01.01.1975 geborenen: nur väterlicherseits), die »zwischen 1913 und 1945 im Gebiet des Deutschen Reiches oder der Freien Stadt Danzig in den Grenzen von 1937 geboren wurden und dort gewohnt« haben; oder Vorfahren, die in diesem Zeitraum außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 (also etwa dem seit 1921 polnischen Teil Oberschlesiens) geboren wurden und gewohnt haben, aber im Volkslistenverfahren ab 1941 als Volksdeutsche eingestuft wurden (Deutsches Generalkonsulat Breslau 2004).

Hier liegt also eine historisch bedingte Verschränkung von ius solis und ius sanguinis vor. Entgegen der ansonsten in der Integrationspolitik verfolgten Linie verlangt die deutsche Seite von Antragstellern, die die obigen Bedingungen erfüllen, weder einen Nachweis über die Entlassung aus der polnischen Staatsangehörigkeit, noch über deutsche Sprachkenntnisse oder sonstige »Integrations«-Merkmale. Theoretisch können auf diese Weise Polen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, ohne ihren Wohnsitz in Polen aufzugeben, ohne die deutsche Sprache zu sprechen und

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sogar ohne jemals in Deutschland gewesen zu sein oder die Absicht zu haben, sich jemals dort aufzuhalten. Für polnische Oberschlesier ist diese Option außerordentlich attraktiv – verschaffte sie doch bereits seit 1989 freien Zugang zum kompletten EU-Arbeitsmarkt, der für »Nur-Polen« auch nach dem EU-Beitritt noch bis Mai 2011 verschlossen war. Zugleich ermöglicht sie es, den Lebensmittelpunkt entweder ganz in Oberschlesien zu belassen oder aber einen parallelen Lebensmittelpunkt in Deutschland zu etablieren. Für viele, die sich vor 1989 nicht dazu entscheiden konnten, als reguläre Aussiedler alle Brücken hinter sich abzubrechen, ist dies eine »Strategie [...] um zuhause bleiben zu können«, wie Mirjana Morokvasic (1994: 185) in Bezug auf illegale (nur-) polnische Arbeitsmigranten formulierte. Dieser Befund lässt sich ohne weiteres auf die deutsch-polnischen Oberschlesier übertragen: Befristete Mobilität bietet ihnen oft gerade die Möglichkeit, am angestammten Wohnsitz der Familie bleiben zu können, meist in strukturschwachen Gebieten wie den landwirtschaftlich oder von unrentabler Schwerindustrie geprägten Regionen Oppeln bzw. Kattowitz. Anderen erleichtert sie die Entscheidung, einen festen Wohnsitz und eine berufliche Existenz in Deutschland zu gründen, da ihnen damit nicht mehr die Möglichkeit erschwert wird, langfristig wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Somit ist mit dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht ein politisch-legaler Rahmen vorhanden, der »transnationale« Migration nicht nur ermöglicht, sondern geradezu fördert – denn laut Alejandro Portes u.a. (1999: 222) verweist der Besitz doppelter Staatsangehörigkeit auf einen hohen Grad von Institutionalisierung eines transnationalen Raumes hin. Durch die (zumindest bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen) liberale Praxis der Staatsangehörigkeitsvergabe trägt die deutsche Verwaltung aktiv zur Entwicklung und Stabilisierung eines transnationalen Raumes bei – also eines Phänomens, das es nach der offiziellen Position, die nach wie vor auf dem Regelfall der einfachen Staatsangehörigkeit beharrt, gar nicht geben dürfte. Hinzu kommt, dass die Oberschlesier bereits über eine tradierte »transnationale« Kultur verfügten, die es heute nur zu reaktivieren gilt: Inzwischen kann man so zwischen Polen und Deutschland pendeln, wie in der Vorkriegszeit zwischen Orten im polnischen und deutschen Teil Oberschlesiens – wenn nicht gar besser. Dadurch ist ein transnationaler Sozialraum im Entstehen, der die traditionell von der Grenzkultur geprägte Lebenswelt Oberschlesiens geografisch erheblich erweitert, aber eben nicht fundamental verändert. Der »grenzüberschreitende Synkretismus«, die »Diffusion von Kultur und Emergenz neuer Typen und pluraler Identitäten«, die Thomas Faist (2000: Abb. 1) als typisches Merkmal für »transstaatliche Räume« definiert, haben in Oberschlesien eine alte Tradition; nun kommt – wenn auch vorläufig nur provisorisch und quasi durch die Hintertür – ein weiteres von Faist aufgeführtes Merkmal hinzu: die »Anerkennung multipler Bürgerschaften«.

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Unklar ist, wie viele Polen bereits von der Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich zu erwerben, Gebrauch gemacht haben, da die deutsche Seite hierzu keinerlei Statistik führt und der polnischen Seite in der Regel ohnehin nichts von weiteren Staatsangehörigkeiten ihrer Bürger bekannt wird. Zwar gibt es in Polen eine rechtlich anerkannte deutsche Minderheit, deren Mitgliedschaft jedoch nicht an den Status des deutschen Staatsbürgers gebunden ist, sondern ausschließlich auf dem subjektiven Bekenntnis der betreffenden Personen basiert. Außerdem können sich polnische Staatsbürger in Polen nicht auf den gleichzeitigen Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit berufen, diese ist für die polnische Verwaltung quasi nicht existent. Somit liegen nur stark variierende Schätzungen vor, die zwischen 170.000 (RauziĔski 2000: 63) und 1 Mio. (Faist 2000: 47, wobei Faist sich nicht nur auf Oberschlesier bezieht) schwanken. Die Volkszählung 2002 ergab die Zahl von insgesamt 279.639 in Polen angemeldeter deutsch-polnischer Doppeltstaatlern, davon 234.064 in Oberschlesien (RauziĔski 2005: 62). Die deutsche Statistik weist eine vergleichbare Zahl aus: Das Bundesverwaltungsamt ermittelt in seiner jährlichen Statistik, wie viele Ausweise aufgrund der Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit auf dem Gebiet Polens ausgestellt wurden: 2002 waren dies 277.6376, was recht nahe an der durch die polnische Volkszählung ermittelten Zahl von 279.639 Deutschen liegt. Bis 2009 ermittelte das Bundesverwaltungsamt insgesamt 389.516 Personen aus Polen; die Anzahl der Oberschlesier kann hier nicht ermittelt werden, da nicht nach Regionen differenziert erfasst wird (Bundesverwaltungsamt 2008 und 2010).

6

Man kann davon ausgehen, dass sie diese Zahl zu niedrig ist, denn es gilt hier die folgende Einschränkung: Dem Bundesverwaltungsamt obliegt erst seit dem 01.01.2000 die Zuständigkeit für alle Anträge auf Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit von im Ausland lebenden Personen. Vor diesem Stichtag war das Bundesverwaltungsamtlediglich für diejenigen im Ausland lebenden Antragsteller/innen zuständig, die über keinerlei »Anknüpfungspunkte« in Deutschland verfügten. In allen anderen Fällen oblag die Zuständigkeit den Bundesländern. Hinsichtlich der bis zum 31.12.1999 durch die Bundesländer bearbeiteten Anträge liegen dem Bundesverwaltungsamt keine Zahlen vor. Weiterhin enthalten diese Zahlen nicht diejenigen Antragsteller, die – aus verschiedenen Gründen – die Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit zum zweiten Mal beantragt haben.

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Arbeitsmarktsituation in Polen nach 1989 Mit der politischen Wende 1989 wurde in Polen die freie Marktwirtschaft eingeführt. Der hierdurch bedingte wirtschaftliche Strukturwandel brachte eine hohe Arbeitslosigkeit mit sich7; gleichzeitig fehlte das entsprechende soziale Netz, da unter den vorherigen planwirtschaftlichen Bedingungen Arbeitslosigkeit offiziell quasi nicht existiert hatte. Die hier untersuchten Regionen, die Woiwodschaften Oberschlesien und Oppeln, waren vor allem durch die Schließung von industriellen Großbetrieben bzw. den Wandel in der Landwirtschaftspolitik (unter anderem die Schließung staatlicher landwirtschaftlicher Betriebe) betroffen. In den Jahren, in denen die Interviews durchgeführt wurden (2003 bzw. 2005/2006), lag die Arbeitslosigkeit in den beiden Regionen jeweils auf den folgenden Niveaus:

Jahr 2003 2005 2006

Woiwodschaft Oppeln (opolskie) 21,4% 18,7 % 16%

Woiwodschaft Oberschlesien (Ğlaskie) 17,6% 15,5% 12,8%

Quelle: GUS und US Opole/Katowice (2007)

Bei der Interpretation solcher Daten ist außerdem zu berücksichtigen, dass das soziale System in Polen im Vergleich zu Deutschland – weniger ausgebaut ist. Den registrierten Arbeitslosen stehen, je nach Arbeitslosenquote der Region, 6 bis 12 Monate Arbeitslosengeld zu. So hatten z.B. 2006 nur 13,5% aller Arbeitslosen überhaupt einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das Arbeitslosengeld betrug etwa die Hälfte des Mindesteinkommens, dies waren 2006 936 Złoty (ca. 250 Euro; zum Vergleich: das Durchschnittseinkommen betrug 2464 Złoty (ca. 600 Euro). (Vgl. MPS vom 20.02.2007). Die so entstehende Nachfrage nach Arbeit im Osten trifft zugleich auf eine wachsende Nachfrage nach billigen und flexiblen Arbeitskräften im Westen. Deutschland war dabei bis 2004 (Polens Beitritt zur EU) das wichtigste Zielland für polnische Arbeitsmigranten. Die Ursachen dafür liegen neben der geographischen Nähe und den bereits vorhandenen sozialen Netzwerken, die auf die Emigration der Polen vor 1989 zurückgehen, auch in der zunehmenden Segmentierung des deutschen Arbeitsmarktes, bei dem bestimmte Sektoren wie Landwirt-

7

Die Arbeitslosigkeit betrifft landesweit insbesondere Frauen (2006 56,5% aller Arbeitslosen) und junge Menschen (2006 waren 20% aller Arbeitslosen in der Altersgruppe 18-24) (MPS vom 20.02.2007).

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schaft, Bausektor oder informelle Dienstleistungen im Privathaushalt regelrecht auf die ausländischen Arbeitskräfte angewiesen sind (vgl. Kaczmarczyk 2004). Der transnationale Arbeitsmarkt Oberschlesiens und seine geographische Entwicklung Zwischen Oberschlesien und Deutschland (und zunehmend den Niederlanden) entstand nach 1989 – so die These, die dieser Arbeit zugrunde liegt – ein »oberschlesischer« transnationaler Arbeitsmarkt: »Oberschlesisch« – weil er sich nur an (mehrheitlich in Oberschlesien lebende) Deutschstämmige (bzw., wie es inzwischen in der Anwerbung heißt: »Personen mit EU-Pass«) richtet; »transnational« – weil die Arbeit in Deutschland und zunehmend auch in den Niederlanden und Österreich angeboten wird, allerdings oft unter Bedingungen, die temporäre und nicht dauerhafte Migration begünstigen. Dieser transnationale Arbeitsmarkt besteht nicht nur neben dem nationalen polnischen, sondern wird zunehmend »stärker« als dieser, denn für Arbeitssuchende ist er zugänglicher als der nationale. Noch bis Anfang des 21. Jahrhunderts war Deutschland das einzige Zielland für oberschlesische Migranten, obwohl aufgrund der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit der gesamte europäische Arbeitsmarkt für sie geöffnet war. Inzwischen kamen zum deutschen weitere nationale Arbeitsmärkte hinzu – der niederländische und zunehmend der österreichische. In einer 1998 durchgeführten Untersuchung waren es nur einige von 232 Migranten, die außerhalb Deutschland arbeiteten (JoĔczy 2006: 68). 2004 waren es bereits 41%, die ausschließlich in den Niederlanden arbeiteten, während nur noch 56,1% ausschließlich in Deutschland arbeiteten. JoĔczy (2006: 67) weist darauf hin, dass seit 2004 auch Österreich als neues Zielland zu verzeichnen ist. Diese Tendenz hat sich auch in dieser Untersuchung gezeigt, da durch den biographischen Ansatz die zeitlichen Verläufe der Migration rekonstruiert werden konnten. Die neue Attraktivität des niederländischen Arbeitsmarktes führt JoĔczy auf die Vielfalt der dortigen Stellenangebote und die gut organisierte Arbeitsvermittlung in der Herkunftsregion zurück. Das bestätigt auch eine Umfrage, in der Migranten gefragt wurden, warum sie die Niederlande bzw. Deutschland gewählt haben. Demnach gehen Migranten in die Niederlande, weil es dort viele Stellenangebote gebe (26% der Antworten), weil die Arbeit über ein Vermittlungsbüro angeboten werde (22%), weil Bekannte bereits dort arbeiten (13,2%), wegen attraktiver Stellenangebote (7,7%), weil es einfach sei, dort Arbeit zu finden (7,7%) (JoĔczy 2006: 69). Dagegen entfielen die Antworten auf die Frage, warum man in Deutschland arbeite, jeweils auf folgende Kategorien: Räumliche Nähe zu Polen (23,3%), »Man hat dort schon immer gearbeitet« (15,5%), »Bekannte arbeiten dort« (12,6%), »Verwandt-

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schaft lebt dort« (12,6%), »hohes Einkommen« (11,7%), »Sprachkomfort« (Sprachkenntnisse) (8,7%) (JoĔczy 2006: 68). Dass es in den Niederlanden ein umfangreiches Angebot offener Stellen gibt, das in Oberschlesien auf der Suche nach Nachfrage ist, bestätigt auch eine weitere Untersuchung: eine Analyse von Stellenanzeigen in einer regionalen Tageszeitung, die innerhalb einer Woche im Jahr 2001 erschienen sind: auf 182 Arbeitsangebote in Deutschland entfielen immerhin 143 in den Niederlanden (vgl. KałuĪa 2003: 122). Der wesentliche Unterschied zwischen dem deutschen und niederländischen Arbeitsmarkt liegt in der Dauerhaftigkeit der Beschäftigung: So arbeiten 64,3% der in Deutschland tätigen Befragten dauerhaft und 35,7% gelegentlich dort, während das Verhältnis in den Niederlanden genau umgekehrt ausfiel: Nur 32,1% der Migranten arbeiten hier dauerhaft und 67,9% gelegentlich (JoĔczy 2006: 72). Diese Beschäftigungsstruktur korreliert wiederum mit der Verteilung der Migranten nach Geschlechtern aus: 65,3% der Frauen arbeiten in den Niederlanden und nur 30,6% in Deutschland – wohingegen 69,9% aller Männer in Deutschland und nur 27,8% in den Niederlanden arbeiten (JoĔczy 2006: 70). Interessant ist auch die altersspezifische Verteilung: So arbeiten in den Niederlanden vor allem junge Menschen; je höher das Alter, desto weniger wahrscheinlich sind die Migranten in den Niederlanden beschäftigt. 46,4% der dort arbeitenden Migranten sind zwischen 18-25 Jahre alt, in Deutschland sind es nur 26,1%. Dafür stellt die Altersgruppe der 46–55-jährigen in Deutschland 20% der Migranten, während es in den Niederlanden nur 9,5% sind (JoĔczy 2006: 71). JoĔczy weist auf zwei Ursachen hin, die hinter dieser Altersstruktur liegen können: Erstens waren die jungen Menschen in den letzten Jahren massiv mit dem großen Arbeitsangebot und guter Vermittlungsorganisation in den Niederlanden konfrontiert. Zweitens befinden sich viele Schüler und Studenten in dieser Gruppe, die auf schnelle und kurzfristige Arbeit angewiesen sind. Hinzuzufügen ist, dass hier auch die Verteilung der Geschlechter berücksichtigt werden müsste – Frauen sind ebenfalls eher an kurzfristiger, saisonaler Beschäftigung interessiert, außerdem sinkt die Bereitschaft von Frauen zu Migration statistisch ab dem 25. Lebensjahr. Schließlich trägt der Charakter der Arbeit selbst dazu bei – in den Niederlanden gibt es vor allem saisonale, manuelle Arbeit. Der temporäre Charakter der oberschlesischen Arbeitsmigration Wie bereits im vorausgehenden Abschnitt an den Unterschieden zwischen dem deutschen und niederländischen Arbeitsmarkt für Oberschlesier deutlich wurde, kann die temporäre Migration dieser Untersuchungsgruppen unterschiedliche Formen annehmen (z.B. einmalige, zyklische, saisonale Migration). Einen guten Ein-

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blick in dieses vielfältige Pendelverhalten der Migranten bietet etwa eine quantitative, nicht-repräsentative Studie, die Wojaczek (2005, 2007) an einer Stichprobe von knapp 400 Migranten (81% Männer und 19% Frauen – Wojaczek 2007: 66) durchgeführt hat. Dabei wurden die Teilnehmer danach gefragt, wie lange sie sich insgesamt in den letzten 14 Jahren und wie lange innerhalb eines Jahres sie sich als Arbeitsmigranten im Ausland aufhielten bzw. wie häufig und für wie lange sie während der Auslandsaufenthalte Polen besuchten. Arbeitszeiten im Ausland innerhalb des Untersuchungszeitraums (14 Jahre): Bis 1 Jahr

12,12%

1 bis 4 Jahre

44,19%,

4 bis 7 Jahre

21,46%

7 bis 10 Jahre

11,87%

Mehr als 10 Jahre

4,04%

keine Angabe

6,31%

Quelle: Wojaczek 2007: 75

Arbeitszeiten im Ausland innerhalb eines Jahres: Bis 3 Monate

15,66%,

3-6 Monate

20, 45%

6 bis 12 Monate

45,96%

Mehr als 1 Jahr

10,10%

keine Angabe

7,83%

Quelle: Wojaczek 2007: 76

Häufigkeit der Besuche in Polen während der Migrationsphasen: Jede Woche

12,12%,

Alle 2 Wochen

21,21%

Jeden Monat

34,85%

Alle 3 Monate

22,47%

Längere Abstände

7,83%

keine Angabe

1,52%

Quelle: Wojaczek 2007: 76

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Länge der Besuche in Polen: Bis 2 Tage

14,89%,

2 bis 7 Tage

22,22%

1 bis 4 Wochen

28,28%

1 bis 6 Monate

16,67%

Mehr als 6 Monate

11,87%

keine Angabe

6,06

Quelle: Wojaczek 2007: 77

Vergleichbare Ergebnisse erzielte eine frühere repräsentative Untersuchung (Musial 2002: 17). Demnach arbeiten ca. 60% der Pendler aus der Woiwodschaft Oppeln über sechs Monate des Jahres in Deutschland bzw. den Niederlanden, 10% arbeiten dort 3 bis 6 Monate, 22,1% bis 3 Monate und nur 5,6 % zwischen einer und vier Wochen. Hinsichtlich der Vertragsform der Arbeitsverhältnisse stellt Brygida Solga (2002: 131) in ihrer Untersuchung fest, dass 43,1% der Arbeitsmigranten aus der Region Oppeln über einen dauerhaften Arbeitsvertrag arbeiten (hier sind das oft Beschäftigungen und 41,1% gelegentlichen Arbeiten nachgehen. Andere Formen wie etwa Werkverträge seien zu vernachlässigen. In einer weiteren Studie von JoĔczy (2000: 89) ergaben sich folgende Verteilungen bezüglich des Umfangs der Erwerbstätigkeit: 34% der Migranten im erwerbsfähigen Alter arbeiteten ausschließlich in Deutschland, 37% hatten einen dauerhaften Arbeitsplatz in Polen und arbeiteten zusätzlich saisonal in Deutschland, 13% verbanden saisonale Arbeit in Deutschland mit gelegentlicher Erwerbstätigkeit in Polen, 16% arbeiteten saisonal in Deutschland, ohne Polen einer Arbeit nachzugehen. In einer späteren Untersuchung ermittelte JoĔczy (2005: 48ff) in Bezug auf Deutschland und die Niederlande folgende Anteile: 51% arbeiteten ausschließlich und dauerhaft im Ausland, 15% dauerhaft in Polen und gelegentlich im Ausland, 19,5% gelegentlich im Ausland, ohne Beschäftigung in Polen, 5 % gelegentlich sowohl im Ausland wie auch in Polen. 0,5% sind Schüler und Studenten, die auch in Polen, 9,5% Schüler und Studenten die ausschließlich im Ausland arbeiteten. Diese Verteilung variiert dabei sehr stark nach Geschlecht: So arbeiten 59% der Männer, aber nur 35% der Frauen ausschließlich und dauerhaft im Ausland. 13% der Männer arbeiteten gelegentlich im Ausland und gingen in Polen keiner Arbeit nach – dagegen galt dies für knapp 32% der Frauen (JoĔczy 2005: 49). Diese Zahlen zeigen, dass das Geschlecht für den Umgang der Arbeitsmigration eine zentrale Rolle spielt. Schließlich zeigt die Studie, dass 80% aller Migranten ausschließlich im Ausland aktiv sind – es gibt in der Region Oppeln unter den Autochthonen mehr temporäre Migranten als Menschen, die ausschließlich in Polen beschäftigt sind (sic!)

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(JoĔczy 2005: 50). Dies zeigt nochmals die Relevanz der temporären Arbeitsmigration für die Region. Zahlen zur oberschlesischen Arbeitsmigration Aufgrund des Charakters dieser Migration ist es schwer, verlässliche Angaben über die Zahl der oberschlesischen Arbeitsmigranten zu gewinnen: Zum einen gibt es ein generelles statistisches Problem bei der Erfassung von temporärer Migration, zum anderen handelt es sich zwar um internationale Migration, die aber im rechtlichen Sinne keine Einwanderung von Ausländern darstellt und daher in Deutschland als solche nicht erfasst wird. Quantitativ gibt es einen deutlichen regionalen Unterschied zwischen den beiden hier untersuchten Entsenderegionen, also den Woiwodschaften Oppeln (opolskie) und Oberschlesien (Ğląskie). Das lässt sich aus der Verteilung der Doppeltstaatler in den beiden Regionen ableiten: Von insgesamt 279.639 deutsch-polnischen Doppelstaatlern in Polen (Stand 2002, Volkszählung) leben 55,1% (154.050) in der Woiwodschaft Oppeln sowie 28,6% (80.014) in der Woiwodschaft Oberschlesien, also insgesamt 234.064 (RauziĔski 2005: 62). Charakteristisch ist eine räumliche Konzentration der Herkunftsgebiete der Migranten, die mit der Verteilung der autochthonen Bevölkerung innerhalb der Woiwodschaft Oppeln zusammenhängt: Im Osten der Woiwodschaft migrieren ca. 10% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – die Region ist durch eine gut ausgebaute Infrastruktur kennzeichnet –, im strukturell schwächer entwickelten Westen migrieren 1-2% der Bevölkerung (vgl. RauziĔski 2002: 193f). Der Geograph Krystian Heffner ermittelte, dass unter den temporären Arbeitsmigranten der Oppelner Woiwodschaft 71,6% autochthon sind. Als Erklärung für diesen Anteil nennt Heffner (2003: 102) neben der doppelten Staatsangehörigkeit die familiären Bindungen und damit die »Penetration« des deutschen Arbeitsmarktes durch häufige soziale Kontakte. Die Struktur des oberschlesischen Arbeitsmarktes Die Struktur des oberschlesischen transnationalen Arbeitsmarktes für Doppelstaatler wurde bisher noch nicht systematisch untersucht – anders als die transnationalen Arbeitsmärkte »nur« polnischer Saison- bzw. Werkvertragsarbeiter (vgl. Hönekopp 2001, Dietz 2004, Cyrus/Helias 1993, KorczyĔska 2003, Kaczmarczyk 2004, Miera 2007), wobei diese beiden Arbeitsmärkte sich teilweise überschneiden. Eine Ausnahme bilden hier die regelmäßigen Untersuchungen des Ökonomen Romuald JoĔczy (JoĔczy 2003a, 2006); sie berücksichtigen allerdings nur sehr beschränkt die Frage, wie die Arbeit der Migranten organisiert wird. Hierzu stellt JoĔczy lediglich fest, dass die Arbeitsmigration seit 1998 zunehmend formalisiert wird. Durch die

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Etablierung formeller Arbeitsvermittlung ist die Arbeitsaufnahme weniger aufwendig geworden, die Vorbereitung dauert kürzer und die Arbeit wird in der Regel bereits von Polen aus organisiert. Darüber hinaus hat sich eine Diversifizierung nach Branchen und Zielländer vollzogen. Das sieht man etwa daran, dass je nach Vermittlungsunternehmen Migranten aus einem Ort beispielsweise in den Niederlanden in der Landwirtschaft arbeiten, während Migranten aus einem benachbarten Ort in einer bestimmte Branche der deutschen Industrie tätig sind (JoĔczy 2006: 64f). Die Untersuchungen aus den Jahren 1997-2000 ergaben noch eine Konzentration der Beschäftigung in der Baubranche. In der Untersuchung von 2004 ist die Verteilung auf die Branchen differenzierter: Von den dauerhaft beschäftigten Migranten arbeiten 32,7% der in der Baubranche, 40,4% in der Industrie, 20,2% in der Land-, Garten- und Forstwirtschaft, 5,8% im Dienstleistungsbereich (meistens Kinder- und Seniorenbetreuung) und 1% in anderen Bereichen. Von den nur gelegentlich Beschäftigten arbeiten dagegen 62,4% in der Land-, Garten- und Forstwirtschaft, 18,8% in der Industrie, 6,9% in der Bauwirtschaft, 9,9% im Dienstleistungsbereich, 2% in anderen Bereichen (JoĔczy 2006: 66). In der Bauwirtschaft arbeiten ausschließlich Männer und dies dauerhaft, in der Industrie arbeiten dreimal so viel Männer wie Frauen, in der Landwirtschaft sind die Anteile gleich verteilt und im Dienstleistungsbereich arbeiten viermal mehr Frauen als Männer. Diese Unterschiede in der Verteilung der Geschlechter auf die einzelnen Branchen liegen zum einen an der Art der Arbeit, zum anderen an der Art ihrer Befristung (dauerhaft vs. gelegentlich). Soziodemographische Merkmale der Arbeitsmigranten aus der Woiwodschaft Oppeln Es liegen weder bezüglich der Emigration, noch der temporären Arbeitsmigration verlässliche amtliche Statistiken vor8 – damit sind die vorhandenen quantitativen Untersuchungen die wichtigste Datenquelle (vgl. JoĔczy 2003a: 132). Nach der 2002 durchgeführten Volkszählung halten sich 105.200 (9,9%) der Einwohner der

8

JoĔczy (2003: 139-144) verweist auf das Problem der »ausgesetzten Migration« (»migracja zawieszona«), die zu fehlerhaften statistischen Annahmen über Einwohnerzahl der Oppelner Woiwodschaft führe. Diese Bezeichnung bezieht sich auf geschätzt 88.900 Personen, die in den 80er und Anfang der 90er Jahren emigriert sind, aber – im Gegensatz zu den 200.000 registrierten Emigranten – noch immer in Polen gemeldet sind. Diese stellen nach Berechnungen von JoĔczy 25,4 % der angemeldeten autochthonen Bevölkerung dar. Demnach betrüge die Zahl der tatsächlich wohnhaften autochthonen Bevölkerung 261.100 und nicht, wie in Statistiken angenommen, 350.000 Personen.

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Woiwodschaft Oppeln9 »temporär« im Ausland auf – das entspricht 12,2% der erwerbsfähigen Bevölkerung (vgl. RauziĔski 2005: 65). Davon bleiben 89.300 (8,9%) über 12 Monate im Ausland (erfasst sind hier sowohl die Auswanderer, die vor 1989 ausgewandert sind, wie auch Auswanderer und temporäre Arbeitsemigranten der Zeit nach 1989) und nur 15.900 (15,1%), temporär (zwischen 2 und 12 Monaten) (vgl. Solga 2004: 99). Solga weist auf das Problem hin, dass die Volkszählungskategorie »temporäre« Migranten sowohl temporäre Arbeitsmigranten als auch De-facto-Emigranten umfasst (migracja zawieszona – »ausgesetzte« Migration). Hiermit sind Migranten gemeint, die vorwiegend in den 1980er Jahren illegal aus Polen ausgewandert sind und immer noch in Polen angemeldet bleiben). So stellen ca. 40.000 dieser Personen »dauerhafte« Emigranten dar, wiederum ca. 40.000 sind temporäre Arbeitsmigranten. Letztere Zahl wird aber von den meisten Autoren als zu niedrig angesehen und tatsächlich auf 50–70.000 Personen geschätzt (vgl. Solga 2004: 101, JoĔczy 2003, RauziĔski 1999). JoĔczy (2005: 50) ermittelt in seiner 2004 durchgeführten Untersuchung, dass von 143.500 Personen der autochthonen Bevölkerung der Woiwodschaft Oppeln im erwerbsfähigen Alter 61.300 (42,7%) im Ausland arbeiten (abzüglich der »ausgesetzten« Migration). In der gleichen Untersuchung ermittelt JoĔczy die soziodemographischen Merkmale der Migranten, ihr Migrationsverhalten und stellt die Entwicklung von 2001/2002 (vgl. JoĔczy 2003) bis 2004 fest. Im Allgemeinen stieg die Migration zwischen 2001 und 2004 deutlich – in der erwerbsfähigen Bevölkerung von 33,9% auf 42,7%, in der erwerbstätigen Bevölkerung von 43,7% auf 56,7%. Diesen Anstieg auf Kosten der Beschäftigung in Polen erklärt JoĔczy damit, dass Berufsanfänger den ausländischen Arbeitsmarkt bevorzugten (vgl. JoĔczy 2005: 45). Stellten die Männer 2001 noch 70,8% aller Migranten, so sind es 2004 noch 65,5%. Die Frauen stellten entsprechend 2001 noch 29,2% und 2004 schon 34,5% aller Migranten (vgl. JoĔczy 2003a: 146, 2005:49). Das Geschlecht korreliert dabei mit den praktizierten Migrationsformen: Männer tendieren zur vollerwerblichen Beschäftigung (59%), bei Frauen liegt die vollerwerbliche Beschäftigung dagegen nur bei 35,3%. Zusätzlich zu einer dauerhaften Beschäftigung in Polen arbeiten 15,5% der Männer und 13,8% der Frauen im Ausland. Von beiden Geschlechtern arbeiten ca. 5% sowohl in Polen als auch im Ausland gelegentlich. Der Unterschied bei der Gruppe derer, die in Polen erwerbslos sind und gelegentlich im Ausland arbeiten, ist signifikant: Dazu gehören 13,1 % der Männer und

9

Die Migrationsforschung zu deutsch-polnischen Doppelstaatlern wird praktisch nur in Bezug auf Oppelner Woiwodschaft durchgeführt, daher beziehen sich die hier vorgestellten Studien in der Regel auf die Woiwodschaft Oppeln.

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31,7% der Frauen. In der Untergruppe der Schülern und Studenten fallen in diese Kategorie 7,2 % der Männer und 13,7% der Frauen (vgl. JoĔczy 2005: 49). Interessant ist auch, wie Geschlecht und Alter bezüglich der gewählten Migrationsform korrelieren: Von den erwerbsfähigen männlichen Oberschlesiern zwischen 18 und 25 Jahren migrieren 69,2% – lediglich 8,9% von ihnen arbeiten dauerhaft und ausschließlich in Polen; 40% arbeiten vollerwerblich im Ausland. Aus der entsprechenden weiblichen Gruppe migrieren 53,6%; berücksichtigt man daraus nur die tatsächlich Erwerbstätigen (29,5% der Frauen sind nicht erwerbstätig), beträgt der Anteil der Migrantinnen sogar 76%. 23,1% der Frauen arbeiten vollerwerblich im Ausland. Mit zunehmenden Alter nimmt die Migration in beiden Gruppen ab, aber ungleichmäßig: Bei Männern ist es eine konstante Entwicklung – von 69,2% (Altersgruppe: 18-25) über 57% (26-35), 51% (36-45), 49,8% (46-55) bis 22,6% (56-65), dabei sind insgesamt in der letzten Altersgruppe 50,8% aller Männer erwerbslos. Bei den Frauen arbeiten in der Altersgruppe 18-25 noch 53,6% im Ausland. Ab dem 26. Lebensjahr ändert sich diese Tendenz: 26,8% (26-35) 27,9% (36-45), 25% (46-55), 20,7% (56-60). In allen Altersgruppen sind ca. 30% der Frauen erwerbslos, bei den 46–55-jährigen sind es 38,6%, bei den 56–60-jährigen steigt der Anteil dann rapide auf 67,3% an. Der Familienstand der Migranten stellt sich wie folgt dar: 42,2% sind ledig und 56,1% verheiratet.10 Von den ledigen Befragten sind 58,6% Männer und 41,4% Frauen. Unter den Verheirateten verschiebt sich der Migrantenanteil eindeutig in Richtung der Männer: Hier finden sich 69,6% Männer und noch nur 30,4% Frauen. Diese Entwicklung zeigt, dass mit der Heirat die traditionelle Rollenteilung eintritt: Die Männer arbeiten im Ausland, die Frauen kümmern sich daheim um den Haushalt (JoĔczy 2006: 62f). 45,4% der Befragten haben keine Kinder (was mit dem Anteil der Ledigen korrespondiert), 11,2% haben ein Kind, 26,8% zwei und 13,7% drei Kinder. Von den Befragten haben 3,9% einen Hochschulabschluss, 38% haben die Hochschulreife (wykształcenie Ğrednie), 5,9% haben den Grundschulabschluss (wykształcenie podstawowe), d.h. eine achtjährige Schulbildung, 52,2% haben eine Berufsausbildung (wykształcenie zawodowe). Frauen haben dabei ein höheres Ausbildungsniveau als Männer: 62,5% haben die Hochschulreife, nur 23,6% haben eine Berufsausbildung, während bei den Männern 24,8% Abitur und 67,7% eine Berufsausbildung haben (JoĔczy 2006: 73). So umfangreich und hilfreich die von JoĔczy und anderen geleistete Datenerhebungsarbeit auch ist, zeigt sich dabei – wie bereits angesprochen – ein grundsätzli-

10 JoĔczy weist hier auf das Problem der Repräsentativität der Stichprobe hin: Erstens zeigen ältere Befragte weniger Bereitschaft zur Auskunft, zweitens sind die Hauptberufler schwieriger in Polen anzutreffen (insbesondere Frauen).

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ches Problem: Zwar wird die Korrelation des Migrationshandelns mit Strukturkategorien wie Geschlecht, Alter, Familienstand, Ausbildung und Beruf dargestellt, doch bleibt dies rein deskriptiv; nicht einmal ansatzweise wird versucht, den dieser Korrelation möglicherweise zugrunde liegenden, von »den Handelnden gemeinten Sinn« (Max Weber) zu verstehen. Deutlich wird dies etwa an der Kategorie Geschlecht: So stellt JoĔczy (2003a: 146, 2005:49) fest, dass der Frauenanteil unter den Migranten nach 2000 zugenommen hat, dass Auslandsaufenthalte bei Frauen kürzer sind als bei Männern (JoĔczy 2005: 49), und dass Frauen tendenziell ein anderes Zielland bevorzugen – während die Männer mehrheitlich in Deutschland arbeiten, sind es bei Frauen die Niederlande (JoĔczy 2006: 70). Auch in demographischen Merkmalen wie Alter und familiärer Status unterscheiden sich weibliche und männliche Migranten (JoĔczy 2006: 62f.). Interpretiert werden diese Unterschiede jedoch meist gar nicht – und wenn, dann nur oberflächlich und spekulativ: Z.B. stellt JoĔczy (2006: 67) lediglich fest, dass Frauen und Männer »wahrscheinlich« Präferenzen für verschiedene Branchen (Landwirtschaft bzw. Bauwirtschaft) und Länge der Auslandsaufenthalte (kurz bzw. lang) hätten. Die Hintergründe für diese Präferenzen werden jedoch nicht thematisiert. Einzuräumen ist freilich, dass diese – aus unserer Sicht bestehenden – Unzulänglichkeiten der Studien von JoĔczy sich unvermeidlich aus deren rein quantitativer Fragestellung und Forschungsdesign ergeben: Es handelte sich z.B. um Untersuchungen über »die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die Region« im Auftrag der Regionalregierung Oppeln, die mithilfe geschlossener Interviewfragen erfasst wurden; von daher war ein webersches »Verstehen« des Migrationshandelns von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber verfolgt die vorliegende Arbeit ein anderes Forschungsinteresse – gefragt wird nach Alltagspraktiken und subjektiven Positionierungen, die ein ebensolches »Verstehen« ermöglichen sollen. Von daher wird auch eine völlig andere Methodik verwendet: Statt statistischer Daten und rechnerischer Korrelationen wird ein Einblick in die Tiefe, Prozessualität und Kontextabhängigkeit der beobachteten Handlungsstrukturen angestrebt. So soll auch erkennbar werden, inwieweit das Handeln nicht nur in einem einzelnen nationalen Kontext determiniert wird (und diesen Kontext wiederum beeinflusst), sondern inwieweit es Teil einer über eine einzelne nationale Gesellschaft hinausgehenden Dynamik ist.

Forschungsstand

Das Phänomen der transnationalen Migration, das zunächst in Nordamerika beobachtet wurde, findet in den letzten Jahren auch in Europa zunehmende Beachtung, was sich in einer steigenden Zahl theoretisch und empirisch orientierter Publikationen niederschlägt (z.B. Faist 2000d, Lutz 2007a, Goeke 2007, Nowicka 2007, Pries 2008a, Pries/Sezgin 2010). Obwohl die mehr oder weniger temporäre Arbeitsmigration aus dem polnischen Oberschlesien nach Deutschland ein, wie noch zu zeigen ist, prototypisches Beispiel für diese Art von Migration in Europa darstellt, gibt es bisher nur wenig soziologische Literatur, die sich speziell mit diesem Fall beschäftigt. Dies gilt insbesondere für die deutsche Seite – obwohl Deutschland als Ankunftsgesellschaft betroffen ist, fand das Gros der diesbezüglichen Forschung bisher auf polnischer Seite statt. Was die polnische Literatur betrifft, sind allerdings weitere Einschränkungen zu machen: So wird das Phänomen dort weniger aus klassischer soziologischer Perspektive betrachtet; eher interessiert man sich für demographische (vgl. RauziĔski 1999, 2000, 2003, JoĔczy 2003a), ökonomische (vgl. JoĔczy 2000, 2003b, 2006) oder humangeographische Aspekte (vgl. Solga 2004, Heffner 1999). Die lebensweltlich-kulturelle Dimension findet dagegen wenig Aufmerksamkeit (vgl. Wojaczek 2005 – eine Studie zur Migration und Ehe, Grygierczyk 1997). Generell fällt in der polnischen gesellschaftswissenschaftlichen Literatur – keineswegs nur in der Soziologie – im Vergleich zum »Westen« eine Tendenz zu quantitativen Arbeiten bzw. zu einem deskriptiven Stil auf; interpretative Ansätze oder »soziologische Phantasie« im Sinne C. Wright Mills’ sind darin meist spärlich anzutreffen. Dementsprechend behandelt die polnische Literatur das vorliegende Thema auch kaum vor dem Hintergrund von Transnationalität als neuerem Paradigma; zugespitzt könnte man sagen, dass die polnische Soziologie – obwohl in einer klassischen Auswanderungsgesellschaft beheimatet – in besonderer Weise

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einem »methodologischen Nationalismus«1 verhaftet ist und zumindest implizit das politische Ziel der vollständigen Assimilation vertritt. Dies gilt selbst und gerade für die wenigen Studien, die sich um einen verstehend-qualitativen Zugang zum Feld bemühen, so etwa die in JaĨwiĔska/Okólski (2001) versammelten Beiträge. Trotz dieser – zumindest aus Sicht der westlichen Migrationssoziologie vorhandenen – Probleme liefert diese polnische Literatur natürlich einen unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis der temporären Migration aus Oberschlesien. Da der Zugang zu ihr für westliche Soziologen aufgrund der Sprachbarriere oft verschlossen bleibt, wird der darin enthaltene Forschungsstand im Folgenden ausführlicher als üblich referiert. Die Literaturübersicht soll nicht nur darstellen, was über die untersuchte Gruppe bereits bekannt ist, sondern nicht zuletzt auch, inwieweit die polnische Literatur in Fragestellung und Methode einen »blinden Fleck« aufweist, zu dessen Beseitigung die vorliegende Arbeit beitragen möchte.

S IND OBERSCHLESISCHE ARBEITSMIGRANTEN » UNVOLLSTÄNDIGE M IGRANTEN «? Eine wichtige Anregung für die theoretische Ausrichtung dieser Arbeit waren die Ergebnisse einer groß angelegten Studie über vier polnische Emigrations-Regionen, von denen eine im Oppelner Raum stattfand (JaĨwiĔska u.a. 1997, JaĨwiĔska/Okólski 2001). Es handelte sich um die erste Migrationsstudie dieser Größenordnung, die in Polen durchgeführt wurde. Mit dem Einsatz des ethnosurveyVerfahrens2 (vgl. Massey 1987) sollte dabei gleichzeitig »Breite« und »Tiefe« erreicht werden. Da ihre Ergebnisse zahlreiche durchaus verallgemeinerbare Aussagen zulassen und sie zugleich viele interessante Details ans Licht gebracht hat, kann sie als wichtiger Erfolg betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit schließt jedoch da an, wo die Defizite dieser Studie liegen: Zum einen wurde die biographische

1

Das Schlagwort »methodologischer Nationalismus« wurde erstmals von Anthony D. Smith (1979) verwendet und von Glick-Schiller/Wimmer (2002) als Abgrenzungsmerkmal für eine moderne Migrationssoziologie postuliert. Die dieser Fremdzuschreibung zugrunde liegende Kritik bezieht sich auf eine Sozialwissenschaft, die den Nationalstaat als »the natural and necessary representation of the modern society« betrachtet, so Daniel Chernilo (2008), der einen informativen Überblick über die Geschichte dieses Kritikansatzes liefert.

2

Die Erhebung erfolgt hier in mehreren Schritten: Kontextbeschreibung (Statistiken, ethnologische Daten), quantitativer und qualitativer Teil: multisite und parallel sampling (im Ziel und Herkunftskontext), Erhebung der Daten auf mehrerer Ebenen (Individuum, Haushalt, Gemeinde) und life histories.

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Methode nur »stiefmütterlich« genutzt; zum anderen wurde das Prinzip des parallel sampling – die gleichzeitige Berücksichtigung von Herkunft- und Ankunftskontext – nicht konsequent eingehalten: Statt dessen wurden mehr oder weniger getrennte Analysen des Herkunftskontexts (Łukowski 2001, Kaczmarczyk 2001b) und des Ankunftskontexts (Kaczmarczyk 2001a, Grzymała-Kozłowska 2001) durchgeführt. Die Konzentration auf jeweils nur einen der beiden Kontexte führt die Autoren zu dem Ergebnis, dass die oberschlesischen Arbeitsmigranten hinsichtlich ihrer Integration »doppelt marginalisiert« seien. Die Bindungen der Migranten zu beiden Kontexten werden dabei stets jeweils mit denen der »sesshaften« Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft verglichen. Davon ausgehend kommen die Autoren der zitierten Studie zu dem Ergebnis, dass oberschlesische Arbeitsmigranten hinsichtlich ihrer Integration »doppelt marginalisiert« seien. An einigen Argumenten ist ersichtlich, dass dieses Fazit zum Teil Folge des erwähnten methodologischen Nationalismus ist: So wird zum Beispiel problematisiert, dass die Migranten nur an Wochenenden und Feiertagen nach Polen pendelten und sich ihre familiären und sozialen Beziehungen in Polen dort allmählich schwächten. In der Ankunftsgesellschaft hingegen schlügen sie keine »Wurzeln«; ihre sozialen Kontakte beschränkten sich auf Kollegen, meist ebenfalls Oberschlesier, mit denen sie größtenteils auch arbeiten. Den Befragten zufolge seien die Reisen zwischen Arbeits- und Wohnregion auch der einzige »Ort«, wo etwas für sie »passiert«: z.B. das Passieren von Grenzen (vgl. JaĨwiĔska u.a. 1997: 66ff). Im Gegensatz zur isolierten Betrachtung von Herkunfts- und Ankunftskontext versucht die vorliegende Studie, beide Kontexte auf der Mikro-Ebene systematisch zu berücksichtigen und vor allem in ihrer wechselseitigen Bedeutung aufeinander zu beziehen. Auch wenn das in den polnischen Studien gezeichnete Bild der empirischen Wirklichkeit mit den Beobachtungen dieser Studie größtenteils übereinstimmt, unterscheidet sich die theoretische Einordnung der vorgefundenen Realität: Die Migranten werden in der polnischen Studie als »doppelt marginalisiert« und »entwurzelt« beschrieben, weil sie jeweils aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Die polnischen Forscher diagnostizieren, dass die Migranten ein »Leben zwischen zwei Welten« führen, und betrachten dies ausschließlich als Defizit; sie machen sich dabei das klassische Modell des marginal man von Park (1928) zueigen. Demnach führt das Leben zwischen zwei Kulturen zu Entwurzelung und Orientierungslosigkeit. Jedoch stellt sich die Frage, ob sich tatsächlich auch die (gesamte) Realität der heutigen Arbeitsmigration adäquat mit diesem Konzept beschreiben lässt. Dieser Frage anhand einer Fallstudie vertieft nachzugehen und ein alternatives theoretisches Modell der Integration (Transmigration) zu erproben, war Ausgangspunkt für diese Studie. Im Zuge dessen sollten auch weitere Schlussfolgerungen der zitierten Studie, die im Widerspruch zu anderen Untersuchungen stehen, auf den Prüfstand gestellt werden: So behaupteten die Autoren etwa, dass die soziale Inte-

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gration zwischen der autochthonen und der allochthonen Bevölkerung der Region Oberschlesien bis 1989 unproblematisch gewesen sei und erst mit Beginn der massenhaften Arbeitsmigration der Autochthonen soziale Spannungen eingesetzt hätten; die ethnische (Selbst- und Fremd-) Identifikation beider Gruppen habe dabei keine Rolle gespielt. Zu diesem Fazit gelangen die Forscher aufgrund ihrer – zweifellos zunächst einmal richtigen – Beobachtung, dass die Institution der doppelten Staatsbürgerschaft für die Oberschlesier keine wesentliche identifikatorische, sondern nur pragmatische Bedeutung hat. Insofern widersprechen sie zu Recht den »Enthusiasten«, die im bloßen Vorhandensein doppelter Staatsbürgerschaften bereits ein Indiz für eine »europäische« oder »kosmopolitische« Identifikation und eine Integration in zwei nationalstaatliche Gesellschaften vermuten. Der von den Autoren vorgebrachte entgegengesetzte Schluss, dass der Besitz zweier Staatsbürgerschaften stattdessen Indiz für eine Marginalisierung in beiden Kulturen sei, ist jedoch nicht minder pauschal und vorschnell. Dass zwischen der allochthonen und der autochthonen Bevölkerungsgruppe bereits vor dem Einsetzen der massenhaften Arbeitsmigration der Autochthonen eine wichtige soziokulturelle Trennlinie verlief, hat etwa BerliĔska (1999) in ihrer Monographie über die ethnische Identität der Oberschlesier ausführlich dargestellt. Auch spätere Untersuchungen zur Doppelstaatlichkeit (vgl. KoryĞ 2006) sowie die vorliegende Arbeit zeigen, dass eine pragmatische Einstellung zur doppelten Staatsangehörigkeit nur einer der Aspekte ist – dass nämlich gerade auch der »nüchterne«, relativ emotionslose Umgang mit der Kategorie »Nationalität«, der sich im Besitz einer Staatsangehörigkeit widerspiegelt, und die Konzentration auf die »kleine Heimat« vor Ort – wörtlich »kleines Vaterland« (mała ojczyzna) statt auf ein nationales, »großes« Vaterland (ojczyzna) Bestandteil der kollektiven Selbstwahrnehmung einer ethnischen Gruppe sein kann. Schließlich zeigen Studien über ethnische Identitäten der Oberschlesier (Ossowski 1967, BerliĔska 1999, Szmeja 2000), was sich auch in der vorliegenden Arbeit bestätigt hat: nämlich, dass die ethnische Identität der Oberschlesier sich keineswegs auf binäre nationale Konstrukte reduzieren lässt. Wenn sich die Oberschlesier also nicht eindeutig als »Deutsche« identifizieren, heißt dies nicht, dass sie sich quasi automatisch eindeutig als Polen identifizieren, und die »eigene« Ethnizität keine Rolle mehr spielte. Auf der Grundlage der bereits oben erwähnten Großstudie (sowie weiterer Einzelfallstudien) zu temporärer Migration aus Polen (auch der Oberschlesier) entwickelte Okólski (2001) das Konzept der »unvollständigen« Migration, mit dem er die Strategie und Integration der Migranten zu erklären versucht. Okólski sieht das gegenwärtige Migrationshandeln in einer gewissen Kontinuität zur früheren Binnenmigration: Im Polen der Nachkriegszeit kam es infolge der zentralistisch geplanten Industrialisierung in urbanen Gebieten zu einem Arbeitskräftemangel; man begann, Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten zu anzuwerben. Diese so genannten

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»Bauern-Arbeiter« führten ein Leben zwischen Stadt und Land: Sie pendelten täglich oder lebten in so genannten Arbeiterhotels und kehrten über die Wochenenden zu ihren Familien zurück, sie arbeiteten regulär oder saisonal. Als die Dynamik der Industrialisierung in den 1970er Jahren nachließ, sank auch die Nachfrage nach diesen unqualifizierten Arbeitskräften, die nun wieder freigesetzt wurden. Als das Regime die Ausreisepolitik Ende der 1970er Jahre liberalisierte, entdeckten diese Menschen eine neue (grenzüberschreitende) Form der ökonomischen Mobilität – neben der offiziellen Delegierung von Fachpersonal unter den »befreundeten« sozialistischen Staaten waren es auch individuelle Strategien, wie Warenhandel durch Touristen, grenzüberschreitender Warenhandel als eigentliche Profession und eine allgemeine Beschäftigung im informellen Sektor (Okólski 2001: 21, Kaczmarczyk 2001a). Okólski sieht in dem Lebensstil zwischen zwei Welten einen Habitus, auf den die ehemals internen Migranten nach der Öffnung der Grenzen zurückgreifen konnten. Als Auswirkungen dieses »doppelten Lebens« auf die Inkorporation der Migranten konstatieren Okólski und andere Autoren eine Entwurzelung im Herkunftskontext, eine Marginalisierung im Ankunftskontext und allgemein einen Verlust der Identität (vgl. Kaczmarczyk 2002: 40, Osipowicz 2001, Okólski 2001). Interessanterweise bezieht sich Kaczmarczyk (2002: 34) in der gleichen Publikation auf den transnationalen Ansatz – er spricht von der Entstehung eines transnationalen sozialen Raums. Allerdings wendet er das Konzept nur oberflächlich an, ohne sich inhaltlich mit ihm und seinen Implikationen auseinanderzusetzen. Die vorliegende Arbeit soll dagegen zeigen, dass das Konzept der »unvollständigen Migration« zwar sehr hilfreich sein kann, um die Mobilität der Polen bzw. Oberschlesier zu erfassen, sich die empirische Realität jedoch nicht in dieser Weise reduzieren lässt.

D IE

OBERSCHLESISCHE M IGRATION AUS REGIONALER P ERSPEKTIVE Neben dem Warschauer Center of Migration Research beschäftigen sich auch Wissenschaftler der Universität Oppeln und des ebenfalls dort ansässigen Instytut ĝląski (Schlesisches Institut) mit dem Thema Migration. An dieser Stelle muss jedoch auf ein bestimmtes Defizit des Forschungsstandes bezüglich der Arbeitsmigration aus Oberschlesien nach Deutschland hingewiesen werden: Es liegt zwar umfangreiches Forschungsmaterial über die Migration aus der Woiwodschaft Oppeln (Opolskie) vor – die den westlichen, ländlich geprägten Teil der historischen Region Oberschlesien bildet –, jedoch kaum welches aus der Woiwodschaft (Ober-) Oberschlesien (ĝląskie), in der der industrialisierte Ballungsraum um Kattowitz liegt. Dieses

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»Bauern-Arbeiter« führten ein Leben zwischen Stadt und Land: Sie pendelten täglich oder lebten in so genannten Arbeiterhotels und kehrten über die Wochenenden zu ihren Familien zurück, sie arbeiteten regulär oder saisonal. Als die Dynamik der Industrialisierung in den 1970er Jahren nachließ, sank auch die Nachfrage nach diesen unqualifizierten Arbeitskräften, die nun wieder freigesetzt wurden. Als das Regime die Ausreisepolitik Ende der 1970er Jahre liberalisierte, entdeckten diese Menschen eine neue (grenzüberschreitende) Form der ökonomischen Mobilität – neben der offiziellen Delegierung von Fachpersonal unter den »befreundeten« sozialistischen Staaten waren es auch individuelle Strategien, wie Warenhandel durch Touristen, grenzüberschreitender Warenhandel als eigentliche Profession und eine allgemeine Beschäftigung im informellen Sektor (Okólski 2001: 21, Kaczmarczyk 2001a). Okólski sieht in dem Lebensstil zwischen zwei Welten einen Habitus, auf den die ehemals internen Migranten nach der Öffnung der Grenzen zurückgreifen konnten. Als Auswirkungen dieses »doppelten Lebens« auf die Inkorporation der Migranten konstatieren Okólski und andere Autoren eine Entwurzelung im Herkunftskontext, eine Marginalisierung im Ankunftskontext und allgemein einen Verlust der Identität (vgl. Kaczmarczyk 2002: 40, Osipowicz 2001, Okólski 2001). Interessanterweise bezieht sich Kaczmarczyk (2002: 34) in der gleichen Publikation auf den transnationalen Ansatz – er spricht von der Entstehung eines transnationalen sozialen Raums. Allerdings wendet er das Konzept nur oberflächlich an, ohne sich inhaltlich mit ihm und seinen Implikationen auseinanderzusetzen. Die vorliegende Arbeit soll dagegen zeigen, dass das Konzept der »unvollständigen Migration« zwar sehr hilfreich sein kann, um die Mobilität der Polen bzw. Oberschlesier zu erfassen, sich die empirische Realität jedoch nicht in dieser Weise reduzieren lässt.

D IE

OBERSCHLESISCHE M IGRATION AUS REGIONALER P ERSPEKTIVE Neben dem Warschauer Center of Migration Research beschäftigen sich auch Wissenschaftler der Universität Oppeln und des ebenfalls dort ansässigen Instytut ĝląski (Schlesisches Institut) mit dem Thema Migration. An dieser Stelle muss jedoch auf ein bestimmtes Defizit des Forschungsstandes bezüglich der Arbeitsmigration aus Oberschlesien nach Deutschland hingewiesen werden: Es liegt zwar umfangreiches Forschungsmaterial über die Migration aus der Woiwodschaft Oppeln (Opolskie) vor – die den westlichen, ländlich geprägten Teil der historischen Region Oberschlesien bildet –, jedoch kaum welches aus der Woiwodschaft (Ober-) Oberschlesien (ĝląskie), in der der industrialisierte Ballungsraum um Kattowitz liegt. Dieses

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Verhältnis lässt sich zum einen mit der zahlenmäßigen Relevanz des Phänomens für die jeweilige Region erklären, die wiederum mit der unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zusammenhängt: Laut der Volkszählung von 2002 lebten 55,1% der deutsch-polnischen Doppelstaatler in der Woiwodschaft Oppeln und 28,6% in der Woiwodschaft Oberschlesien (RauziĔski 2005: 62). Diese Proportionen spiegeln sich auch in den Migrationssalden der beiden Regionen wider: In der Woiwodschaft Oppeln beträgt der Migrationssaldo -9,92% (99,8 auf 1000 Einwohner) – sie liegt damit landesweit an erster Stelle –, während er in der Woiwodschaft Oberschlesien -2,64% beträgt (vierte Stelle) (Szygielski 2005: 80)3. Dementsprechend hat sich in der Woiwodschaft Oberschlesien in den 1990er Jahren auch keine Tradition der Migrationsforschung etabliert. Vor 1989 hatte das Forschungsinteresse interessanterweise noch beiden Regionen gegolten (vgl. Ossowski 1967 Korbel 1972, Ochocki 1974). Die gegenwärtige Erforschung der demographischen Auswirkungen der Migration auf die Oppelner Region hat eine längere Tradition: So verfolgt der Bevölkerungswissenschaftler Robert RauziĔski seit 1951 die Auswanderung aus Oberschlesien und setzt seine Arbeit auch über die temporäre Auswanderung in den 1990er Jahren fort (vgl. RauziĔski 1999, 2002, 2005). Wie die vorliegende Studie zeigen soll, ist die Vorgeschichte der Arbeitsmigration der 1990er Jahre – nämlich der Exodus von erheblichen Teilen der oberschlesischen Bevölkerung als »Spätaussiedler« in die Bundesrepublik vor 1993 (im Jahr 1993 hat sich die deutsche Aufnahmepolitik bezüglich der Deutschstämmigen aus Polen geändert – mehr dazu s. weiter unten) – für die spätere Pendelmigration von großer Bedeutung: einerseits in praktischer Hinsicht, da er soziale Netzwerke in Deutschland bereitstellte, andererseits in ideeller Hinsicht, da er zur subjektiven Sinngebung der Pendelmigration beiträgt. Interessanterweise stellt RauziĔski einen Wandel von dauerhafter zu temporärer Migration fest, aber seine Zahlen zeigen, dass temporäre Migration bereits vor der Wende 1989/90 stattfand: 1988 z.B. waren 51.100, 1995 77.300 Personen temporär in Deutschland4 (RauziĔski 2000: 66). Insgesamt ermittelt RauziĔski folgende Zahlen: In den Jahren 1951-1997 wanderten 192.100 Personen aus. In der Transformationsperiode, die er auf den Zeitraum zwischen 1988 und 1997 datiert, wanderten 34.461 Personen aus (RauziĔski 2000: 66). Dabei berücksichtigten diese Zahlen nicht die temporäre Arbeitsmigration, die parallel zur Auswanderung stattfindet und seit 1988 stetig steigt.

3

Die Zahlen basieren auf der Volkszählung von 2002. Als »temporär« wurden Migranten kategorisiert, die sich mindestens zwei Monate im Jahr im Ausland aufhalten.

4

Als temporäre Migranten bezeichnet der Autor Personen, die in Polen gemeldet sind und sich zugleich länger als zwei Monate im Jahr in Deutschland aufhalten (meistens zum Zweck der Erwerbstätigkeit).

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Als Ursachen für die temporäre Arbeitsmigration nennt RauziĔski die Arbeitslosigkeit auf den lokalen Arbeitsmärkten und das Lohngefälle zwischen Deutschland und Polen. Die oberschlesischen Arbeitsmigranten arbeiten ausschließlich auf Grundlage ihrer doppelten Staatsangehörigkeit, und nicht der bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und Polen, die seit den 1990er Jahren die befristete Arbeit von Werkvertragsarbeitern, Saisonarbeiternehmern, Grenzgängern regelten (Miera 2007: 128ff.). Wichtig sind dafür familiäre und nachbarschaftliche Netzwerke in Deutschland, die sich vor und nach 1989 herausgebildet haben und auf welche die Arbeitsmigranten zurückgreifen können. Ein von RauziĔski ermitteltes Zahlenverhältnis ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich: In größeren familiären Verbänden entfallen auf eine in Polen lebende Person statistisch durchschnittlich 1,2 dauerhaft in Deutschland lebende Verwandte (RauziĔski 2000: 67). Diese Abwanderung hatte eine deutliche Auswirkung auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung im Raum Oppeln: Lag der Anteil der autochthonen Bevölkerung in den 1950ern noch bei 52%, betrug er Ende der 90er Jahre nur noch 30-35% (Solga 2002: 72). Die Untersuchungen zeigen, dass Emigration nach Deutschland viele negative Auswirkungen demographischer und sozialer Art auf die Region hat: ökonomische Verluste, wie z.B. die Kosten der Investitionen in das Humankapital (Ausbildungskosten), die Desintegration des Arbeitsumfeldes, mangelnde regionale Integration, Schwächung lokaler Bindungen, Trennung der Familien. Allerdings sind auch positive ökonomische Auswirkungen sichtbar: Wohnungsbau, Renovierungen, Kauf von Autos usw. Dadurch wird die lokale Gemeinschaft nicht nur äußerlich verschönert, sondern hat auch einen rein wirtschaftlichen Anteil an Geldtransfers, etwa in Form der Steigerung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Förderlich für die Arbeitsmigration ist nicht zuletzt die positive Einstellung der Bevölkerung zur temporären Arbeitsmigration. Gerade letzterer Aspekt sowie von vielen Demographen und Ökonomen häufig angeführte Argumente über »sozialen Kosten« durch die Arbeitsmigration (z.B. durch die Schwächung der sozialen Bindungen, Trennung der Familie) waren für die Autorin dieser Studie ein Ansporn, sich mit der subjektiven Sicht der Migranten auf ihr transnationales Leben auseinanderzusetzen. Denn sehr oft werden solche Argumente a priori als »Fakten« und pauschal formuliert ohne dass empirische Belege angebracht werden. Sie stützen sich vielmehr auf öffentliche Diskurse über die negativen Auswirkungen der Arbeitsmigration (vgl. Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011) sowie ideologische A-priori -Annahmen. Schließlich erlauben die quantitativen Methoden, die diese Autoren in der Regel benutzen auch nur beschränkte Einblicke in solche Aspekte wie soziale Spannungen, Familienleben, soziales Klima. Einen wichtigen Forschungsbeitrag und zugleich eine wesentliche Informationsquelle für die vorliegende Arbeit bildete die Dissertation der Geografin Brygida Solga. Ähnlich wie ihre Kollegen aus den Oppelner Institutionen konzentriert

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sich auch Solga auf die eigene Region. Ihre Dissertation basiert auf Daten aus mehreren Forschungsprojekten, die 1996-2000 durchgeführt wurden.5 Mit einer Kombination verschiedener Methoden konnte die Autorin einen facettenreichen Einblick in verschiedene Dimensionen des Lebens der Region gewinnen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse skizziert werden, die für das Thema der vorliegenden Arbeit von Bedeutung sind. Das hierfür relevanteste Ergebnis ist der Nachweis des Zusammenhangs zwischen den ansonsten – wie oben beschrieben – meist isoliert voneinander betrachteten Migrationsformen innerhalb der Untersuchungsgruppe. So richtet Solga das Augenmerk auf die Bedeutung von »Heimatbesuchen« der Emigranten – ihre fortbestehende soziale Bindung an Oberschlesien, ihre Freizeitgestaltung, ihr Heiratsverhalten und deren gesamte Auswirkung auf das soziale und ökonomische Leben in der Herkunftsregion. Die Autorin stellt fest, dass die geographische Verteilung der Emigranten in Deutschland relativ gestreut ist, was eine Folge der bis 19926 von den deutschen Behörden praktizierten Integrationspolitik ist (z.B. die zentral gesteuerte Vergabe von Wohnraum in verschiedenen Bundesländern). Dennoch ist eine gewisse regionale Konzentration zu beobachten, die an die Emigration aus Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit und in 19. Jahrhundert anschließt. So lebt ein Drittel der Auswanderer in Nordrhein Westfalen, je ein Viertel in Baden-Württemberg und Bayern.7 Weitere bedeutende

5

Diese Untersuchungen hatten zwei Schwerpunkte: Zum einen wurden die Auswirkungen der Besuche von oberschlesischen Emigranten in Polen und zum zweiten die der oberschlesischen Arbeitsmigranten in Deutschland auf die regionale und lokale Ökonomie und Sozialleben untersucht. Die Autorin konnte im Rahmen von mehreren Untersuchungen einen Methodenmix der quantitativen und qualitativen Methoden, sowie verschiedener Datenerhebungsmethoden und -quellen anwenden. So wurden die Häufigkeiten der Besuche in Deutschland und Polen anhand von Befragungen aber auch durch Zählen der deutschen Autos an der einzigen Autobahn zwischen Deutschland und Oppelner Region festgehalten. Man hat die Nachfrage nach Produkten in lokalen Geschäften anhand von längsschnittsorientierten Dokumentenanalyse untersucht sowie Expertenbefragungen aus bestimmten Branchen gemacht. Es wurden schriftliche und direkte Befragungen mit autochthonen und allochthonen Bevölkerung, Migranten und Nicht-Migranten sowie Experten der lokalen Verwaltungen durchgeführt.

6

Am 1.1.1993 trat das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz in Kraft, aufgrund dessen Deutschstämmige aus Polen nicht mehr automatisch den Aussiedler-Status und damit keine Eingliederungshilfen (wie Sprachkurse) oder soziale Leistungen (wie Arbeitslosengeld) mehr erhielten.

7

Wobei hier neben der historischen Kontinuität auch weitere Faktoren berücksichtigt werden müssten: Erstens ist Nordrhein-Westfalen das bevölkerungsstärkste Bundesland, sodass der hohe Anteil hier nicht unbedingt auch einem hohen Anteil an der Gesamtbevöl-

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Räume sind Großstädte in Hessen sowie Niedersachsen und Hamburg (Solga 2002: 89). Familiäre und freundschaftliche Beziehungen an diesen Orten stellen das wichtigste Element der Netzwerke dar, auf die auch Arbeitsmigranten zurückgreifen können (Solga 2002: 84). Die vorliegende Untersuchung zeigt jedoch, dass – insbesondere bei der Arbeitsmigration in die Niederlande – bei der Arbeitssuche, Wohnungssuche usw. eine Professionalisierung stattfindet; dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die in Solgas Untersuchungszeitraum noch nicht vorlag. Die Zahlen demonstrieren auch, wie intensiv die grenzüberschreitenden Kontakte sind: 70% der autochthonen Bevölkerung hat persönliche Kontakte mit Verwandten aus Deutschland; nur 5% hat gar keine Kontakte. Lediglich 2% der Arbeitsmigranten ist bei der Arbeitsaufnahme in Deutschland zum ersten Mal hier. Der Bezug zu Deutschland basiert also überwiegend auf persönlichen Kontakten, nicht lediglich auf Meinungen »aus zweiter Hand«. Die Kontakte haben in der Regel persönlichen Charakter. Bei den indirekten Kontakten dominiert die Post, aber es handelt sich in der Regel um Glückwunschkarten und weniger um Briefe. Der Kontakt über E-Mails war zu dem Zeitpunkt der Untersuchungen noch nicht verbreitet. Telefonieren bzw. SMS-Nutzung werden nicht erwähnt, was jedoch nicht weiter verwundert – erst in den letzten Jahren sind die Kosten für Telekommunikationsleistungen so stark gesunken, dass eine regelmäßige Nutzung im Alltag für die untersuchte Gruppe möglich ist. Auffällig, aber ebenso nachvollziehbar ist die Asymmetrie der Besuche in Polen bzw. Deutschland: Dauerhaft in Deutschland lebende polnische Staatsbürger besuchen Polen im Durchschnitt dreimal im Jahr, Besuche in umgekehrter Richtung finden dagegen nur einmal im Jahr statt (Solga 2002: 90f). Eine Erfassung des Verkehrs am Tag vor Heiligabend ergab, dass innerhalb von 24 Stunden ca. 5000 Fahrzeuge mit deutschen Kennzeichen in die Region Oppeln gefahren sind; Solga (2002: 106) rechnet dies auf ca. 20.000 PKW in der gesamten Vorweihnachtswoche hoch. Interessanterweise begrüßt die zurückgebliebene Bevölkerung die regelmäßigen »Heimatbesuche« von Aussiedlern, beurteilt eine dauerhafte Rückkehr aber geteilt. Dabei machen sich Unterschiede zwischen Generationen und Bildungsniveaus bemerkbar: Ältere Bewohner (über 65 Jahre) sowie diejenigen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen beurteilen eine dauerhafte Rückkehr eher als negativ bzw. waren unentschieden. Die jüngste Befragtengruppe (18- bis 24-Jährige) sowie die Befragten mit höheren Bildungsabschlüssen beurteilten eine dauerhafte Rückkehr dagegen

kerung entspricht. Zweitens sind Baden-Württemberg und Bayern wirtschaftlich starke Bundesländer und dürften schon deshalb eine starke Anziehungskraft auf die Arbeitsmigranten ausüben.

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eher positiv. Solga führt die Befunde darauf zurück, dass die Befragten aus der Region sich zum Teil aus der allochthonen Bevölkerung zusammensetzen, die gewisse Ängste vor der Rückkehr der früheren Eigentumsbesitzer ihrer Immobilien haben könnten (Solga 2002: 99f.). Interessanterweise äußerten sich in der Umfrage jedoch sogar mehr Autochthone als Allochthone negativ über die Rückkehr ihrer Landsleute. Die vorliegende Studie wird zeigen, dass es zwischen den Generationen der Oberschlesier durchaus Unterschiede bei der Bewertung der Migration gibt: Für die Älteren ist die Erfahrung der »massenhaften« Auswanderung in den Familien und in der Region sehr prägnant, hier ging es um die Entscheidung zwischen der Auswanderung und dem Verbleib, die endgültig war, und die Rückkehr in diesem Denkschema keinen Platz hat bzw. höchstens als ein Versagen begriffen wird. Für die jüngere Generation ist die temporäre Migration der »Normalfall«; daher akzeptieren sie eine dauerhafte Rückkehr eher. Solga stellte fest, dass in Ortschaften mit einem hohen Anteil Autochthoner bis zu 10-20% der Arbeitskräfte in Deutschland arbeiten, wobei teilweise ganze Berufsgruppen verschwunden sind, insbesondere in Fachberufen, die mit dem Bausektor zusammenhängen, wie etwa Mauerer, Schweißer, Maler, Elektriker (Solga 2002: 79). Auffällig ist auch, dass keine Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Migration besteht – die Arbeitsmigration ist nicht eine Folge der Arbeitslosigkeit. Vielmehr ist es das Lohngefälle, das für die Arbeitsmigration entscheidend ist (Solga 2002: 86, 117). Die Zielregionen der Oppelner Arbeitsmigranten decken sich mit den früheren Zuwanderungsgebieten der Aussiedler: Über 25% arbeiten in Nordrhein-Westfalen, 19,6 in Bayern, 13,5 in Hessen, sowie 21% in Berlin und den neuen Bundesländern. Letztere sind kein traditionelles Zielgebiet, aber attraktiv aufgrund ihrer geographischer Nähe und der dortigen Nachfrage nach den Arbeitskräften in der Baubranche, insbesondere in den 1990er Jahren. Generell jedoch sind die autochthonen Arbeitsmigranten in Deutschland relativ gleichmäßig verstreut; nur in Schleswig-Holstein, Bremen und Rheinland Pfalz ist ihre Präsenz minimal. Anders Migranten aus der allochthonen Bevölkerung Oberschlesiens (die Solga in ihrer Studie mitberücksichtigt, in der vorliegenden Arbeit jedoch ausgelassen wird): Zwei Drittel von ihnen arbeiten in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Solga erklärt dies damit, dass die autochthonen Arbeitsmigranten aufgrund ihres privilegierten rechtlichen Status mehr Spielraum bei der Arbeitsaufnahme haben als »Nur-Polen«, die durch ihren schwächeren rechtlichen Status (als Undokumentierte, Ausländer bzw. seit 2004 als EU-Bürger) vielmehr auf bereits an bestimmten Orten etablierte Netzwerke von Autochthonen bzw. der polnischen Auswanderern angewiesen sind (vgl. Solga 2002: 132f). Jedoch stellt Solga auch fest, dass ein Drittel der autochthonen Arbeitsmigranten sich bei der Arbeit auf ihre familiäre Verbin-

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dungen verlässt, ein Viertel seine Arbeitsstelle »zufällig« gefunden hat und 20% über Bekannte vermittelt wurden (vgl. Solga 2002: 134). Die zeitliche Entwicklung der Arbeitsmigration illustrieren folgende Zahlen: ein Drittel der Befragten haben bereits früher in Deutschland gearbeitet, davon 3,7% vor 1989, 8% zwischen 1989 und 1993, und 15,3% zwischen 1994 und 1998. Gefragt nach der Migrationsgeschichte in der Familie sehen die Zahlen folgend aus: 17,9% der Befragten arbeiten selbst, bei 22,1% die Ehepartner, bei 11,6% Kinder, bei 11,6% Eltern, 8,4% Geschwister und 4,2% sonstige Verwandte (Solga 2002: 118). In Bezug auf andere Personengruppen, die zur Zeit der Erhebung in Deutschland arbeiteten, gaben 69% der Befragten Nachbarn an, 67,4% Freunde, 87,4% andere Bewohner des Ortes, 87,4% Bewohner der umliegenden Ortschaften, 68,4% weitere Verwandte, 28,4% die Kernfamilie (Solga 2002: 119). Solga spricht angesichts dessen von einer »Professionalisierung der Migration« oder von Migration als einem »Lebensstil« (Solga 2002: 120). Die negativen Aspekte der Arbeitsmigration wurden in der Befragung als geschlossene Fragen erfragt und in dem Sinne bereits »vorgegeben«. Als wichtigste unter ihnen ergaben sich Trennung, Stress, Unruhe und zusätzliche Pflichten im Haushalt (im Falle der zurück bleibenden Familienmitglieder) (Solga 2002: 121). In Bezug auf den Einfluss der Arbeitsmigration auf die Beziehungen kommen in den Befragungen Themen wie Veränderungen der familiären Rollen, Krisen in Ehen, Schwächung der Beziehungen zum Ausdruck. Als besonders problematisch wird die zunehmende Arbeitsmigration der »Ehefrauen und Mütter« bezeichnet; Solga erörtert dies jedoch nicht systematisch und weist lediglich darauf hin, dass diese Aspekte weitere Forschung erfordern (Solga 2002: 122f). Die Autorin führte auch Gespräche mit Lehrern, die auf das Phänomen der sogenannten »Markenkinder«8 verweisen: Kinder, deren teure Markenkleidung auf eine gute materielle Versorgung hinweist, deren Verhaltensauffälligkeit jedoch eine erzieherische Vernachlässigung verrät. In theoretischer Hinsicht greift Solga auf einen netzwerktheoretischen Ansatz zurück und kann so die Entstehung, Dynamik und Aufrechterhaltung von engen ökonomischen, sozialen und kulturellen transnationalen Bindungen aufzeigen und erklären.

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Im Original dzieci markowe – die Bezeichnung kann sich sowohl auf Markenkleidung als auch auf die Währung »Mark« beziehen. Zu erwähnen ist hier, dass die polnischen Medien unter dem skandalisierenden Schlagwort »Euro-Waisen« 2008/09 intensiv über zurückbleibende Kinder diskutiert wurde, bei denen nach dem EU-Beitritt mindestens ein Elternteil insbesondere nach Großbritannien und Irland migriert war, und die daher beim anderen Elternteil oder dauerhaft bei Großeltern oder anderen Verwandten lebten. Vgl. Lutz/Palenga-Möllenbeck (2011).

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Da der vorliegenden Studie eine andere Methode (biographische Methode) und ein anderes Erkenntnisinteresse (nicht nur Alltagspraktiken sondern auch subjektive Verortungen der Migranten sowie deren transnationale Migration) zugrunde liegt, kann sie an diesen bereits vorhandenen Erkenntnissen über die konkrete Alltagspraxis der oberschlesischen Arbeitsmigranten teilweise anschließen und sie vor allem um die subjektive Perspektive der Betroffenen ergänzen. Dabei wird hier von der Annahme ausgegangen, dass die oberschlesische Migration ohne die Geschichte der Region, ohne das (kollektive) Wissen und Überzeugungen nicht verstanden werden kann. Mit ihrer Studie bestätigt Solga eine ältere These, wonach das Migrationshandeln in der Region auf einer positiven Rückkopplung beruhe. So sprach Andrzej PasierbiĔski bereits 1980 davon, dass die Migration in der Region zu einem dauerhaften Phänomen werden könne – einem »Teufelskreis« –, da sich durch die kontinuierliche Emigration der »Aussiedler« die relative Position der autochthonen Bevölkerung verschlechtere, was wiederum weitere Emigration nach sich ziehe (nach Solga 2002: 43). Solga selbst bringt das Phänomen jenes »Teufelskreises« wie folgt auf den Punkt: »Obwohl sie bereits stark im Ausland verwurzelt sind, verlieren die früheren Emigranten allgemein nicht die Bindung an Oberschlesien, zu ihren Verwandten und Freunden, und bilden eine starke, tatsächliche oder potenzielle Unterstützung für die weitere Emigration. Somit haben sie auch Einfluss auf die Bildung eines supranationalen Sozialraums zwischen Polen und den Deutschen […] Die zahlreichen Episoden der Migration nach Deutschland […], die hauptsächlich Erwerbscharakter haben […], bewirken die Verfestigung einer PendelKonstruktion der sozialen Welt – einer Gesellschaft, die quasi kein eigenes Gleichgewicht finden kann und sich in ständiger Bewegung zwischen zwei gleichermaßen attraktiven und wichtigen Bezugspunkten befindet: Einerseits die emotionalen Bindungen an die Heimat und Verhaltensweisen und -muster, die in der heimatlichen Tradition verortet sind, andererseits die Attraktivität der westlichen Welt. Die Bewegung zwischen diesen beiden Polen, genauer gesagt, der Wunsch, gleichzeitig ›hier‹ und ›dort‹ sein zu wollen, bewirkt eine große Mobilität der Gesellschaft, die einen wesentlichen Faktor des aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels der ländlichen Gebiete in der Region Oppeln bildet.« (Solga 2002: 138f., Hervorhebungen EPM)

Ähnlich wie Kaczmarczyk bezieht sich also auch Solga hier auf das Konzept des transnationalen Sozialraums, ohne jedoch näher auf dessen theoretische Dimension einzugehen. Den ökonomischen Aspekt der Arbeitsmigration der Oppelner Bevölkerung untersucht seit mehreren Jahren der Wirtschaftswissenschaftler Romuald JoĔczy; ein großer Teil seiner Erkenntnisse wurde im empirischen Teil im Kontext der Beschreibung der Untersuchungsgruppe dargestellt. Weitere Studien entstanden im Auftrag von staatlichen Behörden wie dem Marschallamt (Urząd Marszałkowski)

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bzw. der Regionalregierung der Woiwodschaft Oppeln (Samorząd Województwa Opolskiego) (ĩurawska 2005, Lotko 2005, JoĔczy 2007, Markiewicz 2003). Mit einer politikberatenden Zielsetzung konzentrieren sich diese Studien auf bestimmte Aspekte der Arbeitsmigration, die für die regionale Politik relevant sind (Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftsförderung, Raumbewirtschaftung). Die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die Region werden sowohl negativ als auch positiv bewertet: So sinkt nachweisbar die Arbeitslosenquote in den betroffenen Kommunen; auf der anderen Seite kommt es zu einem brain drain von Fachkräften (ĩurawska 2005). Ein weiterer Nachteil ist das niedrige Niveau eigener gewerblicher Aktivität der Bevölkerung in den betroffenen Regionen. In dieser Hinsicht ist die Woiwodschaft Oppeln landesweites Schlusslicht, wobei der Südosten mit einer vorwiegend autochthonen Bevölkerung schlechter dasteht als der Nordwesten, in dem Allochthone dominieren (Lotko 2005: 44) BerliĔska (2003) verweist auf die Auswirkungen der Arbeitsmobilität auf die Sozialpolitik, etwa im Bereich der Seniorenbetreuung – hier wird die Verantwortung immer stärker von der Familie auf spezialisierte Institutionen übertragen, wie es auch in Westeuropa zu beobachten ist (BerliĔska 2003: 207). Anhand dieses Überblicks fällt auf: Es gibt inzwischen recht viele Publikationen, die sich mit den soziodemographischen und ökonomischen Aspekten der oberschlesischen Arbeitsmigration befassen; bis auf wenige Ausnahmen fehlt es jedoch an Ansätzen zu einer systematischen (qualitativen) Erforschung der sozialen und kulturellen Dimension. Eine dieser Ausnahmen ist eine interessante qualitative Untersuchung, die von Maria Grygierczyk (1997) durchgeführt wurde. Hauptziel dieser Untersuchung war es, das »Alltagswissen« über Migration zu erforschen – d.h. das Wissen, über das Personen verfügen, die selbst in Migrationsprozesse involviert sind oder diese in ihrer Umgebung beobachten. Eine Untersuchung ihrer Wahrnehmungen, Meinungen, Interpretationen und Urteile ergab, dass die Befragten im Allgemein davon überzeugt sind, dass eine räumliche (in Bezug auf das Zielland Deutschland) und zeitliche Kontinuität der Migration unter Allochthonen besteht. Das Phänomen der Migration ist so tief verankert, dass man sich keine Gedanken über das tatsächliche Ausmaß macht, daher fallen diese Vorstellungen recht unterschiedlich aus: »… alle sind ausgewandert, die ganze Straße, alle sind nach Deutschland ausgewandert, wir sind hier alleine geblieben …«. Andere sind überzeugt, dass in letzter Zeit nur noch wenige im Ausland geblieben seien, dass die meisten jetzt befristet pendeln. Die Gruppe der Migranten ist nämlich heterogen: Unterschiede zeigen sich sowohl in den zeitlichen Intervallen der Migration als auch in deren Zielsetzung. Hinzu kommen unabhängige Variablen wie Alter und Geschlecht, die sich ebenfalls auf das Migrationshandeln auswirken. So hat die älteste Generation von Frauen in der Regel nur eine einmalige Erfahrung eigener Migration, im Unterschied zu den

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jüngsten Frauen, die häufiger und über längere Zeit migrieren. Die älteren Frauen fahren meistens ihre Kinder und Enkel besuchen; nicht selten helfen sie bei der Betreuung der Enkel. Männer haben, unabhängig vom Alter, einen viel größeren Anteil an der Migration; in aller Regel handelt es sich um Arbeitsmigration. Alle diese Befragten waren bereits mehr als drei Male in Deutschland arbeiten, es handelte sich um Aufenthalte von zwei Wochen bis zu einigen Monaten (selten bis zu einem halben Jahr). Häufiger als Frauen erwogen sie auch die endgültige Emigration, ihre Frauen waren jedoch meist dagegen, obwohl es auch Fälle gab, in denen die Frau die Emigration befürwortete. Insgesamt gestaltete sich die Abwägung zwischen befristeter und dauerhafter Emigration als schwierig und zwiespältig. Verbreitet ist die Überzeugung, dass befristete Migration bzw. Emigration unter ökonomischem Zwang stattfinde – man migriert immer »für den Broterwerb«. Die potentiellen Migranten beobachten das Migrationshandeln anderer und erkennen, dass sich nur auf diesem Wege ihre Bedürfnisse in relativ kurzer Zeit realisieren lassen. Damit korrespondiert die Überzeugung, dass in Polen grundsätzliche Bedürfnisse nicht erfüllt werden konnten und können. Das heute »populäre« Motiv ist Arbeitslosigkeit – sei sie selbst erfahren oder als allgemeines gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen. Die hohe Arbeitslosigkeit ist eine Tatsache; die Möglichkeit einer legalen Beschäftigung im Ausland ist für die von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen eine Alternative, bzw. wie es eine der Befragten formulierte, »ein Segen«. Neben der (potentiellen) Arbeitslosigkeit gibt es aber noch einen Grund, warum die Arbeit im Ausland bevorzugt sind: »die D-Mark«: »Na ja, wenn er schon mal einen Monat lang im Westen gearbeitet und das verdiente Geld gezählt hatte, wird er jetzt hier nicht [mehr arbeiten] wollen, jetzt rechnet er um« (Grygierczyk 1997: 46). Derartige Meinungen sind weit verbreitet, obwohl manche Befragte auch darauf hinweisen, dass z.B. die hohen Löhne im nahegelegenen Kraftwerk eine Alternative zur Erwerbsmigration darstellten. Eine (Teil-) Erklärung für die Verbreitung der Erwerbsmigration ist sicherlich das in der Gruppe der Oberschlesier vorzufindende »Vorbild der Lebenstüchtigkeit« (wzór zaradnoĞci Īyciowej), dessen Zielvorgabe es ist, einen mit Deutschland vergleichbaren Lebensstandard zu erreichen. Dies ist interessanterweise den Oberschlesiern selbst nicht unbedingt bewusst; es wird dagegen von Beobachtern von außen (Allochthonen) wahrgenommen. Weil die Erwerbsmigration rechtlich institutionalisiert ist (doppelte Staatsangehörigkeit), wird sie sowohl von Autochthonen als auch von »Zugezogenen« als eine rationale Nutzung der bereitgestellten Chancen und Möglichkeiten betrachtet, obwohl man sich auch die sozialen Kosten (Trennung von der Familie, Schwächung der familiären Bindungen zwischen den Ehepartnern und zu den Kindern) vor Augen hält.

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Die »Zugezogenen« weisen darauf hin, dass die Autochthonen gar nicht erst versuchten, eine gut bezahlte Beschäftigung im örtlichen Kraftwerk zu suchen – denn dies sei für sie schwieriger umzusetzen als ins Ausland zur Arbeit zu fahren. Unter den befristet im Ausland arbeitenden Migranten kann man solche hervorheben, die eine Art »projektbezogene Migration« betreiben: Sie nehmen jeweils die Arbeitsmigration auf, um nacheinander selbst gesetzte »Projekte« zu verwirklichen (Renovierung des Hauses usw.); oft handelt es sich dabei um regelmäßige Aufenthalte zur Saisonarbeit. Inzwischen gibt es jedoch mehr Migranten, die sich schwerpunktmäßig in Deutschland aufhalten und dort arbeiten und ihre Familien in Polen regelmäßig besuchen. Was die beiden Gruppen verbindet, ist die Tatsache, dass sie nicht wissen, wie lange »das Leben zwischen dort und hier« fortgesetzt wird. Diese Unterteilung wird in der vorliegenden Studie bestätigt; wobei wir sie weiter in neben- und vollerwerbliche Migrationsformen sowie in durch Ziele und Lebensphasen definierte Migrationsstrategien differenzieren (ausführlicher dazu siehe empirischer Teil). Grygierczyk stellt die These auf, dass die familiäre Migrationsstrategie ein Merkmal sei, das diese Migrationsprozesse von denen in anderen Regionen unterscheide: Die Entscheidung, wer »zur Arbeit fahren« soll, wird in der Familie getroffen – in der Regel sind es die Väter und Söhne. Wichtig sind die Verwandten im Ausland; sie leisten wichtige Hilfen, vor allem beim ersten Einsatz. Der Erfolg der Erwerbsmigration ist ein Stimulus für andere Familienmitglieder. Interessant sieht der Migrationsprozess unter Geschwistern aus: In der Regel kommt es hier zur »Kettenmigration« – auch wenn dies für alternde Eltern oft ein Drama ist, werden diese Entscheidungen akzeptiert. Die Migration wird also in der Familie initiiert und kann dank der Familie fortgesetzt realisiert werden (Grygierczyk 1997: 47). In einer weiteren Publikation spricht Grygierczyk von einer »Aneignung« (oswojenie) von Migration und Arbeitslosigkeit durch die regionale Bevölkerung; die Menschen begreifen diese als Bestandteil der Geschichte der Region vor wie nach 1989 und als ein Problem, mit dem sie in einer bestimmten Lebensphase selbst zurechtkommen müssen. In diesem Zusammenhang sieht sie das Ausweichen auf schlecht bezahlte Jobs im Westen als Ursache für die Konservierung ungünstiger sozialer Strukturen (fehlende soziale Mobilität), die zu Lasten von Veränderungen zum Positiven im Herkunftskontext gehen (etwa der Erwerb einer besseren Ausbildung) (Grygierczyk 2003: 442f). Einige Einblicke in die soziokulturellen Konsequenzen der Arbeitsmigration liefert eine Publikation des Soziologen Edward Nycz (2005), deren qualitativer Teil sich auf Qualifikationsarbeiten seiner Studenten stützt. So zieht der Autor – nach eigener Aussage – nur ein allgemeines Fazit: Unter anderem würden die Menschen im Ausland in ein neues, fremdes Umfeld eintreten, die alte Identität ablegen und eine neue annehmen, neue Rollen lernen und übernehmen. Im Westen würden die

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Migranten mit einer offenen, pluralistischen Gesellschaft konfrontiert. Hier unterliegt das Individuum dem Einfluss mehrerer Normen, Werte und Bedeutungen gleichzeitig, unter denen es wählen könne, die aber auch manchmal im Widerspruch zueinander stehen. Der Mensch fungiere nicht mehr als Ganzheit, sondern in seinen einzelnen Funktionen und Rollen. (Nycz 2005: 103f.). Nycz schildert die soziale Hierarchie innerhalb der oberschlesischen Community in den Niederlanden, die sich danach richtet, wie lange und in welchem Umfang die Migranten jeweils in die Arbeitsmigration involviert sind (Galbierz 2004, zitiert nach Nycz 2005: 104f). Nycz reißt das Thema Migration insgesamt jedoch nur an, denn dies war nur einer von mehreren Aspekten in seiner Studie, die sich allgemein mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen am Beispiel der Gemeinde Bierawa befasste. Somit fehlt hier eine systematische, empirische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Migration. In einem 2005 von Oppelner Theologen herausgegebenen Tagungsband unter dem Titel »Arbeitsmigration – Chance oder Gefahr?« wurden interdisziplinär und in einem breiteren Rahmen soziologische Fragen der oberschlesischen Arbeitsmigration diskutiert. Neben Bevölkerungswissenschaftlern, Soziologen und Beamten der regionalen Behörden haben sich auch Vertreter der katholischen Kirche mit Beiträgen beteiligt. Beteiligt waren hier vor allem Hochschullehrer (Priester und Laien) von theologischen Fakultäten verschiedener polnischer Hochschulen. Die Arbeitsmigration wurde darin vor dem Hintergrund der kirchlichen Lehre analysiert. Hier wurden insbesondere die normativen und ethischen Fragen zur Arbeit in einer globalen Welt erörtert, u.a. der Wert der Arbeit für den Menschen, die Würde des Menschen vor dem Kapital, das Recht auf angemessene Arbeitsentlohnung (Glombik: 2005). Jerzy Gocko analysierte in seinem Beitrag mehr spezifisch Rechte von Migranten: unter anderem das Recht auf dauerhafte Niederlassung, das Recht auf Rückkehr und Verbleib im eigenen Land, das Recht auf Anerkennung arbeitsrechtlicher Regelungen im Immigrationsland (Gocko: 2005). Viele der Publikationen basieren jedoch nicht auf eigenen Forschungsergebnissen, sondern beziehen sich auf andere Studien bzw. Presseberichte und stellen eher allgemeine Reflexionen über das Thema dar (etwa Jurczyk 2005, ReroĔ 2005). Relevant für die vorliegende Fragestellung ist jedoch der empirische orientierte Beiträge von Wojaczek (2005), der auf einer quantitativen Studie über die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die zurückbleibende Ehepartner und die Ehen der Arbeitsmigranten basiert. In den Beitrag von Wojaczek fließen Ergebnisse aus mehreren Qualifikationsarbeiten von Studenten der Theologie ein, die der Autor betreut hat. In einer 2007 herausgegebenen Monographie stellte Wojaczek (2007) die Ergebnisse nochmals ausführlicher zusammen. Theoretischer Hintergrund ist die theologische Anthropologie sowie das Sakrament der Ehe. Für uns relevant ist der empirische Teil der Untersuchung, für den zwischen 1998 und 2005 in sechzehn Gemeinden der Woi-

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wodschaft Oppeln schriftliche Befragungen mit Migranten und deren zurückbleibenden Ehepartnern durchgeführt wurden (insgesamt 796 Interviews). Der Autor nimmt dabei eine sekundäre Analyse der Arbeiten mehrerer seiner Studenten vor. Einer der im Rahmen der vorliegenden Arbeit befragten Experten – der heutige Gemeindepfarrer Rafał Dappa – war seinerzeit selbst an der Studie beteiligt und räumte ein, dass viele wertvolle und ergänzende Informationen erst in direkten Gesprächen mit der von ihm befragten Familie gewonnen wurden (die Gelegenheit dazu hatte er, als er die ausgefüllten Befragungen abholte). Die Feldbeobachtung gehörte allerdings nicht zum methodischen Instrumentarium der Studie (Dappa 2002: 52). Die schriftliche Befragung hatte aus methodologischer Sicht sowohl Vor- als auch Nachteile – einerseits konnte eine große Stichprobe erfasst werden (aber keine Repräsentativität erreicht werden), andererseits konnten wahrscheinlich bestimmte Details und der Kontext nicht ausreichend ausgewertet werden, denn die meisten Fragen waren geschlossen (Dappa 2002: 49). Ziel des Projekts von Wojaczek und seiner Studenten war es, Lösungsansätze für die Seelsorge der katholischen Kirche zu identifizieren. Die Ergebnisse bzw. deren Interpretation müssen also kritisch betrachtet werden, da sie aus einer bestimmten Perspektive, der normativen (katholischen) Auffassung zu sehen sind. In der folgenden Zusammenfassung wird daher vorrangig auf den empirischen Teil und nur am Rande auf die Vorschläge zur Formulierung der kirchlichen Praxis eingegangen. Eine eheliche Beziehung definiert Wojaczek nach Leon Dyczewski als »einen Prozess des gegenseitigen Sich-Beschenkens der Ehepartner in drei Dimensionen: der kognitiven, der emotionalen und der verhaltensbezogenen [Dimension]« (Wojaczek 2005: 8). Diese drei Dimensionen wurden in den Fragen operationalisiert. Wojaczek stellt in allen drei Dimensionen Auswirkungen der Trennung auf die eheliche Beziehung fest. So stellt der Autor im kognitiven Bereich eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls bei Migranten und Zurückbleibenden fest, wobei diese bei den Zurückbleibenden geringer ausfällt. Wojaczek sieht die Ursache dafür darin, dass die Zurückbleibenden das gestiegene soziale Prestige durch die Migration im Kontext der »Herkunftsgemeinschaft« stärker empfinden. Die Migranten dagegen leiden unter ihrem in der Regel niedrigeren beruflichen Status im Ankunftsland sowie an kulturellen Unterschieden im fremden Land (Wojaczek 2007: 82). Wojaczek legt freilich nicht ausreichend dar, auf welcher Grundlage er dieses Fazit zieht, denn die Fragen sind geschlossen und enthalten nur Ja-Nein-Antworten bzw. Skalierungen. Weiterhin konstatiert der Autor, dass die Ehemänner die Arbeit der zurückbleibenden Frauen weniger schätzen als umgekehrt (Wojaczek 2007: 87). Er erklärt dies mit Unterschieden im familiären Rollenverständnis der Geschlechter: Traditionell seien Männer für den Broterwerb zuständig; diese Aufgabe sehen die Männer

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als durch die Arbeitsmigration erfüllt. Die Frauen, traditionell zuständig für reproduktive Arbeit, fühlen sich dagegen einsam und mit der Bewältigung des Alltags überfordert (Wojaczek 2007: 89). Interessanterweise wirkt sich die Arbeitsmigration laut Wojaczek positiv auf die Ehrlichkeit zwischen den Eheleuten aus. Man kann dies psychologisch damit erklären, dass die nonverbale Kommunikation auf Distanz nur begrenzt möglich ist: Die Einschränkungen der indirekten Kommunikationsträger (Telefon) führt zu einer Erweiterung der verbalen Kommunikation und kann so das Gefühl größerer »Ehrlichkeit« vermitteln. Die gleiche Erklärung ließe sich über die Kommunikation während der Besuche der Migranten bei der Familie formulieren: Die Tatsache, dass weniger gemeinsame Zeit zur Verfügung stehe, mache die Gespräche in der Familie gehaltvoller; man konzentriere sich auf das Wesentliche, so Wojaczek (2007: 94f.). Eine interessante Beobachtung Wojaczeks ist es, dass die Ehepartner häufig davon überzeugt sind, dass sich ihre Trennung positiv auf ihre emotionale Beziehung auswirke. Die Analyse der einzelnen emotionalen Aspekte zeigt jedoch eindeutig einen negativen Einfluss der Trennung auf die emotionale Beziehung (Wojaczek 2007: 109–141): So nehmen Emotionen wie Einsamkeit und mangelndes Sicherheitsgefühl durch die Trennung rapide zu. Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen den beiden Befragtengruppen: Die Empfindung des Einsamseins etwa steigt stärker bei den Migranten an, während das Gefühl der Sicherheit stärker bei den Zurückbleibenden beeinträchtigt ist. Wojaczek erklärt dies damit, dass die zurückbleibenden Frauen Rückhalt in den bei ihnen bleibenden Familien finden, die migrierenden Männer sich dagegen alleine »auf den Weg machen«. Gerade für die Frauen nehmen aber die Anforderungen daheim rapide zu: Sie müssen sich allein um die Erziehung der Kinder, um Behördenangelegenheiten, technische Probleme usw. kümmern. Insgesamt sind die Auswirkungen der Trennung auf die emotionale Beziehung zwischen den Ehepartnern also widersprüchlich: Die Detailanalyse zeigt eine negative Entwicklung, die gesamte Einschätzung fällt dagegen immerhin bei ungefähr der Hälfte der Befragten positiv aus. Wojaczek erklärt diesen Widerspruch wie folgt: Da die Ehepartner in einem permanenten Zustand des »Sich-Vermissens« und der Einsamkeit leben, interpretieren sie diese eigene Empfindung als eine Stärkung der emotionalen Bindung an den Ehepartner. Ein relativ hoher Anteil der Befragten – ca. ein Drittel – sieht weder positive noch negative Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die eheliche Beziehung; dies sieht Wojaczek angesichts der manifesten Nachteile der Trennung ebenfalls als erklärungsbedürftig an. Wojaczek vermutet, dass die positiven und negativen Aspekte sich gegenseitig kompensierten: Die Mühen und Frustrationen, die das »mobile Leben« beiden Partnern abverlange, würden aufgewogen von der Verbesserung des ökonomischen Status und der füreinander empfundenen »Nostalgie« (Wojaczek 2007: 104f).

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An dieser Stelle sei erneut auf einige methodische Probleme der Studie von Wojaczek hingewiesen: Erstens ist gerade die Frage nach Emotionen komplex und subjektiv; ob und inwieweit sie sich mit einem strikt quantitativen Ansatz erfassen lassen, ist zumindest fraglich. Die Antwortmöglichkeiten in der Befragung waren geschlossen, bieten allenfalls Skalierungen, kaum Auswahlmöglichkeiten und liefern daher keine Hintergründe und Ursachen für die Ergebnisse. Selbst wenn eine »Skalierung von Gefühlen« möglich sein sollte, ist ein Verstehen ihrer Hintergründe mit diesem methodologischen Instrumentarium nicht möglich. Das gibt auch der Autor an einer Stelle zu – in einem Fall waren sich nämlich die Verfasser der einzelnen Fallstudien uneinig, ob die Befragten die Veränderung der Vertrauensbeziehung in ihrer Ehe als positiven oder negativen Aspekt deuteten (Wojaczek 2007: 141). Zweitens werden in der Befragung abstrakte Begriffe wie »Kälte«, »Abneigung«, »Wut« verwendet, die der Autor nachträglich mithilfe eines polnischen Wörterbuchs definiert. Hier stellt sich die Frage, ob und wie die Befragten selbst diese Begriffe interpretiert haben. Auch das Verhalten der Befragten wurde quantitativ erfasst. Bei bestimmten Praktiken nimmt die Mehrheit der Befragten einen Einfluss der Trennung wahr – etwa bei der Zeitgestaltung während der Besuche (die Zeit wird stark komprimiert und es bleibt kein Raum für die gemeinsamen Aktivitäten) oder beim Sexualleben. Bei anderen Praktiken sieht weniger als die Hälfte einen Einfluss der Migration: z.B. bei der Kommunikation während der Besuche, bei Konflikten (kein Anstieg), beim Umgang mit wichtigen Entscheidungen, bei der gegenseitigen Zuwendung. Bei den genannten Beispielen beurteilen Migranten und Zurückbleibende den Einfluss der Trennung wiederum unterschiedlich (Wojaczek 2007: 170). Als Fazit konstatiert der Autor, dass insbesondere das Gefühlsleben durch die Trennung belastet wird – was sich in der Empfindung von Einsamkeit, dem Vermissen des Partners und einem Verlust des Sicherheitsgefühls zeigt. (Wojaczek 2007: 171). Die Situation junger Migranten untersuchten Ryszard KałuĪa (2005) und Teresa Sołdra-GwiĪdĪ (2006). KałuĪa führte eine quantitative Untersuchung an einer Gruppe von jungen Männern aus den beiden Gemeinden DobrzeĔ Wielki und Popielów im Kreis Oppeln (Powiat opolskie) durch und ermittelte, in welchem Ausmaß und in welchen Formen die Arbeitsmigration bei jungen Kohorten vorzufinden ist. Die Stichprobe bestand aus 15 Schulklassen aus 8 Jahrgängen (insgesamt 120 Befragte), die zwischen 1989 und 1996 die Grundschule9 verlassen haben (zum Zeitpunkt der Umfrage waren die Befragten 23 und 30 Jahre alt). 52% der Befrag-

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Zum Zeitpunkt dieser Untersuchung dauerte die Grundschulzeit im polnischen Bildungssystem vom 7. bis zum 14. Lebensjahr (Jahrgangsstufen 1-8).

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ten waren Migranten: 35,2 % waren »dauerhaft« emigriert, 20% arbeiteten temporär im Ausland. Der Autor stellt dabei fest, dass die Arbeitsmarktlage der beiden Gemeinden – durch die Nähe zur Großstadt Oppeln im einen und die starke Industrialisierung der Gemeinde im anderen Fall – überdurchschnittlich gut sei und eine so starke Migration damit nicht zu erwarten wäre (KałuĪa 2005: 92). KałuĪa nennt folgende Ursachen, die für die Aufnahme der Arbeitsmigration durch die jungen Männer besonders relevant sein könnten: Die Relation der Löhne zwischen Polen und Deutschland/Niederlanden beträgt 1:4; der Zugang zu den ausländischen Arbeitsmärkten ist für die oberschlesischen Doppelstaatler einfach; die Arbeitslosigkeit betrifft praktisch in allen Berufen in erster Linie Schulabgänger, da sie noch keine Arbeitserfahrung haben; viele Befragte nennen schlechte Arbeitsbedingungen in kleinen Betrieben: etwa niedrige Löhne, respektlose Behandlung durch Vorgesetzte, Überstunden. Schließlich ist das berufliche Prestige ein wesentlicher Aspekt für diese Gruppe, der zur Aufnahme der Migration motiviert: »In Hinblick auf das relativ hohe Ausbildungsniveau [der Migranten] und ihre Positionen im Milieu am Wohnhort ›gehört es sich‹ für sie oft nicht, Arbeit anzunehmen, die einen niedrigen sozialen Status hat und schlecht bezahlt wird – doch im Ausland können sie sogar noch schlechtere Arbeit ohne großen Widerstand annehmen« (KałuĪa 2005: 93).

Nicht zuletzt hat sich die Arbeitsmigration in den letzten Jahrzehnten bei der oberschlesischen Bevölkerung verfestigt und ist zu einem wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Bewusstseins in der Region geworden. Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten Menschen aus dem westlicheren Oppelner Oberschlesien (der heutigen Woiwodschaft Oppeln) von Frühling bis Herbst vorwiegend im heutigen Sachsen, während sie im Winter auf ihren eigenen Bauernhöfen verschiedene Reparaturen tätigten (KałuĪa 2005: 94). Nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 1960er Jahre haben viele aufgrund eines Arbeitsplatzmangels in der eigenen Region im benachbarten, nach den Potsdamer Beschlüssen unter polnische »Verwaltung« gestellten Niederschlesien beim Wiederaufbau der zerstörten Städte gearbeitet. Danach arbeiteten viele in der Industrie im östlichen Teil Oberschlesiens, der benachbarten Woiwodschaft Kattowitz (die 1999 in der heutigen Woiwodschaft Oberschlesien (Ğląskie) aufging) sowie bei dem Aufbau der Industriestadt Nowa Huta bei Krakau. Ende der 60er und in den 70ern arbeiteten viele in Bauunternehmen, die im Ausland tätig waren (in der Türkei, Libyen, DDR, Tschechien). In den 1970er und 1980er Jahren begann dann die Phase, in der genug Arbeitsplätze in der Region selbst zur Verfügung standen (v.a. im Baugewerbe). Trotzdem arbeiteten auch damals viele im Ausland – vor allem wegen der besseren Bezahlung. Aufgrund dieser langen Migrationsgeschichte – so die These des Autors – habe diese Bevölkerung gelernt, sich an neue Arbeitsbedingungen und Umgebungen

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anzupassen. Das jahrzehntelange Migrationshandeln der Bevölkerung sowie seine Beobachtung, wonach Migranten nach der Rückkehr nach Polen ihre Erwartung an den materiellen Lebensstandard nicht mehr auf das vorherige, niedrigere Niveau reduzieren können, veranlassen KałuĪa zu dem Fazit, dass diejenigen, die heute im Westen arbeiten, für die Region quasi »verloren« seien und sich nach langen Jahren der Arbeit in den Zielländern in die dortigen Gesellschaften integrieren würden. Mit dieser Prognose schließt sich der Autor der (auch) in der polnischen Literatur weit verbreiteten Meinung an, dass Pendelmigration kein dauerhaftes Phänomen sein könne, sondern früher oder später in Rückkehrmigration oder Auswanderung münden müsse. Wie im theoretischen und empirischen Teil dieser Studie deutlich wird, ist diese Überzeugung bei der Mehrzahl der Migrationsforscher sowie bei den oberschlesischen Migranten selbst anzutreffen. Die Oppelner Soziologin und Jugendforscherin Teresa Sołdra-GwiĪdĪ beschäftigt sich in einer 2006 begonnen Studie mit den Bildungsaspirationen von Oppelner Abiturienten. Bei der Befragung der Jugendlichen erwies sich Migration als ein für sie sehr wichtiges Thema: Bereits in der Pilotphase (durchgeführt in der Stadt Oppeln) zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen den Bildungsaspirationen der Jugendlichen und deren Migrationshandeln (vgl. Sołdra-GwiĪdĪ: 2006). Die Studie ergab weiterhin, dass die Ethnizität der untersuchten Gruppe mit dem Bildungsverhalten korreliert: Die autochthonen Oberschlesier bevorzugen weiterhin eine Ausbildung auf einem niedrigen Niveau. Sołdra-GwiĪdĪ führt diese typisch oberschlesischen Arbeiterkarrieren auf kulturelle Traditionen zurück. Unter den befragten Schülern, die ihre Ausbildung nicht fortsetzen wollen (ein relativ kleiner Anteil der gesamten Stichprobe) dominierten zwei Motive: 41,4% artikulierten eine allgemeine Abneigung gegenüber einer weiteren Ausbildung, während 55,2% explizit angaben, die Arbeitsmigration aufnehmen zu wollen (Sołdra-GwiĪdĪ 2006: 137). Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf eine ihrer früheren Untersuchungen, die ergab, dass »Migrationspläne« bereits in einer sehr frühen Phase der Jugend (etwa mit 14) entstünden. Zwar waren es 1995 nur 2,7% der befragten Schüler, die explizit angaben, dass sie vorhätten zu migrieren; jedoch seien die Themen »Migration« und »Leben im Ausland« generell unter den Schülern sehr verbreitet gewesen (Sołdra-GwiĪdĪ 2006: 138). Die neuere Untersuchung zeigt eindeutige Präferenzen für die (temporäre) Migration: 64,2% der Befragten äußerten den Wunsch zu migrieren, davon möchten 13,4% »dauerhaft« auswandern, 35% möchten für eine bestimmte Zeit ins Ausland gehen und 15,8% nur für eine kurze Zeit. Als mögliche Gründe für diese Entwicklung nennt die Autorin neben den kulturellen Faktoren (Tradition der Migration) das höhere Einkommensniveau im Westen und den für oberschlesische Doppelstaatler einfachen Zugang zum dortigen Arbeitsmarkt. Entscheidend für eine gute Position auf dem ausländischen Arbeitsmarkt seien laut Mehrzahl der Befragten die

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formelle Ausbildung sowie informelle Beziehungen (Sołdra-GwiĪdĪ 2006: 138). Ergänzend muss zu dieser Studie festgehalten werden, dass die untersuchte Gruppe der Abiturienten nur einen kleineren Anteil der Gesamtjugend ausmacht; die Autorin macht dabei keine weiteren Angaben, welchen Anteil die Gruppe in dem jeweiligen gesamten Jahrgang ausmacht. Der Pädagoge Edward Nycz (2005) befragte für seine Monographie über die Gemeinde Bierawa (Kreis KĊdzierzyĔ-KoĨle in der Woiwodschaft Oppeln) ebenfalls Schüler (15-jährige). Diese Studie zeigt, welche Rolle das Elternhaus bei dem Thema Jugend und Migration spielt: So deklarierte jeder vierte Schüler seine Absicht zur Migration. Laut Nycz kann man in den Einstellungen der untersuchten Jugendlichen die Ängste ihrer Eltern ablesen: Die am meisten geäußerten Zukunftswünsche seien neben einer glücklichen Familie (96%), »gut bezahlte Arbeit« (87%), eine »interessante Arbeit« (88%) und »viel Geld« (67%) gewesen. Diese stark materielle Einstellung werde nicht nur im Elternhaus, sondern ebenso im Umfeld der Jugendlichen erzeugt. Das auffällige Konsumverhalten der Peergroup und deren Erzählungen über »im Ausland einfach verdientes Geld« machten aus der Arbeitsmigration eine für Jugendliche attraktive Berufsalternative. Anhand von Gesprächen mit Lehrern wird dann noch eine weitere Problemgruppe unter den Jugendlichen identifiziert – die Kinder von Migranten. Diese fielen durch sinkende schulische Leistungen und Erziehungsprobleme auf (vgl. Nycz 2005: 105f). Die erwähnten quantitativen Untersuchungen machen deutlich, dass Arbeitsmigration nicht nur für Personen im erwerbsfähigen Alter ein Thema ist, sondern dass bereits Schüler ihre Zukunft mit Migration verbinden und Arbeitsmigration nicht selten am Beginn des Erwerbslebens steht. Die vorliegende Untersuchung bestätigt diese Erkenntnis. Sie zeigt zudem im Detail, wie die junge Generation der Oberschlesier die transnationale Arbeitsmigration denkt und praktiziert. An dieser Stelle schließen wir die Übersicht über den Stand des für die vorliegende Studie relevanten »Kernbestands« der Forschungsliteratur zur neuesten Arbeitsmigration aus Oberschlesien ab und wenden uns weiteren Untersuchungen zu, die für das Verständnis der Thematik im weiteren Kontext hilfreich sind. Hierbei lassen sich drei Forschungsbereiche identifizieren: (1) Kultur- und Identität der Oberschlesier, (2) die Integration der oberschlesischen Aussiedler in Deutschland, (3) temporäre Migration aus Polen nach Deutschland.

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Das Thema der oberschlesischen Identität wurde insbesondere im Hinblick auf zwei Aspekte – den Charakter Oberschlesiens als historischer Grenzregion sowie als Schauplatz interethnischer Beziehungen zwischen der autochthonen und allochtho-

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formelle Ausbildung sowie informelle Beziehungen (Sołdra-GwiĪdĪ 2006: 138). Ergänzend muss zu dieser Studie festgehalten werden, dass die untersuchte Gruppe der Abiturienten nur einen kleineren Anteil der Gesamtjugend ausmacht; die Autorin macht dabei keine weiteren Angaben, welchen Anteil die Gruppe in dem jeweiligen gesamten Jahrgang ausmacht. Der Pädagoge Edward Nycz (2005) befragte für seine Monographie über die Gemeinde Bierawa (Kreis KĊdzierzyĔ-KoĨle in der Woiwodschaft Oppeln) ebenfalls Schüler (15-jährige). Diese Studie zeigt, welche Rolle das Elternhaus bei dem Thema Jugend und Migration spielt: So deklarierte jeder vierte Schüler seine Absicht zur Migration. Laut Nycz kann man in den Einstellungen der untersuchten Jugendlichen die Ängste ihrer Eltern ablesen: Die am meisten geäußerten Zukunftswünsche seien neben einer glücklichen Familie (96%), »gut bezahlte Arbeit« (87%), eine »interessante Arbeit« (88%) und »viel Geld« (67%) gewesen. Diese stark materielle Einstellung werde nicht nur im Elternhaus, sondern ebenso im Umfeld der Jugendlichen erzeugt. Das auffällige Konsumverhalten der Peergroup und deren Erzählungen über »im Ausland einfach verdientes Geld« machten aus der Arbeitsmigration eine für Jugendliche attraktive Berufsalternative. Anhand von Gesprächen mit Lehrern wird dann noch eine weitere Problemgruppe unter den Jugendlichen identifiziert – die Kinder von Migranten. Diese fielen durch sinkende schulische Leistungen und Erziehungsprobleme auf (vgl. Nycz 2005: 105f). Die erwähnten quantitativen Untersuchungen machen deutlich, dass Arbeitsmigration nicht nur für Personen im erwerbsfähigen Alter ein Thema ist, sondern dass bereits Schüler ihre Zukunft mit Migration verbinden und Arbeitsmigration nicht selten am Beginn des Erwerbslebens steht. Die vorliegende Untersuchung bestätigt diese Erkenntnis. Sie zeigt zudem im Detail, wie die junge Generation der Oberschlesier die transnationale Arbeitsmigration denkt und praktiziert. An dieser Stelle schließen wir die Übersicht über den Stand des für die vorliegende Studie relevanten »Kernbestands« der Forschungsliteratur zur neuesten Arbeitsmigration aus Oberschlesien ab und wenden uns weiteren Untersuchungen zu, die für das Verständnis der Thematik im weiteren Kontext hilfreich sind. Hierbei lassen sich drei Forschungsbereiche identifizieren: (1) Kultur- und Identität der Oberschlesier, (2) die Integration der oberschlesischen Aussiedler in Deutschland, (3) temporäre Migration aus Polen nach Deutschland.

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Das Thema der oberschlesischen Identität wurde insbesondere im Hinblick auf zwei Aspekte – den Charakter Oberschlesiens als historischer Grenzregion sowie als Schauplatz interethnischer Beziehungen zwischen der autochthonen und allochtho-

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nen Bevölkerung – relativ ausführlich bearbeitet (vgl. Kłoskowska 1996, BerliĔska/ Frysztacki 1999, BerliĔska 1999, Szmeja 2000). Dabei fällt eine gewisse Diskrepanz auf: Während die oben besprochenen migrationssoziologischen Arbeiten die Rolle der Identität weitestgehend ausklammern, lassen umgekehrt die Arbeiten, die die Thematik der Identitätsbildung in den Mittelpunkt stellen, die Rolle der Migration unberücksichtigt. Historisch orientierte Untersuchungen zur Frage der ethnischen Identität und überwiegend streng quantitativ orientierte Studien über das Migrationsverhalten stehen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Allenfalls die permanente Auswanderung (»Aussiedlung«) bis Anfang der 1990er Jahre spielt in der Literatur, die sich mit der ethnischen Identität beschäftigt, eine Rolle; die aktuelle, temporäre Arbeitsmigration wird dagegen höchstens am Rande behandelt. Zu den wenigen Ausnahmen hiervon gehört eine qualitativ Studie von Franciszek Jonderko (1996) über soziale Beziehungen und die Rolle der Stereotypen in einer lokalen oberschlesischen Gemeinde, in der auch kurz auf den Aspekt der Arbeitsmigration eingegangen wird. Jonderko beschreibt dabei ein neues (Auto-) Stereotyp des Oberschlesiers als einer Person, die quasi immer in Deutschland arbeitet. Zudem beobachtet er insbesondere bei jüngeren Oberschlesiern eine Tendenz, den eigenen materiellen Status nach außen zu demonstrieren – was er als Ausdruck eines Wertewandels in der oberschlesischen Kultur interpretiert, die traditionell von einem gewissen »Asketismus« geprägt war (Jonderko 1996: 72ff.). Die Kulturanthropologin Maria ĝmiełowska nennt Mobilität als eines der Grundmerkmale der oberschlesischen Kultur bzw. des Wertesystems – neben dem Arbeitsethos, der Religiosität, der Pflege familiärer, lokaler Bindungen und der auf die eigene Gruppe beschränkten Teilnahme am lokalen Leben (ĝmiełowska 2001:138). Eine Zielsetzung der vorliegenden Studie ist es, diese »losen Enden« in der vorliegenden Literatur – regionale Identität und Migrationskultur – zu verknüpfen, also der Frage nachzugehen, wie sich die Erfahrungen der gegenwärtigen, temporären Arbeitsmigration auf die Identität(en) der Bewohner Oberschlesiens auswirken und wie diese auf das Phänomen der Arbeitsmigration zurückwirken. Wie bereits in der Darstellung des Forschungsstands skizziert, war die Region Oberschlesien wegen ihres Grenzcharakters stets ein interessanter Gegenstand für Historiker und Sozialwissenschaftler: Bereits im 19. Jahrhundert, als sich dieser »Schmelztiegel« entwickelte, begannen sie, sich für seine Geschichte, gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und nicht zuletzt seinen Charakter als Ziel von Migration zu interessieren (vgl. Szramek 1934, Rybicki 1938, Popiołek 1984, Stefanski 1989, Kleßmann 1992). Nach 1945 hat sich die ethnische Zusammensetzung der Region erneut verändert, da die gesamte Region nunmehr Teil des in Richtung Westen verschobenen polnischen Staates wurde. Ein Teil der Autochthonen war bereits vor Kriegsende geflohen oder aber wurde danach als »Deutsche« klassifiziert und – je nach politi-

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schem Standpunkt – ausgesiedelt oder vertrieben, während Allochthone aus Zentral- sowie dem ehemaligen Ostpolen neu angesiedelt wurden. Für die damalige polnische Soziologie wurde die Region so zu einer Art »ethnischem Forschungslabor«. Stanisław Ossowski führte hier bereits ab 1945 Feldstudien durch und stellte fest, dass die autochthone Bevölkerung Oberschlesiens neben dem offiziellen »Vaterland«, dem polnischen Nationalstaat, eine Affinität zu einem regionalen »kleinen Vaterland« pflege (Ossowski 1967).10 Die Bindungen an letzteres seien »realer«; den Gegensatz verschiedener Nationalismen empfanden die Menschen als einen Konflikt zwischen Mächten, die »über ihre Köpfe miteinander kämpfen« (zitiert nach BerliĔska 1990: 50). In den 50er und 60er Jahren hat sich die Forschung der Frage der gesellschaftlichen Integration zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in Oberschlesien angenommen, wobei a priori angenommen wurde, dass Oberschlesier keine eigene ethnische Gruppe seien, sondern eine Bevölkerungsgruppe mit polnischer Abstammung und Kultur. Man ging davon aus, dass die Verschiebung der deutschpolnischen Grenze der Region ihren Grenzcharakter genommen habe und nicht mehr »kulturell oder politisch zwischen Deutschen und Polen oszillieren kann«. Dabei ergab die Forschung zwar ein anderes Bild: die Ursachen für Emigration und fehlende gesellschaftliche Integration lagen demnach in der Diskriminierung der Oberschlesier und in der historischen Erinnerung an Repressionen und Verfolgungen – unabhängig davon, welcher Nationalität sich die Betroffen selbst zurechneten (vgl. BerliĔska 1999: 50f). Nach einer Phase in den 70er Jahren, in der kaum Forschung zu diesem Themenfeld betrieben wurde, wurden in den 80er Jahren neue Untersuchungen aufgenommen, deren Resultate jedoch teilweise erst nach der Wende veröffentlich werden konnten (vgl. Szmeja 1985, BerliĔska 1990, Sołdra-GwiĪdĪ 1993, Kurcz 1995). Diese haben gezeigt, dass man die Auswanderung von Oberschlesiern in die Bundesrepublik nicht auf rein ökonomische Motive reduzieren kann; genauso ausschlaggebend waren die fehlende Akzeptanz des politischen Systems, Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen, das Empfinden der eigenen »Andersartigkeit«, negativen Stereotypisierung und Diskriminierung, ein von dem der polnischen Mehrheitsgesellschaft abweichendes historisches Kollektivgedächtnis, die idealistische Verklärung der deutschen Vergangenheit, lebendige Kontakte zu Verwandten und Freunden in die Bundesrepublik und eine allgemeine positive Vorstellung von der Bundesrepublik als einem Raum der Lebenschancen.

10 Das deutsche Wort »Heimat« wird, wenn es sich auf einen geographischen Bereich bezieht, der kleiner ist als eine Nation (Region, Landschaft, Stadt usw.), meist als mała ojczyzna (»kleines Vaterland«) übersetzt.

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Die ethnische Gruppe der Oberschlesier blieb auf Distanz zur polnischen Massenkultur und ihren Institutionen; man grenzte sich scharf von »den Polen« ab und war der Überzeugung, dass nur derjenige »Oberschlesier« sei, dessen Familie seit Generationen (d.h., seit »deutschen Zeiten«) in der Region ansässig war, der oberschlesischen Dialekt spricht und oberschlesische Sitten pflegt (vgl. BerliĔska 1999: 54f). Eine 1990 durchgeführte und 1993 wiederholte Längsschnittstudie zu interethnischen Beziehungen und politischen Einstellungen in Oberschlesien ergab, dass die soziale Entfremdung der Oberschlesier von den Polen tief verwurzelt ist und mit der kulturellen Distanz zu der polnischen Mehrheitsgesellschaft zusammenhängt. Die über Jahrzehnte aufgestauten Gefühle der Benachteiligung und Diskriminierung haben demnach zwei Arten von defensiven Reaktionen hervorgerufen: Rückzug ins Private und Auswanderung. Nach der »Wende« schließlich konnten sich die autochthonen Oberschlesier ungehindert in Vereinen der »deutschen Minderheit« organisieren, die starken Zulauf fanden. In wieweit sich darin tatsächlich eine starke Identifikation mit der deutschen Sprache und Kultur äußerte, ist zweifelhaft. Der Historiker Manfred Alexander (1991: 39) beschrieb die hinter diesem Phänomen steckende ethnisch-kulturelle Gemengelage wie folgt: »In den letzten Jahren wird in einigen Kreisen der BRD undifferenziert von einer ›‹deutschen Minderheit‹ in Polen gesprochen. Dieses Problem ist jedoch differenzierter und läßt sich mit Bezug auf Oberschlesien eher als eine regionale Besonderheit denn als Problem einer ethnischen Minderheit beschreiben. Die autochthone slawische Bevölkerung Oberschlesiens (mit einer Sprache im Übergang vom Polnischen zum Mährisch-Slowakischen) war bis zum Ersten Weltkrieg durch Zuzug von Deutschsprachigen und infolge der Einbindung in die deutsche Wirtschaft und Verwaltung auf dem Wege gewesen, die deutsche Sprache als Umgangssprache zu übernehmen. Aber auch dort, wo trotz deutschem Schulbesuch und Militärdienst der slawische Dialekt des ‚Schlonsakischen‘ bewahrt wurde, bekannte sich ein großer Teil der Einheimischen zum Deutschtum und setzte sich vom ethnischen Polen […] ab. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Entscheidung für oder gegen Polen im Vorfeld der Abstimmungen politisiert worden und hatte viele Familien bis zur Teilnahme an einander entgegengesetzten Fronten in den Aufständen gespalten. In der Zwischenkriegszeit bewahrten die Oberschlesier auch über die Teilungsgrenzen hinweg ein Bewußtsein der Zusammengehö11

rigkeit.«

Dieses Bewusstsein blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest latent vorhanden und manifestierte sich nach der Wende 1989 schließlich politisch in Form

11 Vgl. dies mit der Einschätzung von Jagemann (1992), siehe Zitat auf S. 24.

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des Engagements in der »deutschen Minderheit«. BerliĔska interpretiert dieses Phänomen als Kulmination eines jahrzehntelangen Prozesses, in dem die Autochthonen immer mehr zur polnischen Mehrheitsgesellschaft auf Distanz gingen und sich in Richtung Deutschland orientierten. Die Anfänge dieser Entwicklung beobachtete Ossowski (1967: 290, nach BerliĔska 2000: 120) bereits 1945; er sah in der damals beginnenden administrativen Diskriminierung den Grund für die starke Abwendung der Schlesier von der polnischen Identität und ihre gleichzeitige Hinwendung zur deutschen Identität – ein Wandel, den die antipolnische deutsche Kulturpolitik und die Nationalsozialisten zuvor nicht hatte erreichen können. Die Bewegung der deutschen Minderheit wurde von der Forschung unterschiedlich interpretiert. So führt der Journalist Thomas Urban, Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und Verfasser eines Buchs über die deutsche Minderheit in Polen, ihr organisatorisches Wachstum in den frühen 90er Jahren einerseits auf deren aktive finanzielle Förderung durch die Bundesregierung zurück (die damit einem Anschwellen der Auswanderungswelle in die Bundesrepublik vorbeugen wollte), andererseits auf den Einfluss der Vertriebenenverbände, die gezielt Kontakte aufbauten. Der Soziologe Zbigniew Kurcz (1995) sieht die Formierung der deutschen Minderheitsorganisationen stärker im Kontext der damit verbundenen Verbesserung des sozioökonomischen Status: Die formelle Zugehörigkeit zu einer Minderheit bedeutete für diese zuvor (negativ) diskriminierte Gruppe einen Zuwachs an politischen Rechten und Zugang zu Ressourcen, da die Organisationen durch die Bundesregierung finanziell unterstützt wurden. Kulturelle Aspekte – die genuine kulturelle Identifikation mit Deutschland per se (deutsche Sprache, Symbolen, Traditionen, Geschichte) – sei dagegen eher schwach ausgeprägt gewesen. Auch er sieht einen wichtigen Impuls in der negativen Dynamik der Beziehungen zwischen der autochthonen Bevölkerung und den Zugezogenen (vgl. BerliĔska 1999: 57f). Im Folgenden sollen die Ergebnisse einiger wichtiger Untersuchungen zur Ausbildung der oberschlesischen Identität zusammengefasst dargestellt werden. Von maßgeblicher Bedeutung für die polnische Forschung zu ethnischen Identitäten war eine Studie von Antonina Kłoskowska (1996), in der die Identität von drei in Polen lebenden ethnischen Gruppen mit »Grenzcharakter« untersucht wurde, darunter auch die Oberschlesier in der Region Oppeln. Die Studie basierte auf der biographischen Methode; die Autorin wertete historische autobiographische Dokumente aus und führte narrative biographische Interviews mit Vertretern von zwei Generationen (über 60- und bis 30 -jährige) durch. Es ergab sich eine komplexe Gemengelage ethnischer Identitäten bei beiden Generationen – Kłoskowska ordnete sie in Kategorien wie »Schlesier-Pole«, »Pole-Schlesier«, »Schlesier-Deutscher«, »Nicht-Pole« (sic), »eher Deutscher als Pole«, »Schlesier«, »Schlesier-Pole«, »Pole-Schlesier«, »Kosmopolit«, wobei etwa »Kosmopolit« eine Kategorie der jungen

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Generation war (Kłoskowska 1996: 254), aber generell in den beiden Altersgruppen doppelte Identifikationen dominierten (Kłoskowska 1996: 250). Zur Operationalisierung der nationalen Identität führt Kłoskowska zwei Dimensionen ein: Sie unterscheidet zwischen (1) der deklaratorischen Identifikation mit einer nationalen Kultur, die auf einem subjektiven Zugehörigkeitsgefühl basiert, und (2) der tatsächlichen Aneignung12 einer nationalen Kultur, die auch objektiv beobachtbar »gelebte« nationale Kultur, die sie als »Valenz« (walencja) bezeichnet. Auf der Grundlage der analysierten biographischen Interviews identifiziert die Autorin Ausprägungen der beiden Dimensionen: (1) Identifikation kann »integral« (einheitlich-homogen) »doppelt«, »unsicher« und »kosmopolitisch« sein und (2) Valenz kann als »Univalenz«, »Bivalenz«, »Ambivalenz« und »Polyvalenz« auftreten. Alle vier Merkmale der beiden Dimensionen lassen sich miteinander kombinieren, wobei wenige Kombinationen nicht empirisch gefunden wurden sondern nur hypothetischen Charakter haben (Kłoskowska 1996: 112). Häufig angetroffene Konstellationen waren Bivalenz und integrale Identifikation sowie Univalenz und unsichere Identifikation. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bestätigen diese Komplexität der nationalen (regionalen, lokalen, supranationalen) Identitäten. Auch eine weitere Beobachtung Kłoskowskas wird in der vorliegenden Studie bestätigt: Inwieweit Menschen, die sich selbst als Deutsche, Polen oder Oberschlesier identifizieren, eine offene Haltung nach außen vertreten, hängt davon ob, wie die Mehrheitsgesellschaft sie aufnimmt, d.h. ob sie deren Andersartigkeit bzw. Bivalenz akzeptiert. Eine weitere Soziologin, die sich intensiv mit der deutschen Minderheit im Oppelner Oberschlesien beschäftigt hat, ist die bereits mehrfach zitierte Danuta BerliĔska. In einer Monographie (1999), für die sie eine Dokumentenanalyse (amtliche Akten, private Briefe), Feldbeobachtungen und narrative Interviews mit drei Generationen durchgeführt hat, kam auch sie zu einem vergleichbaren Ergebnis, nämlich dass die ethnische Identifikation der Oberschlesier sehr vielfältig sind. An die Begriffe und Operationalisierung von Kłoskowska anschließend, identifiziert BerliĔska drei Grundtypen der ethnischen Identität der Oberschlesier: Identifikation mit dem »Polentum«, »Schlesiertum« bzw. »Deutschtum«. Bei der ältesten Generation der Oberschlesier, die zum Teil noch im Deutschen Reich sozialisiert wurde, dominieren integrale Identifikationen (deutsch, schlesisch oder polnisch). Wie die Autorin an konkreten Beispielen zeigt, können diese drei Grundtypen der Identifikationen mit verschiedenen Valenzen (Aneignung der Kultur) einhergehen: So identifiziert sich eine Befragte z.B. integral mit Schlesien, vertritt aber auch

12 Hier bezieht sie die Autorin auf Alfred Schütz’ Unterscheidung zwischen dem »knowledge of acquaintance« der eigenen Kultur und dem »knowledge about« über fremde Kulturen (Schütz 1960, zitiert nach Kłoskowska 1996: 110).

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eine »Polyvalenz«, denn sie verwendet drei Sprachen (Deutsch, Polnisch und den oberschlesischen Dialekt), besitzt sowohl deutsches als auch polnisches »familiäres Kulturerbe« (verschiedene nationale Zugehörigkeiten in der Familie) weist in politischer Hinsicht aber eine Affinität zum »Polentum« auf (BerliĔska 1999: 305). Bei den folgenden Generationen beobachtet die Autorin, dass die Identifikation mit der deutschen Kultur (im Sinne einer starken, »nationalen Kultur«) abnimmt, da sich nur noch die älteste Generation daran erinnert, in einem deutschen Staat gelebt zu haben; zudem beobachtet sie generell eine Abkehr von »starken« nationalen Identifikationen (BerliĔska 1999: 300f.). In der jüngsten (dritten) Generation beobachtet BerliĔska zwei dominierende Typen der Identifikation: Erstens eine Selbstbeschreibungen außerhalb lokaler, regionaler und nationaler Kategorien, ein »Weltmensch« (Kosmopolit) zu sein, zweitens eine Rückkehr zu »nationalen Wurzeln« (BerliĔska 1999: 323). Diese beiden Tendenzen – vor allem erstere – zeigten sich auch bei den Befragten der vorliegenden Studie. Die Identifikation mit Oberschlesien, stellt BerliĔska (1999: 324) fest, werde häufig von Befragten zum Ausdruck gebracht, die sich einerseits über die eigene Zugehörigkeit zum Deutschtum oder zum Polentum unsicher sind, und die andererseits aus dem »national homogenen« Umfeld Druck verspüren, sich eindeutig festzulegen. BerliĔska konstatiert noch eine weitere Regel, die hilfreich sein kann, um zu verstehen, wie sich die Identität der oberschlesischen Arbeitsmigranten im Kontext ihrer Migration entwickelt: Oberschlesier als eine »Grenzbevölkerung« identifizieren sich seltener mit einer bestimmten Nationalität als Bewohner ethnisch homogenerer Gebiete. In der Regel gebe es eine starke emotionale Komponente, die in – nicht näher definierten – »Krisensituationen« zu Polarisierungen führe; in solchen Situationen würde das Bedürfnis auftreten, sich eindeutig national zu identifizieren. Dies manifestiere sich in Engagement für bzw. Solidarisierung mit der eigenen ethischen Gruppe und schaffe starke Grenzziehungen zwischen der eigenen ethnischen Gruppe und der Umwelt. In ruhigeren Zeiten dagegen sei eine gemischte Identifikation – d.h., sich als Oberschlesier und Pole bzw. Oberschlesier und Deutscher zu sehen, sehr verbreitet. Auf sprachlicher Ebene zeigt sich dies in Aussagen wie der, dass man ethnisch zwar Oberschlesier »sei«, sich aber national als Pole »fühle« (BerliĔska 1999: 298) – auffällig ist hier der semantische Unterschied zwischen einem eindeutigen »Sein« und einem vagen »Fühlen«. Die Soziologin Maria Szmeja (1985, 2000) vertritt die These, dass die Oberschlesier eine isolierte ethnische Gruppe seien, die eine eindeutige Zugehörigkeit zur oberschlesischen Kultur (unabhängig vom Kontext) sowie eine je nach Kontext variierende nationale Zugehörigkeit deklarieren und leben (223f.). Folgende Elemente seien für diese ethnische Gruppe konstitutiv: Ein »angestammtes« Heimatgebiet – auf individueller Ebene äußere sich dies in einer engen Verbundenheit mit der lokalen Heimat (lokalizm); auf kollektiver Ebene die Abgrenzung zu den Al-

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lochthonen: etwa durch die Sprache, die auch im Alltag praktizierte Religiosität (im Gegensatz zur »Feiertags-Religiosität« von Polen), das kultivierte Arbeitsethos (vor allem in Bezug auf körperliche Arbeit), die historische Erfahrungsgemeinschaft, ein Verhältnis zu Fremden, das nicht auf Konflikt, sondern auf Selbstisolation beruht (Szmeja 2000: 211). Die »schwebende« nationale Zugehörigkeit erklärt Szmeja vor allem mit der Politik der Nationalstaaten Deutschland und Polen und dem Pragmatismus der Menschen: Im 19. Jahrhundert implizierte die Zugehörigkeit zu der deutschen Nationalität, bedingt durch die Politik des preußischen Staates, einen höheren gesellschaftlichen Status und bot Zugang zu bestimmten Verwaltungsberufen (Szmeja 2000: 123). Anfang der 90er Jahre brachte die Identifikation wiederum eine Aufwertung des sozialen Status mit sich, da die politische Partizipation der deutschen Minderheit seitens des polnischen und deutschen Staates gefördert wurde: In Polen wurde sie nach internationalen Standards als nationale Minderheit anerkannt und ihre Vertretung im polnischen Parlament garantiert, von deutscher Seite waren die Rechte der deutschen Minderheit in Polen ein wichtiges Anliegen im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991. Zudem bot der Erwerb (genauer gesagt die »Feststellung«) der deutschen Staatsangehörigkeit ökonomische Vorteile, indem er die Aufnahme der Arbeitsmigration ermöglichte (Szmeja 2000: 15f.). Hinzu kommt, dass der historisch bedingte polnische Ethnozentrismus mit seiner oft pathetischen Symbolik pragmatische und »introvertierte« Oberschlesier nicht ansprach; eine weitere Entfremdung vom gesamtpolnischen Staat bewirkte die aktive Diskriminierung durch die Behörden und das allgemeine polnische Umfeld in der Nachkriegszeit (Szmeja 2000: 9). Szmeja erklärt die Distanz der Oberschlesier zum polnischen wie zum deutschen Nationalstaat mit Michael Hechters Konzept der »inneren Kolonie« – Oberschlesien war demnach seit dem 19. Jahrhundert eine »Peripherie«, die durch beide »Zentren« ausgebeutet wurde; dies äußerte sich in der Zeit der Volksrepublik in einer dem ethclass-Konzept von Milton M. Gordon (1964) entsprechenden ethnisch stratifizierten Arbeitsteilung, in der den Oberschlesiern stereotyp die Rolle des Arbeiters zufiel. Die Überzeugung, in einer »inneren Kolonie« zu leben, ist in der autochthonen Bevölkerung Oberschlesiens auch heute noch verankert; Szmeja stellt jedoch in Frage, inwieweit dies heute noch begründet sei. Die vorliegende Studie zeigt jedoch eindeutig, dass diese Überzeugung – sowohl in Bezug auf Deutschland als auch auf Polen – im Kontext der temporären Migration neuen Nährboden bekommt. Wie bereits zu Anfang erwähnt, haben Oppelner Wissenschaftler das Thema der Identität der autochthonen Bewohner des agrarisch geprägten Westen Oberschlesiens (Woiwodschaft Oppeln) und der Beziehungen zwischen den dort ansässigen ethnischen Gruppen vor dem Hintergrund seines Charakters als historischer Grenzregion bereits sehr gut erschlossen (vgl. den Sammelband BerliĔska/Frysztacki

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1999). Auch über den urban-industriell geprägten östlichen Teil um Kattowitz als Zentrum gibt es einige Publikationen hierzu (vgl. die Sammelbände von Wódz 1995 und ĝwiątkiewicz 1992 sowie ŁĊcki u.a. 1993). Aus anderen Disziplinen haben sich Forscher ebenfalls dem Thema der oberschlesischen Kultur genähert – etwa aus den Perspektiven der Linguistik (Kamusella 2003), Kulturwissenschaften (ĝmiełowska 2001), Soziologie (Nijakowski 2006) und insbesondere der Geschichtswissenschaft (Struve/Ther 2002, Wanatowicz 2004, Haubold-Stolle/Linek 2005, Kamusella 2006). Trotz der umfassenden Auseinandersetzung mit der Thematik der Identitätsbildung wird der Aspekt der Migration höchstens im Kontext der Auswanderung bis Anfang der 1990er Jahre behandelt; die temporäre Arbeitsmigration der Folgezeit wird kaum berücksichtigt, sondern allenfalls am Rande behandelt. Diese Lücke soll die vorliegende Arbeit schließen, indem die Geschichte der Identitätsentwicklung unter den veränderten Bedingungen der temporäreren Arbeitsmigration aufgegriffen »weitererzählt« wird.

I NTEGRATION

UND I DENTITÄTEN OBERSCHLESISCHER A USSIEDLER Der zweite Forschungsbereich, an dessen Erkenntnisse diese Arbeit anschließt, sind Untersuchungen zur Integration und Identität oberschlesischer Aussiedler (und ferner polnischer Emigranten), die vor 1993 nach Deutschland ausgewandert sind – seit 1993 werden Deutschstämmige aus Polen nicht mehr als (Spät-) Aussiedler anerkannt. Das Identitätsbewusstsein von Deutschstämmigen aus Polen (nicht ausschließlich Oberschlesier), die als Aussiedler dauerhaft in die Bundesrepublik emigriert sind, ist inzwischen relativ umfangreich thematisiert (Ruhland 2009, Pallaske 2000, Schmidt 2000, Graudenz/Römhild 1996). Die Ergebnisse dieser Studien sind auch für das Verständnis der »temporären« Arbeitsmigration aus Oberschlesien aufschlussreich, sodass die Aussiedler eine relevante Vergleichsgruppe für die vorliegende Arbeit darstellen: Viele der Ergebnisse lassen sich auch auf die Identität der heutigen Pendelmigranten übertragen, die ihren Lebensmittelpunkt in Polen beibehalten haben. Eine umfangreiche Fallstudie über die Emigration von Polen in die Bundesrepublik in den 80er- und 90er Jahren hat der Historiker Christoph Pallaske (2000) vorgelegt. Laut Pallaske sind in diesem Zeitraum insgesamt 800.000 deutschstämmige polnische Staatsangehörige als Aussiedler in die Bundesrepublik immigriert, wobei 90% von ihnen »polnisch sozialisiert« gewesen seien – dies bezieht sich insbesondere auf die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse (Pallaske 2000: 174).

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Hinsichtlich des rechtlichen Status ist die Gruppe der Personen mit »polnischer Sozialisation« sehr heterogen: So wanderten in den 80er Jahren polnische Staatsangehörige sowohl unter Berufung auf ihre deutschstämmige Herkunft als auch als Bewerber um politisches Asyl, d.h. ohne persönlichen Bezug zur deutschen Nationalität, in die Bundesrepublik ein. Seit den 90er Jahren kamen pendelnde Arbeitsmigranten mit doppelter Staatsangehörigkeit (die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden) hinzu, außerdem wiederum Personen mit ausschließlich polnischer Staatsangehörigkeit als Werkvertragsarbeitnehmer und Saisonarbeiter; schließlich gab und gibt es die Gruppe der »Undokumentierten«, die sich ohne rechtliche Grundlage in Deutschland aufhält und/oder erwerbstätig ist. Die Dauerhaftigkeit der Migration war ebenso unterschiedlich – in den 80er Jahren dominierte die dauerhafte Auswanderung, seit den 90er Jahren dann die temporäre Migration. Bei quantitativen Vergleichen ist zu berücksichtigen, dass die Grenzen zwischen den oben erwähnten Kategorien fließend sind: Emigranten werden zu Rückkehrmigranten, temporäre Migranten lassen sich dauerhaft nieder, undokumentierte Migranten wechseln in einen legalen Status, Personen halten sich zwar legal auf, arbeiten aber zeitweise illegal – sei es, weil sie grundsätzlich keine Arbeitserlaubnis haben, sei es, weil sie zusätzlich oder ausschließlich »schwarz« arbeiten13 (Pallaske 2000: 39). Pallaske verweist auf einen wesentlichen Unterschied zwischen solchen polnischen Staatsbürgern, die als deutschstämmige Aussiedler in der Bundesrepublik aufgenommen wurden, und solchen, die als politische Flüchtlinge ohne deutsche Abstammung aufgenommen wurden. Erstere erhielten Eingliederungsmaßnahmen wie finanzielle Eingliederungshilfen und Sprachkurse. Auch wenn die Aussiedler wie alle andere Immigranten häufig eine Dequalifizierung – d.h. die Nichtanerkennung ihrer in Polen erworbenen Bildungstitel und Berufserfahrung – in Kauf nehmen mussten, verlief ihre Integration in den deutschen Arbeitsmarkt dadurch insgesamt erfolgreicher. Die »identifikatorische« Eingliederung brachte dagegen Schwierigkeiten mit sich – dies gilt vor allem, da der privilegierte Status von Aussiedlern auf deren explizitem »Bekenntnis zum Deutschtum« fußte. Dies stand meist im Widerspruch zu ihrer fehlenden Sprachkompetenz, was die Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft zusätzlich erschwerte und die »Strategie des Deutschseins« oftmals scheitern ließ; mit der Folge, dass sich viele von ihnen umso stärker auf ihre polnische Herkunft zurückbesannen. Längerfristig gesehen ist dies jedoch kein entscheidendes Hindernis für eine Assimilation bzw. Integration, da eine eigenständige, sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzende pol-

13 Wobei Schwarzarbeit von grundsätzlich zur Erwerbsarbeit berechtigten Personen natürlich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, das nicht direkt mit der Migrationsproblematik zusammenhängt

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nische »Community« in Deutschland nicht oder allenfalls rudimentär existiert: Polnische Organisationen haben eine geringe Bedeutung, es gibt wenig Infrastruktur im Sinne von Einzelhandel bzw. Gastronomie, räumliche Konzentration in bestimmten Vierteln ist selten. Einer der wenigen Orte, an denen Menschen mit polnischem Hintergrund öffentlich sichtbar zusammenkommen, sind polnischsprachige Gottesdienste, die einen großen Zulauf haben. Im Gegensatz zu formellen Organisationen spielen informelle Netzwerke – Beziehungen zu Verwandten und Bekannten – eine größere praktische Rolle. Die Integration der in der Bundesrepublik aufgrund ihrer Abstammung als »Deutsche« rechtlich privilegierten Aussiedler verläuft somit oft paradoxerweise mittelbar, d.h. über den Umweg einer Integration in die allgemeine polnische Diaspora. Eine 2004 veröffentlichte Studie von Klaus Eder, Valentin Rauer und Oliver Schmidtke über drei Gruppen von Immigranten – darunter auch Polen – hat einige Annahmen über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der polnischen Immigranten bestätigt: Hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung sind polnische Immigranten keine »klassischen« Einwanderer. Die – etwa im Vergleich zu Einwanderern aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien oder Russland – relative räumliche Nähe des Herkunftslandes führt dazu, dass sie grundsätzlich eher zu transnationalem Handeln und einer transnationalen Selbstbeschreibung tendieren – so die These der Autoren. Dies drückt sich u.a. darin aus, dass für die Interviewten die Fragen der nationalen Identität bzw. der Integration in die bestehende Kulturgemeinschaft nicht relevant sind. Diese von den Befragten für sich selbst beanspruchte Transnationalität stoße allerdings auf Assimilationserwartungen der Aufnahmegesellschaft, in der selbst wenig auffälliges kulturelles und sprachliches »Anderssein« oftmals nicht akzeptiert wird. Dieser Konflikt werde wiederum zusätzlich dadurch verschärft, dass der polnischen Community die öffentliche Präsenz/Interessenvertretung fehlt. Die relative Unsichtbarkeit der Gruppe lässt sich unter anderem mit der »ambivalenten Identität« unter vielen Polen erklären: Sie kombiniert eine Orientierung auf individuellen Aufstieg, beruflichen Erfolg und kulturelle Assimilation mit einer Gegenreaktion auf die Ablehnung abweichender kultureller und sprachlicher Identitäten durch die deutsche Öffentlichkeit (Eder u.a. 2004: 153 ff.). Auch der von Eder u.a. beobachtete deutsche mediale Diskurs über polnische Migranten zeige, dass deren Strategien zur Wahrung der eigenen Interessen zwischen zwei Extremen schwanken: einerseits Assimilation (Vermeidung von Stigmatisierung durch »unauffälliges Verhalten« und Anpassung), andererseits Stärkung der Präsenz der Minderheit nach außen – wobei hier die Gefahr bestehe, dass es sich kontraproduktiv auswirkt und die Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft eher verstärkt. Vor allem die in jüngster Zeit gekommenen Migranten zeigten eine pragmatische Haltung: Entweder sähen sie die Konflikte zwischen der Auf-

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nahmegesellschaft und den Migranten als Übergangserscheinung und setzten auf Lerneffekte auf beiden Seiten, oder die Konflikte würden wenig thematisiert. Allerdings verwiesen die Befragten auf Diskriminierungspraktiken bei der Wohnungssuche sowie auf dem Arbeitsmarkt, wobei sie diese freilich nicht als Ausdruck einer systematischen Diskriminierung sondern als vereinzelte Missstände deuteten. Eder u.a. betonen abschließend, dass sich die polnische Community durch die Transnationalisierung ihres Lebensumfeldes dem Typus transnationalen Migranten angenähert habe. Aus diesem Grund könne die Frage, in wieweit diese Gruppe »integriert« ist, nicht mehr sinnvoll mit den Maßstäben einer einzigen nationalen Gesellschaft beurteilt werden. Die Autoren führen die »Unsichtbarkeit« der Polen auf folgende Faktoren zurück: Heterogenität der Gruppe, transnationale Lebensführung, die historisch gewachsene Problematik, sich Deutschen gegenüber zu behaupten, sowie das Ungleichgewicht zwischen den eigenen Ansprüchen und dem deutschem öffentlichen Diskurs, der auf Individuen quasi disziplinierend wirkt (Eder u.a. 2004: 155 ff.). Die Lage der polnischen Aussiedler und deren Identitäten waren auch Gegenstand mehrerer Beiträge eines Sammelbandes, der 2000 von Anna Wolff-PowĊska und Eberhard Schulz herausgegeben wurde. Jacek Schmidt (2000) beschäftigt sich in seinem Artikel speziell mit Aussiedlern aus Oberschlesien. Ähnlich wie die hier untersuchten temporären oberschlesischen Arbeitsmigranten berichten auch diese Aussiedler, dass sie von deutschen Arbeitgebern geschätzt würden, da sie als sehr fleißig gelten und im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen wenig Forderungen stellten. Schmidt interpretiert diese besondere »Wertschätzung« des eigenen Arbeitsplatzes u.a. als Ausdruck der Unsicherheit der Aussiedler bezüglich ihres sozialen Status. Das positive Stereotyp von Deutschen als »fleißig« und »schöpferisch«, das sie zuvor hatten, haben die Migranten nach der Konfrontation mit der Realität fallengelassen; dagegen heben sie hervor, dass deutsche Betriebe – vor allem im Vergleich zur Situation im sozialistischen Polen – sehr gut organisiert seien (Schmidt 2000: 274). In ähnlicher Weise äußerten sich die Befragten in der vorliegenden Studie – sie konstruieren ihr positives Bild von der eigenen Arbeitsleistung in Abgrenzung von der der deutschen Kollegen (siehe dazu die Interviewaussagen im empirischen Teil). Die Befragten sind am lokalen öffentlichen Leben beteiligt: Hier spielt die Institution der (deutschen) Kirche eine wichtige Rolle. Die Aussiedler sind engagiert in Pfarrgemeinderäten, organisieren Feste usw. Weiterhin werden Sport-, Freizeitvereine, Chöre usw. genannt. Die von Schmidt befragten Aussiedler beteiligen sich nicht in ethnisch orientierten Organisationen – weder in den Organisationen der »Polonia« (der Organisationen der Polnischstämmigen), noch in denen der »Vertriebenen« (in denen Interessen der Vertrieben aus den ehemals deutschen Ostgebieten vertreten werden).

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Auch die vorliegende Studie zeigt, dass die Organisationen der deutschen Minderheit in Polen für die befragten oberschlesischen Arbeitsemigranten kein »Ansprechpartner« sind: Diese sind heute eher für Rentner attraktiv, die auf der Suche nach Angeboten zur Freizeitgestaltung sind, als dass sie eine konkrete Interessenvertretung in den alltagspraktischen Belangen deutschstämmiger Pendelmigranten wären. Die Aussiedler (v.a. diejenigen mit niedrigerem Bildungsstand) interessierten sich nicht für das politische Leben in Deutschland, weder auf Bundes- noch auf lokaler Ebene. Das einzige politische Engagement zeigt sich bei der Wahlbeteiligung – der Wahlpflicht gingen die meisten gewissenhaft nach. Über die politische Situation in Polen seien sie besser orientiert (durch den Empfang des polnischen Fernsehens) und ihr gegenüber im Allgemeinen kritisch eingestellt. Allerdings beteiligten sie sich nicht an polnischen Wahlen, obwohl diese Möglichkeit in polnischen Konsulaten in Deutschland besteht (Schmidt 2000: 277f.). Diese Erkenntnisse sind für die vorliegende Arbeit als Vergleich relevant – auch das öffentliche Engagement der Pendelmigranten in Deutschland, z.B. bei Wahlen, ist gering ausgeprägt. Schmidt attestiert den oberschlesischen Aussiedlern der ersten Generation eine fortschreitende Integration. Gleichzeitig blieben sie – wie es in der ersten Migrantengeneration nahezu immer der Fall ist – Fremde, Andere. Ihr Anderssein (»ihre ethnischen Sentimente«) drückten die Aussiedler jedoch nur in ihren »eigenen vier Wänden« aus. Der Autor führt dies auf ihre besondere soziale und rechtliche Situation zurück: »Es ist schwierig, gleichzeitig zu fordern, dass man Deutscher ist und dass man es nicht ist« (Schmidt 2000: 282). Folglich haben sie – im Gegensatz zu anderen Minderheiten – keine eigenen ethnischen Organisationen, in denen sie sich »unter sich« fühlen würden. Manche der Befragten lösten das Problem des »von ihnen als unangenehm empfundene[n] Zustand[s] einer gleichzeitigen ›geistigen‹ Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen ethnischen Gruppen«, indem sie die deutsche bzw. polnische Identifizierung verstärken. Die Situation der Pendelmigranten und ihre Strategien des Umgangs mit ihr sind vergleichbar, wobei der Assimilationsdruck durch die Mehrheitsgesellschaft bei den mobilen Migranten, die »nur auf Zeit« in Deutschland sind, schwächer ist als bei ihren dauerhaft eingewanderten Landsleuten. Förderlich für die Integration – so Schmidt – sei die Tatsache, dass die Kultur der polnischen Aussiedler der deutschen Kultur14 näher sei, als dies z.B. bei Aussiedlern aus Russland der Fall ist. Ähnlich wie Kazimierz Wóycicki, ein weiterer Autor in dem Sammelband (siehe unten), sieht auch Schmidt bei der von ihm untersuchten Gruppe von Migranten die

14 Schmidt (2000: 286) versteht hier unter Kultur »Ähnlichkeiten im Bereich des Bekenntnisses, der Wertesysteme, Normen (...) im weitesten Sinne der Analogien in der zivilisatorischen Entwicklung«.

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Chance, dass sie eine Brückenfunktion in der gegenseitigen Verständigung und Wahrnehmung von Deutschen und Polen einnehmen könnte. Kazimierz Wóycicki (2000) befasst sich ebenfalls mit der Frage der Identität polnischer Immigranten und er untersucht sowohl deutschstämmige Aussiedler und nicht-deutschstämmige Einwanderer. Dabei zeigt sich, dass bestimmte Identifikationsmuster nicht typisch »oberschlesisch«, sondern verallgemeinerbar sind, z.B. für die deutsch-polnische Migration, die allgemeine Ost-West-Migration bzw. für Identitäten von Migranten überhaupt. »Identität« beschränkt sich für die von Wóycicki Befragten nicht auf den Aspekt der Nationalität. Neben der Kategorie »Schlesier«, die neben die beiden in Frage kommenden nationalen Kategorien tritt (dass sie ihrerseits als »Nationalität« bezeichnet wird, ist selten), tritt ein differenziertes Verständnis von Nationalität bzw. der Bindung zu Polen zu Tage. So deklariert ein sich als Pole identifizierender Aussiedler, dass ihn in Polen die »Provinzialität« und »Intoleranz« störten. Ein anderer Aussiedler bevorzugt das deutsche »kulturelle Leben« und vor allem den »Lebensstil«; hier akzeptiere man die »Andersartigkeit«, in Polen dagegen schätze man »[d]ie Menschen […] nach der Automarke, [danach] wie sie sich kleiden« ein (Wóycicki 2000: 254 f.). Diese subjektive Wahrnehmung des Westens als Sinnbild für Modernität lässt sich auch in der hier untersuchten Gruppe feststellen. Die Frage der »Mulitkulturalität« taucht im Zusammenhang mit dem Gebrauch der beiden Sprachen (Deutsch und Polnisch) und der Erziehung der Kinder auf. Verbreitet ist eine Abkehr von der nationalen Selbstbeschreibung: »Daher fühle ich mich als Europäer (...) Alten Leuten sage ich, dass ich aus Wrocław komme...« (Wóycicki 2000: 257). Den bei einigen anzutreffenden Verzicht auf eine nationale Festlegung interpretiert Wóycicki als »eine Art Flucht vor dem Identitätsproblem«. Vor allem bei den Aussiedlern führt er dies auf die Tatsache zurück, dass sie einerseits eine Erklärung abgegeben haben, deutscher Abstammung zu sein, aber andererseits noch immer eine starke Bindung zu Polen empfinden. Hinzu kommt, dass sie dauerhaft in Deutschland leben wollen und ihre Kinder hier aufwachsen. Auf der anderen Seite sieht der Autor die Tendenz zu einer »a-nationalen« Identifikation vor dem Hintergrund des (modernen) kulturellen Klimas in Deutschland – auch wenn diese Haltung in Deutschland andere Gründe hat – und in Europa. »An der Grenze zweier Kulturen lebend und unter Berufung auf europäische Ideale können diese Personen die Erfahrung machen, dass sie dadurch für ihre deutsche Umwelt interessanter werden und ihre Integration leichter verlaufen kann« (Wóycicki 2000: 257). Aber auch stark nationale Haltungen sind anzutreffen: Personen, die sich trotz schwacher Sprachkenntnisse und schwacher Bindung an die »deutschen Kultur« demonstrativ als Deutsche bezeichnen – wobei freilich anzumerken ist, dass der Autor keine Indikatoren für die Bindung an die »deutsche Kultur« nennt bzw. sein Verständnis der »Zugehörigkeit zur deutschen Kultur« nicht erklärt. Andere wiede-

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rum tendieren zur »übermäßigen Betonung des eigenen Polentums«, was Wóycicki (2000: 258) als Versuch interpretiert, das Gefühl der Fremdheit in Deutschland zu bewältigen. Wóycicki nimmt Bezug auf eine Kategorisierung der polnischen Gruppe in Deutschland, die Krzysztof Karwat im deutsch-polnischen Magazin Dialog vorgenommen hat: Dieser hatte den einen Teil dieser Gruppe als »nationale Patrioten«, den anderen als »europäische Pragmatiker« bezeichnet. Wóycicki widerspricht dieser Auffassung in zweierlei Hinsicht: Erstens hätten die »nationalen Patrioten« lediglich marginale Bedeutung; zweitens handele es sich bei den »Europäern« nicht um »Pragmatiker«, sondern um »emotionale« Europäer – denn das Attribut »europäisch« habe hier etwas »mit den brennenden Fragen der eigenen Identität polnischsprachiger Personen zu tun« (Wóycicki 2000: 264). Als »pragmatisch« interpretiert Wóycicki (2000: 265) eher die Selbstwahrnehmung vieler Befragter, eine »Brücke« zwischen Deutschland und Polen zu sein, in Deutschland die Rolle eines »Botschafters Polens« und umgekehrt zu spielen. In der Rolle der deutschen Polonia, als »eine(r) echte(n) kulturellen Grenze (Anm.: verstanden als »wechselseitige Vermischung und Beeinflussung der einander begegnenden Kulturen«) zwischen Polen und Deutschland« (Wóycicki 2000: 265) sieht der Autor auch eine große Chance für die »große« deutsch-polnische Integration im gemeinsamen Europa. Weronika Grabe beschreibt in ihrem Beitrag einen Wandel in der Identität der Aussiedler zwischen den 70er und 90er Jahren. Der Text hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist eher eine essayistische Collage, die auf eigenen Beobachtungen, persönlichen Gesprächen und einer allgemeinen Kenntnis des Milieus basiert. Die Autorin verweist auf den Unterschied zwischen den Aussiedlern der 70er Jahren und der 90er Jahre: Aus verschiedenen Ursachen – wie der starken ethnischen Diskriminierung in Polen – assimilierte sich die erste Aussiedlergeneration übereifrig; Grabe prägt für sie den Begriff »150-prozentige Deutsche«. Nach 1990 beobachtet die Autorin unter den Aussiedlern aus Oberschlesien einen Wandel zu einer »gesunden Integration« (sic). Sie führt dies auf einen gewissen Stolz auf wirtschaftliche und politische Erfolge Polens zurück (Grabe 2000: 183ff.). Die vorliegende Studie zeigt, dass beide Muster der ethnischen Identifikation weiterhin aktuell sind, wobei tatsächlich eine Tendenz hin zu multilokalen Identitätsmustern zu beobachten ist. Bernadette Jonda berichtet aus ihrer quantitativen Untersuchung über polnische Migranten in der Bundesrepublik, zu deren Stichprobe (Zeitpunkt, Größe) sie jedoch keine Angaben macht; sie erklärt lediglich, dass die Untersuchungsgruppe nicht nach dem Kriterium der polnischen Staatsangehörigkeit sondern nach dem Bezug zu Polen ausgewählt worden sei und damit auch Oberschlesier mit deutscher Staatsangehörigkeit umfasse (Jonda 2000: 319). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Mehrheit in dieser Gruppe die doppelte Zugehörigkeit sowohl zu Polen, als auch zu Deutschland empfindet

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(Jonda 2000: 321). In dieser Tatsache sieht die Autorin einen wichtigen Aspekt vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland – diese werde unter der Prämisse »Man kann nicht zwei Herren dienen« geführt, wobei unterstellt werde, dass die doppelte Staatsangehörigkeit per se ein Integrationshindernis darstelle (Jonda 2000: 320). Von Jondas Befragten besitzen 43% die doppelte Staatsangehörigkeit, ein Drittel besitzt nur die Polnische, 23% besitzen nur die Deutsche. Wiederholt brächten die Befragten ihre Ängste in Bezug auf den Besitz der doppelten Staatsangehörigkeit zum Ausdruck – sie befürchten, diese könne in Deutschland als Beleg mangelnder Loyalität gegenüber dem deutschen Staat gesehen werden (Jonda 2000: 321). Zwei Drittel der Befragten wünschen sich, dass der deutsche Staat die doppelte Staatsangehörigkeit anerkennt.15 Ein möglicher Verzicht auf die polnische Staatsangehörigkeit wird in rechtlicher, aber auch in emotionaler und kultureller Hinsicht als Verlust empfunden – wobei diese Erkenntnis sich nicht aus der Befragung ablesen lässt, sondern aus dem Kontextwissen der Autorin zu stammen scheint. Die polnische Identitätskomponente wird somit als »Wurzel« gesehen, ihre Existenz bildet einen Garant für die subjektive Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, was – so Jonda – wichtig für das psychische Gleichgewicht sei. Auch Sprachkenntnisse sind ein wesentlicher Indikator für Integration. Dabei gaben nur 10% der von Jonda befragten an, sich nur auf einfachem Niveau verständigen zu können, zwei Drittel haben keine Schwierigkeiten – zu berücksichtigen ist, dass nur 23,1% von ihnen ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (Jonda 2000: 322). Was die ethnische Zugehörigkeit betrifft, fühlen sich 80% als Polen (davon 35% ausschließlich als Polen), 44% als Europäer; 36,8% sagen: »In Deutschland habe ich meine neue Heimat gefunden« (Jonda 2000: 323). In diesem Vertrautsein mit zwei Sprachen und zwei Kulturen sieht die Autorin eine zukunftsweisende Perspektive, v.a. für das Ideal eines gemeinsamen Europas.

15 An diesem Punkt muss angemerkt werden, dass erstens die Autorin die damalige Rechtslage der Aussiedler nicht ausreichend zu kennen scheint bzw. erklärt und zweitens sich die rechtliche Situation dem Erscheinen dieses Beitrags vor zehn Jahren wesentlich geändert hat: Für die Aussiedler stellt sich das Problem der »Anerkennung der doppelten Staatsangehörigkeit«, auf dessen kontroverse Diskussion Jonda Bezug nimmt, seit jeher gar nicht. Zwar erkennt der deutsche Staat deren ggf. vorhandene zusätzliche polnische Staatsangehörigkeit nicht in dem Sinne an, als dass deren Inhaber mehr Rechte hätten als »nur deutsche« Staatsbürger; er verbietet ihnen aber auch nicht, weiterhin eine zusätzliche Staatsangehörigkeit zu besitzen (ebenso umgekehrt der polnische Staat). Darüber hinaus wird die doppelte Staatsangehörigkeit inzwischen nicht mehr nur wie eben beschrieben »stillschweigend« anerkannt, sondern auch offiziell, sofern es sich um die eines anderen EU-Landes handelt.

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Fast jeder der Befragten unterhält (direkt oder indirekt) Kontakte nach Polen; 90% besuchen Polen, 85% werden von Verwandten aus Polen besucht. Jeder Achte ist in den letzten 12 Monaten mehr als fünf Mal in Polen gewesen 15, 4% - 4 bis 5 mal, 36, 6% 2 bis 3 mal, knapp 25% nur einmal; 40 % machen Urlaub in anderen Regionen Polens, 20% reisen geschäftlich dorthin, 12% vertreten das eigene deutsche Unternehmen. Hierin liegt – so Autorin – ein Beleg für die »Brückenfunktion« polnischer Emigranten und der deutschen Minderheit in Polen. 70,9 % verspüren gelegentlich Sehnsucht nach Polen, 80 % nach nahen Angehörigen, 70% nach Landschaften, 60% nach polnischen Bräuchen, 54% nach gesellschaftlichen Kontakten (Jonda 2000: 324f). In der Tatsache, dass sich einerseits 71% der Befragten nach Polen sehnen, andererseits 36,7 % Deutschland als neue Heimat betrachten, sieht die Autorin keinen Widerspruch, sondern einen Nachweis für das Vorliegen einer multidimensionalen Identität, die Elemente der Vergangenheit und Gegenwart (bzw. Zukunft) miteinander kombiniert und so für Konsistenz und Kontinuität sorgt. An diesem Punkt kann man zusammenfassend festhalten, dass die Identitäten der Oberschlesier im Kontext der gegenwärtigen Arbeitsmigration – hinsichtlich der gegenseitigen Auswirkungen aufeinander – bisher nicht systematisch untersucht wurde; die vorliegende Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen. Zu berücksichtigen sind dabei freilich Studien über andere Gruppen von Migranten, konkret oberschlesische Aussiedler und »nur-polnische« Arbeitsmigranten. Letztere führen ein mit dem ihrer oberschlesischen »Kollegen« vergleichbares transnationales Leben, ihr gesellschaftlicher Hintergrund in Polen und auch ihre Position im Zielkontext sind vergleichbar. Daher werden voraussichtlich auch viele Erkenntnisse aus den Studien über die »Nur-Polen« mit denen der vorliegenden Untersuchung übereinstimmen. Die Unterschiede zwischen den Oberschlesiern mit deutscher Staatsangehörigkeit und den »Nur-Polen« liegen einerseits in ihrer privilegierten rechtlichen Situation in der Bundesrepublik und dem erleichterten Zugang zum EU-Arbeitsmarkt; andererseits in ihrer Ethnizität – im Sinne des doing ethnicity – ethnische Grenzziehungen werden hier durch Alltagspraktiken und ihren Sinnzuschreibungen der beteiligten Akteure (re-) konstruiert (vgl. Lutz 2007a: 40). Diese besonderen Merkmale der oberschlesischen Doppelstaatler – ihre besondere rechtliche Position als Deutsche (und Polen) sowie ihr gruppenspezifisches doing ethnicity im Kontext der Migration – werden nun bereits in den dargestellten Studien über Integration und Identitäten der oberschlesischen Aussiedler angesprochen. Die vorliegende Studie soll zeigen, welche Bedeutung die doppelte Staatsangehörigkeit sowie die oberschlesische Ethnizität in der neuen Situation der transnationalen Migration gewinnen.

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T EMPORÄRE M IGRATION VON P OLEN NACH D EUTSCHLAND Die Forschung zur allgemeinen temporären Migration von Polen nach Deutschland – die seit Anfang der 90er Jahre stark zunahm, aber schon bereits vor der Wende stattfand – bezieht sich explizit oder implizit auch auf die Untergruppe der oberschlesischen Arbeitsmigranten. Es handelt sich dabei um einen inzwischen recht umfassenden Bestand an Literatur von deutschen und polnischen Wissenschaftlern.16 Grob eingeteilt beziehen sich die Studien ganz allgemein auf die polnische Migration17 oder auf bestimmte Migrantengruppen in bestimmten Branchen.18 Da die darin beschriebenen Lebens- und Arbeitssituation der polnischen Migranten in vielen Aspekten denen der oberschlesischen Doppelstaatler entsprechen, bilden diese Studien einen wichtigen Ausgangspunkt für das vorliegende Thema. Eine wichtige Erkenntnis bezüglich der polnischen Migration nach Deutschland seit den 1990er Jahren war die Feststellung ihrer Komplexität hinsichtlich der Migrations- und Integrationsformen. So tritt neben der »alten« internationalen Migrationsform eine von der Quantität her neue temporäre Migration. Auch der von Zirkularität charakterisierte »neue Migrationsraum« zwischen Polen und Deutschland, den Mirjana Morokvasic und Anne de Tinguy (1994) beschreiben, ist keineswegs homogen, sondern hat mehrere Kategorien von Migranten hervorgebracht. Viele Autoren weisen auf den unterschiedlichen Aufenthaltsstatus der Migranten hin, der diese Migration entsprechend kanalisiert und so verschiedene Migrantentypen hervorbringt. Exemplarisch können die Vorschläge von Norbert Cyrus (1998) und Frauke Miera (1996) zur begrifflichen Erfassung polnischer Migranten dienen. Bei Cyrus steht das Kriterium des rechtlichen Status im Mittelpunkt der Analyse der Mobilität zwischen Polen und Deutschland. Er typologisiert die polnischen Migranten in Ber-

16 Vgl. z.B. Cyrus (1998, 2000a, 2000b, 2000c), Miera (1996, 2007), Morokvasic (1994), Morawska (2003b), Kaczmarczyk (2001a, 2004), Korczynska (2003). Die meisten dieser Studien beschäftigen sich nur mit der Migration von Polen nach Deutschland; da die Arbeitsmigration in die Niederlande erst eine Entwicklung der letzten Jahre und vergleichsweise weniger ausgeprägt ist, gibt es hierzu erst wenige Untersuchungen. Zurzeit laufen mindestens zwei Dissertationsprojekte zu der polnisch-niederländischen Arbeitsmigration: die polnische Migrationsforscherin Emilia Lewandowska untersucht die Gruppe der Oberschlesier aus kulturpsychologischer, die niederländische Migrationsforscherin Cathelijne Pool (2003) aus migrationspolitischer Perspektive. 17 Cyrus (1998, 2000a, 2000b, 2000c), Miera (2007), Morawska (2003), Glorius (2007). 18 Siehe zum Bausektor Cyrus/Helias (1993), zur Saisonarbeit KorczyĔska (2003), zur Haushaltsmigration Lutz (2007a, 2007b).

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lin anhand von zwei Dimensionen: dem Lebensmittelpunkt (zeitlich-räumliche Dimension) und dem rechtlichen Status der jeweiligen. Aus diesen Kategorien erstellt Cyrus durch Kreuztabulierung eine Sechs-Felder-Matrix, um »die vielfältigen Formen und Muster der Aufenthalte und Beschäftigung« des Migrationsraums Deutschland und Polen vollständig erfassen zu können (Cyrus 1998: 2). Frauke Miera (1996) zeigt in ihrem Forschungsprojekt auf, wie der strukturelle Faktor Migrationspolitik die Handlung der Akteure und deren Netzwerke beeinflusst. Sie zeigt zunächst, wie die restriktive Migrationspolitik der Bundesrepublik gegenüber Osteuropa die illegale Migration aus Polen fördert. Weiterhin listet sie verschiedene »Eingangstore« nach Deutschland auf, die den Migranten einen legalen Aufenthaltsstatus ermöglichen (Miera 1996: 2): Dies sind u.a. zwischen den beiden Staaten vereinbarte spezielle Beschäftigungsformen als Gast-, Werkvertragsund Saisonarbeitnehmer, Unternehmungsgründung, Familiennachzug und Heiratsmigration. Eine besondere Kategorie stellen für sie deutsche Staatsangehörige dar, die zugleich die polnische Staatsangehörigkeit beibehalten – deren Rechtssicherheit ist unter den allen Migrantenkategorien am größten. In ihrer 2006 herausgegebenen Monographie typisiert sie die polnische Migration in Berlin seit den 90ern Jahren in drei Gruppen: erstens neue »Gastarbeiter«, zweitens »marginalisierte« Pendelmigranten, die sie in Undokumentierte und – explizit genannte – Doppelstaatler unterteilt, und drittens gut integrierte Migranten, bei denen es sich vor allem um Selbstständige handelt (Miera 2006: 219). Der Begriff der Marginalität wird von der Autorin nicht genauer erläutert; aus ihrer Argumentation lässt sich jedoch ableiten, dass sie damit einen niedrigen sozioökonomischen Status der oberschlesischen Arbeitsmigranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt meint: Weil die Doppelstaatler ihren Lebensschwerpunkt in Polen beibehalten, sind sie bereit, flexible und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse im Bau- und Reinigungssektor zu akzeptieren (Miera 2007: 190). So argumentiert die Autorin am Beispiel der oberschlesischen Aussiedler und Pendelmigranten, dass die politische Eingliederung keine Garantie für die mit »Einheimischen gleichwertige Eingliederung« sei. Daher bezeichnet sie die Ideen wie die der gleichzeitigen und gleichwertigen Zugehörigkeit zu zwei Gesellschaften – etwa transnationale Staatsbürgerschaft – eher als »politische Wunschvorstellungen« (Miera 2007: 220). Ohne dieser Skepsis eine Berechtigung absprechen zu wollen, gelangt die vorliegende Studie zu einem differenzierteren Fazit. Hier wird Integration allerdings nicht als linearer Prozess verstanden, sondern ein als dynamischer, der auf mehreren Wegen erfolgen kann (vgl. Pries 2004: 23 f.; Brubaker 2002). So bestätigt die vorliegende Studie zum Teil die Ergebnisse von Miera – ein Teil der oberschlesischen Arbeitsmigranten setzt in der Tat einen eindeutigen Lebensschwerpunkt in Polen und entwickelt kaum Bindungen irgendeiner Art zur Aufnahmegesellschaft. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Arbeitsmigranten, die sich im Aufnahme-

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land in assimilativen bzw. pluralistischen Modi der Integration eingliedern und hier als transnationale Migranten im engeren Sinne bezeichnet werden. In ähnlicher Absicht spricht auch Thomas Faist im Falle der polnischen Migration nach Deutschland im Plural von »Integrationen«: Seine These lautet, dass man hier nicht von einem einzelnen Integrationstyp sprechen könne, sondern dass sich die Polen, je nach »Bezugsrahmen«, nach drei verschiedenen Mustern integrierten: Anhand einer Analyse von verschiedenen Gruppen polnischer Migranten entwickelt er drei Modelle der Integration – Assimilation (alt und neu), kultureller Pluralismus und »Transstaatlichkeit« (Faist 2000a: 28 f.). Die vierte und fünfte Generation der sog. Ruhrpolen oder (Spät)aussiedler repräsentieren assimilierte Migrantengruppen; diese »verschmelzen« mit der Mehrheitsgesellschaft (altes Modell der Assimilation) oder Migranten und Mehrheitsgesellschaft gleichen sich aneinander an (konvergieren) (neues Modell der Assimilation) (Faist 2000a: 33f). Die Ruhrpolen oder Asylbewerber der »SolidarnoĞüEmigration« in den 80ern stehen für den kulturellen Pluralismus: sie bilden geschlossene Enklaven innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft (Faist 2000a: 37 f.). Beim Integrationsmodus »Transstaatliche Räume« schließlich integrieren sich die Migranten »zwischen« und »über« den Nationalstaaten. Als Beispiele hierfür nennt Faist temporäre Migranten der 1990er Jahre (Werkvertragsarbeiter, Saisonarbeiter, Grenzgänger) sowie »Doppelbürger, die engeren Kontakt zu Verwandten und Freunden in Polen pflegen« (Faist 2000a: 45). In vergleichbarer Weise typisiert Cyrus (2000b: 101) die polnische Migration entlang der Kategorie Integration. Dabei definiert er Integration nicht »normativ« sondern »pragmatisch«, »als alltagsstabilisierende Orientierung und Bezugsnahme auf institutionelle und symbolische Ordnungsrahmen zur gelungenen Lebensbewältigung«. Cyrus (2000b: 101) unterscheidet folgende Idealtypen der Integration: 1. Einwanderer (Immigrant) – nur in Aufnahmegesellschaft integriert, 2. Transmigranten –gleichermaßen in der Aufnahme- sowie Herkunftsgesellschaft integriert, 3. Pendelmigranten – sozial und kulturell in der Herkunftsgesellschaft, aber beruflich (dauerhaft oder temporär) in der Aufnahmegesellschaft integriert, 4. »Wurzellose« (marginal man), in beiden Gesellschaften nicht mehr angemessen integriert, 5. Community-Siedler – eine in der Aufnahmegesellschaft isolierte Auswanderkolonie mit einem realen Bezug zum Herkunftsland. Diese beiden von Faist und Cyrus anhand der allgemeinen Gruppe polnischer Migranten erarbeiteten Kategorien lassen sich auch auf den Spezialfall der oberschlesischen Doppelstaatler anwenden, wie die vorliegende Arbeit zeigen wird.

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Das Konzept der Transnationalität etabliert sich zunehmend unter den Wissenschaftlern, die sich mit der polnischen Migration beschäftigen. So attestiert Frauke Miera (2007) in den 1990er Jahren einen Wechsel hin zur transnationalen Migration, wobei sie den Begriff »transnational« freilich sehr weit auslegt: Die Pendelbzw. temporäre Migration zwischen einem Haushalt in Polen und der Arbeit in Deutschland ist für sie per se Ausdruck von Transnationalität (ausführlicher wird auf die Problematik der Eng- und Weitfassung des Begriffs im theoretischen Kapitel eingegangen; siehe S. 105f). Die Autorin kommt zu dem Fazit, dass die Transnationalisierung der polnischen Migration nicht durch den Bedeutungsverlust der Nationalstaaten erfolge, sondern eher umgekehrt eine Folge der »Resistenz« nationalstaatlicher Grenzen sei: Denn gerade das Fortbestehen der Grenzen führe zu Einkommensunterschieden, die Migration fördern, und zur Ausgrenzung durch die Staatsangehörigkeitspolitik, die die Integration der Migranten verhindert und sie so marginalisiert. Gerade durch diese Marginalisierung – so Miera – entschieden sich die Migranten für eine transnationale Lebensweise, statt sich im Aufnahmeland zu integrieren. Einen weiteren umfassenden Beitrag zur transnationalen Migration aus Polen in die Bundesrepublik leistete die Geografin Birgit Glorius (2007). Im Anschluss an ein Projekt über die saisonale Migration von Polen untersuchte sie ebenfalls aus der Perspektive des Transnationalitätsansatzes polnische Migranten im Raum Leipzig. Dabei vergleicht sie temporäre und länger ansässige Migranten, von denen ein Drittel vor 1989 eingewandert war. Der Schwerpunkt lag freilich auf einer anderen Migrantengruppe als in der vorliegenden Arbeit: Bei lediglich 12% der Befragten lebte die Familie ausschließlich in Polen, bei 5% in Polen und Deutschland (Glorius 2007: 149); von den 164 Befragten kamen nur 26 aus den beiden Woiwodschaften Oppeln und Oberschlesien (Glorius 2007: 160). Glorius wendete eine Kombination aus quantitativen und qualitativen Methoden an, wobei es ihr Anliegen war, das transnationale Modell quantitativ zu operationalisieren, da wie Glorius (2007: 289) zu recht feststellt, stellt der quantitative Zugang zu transnationalen Phänomenen eine Forschungslücke dar. Die Merkmale der transnationalen Inkorporation stellt Glorius anhand von drei Kategorien dar: Mobilität, Alltagskultur und Identität (deren transnationale Varianten sie jeweils als »Transmobilität«, »Transkulturation« bzw. »Transidentität« apostrophiert). »Transmobilität« bezieht sich auf die räumliche Mobilität von Menschen und Dingen (wie Briefe, Pakete usw.); »Transkulturation« auf die kulturelle Alltagspraxis (Nutzung der Sprache, soziale Netzwerke, Nutzung von transnationalen Institutionen usw.). »Transidentität« schließlich bezieht sich auf transnationale Identitätsentwicklung, die über Varianten räumlicher und nationaler Selbstverortungen bestimmt wird. Das quantitative Instrumentarium erweist sich als sehr hilfreich bei der Analyse der Mobilität – körperlich (persönliche Mobilität), dinglich (Verschicken von

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Gegenständen) und virtuell (Kommunikation über das Telefon, Internet) – sowie der Alltagskultur der Migranten. So kann die konkrete soziale Praxis der Migranten (wie Besuche nach Polen, Remissionen, Gebrauch der Sprachen, Mediennutzung, soziale Kontakte usw.) über schriftliche Befragungen gut rekonstruiert werden. Die quantitative Verteilung dieser Praktiken gibt einen wichtigen Einblick in die Intensität und Ausprägungen der Transnationalität bei verschiedenen Migrantengruppen, wie hier Heiratsmigranten (ein Drittel der Befragten), Bildungsmigranten und Arbeitsmigranten (je ein Viertel). Auch in diesen Bereichen wurden zusätzlich qualitative Methoden (Experteninterviews und narrativ-biographische Interviews) zur Erklärung bzw. Differenzierung der Ergebnisse herangezogen. Für die Untersuchung der Ausprägungen von transnationaler Identität erscheint dieser Methodenmix insgesamt jedoch als wenig geeignet: Vielschichtige, mehrdeutige Kategorien wie »Heimat« und »(nationale) Identität« werden hier ex ante quantifiziert, womit sich ihre Hintergründe letztendlich nicht erklären lassen. Hinzu kommt eine problematische Operationalisierung von transnationaler Identität. So klassifiziert die Autorin es bereits als Ausdruck von »Transidentität«, wenn »ein unbestimmtes Verständnis von Heimat vorherrschte, […] die lokale Identifikation größer war als die nationale (Leipzig > Deutschland, Geburtsort > Polen) und/oder […] eine […] enge Verbundenheit zu dem transnationalen Konstrukt Europa geäußert wurde« (Glorius 2007: 231) – und schließlich auch, wenn sie den Wunsch äußern, in Deutschland zu bleiben, aber zugleich nicht planen, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen – also Staatsangehörigkeit und langfristiger Wohnort nicht deckungsgleich sind (Glorius 2007: 231f., 329). Zwar lässt sich durchaus argumentieren, dass diese Merkmalsausprägungen auf einen hohen Grad von »Transnationalität« hindeuten. Wenn Befragte jedoch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit (sei es durch Einbürgerung oder nachträgliche Feststellung) beantragen oder nicht angeben, nationale Bindungen zu besitzen, muss dies keinesfalls Ausdruck von Transnationalität sein – jedenfalls nicht, ohne den Begriff zu überdehnen. Wie die vorliegende Studie zeigt, schließt die Deklaration (von Glorius so bezeichneter) »starker« nationaler Bindungen das Vorhandensein transnationaler Zugehörigkeiten nicht aus – und zwar nicht nur in einer so weit gefassten Definition des Begriffs »transnational« wie bei Frauke Miera (2007), sondern gerade in dem hier verwendeten engen Sinn. Welche konkreten Interviewaussagen sich tatsächlich sinnvoll als Zeichen für das Vorhandensein oder Fehlen von Transnationalität interpretieren lassen, kann daher sinnvoll jeweils nur im breiteren Kontext einer biographischen Erzählung beurteilt werden, nicht jedoch isoliert anhand der Nennung oder Nichtnennung isolierter Items in einem standardisierten Fragebogen. Zu den oberschlesischen Arbeitsmigranten macht Glorius (2007: 208) eine interessante Feststellung: Bezüglich der Beziehungen zwischen dieser Migrantengruppe

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und anderen polnischen Migrantengruppen stellt sie fest, dass hier eine Segmentierung des polnischen transnationalen sozialen Raums vorliegt, die sich in fehlenden sozialen Kontakten, dem fehlenden Engagement in polnischen Organisationen, bzw. der abweichenden religiösen Praxis der Oberschlesier manifestiert (die oberschlesischen Arbeitsmigranten besuchen öfter die Kirche). Interessant ist ebenso ihre Beobachtung bezüglich der Staatsangehörigkeit: So hatten in Glorius’ Untersuchungszeitraum nur Kinder binationaler Ehen bzw. die überwiegend aus Oberschlesien stammenden Deutschstämmige juristisch die Möglichkeit, zusätzlich zur polnischen die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen (was sich seit 2007 gegenüber EU-Bürgern, zu denen nunmehr auch Polen gehören, wohlgemerkt geändert hat). Den Wunsch nach dieser formellen Anerkennung der doppelten Zugehörigkeit äußerten aber die meisten untersuchten Migranten, die sich nicht entweder für das eine oder für das andere Land entscheiden wollen (Glorius 2007: 227). Im Ergebnis identifiziert die Autorin unterschiedliche Ausprägungen von Transnationalismus entlang den dominierenden Dimensionen Mobilität, Kultur und Identität. Sie sieht darin einen wesentlichen Beleg dafür, dass Transnationalität sich nicht nur in Mobilität manifestiert, sondern auch in der Alltagskultur und Identitätsbildung. So sind nach dieser Studie Auswanderer genauso wie temporäre Migranten Transmigranten, weil diese Gruppe zwar nicht hochmobil ist, aber beide Sprachen verwendet und beide Traditionen pflegt. In diesem Zusammenhang stellt sich für uns die Frage, wie die beiden von Faist (2000a) als Transnationalismus bzw. kultureller Pluralismus bezeichneten Integrationsmodelle theoretisch von einander abzugrenzen sind – die benannten Indikatoren können nämlich durchaus für beide Modelle stehen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Abgrenzungen zwischen analytischen Modellen sich nicht eindeutig auf die empirische Wirklichkeit übertragen lassen und jeweils anhand des Einzelfalls geprüft werden müssen. So steht etwa die Tatsache, dass mit anderen Einwanderern bzw. mit den eigenen Kindern auf Polnisch kommuniziert wird, eher für kulturellen Pluralismus, die Kommunikation mit den Verwandten in Polen spricht dagegen für Transnationalität. Die Mobilität zwischen Deutschland und Polen wird auch in Bezug auf bestimmte »berufliche« Migrantengruppen untersucht. So gibt es recht viele Untersuchungen zum Bausektor und zur landwirtschaftlichen Saisonarbeit; auch die feminisierte Haushaltsmigration gewinnt immer mehr Aufmerksamkeit. Norbert Cyrus etwa forscht bereits seit Jahren über die undokumentierte und dokumentierte Arbeitsmigration vor allem im Bereich des Bausektors. Seine ethnologischen Untersuchungen erbrachten viele Einblicke in die auf Migrantenarbeit basierende Baubranche, in das Leben illegaler und legaler Bauarbeiter und in die transnationale Lebensweise der temporären Arbeitsmigranten allgemein (Cyrus/Helias 1993, Cyrus 2003). Cyrus verweist auf die zunehmende Bedeutung der temporären Arbeitsmigration, auf die Herausbildung von »zirkulären Arbeitsmigra-

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tionssystemen«, gefördert durch »staatliches zirkuläres Arbeitsmigrationsregime«, d.h. der »Gesamtheit der Normen und Praktiken eines Nationalstaates, um Zirkularität bzw. Rotation bei der Arbeitsmigration durchzusetzen« (Cyrus 2000a: 304f.). In dem gegenwärtigen zirkulären Arbeitsmigrationsregime Deutschlands haben Saison- und Bauwerkvertragsarbeiter aus Polen einen festen Platz. Analog zu dieser Einschätzung kann man die deutsche Politik bezüglich der deutschen Minderheit in Polen und ihre Auswirkungen betrachten: Im Gegensatz zur Situation vor 1993 (Änderung der Aufnahmepolitik für polnische (Spät-) Aussiedler) wird hier keine Einwanderungs- und Integrationspolitik mehr betrieben; stattdessen konzentriert sich die deutsche Politik auf die Unterstützung der deutschen Minderheit »vor Ort« (wobei die Zugehörigkeit zur »deutschen Minderheit« in Polen nicht an den Besitz der Staatsangehörigkeit geknüpft ist und die Milieus der organisierten »deutschen Minderheit«, der früheren Aussiedler und heutigen Pendelmigranten mit deutscher Staatsangehörigkeit durchaus verschieden sind). Die deutschen Staatsangehörigen erhalten seitdem keine Eingliederungshilfen mehr, sondern werden lediglich zum deutschen Arbeitsmarkt zugelassen. Auch die Studien über saisonale Arbeitsmigration in der Landwirtschaft zeichnen das Bild eines Arbeitsmarktsektors mit polnischen Migranten, der in sich ethnisch segmentiert ist (vgl. KorczyĔska 2000, 2003; Kaczmarczyk/Łukowski 2004). Die spezifische Erwerbsstrategie der Saisonarbeiter, die auf kurze Aufenthalte und intensive Arbeit teilweise unter prekären Arbeits- und Wohnbedingungen abzielt, lässt sich zum großen Teil auf den oberschlesischen Fall übertragen, insbesondere in den Niederlanden. Die »Schaukelstrategie« (im Sinne von Okólski 2001) der saisonalen Migranten, deren Orientierung – »hier arbeiten, dort leben« – lässt sich ebenfalls in den Migrationsstrategien der Oberschlesier wiederfinden, insbesondere bei jenen, die nebenerwerblich migrieren (vgl. KorczyĔska 2003). Die Bewertung dieser saisonalen Migration fällt bei den Autoren unterschiedlich aus. Agnieszka Fihel (2004) etwa kommt in ihrer Analyse über die berufliche Mobilität saisonaler Migranten im Herkunftsland zu dem Fazit, dass die Migranten entgegen allgemein geteilten Überzeugungen tatsächlich beruflich wenig mobil seien: Durch die saisonale Arbeitsmigration verharrten sie in Polen entweder weiter in der Arbeitslosigkeit oder stiegen in ihren Berufen nicht auf. Ewa JaĨwiĔska (2004) dagegen sieht keine negativen Auswirkungen der saisonalen Migration auf die berufliche Mobilität der Migranten im Herkunftsland; vielmehr hebt sie positiv Anpassungsfähigkeit der Akteure hervor, die erforderlich sei, um sich in der neuen Wirklichkeit nach der Transformation zurechtzufinden. Diese sei gekennzeichnet durch flexible Übergänge zwischen der informellen, privaten und öffentlichen Wirtschaft sowie zwischen der Arbeit im In- und Ausland (vgl. Marody 2002). Paweł Kaczmarczyk (2004) bewertet die saisonale Migration aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive positiv: Die Geldtransfers trügen zur Verstärkung von Investitionen bei, wobei durch das saisonale Migrationsmodell keine sozialen

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und psychologischen Kosten der Trennung entstünden – Kaczmarczyk (2004: 189) nennt die oberschlesischen temporären Arbeitsmigranten in diesem Zusammenhang explizit als Gegenbeispiel. In ihrem Fall könne man eher von negativen Auswirkungen sprechen, sowohl auf individueller als auch auf volkswirtschaftlicher Ebene sprechen. Wojciech Łukowski (2004) analysiert die sozialen Aspekte der saisonalen Migration. Interessant ist hier seine Erkenntnis, dass die saisonalen Arbeitsmigranten ihre Kapitalien (im Bourdieu’schen Sinne) nur eingeschränkt konvertieren können – denn die Saisonarbeiter leben im Zielland zeitlich, räumlich und sozial sehr begrenzt (Łukowski 2004: 205). Die vorliegende Arbeit zeigt ausführlich, wie das Migrationshandeln eines Migranten – die neben- und vollerwerblichen Strategien – sich auf sein soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital auswirkt. Łukowski nähert sich dem Problem der saisonalen Migration auch von einer theoretischen Perspektive. Idealtypisch kategorisiert Łukowski die saisonale Migration als segregative – im Gegensatz zur assimilitativen – Integrationsform (Łukowski/ Kaczmarczyk 2004: 17): Denn »für die meisten saisonalen Migranten bleibt die Herkunftsgemeinde der wesentliche Orientierungspunkt und der Ort, an dem Lebenspläne realisiert werden« (Łukowski/Kaczmarczyk 2004: 10). An einer anderen Stelle bezieht sich der Autor auf den Typ eines Transmigranten, der in beiden Kontexten, im Herkunft- und Ankunftskontext »allgegenwärtig« sei. Die saisonale Migration dagegen »schränkt die Mobilität des Migranten, seine Freiheit der Wahl« ein, der saisonale Migrant sei eher im Herkunftskontext verortet (Łukowski 2004: 199). Die vorliegende Arbeit zeigt allerdings am Beispiel der oberschlesischen Arbeitsmigranten, dass die von Łukowski auf diese Weise beschriebene Kategorie des saisonalen Migranten nicht nur in der eindeutig als solche identifizierbaren saisonalen Arbeitsmigration im engeren Sinne zu finden ist, sondern auch in der nicht-saisonal beschränkten temporären Migration anzutreffen ist. Einen dritten Bereich der temporären polnischen Migration nach Deutschland ist das inzwischen etablierte Phänomen der domestic work migration – der Übernahme von Putzarbeiten, Kinder- und Altenbetreuung in deutschen Haushalten –, das eng mit Veränderungen der Arbeitswelt (zunehmende Berufstätigkeit von Frauen) und der Alterung der Gesellschaft zusammenhängt. In den 90er Jahren beschäftigten sich einige Studien mit dieser spezifischen Form von Migration in Berlin als einem wichtigen Anziehungspunkt für informelle polnische Migrantinnen (vgl. Morokvasic 1994, Irek 1998, Cyrus 2005). 2007 erschien eine vergleichende Studie über polnische und südamerikanische Haushaltsmigration von Helma Lutz (2007); ein weiteres Projekt befasste sich mit der Haushaltsmigration im Ruhrgebiet (Metz-Göckel u.a. 2010). Dabei gehört die Haushaltsarbeit bei oberschlesischen Migrantinnen nicht zu den »beliebten« Formen von Migration: Wie JoĔczy (2006: 65) in seiner quantitativen Studie ermittelte, arbeiten nur 5,8% der dauerhaft im Ausland Beschäftigten und 9,9% der befristet

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Beschäftigten im Dienstleistungssektor, an dem die Kinder- und Altenbetreuung einen wesentlichen Anteil hatte. Bezüglich der Haushaltsmigrantinnen stellt nicht so sehr deren Arbeitsleben die Basis für einen Vergleich mit der vorliegenden Untersuchungsgruppe dar, wie es beim Bausektor und Saisonarbeit der Fall war – den Sektoren, in denen oberschlesische Doppelstaatler vorwiegend arbeiten. Vergleichbar sind vielmehr bestimmte Aspekte des transnationalen Lebens – etwa das Phänomen des Care drain insbesondere durch Arbeitsmigrantinnen, die Alltagskommunikation einer transnationalen Familie und Migrationsstrategien. Schließlich stellten weitere empirische Studien über temporäre bzw. transnationale Migration einen Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit dar: Untersuchungen über temporäre Migration aus Polen in andere Zielländer (Düvell/Vogel 2006, Eade u.a. 2006), historische Studien über temporäre Migration (Lucassen 2006, Morawska 2001) und Studien zur transnationalen Migration im nordamerikanischen, europäischen bzw. asiatischen Kontext (z.B. Pries 1998, Goeke 2007, Parreñas 2005). Die historische Perspektive etwa zeigt, dass transnationale Migration kein neues Phänomen ist (Lucassen 2006, Morawska 2001, 2005). Beim Vergleich der historischen Prototypen mit dem modernen Transmigranten fallen jedoch Unterschiede auf, etwa in dem Ausmaß des Phänomens bzw. in der Selbstverständlichkeit der multiplen Zugehörigkeiten. Aktuelle Studien zur legalen Migration von Polen nach der EU-Osterweiterung 2004, vor allem nach Großbritannien und Irland, liefern gute Vergleichspunkte dafür, wie sich die Tatsache, dass Arbeitsmigration legal ist, auf die Migrationsstrategien auswirkt. Die vorliegende Arbeit hatte den Anspruch, an einer spezifischen Gruppe, die als eine Art »Laborpopulation« dient, allgemeine Trends in der Ost-West-Migration innerhalb der EU nachzuzeichnen. Tatsächlich bestätigen sich hier bestimmte Trends, die für die gegenwärtige legale Migration aus Polen charakteristisch sind: So arbeiten zwei Studien (Eade u.a., Düvell/Vogel 2006) Strategien der polnischen Migranten in Großbritannien heraus, die mit denen der vorliegenden Gruppe vergleichbar sind. Der wesentliche Aspekt ist die entschiedene Präferenz für Mobilität über Auswanderung. Die Mobilität kann dabei bestimmte Muster annehmen: einmalige, saisonale bzw. längerfristige Mobilität. Schließlich gibt es auch in der britischen Vergleichsgruppe einen wesentlichen Anteil der Migranten, die ihrer Zukunft offen gegenüber stehen und immer »den Fuß in der Tür halten«.

Theoretischer Teil

T HEORIEN

DER

M IGRATION

Klassische und neue Theorien internationaler Migration und ihr Entstehungszusammenhang Migration, das »Wanderverhalten« von Menschen, ist seit langem Gegenstand soziologischen Interesses. Dennoch – oder gerade deshalb – ist bereits die Definition des Begriffs problematisch: So definiert z.B. Hans-Joachim Hoffmann-Nowottny (1970: 107, zitiert nach Treibel 2003: 19) pauschal »jede Ortsveränderung von Personen« als Migration, und stellt damit allein auf den räumlichen Aspekt ab. Shmuel N. Eisenstadt (1954: 1, zitiert nach Treibel 2003: 19) fasst Migration dagegen als den »Übergang eines Individuums oder einer Gruppe von einer Gesellschaft zur anderen« auf, und verweist damit auf den wesentlichen gesellschaftlichen Aspekt von Migration. Eine aktuellere Definition von Annette Treibel (2003: 21) erweitert dies um einen zusätzlichen, den zeitlichen Aspekt: Demnach ist Migration »der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft« (Hervorhebung EPM). In diesen drei Definitionen sind bereits zwei wesentliche Aspekte benannt, die Migration zu einem oft schwer fassbaren Gegenstand machen: Neben dem zumeist unproblematischen räumlichen Aspekt gibt es den sozialen und den zeitlichen Aspekt – wie definiert man z.B. sinnvoll Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft? Die Frage wird keineswegs dadurch erleichtert, dass die Definition von »Gesellschaft« ebenfalls ein traditionsreicher soziologischer Streitgegenstand ist. Und: Ab welchem Zeitraum soll man sinnvollerweise von »Migration« sprechen? Diese Frage wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass Ortsveränderungen, die (zumindest anfangs) nicht »auf Dauer angelegt« sind, sich – wie die Definition von Treibel andeutet – im Laufe der Zeit durchaus als dauerhaft erweisen können.

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Die Verschränkung von räumlicher, sozialer und zeitlicher Dimension des Migrationshandelns1 war jedoch keineswegs immer so offenkundig, wie sie Anfang des 21. Jahrhunderts erscheint, und wurde daher auch von der Migrationssoziologie keineswegs immer als ein so komplexes Phänomen betrachtet – wie bereits die zitierten Definition zeigen, die meist die Temporalität ausklammern. Hierbei kommt zum Tragen, dass sich die »klassische« Soziologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert parallel zur Entstehung des modernen Nationalstaats entwickelte und in diesem damit mehr oder weniger zwangsläufig ihr empirisches Material vorfand. Auch wenn die Essenz des Gesellschaftsbegriffs nie abschließend theoretisch geklärt wurde, bildete das von politischen Grenzen in der Regel eindeutig markierte Territorium eines Nationalstaats doch stets zumindest implizit einen relativ statischen räumlichen Bezugsrahmen für den Gesellschaftsbegriff der klassischen, v.a. von Weber und Durkheim geprägten europäischen Soziologie. Deren Grundgedanken gelangten ab dem zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts maßgeblich durch Vermittlung Talcott Parsons’ (1937) verstärkt in den amerikanischen soziologischen Diskurs, der dann bis in die Siebzigerjahre hinein beherrschend blieb und wiederum in die europäische Soziologie zurück wirkte (vgl. z.B. Münch 1982). Eine ausführlichere Diskussion des Struktur- bzw. Systemfunktionalismus à la Parsons – und der Kritik an ihm – ist an dieser Stelle weder möglich noch angebracht. Daher seien lediglich stichwortartig einige hier relevante Grundmerkmale genannt: eine »Top-Down«-Interpretation individuellen Handelns aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft, wobei letzteres primär unter dem Aspekt seiner stabilisierenden Funktion für das Ganze betrachtet wurde; sowie ein vom Ideal der checks and balances in der amerikanischen Verfassung beeinflusstes, in der Gesamtschau relativ statisches und rundum »harmonisches« Gesellschaftsideal. Die von dieser Sichtweise geprägte Mainstream-Soziologie verwendete für den größten Teil des 20. Jahrhunderts den (National-) Staat als räumlichen Bezugsrahmen verwendete, betrachtete das Individuum aus der Perspektive des »Ganzen« (und nicht umgekehrt) und orientierte sich implizit an einem statisch-harmonischen Gesellschaftsideal – und entwickelte so zwangsläufig auch einen entsprechenden Blick auf das menschliche Migrationshandeln. Es überrascht wenig, dass hierbei zunächst die amerikanische Soziologie federführend war, waren doch die USA lange Zeit »die« Einwanderungsgesellschaft schlechthin und die innereuropäische Migration im Vergleich zu transatlantischen europäischen Emigration eine zu vernachlässigende Größe. Die von Robert E. Park

1

In Anlehnung an die Terminologie Max Webers verwenden wir an dieser Stelle den Begriff Migrationshandeln, um zu betonen, dass die Akteure damit einen subjektiven Sinn verbinden. Im Folgenden wird ansonsten der in der Literatur etabliertere Begriff Migrationsverhalten benutzt.

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und William I. Thomas begründete so genannte »Chicago School« und ihre Schüler ließen sich bei der Untersuchung der Immigration in die USA vom Ideal des melting pot leiten, in dem die ethnische Vielfalt der Einwanderer schließlich aufgehen würde, wobei implizit jedoch die Kultur des W.A.S.P. (White Anglo-Saxon Protestant) als »Leitkultur« maßgeblich blieb. Die »Verschmelzung« der Immigranten mit der amerikanischen Aufnahmegesellschaft erfolge demnach in einem race relations cycle2, den Park (1950: 150) bereits 1926 skizzierte: Nach der ersten, noch konfliktfreien Kontaktaufnahme komme es demnach zwischen Immigranten und »Alteingesessenen« zunächst zu räumlicher Segregation, begleitet von Konflikten um Ressourcen (Arbeitsplätze, Wohnungen usw.), die sich dann jedoch in einem relativ stabilen System »ethnischer Arbeitsteilung« überwinden lassen (Akkommodation) und schließlich zur vollständigen Vermischung der eingewanderten ethnischen Gruppe mit der Aufnahmegesellschaft und dem Verlust separater ethnischer Identifikation (Assimilation) einhergeht. Die Theorien der Integration der Migranten in die Aufnahmegesellschaft haben sich seit den klassischen Ansätzen der Chicago School weiterentwickelt. Stark vereinfachend lassen sie sich in Modelle der Assimilation einerseits und des kulturellen Pluralismus andererseits einteilen (nach Han 2000: 286–299): Assimilation geht von der linearen, stufenweisen Angleichung der Einwanderer an die Einwanderungsgesellschaft aus, von der einer »völlige[n] Identifikation der Angehörigen von Minderheiten mit der Kultur der dominanten Mehrheit. […] Sie werden dabei ihrer Herkunftskultur entfremdet und von der dominanten Kultur absorbiert […]« (Han 2000: 287, Hervorhebung EPM). Entscheidend sind hier die Prozesse der Akkulturation und der strukturellen Assimilation. Die Identifikation der Einwanderer und die Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft schließt sich quasi automatisch an diese vorausgehenden Stufen an (vgl. Gordon 1964, Taft 1957, Esser 1980). »Kultureller Pluralismus« – ein von Horace M. Kallen ursprünglich bereits seit 1915 entwickelter Begriff – dagegen geht von einem dauerhaften Zusammenleben verschiedener ethnischen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft aus, wobei die Gruppen ihre kulturelle Unterschiede aufrechterhalten (Kallen 1956; siehe Han 2000: 289, ausführlicher Mintzel 1997: 150ff.).

2

Das Wort race verweist hier auf den ursprünglichen Entstehungszusammenhang der Theorie in der amerikanischen Diskussion um die Integration ostasiatischer Einwanderer in den 1920er Jahren, die Feststellung wird jedoch allgemein auf die Assimilation fremder ethnischer Gruppen bezogen, nicht nur auf die »sichtbarer Minderheiten« im Sinne von race (Treibel 2003: 91).

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In den neueren Assimilationsmodellen wird der Prozess der Assimilation3 dagegen nicht mehr als linear und unidirektional aufgefasst. Die Einwanderer einer Herkunftsgruppe integrieren sich demnach in unterschiedlicher Reihenfolge, in unterschiedlichem Tempo und in unterschiedliche Segmente (z.B. Mittelschicht, Unterschicht) der Aufnahmegesellschaft (Brubaker 2002, Morawska 2003). Je nach Erklärungsfaktoren für diese nichtlineare Assimilation, etwa die Effekte der Diskriminierung oder strukturelle Barrieren, werden im Rahmen der neuen Assimilationstheorie verschiedene Ansätze entwickelt: new assimilation theory (Alba/Nee 2003), racial/ethnic disadvantage model (Glazer 1993), segmented assimilation model (Gans 1992, Portes/Min Zhou 1993). Bezeichnend ist – vor allem für die traditionelle Assimilationsmodelle – neben dem (an der »ethnischen Arbeitsteilung« erkennbaren) funktionalistischen Aspekt auch der teleologische Aspekt – die Assimilation verläuft letztendlich deterministisch in Richtung einer ethnischen (Re-) Homogenisierung der Gesamtgesellschaft. Selbst in der klassischen Soziologie der USA – der Einwanderungsgesellschaft schlechthin – taucht das Phänomen »Migration« also zumindest implizit als eine Art »Störung« auf. Verstärkt wurde diese idealtypische Konzeptualisierung von Migration und ihren Folgen von einem nicht zu unterschätzenden Faktor: Die relative physische Immobilität des Individuums über größere Distanzen sowie die relative Trägheit der Informationsströme. Beides zusammen machte Migration zu einem einschneidenden, meist irreversiblen und biografisch einmaligen Akt, mit dem zwangsläufig das endgültige Verlassen der Herkunftsgesellschaft und der Eintritt in eine Aufnahmegesellschaft verbunden waren. Meist riss der Kontakt mit der Herkunftsgesellschaft relativ rasch ab; Beispiel dafür sind neben der Emigration von Bewohnern anderer Kontinente nach Nordamerika auch die so genannten »Ruhrpolen«, die entweder nach Polen zurück gekehrt – oder mittlerweile so stark an die deutsche Aufnahmegesellschaft assimiliert sind, dass heute allenfalls noch ihre Familiennamen an ihre Herkunft erinnern. Aufgrund der »Masseträgheit« der Individuen waren Emigration bzw. Immigration Massenphänomene – Remigration oder gar mehrfache Migration bildeten die Ausnahme. Die »Masseträgheit« des Individuums und seiner kulturellen »Nahwelt« galt bis Ende des 20. Jahrhunderts nahezu naturgesetzlich. Heute jedoch verliert sie allmählich ihre quasi normative Kraft – bedingt durch die Intensivierung und Kostenredu-

3

Im europäischen wissenschaftlichen Diskurs wird das Konzept der Assimilation eng gefasst und als Oberbegriff der Begriff »Integration« benutzt. Der amerikanische Diskurs verwendet den Begriff »Assimilation« in einem weiteren Sinne und weitgehend synonym mit »Integration«.

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zierung von Transportmitteln (insbesondere beim Flugverkehr) bzw. die Ausdehnung der Reichweite von Massenmedien (Satellitenfernsehen, Internet) und Telekommunikation (Mobilfunk, Internet, neuerdings Internet-Telefonie). Im gleichen Zusammenhang steht die Entwicklung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Zwar ist grenzüberschreitender und sogar weltumspannender Handel alles andere als ein neues Phänomen; doch ist die Intensivierung und Verflechtung von Märkten im späten 20. Jahrhundert in eine neue Qualität umgeschlagen, die meist mit dem Schlagwort »Globalisierung« bezeichnet wird. Im gleichen Maße jedoch büßen auch die klassischen, auf den Nationalstaat fixierten Theorien zur Migration an Erklärungskraft ein: Migrationshandeln, das nicht dem traditionellen Muster des einmaligen Wechsels von Staat und (nationaler) Gesellschaft mit daran anschließender gelungener oder gescheiterter Assimilation entspricht, wird von diesen nach wie vor entweder ausgeblendet oder aber als bloße Anomalie gedeutet. An dem dahinter stehenden »nationalen« Kulturverständnis kritisiert Petrus Han (2000: 332), dass es Kultur als »ein in sich geschlossenes und inhaltlich homogenes Gebilde« betrachtet, das »unverändert konserviert und von einer Generation zur nächsten tradiert werden sollte.« Darüber hinaus vertrete es implizit die These »ein Volk – eine Kultur«: »Es wird unterstellt, dass jede Nation (Volk mit einem eigenen Staat) eine kollektive nationale und kulturelle Identität erzeugt, die von den ihn angehörenden Menschen unverändert übernommen, gegen die Einflüsse fremder Kulturen verteidigt und im Falle der Migration sogar in die Aufnahmegesellschaft mittransportiert wird.« (Han 2000, S. 335)

Wir haben es hier mit einem statischen, hierarchisch geordneten und essentialistischen Begriff von Identität zu tun (zum Folgenden vgl. Cyrus 2003: 227f.). Dieser wird im Wesentlichen von drei Annahmen bestimmt: • •



Eine bestimmte kollektive Identität ist ein fester Bestandteil des Individuums, der – simpel formuliert – »angeboren« ist; die einzelnen Elemente individueller und kollektiver Identität sind hierarchisch angelegt, wobei die »angeborene« nationale Identität sozusagen die oberste Ordnungskategorie bildet, der alle anderen Identitätsschichten untergeordnet sind; jedes Individuum kann lediglich eine »angeborene« nationale Identität besitzen – zumindest die hierarchisch höheren Ebenen der Identität schließen sich gegenseitig aus, sodass kein Individuum zwei nationale Identitäten gleichzeitig haben kann. Ein solches Verständnis von Identität liegt z.B. den klassischen Studien der Chicago School zu ethnischen Kolonien zugrunde (Cyrus 2003: 228).

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Demgegenüber postulieren neuere, konstruktivistische Vorstellungen von Identität, dass •





kollektive einschließlich ethnischer bzw. nationaler Identitäten keineswegs statisch und »angeboren« sind, sondern in einem dynamischen Prozess von Selbstund Fremdzuschreibung konstruiert werden; ethnisch/nationale Kategorien von Identität den anderen keineswegs hierarchisch übergeordnet sein müssen, sondern auch hinter andere zurücktreten können und nicht einmal zwingend vorhanden sein müssen; sie sich daher auch nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern zumindest theoretisch geradezu beliebig kombinierbar sind.

Stuart Hall (1999: 91) verwendet daher auch den Begriff von einem »Spiel«: »Heute müssen wir Identität in neuen Begriffen als einen Prozess der Identifizierung denken und dies ist etwas anderes. Es ist etwas, das sich mit der Zeit ereignet, das niemals völlig stabil ist, das dem Spiel der Geschichte und dem Spiel der Differenz unterliegt.«4 Mit diesem Verständnis von Volk/Nation/Kultur/Gesellschaft korrespondiert auch ein bestimmtes Verständnis von Raum, das z.B. in Theodor Geigers klassischem Definitionsvorschlag von »Gesellschaft« als »Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen« zum Ausdruck kommt (zit. in Schäfers 2000: 109 nach Pries 2001c: 5, Hervorhebung EPM). Pries (ebd.) sieht darin die Vorstellung eines statischen Zusammenhangs zwischen der Gesellschaft und einem Raum, der als container space verstanden wird, d.h. als »Behälter« für eine räumlich klar abgegrenzte und nationalstaatlich organisierte Gesellschaft gedacht wird. Der »Sozialraum« und »Flächenraum« wären demnach identisch oder »doppelt exklusiv ineinander verschachtelt«: »[...] in einem Flächenraum als nationalstaatlichem Territorium [kann] nur ein Sozialraum – sprich eine Gesellschaft – existieren [...] und umgekehrt [beansprucht] eine Gesellschaft genau einen Flächenraum [...]. Zwei Gesellschaften im gleichen Flächenraum sind nach diesem Verständnis genauso undenkbar wie eine auf mehrere Flächenräume aufgeteilte Gesellschaft« (Pries 2001c: 6). Hier wird noch einmal der enge historisch-genetische Zusammenhang zwischen dem traditionellen soziologischen Gesellschaftsbegriff und dem westeuropäischen Modell des ethnisch homogenen Nationalstaats deutlich. Jene Vorstellung von Gesellschaft – bzw. deren räumliche Grenzen – war zwar von Anfang an dezisionistisch, aber zumindest für bestimmte Regionen und einen bestimmten Zeitraum tragfähig. Unter den weltwirtschaftlichen sowie verkehrs- und kommunikationstechnischen Bedingungen Ende des 20. bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts, die die Mobili-

4

Ausführlicher zum Thema »Identität« siehe S. 131 ff.

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tät von Individuen und deren Kommunikation erheblich erleichtern, büßt sie jedoch ihre Erklärungskraft immer weiter ein. Dass sie sich dennoch so hartnäckig hält, führt Ulrich Beck (2003, 2004) auf den inhärenten methodologischen Nationalismus5 des soziologischen Gesellschaftsbegriffs zurück, der auf einer »territoriale[n] Entweder-oder-Theorie« bzw. – zugespitzt – auf einer »territorialen Gefängnistheorie von Identität, Gesellschaft und Politik« basiere: »Im methodologischen Nationalismus werden […] Sowohl-als-auch-Lebensformen entweder in dem einen oder dem anderen nationalen Bezugsrahmen verortet und analysiert und dadurch ihres Sowohl-als-auch-Charakters beraubt. So erscheinen sie dann als ›entwurzelt‹, ›desintegriert‹, ›heimatlos‹, ›zwischen den Stühlen der Kulturen‹ lebend – werden mit Mangel- und Negativattributen gekennzeichnet, die den mononationalen Einheitsblick voraussetzen«. (Beck 2003)

Inzwischen jedoch treten neben die vom methodologischen Nationalismus beeinflussten, klassischen Ansätze in den Theorien internationaler Migration (z.B. »Rational Choice«-Ansätze wie neoklassische bzw. neue Ökonomie, Wert-ErwartungsTheorie, Mikro-Makro-Ansatz struktureller bzw. anomischer Spannungen, demound geografische »Gesetzmäßigkeiten«, struktur- und systemzentrierte Ansätze) neue Ansätze, die weniger auf dem Konzept des container space basieren und somit eher geeignet sind, die neueren Formen von Migration plausibel zu erklären: Theorien zu Migrationsnetzwerken und -kreisläufen, internationalen Migrationssystemen, sowie der so genannten transnationalen Migration – dazu unten mehr.6 Dabei handelt es sich nicht um sich gegenseitig ausschließende Theorien, sondern um sich ergänzende Ansätze, die jeweils verschiedene Teilaspekte neuerer Migrationsphänomene betonen. So geht es den Netzwerktheorien eher um die objektiv zu beobachtenden Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren, während der Ansatz zur »Transnationalität« eher auf den Aspekt der (inter-) subjektiven individuellen und kollektiven Identität von Migranten abstellt. Letzterer Ansatz fungiert als theoretischer Bezugsrahmen dieser Arbeit und soll daher im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.

5

Zum Begriff des »methodologischen Nationalismus« siehe Fn. 1, S. 44.

6

Zu einem Überblick siehe Pries (2001a).

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W AS

IST TRANSNATIONALE

M IGRATION ?

Zentraler Aspekt dieser Theorie ist es, dass Migration nicht mehr auf die nationalstaatlichen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften als Bezugspunkte fixiert ist, zwischen denen sich dann ein einmaliger und (normativ geforderter) vollständiger Wechsel vollzieht. Migration findet nicht mehr unbedingt – so eine von Annie Phizacklea (1983) im Titel eines Sammelbandes verwendete Metapher – mit einem one-way ticket statt, sondern ähnelt vielmehr einem ausgedehnten Kontinuum, in dem vollständige und irreversible Immigration bzw. Assimilation und dauerhafte Mobilität ohne Integration lediglich zwei idealtypische Pole sind (Cyrus 2000, Morokvasic 2003). Während traditionelle Theorien jeweils feste nationalstaatliche »Container« für einen einzelnen »Sozialraum« vorsehen, geht die Theorie transnationaler Migration davon aus, dass sozialer und geografischer Raum keineswegs zusammenfallen müssen. Um die Metapher von Phizacklea (1983) weiterzuspinnen: Immigranten haben eine einfache Fahrt gebucht, lassen ein soziales Feld hinter sich und assimilieren sich an ein neues; Rückkehrmigranten haben eine Rückfahrkarte, also die feste Absicht, in ihr altes soziales Feld zurückzukehren; Transmigranten schließlich haben eine Dauerkarte und haben ihr soziales Umfeld gleichermaßen am Herkunftsort, am Zielort und auch im »Zugabteil«. Dies hat gravierende Auswirkungen auf ihre kollektive Identität, die sich mit den oben erwähnten essentialistischen Entwürfen nicht mehr nachvollziehen lassen, sondern eine Übergang zu konstruktivistischen Identitätstheorien erfordern. Dabei sind übrigens weder das Phänomen selbst, noch dessen wissenschaftliche Rezeption völlig neu: Spätestens in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren, so Mirjana Morokvasic (2003: 115) wurden dem transnationalen Ansatz vergleichbare Konzepte verwendet. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen, denn sie waren »[...] incompatible with the dominant integrationist/assimilationist wisdom [...] with little understanding for double and multiple allegiances«.7 Jedoch hatte der transnationale Ansatz erst 1992 bzw. 1994, bei Erscheinen zweier Publikationen von Nina Glick-Schiller, Linda Basch und Cristina SzantonBlanc, endlich ausreichend »kritische Masse« angesammelt, um fortan weltweit intensiver rezipiert zu werden und sich als ernsthafte Konkurrenz zur etablierten »assimilationistischen Weisheit« zu positionieren. Darin beschäftigen sich die Auto-

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Morokvasic verweist hierzu u.a. auf Daniel Kubat/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (1981), Monica Boyd (1989) und Alain Tarrius (1992). In der Rückschau wurden dann auch in älterer Literatur »transnationale« Aspekte (wieder) entdeckt - bis zurück zur klassischen Studie von Thomas/Znaniecki (1920) über den polnischen Bauern in Europa und den USA.

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rinnen mit Migrationsbewegungen zwischen den USA einerseits und den Philippinen und der Karibik andererseits. Terminologisch griffen sie dabei auf die Bezeichnung transnational zurück, die der Sinologe Frederic Wakeman Jr (1988) eingeführt hatte, um einen grenzüberschreitenden Fluss von Bedeutungen und materiellen Objekten zu beschreiben. Die Autorinnen fassen den Begriff jedoch weiter, denn: »[T]o understand current day migrants we must not only map the circulation of goods and ideas, but understand that material goods are embedded in social relations« (Glick Schiller u.a. 1992: 10). Davon ausgehend schlugen sie eine Definition vor, die – trotz zahlreicher Unterschiede in der folgenden Literatur – bis heute kleinster gemeinsamer Nenner geblieben ist. »Transnationalismus« ist demnach »[...] the process by which immigrants build social fields that link together their country of origin and their country of settlement. Immigrants who build such social fields are designated ›transmigrants‹. Transmigrants develop and maintain multiple relations - familial, economic, social, organizational, religious and political - that span borders. Transmigrants take actions, make decisions and feel concerns, and develop identities within social networks that connect them to two or more societies simultaneously.« (Glick Schiller u.a. 1992: 1f.)

Bildhafter hatte zuvor bereits Elsa Chaney (1979: 209, zitiert nach Basch u.a. 1994: 7) dieses Phänomen auf den Punkt gebracht – sie beschrieb transnationale Migranten als »people with feet in two societies«. Dass es Menschen gibt, die jeweils mit einem Fuß in zwei unterschiedlichen Gesellschaften stehen, war nichts, was der klassischen Migrationssoziologie verborgen geblieben wäre. Entscheidend ist jedoch, dass dieser Zustand hier nicht mehr als ein Übergangsphänomen gesehen wird, das »überwunden« werden muss, indem man den einen Fuß in die Aufnahmegesellschaft nachzieht (Assimilation) oder aber auch den anderen wieder in die Herkunftsgesellschaft zurückstellt (Remigration). Vielmehr werden nicht trotz, sondern gerade auch durch Migration soziale Beziehungen aufgebaut und stabilisiert, die über politische Grenzen hinweg verlaufen, sodass die Akteure sowohl im Herkunfts- als auch im Ankunftskontext8 »ein-

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Natürlich sind die Begriffe »Ankunfts-« bzw. »Herkunftskontext« in diesem Falle problematisch, da sie scheinbar der dichotomen Sichtweise traditioneller Migrationstheorien verhaftet zu sein scheinen. Wenn sie vorläufig dennoch beibehalten werden, dann deshalb, weil sich bisher noch keine handhabbaren terminologischen Alternativen etabliert haben. Dies gilt übrigens sowohl für die akademische Fachsprache als auch für die Alltagssprache der Transmigranten selbst. So stellen Basch u.a. (1994: 7) fest: »We are still groping for a language to describe these social locations. Transmigrants use the term ›home‹ for their society of origin, even when they have clearly also made a home in their

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gebettet« bleiben. Auf diese Weise entsteht ein neuer Sozialraum, der quasi rechtwinklig zu den politischen Grenzen der Nationalstaaten steht, für seine Bewohner aber nicht weniger dauerhaft ist, als Sozialräume, die fest in einen einzigen nationalstaatlichen »Container« eingebettet sind. Der Transmigrant gestaltet sein Leben also mehr oder weniger gleichzeitig an zwei oder mehreren Orten, zwischen denen er in Intervallen pendelt und an denen er vielfältige soziale Beziehungen pflegt. Pries (2002: 264) spricht daher auch von »pluri-lokaler Lebensführung«. Dies hat auch Auswirkungen auf die persönliche Identität: Der Transmigrant identifiziert sich nicht ausschließlich mit der Kultur einer Gesellschaft, aber er hat auch nicht einfach eine »additive« oder »hybride« und »provisorische« Identität aus herausgebrochenen Versatzstücken zweier »authentischer« Kulturen. Zwar kombiniert die in einem transnationalen Sozialraum entstehende Identität Elemente von (mindestens) zwei Kulturen, ist aber zugleich »emergent«: Mit seiner Identität/Kultur unterscheidet sich der »Bewohner« eines solchen Sozialraums von den »stationären« Bewohnern in jeder der Kulturen, in der er sich bewegt. Damit gehen die neuen transnationalen Migrationsbewegungen qualitativ entscheidend über frühere, ähnliche Phänomene hinaus, auf die etwa Ewa Morawska (2001) vehement verwiesen hat. So räumt immerhin auch Morawska ein, dass heutige transnationale Migration und Identitäten offener in Erscheinung treten können und von Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft nicht mehr unbedingt wie die sprichwörtliche »Leiche im Schrank« betrachtet werden: »While pointing out unrecognized similarities between past and present transnational involvements of immigrants, historians have, nevertheless, acknowledged their differences. Present-day (im)migrants’ transnationalism, shaped by the combination of enduring and new elements, differs from that of their predecessors in two major ways. First, it is much more varied or plural in form and content because contemporary (im)migrants themselves are much more diverse in regional origin, racial identification, gender, and home-country socioeconomic background and cultural orientation and, in the host society, in their legal status, the sector of the economy in which they are employed, and their mode of acculturation to the dominant society. Second, both the sending and the receiving nation-states are today much more tolerant of such differences than they were in the past. Whereas earlier-wave immigrants and their children were ‘closet transnationalists’ subject to exclusionary demands from home and host nation-states regarding their national commitments and were unprotected by legal-institutional and civic tolerance for the practice of diversity, legitimate ‘public’ options are available to their contemporary successors in terms of identities and participation, ranging

country of settlement.« Der Begriff »Kontext« steht hier quasi als Oberbegriff für lokale, regionale und nationale Bindungen.

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from global to transnational, national, local, and different combinations thereof.« (Morawska 2005: 217f, Hervorhebungen EPM)

Ursachen transnationaler Migration Die derzeit zu beobachtenden Prozesse heutiger transnationaler Migration hängen eng zusammen mit Entwicklungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft, die meist mit dem Schlagwort »Globalisierung« bezeichnet werden. Sie müssen daher im Kontext der globalen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit analysiert werden (Basch u.a. 1994: 22, Smith/Guarnizo 1998: 24f). Die Theorien zur transnationalen Migration sind daher verwandt mit den früheren Ansätzen, den globalen Kapitalismus als ein stark interdependentes, dynamisches System von zentralen und peripheren Regionen zu interpretieren, wie sie maßgeblich von Immanuel Wallerstein (1974, 1989) vertreten werden. Auch durch diesen theoretischen Hintergrund unterscheiden sie sich von den klassischen Migrationstheorien, deren impliziter ökonomischer Bezugsrahmen meistens eine einzelne, auf einen festen Raum fixierte Volkswirtschaft war, an der grob vereinfachend nur ein Binnen- und ein Außenraum (als Herkunftsort von Wirtschaftsmigranten) unterschieden wurde. Derzeit wandeln sich sowohl in den Industrieländern als auch in den »Entwicklungsländern« die Beschäftigungsstrukturen. In ersteren verschwinden gut bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie, dafür entstehen neue im Dienstleistungssektor, wobei jedoch die Bezahlung niedriger und die Arbeitsverhältnisse prekär sind; so kommt es zu einer zunehmenden Spaltung in einen schrumpfenden primären und einen wachsenden sekundären Arbeitsmarkt (unabhängig davon, ob dieser Unterschied durch gesetzliche oder tarifliche Strukturen institutionell verfestigt ist). In den Entwicklungsländern wird die traditionelle kleinbäuerliche Landwirtschaft von Großunternehmen verdrängt, wodurch ein großes Potenzial von Arbeitskräften »freigesetzt« wird, nach dem in den Industrieländern ein Bedarf im Entstehen begriffen ist. Zugleich jedoch ermöglichen es die intensivierten Kommunikationsverbindungen, dass die dadurch stimulierte Migration nicht mehr dem herkömmlichen, irreversiblen Hinüberwechseln von einer nationalstaatlich eingehegten Volkswirtschaft in eine andere entsprechen muss; die Prekarität der in der Ankunftsgesellschaft vorgefundenen Arbeits- und Lebensverhältnisse lässt dieses ohnehin weniger attraktiv, wenn nicht gar unmöglich erscheinen; zugleich geraten die Verhältnisse in der Herkunftsgesellschaft »in Fluss«. Dadurch erscheint es den Migranten nicht mehr angebracht, bildlich gesprochen, alle Brücken hinter sich abzubrennen, oder – um die Metapher von Phizlackea (1983) wieder aufzunehmen, ein one-way ticket zu lösen – wie es von den konventionellen nationalstaatlichen Migrationspolitiken und klassischen Migrationssoziologien noch immer vorausgesetzt wird; vielmehr wird die Option, sich im »Zug« selbst einzurichten, immer häufiger bevorzugt.

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Im Folgenden setzen wir uns ausführlich mit dem Transnationalismus-Ansatz auseinander und stellen dessen theoretischen Positionen vor, die auch dieser Arbeit zugrunde liegen. Zunächst wird dazu das allgemeine theoretische Modell besprochen. Diese theoretischen Annahmen werden dann im Methodologie-Kapitel zu einem analytischen Modell konkretisiert, anhand dessen das empirische Material auf die Plausibilität der Hypothesen befragt wird. Transnationalismus als theoretisches und analytisches Modell Wie oben dargestellt stammt die die erste Definition des Transnationalismus bzw. der Transmigration von den »Pionierinnen« Glick-Schiller, Basch und SzantonBlanc. Ihr neuartiger Ansatz wurde von anderen variiert und auf weitere Beispiele bezogen – so etwa Alexandro Portes in den USA oder Ludger Pries und Thomas Faist in Deutschland. Allen Variationen ist stets gemeinsam, dass aktive soziale Zusammenhänge entstehen, die gleichermaßen in die Gesellschaften des Herkunftswie des Ankunftslands eingebettet sind. Im deutschen Kontext wurden im Anschluss die Konzepte der »transnationalen sozialen Räume« (Pries) bzw. »transstaatlicher Räume« (Faist) entwickelt. Eine wichtige Annahme bei Pries, die dem hier benutzten Raumkonzept zugrundeliegt, ist die Relationalität von Raum: Im Anschluss an den Geographen Hans Heinrich Blotevogel – und ideenhistorisch letztendlich an Einsteins Relativitätstheorie – stellt Pries das Konzept vom »Relationalraum« der konventionellen Vorstellung vom »Behälterraum« (container space) entgegen: Erst mit einem Verständnis von Raum, das nicht von einem exklusiven Verhältnis des geographischen und des nationalstaatlich organisierten politischen Raumes ausgeht, könne die soziale Wirklichkeit der Transmigranten adäquat erfasst werden: Die von den Transmigranten konstruierten sozialen Räume verlaufen grenzüberschreitend, also quer zu geographischen Räumen von Nationalcontainern (vgl. Pries 1997a). Davon ausgehend definiert Pries (1998: 74f.) »transnationale soziale Räume« als »neue‚ soziale Verflechtungszusammenhänge (Elias 1986), die geographischräumlich diffus bzw. ›de-lokalisiert‹ sind«. Entscheidend ist dabei die Dauerhaftigkeit dieser Verflechtungszusammenhänge – bei dem sozial konstruierten Raum handelt es sich nämlich keineswegs um einen »nur transitorischen sozialen Raum«, sondern eine auf Dauer angelegte, »wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen und Positionierungen«. Diese bestimmt zugleich die »alltagsweltliche Lebenspraxis, (erwerbs-) biographischen Projekte und Identitäten der Menschen«, die – und das ist entscheidend – anders als bei traditionellen Migranten als auch bei NichtMigranten »über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweist« (Pries 1998: 74f., Hervorhebung EPM).

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Auf diese Weise werden die transnationalen sozialen Räume zu »neue[n] soziale[n] Alltags- und Lebenswelten quer zu der Ankunfts- und der Herkunftsgesellschaft« mit ihren je eigenen » Alltagspraktiken, Symbolsysteme[n] und soziale[n] Artefakte[n]«. Diese Gebundenheit an mehrere Orte bedeutet, dass außenstehende politische oder wissenschaftliche Beobachter – aber auch die Akteure selbst! – den subjektiven Sinngehalt ihrer Handlungen (im Sinne Webers) nicht ausschließlich in einem einzelnen, in einen nationalen »Container-Staat« eingebetteten Bezugsrahmen verstehen. In einem auf einem hohen Abstraktionsniveau angesiedeltem, mehrdimensionalen Modell unterscheidet Pries (2008) analytisch erstens zwischen Typen von Sozialräumen: auf der Mikroebene sind dies die Alltagswelten, auf der Mesoebene Organisationen und auf der Makroebene Institutionen. Die zweite Dimension bezieht sich auf die soziale Praxis, Symbolsysteme und Artefakte. Drittens schließlich gibt es mehrere Ebenen von Sozialräumen: lokal, (mikro- und makro-) regional, national, global, »glokal«, diasporisch und transnational (Pries 2008a: 236). Ein alternatives Konzept »transstaatlicher Räume« stammt von Thomas Faist; durch die Verwendung von »staatlich« anstelle von »national« wird hierbei die Einbeziehung grenzüberschreitender Beziehungen zwischen Kollektiven hervorgehoben, die multinational sind bzw. über keinen eigenen Nationalstaat verfügen (Faist 2000b: 13f.). Ein wichtiges Merkmal solcher transstaatlicher Räume, konstituiert durch »Bindungen von Menschen, Netzwerken, Gemeinschaften und Organisationen, […] über die Grenzen von mehreren Staaten hinweg« sowie »Kreisläufe von Menschen, Waren, Geld, Symbolen, Ideen und kulturellen Praktiken«, sind demnach ihre »langlebigen Formen über eine Menschengeneration hinaus«. Gerade dieser Aspekt der Langlebigkeit, die sich auch in identitätsstiftenden kollektiven Narrativen ausdrückt, ist für unseren Untersuchungsgegenstand, d.h. Menschen aus der Region Oberschlesien, von entscheidender Bedeutung. Ausgehend von den oben geschilderten theoretischen Ansätzen und Begriffen werden für diese Arbeit zur Definition von »transnationalen sozialen Räumen« folgende Merkmale zugrunde gelegt: • • • • •

soziale Bezüge zum Ankunfts- und Herkunftskontext, mehrere Dimensionen (politisch, kulturell, sozial, ökonomisch) usw., analytische Ebenen: Mikro-Ebene (Individuum, »Alltagswelten«), Meso-Ebene (soziale Netzwerke, Organisationen), Makro-Ebene (Institutionen, Regime), Typen/Sozialraumaspekte: Artefakte, soziale Praxis, Symbolsysteme (Pries 2008a), dauerhafter Charakter.

Ein wichtiger Bereich der Theoriebildung zu transnationaler Migration ist die Bildung neuer Typologien, in die Aspekte, Dimensionen und Ausprägungen dieser

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Migrationsphänomene eingeordnet werden können. Portes (1999) etwa entwirft eine Typologie, die zusätzlich zu den Dimensionen Ökonomie, Politik und Soziokulturelles auch den Grad der Formalisierung der transnationalen Aktivitäten unterscheidend berücksichtigt. Auch Faist verwendet – zusätzlich zur Frage nach der Dauerhaftigkeit – das Kriterium der Formalisierung zur Kategorisierung transstaatlicher Räume, indem hoch formalisierte Organisationen gering formalisierten Netzwerken gegenübergestellt werden (Faist 2000b: 17f). Durch diese Kreuztabellierung von Lebensdauer und Formalisierungsgrad entsteht eine Matrix mit den folgenden vier Feldern: • • • •

kurzlebige und schwach formalisierte »Kontaktfelder von Personen, Gütern, Informationen, Praktiken, kurzlebige, aber hoch formalisierte »Kleingruppen verwandtschaftlicher Art«, langlebige und hoch formalisierte »themenzentrierte Netzwerke«, deren Mitglieder eine gemeinsame Sprache, Werte, Austausch von Informationen teilen, langlebig und hoch formalisierte Entitäten wie »Dorfgemeinschaften, transstaatliche Unternehmen, Diasporas«.

Den Zusammenhang zwischen dem Grad der Formalisierung und der Dauerhaftigkeit zu erklären, würde deutlich zur Weiterentwicklung des Konzeptes des Transnationalismuskonzepts beitragen, was Faist jedoch nicht weiter verfolgt. Pries merkt zu dieser Typologie an, dass deren Zuordnungen umstritten sind: So kann man die »Kleingruppen verwandtschaftlicher Art«, umgekehrt wie von Faist vorgeschlagen, auch als niedrig formalisiert und langlebig auffassen (Pries 2002: 268). Hier zeigt sich vielleicht ein grundsätzliches Problem, das (nicht nur) bei derartigen Kreuztabellierungen Parsons’scher Machart zum Tragen kommt – salopp formuliert: die Versuchung des »Was nicht passt, wird passend gemacht«. Levitt (2003: 180) argumentiert hierzu aus ihrer empirischen Forschungspraxis heraus, dass sich kein automatischer Zusammenhang zwischen der Transnationalisierung von Migration und dem Grad ihrer Formalisierung beobachten lässt: Das Vorhandensein von Mobilität steht nicht in einem linearen, und schon gar keinem proportionalen Verhältnis zu ihrer Planbarkeit und Institutionalisierung. Aufgrund dessen lehnt Levitt eine statische Dichotomisierung dieser beiden Variablen, wie sie von einigen Autoren vorgeschlagen wird, ab. Für viele Autoren bleibt die Formalisierung bzw. Institutionalisierung dennoch ein wesentliches Merkmal dessen, was sie als core-Transnationalismus bezeichnen (dazu später ausführlicher). Ein weiterer Vorschlag zur Typisierung von Transnationalismen, der für kontroverse Diskussionen gesorgt hat, ist die Differenzierung zwischen transnationalism from above und from below nach Guarnizo (1997). Transnationalismus from above impliziert Handeln von staatlichen Akteuren, wie etwa nationale Anwerbungsprogramme; Transnationalismus from below bezieht sich dagegen auf grass-

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root-Aktivitäten der Akteure. Um beim Beispiel der Aufnahme der Migration zu bleiben: Migration über informelle soziale Netzwerke ist ein Beispiel des Transnationalismus from below (Smith/Guarnizo 1998). Die Autoren bewerten diesen Transnationalismus »von unten« unten als eine Form Widerstand gegen die Hegemonie des globalen Kapitals, wobei der Widerstand nicht immer bewusst sei (Smith/Guarnizo 1998: 4). Diese idealistische bis ideologische Deutung der transnationalen Aktivitäten wird inzwischen zunehmend kritisiert – denn das individuelle, autonome Handeln der Akteure (agency) werde hier gegenüber strukturellen Zwängen (constraints), wie etwa nationale Politiken, überbewertet. Ein weiterer Punkt, über den intensiv diskutiert wird, ist die Frage, wie eng oder weit der Begriff »Transnationalismus« am besten definiert werden soll. So beklagen viele Migrationsforscher, dass das Konzept immer öfter als eine Art »Modewort« (buzzword) auftaucht; sein »In-Mode-Sein« führt dazu, dass es immer beliebiger werde und als Sammelbecken für alle möglichen Phänomene wie Globalisierung, Internationalisierung, Hybridisierung usw., an Schärfe verliere (vgl. Pries 2008a: 46, Portes Portes u.a.1999: 219, Smith/Guarnizo 1998: 4) . Zu den Autoren, die den Begriff weit fassen, gehört auch Levitt (vgl. 2003: 179). Sie schränkt transnationale Akteure nicht auf Migranten ein, sondern bezeichnet als solche die folgenden Gruppen: Erstens alle, die regelmäßig reisen und so ihren Alltag gestalten, die Transmigranten »im engeren Sinne«; zweitens alle, die hauptsächlich in einem transnationalen Kontext verortet sind – die zwar selbst nicht häufig reisen, aber in deren Leben, Ressourcen, Kontakte und Menschen »von weit her« eine zentrale Rolle spielen; und drittens alle, die selbst überhaupt nicht reisen und auf die auch das vorgenannte Kriterium nicht zutrifft, die aber dennoch ein Leben innerhalb eines transnationalisierten Kontextes führen. Alle drei Gruppen können in einer jeweils bestimmten Bandbreite an transnationalen Aktivitäten teilhaben. Auch mit einem derart breit angelegten Begriff lassen sich Abstufungen im Umfang und Wirkung der Transnationalisierung festhalten – Levitt verweist dazu auf Autoren, die ebenfalls versucht haben, das »Ausmaß« des Transnationalismus entsprechend zu kategorsieren: Guarnizo (zitiert nach Levitt 2003: 179) unterscheidet z.B. »Kern-Transnationalismus« (core transnationalism) von »erweitertem Transnationalismus« (expanded transnationalism): Kern-Transnationalismus bezieht sich auf alle regelmäßigen, vorhersagbaren Aktivitäten, die einen integralen Bestandteil des gewöhnlichen Lebens darstellen. Unter den erweiterten Transnationalismus fallen dagegen auch »gelegentliche« transnationale Praktiken (wie in Reaktion auf Naturkatastrophen oder politische Krisen). Itzigsohn u.a. (1999) sprechen einerseits von »breiten«, andererseits von »engen« transnationalen Praktiken – d.h. gelegentliche, nicht gut institutionalisierte Teilnahme mit sporadischer Mobilität gegenüber »konstanten, hoch institutionalisierten Praktiken« mit regelmäßigem Reisen (zitiert nach Levitt 2003: 180).

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Mit einem Vier-Felder-Schema zeigt Levitt (2001: 199) an empirischen Beispielen, dass sich transnationale Praktiken nicht nur entlang ihrer Intensität/Frequenz in erweiterte Aktivitäten und Kernaktivitäten einteilen lassen, sondern auch nach ihrem Umfang als »umfassend« oder »selektiv« klassifiziert werden können. Schließlich unterscheidet Levitt Transnationalisierung auf drei Ebenen: der »breite Transnationalismus« begründet demnach transnationale Beziehungen, die lediglich auf grenzüberschreitende Praktiken basieren; in der Mitte liegen transnationale soziale Felder, die im Bourdieu’schen Sinne Netzwerke und Positionen von Individuen und Institutionen umfassen; schließlich existieren hoch formalisierte transnationale communities, in denen nicht mehr nur individuelle Akteure, sondern ganze Gemeinden transnationale Bindungen miteinander pflegen (vgl. Levitt 2001, Glick-Schiller/Levitt 2004). Da sich die vorliegende Untersuchung theoretisch auf Pries’ Konzept transnationaler Sozialräume stützt, die zwischen Levitts transnationalen sozialen Feldern und transnationalen Gemeinschaften zu verorten wären, wird hier auf die theoretischen Implikationen der letzten Klassifizierung nicht weiter eingegangen. Andere Autoren plädieren jedoch generell für eine Einengung des Konzepts: Alejandro Portes und seine Koautoren z.B. nennen, in Anlehnung an Robert Merton (1987), drei Bedingungen, die grundsätzlich notwendig sind, um eine soziale Erscheinung (hier eben Transnationalismus) zu festigen: Erstens muss der jeweilige Prozess einen wesentlichen Anteil der Personen aus dem jeweiligen Umfeld erfassen; zweitens muss er längerfristig stattfinden, darf also nicht bloß Ausnahmecharakter haben. Drittens schließlich ist der neue Begriff nicht redundant, d.h. das Phänomen lässt sich nicht mit bereits vorhandenen Konzepten umschreiben. Um diesen Kriterien zu entsprechen, definieren Portes u.a. Transnationalismus eher eng als Beschäftigungen und Aktivitäten, die auf regelmäßige und dauerhafte soziale Kontakte über längere Zeiträume und über nationale Grenzen hinweg angewiesen sind (Portes u.a. 1999: 219). Auch Pries (2008) spricht sich dafür aus, den Sinngehalt von »Transnationalismus« schärfer abzugrenzen, um seine Aussagekraft zu erhalten. Entscheidend ist für ihn, Transnationalismus abzugrenzen von anderen sozialen Beziehungen, bei denen nationale Grenzen überschritten werden und für die bisher Begriffe wie Globalisierung, Diaspora, Supranationalisierung benutzt wurde. Eine vage, wie auch immer geartete Grenzüberschreitung reicht ihm nicht aus, um die Diagnose Transnationalismus zu stellen – vielmehr müssen »dichte, dauerhafte, plurilokale und grenzüberschreitende Interaktionsverflechtungen« vorhanden sein (Pries 2008a: 99), die – wie oben erwähnt – aus sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten bestehen. Für diese Arbeit wird ebenfalls eine engere, schärfere Definition von Transnationalismus gewählt. Das analytische Modell, mit dem diese Definition operationalisiert wird, ist im Methodenkapitel ausführlicher dargestellt.

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Ein weiterer wichtiger Punkt in der Debatte über »Transnationalismus« ist die grundsätzliche Frage nach der »Integration« der Migranten in ihren Ankunftskontext. Autoren, die die Aufrechterhaltung von Bindungen der (Im-)migranten an ihre Herkunftsgesellschaft grundsätzlich als kontraproduktiv für ihre Integration und Assimilation in die Ankunftsgesellschaft ansehen, sehen auch Transnationalismus als etwas grundsätzlich kontraproduktives. Transnationalismus wird grundsätzlich einem naiv-idealistischen »multikulturellen« Gesellschaftsmodell zugeschrieben (vgl. Wimmer 2004:1). Für Vertreter der (neuen) Assimilationsansätze ist Transnationalismus ein vorübergehendes Phänomen, da die Migranten sich »in ihrem eigenem Interesse« an die Kernkulturen und Institutionen anpassen (Esser 2004: 1154). Inzwischen verbreitet sich jedoch die Meinung, dass Assimilation an die Ankunftsgesellschaft und Bindungen an die Herkunftsgesellschaft keine Gegensätze sein müssen, Transnationalismus also nicht dem »Multikulturalismus« zugeschlagen werden muss. So zeigt etwa Ewa Morawska – die im Übrigen den Begriff Transnationalismus als Bezeichnung für etwas qualitativ neues nur widerstrebend verwendet – unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis Transnationalismus und Assimilation nebeneinander auftreten können. Sie analysiert dazu 100 Untersuchungen über verschiedene Immigrantengruppen und deren Kinder in den USA (Morawska 2003a: 134f.) und identifiziert nicht weniger als 40 Einflussgrößen im Herkunftsund Ankunftskontext, die die Ausprägung und das gegenseitige Verhältnis von Transnationalismus und Assimilation bestimmen. Dazu zählen u.a. die kollektive nationale Identität im Herkunftskontext – die ausschließenden oder einschließenden Charakter aufweisen kann, die relative Größe der Migrantengruppe im Ankunftskontext, ihr sozioökonomischer Status und die Relevanz von Ethnizität bzw. Rasse. Morawska zeigt etwa am Beispiel von indischen und dominikanischen Immigranten der 70er und 80er Jahre die Schlussfolgerung, dass transnationale Beziehungen der Inder mit deren Assimilation in den USA Hand in Hand gehen; entscheidend dabei waren u.a. Zugehörigkeit zur Mittelklasse, die große geographische Distanz zwischen USA und Indien, fehlender »Mythos der Rückkehr«. Dominikanische Immigranten dagegen assimilieren sich in der amerikanischen Gesellschaft viel langsamer, sind schlechter ausgebildet und bleiben trotz des legalen Aufenthaltsstatus oft in informellen Arbeitsmarktsektoren. Sie leben nicht wie Inder geographisch zerstreut, sondern konzentriert (New York); durch die geringere Distanz zum Heimatland pflegen sie intensivere persönliche Kontakte dorthin und orientieren sich auf die Rückkehr (Morawska 2003a). Auch Peggy Levitt (2003) stellt aufgrund mehrerer Länderstudien zu Transnationalismus fest, dass die Integration von Transmigranten in die Aufnahmegesellschaft nach unterschiedlichen Mustern verlaufen kann, wobei auch Levitt neueren Ansätzen der Assimilation folgt (hier segmented assimilation) und diese nicht mehr als einen linearen und für den Erfolg der Migranten in der Aufnahmegesellschaft

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zwangsläufigen Prozess ansieht, sondern als »interactive, bumpy journey along multiple non-linear pathways« (Levitt 2003: 178). Dabei nennt die Autorin in Anlehnung an Min Zhou drei Muster der Adaption der Immigranten an die Aufnahmegesellschaft in den USA: erstens die klassische Adaption an die weiße Mittelklasse, zweitens den Abstieg in die Unterklasse und drittens ein schneller ökonomischer Aufstieg in ethnischen Nischen (Levitt 2003: 178). Levitt argumentiert, dass Migranten in ihrem Migrationsverlauf transnationale und assimilative Strategien miteinander kombinieren. Welches »Mischungsverhältnis« dabei verwendet wird, hängt von folgenden Faktoren ab: Art der Aktivitäten, ihr Umfang (scope), Ziel, institutioneller Kontext, Klassenzugehörigkeit und Lebenszyklus des Individuums. So gibt es Aktivitäten, bei denen sich die transnationale Orientierung einfacher mit einer assimilativen Orientierung kombinieren lässt, und Aktivitäten, die eher eine »Entweder-Oder-Logik« haben. Viele ökonomische Aktivitäten lassen sich gleichzeitig im Herkunfts- und Ankunftsland ausführen – dies zeigt das Beispiel von zwei Brüdern, deren Unternehmen einen Plattenladen in Boston und ein Lebensmittelgeschäft in der Dominikanischen Republik besitzt. Transnationale Aktivitäten religiöser Art gehen dagegen nicht selten mit einer Ablehnung der Wertvorstellungen des Ziellandes einher – wie das Beispiel einer brasilianischen Gemeinde in Boston zeigt, die sich über ihre starke Bindung nach Brasilien vor der »unmoralischen Lebensführung« in den USA zu schützen versuchte (Levitt 2003: 182). Für den Zusammenhang zwischen der Institutionalisierung der Migration einerseits und der Ausprägung des Verhältnisses Transnationalismus vs. Assimilation andererseits lassen sich folgende Regelmäßigkeiten festhalten: Je geringer die Institutionalisierung, desto geringer die Partizipation am formellen politischen und ökonomischen Leben des Herkunftslandes – und umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Migranten sich letztlich stärker am Zielland orientieren, weil sie »das Rad immer neu erfinden müssten«. Andererseits jedoch ermöglicht eine geringere Institutionalisierung auch eine höhere Flexibilität bei der Kombination transnationaler und assimilativer Strategien: Dadurch lassen sich sowohl Strategien mit Schwerpunkt im Herkunftskontext (ähnlich wie bei dem in dieser Untersuchung identifizierten recurrent migrant), als auch Strategien mit Schwerpunkt im Ankunftskontext realisieren. Es ist z.B. einfacher, einen informellen transnationalen Kleinhandel mit der regulären Beschäftigung im Zielland zu kombinieren, als ein grenzenüberschreitendes formelles Geschäft aufzubauen (vgl. Levitt 2003: 181). Für Levitt zeigen diese unterschiedlichen Möglichkeiten, dass eine transnationale Lebensführung kein »fest geschnürtes Paket« sei, das ein Leben lang gleich bleibe; vielmehr ändern die Migranten die Kombination ihrer Strategien je nach Lebensabschnitt und kombinieren sie durchaus mit Strategien zur Integration im Ankunftsland. Das Ergebnis sind »Mischungen von Abwärts- und Aufwärtsmobilität in beiden Kontexten« (Levitt 2003: 184).

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Auch Portes u.a. (1999: 229) nennen verschiedene Wege der Integration von Transmigranten, wobei sie Assimilation und Transnationalismus einander kontrastiver gegenüberstellen als Levitt (2003) und Morawska (2003): So schildern sie Transmigranten, die mit ihren Kindern zurückkehren; Transmigranten, die sich dauerhaft niederlassen und die klassische Assimilation durchlaufen; Transmigranten, die transnationale Praktiken verfolgen, während ihre Kinder sich assimilieren – und schließlich Transmigranten, die ihren eigenen Transnationalismus an ihre Kinder weitergeben (Portes u.a. 1999). Faist (2000) unterscheidet zwischen drei Modi der Integration: dem Transnationalismus, der Assimilation und dem Pluralismus. Das Modell hat drei analytische Ebenen: die Mikro-, Meso- und Makro-Ebene. Auf der Mikroebene stellt er die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass Migranten transnationale oder monolokale Lebensentwürfe planen. Auf der Mesoebene untersucht er die Rolle der transnationalen Bindungen und Netzwerke; und auf der Makroebene schließlich strukturelle Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Politiken der Emigrations- und Immigrationsländer, die ggf. zur Transnationalisierung der zivilen Gesellschaften führen. Anders als Morawska bzw. Levitt macht Faist jedoch keine konkreten Aussagen über konkrete Einflussfaktoren – er stellt nur ganz allgemein fest, dass die Beziehung zwischen dem Transnationalismus und Integration keineswegs »umgekehrt proportional« ist: Denn die Migranten brechen einerseits ihre Beziehungen zum Herkunftsland nicht ab, während sie sich im Ankunftsland integrieren – was der Annahme der »Assimilationtheoretiker« widerspricht, wonach ersteres geradezu eine Voraussetzung für Letzteres sei. Andererseits verbleiben die Immigranten niemals ein mehr oder weniger isoliertes »Mosaikstückchen« in einer kulturell fragmentierten Aufnahmegesellschaft, wie es der Pluralismus bzw. »Multikulturalismus« vorsieht. Zu berücksichtigen ist auch, dass es sich bei solchen Konzepten um Idealtypen handelt, die in der empirischen Realität stets ineinander übergehen – dies gilt auch für das Verhältnis von Transnationalismus und Integration (Faist 2000: 320). Die Frage, wie die Integration von Transmigranten am Ankunftsort konkret abläuft, wird indessen nur von wenigen Forschern gestellt. Einer der bisher wenigen expliziten Vorschläge stammt von Pries (2004a: 22 f.): Er benutzt den alternativen Begriff der Inkorporation, den er von den traditionellen Bezeichnungen von Eingliederungen »Assimilation« und »Integration« unterscheidet, die zu sehr bestimmten Vorannahmen verpflichtet seien und daher die empirische Rationalität des Transnationalismus nicht hinreichend erfassen. Pries definiert Inkorporation mit vier Merkmalen: 1. Sie ist ein zukunfts- und ergebnisoffener Prozess, der über Generationen veränderbar ist.

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2. Sie ist ein dialektischer Prozess der Selbst- und Fremdwahrnehmung, der nicht nur von den »Ankommenden«, sondern auch den bereits »Anwesenden« bzw. der Interaktion zwischen beiden Gruppen abhängt. 3. Sie weist eine jeweils ökonomische, politische, soziale und kulturelle Dimension auf, wobei konkret empirisch zu klären ist, welche Dimensionen dominieren bzw. in welcher Hierarchie sie zueinander stehen. Allgemein jedenfalls ist der Zusammenhang zwischen ihnen weder deterministisch noch beliebig; vielmehr handelt es sich um »wahlverwandtschaftliche kongruente Konfigurationen« (Pries, 2004a: 22). 4. Die Inkorporation vollzieht sich jeweils auf der lokalen, nationalen und transnationalen Ebene. Kritik am (undifferenzierten) Transnationalismus-Ansatz Der Transnationalismus-Ansatz ist, wie gezeigt, ein relativ neues Konzept. Im Gegensatz zur Theorie der Assimilation, die eine lange Tradition hat, kann man hier noch nicht von einer kohärenten Theorie sprechen, sondern vielmehr von einem eher schillernden Konzept. Während er sich im anglo-amerikanischen Raum relativ schnell verbreitet hat, wurde und wird er im wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland kritischer aufgenommen – einerseits bedingt durch tatsächlich vorhandene »Unfertigkeiten«, andererseits durch ideologische Sichtweisen wie den »methodologischen Nationalismus« und das Verhaftetsein im Container-space-Denken. Einer der Hauptangriffspunkte der Kritiker lautet, dass es sich bei Migranten mit transnationalen Bindungen nicht um ein neues Phänomen handele. So haben Sozialhistoriker gezeigt, dass es in der Vergangenheit durchaus vergleichbare Situationen gab. Ähnlich wie beim Beispiel »Globalisierung« wird inzwischen argumentiert, dass Transnationalismus »neu und alt zugleich« sei – nicht völlig neu, weil sich Vorläufer nachweisen lassen; aber neu insofern, als durch neue Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten eine neue Qualität entstanden ist (so etwa Morawska 2001: 190 f., Levitt u.a. 2003: 569). Von anderer Seite wird die Brauchbarkeit des Konzepts überhaupt in Frage gestellt: So hält Esser (2001: 76), ganz in der Tradition der klassischen Theorien, daran fest, dass Transnationalität bei Migranten lediglich ein Übergangsphänomen, eine bestimmte Phase in einem längeren Prozess sei, der stets in absehbarer Zeit entweder mit der endgültigen Assimilation an die Ankunftsgesellschaft oder aber endgültigen Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft ende. Die Dauerhaftigkeit, die transnationale soziale Räume als solche erst definiert, wird damit in Frage gestellt. Sofern die Realität einer dauerhaften »doppelten Inkorporation« überhaupt anerkannt wird, wird das Phänomen als quantitativ marginal eingestuft (so etwa Esser 2001: 20 f.). Auch weitere theoretische Annahmen des Konzepts, die anfänglich artikuliert wurden, wurden kritisiert und von den Vertretern zwischenzeitlich teilweise revi-

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diert: Waren die Pioniere des Ansatzes anfänglich noch davon ausgegangen, dass die Rolle von Nationalstaaten erodiere, so wurde diese Erwartung inzwischen korrigiert (vgl. Levitt u.a. 2003, Pries 2008a). Inzwischen herrscht weitgehend Konsens, dass nationalstaatliche Politiken in Transnationalisierungsprozessen eine wesentliche Rolle spielen – auch wenn festgestellt wird, dass die Transnationalisierung auf die Staaten zurückwirkt, indem sie z.B. zunehmend Mehrfachstaatsangehörigeiten und damit die Aufrechthaltung transnationaler Bindungen zulassen (Levitt u.a. 2003: 568). Frauke Miera (2007). Weiterhin wird eine früher oftmals – zumindest implizit – unterstellte emanzipatorische Wirkung der Transmigration als zu optimistisch revidiert. Eine solche Annahme lag z.B. noch der oben bereits genannten Sicht zugrunde, bei Transmigration handele es sich um eine Bewegung »von unten«, durch die die »von oben kommende« hegemoniale Macht der Nationalstaaten oder globaler Märkte »herausgefordert« werde (vgl. Smith/Guarnizo 1998: 4). Inzwischen ist man sich jedoch weitgehend darüber einig, dass die Frage nach den Machtpositionen transnationaler Migranten innerhalb hierarchischer Beziehungen, die z.B. durch die Faktoren Klasse, Ethnizität oder Gender bestimmt werden, offen ist und ihre empirische Beantwortung je nach konkretem Kontext durchaus sehr unterschiedlich ausfallen kann. Es sei daher in jedem einzelnen Fall aufs Neue zu fragen, so Levitt u.a. (2000: 568) »wer, unter welchen Umständen und warum von transnationaler Migration profitiert.« Andere Kritiker des Konzepts sehen seine Defizite in einer zu stark akteurtheoretischen Ausrichtung, welche die Rolle der »Systeme« wie Wirtschaft, Politik, Recht oder Bildung nicht ausreichend berücksichtige. So mahnte Michael Bommes (2002) an, dass die Frage nach dem Verhältnis von transnationalen sozialen Räumen und der funktional differenzierten Gesellschaft9 des Herkunfts- und Ankunfts-

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Im soziologischen »Großkonflikt« zwischen dem handlungs- und systemtheoretischen Paradigma fungiert ein Begriff wie »funktionale Differenzierung« als eine Art Marker, der quasi »systemtheoretischen Stallgeruch« vermittelt, und damit als Demarkationslinie. Wie Uwe Schimank (2009: 192) bemerkt, lassen sich »Akteurtheoretiker […] schon durch die Verwendung von Begriffen wie ›Teilsystem‹ oder ›funktional‹ verschrecken; das dadurch evozierte sozialtheoretische Feindbild ruft instantanes Desinteresse hervor.« Hinzuzufügen ist, dass das Desinteresse von Systemtheoretikern an akteurtheoretischen Modellen nicht weniger ausgeprägt ist. Darin dürfte auch größtenteils das gegenseitige Unverständnis zwischen den überwiegend mit Blick auf individuelle Akteure und horizontale Ungleichheit arbeitetenden Theoretikern transnationaler Migration und der Systemtheorie begründet sein. Auf diesen fundamentalen Konflikt in der soziologischen Theorie kann hier nicht näher eingegangen werden; aus der kaum zu überschauenden Literatur zu diesem Thema sei an dieser Stelle stelltvertretend auf Uwe Schimanks (2009)

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landes nicht geklärt sei – dadurch bliebe auch die Frage ausgeblendet, inwieweit gesellschaftliche Inklusion und Exklusion hier wie dort von den jeweiligen Nationalstaaten und ihren wohlfahrtsstaatlichen Regimen bestimmt würden. Nun lässt sich nicht abstreiten, dass die empirische und theoretische Ausarbeitung des Konzepts auf der Ebene individueller Akteure weiter fortgeschritten ist als auf der Meso- oder Makroebene; weitere Studien zu transnationalen Organisationen und zur Rolle von Systemen sind also erforderlich. Dennoch kann Bommes’ Kritik an der vermeintlich fehlenden gesellschaftstheoretischen Fundierung in dieser Form nicht stehen bleiben: So, wie in den auf Assimilation als Ziel setzenden Modellen (vgl. Esser 1980, Gordon 1964 Alba/Nee 2003), berücksichtigt auch das Modell der transnationalen sozialen Räume alle relevante Analyseebenen (vgl. Pries 1997a, Faist 2000b). Dass das Transnationalismus-Konzept in dieser Hinsicht noch nicht so ausgereift ist wie die »Assimilationsmodelle«, die bereits auf eine lange Forschungstradition zurückblicken (vgl. Brubaker 2003), liegt auf der Hand – ein relativer Entwicklungsrückstand ist aber letztlich kein Argument gegen das Konzept als solches. Vielmehr steht zu vermuten, dass wir es hier mit einem weiteren Schauplatz zu tun haben, auf dem der alte Konflikt zwischen dem system- und dem akteurtheoretischen Paradigma ausgetragen wird, der grundsätzlich für keine der beiden Seiten zu »gewinnen« ist. Ein weiterer – daran anknüpfender, aber spezifischerer – Kritikpunkt betrifft die Verbindung von Theorie und Methodologie, die vielen Studien zum Transnationalismus zugrunde liegt: Hier wird die Dominanz »ethnologischer« Fallstudien kritisiert (Levitt u.a. 2003: 565), durch die einseitige Schlüsse gezogen werden und so quasi methodologische Artefakte produziert werden. Hinzu kommt, dass viele Autoren das Transnationalismus-Konzept inzwischen wegen seiner »Modischkeit« sehr undifferenziert anwenden. Auch vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um die Schärfung des theoretischen Konzeptes wichtig (Pries 2008a: 46, Portes u.a. 1999: 220). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Kritik am Transnationalismus-Ansatz überwiegend zurückgewiesen werden kann: Sei es, weil sie sich auf eine übermäßig vereinfachte und/oder fortschrittsoptimistische Interpretation bezieht, die in dieser Form von seinen Verfechtern längst nicht mehr vertreten wird; sei es, weil sie einen »Nebenkriegsschauplatz« eröffnet, auf dem eine Auseinandersetzung zwischen ganz allgemeinen soziologischen Paradigmen (Struktur vs. Handeln, Mikro vs. Makro, quantitative vs. qualitative Forschung usw.); sei es, weil sie ein Defizit der Theorieentwicklung, das durch das geringe Alter des Ansatzes zu erklären ist, als grundsätzliche Schwäche charakterisiert.

Versuch verwiesen, die seitens der Systemtheorie postulierte funktionale Differenzierung der Gesellschaft aus handlungstheoretischer Sicht neu zu interpretieren.

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Zuzustimmen ist den Kritikern insofern, als »transnational« inzwischen tatsächlich nicht selten undifferenziert als modisches buzzword auf alle möglichen Phänomene bezogen wird, bei denen eine nationalstaatliche Grenze überschritten wird – ohne dass dabei den eigentlich entscheidenden Fragen, wie »stabil« der jeweilige Zustand ist, welchen Handlungssinn und welche Identitäten die Akteure haben, ausreichende Beachtung geschenkt wird. Die Folge ist eine Verwässerung des Begriffs, der so sein spezifisches Erklärungspotenzial einbüßt. Erweiterung der Perspektive transnationaler Migration Um die Pendelmigration der oberschlesischen Arbeitsmigranten theoretisch adäquat zu erfassen, muss dem (»engen«) Konzept der transnationalen Migration zunächst ein weiterer, bislang wenig beachteter Idealtypus der Migration gegenüber gestellt werden, den wir im Anschluss an Pries (2004b: 10f) als recurrent migrant bezeichnen. Zweitens muss das Instrumentarium der Theorie zur transnationalen Migration um weitere drei Aspekte erweitert werden: • • •

die materielle und organisatorische Infrastruktur, auf die im Alltag zurückgegriffen wird, soziale Strukturen (Staatsangehörigkeit, Ethnizität, Gender, Klasse, Lebenszyklus, Generation/Kohorte) sowie Identitäten, d.h. die subjektiven Verortungen und deklarierten Interpretationen, die oftmals quer zu tatsächlichen Praktiken und Positionen stehen.

Nur wenn all diese Aspekte berücksichtigt werden, können die Migrationsstrategien der Oberschlesier mit ihren verschiedenen Varianten hinreichend verstanden und erklärt werden.

D ER

RECURRENT MIGRANT ALS ERGÄNZENDER I DEALTYPUS DER M IGRATION

Wenn man dem »engen« Konzept des Transnationalismus folgt und davon ausgeht, dass Transmigranten Bindungen sowohl zum Her- und Ankuftskontext aufbauen, benötigen wir ein weiteres theoretisches Modell der Migration für diejenige oberschlesische Pendler, die zwar mobil sind, aber nur sehr oberflächliche Bindungen an den Ankunftskontext aufbauen und ihren Lebensschwerpunkt im Herkunftskontext behalten. Ein solcher Migrantentypus wird in dieser Arbeit im Anschluss an Pries (2004b: 10f) als »recurrent migrant« bezeichnet. Dieser Typ der Migration ist

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Zuzustimmen ist den Kritikern insofern, als »transnational« inzwischen tatsächlich nicht selten undifferenziert als modisches buzzword auf alle möglichen Phänomene bezogen wird, bei denen eine nationalstaatliche Grenze überschritten wird – ohne dass dabei den eigentlich entscheidenden Fragen, wie »stabil« der jeweilige Zustand ist, welchen Handlungssinn und welche Identitäten die Akteure haben, ausreichende Beachtung geschenkt wird. Die Folge ist eine Verwässerung des Begriffs, der so sein spezifisches Erklärungspotenzial einbüßt. Erweiterung der Perspektive transnationaler Migration Um die Pendelmigration der oberschlesischen Arbeitsmigranten theoretisch adäquat zu erfassen, muss dem (»engen«) Konzept der transnationalen Migration zunächst ein weiterer, bislang wenig beachteter Idealtypus der Migration gegenüber gestellt werden, den wir im Anschluss an Pries (2004b: 10f) als recurrent migrant bezeichnen. Zweitens muss das Instrumentarium der Theorie zur transnationalen Migration um weitere drei Aspekte erweitert werden: • • •

die materielle und organisatorische Infrastruktur, auf die im Alltag zurückgegriffen wird, soziale Strukturen (Staatsangehörigkeit, Ethnizität, Gender, Klasse, Lebenszyklus, Generation/Kohorte) sowie Identitäten, d.h. die subjektiven Verortungen und deklarierten Interpretationen, die oftmals quer zu tatsächlichen Praktiken und Positionen stehen.

Nur wenn all diese Aspekte berücksichtigt werden, können die Migrationsstrategien der Oberschlesier mit ihren verschiedenen Varianten hinreichend verstanden und erklärt werden.

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RECURRENT MIGRANT ALS ERGÄNZENDER I DEALTYPUS DER M IGRATION

Wenn man dem »engen« Konzept des Transnationalismus folgt und davon ausgeht, dass Transmigranten Bindungen sowohl zum Her- und Ankuftskontext aufbauen, benötigen wir ein weiteres theoretisches Modell der Migration für diejenige oberschlesische Pendler, die zwar mobil sind, aber nur sehr oberflächliche Bindungen an den Ankunftskontext aufbauen und ihren Lebensschwerpunkt im Herkunftskontext behalten. Ein solcher Migrantentypus wird in dieser Arbeit im Anschluss an Pries (2004b: 10f) als »recurrent migrant« bezeichnet. Dieser Typ der Migration ist

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zwar nicht neu und es gibt zahlreiche empirische Beispiele und Hinweise für diesen Typus, diese bleiben jedoch generell zerstreut und wurden bis jetzt nicht zusammengeführt und theoretisch nur wenig ausgearbeitet (Ausnahmen Gonzalez 1961, Wiest 1971, Piore 1979, Stark 1991, 2007, Pries 2004b). Die Untersuchung der Praktiken oberschlesischer Pendelmigranten macht deutlich, dass der recurrent migrant als theoretisches Modell mehr Beachtung verdient. An dieser Stelle möchte ich nun kurz die theoretischen Konzepte und Typologien aus anderen Studien anführen, die den Idealtypus »recurrent migrant« aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und in verschiedenen geographischen Kontexten beschreiben. Zu nennen sind hier etwa die Arbeiten der Historiker Douglas Holmes und Jean Quataert, die am deutschen und italienischen Beispiel vergleichbare temporäre Migration, hier zwischen Land und Stadt von 18. bis zum 20. Jahrhundert beschreiben (vgl. Holmes/Quataert 1986). Ein anderer Historiker, Leo Lucassen (2006: 24), beschreibt weitere Beispiele der Saisonarbeit von Migranten im 19. Jahrhundert in Westeuropa. Die von ihm benannten Merkmale dieser Migration weisen frappierende Ähnlichkeiten mit der hier untersuchten Gruppe auf: Sie besetzt bestimmte »ökonomische Nischen«, kombiniert den Bauernhof im Herkunftsland mit Saisonarbeit im Ankunftsland, lässt die Familie zurück, betreibt die Arbeitsmigration mit einer sehr konkreten Zielorientierung und beabsichtigt die dauerhafte Rückkehr, sobald das Ziel erreicht ist. Auch in der soziologischen Literatur wurde dieses Migrationsverhalten bereits mehrmals beschrieben, aber entweder gar nicht (vgl. etwa Okólski 1998) oder nur aus der verengten Perspektive eines Rational-Choice-Akteurmodells (vgl. Piore 1979, Stark 1991, 2007) theoretisch ausgearbeitet. So entwickelt Michael Piore (1979) in seiner Theorie der dualen Arbeitsmärkte das Konzept des target worker. Dessen Migrationsverhalten werde ausschließlich durch finanzielle Ziele determiniert, die aber ausschließlich auf das Herkunftsland orientiert sind – in Form von Remittances bzw. Aufbau von Ersparnissen, die später dort investiert oder konsumiert werden. Die Dauer der Migration wird dadurch bestimmt, wie schnell und in welchen Intervallen diese Zielerreichung gelingt. Das zugrunde liegende Akteurmodell ist das eines Nutzenmaximierers (homo oeconomicus), der nur rationale Entscheidungen trifft; Variablen wie Identität, emotionale Bindungen an Orte, soziales Kapital werden als Einflussgrößen nicht berücksichtigt. Diese Annahmen hat Oded Stark (1991, 2007) später in sein Modell der Neuen Ökonomie der Arbeitsmigration und das Modell der optimalen Migrationsentscheidung übernommen und weiter entwickelt. Dies Modell nimmt an, dass der Migrant ein Mitglied des Haushalts ist, die Migration sich zeitlich über das gesamte Leben erstrecken kann und in der Regel zwischen Stadt und Land erfolgt. In der Weiterentwicklung seines Modells (2007) erweitert Stark sein Modell der optimalen Migrationsentscheidung um soziale Aspekte. Ähnlich wie Hartmut Esser

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(1993) baut auch Stark Merkmale eines homo sociologicus in den homo oeconomicus mit ein, der jedoch weiterhin als übergeordnetes, universell geltendes Handlungsmodell beibehalten wird. Demnach beeinflussen zwei Variablen eine Migrationsentscheidung: Aus der Differenz zwischen dem Preisniveau im Zielkontext (z.B. Lebenshaltungskosten der Familie) und den Trennungskosten ergibt sich jeweils eine optimale Entscheidung zugunsten temporärer oder aber dauerhafter Migration. Im Kontext mexikanischer Migration finden wir ebenso wichtige Studien, die das Modell des recurrent migrant empirisch sättigen. So geht die Bezeichnung recurrent migrant auf eine theoretische Arbeit von Gonzales (1961) zurück, in der Arbeitsmigration in Typen klassifiziert wird, empirisch greift die Autorin auf diverse Beispiele der weltweiten Arbeitsmigration. Das Klassifikationskriterium dieser Typologie ist der Bezug zum Herkunftskontext (bedingt durch die Länge der Abwesenheit), da hier der Einfluss des jeweiligen Migrationstypus auf die Organisation der Familie untersucht wird. Gonzales unterscheidet fünf Typen der Arbeitsmigration, die zwischen der kurzfristigen Saisonarbeit und endgültigen Auswanderung reicht (Gonzales 1961: 1265): 1. seasonal migration, 2. temporary, nonseasonal migration, 3. recurrent migration, 4. continuous migration, 5. permanent removal. Interessanterweise lassen sich in der oberschlesischen Arbeitsmigration vergleichbare Typen der Migration identifizieren: saisonale Migranten, die ein Mal im Jahr mit oder ohne Familie zur saisonalen Arbeit fahren (vgl. Migrationsstrategie der »Bedarfspendler« in dieser Studie), temporäre Migranten, die für eine bestimmte Zeit ins Ausland gehen, oft als junge alleinstehende Erwachsene, die ein Startkapital sammeln wollen (vgl. »Einsteiger« in dieser Studie); bei den recurrent migrants handelt es sich um Familienväter, die in unregelmäßigen Abständen ihre Familien zurücklassen um anderswo zu arbeiten, wobei hier starke Bindungen zur Familie und der lokalen Gemeinschaft charakteristisch sind. Dieser Typus spiegelt sich in zwei hier vorgefundenen Migrationsstrategien wider: teilweise bei »Bedarfspendlern« und bei »Flexiblen«. Der vierte Typus der Arbeitsmigration schließlich wird bei Gonzales als »continuous migration« bezeichnet – so könnten Nomaden bezeichnet werden, die auf der Suche nach Arbeit mit der ganzen Familie von Ort zu Ort ziehen; von der amerikanischen Regierung wurden diese Migranten im Jahre 1939 als »constant« oder »habitual migrants« bezeichnet (Gonzales 1961: 1275). Zwar entspricht diese Charakterisierung als ungebundener Nomade den hier beschriebenen Transmigranten wenig, dagegen weisen die Bezeichnungen continuous, constant bzw. habitual migrant auf eine im heutigen Sinne transnationale Lebensweise hin. Die in dieser Studie identifizierten Migrationsstrategien der »Dauerpendler«, »Flexiblen« und »Unentschlossenen« fügen sich in diese Gruppe ein. Am Beispiel der kleinen mexikanischen Stadt Acuitzio und ihrer 70 Haushalte, in Anlehnung an die Typologie von Gonzales reduziert ein weiterer Migrationsfor-

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scher, Raymond E. Wiest (1973), die Arbeitsmigration auf drei Haupttypen: 1. den temporary-recurrent migrant, 2. den indefinite migrant und 3. die permanent relocation. Ähnlich wie bei Gonzales ist das Unterscheidungskriterium die Abwesenheit vom Haushalt (Wiest 1973: 182). Den ersten Typus übernimmt und modifiziert Ludger Pries in seiner Idealtypologie der Migration. Pries beschreibt seinen recurrent migrant so: Sein sozialer Bezug liegt im Herkunftskontext, er hält Distanz zum Ankunftskontext; seine Migration ist ökonomisch begründet und der Zeithorizont der Migration ist kurzfristig und wiederholt sich (Pries 2004: 10f). In Bezug auf die gegenwärtige temporäre Migration aus Polen haben polnische Forscher den bereits erwähnten Begriff der unvollständigen/bivalenten Migration geprägt (Łukowski 2001: 126, Okólski 1998: 25), wobei das Konzept theoretisch nur unzureichend ausgearbeitet wird. Die Autoren gehen davon aus, dass die unvollständige Migration zur »Entwurzelung« im Herkunftskontext und zum Ausbleiben des »Wurzelnschlagens« im Ankunftskontext führt. Ein weiteres Merkmal des unvollständigen Migranten sei sein illegaler Status (vgl. Okólski 2001: 58, JaĨwiĔska 2001:113f) – die Möglichkeit, unvollständige Migration aufgrund von mehrfachen Staatsangehörigkeiten völlig legal zu betreiben, bleibt dabei ausgeblendet. Okólski nennt folgende Merkmale unvollständiger Migranten: Sie haben einen niedrigen beruflichen Status, einen illegalen Aufenthaltsstatus im Zielland – weshalb sie aus sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen und auf das sekundäre Arbeitsmarksegment angewiesen bleiben –, sie verfolgen keine individuelle, sondern vielmehr eine Haushaltsstrategie und tendieren damit zur Pendelmigration zwischen der Familie im Herkunftsland und Arbeit in Zielland – und schließlich: Das Leben zwischen diesen zwei Orten führt zu der Schwächung der sozialen Beziehungen und der Teilnahme am öffentlichen Leben in beiden Kontexten (die These der Marginalisierung) (vgl. Okólski 2003: 58f). Ohne alle Befunde dieser Autoren pauschal in Abrede zu stellen, liegt die Vermutung nahe, dass hier ein Verhaftetsein im Container-Space-Denken bzw. ein methodologischer Nationalismus zum Tragen kommt. Auch die Erkenntnisse aus anderen aktuellen Studien zur mobilen Migration von Polen zeigen, dass neben dem Konzept der Transnationalität ein weiteres Modell zum Verständnis mobiler Generation herangezogen werden kann: So schlagen Franck Düvell und Dita Vogel (2006) eine Typologie vor, die vergleichbar mit den Ergebnissen aus dieser Untersuchung ist. Sie identifizieren, ausgehend von zwei Merkmalen – räumliche Orientierung und soziale Bindungen – vier Typen: 1. auf das Zielland orientierte Emigranten, 2. auf das Herkunftsland orientierte Rückkehrmigranten (return oriented migrants), 3. längerfristig bipolar orientierte Transmigranten und 4. »ungebundene Nomaden«. Kritisch ist anzumerken, dass die Typologie – wie die Autoren selbst einräumen – nicht systematisch aus dem Material entwickelt wurde, sondern eher ein analyti-

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sches Fazit der bisherigen Projekte beider Autoren darstellt (etwa über die Migration der Polen nach England, nach Deutschland). Eine ebenfalls vergleichbare Typologie entwickeln Eade u.a. (2006) am Beispiel der polnischen Migranten in England. Sie identifizieren vier Typen polnischer Migranten in London, die sich in ihrer transnationalen Migrationsstrategie unterscheiden: 1. storks sind saisonale Pendelmigranten, deren Lebensschwerpunkt in Polen liegt und die in England innerhalb ihrer ethnischen Gruppen bleiben, 2. hamsters sind vergleichbar mit den storks – ihre Aufenthalte im Zielkontext sind jeweils so lange, bis sie das Kapital angesammelt haben und zurückkehren können, 3. searchers sind in ihrer Orientierung offen und bauen soziales und ökonomisches Kapital sowohl in Polen wie in England auf, und schließlich 4. stayers, die man man als klassische Emigranten kategorisieren kann. In beiden Studien sind, ähnlich wie in der vorliegenden, drei Modelle der Migration und Inkorporation erkennbar: der klassische Emigrant, der Transmigrant und schließlich ein recurrent migrant. Die mit den anderen Untersuchungen vergleichbaren Erkenntnisse über die mobilen Migrations- und Inkorporationsmuster lassen einen vorsichtigen Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit dieser beiden Ausprägungen der Mobilität zu; es bedarf allerdings weiterer empirischer Untermauerung. Aus diesem Überblick wird deutlich, dass der Idealtypus recurrent migrant sich auf unterschiedliche soziale und geographische Kontexte anwenden lässt und daher in Abgrenzung von einem allzu breit gefassten Transnationalismus-Begriff als ein geeignetes Konzept zur Beschreibung der Pendelmigration herangezogen werden kann. Als zentral für die Erklärung des Migrationshandelns der Befragten haben sich auch folgende drei Aspekte erwiesen: die transnationale Infrastruktur, Intersektionalität und Identität.

T RANSNATIONALE I NFRASTRUKTUR Zur materiellen und sozialen Infrastruktur gehören u.a. die formalen Organisationen um die transnationale Arbeit; bei dem Untersuchungsgegenstand handelt es sich um eine in hohem Maße formalisierte Form der Arbeitsmigration. Formelle Organisationen, die die grenzüberschreitende Arbeit regeln, sind für sie mindestens so relevant wie »informelle« soziale Netzwerke, deren Aufgaben sie teilweise übernehmen. Inzwischen wird die Rolle der formellen Vermittlung und Dienstleistungen rund um die Arbeitsmigration in der Literatur unter dem ursprünglich von Steven Castles und Mark Miller (2004: 53) geprägten Schlagwort »Migrationsindustrie« zunehmend in den Blick genommen (vgl. z.B. Collyer 2005; Krissman 2005, Krawietz

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sches Fazit der bisherigen Projekte beider Autoren darstellt (etwa über die Migration der Polen nach England, nach Deutschland). Eine ebenfalls vergleichbare Typologie entwickeln Eade u.a. (2006) am Beispiel der polnischen Migranten in England. Sie identifizieren vier Typen polnischer Migranten in London, die sich in ihrer transnationalen Migrationsstrategie unterscheiden: 1. storks sind saisonale Pendelmigranten, deren Lebensschwerpunkt in Polen liegt und die in England innerhalb ihrer ethnischen Gruppen bleiben, 2. hamsters sind vergleichbar mit den storks – ihre Aufenthalte im Zielkontext sind jeweils so lange, bis sie das Kapital angesammelt haben und zurückkehren können, 3. searchers sind in ihrer Orientierung offen und bauen soziales und ökonomisches Kapital sowohl in Polen wie in England auf, und schließlich 4. stayers, die man man als klassische Emigranten kategorisieren kann. In beiden Studien sind, ähnlich wie in der vorliegenden, drei Modelle der Migration und Inkorporation erkennbar: der klassische Emigrant, der Transmigrant und schließlich ein recurrent migrant. Die mit den anderen Untersuchungen vergleichbaren Erkenntnisse über die mobilen Migrations- und Inkorporationsmuster lassen einen vorsichtigen Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit dieser beiden Ausprägungen der Mobilität zu; es bedarf allerdings weiterer empirischer Untermauerung. Aus diesem Überblick wird deutlich, dass der Idealtypus recurrent migrant sich auf unterschiedliche soziale und geographische Kontexte anwenden lässt und daher in Abgrenzung von einem allzu breit gefassten Transnationalismus-Begriff als ein geeignetes Konzept zur Beschreibung der Pendelmigration herangezogen werden kann. Als zentral für die Erklärung des Migrationshandelns der Befragten haben sich auch folgende drei Aspekte erwiesen: die transnationale Infrastruktur, Intersektionalität und Identität.

T RANSNATIONALE I NFRASTRUKTUR Zur materiellen und sozialen Infrastruktur gehören u.a. die formalen Organisationen um die transnationale Arbeit; bei dem Untersuchungsgegenstand handelt es sich um eine in hohem Maße formalisierte Form der Arbeitsmigration. Formelle Organisationen, die die grenzüberschreitende Arbeit regeln, sind für sie mindestens so relevant wie »informelle« soziale Netzwerke, deren Aufgaben sie teilweise übernehmen. Inzwischen wird die Rolle der formellen Vermittlung und Dienstleistungen rund um die Arbeitsmigration in der Literatur unter dem ursprünglich von Steven Castles und Mark Miller (2004: 53) geprägten Schlagwort »Migrationsindustrie« zunehmend in den Blick genommen (vgl. z.B. Collyer 2005; Krissman 2005, Krawietz

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2010). Julie A. Phillips und Douglas S. Massey (2000) charakterisieren diese Migrationsindustrie am Beispiel des amerikanisch-mexikanischen Falls – neben sozialen Netzwerken – als »zweiten Motor der Migration«. Ruben Hernandez-Leon (2005: 2) subsumiert darunter u.a. die geschäftsmäßíge Anwerbung von Arbeitskräften, Schleusung, Rechtsberatung für Migranten sowie Transport-, Kommunikations- und Finanzdienstleistungen (Überweisungen).10 Auch die temporäre Migration zwischen Oberschlesien und dem Zielland stützt sich sowohl in materieller wie in sozialer Hinsicht auf solche formellen transnational agierenden Organisationen, die im Folgenden zusammenfassend als »transnationale Infrastruktur« bezeichnet werden – gemeint ist damit die Gesamtheit von Akteuren, Organisationen und Artefakten, die eine sich über Grenzen hinweg aufspannende soziale und materielle Infrastruktur bildet und so das regelmäßige Pendeln im transnationalen sozialen Räumen ermöglicht (vgl. Pries 1998: 77). In dieser oberschlesischen transnationalen Infrastruktur lassen sich drei Bereiche abgrenzen, die im empirischen Teil der Arbeit ausführlicher dargestellt werden: Erstens Dienstleistungen und Artefakte, die das Pendeln der Untersuchungspersonen ermöglichen und vereinfachen, wie etwa Transport- und Kommunikationsdienstleistungen; zweitens die eigentliche Vermittlung und Organisation der Arbeit, also Netzwerke und formelle Organisationen, auf welche die Migranten zurückgreifen. Der dritte Bereich betrifft die Frage, welche Tätigkeiten ausgeübt und welcher berufliche Status damit jeweils in den beiden nationalen Kontexten verbunden ist (z.B. Student in Polen und Saisonarbeiter in den Niederlanden, Nebenerwerbslandwirt in Polen, Vollzeitbeschäftigung in Deutschland usw.). Zu betonen ist, dass die arbeits- bzw. organisationssoziologischen Aspekte der transnationalen Infrastruktur hier nicht im Vordergrund stehen – zu deren systematischeren Erhebung wäre ein grundsätzlich anderer Ansatz mit einer anderen Fragestellung erforderlich. Das systematische Interesse dieser Arbeit ist vielmehr ein konstruktivistisch-wissensoziologisches; es richtet sich auf die Lebenswelt, die subjektiven Sinnzuschreibungen in den Erzählungen der Migranten. Insofern hat die Darstellung der transnationalen Infrastruktur hier lediglich eine flankierende Bedeutung; sie basiert auf den biographischen Interviews, Expertengesprächen, unsystematischen Beobachtungen und informellen Gesprächen im Feld und bleibt daher explorativ.

10 Zahlreiche empirische Studien zur transnationalen Migration (etwa im Bereich der Haushaltsmigration) zeigen, welche Relevanz die formelle und informelle Organisation der Arbeit für die Migrationsstrategien und -verläufe der Akteure hat (vgl. Münst 2007, Elrick/Lewandowska 2008, Lutz/Palenga-Möllenbeck 2010, Krawietz 2010).

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Exkurs: Transnationalisierung und Erosion der traditionellen Arbeitswelt Es lassen sich Belege für die These anführen, dass die transnationale Arbeitsmigration in Oberschlesien zur Herausbildung einer neuen Mittelschicht beiträgt, die im postkommunistischen Polen – anders als in Deutschland – so nicht vorhanden bzw. erst im Entstehen begriffen ist. Andererseits unterscheidet sich die berufliche Lebenswelt, in der die befragten Migranten agieren, eklatant von derjenigen der alten Bundesrepublik, die Helmut Schelsky (1960: 219) bereits 1953 als »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« etikettiert hatte. Zwar hatte Gerhard Schulze (2005: 17) 1992 noch ironisch konstatiert, die »soziologische Fachwelt« sei Schelsky lange »heimlich dafür dankbar« gewesen, dass »er ihr mit seiner These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft […] etwas hinterlassen hatte, wovon man sich immer wieder von Herzen distanzieren konnte« – diente der Verweis auf die griffige Formel doch oft (tatsächlich oder vermeintlich) dazu, nach wie vor vorhandene Ungleichheit in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu bagatellisieren.11 Doch zugleich konstatierte Schulze, dass die kritische Distanz zu Schelskys These (wenn auch nicht zu der politischen Position ihres Urhebers) abgenommen habe. Auch die von Ulrich Beck (1983) und Bolte (1990) geprägten Schlagworte von einer Gesellschaft »jenseits von Stand und Klasse« bzw. einer »pluraldifferenzierten Wohlstandsgesellschaft« hätten letztlich dasselbe Phänomen beschrieben: Eine Gesellschaft mit relativ gesichertem und relativ gleichmäßig verteiltem materiellen Wohlstand, in der materielle Verteilungskonflikte in den Hintergrund getreten sind und langfristig planbare und geplante Erwerbsbiographien die Norm darstellen. Tendenziell galt diese Entwicklung für alle westlicheuropäischen Gesellschaften; Zygmunt Bauman (1995) verwendet für diesen Typ der Biographie die Metapher des »Pilgers« (siehe ausführlicher S. 140). Spätestens Anfang der 1980er Jahre sei unübersehbar geworden, so Schulze noch 1992, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik nicht mehr primär als eine nach materieller Verteilung »geschichtete«, sondern vielmehr als eine in Milieus mit hedonistischen bis postmateriellen Lebensstilen gegliederte Gesellschaft verstanden werden müsse. Doch bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sprach Richard Münch – zunächst zwar im Kontext der Verteilung von Umweltrisiken – für die westliche Gesellschaft explizit von einer bevorstehenden »Rückkehr der Verteilungskonflikte« (Münch 1994 b). Seitdem hat die Frage der sozialen Verteilungsgerechtigkeit wieder eine Intensität erreicht, angesichts derer Schelskys Beschreibung der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« in Deutschland fast schon wieder nostalgisch anmutet.

11 Zur Rezeptionsgeschichte des Begriffs siehe Schäfer (2000).

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Mit dem schrittweisen Durchlässigerwerden der nationalstaatlichen Grenzen, sowohl innerhalb der »alten« Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union als auch zu den ehemaligen Ostblockstaaten, entsteht sukzessive ein Wirtschaftsund Sozialraum, der einerseits von stärkeren bestehenden sozialen Ungleichheiten geprägt ist, als dies innerhalb der meisten betroffenen Nationalgesellschaften – insbesondere der bundesdeutschen – der Fall war, und der andererseits neue Ungleichheiten hervorbringt. Werner Schefold (2005: 536) fasst diesen Prozess wie folgt zusammen: »In den 1990er Jahren haben die Gefährdungen durch Arbeitslosigkeit und Dequalifizierung die Mitte der Gesellschaft, Angestellte und Facharbeiter erreicht. Die Gründe liegen in der Globalisierung der Ökonomie, verschärfter globaler Konkurrenz, dem Verlust von Wettbewerbsvorteilen, schnellem technischem Wandel und dies historisch dramatisiert durch die [deutsche Wieder-] Vereinigung. Das Gefüge sozialer Ungleichheit im Ganzen befindet sich auf dem Weg von einer pluralen Wohlstandsgesellschaft hin zu einer Gesellschaft prekären Wohlstandes […]. Ressourcenmangel wird zu einer Gefährdung, die lebensphasenspezifisch ist und von den sozialen Sicherungssystemen (noch) leidlich kompensiert wird, aber immer mehr Menschen erreichen kann […].«

In diesem Kontext gesehen ist Migration ein Phänomen, das nicht nur potenziell das Konstrukt der »nationalen Identität« in Frage stellt, sondern das auch innerhalb der bisher nationalstaatlich eingehegten Räume beiträgt zu einer Destabilisierung der Verteilungen von Lebenschancen und materiellen Gütern, die per se nichts mit ethnischer oder nationaler Identitäten zu tun hat.12 Ein zentrales Phänomen ist in diesem Zusammenhang die Erosion des »Normalarbeitsverhältnisse« – eine Norm, die engstens mit Schelskys »nivellierter Mittelstandsgesellschaft« und dem Lebensentwurf von Zygmunt Baumans Figur des »Pilgers« (siehe ausführlicher S. 140) verbunden ist – zugunsten der Ausbreitung prekärer, atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Auch wenn die dazugehörende »Normalerwerbsbiographie« als (für Männer) typische lebenslange Vollzeitbeschäftigung bis Anfang des 20. Jahrhunderts nur für eine privilegierte Minderheit typisch war und erst in der Nachkriegszeit diese zu einer verbreiteten Norm wurde, jedoch bedeutet ihre Erosion einen gravierenden Wandel (Kocka 2000: 489). Minssen (2006: 173) definiert den Begriff Normalarbeitsverhältnis – unter Verweis auf Hoffmann/Walwei (1998) und Dombois (1999) – anhand folgender

12 Auf das Spannungsverhältnis zwischen der Ungleichheit, die durch ungleiche Verteilung materieller Güter und Lebenschancen verursacht wird, und der Ungleichheit, die durch ungleiche gesellschaftliche Anerkennung von Identitäten verursacht wird, wird im Zusammenhang mit dem Begriff »Identität« ausführlicher eingegangen; siehe S. 131 ff.

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Merkmale: Unbefristetheit, Sozialversicherungspflicht, Vollzeitarbeit, feste Arbeitszeiten, tarifvertragliches Entgelt, Weisungsgebundenheit. Zu den im Gegensatz hierzu stark zunehmenden atypischen Arbeitsverhältnissen (Dombois 1999, Köhler/Krause 2010: 395 f., Bosch: 2010: 662 ff.) zählen befristete Arbeitsverträge, Leih-/Zeitarbeit (als ein genuin neues Phänomen) sowie »neue Selbstständigkeit«, bei der es sich zunehmend um Einpersonenunternehmen handelt, die an der Grenze der Scheinselbstständigkeit arbeiten (Schmid: 2000: 279). Diesen Entwicklungen entsprechend werden neue Anforderungen an die Arbeitskraft beobachtet; Günter Voß und Hans Pongratz (1998) prägten in dem Zusammenhang den Begriff eines »Arbeitskraftunternehmers«: Demnach ähnelt der heutige Arbeitnehmer zunehmend einem Unternehmer, der sich selbst vermarkten, seine Arbeit planen, steuern, kontrollieren und seinen gesamten Alltag streng organisieren muss, wodurch Privat- und Erwerbsleben immer stärker ineinanderfließen (Voß 2003, nach Minssen 2006: 154 f.). In Polen finden vergleichbare Entwicklungen statt, wobei hier freilich ein anderer historischer Hintergrund besteht: Auf die Vollbeschäftigung der Planwirtschaft vor 1989 folgte sukzessive ein dem amerikanischen vergleichbares marktliberales Wirtschaftsmodell. Das heutige polnische Arbeitsrecht ist im internationalen Vergleich sehr liberal (permissiv), etwa in Bezug auf den Abschluss von Zeitarbeitsverträgen, Kündigungsmöglichkeiten und Arbeitszeitregelungen. Dabei steht das Gros der Arbeitsbeziehungen ohnehin außerhab des Arbeitsrechtes – es wird nicht durch Arbeitsverträge (Dienstverträge), sondern durch Werkverträge geregelt; ca. 5% aller Erwerbstätigen sind Scheinselbstständige (Gardawski 2006, zitiert nach Portet 2007: 123, allgemein Portet 2007). Die Organisations- und Erwerbsstrukturen der oberschlesischen Arbeitsmigration fügen sich in diese Entwicklungen auf dem polnischen und den westlichen Arbeitsmärkten ein: Es dominieren Teilzeit-, saisonale und anderweitig befristete Arbeitsverhältnisse, die oft neben dem Besuch von Schulen oder Hochschulen und dem Bezug von Transferleistungen eingegangen werden. Dabei ist es die »geschickte« Verknüpfung verschiedener Formen von Erwerbsarbeit im Herkunftsund Ankunftsland (z.B. die Kombination aus einer Vollzeitstelle in Polen mit saisonaler Arbeit in Deutschland während eines bezahlten oder unbezahlten Urlaubs), die in vielen Fällen eine mehr oder weniger durchgehende Erwerbsbiographie ermöglicht. Wie bei anderen komplexen gesellschaftlichen Problemlagen fällt es auch hier schwer, Ursache und Wirkung, Gewinner und Verlierer von Entwicklungen eindeutig voneinander zu trennen: Durch die fortschreitende Prekarisierung der Arbeitswelt im Westen wird die Migration oft erst möglich gemacht und trägt wiederum zu dieser bei. Andererseits führt die gleichzeitige, in vielen Hinsichten schon weiter vorangeschrittene parallele Entwicklung in Polen dazu, dass die Arbeitsmigration überhaupt erst als attraktiv oder gar alternativlos wahrgenommen wird – unabhän-

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gig von der uns hier primär beschäftigenden Frage, inwieweit gesellschaftliche Konstruktionsprozesse und historische Vorbilder dabei eine Rolle spielen. In diesem Exkurs ging es letztlich nicht um eine Beantwortung dieser Frage, sondern vollständigkeitshalber um die Tatsache, dass – wie auch immer geartete – Transnationalisierungsprozesse nicht ausschließlich oder auch nur primär aus der Perspektive nationaler Identitätsfragen betrachtet werden sollten: Vielmehr könnte derselbe Forschungsgegenstand auch aus einem strikt arbeitssoziologischen Blickwinkel weitgehend ohne Rekurs auf das Thema Identität(en) beschrieben werden. Auch sollte Transnationalisierung nicht voreilig als emanzipierend zelebriert werden, wie dies bei einem Teil der frühen Literatur zum Thema zumindest implizit der Fall war: Denn auch wenn »nationale Identität« als bloßes Konstrukt begriffen wird, das bestimmte Individuen und Gruppen einem diskriminierenden Assimilationsdruck aussetzt, müssen diese einen zumindest tendenziell möglichen Wegfall dieses Drucks infolge von »Transnationalisierung« subjektiv keineswegs in erster Linie als Zugewinn an Freiheit wahrnehmen.

S OZIALE S TRUKTUREN

UND I NTERSEKTIONALITÄTSANALYSE

Traditionelle und neue Theorien der Sozialstrukturanalyse Wie im vorstehenden Abschnitt deutlich wurde, lässt sich das zentrale Thema dieser Arbeit – die Migrationsstrategien der oberschlesischen Arbeitsmigranten zwischen Transnationalität und Monolokalität – ohne Rekurs auf Fragen nach sozialstrukturell bedingter Ungleichheit nicht ausreichend verstehen und erklären. Die untersuchten Biographien haben gezeigt, wie relevant die gegenseitige Wechselwirkung bestimmter sozialer Strukturen für das Verständnis des Handelns und der Sinnzuschreibungen der Befragten ist. Hier stellt sich die Frage, wie diese Ungleichheiten in Bezug auf transnationale Sozialräume zu erfassen sind – schließlich kommen die in Container-Räume eingehegten Nationalgesellschaften, die in klassischen Theorien sozialer Ungleichheit als Referenz fungieren, nicht als solche in Frage.13 Statt dessen müssen mindestens drei Bezugseinheiten bei der Erforschung der Ungleichheitsstrukturen, von denen Transmigranten betroffen sind, berücksichtigt werden: Wie Pries am Beispiel der beruflichen Mobilität mexikanischer Migranten zeigt, bleiben die beiden Bezugseinheiten der jeweiligen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft(en) weiterhin be-

13 Vgl. Weiß/Berger 2008, Weiß 2006, oder Mau/Verwiebe 2009 in Bezug auf Sozialstrukturanalyse im supranationalen System der EU.

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gig von der uns hier primär beschäftigenden Frage, inwieweit gesellschaftliche Konstruktionsprozesse und historische Vorbilder dabei eine Rolle spielen. In diesem Exkurs ging es letztlich nicht um eine Beantwortung dieser Frage, sondern vollständigkeitshalber um die Tatsache, dass – wie auch immer geartete – Transnationalisierungsprozesse nicht ausschließlich oder auch nur primär aus der Perspektive nationaler Identitätsfragen betrachtet werden sollten: Vielmehr könnte derselbe Forschungsgegenstand auch aus einem strikt arbeitssoziologischen Blickwinkel weitgehend ohne Rekurs auf das Thema Identität(en) beschrieben werden. Auch sollte Transnationalisierung nicht voreilig als emanzipierend zelebriert werden, wie dies bei einem Teil der frühen Literatur zum Thema zumindest implizit der Fall war: Denn auch wenn »nationale Identität« als bloßes Konstrukt begriffen wird, das bestimmte Individuen und Gruppen einem diskriminierenden Assimilationsdruck aussetzt, müssen diese einen zumindest tendenziell möglichen Wegfall dieses Drucks infolge von »Transnationalisierung« subjektiv keineswegs in erster Linie als Zugewinn an Freiheit wahrnehmen.

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UND I NTERSEKTIONALITÄTSANALYSE

Traditionelle und neue Theorien der Sozialstrukturanalyse Wie im vorstehenden Abschnitt deutlich wurde, lässt sich das zentrale Thema dieser Arbeit – die Migrationsstrategien der oberschlesischen Arbeitsmigranten zwischen Transnationalität und Monolokalität – ohne Rekurs auf Fragen nach sozialstrukturell bedingter Ungleichheit nicht ausreichend verstehen und erklären. Die untersuchten Biographien haben gezeigt, wie relevant die gegenseitige Wechselwirkung bestimmter sozialer Strukturen für das Verständnis des Handelns und der Sinnzuschreibungen der Befragten ist. Hier stellt sich die Frage, wie diese Ungleichheiten in Bezug auf transnationale Sozialräume zu erfassen sind – schließlich kommen die in Container-Räume eingehegten Nationalgesellschaften, die in klassischen Theorien sozialer Ungleichheit als Referenz fungieren, nicht als solche in Frage.13 Statt dessen müssen mindestens drei Bezugseinheiten bei der Erforschung der Ungleichheitsstrukturen, von denen Transmigranten betroffen sind, berücksichtigt werden: Wie Pries am Beispiel der beruflichen Mobilität mexikanischer Migranten zeigt, bleiben die beiden Bezugseinheiten der jeweiligen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft(en) weiterhin be-

13 Vgl. Weiß/Berger 2008, Weiß 2006, oder Mau/Verwiebe 2009 in Bezug auf Sozialstrukturanalyse im supranationalen System der EU.

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stehen; eine dritte Komponente kommt hinzu – das genuin neue transnationale Referenzsystem (Pries 2008b: 60). Es ist also keineswegs so, dass die Gemeinschaft der transnationalen Migranten nunmehr als alleinige Bezugsgruppe fungieren würde, innerhalb derer Statuspositionen in einer von Ungleichheit bestimmten Hierarchie eingenommen werden; vielmehr bleibt die Sozialstruktur der jeweiligen Herkunft- und Ankunftsgesellschaften weiterhin wichtiges Bezugssystem. In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage – nämlich, welche Kategorien sozialer Ungleichheit relevant sind. Für die klassische Ungleichheitsforschung war hier stets die Kategorie »Klasse« zentral. Dabei können zwei Richtungen identifiziert werden: Die erste, differenzierungstheoretische Perspektive blende den Aspekt der Macht aus und konzentriert sich auf soziale Ungleichartigkeit (z.B. verschiedene Rollen). Die zweite, ungleichheitstheoretische Perspektive geht davon aus, dass unterschiedliche soziale Lagen unterschiedliche Lebenschancen bieten. (vgl. Schimank 1996, Schwinn 2007). Der Vorreiter der Ungleichheitstheorie war die marxistische Klassentheorie. Bis in die 70er Jahre dominierten dann schichtungstheoretische Ansätze: Hier wurde die »Klasse« nur durch ökonomische Faktoren wie Ausbildung, Beruf, Einkommen determiniert. Seit der Mitte der 70er Jahre werden unter dem Einfluss neuer Gesellschaftstheorien wie etwa Ulrich Becks Modernisierungstheorie neue Konzepte der Klasse entwickelt: Neben den klassischen ökonomischen Faktoren kommen neue hinzu, wie Lebensstile, Gender, Habitus, Religion, Alter. Ein Beispiel für diese neue Ansätze ist Stefan Hradils Konzept des sozialen Milieus; demnach sind für die einzelnen Milieus bestimmte Denk- und Verhaltensweisen charakteristisch, die sich etwa in der Einstellung zur Arbeit, Werten, Normen, Geschmack manifestieren (vgl. Geisler 2002). Das derzeit einflussreichste ungleichheitstheoretische Konzept ist Pierre Bourdieus (1982) Auffassung vom Klasse. Zentral für diesen Ansatz ist dabei Bourdieus Konzept verschiedener Sorten von »Kapital«, die über die Positionierung eines Individuums in der Gesellschaft entscheiden. (Das Konzept der verschiedenen Kapitalien wird weiter unten ausführlicher besprochen.) Kurzum: Die gegenwärtige Ungleichheitsforschung schließt immer mehr Formen sozialer Ungleichheit ein; zugleich beklagen viele Forscher, dass diese Kategorien additiv und generell innerhalb der eigenen Disziplin durch verschiedene Bindestrich-Soziologien betrachtet werden (wie Klassenforschung, Geschlechterforschung, Ethnizitätsforschung); es fehle heute ein gesamtgesellschaftlicher theoretischer Bezugsrahmen, um diese Kategorien sinnvoll zu ordnen (vgl. Weiß u.a. 2001: 7ff., Schwinn 2007: 88). Ein derzeit viel diskutiertes analytisches Konzept, das dieses Defizit überwinden will, ist die Intersektionalitätsanalyse – ein aus der Geschlechterforschung stammendes Konzept der Ungleichheitsforschung, auf das später detaillierter einge-

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gangen wird (siehe S. 125). Wie bei der Darlegung des Forschungsstands zur oberschlesischen Arbeitsmigration gezeigt wurde und allgemein aus der Literatur zur Ungleichheitsforschung und Migrationsforschung bekannt ist, spielen bestimmte Strukturgrößen eine besondere Rolle bei Migranten: neben der Klassenzugehörigkeit sind dies vor allem Ethnizität/race, Staatsangehörigkeit und Geschlecht. So fiel bereits bei der ersten Durchsicht der Literatur zum Thema der oberschlesischen Arbeitsmigranten auf, dass es sich bei dieser Arbeitsmigration um eine typisch männliche Migration handelte: In den 90er Jahren stellten Männer mit ca. 70% die überwältigende Mehrheit der Migranten. Seitdem es Oberschlesier seit den frühen 2000er Jahren auch in die Niederlande zieht, wuchs der Anteil der Frauen allerdings deutlich (JoĔczy 2003a: 146, 2005:49). Diese Verschiebung lässt sich natürlich mit der Vergeschlechtlichung bestimmter Arbeitsmarktsektoren erklären: So arbeiten die meisten Doppelstaatler in Deutschland im Bausektor; die niederländische Landwirtschaft ist dagegen nicht gender-spezifisch und somit scheinbar sowohl für Frauen als auch Männer offen. Die Erwerbsbiographien in dieser Studie zeigen jedoch mehr als diese auf der Hand liegende Erklärung: Die Wirkung der Kategorie Geschlecht lässt sich nicht allein mit den typischen »Männer-« oder »Frauentätigkeiten« in den verschiedenen Arbeitsmarktsektoren erklären; vielmehr haben Männer und Frauen, bedingt durch ihre jeweiligen gesellschaftlichen Rollen, z.B. auch verschiedene Präferenzen in Bezug auf Arbeitszeiten. Solche Erscheinungen geraten leicht aus dem Blickfeld, da die Migrationsforschung, wie schon länger beklagt wird (siehe u.a. Morokvasic 1984, Lutz 1991, 2004, Kofman 1999), einen Gender-Bias aufweist: Sowohl theoretisch als auch empirisch wird in erster Linie die männliche Migration betrachtet und als »Normalfall« unterstellt, wofür es mehrere Ursachen gibt (für einen Überblick vgl. Lutz 2010: 1648f.). Heute wird dafür plädiert, Geschlecht nicht mehr nur als eine statistische Variable zu behandeln, d.h. etwa reduziert auf die Frage wie viele Männer und Frauen migrieren, vielmehr als eine »treibende Kraft der Migration« zu betrachten (Mahler/Pessar 2006). So zeigen neuere Studien, dass Geschlecht nicht nur in Bezug auf bestimmte Arbeitsmarktstrukturen eine Schlüsserrolle spielt, sondern in den Familien, Haushalten, sozialen Netzwerken, bei der Organisation der Arbeit, Migrationsund Wohlfahrstaatspolitiken und öffentlichen Diskursen mitschwingt (vgl. Ramirez/ Sotelo 2009, Lutz 2007, 2008, 2009, Lenz u.a. 2007). Eine der zentralen Fragen in der heutigen Migrationsforschung bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Migration und den jeweiligen Geschlechterordnungen, d.h. das »historically constructed pattern of power relations between men and women and definitions of femininity and masculinity« (Connell, 1987: 98f). Warum migrieren Frauen bzw. Männer, wie werden Entscheidungen zur Migration getroffen, welche Konsequenzen hat Migration von Männern und Frauen auf die Geschlechterbeziehungen – stellt sie diese in Frage oder führt sie zu einer

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Retraditionalisierung? Welche Konsequenzen hat der durch die feminisierte Migration ausgelöste, sogenannte care drain für die Umverteilung der reproduktiven Arbeit in den Herkunftsländern? Eine paradigmatische Veränderung innerhalb der gender studies war ausschlaggebend für diese neuen Fragestellungen: die Verschiebung von der Frauen- hin zur Geschlechterforschung. Mit der Einführung der Kategorie Gender wird nicht mehr ausschließlich auf die biologische Komponente von Geschlecht (sex), sondern auf dessen soziale Komponente (gender) in Form sozialer Praktiken, Identitäten und Institutionalisierungen abgestellt. Es gibt aber noch einen weiteren theoretischen Impuls aus der feministischen Forschung, der für das Verständnis der Sozialstruktur oberschlesischer Transmigranten behilflich ist. So fragten sich Ende der 1980er Jahre, unter den Einfluß der black women studies, immer mehr feministischen Thoretikerinnen, wie den Differenzen zwischen den Frauen – etwa durch Differenzlinien race, Ethnizität, Klasse, Gender, besser die Rechnung getragen werden könnte.14 In Antwort darauf entstand das Konzept der Intersektionalität, das die Wechselwirkung von Gender mit anderen möglichen Achsen sozialer Ungleichheit in den Blick nahm. Intersektionalitätsanalyse Das in der feministischen Theorie entwickelte Konzept der Intersektionalistätsanalyse versteht sich als ein analytisches Konzept zur Rekonstruktion sozialer Ungleichheit (vgl. Crenshaw 1989). Dabei nimmt es die soziale Position von Akteuren an »Schnittpunkten« mehrerer verschiedener Ungleichheitskategorien in den Blick – klassischerweise sind dies mindestens die drei bereits erwähnten Kategorien Geschlecht (Gender), Rasse/Ethnizität und Klassenzugehörigkeit. Es existieren hierzu zwei Konzepte – ein älteres, »essentialistisches«, sowie ein neueres, »konstruktivistisches«. Das ältere, essentialistische Konzept nimmt eine »dreifache Unterdrückung« (Crenshaw 2004) an – eine Kombination von drei Arten relativ statischer Diskriminierungsmechanismen, die sich quasi »aufaddieren«: Eine Frau wird automatisch als solche diskriminiert; zusätzlich schwarz zu sein, bedeutet eine doppelte Diskriminierung, einer Unterschicht anzugehören eine dritte. Im Gegensatz zu diesem essentialistischen, »additiven« Ansatz schlagen Autoren wie wie Anthias (1998) und Yuaval-Davis (1994) eine Auffassung von Intersektionalität vor, indem das Zusammenwirken von mehreren Diskriminierungsformen als Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses und der sozialen Praxis ist – die Rolle der Praxis soll dabei betont werden durch Schlagworte wie doing gender, doing ethnicity usw.:

14 Ausführlicher zur Entstehung des Konzeptes siehe Yuval-Davis 2010: 186 f., Lutz/Supik/ Herrera 2010: 9 ff.

126 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN »Doing gender beschreibt Geschlecht als ein Ensemble alltäglicher Handlungen, als Wahrnehmungs-, Darstellungs-, und Zuschreibungsroutinen […] »Doing ethnicity ist als relationale Kategorie ebenfalls hierarchisch strukturiert und habitualisiert. Genau wie bei Gender stehen die Prozesshaftigkeit und die Konstruktionsleistung im Mittelpunkt der Betrachtung…« (Lutz 2007a: 39f.)

In diesem Sinne sind die sozialen Kategorien wie Gender, Klasse usw. keine binären Kategorien, sondern relational und kontextabhängig. So ist das Beispiel einer schwarzen und zugleich wohlhabenden Frau nicht nur als »Ausnahme von der Regel« möglich, sondern kann hier theoretisch erklärt werden. Den gleichen konstruktivistischen Ansatz zu sozialen Kategorien im Zusammenhang mit Theorien zu Identitätsbildung verfolgt Stuart Hall (vgl. oben). Im Bereich der Migrationsforschung haben etwa Lutz und Davis (2005) und Lutz (2007a) gezeigt, wie Identitäten von Migranten mithilfe der Intersektionalitätsanalyse rekonstruiert werden können. Im folgenden Schritt wird das hier zugrunde gelegte Verständnis von Intersektionalität dargestellt. Zunächst gehen wir von der Kontextabhängigkeit und Relationalität der Ungleichheitskategorien aus: Jede Kategorie hat ihren historischen und sozialen Kontext, den es zu erfassen gilt. Es gibt keine »fixen«, als solche »real existierenden« Kategorien – vielmehr sind sie stets Resultat einer sozialen Konstruktion. So kann etwa die Kategorie Alter in einer bestimmten sozialen Situation positiv wirken, in einer anderen dagegen negativ (Yuval-Davis 2006: 201). Daraus folgt, dass die Diskriminierungskategorien nicht als feste Größen zu betrachten sind, die sich einfach addieren; vielmehr ist ihre Zusammenwirkung aus ihrer gegenseitigen Beziehung heraus zu verstehen. Die spezifischen Kombinationen (»Intersektionen«) solcher Kategorien müssen daher nicht zwangsläufig (negativ) diskriminierend wirken; vielmehr können sie »unter dem Strich« durchaus auch die Besserstellung eines Individuums verursachen. Zur verbreiteten Kritik am Intersektionalitäts-Ansatz gehört der Vorwurf, er berücksichtige nur die subjektive, nicht jedoch die strukturelle Komponente der beobachteten Größen wie Ethnizität, Geschlecht und Klasse (vgl. Klinger 2003, nach Lutz 2007b). In Reaktion darauf entwickelten andere Autoren Konzepte von Intersektionalität, die gezielt weitere Analyseebenen einbeziehen: So nennt etwa Anthias (1998: 512) vier solcher Ebenen: die Ebene der Erfahrungen eines einzelnen Individuums, die Ebene der intersubjektiven Beziehungen und Praktiken zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, die Ebene der Institutionen und die Ebene der Symbole und Repräsentationen. Vergleichbare Vorschläge macht Yuval Davis, indem sie zwischen verschiedenen Facetten/Ebenen der Gesellschaftsanalyse differenziert. Sie unterscheidet zwischen Positionierungen von Individuen in sozioökonomischen Machtgefügen, erfahrungsbedingten Zugehörigkeiten und Identitäten und normativen Wertsystemen (Yuval-Davis 2010: 189).

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Eben diese theoretische Perspektive einer Mehrebenenanalyse, die sowohl die subjektiven Positionierungen und Alltagserfahrungen der Individuduen sowie deren soziale Strukturierung der Ungleichheitsforschung anbietet, macht den Einsatz der Intersektionalitätsanalyse für die Analyse von biographischen Erzählungen der oberschlesischen Arbeitsmigranten attraktiv. Aus der biographischen Perspektive der Individuen kann so die Erklärungskraft der Kategorien Geschlecht, Klasse, Staatsangehörigkeit/Ethnizität usw. für soziale Praktiken, Identitäten aber auch größere Sozialstrukturen wie soziale Beziehungen, Organisationen und Institutionen geprüft werden. Ein weiterer umstrittener Punkt ist die Frage, welche Kategorien der Ungleichheit für die Intersektionalitätsanalyse relevant sind. In der Diskussion werden drei Arten von Kategorien gehandelt: »Antikategorien«, »Intrakategorien« und »Interkategorien« (McCall 2005): Der »antikategoriale« Ansatz stellt auf die Dekonstruktion von Kategorien und Konzepten ab; »Intrakategorien« beziehen sich auf Inhalte und Grenzen von den Kategorien selbst und »Interkategorien« schließlich stehen für die Beziehungen zwischen den sozialen Kategorien. Yuval Davis (2010: 189) spricht sich für einen Ansatz aus, der diese unterschiedlichen Herangehensweisen nicht als sich gegenseitig ausschließend betrachtet, sondern »die Sensibilität und Dynamik des intrakategorialen Ansatzes mit der sozioökonomischen Perspektive des interkategorialen Ansatzes kombiniert.« Zur Diskussion um Kategorien gehört auch die Frage, ob nur die für eine Gesellschaft dominanten Ungleichheitskategorien berücksichtigt werden sollten, d.h. die »klassische Triade« Gender, race und Klasse, oder ob die Liste um weitere Kategorien erweitert werden muss (wie etwa Alter, Behinderung). In dieser Arbeit wird die zweite Position eingenommen – d.h. es werden nicht schematisch ausschließlich Gender, race und Klasse berücksichtigt (Butler 1990, nach Lutz 2007b; Knapp 2005); vielmehr werden zusätzlich die relevant erscheinenden Kategorien induktiv aus dem empirischen Material gewonnen.15 Konkret wurden dabei anhand der Selbstbeschreibungen und geschilderten Praktiken Kategorien identifiziert, die fallübergreifend relevant erscheinen. Dabei ergaben sich – zusätzlich zu den von vornherein »gesetzten«, d.h. Gender, Klasse, Ethnizität – die Kategorien Generationszugehörigkeit, Lebenszyklus und familiäre Konstellation. Im Folgenden sollen die insgesamt sechs Kategorien und ihre hier zugrunde liegenden Definitionen kurz vorgestellt werden.

15 Zur Verbindung von deduktiver und induktiver Vorgehensweise in der Intersektionalitätsanalyse vgl. Winker/Degele 2011: 57.

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1. Generation/Kohorte »Generation« wird hier im Sinne Karl Mannheims (1928) sowohl als familiäre als auch historische Generation verstanden, die gemeinsame historische Erfahrungen und Muster von Reaktionen darauf teilt. Im Gegensatz zum absoluten Lebensalter stellt die bloße Zugehörigkeit zu einer Generation in der Regel keine Differenz dar, anhand derer sich Ungleichheit manifestiert, dennoch wird die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen von den Befragten subjektiv durchaus so wahrgenommen. Hierfür spielt insbesondere die Frage eine Rolle, welcher Teil der eigenen Sozialisation jeweils vor und nach der Zäsur des Jahres 1989 stattgefunden hat. Es konnten zwei distinkte Generationen von Arbeitsmigranten identifiziert werden: Die Angehörigen der ersten Generation waren in ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld vor 1989 mit einer starken Auswanderung konfrontiert und haben sich selbst dagegen entschieden, später jedoch die Pendelmigration aufgenommen, die sie dann teilweise als Norm bei der Sozialisation ihrer Kinder weitergeben. Zudem haben Angehörige dieser Generation von ihren eigenen Eltern noch »aus erster Hand« deren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die Grenzverschiebungen und die Diskriminierungserfahrungen der Nachkriegszeit vermittelt bekommen. Für die zweite Generation gilt beides nicht mehr: Die historischen Erfahrungen der Großelterngeneration haben für sie bereits den Charakter einer ferneren Vergangenheit ohne wesentliche Bedeutung für ihr eigenes Leben. Zugleich haben sie meist keine andere Realität politisch bewusst erlebt, als jene, in der Pendelmigration zur Alltagserfahrung gehört. Trotz dieses Unterschieds greifen beide Generationen auf transnationales biographisches Wissen über Migration zurück (vgl. Apitzsch 2009). 2. Lebenszyklus und familiäre Konstellation Die nächste strukturierende Differenzierungslinie ist der Lebenszyklus – hier traditionell verstanden als Durchlaufen sozial vorgegebener Lebensstadien, die unter anderem durch das Alter und soziale (familiäre, berufliche) Rollen determiniert werden (vgl. Fuchs-Heinritz 1994: 393). Kohli (1983: 85) sieht den Lebenszyklus als eine wichtige soziale Institution der modernen Gesellschaft, der eine vermittelnde Funktion zwischen dem Individuum und Gesellschaft hat. In der Migrationsforschung geht etwa die Sozialgeographie von einem Zusammenhang zwischen dem Lebenslaufzyklus und bestimmten Migrationsmustern des Akteurs aus. Sie unterscheidet hier zwischen drei analytischen Dimensionen des Lebenslaufzyklus, die zusammen in einer bestimmten Kombination die jeweilige Lebenslaufzyklusposition bestimmen: Erstens das Alter als demographisches Merkmal (Kindheit, Jugend usw.), zweitens die Erwerbslaufbahn als sozio-ökonomisches Merkmal und drittens die Haushaltszugehörigkeit (Entstehung, Auflösung, Mitgliederzahl) als soziodemographisches Merkmal (vgl. Werlen 1987: 145 f.).

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3. Haushaltszugehörigkeit Anders als bei Werlen wird die Zugehörigkeit zum Haushalt hier als eine separate Kategorie neben dem Lebenszyklus behandelt; mit der Kategorie »familiäre Konstellation« werden hier nicht nur die eher statistischen, demographischen Komponenten Familienstand und Haushaltsgröße berücksichtigt, sondern auch die soziologischen Aspekte der Familie als soziale Institution mit bestimmten Rollen. 4. Geschlecht Die Kategorie Geschlecht bezieht sich, wie in oben ausführlicher dargestellt, auf die soziale Konstruktion des Geschlechtes (gender) im Gegensatz zum biologischen Geschlecht (sex) (vgl. Aulenbacher u.a. 2010: 61 ff.). Hierbei richtet sich das Interesse in erster Linie darauf, wie Akteure durch ihre Alltagspraktiken das Merkmal Geschlecht sozial konstruieren – in der Literatur oft mit dem Schlagwort »doing gender« etikettiert – und als Identitätsressource nutzen. Darüber hinaus wird Geschlecht als eine strukturierende Variable in den in Bereichen Familien- und Arbeitsleben der Migranten analysiert. 5. Klasse Der nächste Aspekt, der die soziale Praxis der Migranten einerseits stratifiziert und zugleich durch sie reproduziert wird, ist der der »Klasse«. Klasse wird hier nicht ausschließlich anhand der traditionellen »vertikalen« ökonomischen Perspektive der Position auf dem Arbeitsmarkt bestimmt; vielmehr werden hier »horizontale« Kategorien, wie etwa Lebensstile (Hradil 2001), mit berücksichtigt. Analytisch wird dabei an das Konzept der Kapitalien Bourdieus angeknüpft, über welche die soziale Positionierung des Subjektes bestimmt wird. Bourdieu (1982) unterscheidet drei Arten von Kapital: Zunächst das ökonomische Kapital – hierzu gehören die klassischen Merkmale wie Position auf dem Arbeitsmarkt, materielle Ressourcen usw. Die zweite Kapitalsorte, das soziale Kapital, bezieht sich auf soziale Beziehungen und Zugehörigkeiten, auf die das Individuum zurückgreifen kann. Schließlich unterteilt sich das kulturelle Kapital in das (verinnerlichte) Humankapital, z.B. Wissen, (objektiviertes) materielles Kapital, z.B. Bücher, das institutionelle Kapital, z.B. Zeugnisse. Eine weitere Kategorie ist das symbolische Kapital. Hierbei handelt es sich um die soziale Legitimation der oben genannten Kapitalsorten. So begreift Bourdieu die soziale Klasse als Positionierung des Individuums entlang der Achsen der Ungleichheit: der Arten der Kapitalien, ihres Volumens und dem zeitlichen Verlauf. Dabei verläuft diese Positionierung relational – es ist eine dynamische und nicht mehr statische Klassenpositionierung. Die Positionierung entlang dieser Achsen wird dann weiter mit dem Konzept der sozialen Felder aufgefasst. So ergeben sie analytisch soziale Lagen (strukturelle Ausgangsbedingungen), Lebensstile (Praxis) und Habitus – die verinnerlichte Normierung der Praxis, manifestiert sich im

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Verhalten, Einstellungen, Geschmack. Bourdieu nimmt an, dass diese bestimmte soziale Gruppen hervorbringen, in denen alle drei Elemente vergleichbar sind. 6. Staatsangehörigkeit und Ethnizität Abschließend sind Staatsangehörigkeit und Ethnizität als – relativ offensichtliche – Kategorien zu benennen, anhand derer sich Ungleichheiten manifestieren, sowohl innerhalb der Gruppe der Migranten, als auch zwischen ihnen und der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Die Kategorie »Ethnizität« wird hier sowohl in Bezug auf subjektive Selbstbeschreibungen als auch Fremdzuschreibungen verwendet. Sie umfasst dabei sowohl herkömmliche nationale Kategorien (wie »polnisch« oder »deutsch«), als auch kleinere, lokal oder regional verortete Kollektive. Eine eindeutige Grenze zu »Nationalität« lässt sich dabei nicht ziehen, insbesondere da sowohl der deutsche als auch der polnische Nationalstaat ihre Bürgerschaften traditionell nicht – wie etwa Frankreich oder klassische Einwanderungsländer – auf Grundlage eines politischen Bekenntnisses, sondern ethnisch-kulturell definieren (vgl. Brubaker 1994).16 Insofern fallen Staatsangehörigkeit und Ethnizität sowohl im Bewusstsein der Befragten als auch in den Diskursen der polnischen und deutschen Öffentlichkeit oft (wenn auch oft nicht gleichzeitig) in eins. Dies bedeutet nicht, dass der Unterschied zwischen diesen Begriffen nicht bewusst wäre – wohl aber, dass ein offensichtliches Auseinanderklaffen von »ethnischer« Identität und formeller »Nationalität« (im Sinne von Staatsangehörigkeit) nach wie vor als Ausnahme von der Regel wahrgenommen wird. Die oben genannten sechs Kategorien wurden für die untersuchte Gruppe als die wichtigsten objektiven sozialen Strukturgrößen identifiziert, die Ungleichheit prägen. In Bezug auf die subjektiven Identitäten der Akteure war die Situation komplexer – wovon im folgenden Abschnitt die Rede sein soll.

16 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass – entgegen manchen optimistischen Annahmen – eine »großzügige« Verleihung der jeweiligen Staatsangehörigkeit gemäß dem ius solis das Fortbestehen von Exklusion, Diskriminierung und sozialen Konflikten entlang ethnischer Trennlinien nicht ausschließt, wie z.B. die Konflikte zwischen Mehrheitsgesellschaft und »sichtbaren«, spanisch- bzw. arabischsprachigen Minderheiten in den USA oder Frankreich nachdrücklich zeigen. Bereits Thomas Marshall (1964) wies diesbezüglich auf den Unterschied zwischen formaler politischer und tatsächlicher sozialer Inklusion hin.

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I DENTITÄT »Identität« ist ein überaus schillerndes Konzept; bis heute gibt es keine einigermaßen konzise, etablierte Definition, auf die sich Studien, die mit diesem Begriff arbeiten, berufen könnten – obwohl oder gerade weil die soziologische und psychologische Literatur darüber mittlerweile ganze Bibliotheken füllen könnte. Viele Autoren, die sich mit dem Konzept beschäftigen, verfahren notgedrungen nach dem Motto I know it when I see it: »Identity is a difficult term: more or less everyone knows more or less what it means, and yet its precise definition proves slippery« (Lawler 2008: 1). Auffällig sei dabei, dass Identität oft erst dann zum Thema werde, wenn sie als »bedroht« wahrgenommen wird – wenn eine »Identitätskrise« vorliegt, oder wenn Identität als bedroht empfunden wird (Lawler 2008: 1). Erik Erikson, der in der Psychologie Pionierarbeit für die Konzeptualisierung von »Identität« geleistet hat (siehe unten), räumt ein, dass Identität »unfathomable« und zugleich »all-pervasive« sei; »one can only explore it by establishing its indispensability in various contexts« (Erikson 1968: 9, zitiert nach Epstein 2006: 8). Ungeachtet seiner Unspezifischkeit ist es zu einem zentralen politischen Begriff avanciert. Dies gilt insbesondere für eine große »Grauzone« zwischen Wissenschaft und progressivem politischem Aktivismus, in dem die Anerkennung der Identitätsansprüche von benachteiligten Minderheiten (unter den Stichworten race bzw. ethnicity und gender) dem traditionellen Großthema materieller Verteilungsgerechtigkeit (unter dem Stichwort class) den Rang abgelaufen hat, wogegen sich mittlerweile bereits eine Gegenbewegung formiert.17

17 Vgl. den wegweisenden Essay von Charles Taylor (1994). Mit dem komplexen Verhältnis von gesellschaftlicher Benachteiligung durch die ungleiche Verteilung materieller Güter einerseits und der Anerkennung der »Identitäten« von Minderheiten beschäftigt sich in Deutschland seit Jahren ausführlich Axel Honneth (siehe z.B. Fraser/Honneth 2003). Kritiker des Konzepts der Anerkennung von Identitätsansprüchen bezeichnen »Identität« als »Inflationsbegriff Nr. 1« (Brunner 1987: 63, nach Eickelpasch/Rademacher 2004: 5) oder als modisches »Plastikwort« (so der Sozialhistoriker Lutz Niethammer, 2003: 631); Thomas Meyer (1997) sprach gar polemisch von einem »Identitäts-Wahn«, der – wie in Samuel Huntingtons These vom globalen »Kampf der Kulturen« – letztlich nicht zur Aufhebung, sondern vielmehr zur Legitimierung von ethnisch-kulturellen Diskriminierungen führe. Rogers Brubaker und Frederick Cooper (2000: 1) sehen von der Inflation des Identitätsbegriff weniger eine politische als vielmehr eine erkenntnistheoretische Gefahr ausgehen: »If identity is everywhere, it is nowhere«. Auf diese Probleme kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, sie sollten jedoch trotz der Entscheidung, »Identität« für unseren konkreten Zweck als nützliches heuristisches Konzept zu verwen-

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Den meisten Definitionsversuchen des Begriffs Identität ist gemeinsam, dass sie auf Abgrenzung (sowohl des Individuums von anderen Menschen insgesamt als auch einer bestimmten Gruppe von anderen Gruppen) und Kontinuität (sowohl einer persönlichen Biographie als auch der Geschichte einer Gruppe) abstellen, wobei Konsens besteht, dass es sich dabei meist um konstruierte Kategorien handelt, sodass Identität – wie andere Bestandteile der gesellschaftlichen Wirklichkeit – stets Resultat eines Konstruktionsprozesses ist – auch und gerade, wenn dies den Akteuren oft nicht bewusst ist oder geleugnet wird. Bei allen Schwierigkeiten, »Identität« zu definieren, ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Verständnis eines Menschen von seiner eigenen (individuellen wie kollektiven) Identität ein wichtiges Handlungsmotiv ist, wobei das daraus resultierende Handeln auf den ersten Blick weder (ökonomisch) rational sein, noch anerkannten gesellschaftlichen Normen und Rollen entsprechen muss. Von dieser Beobachtung ausgehend skizziert Uwe Schimank (2000: 121ff.) hauptsächlich unter Rückgriff auf Erving Goffmans klassische Studien das Modell eines »Identitätsbehaupters«, das er neben die etablierten Modelle des Homo sociologicus der klassischen Rollentheorie und des Homo oeconomicus des RationalChoice-Ansatzes stellt.18 Demnach sei die Identität einer Person weder eine »bloße Beschreibung ihres momentanen Ist-Zustands«, noch eine »vergangenheitsorientierte[…] lebensgeschichtliche[…] Rekonstruktion«, sondern richte eine »vergangenheits- und gegenwartsbezogene Sinngestalt des eigenen Lebens in die Zukunft aus« (Schimank 2000: 125, Hervorhebung EPM). Die zentrale Kategorie ist hier also Sinn. Obwohl einer ganz anderen Tradition soziologischer Theoriebildung entstammend, ähnelt Schimanks »Identitätsbehaupter« damit dem Konzept des »psychischen Systems« bei Niklas Luhmann, das ebenso wie ein soziales System Sinn verarbeitet, d.h. aus einer unüberschaubar komplexen Umwelt an Informationen diejenigen auswählt und sich für den »Eigenbedarf« aneignet, die zu seiner Identität »passen«.19 Die Tatsache, dass in Luhmanns Terminologie sowohl individuelle psy-

den – hier das Verstehen der Handlungsmotive einer bestimmten Gruppe von Migranten – nicht völlig ausgeblendet werden. 18 Angemerkt sei hier, dass das zentrale Konzept des Rational-Choice-Ansatzes – der »Nutzen« (utility), an dem sich der Homo oeconomicus orientiert – nicht weniger diffus ist als das der »Identität«. 19 Vgl. z.B. Luhmann (1984: 92 f.). Interessant ist, dass die genaue Definition von »Sinn« nicht weniger Probleme bereitet, als die von »Identität«; so räumt Luhmann (1998: 93) ein: »Eine Definition zu versuchen, würde dem Tatbestand nicht gerecht werden, da bereits die Frage danach voraussetzt, dass der Fragende weiß, worum es sich handelt«. Statt

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chische Systeme (Bewusstsein) als auch soziale Systeme (die aus Kommunikation bestehen) Sinn verarbeiten, lässt es wiederum plausibel erscheinen, dass – in Schimanks Begriffen – auch kollektive Akteure Sinn zur Aufrechterhaltung von Identität verwenden. Ein Beispiel für einen Topos, der sowohl subjektiv (bei Individuen) als auch intersubjektiv (bei Gruppen) als Sinn-Ressource dient, ist der Begriff der »Heimat«, der Identität auf einen bestimmten Raum bzw. auf an einen bestimmten Raum verorteten sozialen Zusammenhang bezieht. Vielleicht mehr noch als Identität selbst ist »Heimat« ein Begriff, der erst dann fassbar wird, wenn er verloren gegangen ist, verloren zu gehen droht oder sein Verlust zumindest vorstellbar wird. Reinhart Kößler (2007: 393) versucht, den Begriff »Heimat« wie folgt zu fassen: »Propagandisten der Globalisierung feiern die durch Echtzeit-Kommunikation ermöglichte Nivellierung von Ort und Zeit, Kritiker beklagen Ortslosigkeit und Einebnung des Raumes. Besonnenere erinnern daran, dass neben dem hegemonialen ›Raum der Ströme‹, in dem sich vorab die Eliten des digitalen Zeitalters bewegen, der ›Raum der Orte‹ nach wie vor das Leben der ganz überwiegenden Mehrheit der Menschen entscheidend prägt […]. Zu dem konkreten Ort, an dem sie leben oder sich gerade aufhalten, unterhalten Menschen recht unterschiedliche Beziehungen. Manchmal sind dies Durchgangsstationen, manchmal kommt es zu längerem Aufenthalt, manche Orte werden als ›Heimat‹, auch als ›zweite Heimat‹ betrachtet und damit in ein System von ›Bindungen‹ […] einbezogen, die das persönliche soziale Netz von Personen und Gruppen ganz wesentlich bestimmen. Bei allen Schwierigkeiten einer genaueren Bestimmung von ›Heimat« erweisen sich Gefühle der Zugehörigkeit, der vertrauten Alltagsroutine, aber auch historisch immer wieder belegte Verlusterfahrungen für das Konzept von Heimat als entscheidend […].« (Referenzen ausgelassen)

Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung und Konzeptualisierung der individuellen Identität hat der Psychologe Erik Erikson (1960, 1970) geleistet. Er erforschte vor allem die Identitätsbildung im Prozess der kindlichen Sozialisation, betrachtete die Entwicklung der Identität aber als einen lebenslangen Prozess. Erikson identifizierte universale Aspekte der individuellen Identität – wie das Bewusstsein über eigene individuelle Identität und unbewusstes Streben nach der eigenen Kontinuität. In das Konzept der individuellen Identität bezieht er auch die kollektive Identität ein. Der soziologische und kulturanthropologische Blick auf Identität wurde bereits oben im Zusammenhang mit der Entwicklung von Migrationstheorien angespro-

einer Definition schlägt er daher eine höchst abstrakte »phänomenologische Beschreibung« vor, deren Diskussion hier den Rahmen sprengen würde.

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chen. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung von Theorien zur Identität erfolgte durch den Paradigmenwechsel fort von essentialistischen, hin zu konstruktivistischen Konzepten der Identität. Die konstruktivistische Auffassung von kollektiver Identität steht in der Tradition des interpretativen Paradigmas in der soziologischen Theorie, und dieses wurde maßgeblich von George Herbert Mead, Alfred Schütz, Herbert Blumer, Peter L. Berger und Thomas Luckmann sowie Erving Goffman geprägt, während die essentialistische Auffassung eher von dem normativen Paradigma wie dem Parsons’schen Strukturfunktionalismus getragen werden (vgl. Abels 1998: 39 f.). In dieser Arbeit wird Identität im Sinne der konstruktivistischen Tradition verstanden. Hierzu sollen einige wesentliche theoretische Beiträge zur Entwicklung dieses Konzeptes vorgestellt werden. Die Grundlagen für das moderne, konstruktivistische Verständnis von Identität finden sich bereits bei den soziologischen Klassikern. So entwickelte bereits Georg Simmel (1890) mit seinem Konzept von der Kreuzung sozialer Kreise eine moderne Auffassung von mehrfachen Zugehörigkeiten eines Individuums; ebenso Norbert Elias mit in seiner Idee der sozialen Verflechtungszusammenhänge. George Herbert Mead zeigte, dass soziales Handeln auf »Symbolen« – genauer gesagt der Interpretationen solcher Symbole – beruht, wobei diese Interpretationen im Laufe der Sozialisation erlernt werden, aber auch in der Kommunikation mit anderen ständig reproduziert und vor allem auch verändert werden. Mead führte auch das Konzept des »signifikanten Anderen« und des »generalisierten Anderen« ein, um den Prozess der Interpretation und Rollenübernahme zu erfassen (vgl. Abels 2007). Anknüpfend an Mead entwickelte Herbert Blumer (1969) den symbolischen Interaktionismus, mit dem eine Abwendung vom statischen Gesellschaftsbild des Strukturfunktionalismus einherging: Demnach sind soziale Regeln nicht etwas starres, das »die Gesellschaft« von außen an das Individuum heranträgt – vielmehr hängen sie von der permanenten Interpretationsleistung des Einzelnen ab, die immer in Interaktion mit anderen stattfindet. Der norwegische Ethnologe Fredrik Barth (1969) griff den Ansatz des symbolischen Interaktionismus auf, als er Identitätsbildungsprozesse bei ethnischen Gruppen untersuchte. Er zeigte dabei auf, wie ethnische Gruppen in einem Zusammenspiel von Selbst- und Fremdzuschreibungen symbolische Grenzen ziehen und damit die ethnische Identität konstruieren. Die Identitätskonzepte, auf die sich die Analyse in dieser Arbeit stützt, wurden maßgeblich von diesen sozialpsychologischen Grundlagen geprägt. Die Vorstellungen der Soziologie über menschliches Handeln und Identität wurden jedoch ebenso und zeitgleich von der Philosophie geprägt. Die Phänomenologie (vgl. Husserl 1928) setzt bei der Erklärung von Intersubjektivität stärker am Individuum an. Alfred Schütz (1932) nahm Husserls Ansatz auf und entwickelte

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das Konzept der »Lebenswelt«20, das er als Beitrag zu »Verstehen« des subjektiven Sinns von sozialem Handeln im Sinne Max Webers auffasste. Das Konzept der Lebenswelt verbindet theoretisch die subjektive und die konkrete Alltagswelt der Akteure, die ihrem Handeln zugrunde liegen – Typisierungen, Zeichen, Symbole usw. (Schütz/Luckmann 2003: 18). Kurz: Die Lebenswelt ist »jener Wirklichkeitsbereich […], den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist«. (Schütz/Luckmann 2003: 29)

Durch Existieren und Interagieren in dieser alltäglichen Lebenswelt sammelt der Mensch Erfahrungen, die sich zu einem individuellen Wissensvorrat zusammensetzten – so entsteht einerseits die subjektive Welt des Menschen, andererseits eine kollektive, intersubjektive Welt, indem sich die jeweils individuellen Wissensvorräte mehr oder weniger großflächig überschneiden – so bleiben die subjektive und die objektive Welt der alltäglichen Lebenswelt immer in einem Zusammenhang (vgl. Abels 2007: 70). Diese »phänomenologische« Perspektive erschließt den Zusammenhang zwischen der konkreten Welt der sozialen Praxis und der subjektiven Welt der Erfahrungen jedes Einzelnen – also die Art, wie der Mensch »seine Welt« konstruiert. Daher ist es auch ein wichtiges Instrument, um das Leben und den Alltag von Migranten zu interpretieren; es ermöglicht es, die subjektiven und objektiven Aspekte von Migrationsgeschichten in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. An das in dieser knappen Zusammenfassung dargestellte, konstruktivistische Verständnis von Identität wird auch in dieser Arbeit angeknüpft. Dabei weist die Untersuchungsgruppe der oberschlesischen Arbeitsmigranten jedoch eine Besonderheit auf, die es bei der Frage nach Identitäten, subjektiven Verortungen und Lebenswelten zu berücksichtigen gilt: Wie anhand der vorhandenen Forschungsliteratur deutlich wurde, sind für oberschlesische Arbeitsmigranten zwei Arten von »Grenzidentitäten« kennzeichnend: Die erste resultiert aus der eigenen tatsächlichen Migrationserfahrung, die zweite speist sich aus kollektiven Erinnerungen an eine knapp 70 Jahre zurückliegende Zeit, als die Region und ihrer Einwohner noch eine deutsch-polnische Grenzregion war. Die These, dass zwischen der Geschichte Oberschlesiens als einer Grenzregion und der heutigen Praxis der Arbeitsmigranten ein Zusammenhang besteht, stand dabei am Anfang des Forschungsinteresses: Wirkt sich die wechselhafte Geschichte

20 Der Begriff selbst wurde ursprünglich ebenfalls von Husserl geprägt (vgl. Abels 2007: 64).

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der Region zwischen Deutschland und Polen – und die davon beeinflusste Konstruktion kollektiver Identität – auch heute noch auf die Deutung der eigenen »Grenzerfahrungen« durch die Migranten aus? Robert R. Alvarez (1999: 229) sieht Grenzgebiete als »perfect laboratory to view the coming together, the clashing of and interface of cultures […]«. In diesem Sinne plädieren Tobias Wendl und Michael Rössler (1999: 11 f.) dafür, das »epistemologische Potential« von Untersuchungen zu Grenzregionen (border studies) zu nutzen und deren Erkenntnisse auch auf »metaphorische« Grenzregionen zu beziehen, wo andere Arten von sozialen Grenzenkonstruktionen und -überschreitung stattfinden – wie etwa bei Migranten und Angehörigen von Diasporas, die bestimmte Erfahrungen (Austausch und Konflikte über Grenzen hinweg, bestimmte Narrative von Identitäten, Differenzerfahrungen) mit den Bewohnern realer Grenzgebiete teilen (vgl. Alvarez 1999: 229, Wendl/Rössler 1999:11f). In gewisser Hinsicht fallen – so die hier vertretene These –»realer« und »metaphorischer« Grenzraum in Oberschlesien zusammen. Wie die oberschlesischen Arbeitsmigranten »transnational erinnern« und »transnational leben«, soll im dritten Teil des empirischen Kapitels dargestellt werden.

Methodischer Teil

M ETHODOLOGIE Der qualitative Forschungsansatz Die qualitative Forschung in den Sozialwissenschaften blickt auf eine lange Tradition zurück; zurückführen lässt sie sich letztlich u.a. auf Max Webers »verstehende Soziologie«, die nach dem subjektiv gemeinten Sinn von Handlungen fragt (Weber 1976: 1), oder auch auf den Ansatz zur Erforschung der subjektiven Selbstverortung von Akteuren, den Florian Znaniecki und William I. Thomas (1918-20) am Beispiel polnischer Emigranten in den USA in ihrer klassischen Studie The Polish Peasant in Europe and America entwickelten. Allerdings war die Popularität dieses Forschungsansatzes stets starken Konjunkturen unterworfen (vgl. Flick: 2006: 26). Von der quantitativen unterscheidet sich die qualitative Forschung durch ihr erkenntnistheoretisches Paradigma: Erstere basiert auf dem normativ-quantitativen Paradigma, das sich an den Naturwissenschaften mit seinen deduktiven Erklärungsmodellen orientiert. Der qualitative Ansatz dagegen, geleitet von dem interpretativqualitativen Paradigma, bedient sich induktiv-interpretativer Erklärungsmodelle. Laut Ronald Hitzler (2002: [6, eigene Paginierung]) steckt »hinter der Bezeichnung ›qualitative Sozialforschung‹ die Idee, es gehe dabei eben nicht um Quantitäten, also repräsentative Aussagen über Größenverhältnisse von Zuständen, Meinungen, Verhaltensweisen usw.«, sondern um Qualitäten, um verallgemeinerungsunfähige Aussagen über Eigenschaften sozialer Typen, Prozesse, Strukturen usw. Die qualitative Forschungspraxis bedient sich statt einer einzigen »Einheitsmethode« eines Spektrums verschiedener Methoden, die jeweils dem konkreten Gegenstand am ehesten angemessen sein sollen und orientiert sich, statt an isolierten, klar abgegrenzten Einzelaspekten am Alltagsgeschehen und/oder Alltagswissen in seinem Gesamtkontext. Sie berücksichtigt die subjektive Perspektive der Akteure und bemüht sich, zu »verstehen«, wie diese jeweils ihre Wirklichkeit konstruieren. Anstelle deduktiver Kategorisierungen, die von im Vorhinein gegebenen abstrakten

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Setzungen ausgehen, ist sie offen und geht zunächst vom Einzelfall aus und versucht von dort aus zu »vorläufigen« Verallgemeinerungen zu gelangen (vgl. Flick u.a. 2007: 24). Die traditionelle Kritik am qualitativen Ansatz legt die Gütekriterien der quantitativen Forschung als Maßstab an – hier insbesondere an Verallgemeinerbarkeit, Validität und Reliabilität der Ergebnisse. Qualitative Sozialforscher gehen auf verschiedene Weise mit dieser Kritik um: Im deutschsprachigen Raum versucht man zum Teil, sich an die von der quantitativen Sozialforschung vorgegebenen Kriterien anzupassen; im angelsächsischen Raum tendiert man selbstbewusster dazu, diesen Maßstab unter Verweis auf die größere Komplexität des eigenen Gegenstandsfelds zurückzuweisen (vgl. Steinke 2007: 319 ff., Flick 2005: 11 [eigene Paginierung]). Ines Steinke (2007: 323 f.) weist darauf hin, dass gerade der gegenstands-, situations- und milieubezogene Charakter sowie die Vielzahl der Forschungsprogramme und die begrenzte Standardisierbarkeit der Methoden die Festlegung eines Kriterienkatalogs fast unmöglich machen. Nur eine weite Formulierung von Kernkriterien und deren flexible, auf die jeweilige Untersuchung bezogene Anwendung betrachtet die Autorin als sinnvoll. Sie nennt in diesem Zusammenhang folgende für die qualitative Forschung spezifische Güterkriterien, die in der Literatur allgemein etabliert seien (vgl. auch Mayring 1990: 103): • •







• •

intersubjektive Nachvollziehbarkeit: Dokumentation des Forschungsprozesses, Interpretationen in Gruppen und die Anwendung kodifizierter Verfahren; Beschreibung des Forschungsprozesses: qualitatives Vorgehen hinsichtlich der Fragestellung, der Methodenwahl, der Transkriptionsregeln, der Stichprobenauswahl, der methodischen Einzelentscheidungen im Kontext der gesamten Untersuchung und schließlich die Indikation der Bewertungskriterien; Empirische Verankerung: Verwendung kodifizierter Methoden, hinreichende Textbelege, analytische Induktionen, Erstellung von Prognosen, kommunikative Validierung; Limitation: bei Fallkontrastierung Analyse von maximal und minimal kontrastierenden Fällen, explizite Suche nach abweichenden, negativen und extremen Fällen; Kohärenz: Überprüfung der gewonnenen theoretischen Aussagen auf innere Kohärenz, ggf. offene Benennung von Widersprüchen im Datenmaterial und dessen Interpretation; Relevanz: Ist die Fragestellung relevant? Welchen Beitrag leistet die entwickelte Theorie? reflektierte Subjektivität: die Selbstbeobachtung des Forschungsprozesses, Reflexion über die persönlichen Voraussetzungen, eine Vertrauensbeziehung zwischen Forscher und Informanten, Reflexion während des Feldeinstiegs (Steinke 2007).

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Abschließend stellt Steinke fest, dass erst durch Anwendung mehrerer dieser Kriterien beurteilt werden könne, ob das »bestmögliche« Ergebnis erreicht wurde (Steinke 2007: 331). Biographische Forschung Innerhalb der qualitativen Sozialforschung hat gerade die biographische Forschung eine lange Tradition: Ihre Anfänge lassen sich auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren (Apitzsch 1990, Nienaber 1995, Breckner 2005, Lutz 2007a). Dabei richtet sich das Interesse nicht auf die Biographie an sich, sondern auf die darin enthaltenen allgemeinen Erfahrungen von Menschen in einer Gesellschaft. Dem entsprechen die grundlegenden theoretischen Annahmen der soziologischen Biographieforschung: So wird erstens davon ausgegangen, dass die Genese der sozialen und psychischen Phänomene rekonstruiert werden muss, um diese umfassend verstehen und erklären zu können. Zweitens ist für die verstehende Soziologie die Rekonstruktion der konkreten Handlungen und ihrer Bedeutung für das Individuum unabdingbar. Drittens schließlich muss die Erzählung über die Vergangenheit immer vor dem Hintergrund des gesamten gegenwärtigen Lebens interpretiert werden (Rosenthal 2005: 165 ff.). Als Pionierwerk einer biographisch arbeitenden Soziologie gilt die bereits erwähnte, mehrbändige Studie von Thomas and Znaniecki (1918-1920) über die polnische Migration in die USA, in der methodologische Grundsteine für die Biographieforschung gelegt wurden. Zur Erforschung der Lebenswelt von Immigranten hat dann etwa die Chicago School die biographische Methode aufgegriffen und die Techniken zur Erhebung von biographischem Materials systematisiert (Dausien u.a. 2005: 10). Zwischen den späten 1930er Jahren und 1945 verlor die biographische Methode in der Soziologie sukzessive an Bedeutung; in der empirischen Forschung hatten fortan statistische Methoden Hochkonjunktur, während in der soziologischen Theorie die klassische Rollentheorie (auf der Mikroebene) und der Strukturfunktionalismus (auf der Makroebene) dominierten. Erst als der symbolische Interaktionismus dieses Paradigma in den 1970er Jahren zunehmend in Frage stellte, wurden die Voraussetzungen für eine Renaissance der Biographieforschung geschaffen; zu dieser kam es schließlich Ende der 1970er Jahre und verstärkt Anfang der 1980er Jahre – damals wurden in Deutschland nicht mehr nur Konzepte »importiert«, sondern auch neue entwickelt (vgl. Kohli 1981, Schütze 1983, Lamnek 2005, Fuchs 2005, besonders Rosenthal 2005: 162f). Das gegenwärtige Interesse an der biographischen Perspektive kann womöglich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklärt werden, die wahlweise als »Konsequenzen der Moderne« (Giddens 1990), »Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen« (Beck 1986: 25 ff.), »reflexive« bzw. »zweite Moder-

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ne« (Beck/Giddens/Lash 1995: 10) oder als »Postmoderne« bzw. »flüssige Moderne« (Bauman 1997, 2000) etikettiert werden. Von Bauman stammt auch eine eingängig bildhafte Beschreibung dieses das Lebens-, Zeit- und Ortsgefühl der Menschen radikal verändernden Vorgangs, der den typischen Bewohner der »solide« Moderne, den zielstrebigen »Pilger«, in einen »Touristen« verwandele, der mehr oder weniger orientierungslos durch die »verflüssigte« Moderne streife: »The overall result is the fragmentation of time into episodes, each one cut from its past and from its future, each one self-enclosed and self-contained. Time is no more a river, but a collection of ponds and pools. No consistent and cohesive life strategy emerges from the experience which can be gathered in such a world – none remotely reminiscient of the sense of purpose and the rugged determination of the pilgrimage. Nothing emerges from that experience but (mostly negative) rules of thumb: do not plan your trips too long – the shorter the trip, the greater the chance of completing it; do not get emotionally attached to people you meet at the stopover – the less you care about them, the less it will cost you to move on; do not commit yourself too strongly to people, places, causes – you cannot know how long they will last or how long you will count them worthy of commitment [...]« (Bauman 1995: 91).

Die zunehmende Erosion fester traditioneller Milieus, das allmähliche Verschwinden der über Jahrzehnte im Voraus subjektiv planbaren Karriere im Normalarbeitsverhältnis, die zunehmende Präsenz von Migranten (»Fremden« im Sinne Georg Simmels) mit komplizierten Lebenswegen bilden den Hintergrund, vor dem wieder verstärkt danach gefragt wird, wie das Individuum versucht, Sinn in diese Unübersichtlichkeit zu bringen. Vor diesem Hintergrund hat die (auto-) biographische Methode in mehrere Disziplinen Eingang gefunden – in die Geschichtswissenschaft (unter dem Stichwort Alltagsgeschichte bzw. oral history), in Psychologie, Ethnologie, Erziehungswissenschaft, Medizin und natürlich in die Soziologie (Fuchs-Heinritz 2005: 10f). Dabei kann man die Bezeichnung »(Auto-) Biographie« durchaus wörtlich verstehen: Denn anders als für die Lebenslaufforschung (life-course research), die sich für aggregierte und quantifizierbare Daten aus Lebensläufen interessiert, geht es hier vor allem um die Frage, wie Individuen die Geschichte ihres eigenen Lebens aktiv (be)schreiben, also Geschehnissen subjektiv Kontinuität und Sinn zuschreiben – die Biographieforschung betont also die Verschränkung des Individuellen und des Gesellschaftlichen und deren gegenseitige Bedingtheit: Weder wird das Handeln der Akteure als durch gesellschaftliche Faktoren determiniert betrachtet, noch werden soziale Phänomene auf bloße Aggregierung individueller Handlungen reduziert. Angenommen wird vielmehr ein »signifikante[r] Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und individuellen Strukturbildungsprozessen, zwischen der For-

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mation sozialer Lebenswelten und der Erfahrungsbildung von Individuen« (Dausien u.a. 2005: 7). Lutz und Davis (2005: 232) sehen die Biographieforschung gar als methodischen Zugang zur Strukturierungstheorie von Giddens (1984), die versucht, die klassische Dichotomie von Struktur und Handeln, vom »Objektiven« und »Subjektiven« zu überwinden und beide in ein dialektisches Verhältnis zueinander zu setzen. Obgleich diese dialektische Beziehung für alle Biographieforscher und theoretiker gemeinsamer Ausgangspunkt ist, sind die Perspektiven sehr unterschiedlich – was sich in der schwer überschaubaren Vielfalt theoretischer und methodischer Zugänge zum Phänomen »Biographie« manifestiert: Die Vielfalt reicht von linguistischen Methoden über hermeneutische Verfahren der Textanalyse bis zu Beobachtungsmethoden und diskursanalytischen Konzepten (Dausien u.a. 2005: 8). Verallgemeinernd gesprochen zielt die biographische Methode in jeder Spielart auf die Erhebung und Rekonstruktion einer Biographie ab, die jeweils als ein individuelles Fallbeispiel für die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« betrachtet wird, um die klassische Formulierung von Berger und Luckmann (1966) aufzugreifen. Die bevorzugte Erhebungsmethode ist dabei das narrative Interview, das der Produktion einer autobiographischen Erzählung dient. Die so entstehende Selbstdarstellung stellt nicht ein bloßes Abbild einer konstruierten sozialen Realität dar, sondern wird durch »Erleben, Erinnern und Erzählen« (Rosenthal 1995, 2005) zu einem individuellen Konstrukt. Es kommt also nicht vordergründig auf die objektive Wahrheit einer erzählten Biographie an, sondern auf die subjektiven Deutungen und Sichtweisen des Erzählers. An dieser Stelle kommen wir zu der ersten Kontroverse um die und innerhalb der Biographieforschung: Wie ist ihr Verhältnis zur Subjektivität bzw. Objektivität von Erzählungen? Diese und weitere »neuralgische Punkte«, die innerhalb und außerhalb der Biographieforschung kontrovers diskutiert werden oder die Forschungsgemeinschaft gar in Lager spalten, sollen im Folgenden im Anschluss an Fuchs-Heinritz (2005) skizziert werden. Zuerst geht es um den subjektiven bzw. objektiven Charakter des Datenmaterials und den Umgang damit. So argumentieren die einen Theoretiker (etwa Denzin 1978), dass es sich bei biographischen Erzählungen grundsätzlich um subjektive Daten handele, deren Subjektivität in den Vordergrund zu stellen sei. Für andere (etwa Deppe 1982, Hermanns 1981) stelle die Biographieforschung, gerade in den Teilen, wo es um »objektive Daten und Informationen« geht (Deppe 1982: 24, zitiert nach Fuchs-Heinritz 2005: 148), eine Beschreibung der Realität dar, die als solche ernst zu nehmen ist. Zudem gibt es eine Zwischenposition: Sie sieht die dichotome Gegenüberstellung des Subjektiven (Erfahrung) und des Objektiven (soziale Lage) als überholt an. Stattdessen plädiert sie als Kompromiss für eine explizite, sich gegenseitig ergän-

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zende Berücksichtigung sowohl subjektiver als auch objektiver Daten (HeinrichFuchs 2005: 147 ff.). Fuchs-Heinritz weist schließlich auch darauf hin, dass das dialektische Verhältnis vom Subjektiven und Objektiven ein seit mindestens 200 Jahren aktuelles philosophisches Thema sei – eine grundsätzliche »Synthese« ist somit kaum zu erwarten. Vielmehr müsse sich die Biographieforschung je nach konkreter empirischer Fragestellung auf das eine oder das andere konzentrieren: Interessiere sie sich nur für subjektive Sichten der Befragten, genüge eine einzelne biographische Erzählung als Datenquelle; wolle sie jedoch z.B. die relevanten sozialen Institutionen in die Fragestellung einbeziehen, werde sie stets auf zusätzliche Daten zurückgreifen müssen, wie Experteninterviews, Dokumentenanalyse usw. (Fuchs-Heinritz 2005: 149 f.). Ein zweiter umstrittener Punkt in der Biographieforschung ist die Frage ihrer Positionierung im Spannungsfeld zwischen qualitativem und quantitativem Forschungsparadigma. In diesem Zusammenhang stellt Rosenthal die Praxis qualitativer Forschung im Kontinuum dieser zwei Pole dar: Auf der einen Seite steht eine an quantitativen Methoden orientierte, auf der anderen Seite eine an interpretativen Methoden orientierte Variante. Erstere testet Hypothesen, interpretiert auf Grundlage von messbaren Häufigkeiten, weist einen niedrigen Grad an Offenheit bei der Erhebung und Auswertung auf und bevorzugt Methoden wie die qualitative Inhaltsanalyse. Letztere generiert erst aufgrund des Materials Hypothesen, interpretiert aufgrund der Rekonstruktion von Zusammenhängen, weist einen hohen Grad an Offenheit bei Erhebung und Auswertung auf und verwendet rekonstruktivsequenzielle Verfahren (vgl. Rosenthal 2005: 14 f.). Als dritten kontroversen Punkt nennt Fuchs-Heinritz die Frage der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse in der Biographieforschung. Zwar zielt die Soziologie grundsätzlich auf Erkenntnisse ab, die verallgemeinerbar sind, auch in der Einzelfallanalyse.1 Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Verallgemeinerung ist die gezielte Auswahl der Fälle, die das jeweils »Typische« repräsentieren sollen. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass »das Allgemeine‹ den Einzelfällen nicht »durch Aufsummierung, Durchschnittsbildung oder durch sukzessive Abstraktion« entnommen werden könne, sondern vielmehr bereits a priori »in den Einzelfällen steckt« (Fuchs-Heinritz 2005: 160). Der Autor bezieht sich damit auf die dokumentarische Methode im Sinne Karl Mannheims – auf das Hin- und Herpendeln zwischen dem Einzelfall und Verallge-

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Fuchs-Heinritz argumentiert jedoch, dass es auch Themen gebe, für deren Behandlung die Darstellung bestimmter »Extremfälle« durchaus ausreichend seien: So sei etwa bei der kritischen Auseinandersetzung mit Institutionen, wie z.B. Gefängnissen, die Erörterung eines einzelnen Falls von Missbrauch an einem Individuum völlig ausreichend, um das Gesamtphänomen zu charakterisieren.

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meinerung in der Auswertungsphase. Das ist damit die eine mögliche Position im Hinblick auf die Frage der Verallgemeinerung, stellvertretend z.B. für die rekonstruktive Vorgehensweise bei der Analyse. Anders als an quantitativen Methoden orientierten Analysetechniken leistet diese keine deskriptive Typenbildung aufgrund von Summen einzelner Merkmalskriterien oder »Bestandteile«. Die Typenbildung erfolgt hier, wie von Fuchs-Heinritz geschildert, aufgrund von Konfiguration und der Funktion der »Bestandteile« für das Ganze (vgl. auch Rosenthal 2005: 25 f.). Auf die methodologischen Kontroversen in der biographischen Forschung gehe ich hier nicht detaillierter ein; statt dessen werden einige dieser Fragen im Folgenden konkret im Zusammenhang mit den in dieser Arbeit verwendeten Methoden angerissen.

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DER

U NTERSUCHUNG

Forschungsdesign Programme und Methoden qualitativer Forschung in dieser Arbeit Wie oben bereits ausgeführt, ist die qualitative Forschung durch eine Vielzahl von »Schulen« und »Programmen« gekennzeichnet. Die Tendenz geht in Richtung einer »Hybridisierung« des Methodeneinsatz (Flick 2005: [10, eigene Paginierung], die Trennlinie verläuft dabei zwischen methodologischen Puristen und Forschungspragmatikern (Flick 2005: 11 [eigene Paginierung]). An dieser Stelle soll zunächst ein grober Überblick über die Programme der qualitativen Forschung gegeben werden, die das methodologische Vorgehen in dieser Arbeit geleitet haben; eine detaillierte Auseinandersetzung erfolgt dann weiter unten. Die von Glaser und Strauss (1967) postulierte, in der Empirie »geerdete« Theorieentwicklung (grounded theory) hat das methodische Vorgehen dieser Arbeit in zweierlei Hinsicht geprägt: Zum einen wurden – mit der Leithypothese über transnationale Migration als Ausgangspunkt, weitere theoretische Formulierungen während des explorativen Vorgehens aus der Empirie abgeleitet; zum anderen wurde das Konzept des theoretical sampling bei der Stichprobenauswahl eingesetzt – die Erhebung und Analyse des empirischen Materials erfolgte synchron, um die Stichprobenauswahl jeweils an den aktuellen Erkenntnisstand anzupassen. Der Ansatz der grounded theory stellte somit zugleich in allgemein erkenntnistheoretischer und auch in praktisch-methodologischer Hinsicht eine Orientierung für diese Arbeit dar. So schien auch bei der Fragestellung nach dem »transnationalen« Charakter der oberschlesischen Arbeitsmigration die biographische Methode sinnvoll; mit ihrer Hilfe konnte die Genese, Handlungsorientierung und der gesamtlebensweltliche Zusammenhang dieser Migration im Sinne der grounded theory untersucht werden. Hinzu kam die aus der Literatur und der allgemeinen Alltagserfahrung bekannte

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meinerung in der Auswertungsphase. Das ist damit die eine mögliche Position im Hinblick auf die Frage der Verallgemeinerung, stellvertretend z.B. für die rekonstruktive Vorgehensweise bei der Analyse. Anders als an quantitativen Methoden orientierten Analysetechniken leistet diese keine deskriptive Typenbildung aufgrund von Summen einzelner Merkmalskriterien oder »Bestandteile«. Die Typenbildung erfolgt hier, wie von Fuchs-Heinritz geschildert, aufgrund von Konfiguration und der Funktion der »Bestandteile« für das Ganze (vgl. auch Rosenthal 2005: 25 f.). Auf die methodologischen Kontroversen in der biographischen Forschung gehe ich hier nicht detaillierter ein; statt dessen werden einige dieser Fragen im Folgenden konkret im Zusammenhang mit den in dieser Arbeit verwendeten Methoden angerissen.

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U NTERSUCHUNG

Forschungsdesign Programme und Methoden qualitativer Forschung in dieser Arbeit Wie oben bereits ausgeführt, ist die qualitative Forschung durch eine Vielzahl von »Schulen« und »Programmen« gekennzeichnet. Die Tendenz geht in Richtung einer »Hybridisierung« des Methodeneinsatz (Flick 2005: [10, eigene Paginierung], die Trennlinie verläuft dabei zwischen methodologischen Puristen und Forschungspragmatikern (Flick 2005: 11 [eigene Paginierung]). An dieser Stelle soll zunächst ein grober Überblick über die Programme der qualitativen Forschung gegeben werden, die das methodologische Vorgehen in dieser Arbeit geleitet haben; eine detaillierte Auseinandersetzung erfolgt dann weiter unten. Die von Glaser und Strauss (1967) postulierte, in der Empirie »geerdete« Theorieentwicklung (grounded theory) hat das methodische Vorgehen dieser Arbeit in zweierlei Hinsicht geprägt: Zum einen wurden – mit der Leithypothese über transnationale Migration als Ausgangspunkt, weitere theoretische Formulierungen während des explorativen Vorgehens aus der Empirie abgeleitet; zum anderen wurde das Konzept des theoretical sampling bei der Stichprobenauswahl eingesetzt – die Erhebung und Analyse des empirischen Materials erfolgte synchron, um die Stichprobenauswahl jeweils an den aktuellen Erkenntnisstand anzupassen. Der Ansatz der grounded theory stellte somit zugleich in allgemein erkenntnistheoretischer und auch in praktisch-methodologischer Hinsicht eine Orientierung für diese Arbeit dar. So schien auch bei der Fragestellung nach dem »transnationalen« Charakter der oberschlesischen Arbeitsmigration die biographische Methode sinnvoll; mit ihrer Hilfe konnte die Genese, Handlungsorientierung und der gesamtlebensweltliche Zusammenhang dieser Migration im Sinne der grounded theory untersucht werden. Hinzu kam die aus der Literatur und der allgemeinen Alltagserfahrung bekannte

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Bedeutung der Geschichte für Oberschlesier – sowohl auf der kollektiven Ebene der Gesamtgruppe als auch auf der individuellen Ebene der Familie bzw. Individuums. Dieser Aspekt war ein zusätzliches Argument für die biographische Perspektive, denn er ermögliche es, die jeweils subjektive Erinnerung an die Geschichte der Familie und der Region im Kontext des Gesamtlebens der Migranten und der Migrationspraxis zu rekonstruieren. Die Erhebung der Daten erfolgte daher in erster Linie durch das narrativ-biographische Interview, orientiert an dem narrativen Interview nach Fritz Schütze (1977, 1983). Analytischer Rahmen: Ist die oberschlesische Arbeitsmigration »transnational«? Leitthese der Studie ist, dass es sich bei der oberschlesischen Arbeitsmigration möglicherweise um transnationale Migration handeln könnte; genauer formuliert wird die Frage gestellt, wie erklärungsmächtig die von Pries (2001b, 2004b, 2007, 2008) um den Typ der transnationalen Migration erweiterte Typologie der Migrationsformen ist. Auf das Vorliegen von Transnationalität wiesen bestimmte Aspekte dieser Migration hin, wie etwa: »Mobilität« anstatt dauerhafter Auswanderung, die Doppelstaatlichkeit der Migranten, zumindest vordergründig vorhandene historische transnationale Bindungen im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich. Allerdings ist Mobilität auch ein Merkmal eines in gewisser Hinsicht stärker am Rückkehrmigranten oder Diaspora-Migranten orientierten Typs, den Pries in seiner Typologie (2004b: 11) als recurrent migrant bezeichnet. Bei diesem tritt der Bezug zum Ankunftskontext eindeutig hinter den Bezug zum Herkunftkontext zurück, weshalb die Charakterisierung als »transnational« – jedenfalls im Sinne einer präziseren Definition des Begriffs, wie sie hier befürwortet wird – nicht gerechtfertigt erscheint. Um die Plausibilität des Typs »transnationaler Migrant« bzw. seines »Konkurrenten«, des recurrent migrant, in Bezug auf die vorliegende Untersuchungsgruppe zu überprüfen, wurde ein analytisches Raster genutzt, das auf die Idealtypen von Migranten nach Pries zurückgreift; dabei wurden die Praktiken des Idealtypus »transnationaler Migrant« operationalisiert. Auf die Problematik der Bezeichnungen Diaspora-Migrant vs. recurrent migrant wird im Folgenden noch ausführlicher eingegangen; davor ist zunächst die Verwendung des Begriffs des »Idealtyps« zu erläutern. Die Konstruktion von Idealtypen ist eines der Prinzipien der Weberschen Methodologie. Der Idealtyp ist ein analytisches Modell, das durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichnet ist (vgl. Münch 1994a: 169 ff.). Münch (2004a: 293) definiert den Idealtyp knapp als »konstruierte Beschreibung eines Phänomens, bei der bestimmte Aspekte zur Verdeutlichung ausgewählt und zugespitzt werden«. In Webers eigenen Worten entsteht er durch eine »einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und dis-

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kret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen«. Ergebnis ist ein »Gedankenbild«, das in »seiner begrifflichen Reinheit […] nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar [ist], es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbild stehe […] Für den Zweck der Erforschung und der Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet, seine spezifischen Dienste.« (Weber 1991: 73f.)

Der Idealtypus erfüllt also die Funktion, empirisch vorgefundene Aspekte zu systematisieren. Diese Systematisierungen dienen wiederum dazu, überprüfbare Hypothesen zu bilden und daraus Orientierungen für die empirische Forschungen abzuleiten. Ergebnis ist somit eine »Abstandsmessung« zwischen theoretischem Idealtyp und der empirischen Wirklichkeit, die sich durch den Hinweis auf den Idealtyp oft erst verständlich machen lässt (Mintzel 1997: 237). Mit dieser klassischen Definition im Hintergrund betrachten wir nun die von Pries (2007: 111) vorgeschlagenen fünf Idealtypen von Migranten, die in der folgenden Tabelle dargestellt sind. Idealtypen von Migranten nach Pries (2007) Merkmale Verhältnis zur Herkunftsregion

Emigrant / Immigrant Rückbezug, »Abschied nehmen«

Verhältnis zur Integration, Ankunftsregion »neue Heimat«

Rückkehrmigrant

DiasporaMigrant

Transmigrant

recurrent migrant

Dauerbezug, Identität wahrend

Dauerbezug als »gelobtes Land«

Ambivalenz, Gemengelage

Dauerbezug

Differenz, »Gastland«

Differenz, »Erleidensraum«

Ambivalenz, Gemengelage

Differenz

Grund der Migration

wirtschaftlich / sozialkulturell

wirtschaftlich / politisch

religiös / politisch / organisational

wirtschaftlich, organisational

wirtschaftlich

Zeithorizont der Migration

unbefristet / langfristig

befristet / kurzfristig

befristet / kurz- bis mittelfristig

unbestimmt, sequentiell

kurzfristig, befristet, wiederholend

Quelle: Pries 2004b: 10, 2007: 111.2

2

Pries (2007) verzichtet zugunsten einer umfassenderen Definition von »Diaspora« auf den recurrent migrant (Spalte rechts außen); er erscheint in dieser Tabelle ergänzend aus Gründen der besseren Übersicht.

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Zunächst zu den Migrantentypen, auf deren Auftreten das empirische Material geprüft wird. Pries (2001b: 59f.) kategorisiert die vier Migrantentypen – »Emigrant/Immigrant«, »Rückkehrmigrant«, »Diasporamigrant« und »Transmigrant« – jeweils anhand ihrer Beziehung zur Herkunfts- und Ankunftsregion, sowie des Hauptmotivs und des Zeitrahmens der Migration. Der Emigrant/Immigrant verlässt das Herkunftsland aus ökonomischen bzw. soziokulturellen Motiven, wandert einmalig in das Ankunftsland ein und integriert sich dort; sein Aufenthalt im Ankunftsland ist also auf Dauer angelegt. Der Rückkehrmigrant wandert aus, behält aber in allen wesentlichen Hinsichten einen primären Bezug zu seinem Herkunftsland bei und erhält seine Differenz zur Gesellschaft im Ankunftsland aufrecht. Seine Auswanderung ist oft politisch bzw. ökonomisch motiviert und – zumindest was die subjektive Sinngebung betrifft – zeitlich begrenzt. Der Diaspora-Migrant behält zumindest eine symbolische Bindung an das Herkunftsland, erhält ebenfalls die Differenzen zum Ankunftsland aufrecht, seine Auswanderung ist jedoch religiös, politisch oder organisatorisch motiviert und hat zumindest subjektiv den Charakter von Unfreiwilligkeit; die Migration ist mittelfristig und begrenzt. Der vierte Idealtyp, der Transmigrant, hat hingegen sowohl zum Ankunfts- als auch zum Herkunftsland eine ambivalente Beziehung; seine Migration ist ökonomisch bzw. organisatorisch motiviert und in ihrer Dauer undefiniert bzw. sequenziell. Ähnlichkeiten zum Diaspora- wie auch zum Rückehrmigranten weist der recurrent migrant auf. Auch er wahrt einen primären Bezug zum Herkunfts- und Distanz zum Ankunftskontext. Er verlässt die Herkunftsregion jedoch nur gelegentlich oder saisonal und für weniger als ein Jahr. Während seiner Abwesenheit lebt er außerhalb einer typischen Haushaltsstruktur und nimmt dabei ungewöhnliche Arbeitsund Lebensbedingungen in Kauf (Pries 2004b: 10). Vom Diasporamigranten unterscheidet sich der recurrent migrant insofern, als Letzerer freiwillig, als Individuum bzw. Haushaltsmitglied zu Erwerbszwecken migriert, Ersterer dagegen unfreiwillig (klassischerweise durch Vertreibung), als Teil einer Gruppe bzw. aus politischen oder religiösen Gründen migriert (Pries 2004b: 12). Robin Cohen (1997: 26)3 beschreibt das klassische Verständnis von Diaspora anhand folgender Merkmale: •

Zerstreuung aus einer Urheimat, oft traumatisch, oder zum Zwecke von Handel oder Kolonialismus,

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Cohen zählt insgesamt neun Merkmale auf, wobei semantisch ähnliche Merkmale hier aus Gründen der besseren Übersicht in vier Gruppen zusammengefasst sind.

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kollektive, idealisierende Erinnerung an das Heimatland, moralische Verpflichtung gegenüber diesem Land, Entstehung einer Rückkehr-Bewegung mit starker Unterstützung, starkes, langfristig stabiles ethnisches Gruppenbewusstsein, Glaube an gemeinsames Schicksal, Empathie und Solidarität mit Angehörigen der gleichen ethnischen Gruppe in anderen Ländern, schwieriges Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft, Wahrnehmung von Diskriminierung bis hin zu drohendem Unheil, aber auch: Möglichkeit eines eigenständigen produktiven Lebens in Ländern mit entsprechender Toleranz.

Mittlerweile wurde der Diaspora-Begriff von einer Tendenz zur zunehmenden Erweiterung erfasst, sodass immer mehr – letztlich theoretisch nahezu alle – Migrationsbewegungen darunter subsumiert werden könnten; wie Roger Waldinger (2008: xi) im Vorwort zu Stéphane Dufoix’ Diasporas überspitzt feststellt, »bedeutet ›Migration‹ zu sagen, heute ›Diaspora‹ zu sagen.« Gerade vor diesem Hintergrund jedoch erscheint es wenig hilfreich, die spezifische oberschlesische Ausprägung des recurrent migrant in einer weitergefassten Definition des Diaspora-Migranten aufgehen zu lassen. Dagegen sprechen einige trotz aller offensichtlichen Ähnlichkeiten vorhandene Unterschiede: Nicht nur fehlt völlig der religiöse oder politische Aspekt, der trotz seiner Bedeutungserweiterung im Begriff »Diaspora« für viele nach wie vor mitschwingt, sondern vor allem die Dauerhaftigkeit der Abwesenheit aus der Heimat. Im Gegenteil ist es gerade ein Kennzeichen der untersuchten Pendelmigranten, dass sie – obwohl sie eher als andere die Möglichkeit zur dauerhaften Auswanderung hätten – bewusst diese Form der Migration wählen, um sich eine DiasporaExistenz zu ersparen. Nicht zuletzt entfällt dadurch auch die für die klassische Diaspora nach Cohen typische Idealisierung des mehr oder weniger unerreichbaren (oder gar nicht mehr real existenten) Herkunftslands. Abgesehen von diesen, im konkreten empirischen Fall liegenden Gründen gegen die Benutzung des Diaspora-Begriffs gibt es auch einen allgemeineren Grund: Ähnlich wie teilweise schon das semantische Feld »transnational« läuft auch der Diaspora-Begriff Gefahr, durch inflationäre Verwendung seinen Bedeutungskern zu verlieren, auf jegliche grenzüberschreitende Phänomene übertragen und letztlich synonym mit »transnational« und ähnlichen Bezeichnungen zu werden. Rogers Brubaker stellt genau diese Tendenz fest und warnt: »If everyone is diasporic, then no one is distinctively so. The term loses its discriminating power […]. The universalization of diaspora, paradoxically, means the disappearance of diaspora.« (Brubaker 1995: 3)

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Zusammengenommen führen diese Überlegungen zu der Entscheidung, für den betreffenden Typ oberschlesischer Pendelmigration den Diaspora-Begriff zu vermeiden. An dieser Stelle muss nochmals betont werden, dass sich Idealtypen – wie schon von Weber geklärt – in der empirischen Realität nicht säuberlich voneinander trennen lassen: Tatsächlich bilden die vielfältigen zu beobachtenden Arten von Migrationshandeln ein komplexes Kontinuum, das sich allenfalls annähernd mit analytischen Kategorien »ordnen« lässt. Eine bloße Dichotomisierung von klassischen Emigranten und Transmigranten wäre dabei eine wenig sinnvolle Reduktion dieser Komplexität und provoziert höchstens selbstbezogene terminologische Kontroversen unter Migrationssoziologen (siehe die Einwände von Morawska 2001 sowie Fitzgerald/Waldinger 2004). Oberschlesischer Transmigrant / recurrent migrant In der vorliegenden Arbeit soll, der ethnomethodologischen Tradition von Harold Garfinkel folgend, nachgezeichnet werden, wie die Migranten ihre Lebenswelt mit ihren verschiedenen Bereichen konstituieren. Damit wird angeknüpft an Alfred Schütz’ (1932) unter Einfluss von Edmund Husserl entwickeltes Konzept der intersubjektiv geteilten »Lebenswelt« mit seiner konkreten und subjektiven Dimension, sowie an die analytische Kategorisierung nach Pries (2007: 112), der zwischen »konkreten« und »symbolischen« (transnationalen) sozialen Phänomenen unterscheidet. Schütz’ Lebenswelt besteht aus dem Wissensvorrat, der »von den Menschen in ihrer gemeinsamen Praxis geteilt und verwendet« wird. Er besteht »aus Typisierungen, Fähigkeiten, wichtigen Kenntnissen und Rezepten zum Betrachten und Interpretieren der Welt und zum Agieren in dieser Welt. Sie ist die sichere Basis für unser Leben« (Münch 2004b: 201). Davon ausgehend rekonstruieren wir hier »(selbst)zugeschriebene (objektive) Positionen und erfahrungsaufgeschichtete (subjektive) Identitäten« (Pries 2007: 112) von Migranten als Bestandteil von deren Lebenswelt. Das Phänomen »Raum« etwa, das für Migration von konstituierender Bedeutung ist, ist in diesem Sinne in der Lebenswelt weniger als »objektive« physikalische Tatsache zu betrachten. Vielmehr hat es – wie Thomas Faist (1999: 40) in seiner Beschreibung des Konzepts »transstaatlicher Räume« darlegt – eine entscheidende subjektive Dimension: »Space here not only refers to physical features, but also to larger opportunities structures, the social life and the subjective images, values and meanings that the specific and limited place represents to migrants.« In ähnlicher Weise unterscheiden die beiden Pionierinnen der Transnationalismusforschung, Nina Glick Schiller und Peggy Levitt (2004: 1010), in ihrem an Pierre Bourdieu angelehnten neueren Konzept der »transnationalen sozialen Felder« zwischen deren subjektiven und objektiven Dimension – Diese Felder setzten sich

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demnach zusammen aus of ways of being und ways of belonging, die sich beide auf konkrete Praktiken beziehen. »Ways of being refers to the actual social relations and practices that individuals engage in […], ways of belonging refers to practices that signal or enact an identity which demonstrates a conscious connection to a particular group«. (Glick Schiller/Peggy Levitt 2004: 1010)

Ausgehend von diesen Überlegungen wurden Indikatoren zur Erfassung der plurilokalen Verortung in der Lebenswelt der transnationalen sozialen Räume gesammelt. Die Indikatoren wurden deduktiv aus der Theorie (Transnationalismus-Ansatz und Integrationsforschung) sowie der Sekundarliteratur zur Untersuchungsgruppe und induktiv aus dem vorliegenden empirischen Material abgeleitet. Diese vorläufigen Indikatoren hatten heuristischen Charakter und konnten nicht pauschal auf die Empirie übertragen werden: Denn ein Teil der Indikatoren weist direkt auf das Vorhandensein »objektiver Transnationalität« hin (z.B. Besitz der doppelten Staatsangehörigkeit), die meisten jedoch müssen erst im Gesamtkontext der Falles interpretiert und so empirisch auf das Vorhandensein der uns vorrangig interessierenden »subjektiven Transnationalität« geprüft werden (z.B. die subjektive Einstellung zur doppelten Staatsangehörigkeit). Über die vorgefundenen Ausprägungen dieser Indikatoren konnte so die Zuordnung zu dem jeweiligen Idealtypus Transmigrant (bzw. recurrent migrant) bestimmt werden. Dabei ließen manche Indikatoren eine eindeutige Zuordnung zu, bei anderen musste sie in einem Gesamtkontext des Einzelfalls und der Zugehörigkeit zu einem hier rekonstruierten Realtyp analysiert werden. Die folgende Übersicht stellt die Indikatoren dar, die dabei berücksichtigt wurden; diese sind grob gegliedert in politische, ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte. 1. Politische Dimension: • Umstände der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit • Einstellung zur deutschen, polnischen und doppelten Staatsangehörigkeit • Wissen über polnische, deutsche, niederländische Politik • Beteiligung an Wahlen, politisches Engagement 2. Ökonomische Dimension: Migrationsstrategie: Typ, Ziel usw. Transnationale Erwerbsform Transnationalisierung des Unternehmens usw. ökonomische mentale Karte ökonomische Selbst- und Fremdbilder subjektive Erinnerungen an die ökonomische Geschichte der Region Praktiken aus dem Arbeitsleben

• • • • • • •

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3. Soziale Dimension: • soziale Kontakte und Beziehungen • soziale Strukturen (Rollen, Klasse, Gender, Lebenszyklus) • Praktiken aus dem Arbeitsleben und Familienleben • eigene Migrationsgeschichte vor 1989 • Orientierung an vor 1989 emigrierten Bezugspersonen • subjektive Erinnerungen an die soziale Geschichte der Region 4. Kulturelle Dimension: • Umstände der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit • Nutzung und Einstellung zu Sprachen bzw. zum Dialekt • Mediennutzung • Freizeitgestaltung: wie, wo, mit wem • Einstellung zu sozialen Institutionen/Organisationen: »deutsche Minderheit«, katholische Kirche, Religion • eigene Migrationsgeschichte vor 1989 – Einschätzung • Migration im sozialen Umfeld vor 1989 – Einschätzung • Wissen, Urteile, Einstellungen, räumliche Vorstellungen über polnische/ deutsche/niederländische Gesellschaft, Pflege und Weitergabe von Tradition • subjektiver Stellenwert der Geschichte, Erinnerungen • Identitäten und subjektive Verortungen, Werte- und Handlungsorientierung (z.B. bezüglich der Arbeit, Familie, Ausbildung, bezogen auf Ethnizität, Gender, Klasse), Autoritäten, Symbole und Bedeutungen, Gefühle • subjektive Erinnerungen an die kulturelle Geschichte der Region Zusammenfassend: Um die These zu prüfen, ob es sich bei den oberschlesischen Arbeitsmigranten um transnationale Migranten oder um recurrent migrants handelt, wurden die einzelnen Lebensbereiche der Migranten, ihre subjektiven Verortungen und konkrete Alltagspraktiken auf die Merkmale des Zeithorizonts der Migration und den Bezug zum Her- und Ankunftskontext überprüft. Dabei wurden die Indikatoren jedoch nicht losgelöst von dem Gesamtfall analysiert. Der hier gewählte Ansatz der biographischen Methode bestimmte das Analyseverfahren: So wurde im ersten Schritt eine biographische Fallrekonstruktion und daran anschließend eine ergänzende Kodierung auf der Ebene des Einzelfalls erarbeitet (dazu ausführlicher unten) und im zweiten Schritt eine empirisch fundierte Typologie aller Fälle erstellt. Diese Typologie soll dazu beitragen zu erklären, wie vorgefundene Indikatoren und Aspekte miteinander zusammenhängen – und warum einige Migranten »transnational« werden, während anderen ihren Lebensscherpunkt eindeutig in Oberschlesien setzten. Im Folgenden soll das hier eingesetzte Verfahren der Typenbildung erklärt werden.

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Typenbildung: vom Einzelfall zum Realtyp, vom Realtyp zum Idealtypus Die Typen- und Typologienbildung gilt als die am meisten verbreitete Auswertungsmethode in der qualitativen Forschung (Lamnek 2005: 241). Laut Lamnek (2005: 687) spricht man von »einer Typisierung […] in der Regel dann, wenn einzelne Aspekte eines gefundenen Phänomens gedanklich gesteigert als wesentliche Merkmale des Phänomens herausgestellt, als überindividuell angesehen und in ihrer spezifischen Konstellation als typisch bezeichnet werden, ohne dass sie immer in einer reinen Form in der sozialen Wirklichkeit zu finden wären.«

Bei der Typisierung handelt es sich also um einen Prozess der Abstrahierung von empirischen Sachverhalten anhand eines theoretischen Apparats von Kategorien, Konzepten, Theorien. Monika Wohlrab-Sahr (1994) stellt den Weg der Typisierung zwischen der Empirie und Theorie als mehrstufigen Vorgang dar: vom Einzelfall zur Fallstruktur, von der Fallstruktur eines Einzelfalles zum Realtyp (erste Abstrahierung der Fallstruktur) und schließlich zum Idealtyp (höchstes Abstraktionsniveau der Analyse als Teil eines theoretischen Modells). In der Regel begrenzt sich die Typenbildung auf Konstruktion von Realtypologien, die dann theoretisch erklärt werden. An dieser Stelle muss zunächst der Begriff der »Realtypen« bestimmt werden, auf dessen Bildung das rekonstruktive Auswertungsverfahren – im Gegensatz zum induktiven Teil des Forschungsprozesses (siehe oben) – abzielt: »Realtypen haben (im Gegensatz zu Idealtypen) einen empirischen Referenten, das heißt sie beziehen sich auf gegebene und vorfindbare Elemente und Merkmale der realen Welt« (Mintzel 1997: 231). Die vorliegende Arbeit ordnet das empirische Material mithilfe einer Real- und einer Idealtypologie. Die zentrale Frage lautet, wie hilfreich die Idealtypologie der temporären Migration in Bezug auf die hier untersuchte Gruppe ist – hier werden theoriegeleitet die Merkmalsausprägungen eines Transmigranten (plurilokale Verortung) bzw. recurrent migrant (monolokale Verortung) sowie ferner des »bivalenten Migranten« (Marginalisierung in beiden nationalen Kontexten) auf ihre Plausibilität befragt. Im nächsten Schritt werden die Idealtypen dann durch empirisch ausdifferenziertere Realtypen ergänzt, anhand derer jeweils die Migrationsstrategien und subjektiven Verortungen der Befragten aufgezeigt werden können. Die folgende Übersicht (nach Pries 1997: 439 f.) über die Bildung von Ideal- und Realtypen verdeutlicht die Unterschiede zwischen diesen:

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Idealtypen und Realtypen4 Merkmalsdimensionen und Konstruktionsmerkmale der Typen Inhalt und Qualität der Typen

Pole im Kontinuum »Idealtypen vs. Realtypen«

Idealtypen

Realtypen

wissenschaftlich generell zeitlos universell monothetisch Stellung/Funktion der Typenbildung im Erkenntnisprozess

zentral theoriegenerierend generalisierend

Vorherrschende Methoden und Verfahren

ex ante deduktiv »Generieren« qualitativ-heuristisch funktionale Reduktion

historisch spezifisch zeitgebunden lokal polythetisch untergeordnet methodischer Zwischenschritt spezifizierend ex post induktiv »Extrahieren« quantifizierend-berechnend statistische Reduktion

In der qualitativen Forschung gibt es wenige formelle Verfahren der Typenbildung; gerade deswegen muss der Prozess systematisch und nachvollziehbar durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass Typen »keine Klassen mit klar definierten Merkmal(sausprägungen) und festen Grenzen sind, sondern sich die Elemente, die zu einem Typus zusammengefasst werden, nur mehr oder weniger stark ähneln […], [deshalb] muss expliziert werden, wie die vorgelegten Typen konstruiert worden sind« (Kluge, 1999: 23, zitiert nach Lamnek 2005: 232).

Bei der Typologie geht es also um eine Gruppierung von Fällen, die eine interne Homogenität auf der Ebene des Typus und eine Heterogenität auf der Ebene der Typologie aufweisen (vgl. Kluge 2000: 2 [eigene Paginierung]). Eine der etablierten Methoden der Typenbildung ist das Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung nach Kelle/Kluge 1999. Es handelt sich um ein vierstufiges Verfahren: Im ersten Schritt wird induktiv aus dem vorliegenden empirischen Material sowie aus der Theorie der sog. Merkmalsraum aus Merkmalen, Dimensio-

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Diese Übersichtstabelle berücksichtigt nicht die abduktiv begründete Typenbildung, die traditionell in der Narrationsanalyse und Biographieforschung verwendet wird.

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nen und Aspekten erstellt. Durch Positionierung in diesem Merkmalsraum können Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Untersuchungsgegenständen festgehalten werden. Im zweiten Schritt erfolgt die Zuweisung der Fälle zu homogenen Gruppen. Im dritten Schritt werden die inhaltlichen Zusammenhänge analysiert, die den Ausprägungen des Merkmalsraums zugrunde liegen. In diesem Schritt kommt es in der Regel zur Reduktion und/oder Erweiterung der Merkmalsräume. Im letzten Schritt werden die Typen anhand der Merkmale und der ihnen zugrunde liegenden inhaltlichen Zusammenhängen beschrieben. Die vorliegende Studie knüpft an diese – stark vom realen Forschungsprozess abstrahierende – Vorgehensweise an, jedoch erfolgten die ersten drei Schritte nicht in dieser hier klar vorgegebenen Reihenfolge. Eine zentrale Rolle spielte stattdessen zunächst das vergleichend-kontrastierende Verfahren (Gerhardt 1984), in dem »Alternativfälle« und dem Idealtypus nahestehende »Optimalfälle« (Gerhard 1984: 67– 73) kontrastierend miteinander verglichen werden, wodurch die inneren Zusammenhänge der Typen und die für sie relevante Merkmale bzw. Dimensionen ausgearbeitet werden konnten. Am Ende stand schließlich eine Realtypologie von Migrationsstrategien oberschlesischer Arbeitsmigranten, welche die dominierenden Muster dieser temporären Arbeitsmigration »bündelt« und Erklärungen für diese Ausprägungen vorschlägt. Zugleich wird diese Typologie später zugrunde gelegt, um die »theoretische« Frage zu beantworten, inwieweit diese Migration als Beispiel für Transnationalisierung gelten kann. Diese Typologie rekonstruierter Migrationsstrategien bildet den ersten Teil des empirischen Kapitels. Darin wird das Migrationshandeln zunächst anhand von zwei Merkmalen typisiert: a) dem räumlichen Aspekt des Erwerbslebens (in welchem Land arbeiten die Migranten?); b) der Strategie, die die gegebene räumliche Verortung bestimmt (welche Motive, Ziele, Erwerbsformen liegen der räumlichen Orientierung zugrunde?) Im zweiten Teil wurden strukturelle Aspekte (Intersektionen von Ungleichheitsachsen) herausgearbeitet, die die Migrationsstrategien aus »objektiver« Perspektive erklären. Im dritten Teil konnten eindimensionale Typen (z.B. ethnische Identitätskonstrukte) bzw. bestimmte subjektive Muster (z.B. mentale Karten) herausgearbeitet werden, die Migrationsstrategien aus der »subjektiven« Perspektive beleuchten. Erhebungsmethoden: Das narrativ-biographische Interview Die biographische Methode lässt sich grundsätzlich mit zwei Gruppen von Erhebungsmethoden realisieren: mit der Analyse bereits vorliegender Dokumente (Briefe, Autobiographien) oder durch gezielte Erhebung von autobiographischen Erzählungen.

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Eine bewährte Technik der Erhebung solcher Erzählungen ist das sog. biographisch-narrative Interview. Wie bereits der Begriff andeutet, lassen sich darin zwei methodologische Schulen wiederfinden: »Narrativ« bezieht sich auf die Methode des narrativen Interviews nach Fritz Schütze (1977, 1983). Diese Interviewform zielt auf eine freie, ungestörte »Stegreiferzählung« des Interviewpartners ab. Demnach lassen sich mit der narrativen, offenen Gesprächführung die Handlungs- und Deutungsorientierungen der Subjekte am besten ermitteln. Dabei geht Schütze von der Annahme aus, dass jedes Individuum, unabhängig von seiner Schichtzugehörigkeit, über die Fähigkeit zum narrativen Erzählen verfügt (vgl. Schütze 1977: 51). Das biographisch-narrative Interview orientiert sich zudem an der Biographie des Befragten. Ob der Schwerpunkt der das Interview einleitenden Frage dabei auf der Biographie als solcher liegen sollte bzw. breiter aufgefasst werden kann – also bereits offenlegen soll, dass die erfragte Biographie »Mittel zum Zweck« der Erfassung größerer Zusammenhänge ist – ist umstritten. So fasst Schütze (1983: 285) das autobiographisch-narrative Interview breiter auf: die einleitende Frage könne sich entweder auf das gesamte Leben beziehen oder auf bestimmte, für die Fragestellung relevante Lebensphasen, etwa Karriere oder Migration. Gabriele Rosenthal (2005) geht dagegen davon aus, dass für jede relevante Forschungsfrage zuerst die Gesamtlebensperspektive rekonstruiert werden müsse; daher plädiert sie dafür, die »Stegreiffrage« zuerst nur auf die individuelle Lebensgeschichte zu beziehen. Für die vorliegende Arbeit wurde ein pragmatischer Mittelweg gewählt. Da die Interviewpartner im Vorfeld wussten – was sich aus praktischen Gründen schwer hätte »verheimlichen« lassen –, dass es um ihre Lebenserfahrung als Migranten geht, erschien es sowohl als forschungsethisch fragwürdig als auch als wenig glaubwürdig, diesen Aspekt in der Stegreiffrage komplett auszublenden; ein derartig unaufrichtiges und unauthentisches Vorgehen hätte in der Interviewsituation unter Umständen ein Grundmisstrauen erzeugen können, sodass die Nachteile eines solchen Vorgehens eventuelle Vorteile überwogen hätten. Die leitende Frage wurde daher wie folgt formuliert: »Ich möchte Sie bitten, dass Sie versuchen, auf Ihr Leben zurückzublicken und erzählen: Was war für Sie wichtig? Und dann könnten Sie mir erzählen, wie das mit der Arbeitsmigration angefangen hat, wie es verlief und bis heute aussieht?

Das biographisch-narrative Interview setzt sich aus drei Teilen zusammen (Schütze 1983: 285): Im ersten Teil wird die Erzählaufforderung gestellt. Es ist dabei die Aufgabe des Interviewers, die Erzählung nicht zu unterbrechen, aber ggf. durch erkennbar aufmerksames Zuhören aktiv zu fördern (etwa durch Nicken) – Schütze

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(1977: 28) spricht hier vom Interviewer als einem »produktiv zuhörenden Erzählpartner«. Im zweiten Teil, nachdem der Interviewpartner seine Erzählung endgültig erschöpft hat, stellt der Interviewer immanente Fragen – also solche, die direkt an die Erzählung anknüpfen und vertiefen bzw. erklären. Wichtig ist dabei, dass auch diese Fragen »narrativ« gestellt werden, d.h. offen genug und nicht argumentativ. In diesem und dem nächsten Teil kann der Interviewer sich eines Fragenleitfadens bedienen, dessen Inhalt im Vorfeld von der Theorie ausgehend vorbereitet bzw. dessen ergänzende Elemente er sich während der Erzählphase notiert hat. Im dritten schließlich Teil werden exmanente Fragen gestellt – also solche, die sich nicht konkret auf die Erzählung beziehen oder sich zwanglos daraus ergeben haben, die jedoch hinsichtlich der Forschungsfragen für den Interviewer wichtig sind. Schütze sieht an dieser Stelle eine Aufforderung an den Interviewpartner vor, über sein Leben abstrahierend zu erzählen – hier seien nun die »Warum«-Fragen angemessen, um zu argumentativen Antworten zu gelangen. Ebenso wichtig ist die Phase nach dem Abschalten des Aufnahmegeräts, in dem meist eine Art »Smalltalk« erfolgt: Wie die allgemeine Forschungspraxis zeigt und sich auch in dieser Studie bestätigt hat, erhält man oft gerade in dieser informellen Phase noch interessante Informationen, die etwa aus Scham, Vorsicht o.ä. im als »formell« empfundenen, aufgezeichneten Teil nicht offenbart worden sind. Vor der Aufnahme des Interviews wurde ebenso systematisch eine Einleitung durchgeführt: Die Interviewpartner wurden über das Ziel und den Rahmen der Untersuchung informiert, über die anonyme Behandlung des Materials aufgeklärt, nach der Zustimmung für die Aufnahme gefragt. Anschließend wurde ihnen der Verlauf eines biographisch-narrativen Interviews erklärt: die narrative Form, warum Notizen gemacht werden usw. Es wurde auch für jedes Interview ein Beobachtungsprotokoll gefertigt, da die Interviewsituation im familiären Kontext im Herkunftsland bzw. in Wohnkontexten im Zielland oft eine gute Gelegenheit zur Feldbeobachtung war. Auswahl der Interviewpartner Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte über das Schneeballprinzip und orientierte sich in erster Linie an dem Konzept des theoretical sampling (Glaser/Strauss 1967). Im Gegensatz zum statistischen Sampling werden die Daten dabei parallel erhoben und analysiert; die Auswahl der Interviewpartner erfolgt schrittweise aus den sukzessive gewonnenen empirischen Einblick in das Feld. Das Verfahren basiert auf der Idee der grounded theory, der empirisch begründeten Theoriebildung. So gibt es hier keine a priori festgelegten Auswahlmerkmale; d.h. die Auswahl wird erst abgeschlossen, wenn eine »theoretische Sättigung« er-

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reicht ist – und nicht, wenn eine vorab festgelegte Probe erhoben wurde (Flick 2006: 105). Flick weist darauf hin, dass diese schrittweise Auswahl als ein allgemeines Prinzip der qualitativen Forschung betrachtet werden kann. Dabei kann je nach konkreter Situation sowohl eine Zufallsauswahl als auch eine gezielte Auswahl durchgeführt werden. Die Vorgehensweise in der vorliegenden Studie könnte als ein Mittelweg bezeichnet werden: Die Auswahl war in dem Sinne durch Zufall bestimmt, dass sie dem Schneeballprinzip folgte und so zunächst kein direkter Einfluss auf die Zusammensetzung der Stichprobe genommen wurde. Dieses Vorgehen ist mit dem Charakter des Felds begründet – da der Zugang zur Untersuchungsgruppe relativ schwer war (dazu näheres unten), erschien dieses Vorgehen vor dem Hintergrund von Kosten (möglicher unkontrollierter Bias) und Nutzen (Gewinnung einer ausreichenden Anzahl aussagefähiger und -williger Gesprächspartner) als vertretbar. Innerhalb des »Schneeballs« wurde dann möglichst jedoch gezielt nach bestimmten Kriterien gesucht, wobei einige der von Patton (1990, zitiert nach Flick 2006: 109f.) vorgeschlagene Verfahren zum Einsatz kamen: Es wurden typische und extreme Fälle gewählt, es wurden Fälle aufgrund einer hohen Ausprägung bestimmter Merkmale (intensity sampling) aufgenommen, im Verlauf der Erhebung wurden schließlich maximale Variationen hinsichtlich bestimmter Variablen gewählt. Nicht berücksichtigt wurde die Methode der sog. Primär- und Sekundärauswahl, bei der nur besonders relevante Fälle für die Transkription und Auswertung ausgewählt werden. Alle Interviews wurden transkribiert und analysiert. Im Hinblick auf das Verhältnis von Zeitaufwand und Nutzen für das Gesamtergebnis ist diese Vorgehensweise heute kritisch zu beurteilen. Nun zur genauen Vorgehensweise bei der Auswahl des Materials: Die erste Stichprobe mit 7 Interviews wurde 2003 im Rahmen einer M.A.-Arbeit erhoben, die die oberschlesische Arbeitsmigration anhand des Konzeptes der transnationalen sozialen Räume explorativ untersuchte. Sie erfolgte ausschließlich nach dem Schneeballprinzip, die Stichprobe bestand aus sechs männlichen pendelnden Arbeitsmigranten sowie einem idealtypischen Rückkehrmigranten (Aussiedler), der als »Gegenbeispiel« in die Analyse einbezogen wurde. Bereits vor dieser ersten Untersuchung wurden vorab bestimmte Kriterien für die Stichproben aus der allgemeinen Theorie sowie aus dem Konzept des zu untersuchenden Falles bestimmt: Es wurde a) die temporäre Arbeitsmigration nach Deutschland und in die Niederlande von b) Oberschlesiern mit c) doppelter Staatsangehörigkeit hinsichtlich ihrer doppelten Lebensorientierung (Transnationalität) untersucht. In dieser ersten, explorativen Studie wurden neue Aspekte für das Sampling in der zweiten Untersuchung (2005/06) identifiziert, die für die Formulierung der theoretischen Annahmen über oberschlesische Transmigration entscheidend waren: Neben- bzw. vollerwerbliche Erwerbsform, die Bedeutung der Generationszu-

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gehörigkeit im historischen und familiären Sinne, die enge Beziehung zwischen dauerhafter und temporärer Migration. Durch die parallele Erhebung und Auswertung während der zweiten Untersuchung wurde dann nach weiteren bestimmten Kriterien gezogen: nach Geschlecht, Generationen, Lebenszyklus, Familienstand, die berufliche Position, Organisationsform der Arbeit, das Zielland (Deutschland und Niederlande). Dabei wurden insgesamt 16 Interviews geführt. Als schwieriger – weitgehend gar unmöglich – erwies sich das gezielte Sampling entlang subjektiver Orientierungen wie etwa gesellschaftspolitische Einstellung (»konservativ vs. fortschrittlich«), ethnische Identität usw. Aber auch hier konnten im Vorfeld immerhin teilweise Informationen über die Interviewpartner gewonnen werden, die in die Auswahl mit einflossen. Als hilfreich bei der Auswertung erwiesen sich insbesondere abweichende Fälle, die bestimmte wesentliche Aspekte bei der Gruppe deutlich gemacht haben (z.B. die Migrationsgeschichte eines Interviewpartners mit ausschließlich polnischer Staatsangehörigkeit, einer Inteviewpartnerin, die in Oberschlesien aufgewachsen ist, dort aber nicht mehr wohnt, eines klassischen Emigranten aus den 1970er Jahren, der 30 Jahre später zu einem Rückkehrmigranten wurde, von zwei temporären Arbeitsmigranten, die bereits vor 1989 zur Arbeit nach Deutschland gingen.) Neben dem induktiven Vorgehen im Sinne der grounded theory wurden aber auch von der Transnationalismus-Theorie ausgehend Fälle im Hinblick auf bestimmte Faktoren kontrastiert, wie: Intensität der Arbeitsmigration, ihrer Formalisierung und weitere erklärende Variablen wie Geschlecht, Lebenszyklus, Art der Arbeit; ausführlicher ist dies im theoretischen Teil beschrieben. Die Erhebung wurde abgeschlossen, nachdem eine »theoretische Sättigung« im Sinne von Flick (2006: 104) hinsichtlich der leitenden Frage und ihrer Erklärung erreicht schien. An diesem Punkt wurden wiederkehrende Muster und Realtypologien rekonstruiert, die sich nicht mehr stärker erweitern bzw. differenzieren ließen. Datenerhebung: Zugang zum Feld und Erhebungsprozess Bereits bei der ersten Runde von Interviews im Rahmen der M.A.-Arbeit erwies sich der Zugang zum Feld als nicht unproblematisch: Zum einen ist für diese Gruppe ein gewisses Misstrauen gegenüber »Fremden« kennzeichnend, eine Tendenz, sich gegenüber der Außenwelt zu isolieren – ein Problem, von dem einschlägige Studien regelmäßig berichten (so z.B. JoĔczy 2006: 23 f.). Diese abwehrende Einstellung gegenüber Außenstehenden hat – wie in den Kapiteln zum Forschungsstand bzw. zur Kontextbeschreibung ausführlicher dargestellt – auch historische Gründe. Bei den für diese Arbeit befragten Personen fiel dieses Problem jedoch weniger auf. Durchaus deutlich wurde es z.B. in einem Fall, als eine 80-jährige Frau als Kontaktperson angesprochen werden sollte und diese an-

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sonsten durchaus »offene« Person mit Widerwillen und sogar Angst reagierte. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass die Befragten der jüngeren Generation durchgehend eine offene Haltung einnehmen und diese Abschottungstendenz auch bei der älteren Generation tendenziell abnimmt. Unabhängig davon konnte bei den Befragten eventuell vorhandenes Misstrauen abgebaut werden, indem sich die Autorin stets selbst als Oberschlesierin vorstellte, mit den Interviewpartnern Dialekt sprach (in dem Milieu ein entscheidender Marker für die Unterscheidung zwischen »uns« und den »Fremden«) und jeweils über private Kontaktpersonen empfohlen wurde. Stattdessen erwies sich ein zweiter Aspekt sozialer Distanz als schwerwiegender: Der »Klassenunterschied« zwischen der Autorin als Akademikerin und den Interviewpartnern. Wie bereits dargelegt, ist für die Untersuchungsgruppe eine eher »puritanische«, »Intellektuellen« gegenüber abweisende Mentalität charakteristisch; diese manifestiert sich in einem ausgeprägten Arbeitsethos, das die Quantität der geleisteten Arbeit und das damit erzielte Einkommen stärker gewichtet als formelle Bildungsabschlüsse, sowie in einer traditionellen Affinität zu technisch-handwerklichen Berufen. Die Lebenseinstellung der Oberschlesier lässt sich mit dem Motto umschreiben: »Es wird nicht viel geredet, sondern gearbeitet«. Diese »Wortkargheit« funktioniert als autostereotypisierendes Distinktionsmerkmal gegenüber den »Zugezogenen« aus anderen Teilen Polens, die demnach »viel reden, aber wenig machen«. Diese Tendenz wurde auch bei einigen Interviewpartnern deutlich: Sie waren recht wortkarg, hatten ein relativ niedriges Bildungsniveau; diese Faktoren wirkten oft erschwerend auf die narrative Methode der Erhebung. In dem Sinne muss die optimistische Annahme von Schütze (1977: 51), wonach jedes Individuum schichtunabhängig über die Fähigkeit zum narrativen Erzählen verfüge, hier relativiert werden. Natürlich lässt sich auch das Gegenteil nicht pauschal sagen: Es gab einige Interviewpartner, die männlich waren, mit niedrigem Bildungshintergrund, durchaus einen »oberschlesischen« Habitus kultivierten, sich zugleich jedoch sehr »erzählfreudig« gaben. Der Erfolg jeder qualitativen Befragung hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die Distanz zwischen Interviewern und Befragten – etwa aufgrund eines Klassenunterschieds – zu überwinden. Eng damit zusammen hängt ein weiterer Aspekt, der sich erschwerend auswirken kann: Interviewer und Befragte gehören oftmals verschiedenen Lebenswelten an, sodass vordergründig identische Begriffe unter Umständen recht verschiedene subjektive Bedeutungen haben können. Als hilfreich erwies sich in diesem Zusammenhang, dass die meisten Interviews im häuslichen Umfeld der Befragten in Polen stattfanden. Das hatte zunächst einen eher forschungspragmatischen Grund – auf diese Weise konnten teilweise mehrere Interviews im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang erhoben werden. Zwar waren auch Interviews am Arbeitsort in Deutschland bzw. in den Niederlan-

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den geplant; allerdings arbeiteten alle Befragten jeweils in einer anderen Region, sodass es aus praktischen Gründen einfacher war, die Interviews in der Entsenderegion zu führen. Dafür konnte jedoch in den Niederlanden das Wohnumfeld der Saisonarbeiter beobachtet werden. Das Setting des Interviews – ob im häuslichen Umfeld oder am Arbeitsort – trug dazu bei, dass die Interview stets einen über die reine Erhebung von Text hinausgehenden Mehrwert im Sinne einer Feldbeobachtung hatten: So konnten informelle Gespräche mit Ehepartnern und Kindern stattfinden, das soziale und materielle Umfeld des Befragten konnte beobachtet werden (ausführlicher siehe unten). Auswertung Transkription Die Transkribierung von aufgezeichneten autobiographischen Erzählungen ist ein wesentlicher Schritt im Auswertungsprozess. In den neueren Ansätzen zur Transkription wird deren theoretische Relevanz betont, da sie als selektives Konstrukt gilt und als solche Auswirkung auf die Auswertung haben. Vor diesem Hintergrund wird einer begründeten Festlegung des Transkriptionssystems immer mehr Beachtung geschenkt. Hierbei sind unter anderem Validität, gute Lesbarkeit und möglichst geringer Aufwand für die transkribierenden Personen gefragt. In der vorliegenden Studie wurden alle 23 Interviews transkribiert; über die begleitenden Feldbeobachtungen sowie Expertengespräche wurden Protokolle verfasst. Das gewählte Transkriptionssystem (siehe Anhang) sah für die Verschriftlichung die sog. literarische Umschrift vor, eine leichte Abweichung von der Standardnotation. Diese Abweichung war wichtig vor dem Hintergrund, dass die meisten Gesprächspartner in Umgangssprache bzw. Dialekt gesprochen haben und diese Merkmale Bedeutung für die Interpretation hatten. Darüber hinaus wurden zwei prosodische Merkmale festgehalten: die Länge von Pausen und Betonung. Festgehalten wurden auch parasprachliche Merkmale, wie Lachen, Seufzen, Atmen, und außersprachliche Merkmale wie Gestik und andere auffällige Verhaltensweisen. Als problematisch für den Forschungsprozess ist die Tatsache zu beurteilen, dass die Transkripte von insgesamt vier Personen gefertigt wurden (dabei knapp die Hälfte von der Autorin selbst). Die Delegation dieser Aufgabe war durch die enorme Zeitaufwendigkeit der Transkription begründet. Aufgrund der Transkription durch mehrere Personen war jedoch das Risiko von Inkonsistenzen, die mit der unterschiedlichen Sprachnutzung der Transkribierenden zusammenhängt, höher als bei der Bearbeitung durch eine einzelne Person (vgl. Kowal/O’Connell 2007).

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Analyseverfahren: »biographische Fallrekonstruktion« nach Rosenthal Wie bereits zu Beginn des Kapitels in der Übersicht des Forschungsprozesses dargestellt, waren die narrativ-biographischen Interviews und das interpretative Verfahren der »biographischen Fallrekonstruktion« nach Rosenthal (2005) die zentralen Erhebungs- und Auswertungsinstrumente in dieser Studie, auch wenn durch zusätzlich vorgenommene Kodierungen und schließlich empirisch begründete Typenbildung (in Anlehnung an Wohlrab-Saar 1994 und Kelle/Kluge 1999) wurde von dieser Methoden abgewichen Bei dem von Rosenthal in jahrelanger Forschungspraxis (Rosenthal 1995, Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2004) entwickelten Auswertungsverfahren handelt es sich um einen »Methoden-Mix«. Rosenthal orientiert sich an mehreren traditionellen Vorgehensweisen: der Objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (1979) mit ihren Prinzipien der Sequenzialität und Tiefenstruktur, der Abduktion nach Charles S. Peirce (1931-1935), Fritz Schützes Narrationsanalyse (1983) sowie der Textanalyse nach Wolfram Fischer (1982). Von diesen »Vorbildern« ausgehend bezeichnet die Autorin vier Vorgehensweisen als charakteristisch für das Verfahren: Rekonstruktion, Sequenzialität, Abduktion und theoretische Typenbildung. Rekonstruktion bedeutet, dass das empirische Material auf dem Wege der Abduktion (siehe unten) in seinem gesamten Zusammenhang (und nicht in isolierten Bestandteilen) analysiert wird, anders als etwa bei der Inhaltsanalyse mit ihrem subsumptionslogischen Verfahren (Rosenthal 2005: 56f.). Zweitens werden die Texte Schritt für Schritt in ihrer chronologischen Abfolge interpretiert. Hier wird angenommen, dass in der temporalen Produktion eines Textes, in der Verwendung und im Auslassen einzelner Bestandteile, eine bestimmte subjektive Ordnung zum Ausdruck kommt (Rosenthal 2005: 71ff.). Das von Peirce (1931-35) entwickelte abduktive Verfahren setzt auf Hypothesenbildung und prüfung am Einzelfall. Es besteht aus dreistufigen Verfahren: Im ersten Schritt werden alle möglichen Hypothesen gestellt, die ein Phänomen erklären könnten. Dann werden im zweiten Schritt deduktiv Folgehypothesen formuliert; im dritten Schritt werden diese Hypothesen dann anhand der vorgefundenen Phänomene induktiv falsifiziert bzw. verifiziert (Rosenthal 2005: 58ff.). Rosenthal schlägt in ihrem Auswertungsverfahren der »biographischen Fallrekonstruktion« ein sechsstufiges Vorgehen vor (vgl. Rosenthal 2005: 173-198): Im ersten Schritt werden sequenziell biographische Daten des Interviewpartners festgehalten. Als Datenquellen fließen hier nicht nur Informationen aus dem Interview selbst ein, sondern auch das empirische und theoretische Wissen, Kontextwissen, Informationen aus Befragungen dritter Personen, zur Verfügung stehende Dokumente. Die biographische Datenanalyse erfolgt abduktiv; sie bereitet einerseits auf

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den dritten Analyseschritt vor, andererseits dient sie als Kontrastfolie für die zweite Stufe der Auswertung. Im zweiten Schritt erfolgt die Analyse der erzählten Geschichte, der Selbstpräsentation. Hier interessiert die Gegenwartsperspektive des Befragten. Zu diesem Zweck wird der gesamte Text sequenziert, nach Textsorten kategorisiert und entlang der folgenden Fragen analysiert: In welcher zeitlichen Abfolge und in welchen Kontexten wird über welche Themen gesprochen? Was wird gesagt, in welcher Ausführlichkeit, und was wird ausgelassen? Ebenso werden in diesem Schritt abduktiv Hypothesen über diese Selbstpräsentation formuliert. Im dritten Schritt wird die Perspektive auf die Vergangenheit, die erlebte Geschichte, rekonstruiert. Dabei werden die Hypothesen aus der Analyse der biographischen Daten mit den Aussagen des Befragten zur Vergangenheit miteinander verglichen. Während dieser Analysestufe werden auch die zuvor formulierten Hypothesen überprüft und ggf. neue Hypothesen aufgestellt. Der vierte Schritt, die Feinanalyse der einzelnen Textstellen, kann zu relativ beliebigen Zeitpunkten der Auswertung erfolgen. Im fünften Schritt werden erzählte und erlebte Geschichte miteinender verglichen/kontrastiert, um die die Differenzen in der zeitlichen Abfolge und Relevanz der Themen festzuhalten. An dieser Stelle schließt die Einzelfallanalyse ab – es kann davon ausgehend nun ein »Typus am Einzelfall«, (Rosenthal) bzw. eine »biographische Fallstruktur« (Schütze) rekonstruiert werden. Erst wenn der Einzelfall auf diese Weise rekonstruiert wurde, können die Forschungsfragen an das Material gestellt werden (Rosenthal 2005: 194). In der Arbeit wurden, nach der sequenziellen Analyse von biographischen Fallstrukturen, anhand der Forschungsfragen weitere ergänzende Kodierungen vorgenommen – an dieser Stelle weicht das Verfahren von dem bei Rosenthal vorgeschlagenen ab. Bei den Kodierungen wurde teils deduktiv, teils induktiv vorgegangen – einerseits wurde ein anhand der Theorie entwickeltes heuristisches Raster (d.h. die Operationalisierung des »oberschlesischen Transmigranten«) verwendet, andererseits wurden jedoch stets die Erkenntnisse aus der abduktiven Analyse der Erzählungen berücksichtigt. Anhand dieser Analyse der Einzelfälle wurde schließlich eine Realtypologie gebildet. Der »Bruch« mit der für die Biographieforschung klassischen Typenbildung, in der die Typen ausschließlich anhand biographischer Entwicklungsmuster gebildet werden, ist mit dem spezifischen Forschungsinteresse der Studie begründet, auch einen stärker theoretischen Beitrag zur Migrationsforschung zu leisten. Denn die induktiv entwickelte Realtypologie sollte zugleich eine Antwort auf die Frage geben, warum die einen Migranten transnational werden und die anderen ihren Lebensschwerpunkt in Oberschlesien behalten und damit zur Erklärungen über die Ausprägungen der beiden Idealtypen Transmigrant und recurrent migrant beitragen.

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Exkurs: Reflexion zur Auswertungsmethode Die Kontrastierung der erlebten und erzählten Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal 1995) hilft dem Forscher, unter die Oberfläche der Selbstpräsentation des Befragten zu blicken, in die latenten Tiefstrukturen, die dem Befragten selbst nicht unbedingt zugänglich sind. Lutz und Davis (2005: 233) stellen im Hinblick auf diese Problematik fest, dass sich die Forscher »einerseits mit der jeweiligen ›Eigenperspektive‹ der Biograph(inn)en auseinandersetzen« und andererseits »den Bezug […] zu einer möglicherweise entgegengesetzten analytischen Außenperspektive« herstellen müssen. Ebenso können mit diesem Vorgehen verschiedene Deutungsperspektiven aus der Vergangenheit und der Gegenwart rekonstruiert werden. Das abduktive Vorgehen eröffnet den Blick für die möglichen Interpretationsrichtungen und hilft dabei, »zwischen den Zeilen zu lesen«. Kritisch ist jedoch das Verhältnis zwischen dem zeitlichen Aufwand und den erzielten Effekten zu betrachten: So konnten viele Hypothesen nicht eindeutig verifiziert bzw. falsifiziert werden. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass sich die abduktive Hypothesenentwicklung in einem Forscherteam einfacher gestaltet als in Einzelarbeit: Dem einzelnen Forscher fehlt das Input von außen, sodass er sich zwangsläufig auf bestimmte Interpretationsrichtungen festlegt. Sprachen und Übersetzung Problemen der Sprache wird in der methodologischen Literatur zur biographischen Forschung relativ wenig Beachtung geschenkt. In der biographisch arbeitenden Migrationsforschung geschieht es jedoch häufig, dass die Gesprächspartner in Interviews nicht dieselbe Muttersprache sprechen oder dass die Sprache, in der das Interview geführt wird, nicht diejenige ist, die im zu untersuchenden Feld überwiegend gesprochen wird und/oder in der später die Ergebnisse formuliert und an das Publikum kommuniziert werden. Zum einen muss sich der Forscher hier bewusst machen, dass die Daten im Verlauf des Forschungsprozesses ohnehin von ihm selbst beeinflusst werden. Bereits in der Interviewsituation müssen die Effekte der Interaktion zwischen Interviewer und Interviewpartner berücksichtigt werden: die (antizipierten) Erwartungen, die gegenseitige Beeinflussung im Kommunikationsablauf usw. Die Transkription ist die zweite Phase, in der bereits interpretiert wird: durch die bloße Auswahl des Transkriptionssystems und die selektive Übertragung der gesprochenen Sprache in einen Text. Schließlich folgt die wichtigste Interpretationsleistung: die Auswertung des Textes. Hier geht es um das Verstehen und Nachvollziehen des subjektiven gemeinten Sinns im Weber’schen Sinne. Neben den allgemeinen Aspekten des kontrollierten Fremdverstehens kommt in der Migrationsforschung, bei der die Befragten oftmals eine andere Muttersprache haben als die Mutter-, Arbeits- und/oder Publikations-

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sprache des/der Fragenden, die Frage des Übersetzens von einer Sprache in die andere hinzu. Denn Übersetzen ist keine mechanische Übertragung von Zeichensystemen von einer Sprache in die andere, sondern eher Übertragung von Sinngehalten aus einem Kultursystem in ein anderes. Die polnisch-australische Soziolinguistin Anna Wierzbicka (1997: 5) spricht hier von einer ethnography of speaking, womit der kulturelle Hintergrund jeder Sprache gemeint ist, den der Übersetzer erst erfassen muss, um die Sprache adäquat verwenden zu können. Gerade die für den Alltag wichtigen Sinngehalte können oft nur schwer aus einer Sprache in eine andere übertragen werden. Wierzbicka (1997: 6) schildert diese Situation aus ihrer eigenen Perspektive als Migrantin: »I became aware of Polish words which had no equivalents in English, and each of which epitomized something very special: an emotion, an attitude, a belief, a relationship, a colour, a time, a type of experience.«

In der vorliegenden Untersuchung waren es nicht die Interviewpartner, die die Übersetzungsarbeit leisten mussten, denn ihnen wurde am Anfang des Interviews stets angeboten, in der Sprache bzw. dem Dialekt zu sprechen, die für sie am bequemsten ist. Damit konnten sie ihre Erzählungen frei und präzise zum Ausdruck bringen. Aus der Literatur ist bekannt, dass viele Migranten es als unangenehm empfinden, sich in der Fremdsprache nicht so ausdrücken zu können wie in der Muttersprache. Dadurch, dass die Interviews für diese Arbeit in der Muttersprache der Migranten durchgeführt wurden, konnte daher die Subjektposition des Erzählenden symbolisch und praktisch gestärkt werden. Da die Muttersprache der Autorin Polnisch ist und sie auch den oberschlesischen Dialekt, den die meisten Befragten sprachen, relativ gut beherrscht, wurden die Interviewtexte auch in diesen Sprachen analysiert. Anders als bei Befragungen, die in der von den Migranten meist erst spät und daher oft unvollständig erlernten Sprache des Ankunftslandes oder einer Drittsprache geführt werden, oder bei Befragungen im Rahmen größerer Forschungsprojekte, in die zwischen die Interviewer bzw. Befragten und den Forscher eine dritte Person geschaltet ist, die die Transkripte übersetzt, wurde die Intepretationsleistung in der vorliegenden Untersuchung also stärker von der Autorin selbst erbracht. Ermöglicht wurde dies dadurch, dass sie selbst bis weit ins Erwachsenenalter dauerhaft im Herkunftsland bzw. in der Herkunftsregion der Befragten gelebt hat und daher mit sprachlichen und landeskundlichen Nuancen vertraut ist bzw. bei Bedarf auf Quellen und Informanten zurückgreifen konnte. Dennoch musste spätestens bei der Darstellung der Ergebnisse in deutscher Sprache mithilfe wörtlicher oder indirekter Zitate übersetzt werden. An diesem Punkt zeigte sich die von Wierzbicka geschilderte Problematik, dass sich Begriffe oft nicht eindeutig übertragen lassen. Hierzu zwei Beispiele: das in den Interviews ständig auftauchende polnische Wort jeĨdziü bedeutet wörtlich »fah-

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ren«. Im vorliegenden Kontext wird es aber im Sinne »in Ausland zur Arbeit fahren« verwendet. Zugleich kommt hier die in slawischen Sprachen vorhandene morphologische Markierung des grammatischen Aspekts von Verben ins Spiel – es wird unterschieden zwischen dem perfektiven Aspekt, der eine vollständig zu Ende geführte Handlung bezeichnet, und dem imperfektiven Aspekt, der eine wiederholte bzw. gewohnheitsmäßige Handlung ohne eindeutiges Ende bezeichnet. Als perfektives Verb beinhaltet jeĨdziü (bzw. dessen verschiedene konjugierte Formen) also eine Bedeutung, die für das vorliegende Thema besonders relevant ist – nämlich, dass das damit bezeichnete Migrationshandeln (im Gegensatz zu den deutschen Verben emigrieren und immigrieren) eben kein einmaliger, abschließbarer Vorgang ist, sondern ein gewohnheitsmäßiges, ständig wiederholtes Handeln ohne eindeutiges Ende. Da das Deutsche den perfektiven bzw. imperfektiven Aspekt von Verben in der Regel nicht markiert – zu den Ausnahmen gehört etwa ein Aspektpaar wie »trinken« / »austrinken« – lässt sich diese im Polnischen knappe und allgegenwärtige Redewendung nicht oder nur umständlich (und damit den Charakter des Originaltexts verfälschend) ins Deutsche übertragen. Ähnliches gilt für spezifische Nebenbedeutungen von Wörtern, die theoretisch unproblematisch sind, wie etwa das etymologisch verwandte Substantiv zjazd, das je nach Kontext z.B. »Treffen« oder »Zusammenkommen« (zu dem man mithilfe eines Fahrzeugs gelangt) bedeutet. Im Sprachgebrauch der Herkunftsregion der befragten Migranten steht es jedoch für deren regelmäßigen Besuche in Polen und alle damit verbundenen sozialen Situationen. Es weckt also bei polnischsprachigen Menschen Assoziationen, die kein vergleichbar knappes oder umgangssprachliches Wort bei einem deutschen Leser/Hörer – zumal einem ohne eigene Migrationserfahrung – zu wecken in der Lage ist (»Heimatbesuch« oder »Familienheimfahrt« haben jeweils ein Mehrfaches an Silben und klingen vergleichsweise technisch). So müssen die – manchmal auch im Polnischen neuen oder ungewöhnlichen – Bedeutungen von Wörtern und Begriffen jeweils aus dem Kontext heraus verstanden und für den deutschen Kontext erklärt werden, was um so schwieriger ist, wenn es, wie in diesen Beispielen der Fall, vergleichbare Phänomene in der Lebenswirklichkeit der meisten Deutschsprachigen nicht gibt. Darstellung der Ergebnisse Die Darstellung der Ergebnisse gehört in der qualitativen Forschung zu Strategien der Validierung. Wie bereits im Zusammenhang mit den Gütekriterien der qualitativen Forschung beschrieben, ist die Offenlegung der methodologischen Vorgehensweise, des erhobenen empirischen Gesamtmaterials (Transkripte, Protokolle usw.) und schließlich der Daten eine Möglichkeit, den Weg zu den erzielten Ergebnissen nachvollziehen zu können (Matt 2007: 585). Die Darstellung der Ergebnisse in dieser Arbeit orientiert sich an einem bestimmten »Kanon«, was jedoch nicht immer konsequent möglich war.

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Im Anschluss an Spradlay (1979) versteht Tom Wengraf die Darstellung der Ergebnisse durch einen Forscher als einen »Dialog« zwischen verschiedenen Ebenen: zum einen zwischen den theoretischen Aussagen des Forschers selbst und dem vorgefunden empirischen Material bzw. anderen Theorien zur dieser Materie; zum anderen zwischen den verschiedenen Ebenen der Abstraktion: von einem spezifischen Ereignis, über ein spezifisches Segment, zwischen den Kulturen bis hin zu universellen Aussagen über alle Kulturen. Wengraf (2001: 319f.) betont allerdings, dass eine explizite Trennung zwischen den Ebenen beachtet werden müsse. Als Darstellungstechnik wurde die klassische Methode der Biographieforschung gewählt: Porträts. Dabei wurden je nach thematischem Aspekt ausführliche Einzelporträts vorgestellt, um einen »holistischen Mehrwert« zu erzielen (Teil 1 und 2 des empirischen Kapitels) oder nur thematische Auszüge und Fragmente aus den Einzelfällen, die jeweils einen konkreten Aspekt repräsentieren (Teil 3 des empirischen Kapitels) (vgl. Wengraf 2001: 358). Weitere Methoden: teilnehmende Beobachtung, Experteninterviews Zunächst ist festzuhalten, dass teilnehmende Beobachtung und Experteninterviews für die gesamte Untersuchung nur von marginaler Bedeutung waren. Die Erhebungen erfolgten unsystematisch, insbesondere zum Zweck der Exploration des Phänomens am Anfang der Untersuchung sowie bei verschiedenen Gelegenheiten, die sich im Verlauf der Untersuchung durch informelle Gespräche mit Migranten und Nicht-Migranten in Deutschland, in den Niederlanden, aber insbesondere in Oberschlesien ergaben, sowie bei Aufenthalten in privaten und öffentlichen Räumen (Kirchen, Fernbusse, Flugzeuge, Autobahnen, private Treffen), in denen sich auch oberschlesiche Arbeitsmigranten aufhielten (als Beispiel einer systematischen Triangulation von Interviews, Experteninterviews und Feldbeobachtung in der Migrationsforschung vgl. etwa Alt 2003). Teilnehmende Beobachtung Die (teilnehmende) Beobachtung wurde als weitere Quelle von Daten zur Beschreibung des Forschungsgegenstandes eingesetzt. Beobachtet wurde bei verschiedenen, sich selbst ergebenden bzw. gezielt ergriffenen Gelegenheiten, bei denen verschiedene Bereiche des Alltags der Arbeitsmigranten beobachtet werden konnten. Zum einen boten sich Gelegenheiten, Migranten in ihrem häuslichen und familiären Umfeld zu beobachten: Oft konnte man sie zusammen mit anderen Familienangehörigen sprechen, die Situation, Beziehungen, Abläufe in der Familie beobachten; in den Niederlanden hatte die Autorin Einblick die Situation in einem Bungalow von mehreren Migranten (ihre Zimmer, gemeinsamen Räume, den Tagesablauf nach Feierabend und ihre Freizeitaktivitäten).

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Zur Feldforschung gehörte weiterhin die mehrjährige ethnographische Beobachtung (2003–2007) in verschiedenen ländlichen und städtischen Gebieten in Oberschlesien, etwa was Investitionen in Häuser und die Entwicklung der transnationalen wirtschaftlichen und kulturellen Infrastruktur betrifft. Die Autorin besuchte auch deutschsprachige Gottesdienste in Oberschlesien und polnischsprachige Gottesdienste in Deutschland. In Deutschland wurden die dortige polnischsprachige Presse und Äußerungen von Migranten in Internetforen verfolgt. Beobachtet wurden auch Orte, an denen die Reise zwischen Polen und Deutschland/Niederlande stattfindet: Grenzübergänge, frequentierte Autobahnen (A2: NiederlandeNordrhein-Westfalen-Berlin und weiter Richtung Oberschlesien), Busbahnhöfe und Flughäfen. Wo immer möglich, wurden informelle Gespräche mit Personen aus dem Feld durchgeführt: mit Arbeitsmigranten und Emigranten, Verwandten und Familienangehörigen, Reisenden usw. Anhand dieser Beobachtungen und informellen Gespräche wurden Notizen angefertigt, die dann in die Studie eingeflossen sind. Experteninterviews Als »Experte« werden hier Akteure verstanden, die selbst Teil des untersuchten Handlungsfeldes sind, in dem Sinne ist der »Expertenstatus« also relativ – nämlich abhängig vom Forschungsinteresse (vgl. Meuser/Nagel 2005: 73). Das Expertenwissen hatte in der Studie grundsätzlich nur eine komplementäre Funktion, denn aufgrund der Forschungsleitfrage stand die subjektive Perspektive der Migranten im Vordergrund. Das erfragte Expertenwissen sollte dagegen aus den jeweiligen institutionell-organisatorischen Funktionen der Befragten das Kontextwissen für den Forschungsgegenstand liefern (vgl. Meuser/Nagel 2005: 75f). Die Rolle der Experteninterviews war im ursprünglichen Forschungsdesign der Studie stärker gewichtet – die Bereiche Arbeit, Familienleben, öffentliches Engagement sollten systematisch erschlossen werden. Als »Kristallisationspunkte« (Bogner/Menz 2005: 7) sollten die Experten mit ihrem Insiderwissen dazu beitragen, das Bild des Alltags der Migranten zu vervollständigen und die ursprünglich geplante Untersuchung des öffentlichen Diskurses über die Migration innerhalb der Region zu ergänzen. In der ersten Erhebungsphase 2003 wurden zwei informelle Gespräche mit Wissenschaftlern geführt, die sich mit der deutschen Minderheit und der Arbeitsmigration aus der Region Oppeln beschäftigen. Zu Beginn der zweiten Erhebungsphase 2005 wurden anhand von Leitfäden, aber in narrativer Form, Experteninterviews mit zwei katholischen Priestern und Religionslehrern (jeweils in einem Dorf in den Woiwodschaften Oberschlesien und Oppeln), mit der Bürgermeisterin eines Dorfes und einem Lehrer durchgeführt. Zunächst waren weitere Interviews mit Arbeitgebern, Arbeitsvermittlern, lokalen Politikern sowie dem Oppelner Bischof Alfons Nossol geplant. Aufgrund der großen Fülle des bereits vorhandenen Materials aus Interviews mit Migranten und der gesichteten Literatur

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wurde auf deren Durchführung letztendlich aus forschungspragmatischen Gründen verzichtet.

Empirischer Teil

In diesem Kapitel werden die empirischen Ergebnisse der Studie dargestellt. Auf die bereits im vorangegangenen Kapitel beschriebene Methodik der Interviewanalyse wird dabei nicht mehr detailliert eingegangen; allerdings bestimmt die Methodik bis zu einem gewissen Grad auch die Form der Präsentation – auch der Zugang zu den empirischen Daten wird über biographische Porträts strukturiert. Dabei werden, Tom Wengraf (2001: 358) folgend, die oben erwähnten, meist in Konkurrenz zueinander stehenden Ansätze der Porträtierung miteinander kombiniert: einerseits das stark in die Tiefe gehende Einzelporträt mit seinem auf ein einzelnes Individuum bezogenen holistischen Anspruch; andererseits die typologisierende, auschnittweise Montage aus mehreren Porträts, die in der Regel dann zum Einsatz kommt, wenn ein einzelner Aspekt einer von Vielen intersubjektiv geteilten Lebenswelt im Mittelpunkt der Fragestellung steht. In diesem Fall entspricht die Fragestellung der übergeordneten Forschungsleitfrage der Arbeit – Wie lassen sich die oberschlesischen Arbeitsmigranten nach ihrem Wanderverhalten und Lebensprojekten typisieren? Lässt sich die Pendelmigration der oberschlesischen Arbeitsmigranten als explizit transnationale Migration bezeichnen bzw. sollte sie – im Kontext des transnationalen Ansatzes – weiter differenziert werden? Welche Faktoren tragen ggf. zur Entstehung und Aufrechterhaltung des transnationalen Charakters dieser Migration bei? Wie bereits beschrieben, besteht in Bezug auf die Untersuchungsgruppe der oberschlesischen Pendelmigranten eine Forschungslücke: Es liegen bisher überhaupt nur wenige Studien – und diese in polnischer Sprache – vor; diese sind zudem nahezu ausschließlich quantitativer Art, durch einen »methodologischen Nationalismus« geprägt und somit für den transnationalen Aspekt »blind«. Diese Blindheit ist umso eklatanter, als die Doppelstaatlichkeit der Migranten und die deutschpolnische Geschichte der Region den Fall zu einem besonders vielversprechenden Gegenstand für den transnationalen Ansatz machen. Ohne die Ergebnisse im Einzelnen vorwegzunehmen, kann vorab gesagt werden, dass sie sowohl die Erklärungskraft als auch die Grenzen des Transnationalis-

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mus-Ansatzes demonstrieren. Nicht alle Pendelmigranten sind Transmigranten in einem engen Sinne: Neben den Transmigranten mit plurilokalen Bezügen zum Herkunfts- und Ankunftskontext lassen sich in der Untersuchungsgruppe auch recurrent migrants finden, für die ein monolokaler Bezug zum Herkunftskontext charakteristisch ist (vgl. Pries 2004b: 11). Diese beiden Arten von Migranten sind in der Empirie keine klar voneinander trennbaren Kategorien; vielmehr stellen sie zwei Pole dar, mit denen sich das komplexe Kontinuum der empirischen Realität theoretisch ordnen lässt. Die beiden Idealtypen basieren auf einer Analyse der Alltagspraktiken und Selbstbeschreibungen der Befragten. Konkret lassen sich soziale, kulturelle, politische und ökonomische Praktiken unterscheiden, die jeweils objektiv zu beobachten sind und denen die Betroffenen gleichzeitig einen bestimmten subjektiven Sinn zuschreiben. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil wird zunächst geschildert, welche Rolle die materielle Infrastruktur (z.B. Kirchengemeinden, Transportunternehmen), die Organisationsformen (z.B. beschäftigende Unternehmen, informelle Arrangements zwischen Migranten) sowie der zeitliche Umfang und die Art der Beschäftigung (Haupt- vs. Nebenerwerb, kontinuierliche bzw. saisonale Beschäftigung) im Erwerbsalltag der Migranten spielen. Davon ausgehend wird anhand von Einzelportraits eine Realtypologie individueller Migrationsstrategien entworfen. Im zweiten Teil wird die soziale Struktur dieser Migrantengruppe in den Blick genommen – wie wirken sich Strukturmerkmale wie Geschlecht, Lebenszyklen, Klassenzugehörigkeit (d.h. hier kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital im Sinne Bourdieus), familiäre Konstellation, Nationalität und Generation auf das Migrationshandeln aus? Der dritte Teil schließlich behandelt die subjektiven Sinnzuschreibungen und Interpretationen der Migranten, die innerhalb der in den ersten Teilen beschriebenen Rahmenbedingungen stattfinden – nicht an ausführlichen biografischen Porträts einzelner Befragter, sondern an Auszügen aus dem empirischen Material, die die ausgewählten Aspekte veranschaulichen.

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T RANSNATIONALE M IGRATIONSSTRATEGIEN : S OZIO -MATERIELLE I NFRASTRUKTUR UND LEBENSPROJEKTE Mobilität der Arbeitsmigranten und transnationale sozio-materielle Infrastruktur Die Untersuchungsgruppe dieser Arbeit sind temporäre Arbeitsmigranten. »Temporäre Migration« wird hier als Oberbegriff für sämtliche Formen nicht auf Dauer angelegter Migration verwendet.1 Zwar ist einmalige und dauerhafte Emigration aus Polen, in den 80er und 90er Jahren die Regel, nach wie vor ein wesentlicher Aspekt; einige der Interviewpartner durchliefen in ihrem Leben ebenfalls eine Phase der Emigration, d.h. eine zunächst auf Dauer angelegte Auswanderung. Das vorherrschende Migrationshandeln ist jedoch die Mobilität und steht daher im Fokus dieser Untersuchung. Die Pendelintervalle »vollerwerblicher«2 Arbeitsmigranten betrugen in der Regel ein oder zwei Wochen, teilweise unabhängig von der Entfernung zwischen dem Arbeits- und dem Wohnort. In der Gesamtentwicklung seit Anfang der 90er Jahre war eine Tendenz zu einer Verkürzung der Intervalle zu beobachten, vor allem bedingt durch den Ausbau der Transportinfrastruktur und die Verdichtung der sozialen Netzwerke. Die temporäre Migration zwischen Oberschlesien und dem Zielland stützt sich sowohl in materieller wie in sozialer Hinsicht auf eine dichte, formelle transnationale Infrastruktur. Zu den Komponenten dieser oberschlesischen transnationalen Infrastruktur gehören zunächst Verkehrsmittel und die mehr oder weniger formellen Organisationsformen des Transports von Personen und Waren. Sie ermöglicht die schnelle Hinund Her-Bewegung von Personen und Artefakten sowie die Aufrechterhaltung einer spezifischen »alltagsweltlichen Lebenspraxis« auch »zwischen den Welten«. Zur Transportinfrastruktur gehören offizielle Transportorganisationen (Reiseunternehmen) – inzwischen verkehren täglich mehre Busunternehmen zwischen Oberschlesien und Deutschland (weniger den Niederlanden). Die meisten Arbeitsmigranten nutzen allerdings Transportmittel und Arrangements, die von Arbeitgebern oder

1

Wie in der Erörterung des Forschungsstands gezeigt, haben sich für diese Erscheinung in der Literatur mittlerweile zahlreiche verschiedene Bezeichnungen etabliert, wie etwa »zirkuläre Migration«, »zyklische Migration«, »Pendelmigration«, »saisonale Migration«, »unvollständige Migration«. Diese sind nicht scharf von einander abgrenzbar und heben teils bewusst, teils unbewusst jeweils verschiedene Aspekte desselben Geschehens als entscheidend hervor. Je nach Kontext wird auf einige davon zurückgegriffen, um den jeweiligen Schwerpunkt deutlich zu machen.

2

Zur Klärung des Begriffs siehe unten.

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informell unter Arbeitskollegen bereitgestellt werden. So gehört in der Regel der Transport (zwischen Polen und dem Zielland bzw. innerhalb des Ziellandes) zu den organisatorischen Leistungen der Arbeitgeber: Zeitarbeitsunternehmen, (deutsch-) polnische Unternehmen und sogar »einheimische« deutsche Unternehmen. Das folgende Beispiel demonstriert die Entwicklungsdynamik dieser transnationalen Infrastruktur: Ein Interviewpartner berichtet, dass allein aufgrund des Bedarfs seines kleinen Subunternehmens von einem Oberschlesier in Berlin ein Autoverleih gegründet worden sei, der mittlerweile 70 Wagen verleihe. Sein Schwager, ein ehemaliger Arbeitsmigrant, verleihe heute auch von Oberschlesien aus Wagen an Migranten und Nicht-Migranten. Nicht selten werden Autoverleihe auch inoffiziell betrieben. Schließlich arrangieren kleine Gruppen von Arbeitsmigranten private Fahrgemeinschaften, um das Pendeln weniger anstrengend und wirtschaftlicher zu machen. In den letzten Jahren kam als neue Entwicklung das Angebot des Billigsegments im Flugverkehr dazu. Dieser Transportmodus ist allerdings bei den Arbeitsmigranten bisher nicht sehr verbreitet. Dies erklärt sich aus den relativ hohen Kosten im Vergleich zum üblichen PKW- oder Kleinbus-Transport mit mehreren Personen und der fehlenden Flexibilität – durch die Gebundenheit an Flughäfen und die Notwendigkeit zur längeren Vorausplanung. Zur transnationalen oberschlesischen Migrationsindustrie gehören jedoch nicht nur Arbeitgeber und Transportunternehmen, die direkt mit dem Erwerbsleben zusammenhängen, sondern im weiteren Sinne die gesamte materielle Infrastruktur, welche die transnationale Arbeitsmigration fördert. Hier sind zuerst die Kommunikationsmedien zu nennen, wobei vor allem die Verbreitung von Mobiltelefonen und die in den letzten Jahren sinkenden Verbindungskosten nicht unterschätzt werden dürfen. Sie machen die Erreichbarkeit von Personen – im Gegensatz zur herkömmlichen Festnetztelefonie – endgültig ortsunabhängig und sorgen so geradezu idealtypisch für etwas, das Ludger Pries (1998: 77) als wichtiges Merkmal transnationaler sozialer Räume identifiziert: nämlich »die mentale Präsenz der Migranten in ihren Herkunftsfamilien und -orten und umgekehrt für die Allgegenwart der Lebenswelt der Herkunftsfamilien bei den Migranten«. Durch die Mobilität der Migranten im Zielkontext sind die meisten von ihnen besonders auf Mobiltelefone angewiesen; der alltägliche Kontakt mit der Familie in Polen über die kostengünstigen Textnachrichten ist eine beliebte Kommunikationsform. Hinzu kommen, sofern möglich, Festnetztelefone und ersatzweise Callshops. Die Kommunikation über das Internet (E-Mail, Instant Messaging, VoIP-Telefonie) ist dagegen bisher wenig verbreitet. Weiterhin gehören zur materiellen Infrastruktur auf Migranten spezialisierte Arztpraxen, Anwaltskanzleien, auch Steuerberater, die auf beiden Seiten der Grenze, aber insbesondere in der Herkunftsregion präsent sind (für Deutschland bietet das polnischsprachige Wochenblatt Info&Tips einen Überblick).

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Einen weiteren, nicht nur kommunikativ wichtigen Faktor in Form eines sozialöffentlichen Raumes stellen katholische Kirchengemeinden in Deutschland bzw. den Niederlanden dar, die polnischsprachige Messen anbieten. Für die Interviewpartner haben Kirchgänge nicht nur religiösen Charakter, vielmehr gehören sie zur Freizeitgestaltung und erlauben persönliche Kontakte, den Austausch von Informationen, den Einkauf polnischer Produkte wie Lebensmittel oder Presseartikel. Schließlich lässt sich die Entstehung einer soziokulturellen Infrastruktur in Bezug auf Musik, Essen, Freizeitgestaltung beobachten, die in Teilen deutlich den kulturellen Pluralismus der polnischen bzw. oberschlesischen Immigranten in Deutschland/in den Niederlanden widerspiegelt. Ein Beispiel dafür ist die in den letzten Jahren zunehmende Etablierung polnischer Lebensmittelgeschäfte. Zwar kann man davon ausgehen, dass diese mehr auf Emigranten und weniger auf temporäre Migranten abzielen, die sich oft noch selbst mit polnischen Produkten in Polen versorgen. Zu einem guten Teil aber gehören auch sie zu einer Manifestation der transnationalen sozialen Praxis, die laut Pries (1998: 78) »weit darüber hinaus[geht], nur die kulturelle Präsenz der Herkunftsregion in der Ankunftsgesellschaft zu sichern«, sondern »vielmehr als Keimform einer neuen […] Kultur angesehen werden [kann], die wiederum in die Herkunftsregion zurückwirkt.« Peggy Levitt führt hierfür – in Analogie zum Begriff remittances für Geldüberweisungen ins Herkunftsland – das Konzept der immateriellen social remittances ein: »ideas, practices, identities and social capital that flow from receiving to sending-country communities« (Levitt 1998: 76). So ist etwa in Bezug auf die kulturelle Infrastruktur vor allem der transnationale Medienkonsum der oberschlesischen Arbeitsmigranten erwähnenswert. Sowohl in Deutschland als auch in Polen nutzen sie sowohl polnische als auch deutsche Medien wie Presse, Radio und Fernsehen. Interessant ist dabei besonders der Fernsehkonsum: So schalten z.B. viele Interviewpartner im Laufe der Zeit auch in Polen oft mit dem Argument zu deutschen Fernsehsendern um, dass das deutsche Fernsehangebot – insbesondere bei Unterhaltungssendungen – interessanter sei als das polnische. In der transnationalen Öffentlichkeit ist die katholische Kirche nicht nur, wie oben bereits angedeutet, als Schauplatz von Praktiken, sondern auch als wichtiger Akteur sui generis nicht zu übersehen: In dem Maße, wie Arbeitsmigration in der Region Opole zu einem gesellschaftlichen Massenphänomen geworden ist und die dortigen Kirchengemeinden in ihrer seelsorgerischen Arbeit tagtäglich mit deren Auswirkungen konfrontiert wurden, hat auch die dortige Kirchenhierarchie reagiert. Zu den wichtigen Dokumenten in diesem Zusammenhang gehören einschlägige Hirtenbriefe des Oppelner Bischofs Alfons Nossol zum Thema Arbeitsmigration. Diese werden insbesondere an kirchlichen Feiertagen verlesen, an denen viele Mi-

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granten in Polen anwesend sind und am Gottesdienst teilnehmen, etwa zur Osterzeit oder zum Pfarrfest.3 In der Öffentlichkeit bekannt wurden besonders zwei 2001 und 2002 veröffentlichte Pastoralbriefe, in denen Nossol (2005) das Phänomen der Arbeitsmigration bewertet: Einerseits spricht er den Arbeitsmigranten, die schwere Arbeit und die Trennung von der Familie auf sich nähmen, seine Anerkennung aus; andererseits weist er auf die sozialen Kosten hin: die Schwächung der sozialen Integration in der Herkunftsgemeinde und insbesondere die Gefahren der Trennung für das Familienleben – die Ehe und die Beziehung zu den Kindern. Nossol rechtfertigt Arbeitsmigration aus »objektiver Not« aufgrund von Arbeitslosigkeit, gleichzeitig kritisiert er eine Arbeitsmigration, die nicht notwendig sei. Eine kurzfristige Arbeitsmigration von etwa einem Monat sieht er als unproblematisch an, die dauerhafte Abwesenheit kritisiert er jedoch. Als negative Folgen nennt er den Zerfall der ehelichen Beziehung, Untreue, Scheidungen; die Kinder der Migranten entwickelten Erziehungsprobleme, eine materialistische Einstellung und fehlende Bildungsaspirationen (Nossol 2005: 244f.). Angesichts dessen fordert Nossol die Migranten auf, die Notwendigkeit ihrer Arbeitsmigration immer kritisch zu betrachten, die religiöse Praxis auch im Ausland fortzusetzen (Kirchgänge am Sonntag) und sich nicht von westlichen Moralvorstellungen (die er nicht näher benennt) beeinflussen zu lassen. Außerdem sollten sie sich bemühen, Deutsch zu lernen. Schließlich wendet er sich an die Arbeitsvermittler mit der Aufforderung, den Migranten würdige Arbeitsbedingungen bereitzustellen und ihnen organisatorisch den sonntäglichen Kirchgang zu ermöglichen (Nossol 2005: 246). Neben diesen Pastoralbriefen hat die katholische Kirche in der Region auch weitere Initiativen ergriffen (zum Folgenden Polok 2005: 234ff). Die Problematik der Arbeitsmigranten und ihrer Familien wird in der Liturgie berücksichtigt, in Form von Fürbitten und Segenswünschen am Ende der Messe. An jedem ersten Donnerstag im Monat wird in einer lokalen Kirchengemeinde (DobrzeĔ Wielki) auf Initiative der Gemeindemitglieder ein Gottesdienst für Migranten abgehalten. Auch organisatorisch passt man sich an die Gegebenheiten an – etwa indem Ehevorbereitungskurse als Blockveranstaltungen organisiert werden. Das Thema Migration sprechen die Priester auch bei ihren jährlichen Hausbesuchen in den Familien an. Es wird außerdem regelmäßig bei Exerzitien und anderen besonderen Anlässen in Predigten thematisiert, wie auch in den für diese Arbeit geführten Experteninterviews mit Priestern bestätigt wurde.

3

Pfarrfeste (odpusty) werden in polnischen Kirchengemeinden anlässlich der Namenstage der Gemeindenpatrone gefeiert. An diesem Tag wird vor der Kirche ein Pfarrfest mit Verkaufsständen gefeiert. Üblich sind große Familienbesuche in der Pfarrgemeinde, viele Migranten kommen zu diesem Fest zu Besuch.

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Zu mindestens einer Gelegenheit wurde auch ein Gebetstext für aufgrund von Arbeitsmigration getrennt lebende Ehepartner verteilt. Das Bistum Opole gab eine Broschüre für Migranten heraus und ließ diese durch eine katholische Zeitschrift sowie direkt in den Kirchengemeinden verteilen. Sie enthielt eine Liste mit polnischsprachigen Messen in den Niederlanden sowie eine Art Leitfaden. Die Migranten werden darin wiederum auf Gefahren der Arbeitsmigration hingewiesen und erhalten Lösungen angeboten. Durch Trennung der Ehepartner werde die Ehe auf eine Probe gestellt; ein Signal, das beunruhigen sollte, seien seltener werdende Besuche in Polen und Streitigkeiten in der Familie. Daher sollten die Migranten dafür sorgen, regelmäßig nach Hause zurückzukehren. Während der Besuche zu Hause sollten sie ihre wertvolle Zeit nicht nur vor dem Fernseher verbringen, sondern möglichst viel mit Ehepartnern und Kindern sprechen. Sie werden aufgefordert, über das Leben und die Probleme im Ausland zu berichten, damit die Familienmitglieder zu Hause sich bewusst würden, welche Opfer man im Ausland bringe. Die Familie solle nicht an die Abwesenheit gewöhnt werden, denn das könne das gemeinsame Leben nach der Rückkehr schwierig machen. Bei Kindern könnten Aggressionen auftreten, ihr Selbstwertgefühl sei beeinträchtigt und sie litten unter Sicherheits- und Gefühlsdefiziten, da der abwesende Elternteil nicht an ihrem Alltag teilhabe und ihnen keine Liebe vermitteln könne. Geschenke seien oft nur die Beruhigung des schlechten Gewissens, kein Ersatz für die eigene Anwesenheit, sondern eine »Attrappe der Liebe«. Man solle sich um einen »echten« Kontakt mit den Kindern bemühen und sich nicht nur mit Geschenken begnügen. Der Glaube werde ebenso auf die Probe gestellt: Daher solle man regelmäßig Sakramente wie Gottesdienste oder Beichte pflegen, beten und nach außen Zeuge des Glaubens sein. Man könne in der »fremden Kultur sich verirren«, daher solle man auf die eigene nicht verzichten. Der Zugang zu Drogen sei im Ausland einfacher, daher solle man damit vorsichtig umgehen, auch wenn man »müde, traurig, verbittert, einsam oder hungrig« sei. Man solle nicht auf Versicherungen verzichten und dadurch die eigene Gesundheit sowie die der Familie gefährden. Im Allgemeinen solle man auf seine Gesundheit achten: »Es ist besser, weniger Geld zu besitzen, aber glücklicher und gesünder zu leben« (Polok 2005: 235f.). Einstieg in den westlichen Arbeitsmarkt: Formelle Vermittlung und informelle soziale Netzwerke Einen zentralen Platz in der Migrationsindustrie nehmen der Prozess der Anwerbung und Beschäftigung und seine Strukturen ein, die im Folgenden behandelt werden. Der Eintritt in den deutschen bzw. niederländischen Arbeitsmarkt erfolgt auf zwei Wegen: entweder über eine formelle Vermittlung oder über informelle soziale Netzwerke. Im ersten Fall handelt es sich um Vermittlungsagenturen: Dies können

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einzelne »Broker« sein, die gegen eine einmalige Vermittlungsgebühr bzw. eine auf den Stundenlohn berechnete Provision Arbeitnehmer vermitteln – aus den Interviews geht hervor, dass diese Form der Vermittlung insbesondere in den 90er Jahren relevant war. Es gibt aber auch große Zeitarbeitsunternehmen, die in Polen oder Deutschland bzw. den Niederlanden ansässig sind, die in dieser Weise tätig werden. Der Kontakt zu arbeitssuchenden Migranten kommt in diesen Fällen über Zeitungsannoncen aber auch durch großflächige Werbetafeln an Landstraßen zustande. Oft ist Werbung auch verzichtbar, da sich die potenziellen Migranten initiativ an die im Ort oder Bekanntenkreis bekannten Agenturen wenden. Das Beispiel der »neuen« Migration in die Niederlande und ihre Sogkraft durch professionell organisierte Arbeitsvermittlung zeigt, wie sich eine Formalisierung der Migration auf ihre Entwicklung und Zusammensetzung auswirken kann. Die zunehmende Formalisierung und Professionalisierung der Arbeitsvermittlung manifestiert sich sehr deutlich in der regionalen Medienlandschaft. Beispielsweise sprechen Werbetafeln die Inhaber eines EU-Passes bereits an der deutsch-polnischen Grenze, entlang der Autobahn A4, die von Westen nach Oberschlesien führt, oder in den Städten wie Opole an. Arbeitsangebote finden sich in sehr großer Zahl auch in der lokalen und regionalen Presse, im Radio und Fernsehen (KałuĪa 2003: 121 f., Czech 2005). Eine Analyse der regionalen Tageszeitung Nowa Trybuna Opolska hat beispielsweise gezeigt, dass im September 2001 innerhalb von 6 Tagen 824 Angebote für Arbeit in Deutschland und den Niederlanden erschienen sind (auch wenn die tatsächliche Zahl durch die teilweise doppelte Anzeigenschaltungen während der Woche etwas kleiner ausfällt, vgl. KałuĪa 2003: 122). Neben dieser formellen Vermittlung sind informelle soziale Netzwerke für die Kanalisierung der Migration entscheidend. Soziale Netzwerke (Massay 1993 u.a., zitiert nach Haug 2000: 20) oder soziales Kapital (Portes 1995, nach Haug 2000: 21f., Faist 1996) sind bei der Entstehung, Kanalisierung und Aufrechterhaltung der rechtlich hoch privilegierten Migration der Doppelstaatler nicht weniger relevant als bei der undokumentierten Migration, die mehr oder weniger ausschließlich auf sie angewiesen ist – auch wenn sie in diesem Fall nicht der alleinige Kanal sind. Die Bedeutung sozialer Netzwerke im Arbeitsleben ist selbstverständlich nicht spezifisch für Migranten. Charakteristisch für den vorliegenden Fall ist jedoch die Tatsache, dass die sozialen Netzwerke grenzüberschreitend sind und das soziale Kapital, obgleich standortgebunden, an mindestens zwei Standorten beiderseits der Grenzen verfügbar ist (Faist 1996: 17f). Wie diese beiden Migrationskanäle – informelle soziale Netzwerke und formelle Vermittlung – aus bestimmten Lebenssituationen heraus gewählt werden und wie sie in der Praxis zusammenwirken, wird an einer Aussage des Interviewpartners Krystian deutlich. Er arbeitete zum Zeitpunkt des Interviews nur während des Urlaubs in einem kleinen Ort in Deutschland. Die Tätigkeit hatte ihm sein Schwager vermittelt, der selbst in den 80er Jahren noch als Aussiedler nach Deutschland

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gekommen war. Die vor Ort lebenden Verwandten rufen Krystian in Polen an, sobald der deutsche Arbeitgeber ihn »braucht« – er nimmt dann in Polen Urlaub und fährt zur Arbeit nach Deutschland. Würde er in Zukunft seine vollerwerbliche Position in Polen verlieren und ganz im Westen arbeiten, so Krystian, müsste er wahrscheinlich über professionelle Vermittlungsunternehmen oder das soziale Netzwerk in seiner Region Arbeit suchen: »Aber dann werden andere Notwendigkeiten da sein … Dann eben nicht mehr, wenn sie mich brauchen – ich werde fahren müssen, wenn ich es brauche! Dann werde ich es über eine Vermittlungsfirma machen oder so etwas… Sagen wir, hier gibt es 1500 Einwohner, 600 davon arbeiten da, im Westen. Ich werde dann erst zu einem Bekannten gehen, dann zum nächsten, was man wo erledigen muss – und dann fahre ich.«

Formen transnationaler Arbeitsorganisation Die vorliegende Untersuchung ermöglicht einige Einblicke in die organisatorische Struktur des oberschlesischen Arbeitsmarkts für Migranten, wobei zu berücksichtigen ist, dass der gewählte, biographische Ansatz keine systematischen Aussagen über die Grundgesamtheit erlaubt. Wie aus der Analyse der einzelnen Erwerbsbiographien weiter unten hervorgeht, beeinflusst offensichtlich die Struktur des Unternehmens oder des sozialen Netzwerkes, in dem ein Migrant arbeitet, seine berufliche und soziale Inkorporation im Zielkontext. Denn die verschiedenen Organisationsformen der Erwerbsarbeit fördern tendenziell entweder einen pluralistischen oder einen assimilativen Modus der sozioökonomischen Integration. Die Bezeichnungen pluralistisch und assimilativ werden dabei als zwei gegensätzliche Modi der Integration verwendet. In der hier verwendeten Definition transnationaler Migration können transnationale Praktiken sowohl mit assimilativen als auch pluralistischen Integrationsmodellen einhergehen. Die anhand der Interviews rekonstruierten Organisationsformen wurden hier nach den Kriterien der ethnischen Zusammensetzung der Beschäftigten und der Branchenkonzentration geordnet. Es lassen sich demnach vier Organisationsformen feststellen: Zeitarbeitsunternehmen, ethnische Unternehmen, ethnische Gruppen und Arbeitsplätze in einem ethnisch heterogenen Umfeld. Die Beschäftigung über Zeitarbeitsunternehmen4 und ethnische Unternehmen charakterisiert in der Regel sektorale und ethnische Konzentration (nur Oberschle-

4

Die Beschäftigung über eine Zeitarbeitsfirma kann auch mit einem assimilativen Integrationsmodus einhergehen. Es hängt vom Umfang der Migration, vom Charakter der

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sier bzw. Polen). In der Organisationsform »ethnische Gruppe« arbeiten Migranten mit Beschäftigten anderer Nationalitäten (auch Deutschen) teilweise zusammen. Schließlich an Arbeitsplätzen in einem ethnisch heterogenen Umfeld müssen die Migranten die Sprache des Ziellandes sprechen und diese Form entspricht am stärksten dem assimilativen Modus der sozioökonomischen Integration. Formen transnationaler Arbeitsorganisation und pluralistische bzw. assimilative Integrationsmodi Pluralistische Integration 1. »Zeitarbeitsunternehmen« 2. »ethnische Unternehmen«

assimilative Integration 3. »ethnische Gruppen«

Atypisch/Zeitarbeit Beschäftigung über ein Zeitarbeitsunternehmen, oft in der Landwirtschaft. Polnische, oberschlesische, deutsch-polnische, ethnische Unternehmen in Baubranche oder Handwerk

4. Arbeitsplätze in ethnisch heterogenem Umfeld Normalarbeitsverhältnis

Ethnisch homogene Kleingruppen von 3-4 oberschlesischen Arbeitsmigranten, die innerhalb deutscher bzw. niederländischer Unternehmen arbeiten, oft in der Baubranche oder Handwerk

Reguläre Arbeitsplätze in deutschem bzw. ethnisch heterogenem Umfeld. Keine Branchenkonzentration.

In den Niederlanden dominiert die Beschäftigung durch Zeitarbeitsunternehmen – es handelt sich dabei um große und kleinere, international tätige Unternehmen mit polnischem, niederländischem oder deutschem Hauptsitz, wie z.B. Adecco, Hands to Work oder APM. Diese Unternehmen beschäftigen saisonal oder längerfristig. Sie bieten sehr umfassende Dienstleistungen – von der Arbeitsvermittlung, über den Transport zwischen Polen und den Niederlanden bzw. direkt vor Ort bis hin zu Behördenangelegenheiten. Neben Zeitarbeitsunternehmen bestehen aber auch direkte Arrangements zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die oft zu einer längerfristigen Zusammenarbeit führen. In Deutschland sind die organisatorischen Arrangements komplexer. Auch hier ist die Beschäftigung über Zeitarbeitsunternehmen präsent. Ein Beispiel dafür ist das von mehreren Interviewten erwähnte BMW-Werk in Bayern.5 Hier werden

Arbeit, der Zusammensetzung des Personals usw. ab. Hier steht Zeitarbeitsunternehmen nur für kurzfristige Arbeitsaufenthalte, z.B. bei Nebenberuflern in den Niederlanden. 5

In Bayern befinden sich mehrere BMW-Werke, u.a. in München, Landshut, Dingolfing, Regensburg. Bei zwei der Interviewten handelte es sich um die Werke in Landshut bzw. München, bei den anderen wurde der Ort nicht erwähnt.

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oberschlesische Arbeitsmigranten durch lokale Zeitarbeitsunternehmen und in Oberschlesien tätige Agenturen vermittelt. Neben den Zeitarbeitsunternehmen und traditionellen saisonalen Arbeitsverhältnissen in der Landwirtschaft, Industrie oder Dienstleistungsbranche hat sich im Bausektor eine Subsubunternehmensstruktur etabliert. In diesen oberschlesischen6 und polnischen Entsendeunternehmen (vgl. Miera 2007) finden neben Polen ohne deutsche Staatsbürgerschaft (die offiziell über Werkverträge beschäftigt sind) auch oberschlesische Doppelstaatler Beschäftigung. Frauke Miera (2007: 137 f.) weist darauf hin, dass die Doppelstaatler für Arbeitgeber besonders attraktiv sind: Sie sind »ideale transnationale Arbeitsmigranten«, da sie einerseits keine Arbeitserlaubnis benötigen, anderseits aber aufgrund ihres Lebensmittelpunkts in Polen, häufig mangelhaften Sprachkenntnissen und auch fehlenden Bewusstseins über die eigenen Rechte bereit sind, ungünstigere Bedingungen zu akzeptieren. Daher werden die Doppelstaatler gerne durch polnische Subunternehmen entsendet – oder auch durch deutsche Subunternehmen, die formell einen Hauptsitz in Polen anmelden und in Deutschland eine »Filiale« betreiben. Unabhängig davon kategorisieren die Interviewpartner die Unternehmen umgangssprachlich nach deren Standort oder der Nationalität des Inhabers; so sprechen sie von »deutschen«, »polnischen«, »oberschlesischen«, »türkischen« oder »jugoslawischen« Unternehmen. In der Kategorisierung der Arbeitsorganisationsformen benutze ich für diese Art von Unternehmen den Begriff »ethnische Unternehmen«, um die ethnische Segregation dieser Unternehmen in Bezug auf die Zusammensetzung der Beschäftigten und Branchenkonzentration zu betonen. »Ethnische Unternehmen« sind oftmals im Bausektor und im Handwerk tätig. Es kann sich um Entsendeunternehmen handeln, deren wirtschaftlicher Schwerpunkt in Polen liegt, oder um in Deutschland ansässige Subunternehmen. In der Regel bieten diese Unternehmen den Arbeitnehmern ähnlich wie die Zeitarbeitsunternehmen einen All-inclusive-Service mit Transport, Unterkunft, Erledigung von Formalitäten. Hier arbeiten die Migranten in verschiedenen Berufen, hauptsächlich in einer ethnisch homogenen Zusammensetzung, obwohl je nach Arbeitszuschnitten auch interethnische Kooperationen vorkommen. Je nach beruflicher Stellung eines Arbeitsmigranten innerhalb dieser ethnischen Unternehmen sind auch pluralistische bzw. assimilative Integrationsmodi möglich. Diese interne Ausdifferenzierung veranschaulicht die folgende Schilderung eines Bauleiters (Wojtek):

6

Wir sprechen hier von »oberschlesischen« Entsendeunternehmen, wenn die Beschäftigten Dopplerstaatler sind – im Gegensatz zu polnischen Beschäftigten, die über bilateral vereinbarte Werkverträge beschäftigt werden und bestimmten Zugangsrestriktionen unterliegen, wie z.B. Werkvertragskontingente, Laufzeit.

180 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN »…als Leiter mache ich alles. Man muss Kleinbusse organisieren, Wohnungen für die Leute, damit sie Schlafgelegenheiten haben, wenn sie dahin fahren. Diese Leute, die sind in der Regel wie Kleinkinder. Von 100% unserer Baugruppe sind Ludwig, ich und dann noch so einer, Hubert, der mir hilft, und 5,6 Vorarbeiter, die alle etwas selbst unternehmen könnten und selbst in diesem Milieu zurechtkommen. Denn sie können mehr oder weniger die Sprache, die Arbeit machen und dieser ganze Rest: Das sind super gute Mitarbeiter, wie ein Pferd im Tunnel, mit Scheuklappen, und wie du es antreibst, so wird es laufen und ziehen. Aber wenn du einen in der Stadt alleine gehen lässt, dann findet er nicht mehr zurück. Dann muss man ihm einen Zettel geben, so wie ich es in Düsseldorf, so zum Spaß, gemacht habe. Ich habe ihnen darauf geschrieben ›wenn Sie mich finden, dann geben Sie mich ab in Wohncontainern in der [unverständlich] -Straße‹ […] Wirklich, denn die Leute wissen nicht, wie sie zur Baustelle finden. Es interessiert sie nicht. Sie wissen, dass sie einen Ludwig, Wojtek, Hubert haben und wir bringen sie dahin, zeigen alles und sie arbeiten. Sie wollen arbeiten, Geld bekommen und mehr wollen sie nicht wissen. So ist es bei uns […] sie denken, wenn sie einen roten Pass haben, dann reicht es, dann müssen sie verdienen und dabei bleibt es.«

Die Organisationsform »ethnische Gruppe« ist schließlich eine Mischform aus pluralistischem und assimilativem »Assoziationsverhalten«. Es sind informelle Zusammenschlüsse von mehreren oberschlesischen Arbeitsmigranten, die sich auf der einen Seite selbstständig (ohne Vermittlung) auf dem nationalen Arbeitsmarkt (interethnisch, keine Branchenkonzentration) bewegen, und auf der anderen Seite teilweise in der eigenen Gruppe arbeiten und vor allem das Pendeln nach Polen hier organisieren. Sie etablieren beispielsweise informelle Rotationssysteme, die es erlauben, einerseits einer hauptberuflichen Beschäftigung nachzugehen, und zugleich die regelmäßige Pendelmigration zeitlich, organisatorisch und finanziell realisieren zu können. Ein Interviewpartner arbeitet z.B. mit seinen drei oberschlesischen Kollegen in ganz Deutschland und fährt alle zwei Wochen für vier Tage nach Polen. Diese Form der Arbeitsorganisation ist hinsichtlich der Arbeitsbedingungen (finanziell, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherheit usw.) und der erforderlichen Qualifikationen mit herkömmlichen Arbeitsverhältnissen vergleichbar. Auch in dieser Form jedoch sind die oberschlesischen Arbeitnehmer flexibler als ihre sesshaften Kollegen – was auf den komplementären Interessen des Arbeitnehmers und -gebers beruht. So praktizieren die Migranten die oben geschilderten »verlängerten« Wochenenden, um jedes zweite Wochenende nach Polen fahren zu können, und arbeiten zusätzlich im Gegenzug jeden zweiten Samstag. Ein weiteres flexibles Arrangement besteht darin, dass (z.B. wegen saisonaler Bedarfsschwankungen) arbeitsfreie Tage nicht in Deutschland, sondern »auf Abruf« in Polen abgewartet werden. Als wichtigstes Merkmal der Flexibilisierung hat sich die räumliche Mobilität im Zielkontext selbst erwiesen. Dies gilt für fast alle interviewten Migranten; im Fall der »ethnischen Gruppe« wird es als Unterscheidungsmerkmal von anderen sesshaften Kollegen in den Unternehmen besonders deutlich – denn nur wenige

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Interviewpartner arbeiten im Zielkontext längerfristig an einem Ort. In den Niederlanden sind es mehrere (oft dauerhafte) Orte, die ein Migrant im Laufe des Jahres »absolviert«. In Deutschland sind es Baustellen, die die Arbeitsmigranten im Laufe des Jahres wechseln, oder wechselnde Einsatzorte innerhalb eines Unternehmens, die oberschlesischen Kollegen einer »ethnischen Gruppe« für »ferne« Arbeiten zuständig sind. Hinsichtlich der Dominanz der rekonstruierten Organisationsformen ist die Beschäftigung in ethnisch heterogenem Umfeld im Sample eine Ausnahme (4 Fälle) und hat in der Regel ihre Anfänge vor 1989 (3 von 4 Fällen). Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass zu der Zeit die oberschlesische Arbeitsmigration noch nicht so stark formalisiert war (die heute stark ausgebaute transnationale Infrastruktur von Organisationen) und generell die Arbeitsplätze mit sog. atypischen Arbeitsverhältnissen noch nicht so verbreitet waren. Heute repräsentiert die Mehrheit der Interviewpartner verschiedene Formen grenzüberschreitend organisierter Beschäftigung. Organisiert wird sie einerseits in hoch formalisierter Weise durch Zeitarbeitsunternehmen (1) sowie ethnische Unternehmen (2) und anderseits informell durch »ethnische Kleingruppen« (3). Wie lässt sich diese Entwicklung hin zur »ethnischen Beschäftigung« erklären? Die oberschlesischen Arbeitsmigranten arbeiten zum großen Teil in Arbeitsmarktsektoren, die auch Domänen undokumentierter Arbeit sind: Landwirtschaft und Bausektor. Aus verschiedenen Gründen (wie Saisonalität und witterungsbedingte Unsicherheiten, Preisdruck, große Gewinnpotentiale für Auftraggeber, Charakter der Arbeit – sog. DDD jobs) sind hier Arbeitskräfte gefragt, die verfügbar, flexibel und billig sind (Le Voy 2004: 122). Eine solche Nachfrage trifft hier auf das Arbeitskraftangebot temporärer und flexibler Migranten, die sich nicht im Zielkontext niederlassen, sondern zwischen ihren Einsatzorten im Westen und ihren Familie im Osten pendeln. Dies trifft am stärksten auf die Migranten zu, die nur gelegentlich im Ausland arbeiten und die in der Regel über Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt sind. Diese typischen Saisonarbeiter kommen nur für kurze Zeit in den Westen und wollen in dieser Zeit möglichst viel Einkommen erzielen. Okólski (2001: 11) verwendet für diese Migrationsstrategie die Metapher der »Schaukel«: »Wie auf einer Schaukel stoßen sie sich vom Herkunftsort ab, um an den Zielort zu gelangen und dort ein bestimmtes Einkommen zu erzielen, bevor ihre eigene Masseträgheit sie an den Herkunftsort zurückträgt«. Die Arbeitsverhältnisse hier sind meist prekär: Die Tätigkeiten erfordern keine besonderen Qualifikationen, sind körperlich anstrengend und verlangen Flexibilität – Bereitschaft »auf Abruf«, lange Arbeitszeiten, kaum Freizeit (was jedoch auch so gewünscht ist).

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Die Untersuchung zeigt jedoch, dass auch die dauerhaft im Ausland Beschäftigten eine hohe Flexibilität auszeichnet: In den Niederlanden etwa arbeiten sie in der Regel über Zeitarbeitsunternehmen und wechseln ihren Einsatzort mehrmals im Jahr. Die Mobilität im Zielkontext als Charakteristikum fast aller Arbeitsverhältnisse der oberschlesischen Arbeitsmigranten ist ein wichtiges Ergebnis im Hinblick auf Implikationen für die berufliche und soziale Einbettung im Zielkontext. Es hat sich gezeigt, dass dieser Faktor erheblichen Einfluss auf die sozialen Beziehungen und lokalen Bindungen der Migranten hat: »Schaukel-Migranten« arbeiten oft ausschließlich mit Landsleuten zusammen; durch die wechselnden Einsatzorte können in der Regel keine primären Kontakte geknüpft oder aufrechterhalten werden – dies berichten die meisten Interviewten. Das zeigt sich auch in den Inkorporationsprozessen vieler Fälle Wenn von Fall zu Fall mobile (atypische) und typische (mit einem Normalarbeitsverhältnis) Arbeitsplätze miteinander verglichen werden, wenn sich saisonale Arbeitsaufenthalte in gleichen Orten wiederholen und dadurch eine dauerhafte Bindung aufgebaut werden kann, wenn schließlich ein Migrant innerhalb seiner Erwerbskarriere lang- und kurzfristige Aufenthalte durchläuft und die Erfahrungen von Kontinuitäten und Abbrüchen macht. Hinzu kommt, dass die Migranten durch wechselnde Einsätze in ihrem Wohnraum zwangsläufig unter sich bleiben, was wiederum das Freizeitverhalten prägt (wenige interethnische Kontakte). Und schließlich heißt es in Bezug auf die Freizeitgestaltung in den meisten Interviews: »Wir haben keine Freizeit, bei 10-12 Arbeitstunden, Anfahrtszeiten und typischem Single-Haushalt.« Der fehlende familiäre Rückhalt im Alltag und die Aufteilung der Zeit zwischen Polen und dem Westen führen dazu, dass in vielen Fällen tatsächlich der Westen nur mit der Arbeit und Oberschlesien mit dem »Leben« assoziiert werden. Vor dem Hintergrund der hier rekonstruierten Formen von Arbeitsorganisation und deren Konsequenzen für den Arbeitsalltag lässt sich in Bezug auf die Frage der mono- bzw. plurilokale soziale und berufliche Inkorporation der Migranten als Fazit7 formulieren: Unregelmäßige saisonale Arbeitsaufenthalte werden von Zeitarbeitsunternehmen organisiert, die den gesamten Auslandsaufenthalt für den Migranten regeln. Bei den hauptberuflichen Migranten übernehmen auch »ethnische Unternehmen« die Rolle des Vermittlers. Diese Organisationsleistungen fördern den pluralistischen Modus der beruflichen und sozialen Integration. Abhängig davon, welchen Umfang und welche Auswirkungen die Arbeitsmigration auf das Gesamtleben des Migranten hat, finden wir in dieser Gruppe sowohl eindeutige Transmigranten als auch recurrent migrants. In den »ethnischen Gruppen« und herkömmlichen Arbeits-

7

Aus methodologischen Gründen handelt es sich hier nur um explorative Erkenntnisse und diese Thesen müssten in einer Studie mit entsprechenden methodischen Design (z.B. Experteninterviews, Dokumentenanalyse) geprüft werden.

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verhältnissen werden in der Regel transnationale Praktiken mit dem assimilatorischen Integrationsmodus kombiniert. Hier finden sich auch hauptsächlich jene Hauptberufler, die sich längerfristig an den deutschen Arbeitsmarkt binden. Wegen des Umfanges und der Längerfristigkeit dieser transnationalen ökonomischen Praktiken sind in diesen Beschäftigungsformen öfter Transmigranten anzutreffen. Formen transnationaler Erwerbstätigkeit Ein wesentlicher Befund der Untersuchung ist die vorgefundene Vielfalt der transnationalen Erwerbsformen, die dadurch entsteht, dass Migranten verschiedene Formen von Erwerbstätigkeit im Ziel- und Herkunftsland kombinieren. Die Wahl der jeweiligen »passenden« Form ergibt sich einerseits aus der jeweiligen Lebenslage und -phase des Migranten und andererseits aus den in den beiden (oder mehr als zwei) nationalen Arbeitsmarktstrukturen zur Verfügung stehenden Beschäftigungsstrukturen (z.B. saisonale Arbeit, zeitlich befristete Aufträge usw.). Die Analyse der Erwerbsbiographien (siehe unten) hat die Bedeutung der Vielfalt von diesen »zugänglichen« Formen transnationaler Erwerbstätigkeit für die konkrete Ausprägung der Migrationsstrategien der oberschlesischen Pendler und die Attraktivität der temporären Migration im Allgemeinen verdeutlicht. »Nebenerwerbliche« und »vollerwerbliche« Migration Ferienjobs als

Nebenerwerblich:

Vollerwerblich: ökonom.

Schüler/Studium

ökon. Schwerpunkt in Polen

Schwerpunkt im Ausland

(Präsenzstudium)

a)

»echt«: neben abhängiger

a)

oder selbstständiger Er-

b)

werbsarbeit in Polen b) »quasi«: neben (Früh-) Ren-

»echt«: Vollzeit »quasi«: z.B. neben Fernstudium, Landwirtschaftsbetrieb

te, Gelegenheitsjobs bzw. Arbeitslosigkeit in Polen

Im Sample lassen sich drei Formen transnationaler Erwerbstätigkeit feststellen: Ferienjobs neben Schule/Präsenzstudium (in Polen), Nebenerwerb und Vollerwerb. Unterscheidungskriterium ist hier der jeweilige Schwerpunkt der beruflichen Aktivität bzw. der ökonomischen Anbindung. Die oberschlesischen Arbeitsmigranten arbeiten demnach ausschließlich (»vollerwerblich«) bzw. nur zusätzlich (»nebenerwerblich«) im Westen. Zu unterscheiden ist dabei jeweils zwischen zwei Varianten haupt- und nebenerwerblicher Arbeitsmigration: erstens einer »echten« Vollerwerblichkeit – wenn ein Migrant eine dauerhafte Beschäftigung im Westen hat –, zweitens einer

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»Quasi«-Vollerwerblichkeit. Letztere liegt vor, wenn der Migrant auch in Polen in irgendeiner Form erwerbstätig oder einen sonstigen Bezug zum polnischen Arbeitsmarkt aufrechterhält: Wenn er beispielsweise ein Fernstudium absolviert oder landwirtschaftliche Flächen besitzt, die von anderen Familienmitgliedern bearbeitet werden. Unter einer »echten« nebenerwerblichen Beschäftigung wird eine Situation verstanden, in der der berufliche Schwerpunkt in Polen liegt – in Form einer abhängigen Beschäftigung oder einer Selbstständigkeit – und nur unregelmäßig während des Urlaubs im Westen gearbeitet wird. »Quasi«- nebenerwerbliche Arbeit bedeutet, dass ebenfalls nur unregelmäßig im Westen gearbeitet wird und ein regelmäßiges Einkommen in Polen bezogen wird, allerdings nicht aus einer Erwerbstätigkeit, sondern durch Sozialleistungen (Alters- bzw. Frührente, Arbeitslosenunterstützung) und/oder regelmäßige Ausübung von Gelegenheitstätigkeiten. Als zusätzliche Kategorie können Schüler und Studenten gesehen werden, die sie sich noch in der Ausbildung befinden und noch nicht im Erwerbsleben (Anders als im deutschen »dualen System« erfolgt die Berufsausbildung in Polen an Schulen, d.h. Ausbildung und Ausübung sind getrennt.) Im Sinne der obigen Dichotomie kann man die Schüler und Studenten unter den Migranten der nebenerwerblichen Seite zuordnen. Eine Ausnahme hiervon bilden wiederum Erwerbstätige, die in Fernstudiengängen eingeschrieben sind, die in Polen – auch unter Nicht-Migranten – sehr viel verbreiteter sind als in Deutschland. Die so kategorisierten transnationalen Erwerbsformen in der Stichprobe entsprechen den Ergebnissen anderer quantitativer Untersuchungen die sich auf die Fragen der Länge der Auslandsaufenthalte, Häufigkeit der Besuche oder Charakter der Arbeit (als saisonal oder Vollerwerb) beziehen (v.a. JoĔczy 2000: 89, JoĔczy 2005: 48ff). Eine eigene Kategorisierung der transnationalen Erwerbsformen erschien hier jedoch aus zwei Gründen sinnvoll. Erstens werden hier zusätzliche Kategorien eingeführt, wie Nebenerwerbstätigkeit »neben« der Rente, Selbständigkeit oder landwirtschaftlicher Tätigkeit in Polen. Zweitens werden die zitierten Ergebnisse auf andere Fragestellungen bezogen (wie etwa der Zusammenhang zwischen den Formen der Arbeitsmigration und der Verwendung des Einkommens, oder die Erwerbstätigkeit der autochthonen Bevölkerung in Oberschlesien insgesamt) und so werden die Erwerbsformen in etwas andere, für die Forschungsfrage relevanten Kategorien gruppiert. In dieser Untersuchung hat sich die Gruppierung in vollerwerbstätige und nebenerwerbstätige Migranten (mit allen Subkategorien) als eine sinnvolle Kategorisierung erwiesen, da sie den Umfang, Motiv und Hintergrund der transnationalen Erwerbstätigkeit im gesamten Erwerbsleben der Migranten nachvollziehbar macht. Zusammenfassend lassen sich folgende Schlussfolgerungen bezüglich der oben analysierten Aspekte der transnationalen Infrastruktur festhalten: Die grenzenüberschreitend agierenden informellen Netzwerke und formellen Organisationen sowie die Kombination verschiedener Erwerbsformen über die Grenzen hinweg erweisen

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sich als ein »Meso-Bindeglied« (Faist 1996) zwischen institutionellen Strukturen (Ausbildung, Arbeitsmärkte/Erwerbsleben, Familienleben, Migrationspolitiken) und den Individuen. Sie korrespondieren etwa mit aktuellen Veränderungen der Institution Arbeitsmarkt und Erwerbsleben: Die flexiblen Arbeitsbeziehungen der Oberschlesier fügen sich gut in die Nachfrage nach Arbeitskräften, die den gegenwärtigen Trends in Produktion/Dienstleistungen gerecht werden, wie die »Just in time«-Produktion oder das Outsourcing von Personalkosten (Schmid 2000: 275). Zugleich erlauben/vermitteln die vielfältigen transnationalen Erwerbsformen den Individuen in ihren unterschiedlichen sozialen Positionierungen wie Klasse, Gender, Alter usw. eine »passfähige« Migrationsstrategie für sich zu verfolgen, wie im folgenden Abschnitt ausführlicher dargestellt wird.8 Damit stellt diese materiell-organisationelle transnationalen Infrastruktur eine wichtige Erklärungsgröße (neben der Sozialstrukturen und subjektiven Positionierungen) für die Ausprägungen der Migrationsstrategien der oberschlesischen Arbeitsmigranten, die im Folgenden näher dargestellt werden. Transnationale Migrationsstrategien – Typologisierung des Erwerbslebens oberschlesischer Arbeitsmigranten Hauptanliegen dieser Arbeit ist die Rekonstruktion der Migrationspraxis und der symbolischen Verortungen der Akteure im Hinblick auf die Forschungsleitfrage (d.h., inwieweit die oberschlesischen Migranten plurilokale Bindungen zum Ziel- und Herkunftskontext aufbauen und damit als Transmigranten bezeichnet werden können), wobei im ersten Unterkapitel der Schwerpunkt auf der Erwerbspraxis liegt. Die Ergebnisse werden in eine Realtypologie überführt, deren Typen abduktiv/deduktiv aus dem empirischen Material rekonstruiert werden. Diese realtypologischen »Migrationsstrategien« kategorisieren die Migrationsorientierungen der Akteure nach zwei Merkmalen: 1. geographischer Raum, in dem das Erwerbsleben stattfindet (in welchem Land arbeiten die Migranten?) 2. Strategie, die die gegebene räumliche Verortung bestimmt (welche Motive, Ziele, Erwerbsformen liegen der räumlichen Orientierung zugrunde?).

8

In Bezug auf die Relevanz von bestimmten Strukturgrößen (Gender, Lebenszyklus, Familienstand) auf die Erwerbsformen, korrespondieren diese Erwerbsstrategien von Migranten mit den Erwerbsverläufen von Nicht-Migranten, wie Erkenntnisse aus nationalen (vgl. Kohli 2000 zum Lebenszyklus, Jurczyk u.a. 2009 zur »Vereinbarkeitsfrage« in Deutschland) und ländervergleichenden Studien (Fagan u.a. 2001, Meulders 2001 zu Gender) zeigen.

186 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN

Die Realtypologie ergibt drei räumliche und fünf strategische Ausprägungen der Migrationsorientierung: 1. »Einsteiger«: Rückkehr nach Polen wird angestrebt; 2. »Eingependelte«: längerfristige Arbeitsmigration nach Deutschland/Niederlande – a) dauerhaft bzw. b) gelegentlich; 3. »Offene«: a) unbestimmt (»offen«), Wunsch nach Sesshaftigkeit bzw. b) flexible Haltung. Rekonstruiert wurden die Typen zum einen aufgrund des Zukunftsentwurfs des Migranten bezüglich seines weiteren Erwerbslebens zum Zeitpunkt des Interviews; zum anderen wurde als Kontrast die »tatsächliche« bisherige berufliche Praxis analysiert – die Wahl der einzelnen transnationalen Erwerbsformen, ihre Hintergründe und ihr Verlauf. Durch den Vergleich der Zukunftsentwürfe mit dem bisherigen Erwerbsverlauf konnte festgestellt werden, inwieweit die artikulierten Zukunftsentwürfe realistisch angestrebt werden. Außerdem konnte damit der Zusammenhang zwischen den intentionalen und anderen sozialen Prozessstrukturen9 (Schütze 1981) bzw. strukturierenden Aspekten analysiert werden, die ebenso zur Erklärung der Migrationsstrategien beitrugen: So liegen der Typologie weitere empirisch ermittelte Faktoren zugrunde, wie Form der transnationalen Erwerbstätigkeit (Haupt- vs. Nebenerwerblichkeit), Generation, Lebenszyklus und Alter, Geschlecht, Kapitalien, bestimmte Lebenslagen, subjektive Verortungsmuster.

9

Mit dem Begriff Prozessstrukturen erfasst Schütze bestimmte faktische Abschnitte einer jeden Lebensgeschichte. Dabei unterscheidet er zwischen vier »Grundphänomenen von Lebensabläufen« (mit anderen Worten »Prozessstrukturen«): (1) Unter den »institutionellen Ablaufmustern und -erwartungen des Lebenslaufs« werden erfasst institutionell bestimmte Lebensphasen, die einen Lebenslauf bestimmten wie Ausbildung, Familienzyklus, Berufskarriere; (2) »biographische Handlungsschemata« bezeichnen intentionale Entwürfe, vom Zielen geprägte Handlungen und Evaluation. (3) Mit »Verlaufskurven« (vgl. trajectory nach Strauss/Glaser 1971) sind Krisen gemeint, durch die ein Individuum in eine bestimmte Handlungskette gerät, die seinen Lebenslauf neu ordnet. Schütze wählt hierfür das Konzept der »Verlaufskurve«, das bei anderen Soziologen wie Goffman oder Garfinkel mit dem Konzept der »Karriere« erfasst wird, wie etwa eine »Patientenkarriere«. Schließlich bezeichnen (4) »Wandlungsprozesse« längerfristige und zumeist für das Individuum unbewusste Veränderungen der Handlungsschemata. Im Gegensatz zu »faktischen« Prozessstrukturen einer Biographie bezeichnet die »biographische Gesamtformung« die Deutung der eigenen Biographie durch den Befragten, stellt eine Art biographsicher Identität dar (Schütze 1980).

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Realtypologische Migrationsstrategien oberschlesischer Arbeitsmigranten 1. »Einsteiger«: »ich komme zurück nach Polen« (5 Fälle)10

2. »Eingependelte«: »weiter so zwischen Polen und Deutschland« a) vollerwerbliche »Dauerpendler«: »… bis zur Rente« (3 Fälle) b) nebenerwerbliche »Bedarfspendler«: »immer, wenn ich es brauche« (3 Fälle)

3. »Offene«:«Die Zukunft ist für mich offen…« (8 Fälle) a) »Unentschlossene«: entweder zurück oder auswandern (2 Fälle) b) »Flexible«: »wie es sich halt ergeben wird« (6 Fälle)

Die Migrationsstrategien sind als »dynamische« intentionale Handlungsschemata und Strategien zu verstehen. Das heißt, dass sie sich im Verlauf einer Biographie ändern können: So können z.B. die »Einsteiger« nach Realisierung ihrer Ziele tatsächlich zurückkehren, wie es ihre ursprünglich Migrationsstrategie vorsieht – oder aber zu »Eingependelten«oder »Offenen« werden. Dies hängt damit zusammen, dass die Migrationsstrategien eine bestimmte »Anpassbarkeit« besitzen – je nach Lebensphase und Lebenslage kann ein Migrant die für ihn »passende« Migrationsstrategie auswählen. Eben diese Passfähigkeit bzw. Vielfalt der Strategien scheint die Pendelmigration zwischen Oberschlesien und Deutschland oder den Niederlanden so attraktiv zu machen. Warum die Migrationsstrategien dynamisch und anpassungsfähig sind und wie ihre innere Logik aussieht, soll im Folgenden erklärt werden. »Einsteiger«: »Ich komme zurück nach Polen« Die Gruppe, welche die erste Migrationsstrategie in oben vorgestellten Typologie vertritt, ist relativ homogen: Es handelt sich hier um junge Arbeitsmigranten zwischen 20 und 30. In einer typischen Erwerbsbiographie dieser Altersgruppe11 sam-

10 Für diese Typologie wurden 19 von 23 Fällen zugrunde gelegt, da bei den anderen 4 Fällen die Zukunftspläne eingeschränkt sind (durch Rente in Deutschland bzw. Österreich, Krankheit usw.). Zuordnung der Einzelfälle: 1. Ola, Jan, Renata, Ludwig, Tomek, 2. a) Jakub, Krzysztof, Bogdan b) Krystian, Anna, Heinrich, 3. a) Darek, Grzegorz b) Hartmut, Wojtek, Sigmund, Mariola, Ada, Marcin. 11 Das betrifft auch junge Migranten aus anderen Gruppen.

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meln die Befragten bereits während der Schulzeit ihre ersten Arbeitserfahrungen im Ausland; peer pressure und familiäre Vorbilder durch Eltern, Geschwister Verwandten spielen dabei eine entscheidende Rolle, wie außer aus den Interviews mit Migranten auch aus Expertengesprächen mit einem Lehrer und Priestern hervorging. Ein weiteres Merkmal ist hier ein Phänomen, das auch in anderen Migrationsstudien zum Transnationalismus beobachtet wird: Arbeitsmigration fungiert als eine Art »Initiationsritus« vor dem Einstieg ins Erwerbsleben (zum einer vergleichbaren Situation in Mexiko vgl. Pries 2001a: 30). So werden bereits Schullaufbahn und Ausbildung der jungen Oberschlesier durch die Migration geprägt, indem die Schüler sich an den westlichen Arbeitsmärkten orientieren – sie wählen jeweils im Westen nachgefragte Berufe oder setzen die Ausbildung nach dem Abitur nicht fort, um als Arbeitsmigranten ihren Lebensunterhalt zu verdienen – 55,2% der Abiturienten, die ihre Ausbildung nach dem Abitur nicht fortsetzen, nennen die Arbeitsmigration als Motiv dafür (Sołdra-GwiĪdĪ 2006: 137, Experteninterview mit einem Lehrer). Die Befragten, die bereits während der Schule als Migranten gearbeitet haben, setzen die Arbeitsmigration dann nach dem Abitur neben- oder vollerwerblich fort. Zum Zeitpunkt des Interviews verfolgten sie sämtlich vollerwerbliche Strategien – mit dem Ziel, nach einer intensiven Phase der »Kapitalakkumulation« nach Polen zurückzukehren. Gemeinsam ist den »Einsteigern« die Überzeugung, dass – obwohl sie ihre nahe Zukunft eindeutig in Polen sehen – nur die Arbeitsmigration einen guten »Start ins Leben« gewährleisten könne. Arbeitsmigration als Einstieg ins Berufsleben muss man dabei vor dem Hintergrund der Herausbildung einer »Migrationskultur« in der Region sehen – die Arbeitsmigration ist in den letzten 15 Jahren zu einer sozialen Norm geworden. Zugleich muss hier auch die landesweite Dynamik der temporären Migration bei jungen Menschen, insbesondere nach Polens Beitritt zur EU und der Öffnung einiger Arbeitsmärkte für polnische Bürger, mit berücksichtigt werden. Gerade die Auswanderung der jungen Menschen wird durch die neuesten Statistiken bestätigt und ist im polnischen öffentlichen Diskurs sehr präsent (GrabowskaLusiĔska/Okólski 2009: 96 ff.). So lässt sich die Überzeugung von einem besseren Start ins Leben durch die Arbeitsmigration aus der regionalen und gesamtpolnischen Perspektive gut erschließen. Die familiäre Situation des Migranten bestimmt die Pendelintervalle zwischen dem Westen und Oberschlesien: Junge Migranten ohne Kinder migrieren gemeinsam und fahren nur gelegentlich nach Polen, wohingegen Migranten mit Kindern regelmäßig zu ihren Frauen und Kindern pendeln. Die Planung für die Zukunft in Polen ist von Fall zu Fall unterschiedlich fortgeschritten. Alle Befragten investieren in Oberschlesien in Immobilien, manche bereiten schon ihre berufliche Zukunft in Polen vor: über finanzielle Investitionen, z.B. Kauf eines landwirtschaftlichen Fahrzeuges zum Verleihen, bis hin zum Knüpfen geschäftlicher Beziehungen, Ideen

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usw. So plant z.B. ein Interviewpartner, Ludwig, sorgfältig seine zukünftige Selbstständigkeit (Ausbildung, Finanzen, Zeitplan, Erwerbstätigkeit der Frau, Ausgabenreduzierung des Haushalts). Dabei will er künftig als Selbstständiger eigentlich gar nicht mehr im Westen arbeiten: Sollte das Unternehmen aber nicht funktionieren oder nicht den Mindestgewinn erwirtschaften, den Ludwig sich für den Anfang setzt, könnte er durchaus wieder in Deutschland arbeiten. Ein weiterer Interviewpartner, Tomek, hat dagegen noch keine festen Pläne, aber genug Kontakte in seiner Branche. Demnächst wollen er und seine Frau eine Eigentumswohnung kaufen. Danach wird Tomek eine Arbeitsstelle in Polen suchen – aber nur eine, bei der er einen Monat unbezahlten Urlaub arrangieren kann, damit er zusammen mit den üblichen vier Wochen an bezahltem Urlaub die Arbeitsmigration nebenerwerblich weiter fortsetzen kann – eine unter oberschlesischen Migranten verbreitete Strategie, die Tomek schon vor der vollerwerblichen Phase praktiziert hat. Alle Migranten mit dieser Migrationsstrategie lehnen das vollerwerbliche Pendeln für die Zukunft kategorisch ab (ähnlich wie bei der Strategie der »Unentschlossenen« – Ablehnung der Pendelmigration). Das Modell des Rückkehrmigranten ist hier also potenziell enthalten. Interessanterweise bauen aber jetzt schon viele Angehörige dieser Kategorie kurze berufliche Auslandsaufenthalte in ihre Planung ein (vgl. Migrationsstrategie »Bedarfspendler« – nebenerwerbliche Erwerbsform). Exemplarisch für die Migrationsstrategie der »Einsteiger« soll im Folgenden der Fall Jan dargestellt werden.

Jan

Jan ist 23 Jahre alt, Kfz-Mechaniker von Beruf und ledig. Im Jahr 2000, im Alter von 16, fährt er in den Schulferien zum ersten Mal zur Arbeit in die Niederlande, in Begleitung seines Bruders und dessen Freundin. Auch Jans Mutter arbeitet gelegentlich in Deutschland und in den Niederlanden. Nach der Schule beginnt Jan zusammen mit seiner Freundin, in den Niederlanden zu arbeiten: Zuerst 7 Monate lang in Den Haag (er fährt zu dieser Arbeit zusammen mit seiner Freundin, deren Mutter und seiner Mutter, die ihren Kindern die Arbeit vermittelt haben), kündigt diese Stelle aber nach einem Autounfall, bei dem sich herausstellt, dass die Mitarbeiter nicht ordnungsgemäß versichert waren. Danach soll er bei seinem Bruder arbeiten, der zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden Arbeitsvermittler ist. Da dieser Plan auf Grund familiärer Konflikte scheitert, kehrt Jan kurz nach Polen zurück, findet dort aber keine Arbeit, und fährt daraufhin wieder in die Niederlande. Nun arbeitet er 3 Monate lang in Rotterdam und dann 1,5 Jahre lang in einer Bäckerei in Amsterdam als Vorarbeiter, später, 2004, als Fahrer (Personentransport) und seit

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2005 in Nijmegen in der Gartenindustrie, hier teilweise im Büro als »Kontaktperson«. Bevor Jan seine Migrationskarriere beginnt, muss er sich für seinen Traumberuf als Automechaniker gegenüber den Erwartungen der Eltern an seinen künftigen Status durchsetzen – beide Eltern und sein älterer Bruder haben Abitur und der Beruf des Automechanikers erfordert keins. Die praktische Ausbildung hat sich in Jans Augen später gelohnt – sie hat ihm in den Niederlanden immer genützt und auch heute noch: So hat er z.B. erst kürzlich ein Angebot in einer Kfz-Werkstatt in Polen bekommen. Das Beispiel seines Bruders, der auch mit Abitur lange keine Arbeit in Polen finden konnte, hat ihn zusätzlich darin bestärkt, dass sich das Abitur nicht lohne. Nach den schlechten Erfahrungen seines Bruders auf dem polnischen Arbeitsmarkt wollte Jan es dort nicht einmal versuchen. Er entschied sich dazu, gemeinsam mit seiner Freundin sofort im Westen ins Berufsleben zu starten. Zuerst denkt er daran, dauerhaft nach Stuttgart zu emigrieren, wo viele seiner Bekannten bei BMW arbeiten; aber sein dort lebender Onkel zeigt sich nicht bereit ihm zu helfen – doch »ohne Familie« und mit der Aussicht auf nur befristete Arbeitsverhältnisse bei BMW realisieren Jan und seine Freundin diesen Emigrationsplan schließlich nicht. Die Arbeit in den Niederlanden »ergibt sich« durch Bekannte, die auch in den Niederlanden arbeiten. Bereits während der Schulzeit erlebt Jan die Arbeit im Westen als eine Art »Initiationsritus«: Mit 16 fährt er unter Obhut seines Bruders zum ersten Mal zum Arbeiten in die Niederlande – vor Ort stellt sich jedoch heraus, dass seine »Betreuer« 70 km von ihm entfernt arbeiten und wohnen. Jan erinnert sich mit Sentimentalität an diese erste Tätigkeit: Er ist auf sich alleine gestellt, es ist für ihn »ein großes Ereignis«, denn »das Leben war da ganz anders als in Polen«. Die Wohnbedingungen waren sehr schlecht, aber die Arbeit habe ihm sehr gefallen, denn er konnte sein Selbstbewusstsein aufbauen, was seine Kompetenzen und seine Leistungsfähigkeit betrifft: »Ich war 16 Jahre alt, ich hatte keinen Führerschein, ich hatte gar nichts. Ich werde nie vergessen, wie dieser eine Holländer kam und nahm zuerst meinen Freund Tomek und sagte: ›Das ist ein Gabelstapler und das wird dein Arbeitsplatz sein, du hast 5 Minuten, um es zu lernen und dann fangen wir mit der Produktion an‹. Und Tomek war 2 Köpfe größer als ich. Und dann kam dieser Holländer zu mir und sagte: ›Und dein Arbeitsplatz wird sein… komm mit‹ und wir sind zu so einem großen Platz gegangen und ich weiß nicht... ob du dich auskennst, ich nenne es Fadroma, das ist ein Bagger mit so einem Löffel, der 1,5 Tonnen nimmt […] ich reichte nicht mal zu der Hälfte des Rades. Er sagte: ›Das ist dein Arbeitsplatz, du hast 5–10 Minuten, um ihn fahren zu lernen.‹ Er hat sich mit mir hingesetzt, alles lief über Joystick, über Computer, nach 5 Minuten super Arbeit. Jeden Tag haben wir 12 Stunden gearbeitet, 8 Wochen lang, nachts, von 10 Uhr morgens bis 10 abends, nein: Von 10 Uhr abends bis 10 Uhr morgens […] es war super, echt, ich habe mich so umgestellt… Es gab Kollegen, die

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waren älter als ich, 24, 25 Jahre alt, sie schafften es nicht, 16-17 Kaffee, und ich hatte nichts, nicht. Es war wirklich super.«

An der letzen Schilderung wird deutlich, dass Jan sich nicht zu schade ist, exzessiv zu arbeiten: Mit 16 ist sein Hauptmotiv, sich selbst als Erwachsener bzw. als »Leistungsmensch« zu behaupten. 2005 ist der Arbeitsstil noch immer derselbe, auch wenn der Hintergrund dieser Strategie inzwischen ein anderer ist: »Ich kann mich erinnern, als so eine Kontaktperson kam, Iza, eine Freundin von mir, ich kann mich an ihre ersten Worte erinnern: ›Haut nicht von hier ab, geht wenigstens zwei Tage lang zur Arbeit bevor ihr abhaut.‹ Und wir sind zur Arbeit gegangen, ich weiß noch – die ersten drei Tage waren wir fertig, denn wir sind um acht Uhr abends gekommen und um sieben Uhr mussten wir schon arbeiten gehen, um zehn Uhr kam erst diese Iza und wir haben über diese Arbeit erfahren, bevor du Sachen ausgepackt hast, geduscht hast, war schon ein Uhr in der Nacht. Am Morgen von sieben bis eins in der Nacht haben wir auf der neuen Arbeit gesessen, am nächsten Tag bis zehn Uhr abends, denn es waren so viele Bestellungen, die Hauptsaison hat angefangen… und man musste arbeiten, nicht. Wir waren so fertig, ich habe gekocht, alles für Ola [Freundin] gemacht und sie hat nur geschlafen, ich habe mich um sie gekümmert, damit sie nur nicht krank wurde. Und wir haben solche Optionen überlegt: Die Arbeit war schlecht, aber man konnte gut verdienen. Und jetzt – was sollte man wählen – entweder durchhalten, denn es war nur eine Saison, aber dafür gut verdienen. Und wir sind geblieben, aber dann haben wir uns schon daran gewöhnt, das ist… das schwierigste ist, sich daran zu gewöhnen.«

Jan und seine Freundin Ola setzten mit dieser Strategie ihren gemeinsamen Lebensentwurf um, sie realisieren ihre Träume: Nach drei Jahren Arbeit kaufen sie sich ein neues Auto, sie reisen nach Paris oder in ein Fünf-Sterne-Hotel in einem polnischen Badeort. Das nächste und größte Etappenziel ist ein Haus in Polen – das Grundstück ist schon gekauft, die Steine für das Haus ebenfalls. Es soll dann, mit ca. 26 Jahren, die Heirat folgen – so der Plan -, denn für Jan »ist Ola am wichtigsten« und Kinder möchte er auch gerne. Dann will sich Jan auch beruflich in Polen etablieren, weshalb er davor noch genug Startkapital ansammeln will. »Der Plan«, der Wille »etwas zu erreichen« sind sinnstiftend für Jans Denk- und Handlungsorientierung. Seine gesamte Erwerbspraxis und Motivation für das exzessive Arbeiten machen dies deutlich, auf den Punkt bringt es die folgende Beschreibung: »Im Moment… es gab diesen Autounfall, und ich weiß, dass für mich die beste Ablenkung von diesen Gedanken die Arbeit ist. Einfach arbeiten. Und wenn ich arbeite, und manchmal habe ich Rückenschmerzen, oder ich bin erschöpft, denn man musste bis 22 Uhr arbeiten, genau: Da kommt der Holländer und sagt, dass wir bis 22 Uhr arbeiten müssen, und ich sage

192 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN zu ihm: ›ah, mein Citroen, mein Citroen is, my new Citroen is stukkie dichter bij‹, das bedeutet, dass mein neuer Citroen ist so ein Stückchen näher gerückt…«

Auch sein Umgang mit verschiedenen schweren Lebenserfahrungen macht diese Handlungsorientierung deutlich: Hier u.a. zwei schwere Autounfälle auf dem Weg zur Arbeit in den Niederlanden und auf dem Weg von Polen in die Niederlande, Brände in den Wohnungen, der Tod eines Nachbarn, während Jan versuchte, ihn zu reanimieren. »Wichtig, wichtig für mich… mein Leben, ich finde – für eine Person mit 23 habe ich schon so viele Erfahrungen gemacht, dass… manch einer in meinem Alter wäre schon psychisch am Ende […] jetzt dieser Autounfall war auch eine Katastrophe, da in Deutschland […] einer ist uns von hinten rein gefahren, ein Erlebnis war es, das schlimmste dabei war, dass wir für dieses Auto einfach… mit unserer schweren Arbeit hier verdient haben. Wir haben gespart… ich weiß nicht – über ein Jahr lang haben wir für dieses Auto gespart, wir haben es gekauft und keiner der Eltern hat nicht einmal einen Cent dazu gelegt, nein. Und innerhalb einer Sekunde haben wir es verloren, und am schlimmsten war direkt nach dem Unfall: Meine Psyche war da so am Ende, ich hatte so eine Angst und musste noch um 3 Uhr nachts mit einem ausgeliehenem Auto 70 Kilometer nach Berlin zu meinem Onkel, der uns nicht abgeholt hat. Ich hätte heulen können, aber nein, ich habe gegen diese Gedanken gekämpft… Aber jetzt bin ich wieder optimistisch, auf Zukunft orientiert, wir werden ein neues Auto kaufen, jetzt, wenn wir im Mai nach Polen fahren.«

Die »Leistungsorientierung« ist prägend für Jans Selbstbild; es manifestiert sich in seiner Bewertung der Vergangenheit, der Zukunftsplanung und den Selbstbeschreibungen. »Ich bin immer optimistisch nach vorne gerichtet, wir hatten schon Unfälle, ein anderer würde noch eine Woche nach dem Unfall heulen und ich wollte schon ein neues Auto kaufen. Aber wir sorgen immer vor, um das Geld zu haben, ich meine – vielleicht sehe ich sehr jung aus, ich bin 23, aber manchmal denke ich wohl wie ein 30-jähriger. Andere Bekannte… manchmal bin ich sogar neidisch, dass sie in die Discos gehen, trinken, feiern, manchmal tut es uns leid, dass wir in so einem jungen Alter Erwachsenenleben gewählt haben und wir sagen uns das immer, dass wir so entschieden haben, dass wir ein Haus bauen wollen.«

Jan betont im Interview mehrmals, dass er zwar »erst 23« sei bzw. »nur so jung aussähe«, aber von der Lebensorientierung »wie ein 30-Jähriger«, sehr »zukunftsorientiert« sei. Diese Passage zeigt auch, wie Jan sein Selbstbild in Abgrenzung von anderen Migranten konstruiert – ganz anders als sein Freund, der eine Wohnung im Haus seiner Eltern erbt, hat Jan alles selbstständig erreicht:

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»Sagen wir mal, früher war man abhängig von den Eltern, von allem, seitdem ich zusammen mit Ola mit dieser Arbeit (wyjazdy) angefangen habe, seitdem haben die Eltern für mich – kann man sagen – keinen einzigen Cent ausgeben müssen. Ich bin selbstständig. Und jede einzelne Sache, von Klamotten, Socken bis was weiß ich, Zigaretten und Essen, schon lange: Wenn wir da sind, kaufen wir das Essen selbst, wir haben zwar einen gemeinsamen Kühlschrank, aber eher wir kaufen dann den Eltern das Essen, alles selbst… Wir lernen diese Unabhängigkeit, Holland hat mir diese Unabhängigkeit von Menschen und zu Geld beigebracht, nicht wie die Mehrheit der Jugendlichen – Discos oder so was; ich bin der Meinung dass ich eine Chance habe, zu verdienen und man muss es sehr vorsichtig und mit Verstand ausgeben, nicht wie es andere Menschen tun.«

Das gegenwärtige Leben Jans orientiert sich also an seinen Zukunftsentwürfen: »… ich weiß nicht, wie könnte man mein Leben in Kürze erzählen? Das ist Holland – Polen, Polen-Holland, und inzwischen, ich weiß nicht, die Durchfahrt durch Deutschland… […] Ja, die wichtigsten Werte, das ist das Haus, das ist mein größtes Ziel, was mich hier hält. Ansonsten würde ich hier nicht sitzen, keine Chance.«

Diese Aussagen und der bisherige Erwerbsverlauf illustrieren Jans transnationale Erwerbsstrategie. Wie der transnationale Alltag im Einzelnen aussieht, zeigte das Thema des unmittelbar bevorstehenden Hausbaus. Das Paar möchte im Mai mit dem Bau beginnen; das bedeutet, dass einer von ihnen in dieser Zeit in Polen die Bauarbeiten beaufsichtigen wird, während der andere weiter in den Niederlanden Geld verdient. Es ist im Moment Gesprächsthema – beide würden lieber in den Niederlanden arbeiten, aber Jan meint, durch sein offenes Wesen besser im dortigen Arbeitsumfeld zurechtkommen zu können; außerdem möchte er diesen Sommer zum ersten Mal seinen jüngeren Bruder mitnehmen. Jan und Ola können ihre Arbeitsteilung flexibel gestalten, da sie auch die Arbeitsverträge flexibel ausgestaltet haben. Dass der »physische« Lebensschwerpunkt für Jan im Moment in den Niederlanden liegt, zeigt schon die Tatsache, dass das Interview zu Ostern in den Niederlanden durchgeführt wurde – als das wichtigste Familienfest nach Weihnachten feiern Migranten Ostern in der Regel bei der Familie in Polen. Die nächsten Jahre haben Jan und Ola bereits fest verplant: Nach seiner Rückkehr nach Polen hat Jan jedoch weiterhin eine nebenerwerbliche Erwerbsstrategie für die Niederlande bzw. Deutschland – wo er viele Bekannte hat, beide Sprachen sehr gut spricht: »Das Haus, Auto, ein wenig Geld, ein schöner Garten, ich weiß nicht. Ich schätze noch 2-3 Jahre und dann schon in Polen arbeiten, höchstens sich frei nehmen für… 5 Wochen lang Urlaub nehmen und hierhin zur Saisonarbeit kommen und das Hausbudget aufpäppeln, das ist

194 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN mein Plan. Ich finde, mit der Arbeit ist es in Polen besser geworden und ich würde Arbeit finden, nach der Schule habe ich auch 3 Monate lang in Polen gearbeitet, schwarz…«

Grob betrachtet sieht Jan die wirtschaftliche Entwicklung im Osten im Aufschwung und im Westen in einer Abwärtsspirale: So galt noch für seinen älteren Bruder und zunächst auch für ihn selbst, es lohne sich nicht, in Polen eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Auch wenn diese Denkfigur grundsätzlich fortbesteht und nach wie vor ein entscheidendes subjektives Motiv für die Aufnahme der Migration bleibt, verliert sie im Zuge der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Polen sukzessiv an Plausibilität. Doch neben den verbesserten Erwerbschancen in Polen gibt es noch andere Motive, warum Jan dorthin zurück möchte. Zum einen fühle er sich in Oberschlesien am wohlsten und empfindet sein momentanes Leben als provisorisch: »Sich hier niederlassen – nein. Hier gefällt es mir gar nicht. Mir gefallen die Staus nicht, mir gefällt nicht… zu viele Türken, Schwarze. Polen ist Polen, du hast die Ruhe, du weißt, dass du zu Hause bist. Hier in der Wohnung hast du immer fremde Leute. Angeblich ist das unsere Wohnung, du bist bei uns zu Gast, aber man muss immer damit rechnen, dass gleich jemand ein Problem damit haben wird oder so was, denn es sind verschiedene Leute… Du schließt die Schule ab, früher hattest du normale Arbeit und jetzt hast du keine Perspektive, man kann echt dankbar sein, dass man den Pass hat und legal arbeiten kann. Ich sage immer, wir rackern uns ab manchmal, dieses Pendeln, kein eigenes Zuhause haben und… Hier bist du mit diesem Gedanken, dass du da kein Zuhause hast. Manchmal kriegst du so eine Wut auf Holland, und manchmal wiederum… Manchmal, wenn du eine gute Zeit hast, freust du dich, dass du hier bist und manchmal, wenn du eine schlechte Zeit hast, wie damals als wir diesen Unfall hatten, dann sagte ich: Warum musste es so passieren, blödes Holland. Ich habe weniger mir selbst oder diesem Typ Vorwürfe gemacht als Polen, denn wenn ich, finde ich, wenn ich dort Arbeit hätte, dann hätte es vielleicht diesen Unfall nicht gegeben, denn ich müsste dann nicht um 1 Uhr nachts mit großer Geschwindigkeit auf Autobahnen fahren, nicht?«

Zum anderen beobachtet Jan genau die allgemeine Entwicklung in Polen, den Niederlanden und Deutschland. Jan spricht fließend Deutsch und Niederländisch und sieht deutsches und niederländisches Fernsehen. Er informiert sich auch über seine Bekannten in Polen, Deutschland und den Niederlanden über die jeweilige Situation; seinem jüngeren Bruder rät er aber zu einer Ausbildung, die sich auf die neusten Entwicklungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt (Straßenbau) ausrichtet. Wie viele der Migranten ist auch Jan der Meinung, dass unter anderem durch die EU-Osterweiterung und die Öffnung der westlichen Märkte für alle polnischen Bürger der »Wasserhahn für die oberschlesischen Arbeitsmigranten zugedreht wird«. Dabei versichern ihm seine Arbeitgeber, dass sie lieber »einen Jan für 12 Euro als drei Polen für 3 Euro einstellen«. Andererseits ist Jan jedoch optimistisch, was seine berufliche Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt angeht: »Ich bin

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der Meinung… die Zeiten sind so und man muss damit klarkommen, nicht? … Der Mensch hat nur ein Leben.« Der Fall Jan illustriert die typische Migrationsstrategie der »Einsteiger«, deren Zukunftsentwurf in Polen verortet ist. Jan versucht nicht einmal, Arbeit in Polen zu suchen, da er die Arbeitsmarktsituation junger Menschen in Polen bei seinem Bruder miterlebt hat und die Aufnahme der Arbeitsmigration in seiner Generation ganz selbstverständlich den »Start ins Erwachsenenleben« bedeutete. Jan gehört auch zu der jungen Generation, für die die Arbeitsmigration ein Teil der Sozialisation durch Familie und peer group ist: Beide Eltern, der ältere Bruder und viele Bekannte arbeiten im Westen. Auch die Auswanderung – ähnlich wie bei anderen Migranten – war für Jan kurz ein Thema. Aber da er sich auf sein familiäres Netzwerk in Deutschland nicht verlassen kann und auch Beispiele aus seinem Bekanntenkreis nicht überzeugend sind, entscheidet er sich schließlich für die transnationale Erwerbsstrategie. Da er die Arbeitsmigration mit seiner Freundin praktiziert, hält er sich hauptsächlich in den Niederlanden auf; weil die beiden keine Kinder haben, sind sie in der Arbeits- und Lebensplanung noch sehr flexibel. Wegen seines Alters ist Jan noch zu »exzessiver« körperlicher Arbeit in der Lage. Die vollerwerbliche Erwerbsform mit lockeren vertraglichen Bindungen entspricht seinen persönlichen Zielen (Kapital ansammeln) und der Notwendigkeit, wegen seines Hausbaus gelegentlich nach Polen zu fahren. In Zukunft will Jan zur nebenerwerblichen Erwerbsform übergehen, damit er seinen Lebenstraum in Polen realisieren kann, ohne die Arbeitsmigration Richtung Westen komplett aufgeben zu müssen. Durch sein dichtes transnationales soziales Netzwerk und kulturelles Kapital in Form von sehr guten Sprachkenntnissen in Niederländisch und Deutsch sowie einer gut verwertbaren praktischen Ausbildung kann Jan in Zukunft sowohl auf den westlichen wie auf den polnischen Arbeitsmarkt zurückgreifen. Nicht zuletzt ist Jans ausgeprägte Leistungsorientierung ausschlaggebend für seine positive Bewertung der transnationalen Erwerbsstrategie – trotz der vielen Schwierigkeiten: »Als ich klein war, da hatte ich den Traum, etwas im Leben zu erreichen. Und Holland bzw. Deutschland haben uns geholfen, es zu realisieren.« Der transnationale soziale Raum ist somit ein Teil des Zukunftsentwurfes. Es wird sich zeigen, in welchem Maß er tatsächlich Jans Leben bestimmen wird. Die Analyse der Alltagspraktiken und ihrer symbolischen Repräsentationen zeigt Jans plurilokale Inkorporation, weshalb er tendenziell als Transmigrant bezeichnet werden kann. Dies manifestiert sich a) in seinen transnationalen primären und sekundären sozialen Beziehungen, b) in seinem transnationalen Erwerbsleben und Zukunftsprojekt, das zwar auf Oberschlesien ausgerichtet ist (was eher auf gelegenheitsbezogene- oder recurrent-Migration hinweist), aber die nebenerwerbliche Erwerbsform im Westen mit einbezieht; c) in seinem umfangreichen gesellschaftli-

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chen Wissen über den Raum Polen-Deutschland-Niederlande und schließlich d) in seiner durch diesen Raum geprägten Identität. Seine Migrationsstrategie macht deutlich, dass auch eine eindeutig auf Polen als Lebensschwerpunkt gerichtete Zukunftsplanung eine weitere transnationale Lebensführung nicht ausschließt, dass diese vielmehr von Anfang an mit eingeplant wird. »Eingependelte«: »Weiter so zwischen Polen und Deutschland« Hinter dieser Migrationsstrategie stehen Migranten, die vollerwerblich (als »Dauerpendler«) bzw. nebenerwerblich (»Bedarfspendler«) im Westen arbeiten und planen, diese Strategie weiter zu verfolgen. Im Untertyp der »Bedarfspendler« erkennen wir die Zukunftsprojektionen der »Einsteiger«, die zwar »in ein paar Jahren zurückkehren wollen«, in diesen Rückkehrplan jedoch bereits die nebenerwerbliche Migration (teilweise fest) einbeziehen. Hier zeigt sich also deutlich, dass Migranten im Verlauf ihrer Erwerbsbiographie mehrere Migrationsstrategien entwickeln können. Vollerwerbliche »Dauerpendler«: »Bis zur Rente« In dieser Untergruppe befinden sich ältere Migranten, die mit ihrem beruflichen Leben im Westen einigermaßen zufrieden sind und hoffen, mit der transnationalen Erwerbsstrategie das Rentenalter erreichen zu können. In der Stichprobe befand sich ein Migrant, der nach jahrzehntelangem Pendeln nach Österreich genau diese Strategie erfolgreich umgesetzt hat. Einige Faktoren beeinflussen diese Haltung: Durch ihre lange vollerwerbliche Migrationskarriere sind die Befragten auf dem westlichen Arbeitsmarkt inzwischen besser etabliert als in Polen. Das Pendeln empfinden sie zwar als lästig, aber die Alternative, in Polen zu arbeiten – in der Regel käme aus finanziellen Gründen nur eine Selbstständigkeit in Frage – ist ihnen im Vergleich zu ihrer jetzigen beruflichen Situation zu unsicher. Relevant ist hier auch der lebenszyklische und familiäre Aspekt dieser Migrationsstrategie: Die Migranten haben erwachsene Kinder, wodurch der Aspekt des abwesenden Vaters nicht mehr so schwerwiegend ist wie bei jüngeren Migranten. In diesem Zusammenhang kommen wieder das Geschlecht und die familiäre Situation des Migranten als Faktoren ins Spiel: Wie im zweiten Teil des empirischen Kapitels noch ausführlich besprochen wird, sind Lebenszyklus und Geschlecht der Migranten entscheidend für ihr Migrationshandeln. In diesem Fall ist es die späte Phase des familiären Lebenszyklus, die zum Tragen kommt. So arbeitet einer der Migranten, seitdem die Kinder »aus dem Haus« sind, zusammen mit seiner Frau in den Niederlanden; ein zweiter plant den Nachzug seiner Ehefrau, sobald alle Kinder aus dem Haus sind; bei einem dritten ist die Frau selbst in Polen berufstätig, da die

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Kinder längst selbstständig sind. Exemplarisch soll die Geschichte dieses dritten – Krzysztof – diese Migrationsstrategie illustrieren.

Krzysztof

Krzysztof ist 56, Schlosser von Beruf, verheiratet, seine Frau ist berufstätig. Er hat zwei erwachsene Söhne, die heute in Deutschland leben und früher mit ihrem Vater nach Deutschland zur Arbeit gependelt sind. Nur kurz arbeitet Krzysztof in Polen in seinem erlernten Beruf. Während des Militärdienstes macht er eine Ausbildung zum Fahrer und 1969 beginnt er seine Berufslaufbahn als LKW-Fahrer für eine Lebensmittelkette. 1980 wechselt er dann – ebenfalls als LKW-Fahrer – zu einem Bauunternehmen. 1993 bekommt Krzysztof die deutsche Staatsangehörigkeit und arbeitet ab diesem Zeitpunkt ein bis zwei Monate im Jahr nebenerwerblich in Deutschland. In dieser Phase nimmt Krzysztof auch seine Söhne, die ihre Schulen gerade abschlossen haben, mit zur Arbeit nach Deutschland. 1996 steht das polnische Unternehmen, bei dem Krzysztof arbeitet, kurz vor der Insolvenz und er kündigt. Ab hier beginnt seine vollerwerbliche Migrationslaufbahn – zuerst in Deutschland und hier zunächst in Städten in Ostdeutschland. Später, als Arbeitsplätze im Osten knapper werden, muss Krzysztof weiter in den Westen und Süden Deutschlands ziehen. Den Beschäftigungsverlauf kennzeichnen Brüche und Kurzfristigkeit – ab und zu muss Krzysztof wegen fehlender Arbeit auf eine neue Beschäftigung in Polen warten. Er arbeitet in dieser Zeit »für polnische, deutsch-polnische und deutsche Unternehmen«. 2002 geht er für ein polnisches Unternehmen nach Österreich, wo die wirtschaftliche Situation besser ist als in Deutschland; seit 2005 ist er direkt in einem österreichischen Unternehmen beschäftigt. Seit einigen Monaten sind Krzysztof und seine drei oberschlesischen Kollegen von diesem zur Arbeit in die Schweiz delegiert. Krzysztof will mit 65 in Rente gehen, es sind also noch sieben Jahre, die bleiben. Er hofft, es bis dahin mit seiner jetzigen Erwerbsstrategie schaffen zu können. Die Migration sieht Krzysztofs als ein Teil seiner Familiengeschichte, da bereits in der Elterngeneration eine Wanderung zwischen Oberschlesien und dem heutigen Deutschland – in beiden Richtungen – stattfand: »Ja, sie sind wohl zur Arbeit gefahren, vor dem Krieg, nach dem Krieg, sie fuhren na zaksy.12 Na zaksy ist hier nah, Dresden […] Meine Eltern waren eine zeitlang nach dem Krieg da,

12 »Na zaksy«- »nach Sachsen« – ein ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert stammender Ausdruck für Wanderarbeit in der deutschen (Land-)wirtschaft. Interessanterweise wird

198 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN oder.. ich weiß nicht, im Krieg flüchteten sie sich vor den Russen, oder so was, und sie wollten da bleiben. Aber dann hat es sich da so verschlechtert, wie ich gehört habe – da war es schlechter als hier, und wieder sind sie hierhin zurückgekommen.«

Krzysztof selbst wird dann – typisch für seine Generation – von der Welle der Emigration aus Oberschlesien in die Bundesrepublik in den 70er Jahren »erfasst«: »Zum ersten Mal kam der Bruder meines Vaters hierhin, mein Onkel […] und er kam auch zu uns. Ja, ein elegantes Auto, während sie bei uns Syrenkas fuhren, aber er – Opel Commodore, ein großes… und einmal haben wir uns zum Bier zusammengesetzt und er hat angefangen, mir zu erklären, wie es da so alles ist. Und ich hatte so eine fixe Idee, ich wollte dahin. Er hatte mir sogar eine Einladung geschickt, aber was hat es gebracht – ich beantragte das Dings und ab, ab, ab.13 Und ich bekam so lange dieses ab, dass ich keine Lust mehr hatte. Und dann habe ich angefangen, dieses Haus zu bauen und so kam es, dass ich hier und nicht da bin.«

Da Krzysztofs Ausreiseanträge mehrmals abgelehnt werden und seine Frau dazu gegen die Ausreise ist, entscheidet er sich, ein Haus zu bauen und sein Leben in Polen längerfristig zu planen. Zwar ist die Auswanderung für Krzysztof bis heute ein Thema, aber trotzdem würde er noch einmal genauso handeln14, zumal er bei den damaligen Emigranten beobachtet (wie viele Interviewpartner), dass diese heute auch nicht ganz glücklich mit ihrer Emigrationsentscheidung seien: »Ja, sie würden gern zurückkommen, aber sie wissen nicht, wohin. Und so bedauert und weint mancher, denn sie wohnen da in diesen Wohnblocks, man weiß ja…« In den 90er Jahren ist nicht mehr die Auswanderung, sondern die temporäre Migration die verbreitete Migrationspraxis in der Region. Krzysztof beantragt 1991 die deutsche Staatsangehörigkeit, weil er merkt, dass immer mehr seiner Arbeitskollegen im Urlaub zum Arbeiten in den Westen fahren und ihre materielle Situation in Polen damit deutlich verbessern. Als Krzysztof schließlich 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit erhält, beginnt er sofort, nebenerwerblich in Deutschland zu arbeiten.

dieser Ausdruck auch bezüglich der gegenwärtigen Arbeitsmigration verwendet, so dass historische Phänomene wie die Saisonarbeit von Polen im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Wortschatz zur Beschreibung universellerer Phänomene weiterleben und auf eine neue, konkrete Wirklichkeit angewendet werden. 13 Im Original deutsch – »ab« wird hier verwendet im Sinne abgelehnt, »weg«. 14 Nur wenige der Interviewpartner sagen, sie hätten zum zweiten Mal auch die Pendelmigration gewählt. Die meisten von ihnen hätten sich – zurückblickend auf die gesamte Pendelphase – für »entweder-oder«-Strategie entschieden, vorzugsweise für Auswanderung (vgl. Ada, Sigmund, Bogdan, Paweł, Darek, Marek, Grzegorz).

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Dabei gehen er und seine Kollegen ein informelles Arrangement mit ihrem Chef in Polen ein: Damit sie zusätzlich zum gesetzlichen Urlaub auch unbezahlten Urlaub bekommen und ihre Urlaubszeiten im Unternehmen aufeinander abgestimmt werden (es handelt sich um 10–12 Personen), revanchieren sie sich mit kleinen Geschenken und durchschnittlich 100 DM pro Person bei ihm. 1996 droht Krzysztofs Arbeitgeber dann – wie bereits beschrieben – die Insolvenz. Angesichts der zu befürchtenden Arbeitslosigkeit wechselt Krzysztof zur vollerwerblichen Arbeitsmigration über – das heißt, er arbeitet ab nun nur noch im Ausland. Er schildert die damalige Situation so: »…und hier war es irgendwie schlecht mit der Arbeit, und man musste bei dem zugreifen, was es da gab…« Damit begann seine vollerwerbliche Migrationskarriere: Zunächst im Osten Deutschlands, über den Westen und den Süden, schließlich Österreich und heute die Schweiz. Diese Wechsel ergeben sich aus verschiedenen Konstellationen: der Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung in den Regionen und Ländern (bis Mitte der 90er Jahre Bauboom in Ostdeutschland, seit Ende der 90er Jahre günstigere Arbeitsmarktsituation in Österreich), sozialen Netzwerken usw. Krzysztof »misst« dabei die aufeinander folgenden Stationen anhand ihrer Entfernung zu Oberschlesien: So konnte er aus Ostdeutschland und dem 370 km entfernten Wien jede Woche nach Hause fahren, aus Westdeutschland und der Schweiz nur jedes zweite Wochenende. Interessant ist auch, dass Krzysztof zwar insgesamt in drei Ländern arbeitet, aber immer im deutschsprachigen Raum. Seine sprachlichen Schwierigkeiten im französischsprachigen Teil der Schweiz zeigen, dass der transnationale Arbeitsmarkt für Krzysztof in dieser Hinsicht begrenzt ist. Das gleiche gilt für ihn übrigens auch in Bezug auf die Niederlande – im Gegensatz zu polnischen Migranten, die sich in den Niederlanden hauptsächlich in englischer Sprache verständigen, ist es im Falle der oberschlesischen Migranten die deutsche Sprache, die in den Niederlanden genauso verbreitet ist wie Englisch. Charakteristisch für Krzysztofs berufliches Verhalten im Zielkontext ist seine Flexibilität, die sich in mehreren Punkten zeigt. Krzysztof ist risikobereit; nimmt immer wieder neue und unterschiedliche Jobs an: »Nicht selten haben die Stellen zwei, dreimal innerhalb eines Monats gewechselt […] Wo man Arbeit kriegte, da fuhr man hin. Und so arbeitete ich in einer Baumschule, als Elektriker, was man kriegte, das machte man.«

Die Arbeitszeiten betragen im Schnitt 10–12 Stunden täglich, unter anderem wegen der ungünstigen steuerlichen Situation der Arbeitnehmer, deren Familien im Ausland leben – sie werden in Österreich als Alleinstehende versteuert, obwohl sie in Polen Familie haben:

200 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN »Also, der gebürtige Österreicher kann acht Stunden arbeiten, und wir müssen für das gleiche Geld wie er elf bis zwölf Stunden arbeiten.«

Krzysztof und seine oberschlesischen Kollegen nehmen in der Hierarchie der Unternehmen eine rangniedrigere Position ein. Dies hat einige Gründe: Ihre Arbeitskraft ist billiger (sie verdienen für die gleiche Tätigkeit pro Stunde 13 Euro, die Österreicher 16 Euro), sie führen gering qualifizierte Tätigkeiten aus und sind leichter ersetzbar, sie haben weniger Rechte, weil sie stets nur kurzfristig in einem Unternehmen bleiben. Daher ist die Machtasymmetrie zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch stärker als sonst. Sie sind »mobil«, d.h. nicht so ortsgebunden wie »normale« Arbeitnehmer und können leichter bei atypischen Arbeitszeiten und -orten eingesetzt werden. So werden z.B. nur die vier oberschlesischen Mitarbeiter von dem österreichischen Unternehmen in die Schweiz delegiert, denn den österreichischen Arbeitnehmern müsste der Arbeitgeber Entfernungsaufschlag zahlen und die polnischen Mitarbeiter haben keinen festen Wohnort in Österreich und lassen sich flexibel einsetzten. Schließlich spielt noch die Mobilität eine Rolle bei der beruflichen Hierarchisierung: »Diskriminiert wird man in finanzieller Hinsicht. Und manchmal auch… es ist klar, dass wir die schlechtesten Arbeiten machen, die schwierigsten, die schwersten, denn der saubere Deutsche oder der saubere Österreicher werden sie nicht tun. Aufräumen oder Entrümpelung – er wird es nicht machen. Und wir sind es auch schon daran gewöhnt, wenn es das, das, das zu tun gibt, dann wird er uns dafür wählen. Und dann machen wir das, denn wenn du es nicht machst, dann sagt er dir »danke, auf Wiedersehen«, sucht euch eine neue Stelle […] Genauso ist es in Deutschland, also so war es, denn jetzt war ich schon lange nicht mehr da. Die saubereren, die besseren Arbeiten machen diejenigen, die da leben, die Deutschen. Wir sind auch Deutsche, wenn wir Pässe haben, aber wir sind die Zugezogenen, das ist wie Menschen zweiter Klasse. Und so ist das. In jedem zweiten Unternehmen ist es so, dass wir zuerst diese schlechteren Arbeiten machen, und erst, wenn nicht genug Leute da sind, werden die anderen dazu gezogen.«

Die Aussage sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Krzysztof sich selbst keineswegs als »Opfer« wahrnimmt. Er agiert auf dem transnationalen Arbeitsmarkt souverän: Klagt sein nicht gezahltes Gehalt gerichtlich ein, ist aufgrund schlechter Erfahrungen vorsichtig gegenüber türkischen, jugoslawischen und polnischen Chefs, setzt sich mit seiner Forderung nach der zusätzlichen Entlohnung für »Dienstreisen« durch. Seine aktive und pragmatische Einstellung verdeutlichen die folgenden Aussagen: »Und es gab schon Aufenthalte (wyjazdy) über längere Zeit, die einen glücklich, die anderen weniger glücklich gemacht haben, bei den einen wurde man bezahlt, bei den anderen betro-

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gen, oder nicht ganz bezahlt… Aber was soll man machen. Man vergisst es nach einem Monat, nach zwei Monaten, und man fährt zu einer anderen Stelle. Es klappt oder es klappt nicht. So ist das.«

Letzten Endes ist auch seine Gesamtbewertung der Arbeitsmigration durchaus positiv und zeigt, dass der Erfolg im transnationalen sozialen Raum anders definiert wird als im nationalen Kontext: »Und so habe ich angefangen zu bauen, ich habe das Haus gebaut, langsam haben wir es geschafft und jetzt leben wir, wir beschweren uns nicht, im Moment ist es gut, nicht. Aber ich denke, dass ich es wahrscheinlich genauso gemacht hätte, wenn ich noch einmal… ich weiß nicht, man denkt so, aber das weiß keiner und deswegen kann man es nicht sagen. Ja, was kann ich noch dazu sagen… Ein Auto haben wir, eine Wohnung haben wir, ein Haus haben wir, die Kinder sind selbstständig, haben inzwischen auch alles, ein Traum von mir, ich weiß nicht… Wenn es früher wäre, wenn wir jünger wären, aber so… denn wir werden nicht mehr dahin fahren, denn es macht keinen Sinn mehr auf meine alten Tage, denn wem würde ich das hier überlassen. Es sei denn, dass einer [der Söhne] hierhin zurückkommt… Oben haben wir da soviel Platz, wir können nach oben gehen. Denn der ältere sagt, dass er zurückkommt, wenn es sich hier verbessert, aber das kann noch dauern.«

Theoretisch würde Krzysztof gerne in Polen ein eigenes Unternehmen im Bereich Isoliertechnik gründen. Danach besteht in Polen Nachfrage und Krzysztof hat sich vier Jahre lang im Westen damit beschäftigt. Mit zunehmendem Alter fällt es Krzysztof zudem immer schwerer, lange Strecken mit dem Auto zurückzulegen; außerdem weiß er nicht, wie lange sein Rücken bei schwerer körperlicher Arbeit durchhält. Aber das Startkapital – für ein Gerüst – beträgt ca. 6.000 Euro, und im Vergleich zur »sicheren« Arbeit im Westen ist ihm dieses Vorhaben in Polen zu unsicher. Deswegen hofft Krzysztof, seinen Lebensunterhalt bis zum Renteneintritt durch Pendeln erwirtschaften zu können: »Ich weiß nicht, wie es weiter geht, was die Zukunft bringt, denn keiner weiß es heute, ich sage: Solange die Gesundheit es erlaubt und es die Möglichkeiten gibt, werde ich fahren, und wenn nicht, dann werde ich halt hier was machen müssen. Ich weiß nicht, hier – das ist meine private Meinung, wird es noch zehn Jahre lang keine Aussichten geben für einen besseren Aufenthalt, wenn alles gut laufen wird. Aber ob es besser wird, weiß man nicht. Und so muss man im Moment das ausnutzen, was es gibt. Wie lange es in der Schweiz gut gehen wird, weiß man auch nicht, denn wenn die Schweiz auch überflutet wird, dann wird es da genauso wie in Deutschland und in Österreich. Dann wird man wieder woanders suchen müssen, oder darauf verzichten und wenn es möglich wird, hier etwas eröffnen.«

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Dass Krzysztof sich eher auf dem westlichen als dem polnischen Arbeitsmarkt orientiert, zeigt sich in seiner pragmatischen Haltung zur möglichen Rückkehr seiner ausgewanderten Söhne, obwohl er sich durchaus wünscht, dass die Söhne nah bei ihm in Polen leben. Dass die Beziehung eng ist, zeigt sich darin, dass die Söhne regelmäßig zu ihren Eltern kommen – »es ist für sie nah, nur 670 km« – so Krzysztof; auch während seiner Phase des Pendelns nach Deutschland haben die Söhne ihren Vater jeden Samstag mit nach Hause genommen. Beide Söhne (30 und 27) sind anfangs zusammen mit dem Vater zur Arbeit gependelt und haben sich schließlich mit Hilfe der in Deutschland lebenden Verwandten dort niedergelassen. Es gehe ihnen sehr gut, so der Vater. Beide haben »gute Stellen«, auch ihre nachgezogenen Ehefrauen. Und trotzdem kann man auch im Falle der Söhne nicht von »klassischen« Emigranten sprechen, die ihre Zukunft im Ankunftsland planen: »Der Ältere sagt, dass er ja sowieso hierhin zurückkommt. Und der Jüngere, sogar Anfang dieses Jahres kam er zu uns und fragte, was er machen soll. Ich sagte, Mann, mach’, was du für richtig hältst, ich werde dir nicht vorschreiben, bleib oder komm’ zurück, denn dann könntest du mir mal was vorwerfen, mach’, wie du es meinst. Er sagte, er würde zurückkommen, aber was soll man hier machen, wie soll man hier anfangen. Na ja, da hat er doch im Moment Arbeit, falls es da nicht läuft, falls es zu Ende geht, dann könnte man eventuell was überlegen. Na ja, aber in diesem Moment sind sie da. […] Auf der einen Seite hätte ich es gern, wenn sie hier wären, denn hier gibt es auch ein wenig Arbeit, an diesem Haus, ich bin die ganze Woche über weg, die Frau ist alleine. Und ich habe Angst, wenn ich sie hier alleine zurücklasse und wegfahre; ich hätte es gerne, wenn wenigstens einer hier wäre. Aber auf der anderen Seite, wenn sie da noch Arbeit haben, dann sollen sie solange da sein, wie es geht, sie sollen was zur Seite legen und dann können sie hierhin kommen. Das ist meine Meinung.«

Vor dem Hintergrund der Migrationsgeschichte Krzysztofs und seiner Söhne ließe sich zunächst interpretieren, dass die Kinder mit Unterstützung des Vaters das für sich realisieren, was für ihn ein unerfüllter Wunsch geblieben ist – die Auswanderung nach Deutschland. Doch bei näherer Betrachtung zeigen die Zukunftsentwürfe der Söhne, dass die Emigration nur vorübergehend »gemeint« und eine Rückkehr »erhofft« ist (von den Söhnen wie vom Vater). Zwar liegt hier nicht in dem Maße ein Determinismus zur Rückkehr vor wie bei der Migrationsstrategie »noch ein paar Jahre«; auch die Erwerbsstrategie ist durch die dauerhafte Niederlassung im Westen im Vergleich zur Pendelmigration weniger »transnational« – dennoch zeigt sich auch hier eine eindeutige Offenheit der Lebensplanung. Die regulären Emigranten sind in der hier entwickelten Typologie nicht berücksichtigt, da die Stichprobe entsprechend dem Hauptinteresse der Arbeit nur temporäre Migranten enthält – mit einer Ausnahme, die als Vergleichsfall dient: Die Fälle des Emigranten Marek, der Söhne von Krzysztof bzw. der Familienangehörigen

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anderer Interviewpartner sowie schließlich Emigrationsphasen im Laufe einer Migrationsgeschichte einiger Interviewpartner zeigen, dass die Grenzen zwischen den Migrantentypen in der empirischen Wirklichkeit unscharf sind und ihre zugrunde liegenden Migrationsstrategien dynamisch bleiben. So können Emigranten zu recurrent- bzw. Transmigranten werden; und ebenso gut können Pendelmigranten im Laufe ihrer Biographie zu Emigranten werden – so wie es bei einem meiner Interviewpartner der Fall war. Krzysztof kann als Transmigrant bezeichnet werden: Sein Alltag, seine Praxis, sein Wissen und seine symbolische Verortung sind eindeutig in einem nationale Grenzen überschreitenden sozialen Raum verortet. Dies resultiert aus seiner Migrationsstrategie, seinem souveränen Agieren im westlichen und polnischen Kontext durch Sprachkenntnisse, praktisches und allgemeines Wissen, (inter-) ethnische Kontakte, Nutzung polnischer und deutscher Medien, Alltagsgestaltung sowie transnationale symbolische Repräsentationen und Verortung: Etwa sein Selbstbild als »pragmatischer Oberschlesier«, der sich – je nach Situation – als Deutscher oder als Pole betrachtet (über vorgefundene Identitätskonstrukte siehe ausführlich den dritten Teil dieses Kapitels). Nebenerwerbliche »Bedarfspendler«: »Immer wenn ich es brauche…« Zu dieser Untergruppe gehören Personen, die in Polen in irgendeiner Form ökonomisch verankert sind und die Arbeitsmigration als eine zusätzliche Option zum Einkommenserwerb nutzen. Zwar befinden sich in der Stichprobe »nur« drei Fälle, die für die diese Migrationsstrategie stehen, jedoch spielt die nebenerwerbliche Erwerbsorientierung auch in anderen Migrationsstrategien eine wichtige Rolle: Für die jungen »Einsteiger« ist sie ein wesentlicher Planungsaspekt des Rückkehrprojektes. Episoden nebenerwerblicher Arbeit im Ausland haben für sie oft die Funktion eines Initiationsritus – der eine räumliche Metapher enthaltende englische Begriff rite of passage ist hier vielleicht treffender. Dabei handelt es sich etwa um Schüler, die sich neben der Schule in der Arbeitswelt erproben wollen, oder um Erwachsene, deren vollerwerbliche Migrationskarriere in der Regel ebenfalls erst mit einem nebenerwerblichen »Probelauf« beginnt. Die Attraktivität dieser Erwerbsform besteht darin, dass sie die Vorteile der Arbeit im Westen mit einem »sesshaften« Leben in Oberschlesien in idealer Weise verbindet. Im Gegensatz zu den vollerwerblichen Migranten leben die Nebenberufler nicht permanent »auf gepackten Koffern« und können mit den »Finanzspritzen« durch die saisonale Arbeit im Westen ihren Lebensstandard in Polen trotzdem verbessern. Darüber hinaus ist die nebenerwerbliche Strategie eine höchst flexible Arbeitsform – sie lässt sich mit vielen verschiedenen Lebensphasen, -lagen und situationen in Einklang bringen. Dies wird bereits durch die Vielfalt der neben-

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erwerblichen Erwerbsmodi sehr deutlich, die in der Stichprobe identifiziert werden konnten, und die auch in anderen Untersuchungen bestätigt werden, z.B. die »echte« Nebenerwerblichkeit (neben abhängiger oder selbständiger Erwerbsarbeit in Polen) und die »quasi« Nebenerwerblichkeit (neben weiteren Einkommensquellen in Polen: (Früh-)Rente, Gelegenheitsjobs, Arbeitslosenunterstützung). Charakteristisch für diese Migrationsstrategie ist, dass der berufliche und private Lebensschwerpunkt der Befragten jeweils in Polen liegt. Das resultiert vor allem daraus, dass die Arbeitsmigration schon vom zeitlichen Umfang her nur einen geringen Ausschnitt des Alltags ausmacht. Dennoch lässt sich nicht pauschal sagen, dass Migranten mit dieser Migrationsstrategie keine Transmigranten sind – die Wahrscheinlichkeit, dass sie es nicht sind, ist in dieser Gruppe höher, allein schon dadurch, dass der Lebensschwerpunkt auf der Ebene der Alltagspraktiken eindeutig in Polen liegt. Doch die Inkorporation der Migranten hängt vielmehr von der gesamten bisherigen Migrationsgeschichte, dem sozialen und kulturellen Kapital sowie biographischen Aspekten ab und muss jeweils am Einzelfall bestimmt werden. Um diese Migrationsstrategie zu beschreiben, sollen wegen der erwähnten Heterogenität der biographischen Hintergründe, alle drei erhobenen Fälle mit ihrer jeweiligen biographischen Konstellation vorstellen. Allen drei Migranten ist gemeinsam, dass sie quasi »eingependelt« sind – entschlossen, die Strategie unverändert zu verfolgen und ihr Einkommen in Polen (Gehalt, Rente usw.) »nach Bedarf« mithilfe kurzer Arbeitsaufenthalte im Ausland aufzubessern. Die unterschiedliche familiäre und berufliche Situation dieser drei Fälle zeigt, dass gerade die »Anpassbarkeit« dieser Migrationsstrategie für verschiedene Lebenslagen und -phasen sie für die oberschlesischen Arbeitsmigranten so attraktiv zu machen scheint. Krystian (31) ist ein relativ junger Haupternährer mit einem guten Arbeitsplatz in Polen. Die regelmäßige nebenerwerbliche Arbeitsmigration ist für ihn eine zusätzliche »Finanzspritze«. Anna (43) hat eine (vorläufige) Frührente; die saisonale Arbeitsmigration hat für sie neben der finanziellen auch eine wichtige soziale Bedeutung. Heinrich (51) schließlich ist ein »klassischer« Rentner, der mit der saisonalen Arbeitsmigration sein Einkommen in Polen aufbessert und so seinen Kindern helfen kann.

Krystian

Der 31-jährige Krystian ist Telekommunikationstechniker von Beruf. Er ist verheiratet (seine Frau nicht berufstätig) und hat zwei kleine Kinder. Er hat in Polen eine »gut bezahlte« Arbeitsstelle in einem Großbetrieb, zusätzlich arbeitet er nachmittags »schwarz« für ein kleines Unternehmen. Seit einigen Jahren arbeitet Krystian auch gelegentlich in Deutschland: ein- bis zweimal im Jahr für jeweils drei bis vier

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Wochen. Er arbeitet dort in einem kleinen Betrieb, der ihn je nach Auftragslage kurzfristig beschäftigt. Den Job dort hat ihm sein Schwager vermittelt, der dauerhaft in Deutschland lebt. Im Unterschied zu vielen anderen Pendelmigranten fühlt sich Krystian zu dieser Erwerbsstrategie nicht genötigt, er empfindet sich selbst als resourceful actor. Sein wichtigstes ökonomisches Kapital ist sein fester Arbeitsplatz in Polen: »Denn für mich gibt es nicht diesen typischen Grund – den Zwang zur Migration, zur Arbeit […]. Das ist so eine Sache, die hier hält: die Arbeit, die man hier hat.« Eine weitere wichtige Ressource Krystians sind seine in Deutschland lebenden Geschwister: Sie haben Krystian den Arbeitsplatz in einem kleinen Betrieb arrangiert, sie kontaktieren ihn, sobald es aufgrund der Auftragslage dort Arbeit gibt, und schließlich bekommt Krystian bei ihnen Unterkunft und Verpflegung. Durch das dadurch eingesparte Geld erzielt er innerhalb eines Monats dasselbe »Netto«Einkommen wie andere Nebenberufler in zwei Monaten; eine längere Abwesenheit wäre für ihn aufgrund seines Arbeitsplatzes in Polen auch nicht möglich. Zudem arbeitet Krystian auch 10-12 Stunden am Tag und nicht 8 Stunden, damit sich so sein Aufenthalt lohnt. Krystians soziale Bezüge liegen eindeutig in Polen; seine Beziehungen in Deutschland sind auf seine Geschwister beschränkt. Die »Schaukelstrategie« erlaubt es Krystian, sich auf sozialen Beziehungen in Deutschland nicht einlassen zu müssen, wie die folgende Situation illustriert. Ein Kollege nennt Krystian scherzhaft »Holzkopf«. Er ärgert sich einerseits darüber, andererseits relativiert sich aber die Bedeutung solcher Begebenheiten für ihn, weil Deutschland ohnehin kein Referenzraum für ihn ist: »Denn du weißt, was er so drauf hat, und wenn ich so Deutsch sprechen würde wie er, dann wäre er gar nicht besser als ich. Denn alle lachen, du lachst, aber auf Deutsch zurückschlagen kannst du nicht… andererseits guckst du so herum – der arbeitet, jener arbeitet, du guckst auf die Uhr – noch eine Woche arbeite ich hier und dann ist es mir Wurscht.«

Solange Krystian seinen jetzigen Arbeitsplatz hat und jung genug ist, um im Urlaub im Westen arbeiten zu können, wolle er die nebenerwerbliche Erwerbsstrategie weiter praktizieren, weil er mit dieser Strategie einerseits bei seiner Familie sein, andererseits das Haushaltsbudget deutlich aufbessern könne. Aber auch Krystians Migrationsstrategie muss in der konkreten Konstellation betrachtet werden und könnte sich in Zukunft ändern, wie folgende Aussagen verdeutlichen: »Auswanderung… haben wir ernsthaft überlegt, also ich… Meine Frau eher, sie wäre mehr von einer Auswanderung überzeugt. Ich weniger. Und kam es, dass wir vorläufig nicht ausgewandert sind. Denn… es steht nicht fest, vielleicht wandern wir in einem Monat aus, wie viele solche Familien gibt es…«

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Und: »Ein großer Anstoß für [die vollerwerbliche Pendelmigration] wäre es, wenn sie mich entlassen würden […] dann wird die ›Bremse schon ganz losgezogen‹, dann wird man überlegen müssen. Denn die Stelle, wo ich jetzt arbeite, dahin fahre ich, wenn sie mich brauchen. Aber dann werden andere Notwendigkeiten da sein… Dann fahre ich eben nicht mehr, wenn sie mich brauchen – ich werde fahren müssen, wenn ich es brauche! Dann werde ich es über eine Vermittlungsfirma machen oder sowas… Sagen wir, hier gibt es 1500 Einwohner, 600 davon arbeiten da, im Westen. Ich werde dann erst zu einem Bekannten gehen, dann zum nächsten, was man wo erledigen muss – und dann fahre ich.«

Anna

Anna ist 43 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder (davon zwei erwachsene). Sie hat die Sekundarschule ohne Abschluss verlassen und arbeitete früher als Köchin, Pflegehelferin und Putzfrau in Polen. Sie kann zum Teil als Familienernährerin bezeichnet werden, da ihr Mann aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig ist. Seit 2000 bezieht sie wegen Depressionen Frührente. 2005 bekommt sie die deutsche Staatsangehörigkeit und hat zum Zeitpunkt der Interviewführung im März 2006 inzwischen zwei Arbeitsaufenthalte in den Niederlanden hinter sich. Anna lebt – als einzige in der Stichprobe – seit ihrer Heirat nicht mehr in Oberschlesien, sondern im Nordwesten Polens. Arbeitsmigration war für sie jahrelang – aus Angst – keine Option. Ihr Einstieg in die Migration wird somit erst durch die Intervention ihrer in Oberschlesien lebenden Schwester initiiert: Diese beantragt für Anna die deutsche Staatsangehörigkeit, beschafft den Pass (Korrespondenz und Finanzierung), arrangiert schließlich die Arbeitsstelle. Dieser Fall macht den Einfluss sozialer Dynamik auf die Arbeitsmigration in der Region sehr deutlich: Anders als für ihre Schwester, die in Oberschlesien lebt, ist die Arbeitsmigration für Anna keineswegs soziale Norm, die ohne weiteres akzeptiert wird. Der Einstieg in die Arbeitsmigration ist – anders als bei anderen Interviewpartnern – langwierig und mit Ängsten besetzt, denn Anna erlebt die Arbeitsmigration in ihrem direkten Umfeld nicht. Durch die Alkoholkrankheit und die Gewalttätigkeit ihres Mannes, dem damit verbundenen materiellen Abstieg und der persönlichen Krise, die in einem psychischen Zusammenbruch mündete, befindet sich Anna vor der Arbeitsmigration in einer schwierigen Lebenslage – sowohl in materiellem wie auch in emotionalem Sinne. Wie auch aus anderen Studien zu Frauenmigration bekannt ist (vgl. Lutz 2007a: 166; Westwood/Phizacklea 2000: 123), ist Arbeitsmigration auch für Anna eine »Exit-Strategie«, durch die sie ihre soziale und geschlechtliche Positionierung

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in der Familie und im Herkunftskontext verbessert und so eine neue Lebensperspektive bekommt: »Das ist jetzt ganz anders, nicht. Auch als ich zu ersten Mal [hier] war, ich habe mich hier einfach psychisch erholt. Mich hat das Zuhause nicht interessiert, mich haben die Kinder nicht interessiert, ich habe mich aus dem Leben in Polen ausgeklinkt und in das Leben in Holland eingeklinkt, und so habe ich mich psychisch sehr erholt. […] Ich war sehr zufrieden, ich habe viel verdient – für mich war es viel, sehr viel Geld, nie im Leben hielt ich so viel in der Hand, wie man das sagt, denn ich habe 1250 Euro verdient. Als ich es in polnische Zloty umgetauscht habe konnte ich mich nicht satt sehen. Na ja, aber leider ging dann das Geld für die Schulden drauf, denn es gab Schulden, ausgeliehenes Geld, denn es reichte nie von einem Monatsende zum anderen. Aber ich freute mich einfach, verdient zu haben, ich habe das Geld zurückgegeben und jetzt lebe ich für mich. Und jetzt dieses Geld, das ich verdiene: Ich habe eine große Renovierung bei mir zu Hause durchzuführen, ich muss die Zentralheizung machen, das ist eben eine alte Hütte, denn wir wohnen bei meiner Schwiegermutter […] Ich werde versuchen, so oft wie möglich zu kommen, ich möchte dieses Haus renovieren und so einfach… genau – locker leben, wie man es sagt und nicht von einem Monatsende zum anderen. Oh mein Gott, es ist der 20. und ich habe kein Geld mehr und mache mir Sorgen, wofür ich das Brot kaufe, ja, das ist leider wahr, manchmal hatte ich nicht mal für das Brot, aber irgendwie lebe ich bis jetzt und die Kinder habe ich auch großgezogen. Also ich sage: Damals habe ich den Mut gefasst, und ich bin gefahren, nicht. Und das bedauere ich nicht. Und ich sagte: Wenn ich den Pass habe… und mein Mann ist bis jetzt dagegen, dass ich fahre. Aber ich frage ihn nicht nach seiner Meinung, ich erledige es und fahre. Und es gibt keine Diskussion. Ja.«

In Zukunft möchte Anna weiterhin neben dem Bezug der Frührente in Polen in den Niederlanden »dazu verdienen«. Sollte ihr Rentenbezug in diesem Jahr nicht verlängert werden, wird sie die Arbeitsintervalle in den Niederlanden verlängern. Gäbe es den Rentenbezug in Polen nicht, würde Anna innerhalb der hier entwickelten Typologie in die Kategorie der vollerwerblichen Dauerpendler überwechseln, denn sie ist heute fest entschlossen, ihren beruflichen Lebensmittelpunkt in den Niederlanden zu setzen, und nicht in Polen. Da Anna zum Zeitpunkt des Interviews erst eine kurze transnationale Erwerbskarriere hinter sich hat, kann hier eher aus ihren Zukunftsplänen als dem bisherigen Verlauf geschlossen werden. Gerade die unregelmäßige saisonale Migration erlaubt es ihr, die familiäre Rolle als Mutter weiter wahrzunehmen, die sog. »transnationale Mutterschaft« (vgl. Lutz 2007a: 128; Hondagneu-Sotelo/Avila 1997, Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011). Im Gegensatz zu den anderen (männlichen) befragten Migranten hat Anna keinen Rückhalt in einem Ehepartner, der während ihrer Abwesenheit Erziehungsarbeit leisten könnte. Ähnlich wie bei anderen Migrantinnen, die ihre Kinder zurücklassen, übernehmen auch hier andere weibliche Familienmitglieder die Versorgung

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(vgl. Parreñas 2002: 39, Hondagneu-Sotelo/Avila 1997: 559), in diesem Fall ist es die Schwiegermutter, in deren Haus Anna lebt, die auf ihren 17-jährigen Sohn »aufpasst«. Zugleich aber übernimmt der Sohn die Rolle der Mutter, indem er auf den Vater aufpasst und der Mutter über die Situation berichtet. Anna hat täglich telefonisch Kontakt mit ihren Angehörigen und »managt« das Familienleben organisatorisch und vor allem emotional von den Niederlanden aus. Durch ihre Rolle als Ernährerin und Mutter muss Anna immer wieder für längere Zeit zurück nach Polen. Deswegen fügt sich der saisonale Arbeitsrhythmus viel besser in ihre Lebenslage als eine vollerwerbliche Tätigkeit.

Heinrich

Heinrich ist 51 Jahre alt, verheiratet, seine Frau ist berufstätig, er hat 2 studierende Kinder. Heinrich arbeitet bis 2000 in einem Großbetrieb und kündigt, um einer Entlassungswelle zuvorzukommen. Dabei geht er im Rahmen eines Programms in den Vorruhestand (zasiłek przedemerytalny). Bereits im gleichen Jahr, noch vor seiner Kündigung, fährt er während des Urlaubs zum ersten Mal zum Arbeiten in die Niederlande. Bis zum Zeitpunkt des Interviews 2003 hat er mehrere Arbeitsaufenthalte in den Niederlanden absolviert, die jeweils zwischen 6 und 20 Wochen dauerten. Bei einem Telefonat 2006 ergab sich, dass er diese Arbeitsstrategie fortgesetzt hat. Heinrich ist mit seiner sozialen Praxis und symbolischen Orientierung zum Herkunftskontext innerhalb der Stichprobe ein typischer recurrent migrant, wie die folgende Aussage verdeutlicht: »Nur aus ökonomischen Gründen. Da ist das Leben – aus meinen Beobachtungen – vielleicht leben die Leute da ruhiger, aber mir gefällt es da nicht. Ich lebe da so... um halbwegs über die Runden zu kommen… Ich suche mir einen bestimmten Zeitraum aus, wenigstens 6 Wochen bis zu 3 Monaten, arbeite und… so schnell wie möglich zurück nach Hause. Möglichst viele Stunden machen, denn da arbeitet man nicht 8 Stunden, wenn man da 8 Stunden arbeitet, dann …ist es für einen zu wenig. Denn es gibt auch andere Sorten von Menschen, denen es gefällt, aber wenn ich da umsonst sitzen soll, dann passt es mir nicht. So viele Stunden wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich und zurückkommen, hierhin nach Pol… nach Schlesien, also nach Schlesien kommt man zurück, in heimatliche Gefilde. Und das Leben da… mir würde es nicht passen […] oder z.B. in Deutschland, sogar eine Tante von meiner Frau, als meine Frau da zu Besuch war, 1991 wohl, da sagte die zu ihr, wir sollten nach Bayern kommen, und sie sagte es so: Wenn wir da so arbeiten würden wie hier in Schlesien, dann hätten wir innerhalb von 10 Jahren auch so ein Häuschen, und was weiß ich, hätten wir gebaut. Aber… ich würde diesen Ort nicht eintauschen. Einfach hier weiter leben. Und da nur dazuverdienen.«

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Heinrich praktiziert also eine ausgeprägte »Schaukelstrategie«: Die quasinebenerwerbliche saisonale Erwerbsstrategie erlaubt es ihm, sein Leben und Denken in Polen nicht ändern zu müssen. Die in den Niederlanden verbrachte Zeit betrachtet Heinrich als »verloren« – diese Einstellung charakterisiert am besten sein Satz: »Wenn ich nicht sehe, wie der Apfelbaum blüht, weil ich gerade weg bin, dann schmeckt der Apfel später nicht so gut…«. Im Gegensatz zu einem Transmigranten ist ein recurrent migrant durch einen monolokalen Bezug zum Herkunftsland gekennzeichnet. Die Migrationsgeschichte Heinrichs zeigt die Grenzen des Transnationalismus-Ansatzes, denn die Pendelmigration, auch eine jahrelange, führt nicht zwangsläufig zur Entstehung von transnationalen sozialen Räumen. Kurz gefasst verdeutlichen die drei Beispiele der nebenerwerblichen Bedarfspendler, was die nebenerwerbliche Arbeitsmigration so attraktiv macht, dass Migranten sie als ein wünschenswertes und lebenslanges Erwerbsprojekt ansehen und anders als »Einsteiger« oder »Offene« die Arbeitsmigration in ihrer beruflichen Zukunft fest einplanen. Es ist die äußerst flexible Form der Arbeitsmigration, die sich besonders gut in verschiedenen Lebensphasen und -lagen umsetzten lässt: Für Krystian, Vater zweier Kleinkinder und Sohn älter werdender Eltern, deren andere Kinder ausgewandert sind, ist es eine Möglichkeit, seinen festen Arbeitsplatz in Polen zu halten und damit vor Ort zu sein, zugleich jedoch kurzfristige finanzielle Spritzen für die Familie zu erzielen. Die Haupternährerin Anna kann mit der Migrationsstrategie ihre bescheidene Frührente aufbessern und damit den Lebensstandard ihrer Familie deutlich verbessern und schließlich Heinrich kann zu seiner Rente dazuverdienen und so die Ausbildung seiner Kinder besser finanzieren. »Offene«: »Die Zukunft ist für mich offen« Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Kategorien legen sich die Migranten mit dieser Migrationsstrategie in ihren Zukunftsentwürfen in Bezug auf den geographischen Raum bewusst nicht fest. Es gibt zwei Hintergründe für diese Offenheit: »Unentschlossene« wollen nicht mehr pendeln, aber anders als die »Einsteiger« sind sie nicht auf Polen festgelegt, sondern könnten sich auch ein Leben in Deutschland vorstellen und emigrieren – in diesem Zukunftsentwurf sind also die beiden Modelle Rückkehrmigrant und Emigrant latent enthalten. Unter den »Offenen« gibt es zwei Varianten: Die einen arbeiten zwar gegenwärtig nicht (mehr) im Ausland, könnten aber nach eigener Überzeugung jeder Zeit wieder damit beginnen. Die anderen arbeiten im Ausland, lassen aber offen, ob sie auf längere Sicht in Deutschland bleiben werden, wo sie eine erfolgreiche Erwerbskarriere hinter sich haben oder nach Polen zurückkehren werden: »Wie es sich halt ergibt…«

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Die Migrationsgeschichten einiger Interviewpartner, die in den Migrationsstrategien nicht berücksichtigt wurden, sowie die von vielen Befragten »nacherzählten« Migrationsgeschichten von Freunden und Verwandten, zeigen, dass ein Teil der temporären Migranten tatsächlich im Laufe der Zeit zu Emigranten bzw. Rückkehrern wird. Das belegen auch andere Untersuchungen (RauziĔski 2000, Heffner 1999, JaĨwiĔska u.a. 1997: 67). Offensichtlich ist die Migrationsstrategie der »Unentschlossenen« nicht ausschließlich Wunschdenken, wie sich bei einem der beiden Fälle auch nach einigen Jahren herausstellte – der Befragte wanderte in der Tat aus. Nach Meinung der Migrationsforscher RauziĔski (2000: 69) und JoĔczy (2006: 181) sind es in erster Linie junge Menschen, die sich im Westen niederlassen – wegen ihrer schwierigeren Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt und ihrer familiären Ungebundenheit. Als ein Beispiel wird im Folgenden ein Fall dargestellt, der letztlich tatsächlich eine Strategie des Entweder-Oder umsetzt und vier Jahre nach dem Interview auswandert.

Darek

Darek ist 23 Jahre alt und Energieanlagenmechaniker. Zum Zeitpunkt des Interviews (2003) ist er ledig, heiratet 2004 und wird 2005 Vater. Im Alter von 18 Jahren, als Schüler, arbeitete zum ersten Mal in Deutschland und fährt zwei Mal während der Schulferien zur Saisonarbeit. 2000, unmittelbar nach dem Schulabschluss als Energieanlagenmechaniker, fährt er zur Arbeit in die Niederlande, um nicht zur Armee einberufen zu werden.15 Nur drei Tage nach der Ankunft bekommt er von Oberschlesien aus über einen Arbeitsvermittler in Deutschland eine Stelle als Elektriker bei einem Zulieferunternehmen von BMW. Nach einem Jahr wechselt Darek zunächst zu einem anderen Unternehmen der Elektrobranche, da sein Arbeitgeber für ihn keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet hatte. Aufgrund zu niedriger Entlohnung wechselt er dann 2002 wiederum und arbeitet als Parkettleger. Zum Zeitpunkt des Interviews 2003 arbeitet er zusammen mit anderen oberschlesischen Kollegen als Parkettleger an Orten in ganz Deutschland. Nach dem Interview 2003 findet er aus eigener Initiative über Vermittlung durch das deutsche Arbeitsamt eine Arbeitsstelle in Österreich, wo er inzwischen auch im System einer »ethnischen Gruppe« (siehe oben) mit oberschlesischen Kollegen und Verwandten arbeitet.

15 Das Motiv der Flucht vor der Einberufung in die Armee als Anreiz zur Arbeitsaufnahme im Westen wird von den Interviewpartnern mehrmals genannt.

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In Bezug auf seine Zukunftspläne deklarierte Darek 2003, mit der Heirat und vielmehr mit der Geburt des ersten Kindes werde er die Pendelmigration aufgeben: »Denn [jetzt] habe ich keine Verpflichtungen und ich habe keine Familie, […] und wenn später ein Kind kommt, nein, dann werde ich nicht alle zwei Wochen zurückkommen, Geld geben und wieder zurück….«

Diese Einstellung zum vollerwerblichen Pendeln ist auch den »Einsteigern« der ersten Migrationsstrategie eigen, außerdem wird sie von den meisten älteren Migranten im Rückblick auf das eigene Leben geteilt – sie bedauern oft, zu lange »auf den Koffern« gelebt zu haben. Schließlich ist sie auch die Ursache dafür, dass die Nebenerwerblichkeit unter den Migranten so beliebt ist. Darek hat Vorstellungen, was er in Polen machen könnte, aber sie bleiben ziemlich vage und er unternimmt nichts, um sie umzusetzen. Damit unterscheidet er sich von dem zweiten Interviewpartner, der die gleiche Migrationsstrategie repräsentiert, der sich in Polen immer wieder bewirbt und schon einmal die Emigration »ausprobiert« hat, wobei diese aus verschiedenen Gründen (unter anderem Heimweh bei ihm und seiner Frau) gescheitert ist. Dass der innere Wunsch nach der Rückkehr nicht »automatisch« in die Tat umgesetzt wird, ist allgemein aus den Studien und Theorien über Rückkehrmigration bekannt – ein Phänomen, das als »Illusion der Rückkehr« bezeichnet wird (Currle 2006). Dass diese Beobachtung teilweise auch auf Darek zutrifft, zeigt der weitere Verlauf seiner Migrationsgeschichte: 2005 wurde seine Tochter geboren, dennoch pendelt er nach wie vor nach Österreich. Zwar hat Darek seinen Plan, sesshaft zu werden, bis dahin nicht verwirklicht, seine Haltung des »Entweder-oder« hat er aber beibehalten. So bauen Darek und seine Eltern einerseits das Elternhaus aus, damit die junge Familie dort einziehen kann – die Eltern jobben zu diesem Zweck in den Niederlanden bzw. Österreich –, andererseits berichtete die Mutter, ihr Sohn habe vorhin angerufen und überlege ernsthaft, ob er sich nicht doch dauerhaft in Österreich niederlassen sollte, da er »die Schnauze voll von der Pendlerei« habe. Später (Sommer 2007 bis dato) hat Darek seine Auswanderungspläne tatsächlich umgesetzt; seine dauerhaft in Deutschland lebende Tante hat ihm in ihrem Betrieb einen »herkömmlichen« Arbeitsplatz arrangiert und Darek hat sich mit Ehefrau und Tochter in Deutschland niedergelassen. Seine Frau besucht zurzeit einen Deutschsprachkurs. Das Elternhaus in Polen ist inzwischen für ihn ausgebaut worden. Wie die Offenheit der Migrationsstrategien zeigt, könnte Darek in Zukunft zurückkehren und sich dauerhaft in Polen niederlassen. Er könnte die Arbeitsmigration von dort aus wieder aufnehmen, wenn sich beispielsweise seine Frau in Deutschland nicht zurechtfinden würde (so, wie etwa die Emigrationsprojekte anderer Interviewpartner Grzegorz und Hartmut geendet haben) oder er könnte, wie sei-

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ne Großeltern heute (oder Peter in unserem Beispiel) im Rentenalter nach Polen zurückkehren und weiter zwischen Polen und Deutschland leben: Hier Landleben und Geborgenheit genießen, dort in sozialen Systemen (Gesundheitssystem, Rente) und Beziehungen (z.B. zu seinen Kindern) verankert bleiben. »Flexible«: »Wie es sich halt ergeben wird…« Auch die Migranten mit dieser Migrationsstrategie legen ihre berufliche Zukunft nicht fest, jedoch aus anderen Motiven und Erfahrungen als die »Unentschlossenen«: Die »Flexiblen« lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Diejenigen, die zurzeit nur in Polen arbeiten (4 Personen) und diejenigen, die ausschließlich in Deutschland arbeiten (2 Personen). Die offene Haltung bezüglich des Erwerbslebens in Polen oder im Ausland resultiert aus ihren bisherigen Erfahrungen: etwa wenn die Migranten zyklisch zwischen Deutschland und Polen wechseln, weil sich Gelegenheiten in dem einen oder dem anderen Land ergeben, oder aber wenn Migration als eine erfolgreiche Rückversicherungs-Strategie gesehen wird – eine bedarfsorientierte Zusatzoption des Verdienstes. Im letzteren zeigen »Offene« eine Nähe zu den »Bedarfspendlern« (»Eingependelten«). Der Unterschied zwischen den beiden Typen besteht darin, dass bei Eingependelten die nebenerwerbliche Arbeitsmigration einen festen Bestandteil der Erwerbsplanung darstellt, während bei den »Offenen« die Arbeitsaufenthalte »ungeplant«, in der Regel in längeren Intervallen, stattfinden. So befinden sich hier einige Migranten, die eigentlich nicht vorhaben, die Arbeitsmigration fortzusetzen, sie aber andererseits auch nicht ausschließen. Durch das vorhandene grenzüberschreitende soziale Kapital und die bisherige Nutzung sowohl des polnischen wie auch des deutschen/niederländischen Erwerbsraums wollen sich die Migranten vorab nicht auf eine bestimmte Strategie festlegen. Anhand von zwei Migrationsgeschichten sollen Konstellationen vorgestellt werden, die einer offenen Migrationsstrategie zugrunde liegen. Die beiden Beispiele zeigen zwei Generationen von oberschlesischen Arbeitsmigranten (mehr zu dem Aspekt der Generation s. den zweiten Teil dieses Kapitels). Der 48-jährige Hartmut hat seine Migrationskarriere bereits in den Achtzigerjahren begonnen und die Strategie eines Flexiblen in langjährigen Zyklen, abwechselnd in Polen und Deutschland, praktiziert – nach dem Motto dieses Typus »wie es sich ergab«. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitete Hartmut gerade ausschließlich in Polen. Der Fall des 30-jährigen Wojtek repräsentiert die jüngere (zweite) Generation der oberschlesischen Arbeitsmigranten. Wie viele in dieser Generation verfolgte Wojtek zunächst die Migrationsstrategie eines »Einsteigers«, um nach über zehn Jahren Arbeitsmigration zur Strategie eines »Flexiblen« überzugehen. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Wojtek, entgegengesetzt zu Hartmut, ausschließlich in Deutschland.

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Wojtek

Wojtek ist 30 Jahre alt und Elektromechaniker/Elektroniker. Er ist verheiratet (seine Frau ist nicht berufstätig) und hat eine 12-jährige Tochter. Wojtek arbeitete nach der Schule zunächst eineinhalb Monate lang in einem polnischen Unternehmen. 1993, im Alter von 18 Jahren, heiratet er und wird kurz darauf Vater. Im selben Jahr fährt er zum ersten Mal nach Deutschland, um zwei Wochen in einem Betrieb in Jena zu arbeiten.1993-1994 arbeitet er auf einer Baustelle in Leipzig: Innerhalb eines Monats arbeitet er sich vom Hilfsarbeiter zu einem Mitarbeiter hoch, dem Aufgaben übertragen werden, für die normalerweise eine Qualifikation als Zimmermann erforderlich ist. Im Laufe der Zeit wird er zur »rechten Hand« des Meisters, mit dem er in einem Wohncontainer wohnt. Da der Meister Alkoholprobleme hat, arbeitet sich Wojtek in dessen Arbeitsgebiet ein, unter anderem die Festlegung von Arbeitsplänen für 80 Personen. So wird er zum Vorarbeiter. In dieser Zeit hilft er jeden Sommer durchschnittlich zwei bis drei Monate lang in dem landwirtschaftlichen Betrieb seiner Schwiegereltern in Polen. 1995 wechselt er zu einem Unternehmen, wo er zunächst offiziell als Vorarbeiter anfängt, dann aber zum »Baumeister«16 aufsteigt – bis 1997 ist er zuerst kurz in Berlin, dann in Cottbus. Seit 1998 führt er zusammen mit seinem Vater und zwei Freunden ein Subunternehmen in Zusammenarbeit mit einem jugoslawischen Generalunternehmen mit wechselnden Einsätzen in Berlin, Düsseldorf, Stuttgart, München und Wien. Mit diesem Einstieg in die Arbeitsmigration zählt Wojtek zur jungen Generation der Migranten mit ihren typischen Merkmalen: Die Arbeitsmigration gilt hier bereits als eine soziale Norm, die einen sozialen Druck erzeugt, die eigenen materiellen Aspirationen zu steigern und durch Arbeitsmigration zu befriedigen. Zum anderen wird hier die Arbeitsmigration als »Start ins Leben« (ähnlich wie bei den »Einsteigern«) konzipiert – eine notwendige, aber vorübergehende Lebensphase mit Perspektive auf eine anschließende Rückkehr. Gerade an Wojteks Migrationsgeschichte lässt sich der biographische Moment des Übergangs von der Migrationsstrategie des »Einsteigers« zu der als »Flexibler« nachvollziehen, wie im folgenden Zitat deutlich wird:

16 Es handelt sich hier um eine Selbstbezeichnung, aber das von Wojtek beschriebene Tätigkeitsfeld bestätigt in etwa die Richtigkeit dieser Angabe. In Deutschland wird der Begriff universell in Bezug auf Architekten und Bauingenieure verwendet und bedeutet keine Berufsbezeichnung. In Österreich und der Schweiz handelt es sich um eine Berufsbezeichnung, den eigentlichen Baufachmann – im Gegensatz zu Architekten und Bauingenieuren, die nur im Bereich Planung und Kontrolle einbezogen sind.

214 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN »Denn alle sind zur Arbeit gefahren. Jeder hatte ein gutes Auto, das waren noch Ledige in der Regel. Und ich war 19 und war schon verheiratet. Das heißt: Das Kind sollte kommen und man musste fahren, um sein Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben bei der Schwiegermutter gewohnt, wir hatten gar nichts außer einem alten Polski Fiat von ’74 […] man wollte sich was dazu verdienen. Bevor ich zum ersten Mal gefahren bin sagte ich zu meiner Frau: So verdiene ich für einen Fernseher, Video, Satellit, goldene Halskette und einen roten Opel Vectra und dann ist es Schluss. Das letzte, was ich mir von allen diesen vorgenommen Sachen gekauft habe, war vor ein paar Jahren diese goldene Halskette. Das war das allerletzte, da hatten wir schon das Haus fertig gebaut, da habe ich mir endlich diese Kette gekauft oder habe sie geschenkt bekommen. Also ich hatte schon alles und fahre (trotzdem) weiter. Jetzt fährt man quasi aus Gewohnheit. Allerdings denke ich die ganze Zeit, hier etwas zu machen.«

Vor dem Hintergrund der Familiengründung greift Wojtek auf ein bewährtes Muster des Erwerbslebens zurück: die Arbeitsmigration. Interessant an seiner Aussage ist auch der letzte Satz: Die Erwerbsmigration wird für ihn heute zur »Gewohnheit«, sie wird weiter praktiziert, obwohl der gute »Start ins Leben« inzwischen realisiert wurde. Hier deutet sich bereits der Wechsel von einer Migrationsstrategie zu einer anderen an, der dann auch deutlich in den Zukunftsentwürfen und der Praxis erkennbar ist. Wojtek hat inzwischen auch konkrete Schritte unternommen, um sich auf dem polnischen Arbeitsmarkt zu etablieren. Vor zwei Jahren wurde er im Auftrag eines deutschen Unternehmens in Polen tätig, um einen Auftrag für einen durch die EU finanzierten Bau von Müllentsorgungsanlagen zu akquirieren. Bei einer anderen Gelegenheit, vor etwa einem Jahr, hat Wojtek über seine jetzige Stelle Beziehungen zu einem Investor aus Deutschland geknüpft, der eine Niederlassung in Polen eröffnen und Wojtek zum Geschäftsführer machen wollte. Die Planung war relativ weit fortgeschritten, als das Vorhaben wegen fehlender Finanzmittel des Partnerunternehmens aufgegeben werden musste. Auch wenn diese beiden Anläufe letztendlich nicht geglückt sind, so zeigen diese Beispiele doch, dass Wojtek ernsthaft und sachkundig eine Existenzgründung in Polen anstrebt. Interessant und bezeichnend ist dabei, dass Wojtek in beiden Versuchen gezielt sein transnationales Kapital einsetzt: Sprachkenntnisse, soziale Kontakte, Knowhow über beide nationale Märkte, seine in Deutschland erworbenen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen. Ähnlich wie im weiter unten vorgestellten Fall läuft offenbar auch hier alles auf einen transnational geprägten Arbeitsplatz in Polen hinaus. Wojtek würde nicht um jeden Preis zurückkehren, sondern nur unter der Voraussetzung, dass er sich selbstständig machen bzw. als Geschäftsführer eines deutschen Investors aktiv werden kann. In seinem in Polen erlernten Beruf will er nicht mehr arbeiten, da ihm darin mittlerweile die notwendige Routine und Erfahrung

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fehle, und für »irgendjemanden« will er auch nicht arbeiten. Sollte er also unter den gewünschten Bedingungen in Polen nicht anfangen können, würde er auf dem deutschen Arbeitsmarkt immer etwas finden: »Es ist egal, was. Ich habe kein Problem damit, morgen woanders nach Arbeit zu fragen […] Dann werde ich in Leipzig arbeiten, oder so etwas, so dass ich weiterhin nach Hause kommen kann, und dann das Gehalt – es wird sich immer noch mehr lohnen, da zu arbeiten als hier. Viele Leute bekommen jetzt z.B. Kindergeld: Er hat drei Kinder und hat, sagen wir mal, nur eine halbe Stelle und er bekommt 500 Euro […] dann muss er nicht mehr arbeiten, und hier hat er noch eine kleine Landwirtschaft. Da ist er beschäftigt, bekommt 500 Euro, das ist fast 2000 Złoty und 1000 verdient er dazu und es reicht.«

Obwohl Wojtek in Bezug auf die Zukunft der oberschlesischen Arbeitsmigration eher pessimistisch ist, – wegen der EU-Osterweiterung, der Arbeitsmarktsituation, der politischen Lage – sieht er sich persönlich davon weniger betroffen: »Also langsam sind wir auf dem deutschen oder österreichischen Arbeitsmarkt nicht mehr konkurrenzfähig, in zwei, drei Jahren ist es für uns vorbei, wir werden da nicht mehr arbeiten, aus unserer Gruppe werden… wenn es jetzt siebzig von uns gibt, werden davon vielleicht zehn übrig blieben. Es werden die bleiben, die die Sprache kennen, die Beziehungen nach oben haben, die werden bleiben. Und der Rest wird weggehen, sie werden hierhin zurückkommen und es wird eine große Arbeitslosigkeit geben, so wird es sein. Wir werden keine Devisen mehr mitbringen, das heißt, wir werden hier nichts mehr kaufen.«

Eine Auswanderung war und ist für Wojtek aus verschiedenen Gründen kein Thema. Denn unabhängig davon, ob er in Deutschland oder in Polen arbeitet – sein »Zuhause« sei in Oberschlesien. Und Wojtek sieht sich hier in einer Reihe mit anderen Migranten seiner Generation: »Wie ich es sehe: Die Leute, die jetzt hierher kommen, die damals ausgewandert sind (wyjechali), die sind jetzt schon um die vierzig, ganz andere Jahrgänge. Unsere Jahrgänge, ’74-76, aus diesen Jahrgängen sind wenige ausgewandert, nicht so viele wie aus den Jahrgängen ’6570 […] Aus diesen Jahrgängen sind zwei, drei Leute hier geblieben. Gerade gestern war ich auf einer Versammlung der Feuerwehr, da haben sie gezählt: 26 Kumpel waren sie und 3 nur sind hier geblieben, 23 sind ausgewandert.«

In diesem Sinne ist für Wojtek und seine Generation die Auswanderung keine Option, aber der Erwerbsraum bleibt trotzdem nicht auf einen nationalen Kontext beschränkt. Wojtek ist ein resourceful actor, gerade durch den transnationalen Kontext seines Handelns; dies lässt sich auch an seiner Migrationsstrategie festmachen.

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Hartmut

Eine ganz andere Migrationsgeschichte zeichnet Hartmut, der inzwischen in Polen lebt – seine Offenheit in Bezug auf die berufliche Zukunft ergibt sich aus der Erfahrung des zyklischen Erwerbslebens in Deutschland und in Polen. Hartmut ist 48 Jahre alt und von Beruf Bauingenieur. Er ist verheiratet (seine Frau ist in Polen selbstständig) und er hat einen 19-jährigen Sohn. »99% seiner Verwandtschaft« lebt – wie er sagt – in Westeuropa, auch seine Mutter und sein Bruder. Seine Migrantenkarriere beginnt »durch Zufall«: 1986 fährt Hartmut nach Deutschland zu einem Schul- und Studienfreund zu Besuch und beginnt »aus Langeweile«, illegal auf einer Baustelle zu arbeiten. Zuerst sind es nur drei Monate im Sommer. 1987 kommt er mit einer Einladung und Arbeitserlaubnis zu demselben Bauunternehmen; daraus werden sechs Jahre (1986-91). Hartmut arbeitet sich vom »Tellerwäscher« zum Bauleiter hoch. Seine Familie lebt in Polen und er pendelt jeweils 1000 km, zuerst alle vier Monate für zwei Wochen, später alle drei Monate; schließlich bekommt er eine vertragliche Vereinbarung über einen Arbeitsrhythmus von fünf Wochen in Deutschland und zwei in Polen. In diesem Vertrag sind auch zwei Flüge nach Deutschland und die Übernahme eines Mobilfunkvertrags mit internationalen Gesprächen enthalten. Hartmut steigt im Unternehmen auf und wird zur »zweiten Hand« des Chefs. Zwischendurch plant er, seine Frau mit dem Sohn für ein Jahr zu sich kommen zu lassen. Obwohl Hartmut bereits früher oft an Auswanderung dachte, war seine Frau immer dagegen. Jetzt bekommt sie in Polen unbezahlten Urlaub, hat eine Zusage für eine halbe Stelle beim Arbeitgeber ihres Mannes in Deutschland, einen Kindergartenplatz und eine Wohnung. Durch ungünstige Umstände funktionieren diese Arrangements jedoch nicht sofort und Hartmuts Frau kehrt nach einem Monat nach Polen zurück – mit dem Vorsatz, »so was nicht mehr mitzumachen«. Aus heutiger Sicht sagt Hartmut: »Vielleicht haben wir damals den Fehler begangen, nicht länger gewartet zu haben«, denn später habe sich herausgestellt, dass sich alles geregelt hätte. Mit Aussicht auf eine Arbeitstelle kommt Hartmut 1991/1992 zurück nach Polen. Er bleibt dann aber monatelang ohne Arbeit und fährt 1992 schließlich wieder zu seinem alten Arbeitgeber nach Deutschland zurück. Nach einigen Monaten in Deutschland bekommt er dann doch noch ein Stellenangebot in Polen. Er nimmt es an und arbeitet hier von 1992 bis 2000 für ein deutsches Import-Export-Unternehmen der Textilbranche, in dem »zu 90% Deutsch als Geschäftssprache verwendet wird«. 2000 wechselt er dann zu einem Bauunternehmen, das allerdings 2003 insolvent wird. Daraufhin ruft Hartmut bei »seinem« Unternehmen in Deutschland an und arbeitet bis 2005 erneut in Deutschland. Seit Mitte 2005 arbeitet Hartmut nun wieder in Polen, in ŁódĨ, in einer leitenden Posi-

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tion in der Textilbranche, teilweise in einem deutschen bzw. internationalen Arbeitsumfeld. In seiner Handlungsorientierung repräsentiert Hartmut modellhaft die mentale Karte der »grenzüberschreitenden Gelegenheitsstruktur«17 – dies zeigt sich sowohl in seiner bisherigen transnationalen Karriere, als auch in seinem Zukunftsentwurf: Denn je nach Lebensphase, Bedarf und Gelegenheit wechselt Hartmut zyklisch zwischen dem deutschen und polnischen Arbeitsmarkt. Auch wenn Hartmut inzwischen wieder einen festen Arbeitsplatz in Polen hat und diesen langfristig halten möchte, hält er weiter Kontakt zu seinem ehemaligen Arbeitgeber in Deutschland, denn: »Im Hinblick darauf, dass etwas in Polen wieder nicht richtig laufen sollte, hat man immer das zweite Bein, das man zu nutzen versuchen kann.« Die Frage der Auswanderung stellt sich für Hartmut heute ähnlich wie für andere Befragte: Man sieht die temporäre Migration als eine Alternative zur Auswanderung, was für die Generation Hartmuts – anders als die Wojteks – noch nicht so selbstverständlich war: »Wenn man beispielsweise meine Familie nimmt: Jetzt denken sie unterschiedlich darüber. Früher hat jeder den Koffer genommen und am nächsten Tag war er schon weg, da war er überzeugt, dass es eine sehr gute Entscheidung sei, die einzige mögliche, und jetzt sind die Interpretationen dieser Entscheidung unterschiedlich. Und nicht alle sind ganz zufrieden, dass das, was sie gemacht haben, die beste Lösung für sie war. Viele von ihnen würden gerne die Koffer packen und hierhin zurückkommen. Schon aus dem einfachen Grund: Wenn es Migration war, die vor langer Zeit stattgefunden hat und derjenige, mit dem man spricht, in der dritten, vierten Generation weg von Polen ist, dann spricht er anders, bewegt sich anders und fühlt anders. Die aus der ersten bzw. zweiten Migrantengeneration dagegen, diejenigen, die in den 80ern geflüchtet sind und ihre Kinder, sie sind jetzt – die Älteren – 60, 70 Jahre alt, die jüngeren in meinem Alter, die haben da immer noch keine Wurzeln geschlagen. Wenn man noch ganz davon überzeugt wäre, dass ich das, was ich in Polen hatte, abgeschnitten habe und Schluss, es gibt es nicht mehr, nicht? Aber auf dieser abgeschnittenen Wurzel sprießt eben ein Keim, und es wächst, und es bewirkt, dass man gerne zurückkommen würde. Insbesondere, dass die politisch-wirtschaftlichen Veränderungen dazu führen, dass der Unterschied sich langsam verwischt.«

17 Dazu näheres in Teil 3 des Kapitels. Mit der mentalen Karte der »grenzüberschreitenden Gelegenheitsstruktur« ist eine bestimmte Art und Weise gemeint, in der manche Migranten aus ökonomischer Sicht den geographischen Raum sehen und mit ihm umgehen: Für ihre ökonomischen Aktivitäten sind die nationalstaatlichen Grenzen »fraglos« und »unproblematisch« im Sinne von Schütz/Luckmann (2003: 30 f.).

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Ein Unterschied zu Wojtek ist allerdings die kritische Bewertung der Pendelmigration von heute: Hartmut wünscht sich für die Zukunft keine durch ökonomische Notwendigkeiten diktierte Migration, sondern eine »freiwillige« Mobilität. Hier spricht Hartmut aus persönlicher und regionaler Perspektive: als ehemaliger Arbeitsmigrant und zugleich Vater, Ehemann, Privatmann und Arbeitgeber, der inzwischen keine Fachkräfte mehr in Polen finden kann. »Diese Leute von hier, die Neuen [Migranten], der kommt am Sonntag hierhin und ist dann am Montag auf der Arbeit, er kann kaum sehen, da er die ganze Nacht über gefahren ist und schläft auf der Arbeit, wann nur er kann. Das am Montag natürlich, denn am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag denkt er schon daran, wieder zuhause zu sein. Also sitzt er freitagnachts wieder im Bus und am Samstag ist er irgendwo da, bei sich zu Hause, meistens gibt es dann in die Disco und dann wieder zurück. Das dritte Lebensjahrzehnt ist dann schnell vorbei und dieser Mensch wacht mit 40 auf, und er wird ein großes Problem haben, denn er wird nicht genau wissen, ob er hier oder da ist. Wenn er nicht früher entschieden hat, ob er hier oder da die Familie gründet.«

Das ist etwas überraschend, denn gerade Hartmut selbst hat ein Großteil seines Lebens zwischen Deutschland und Polen gelebt. An einer anderen Stelle wird diese scheinbare Widersprüchlichkeit jedoch geklärt. Ähnlich wie bei Wojtek ist auch bei Hartmut ein lokal fixiertes »Zuhause« nämlich eine Voraussetzung seines Nomadentums; dies begründet Hartmut aber nicht – wie die meisten Interviewpartner – mit den kulturellen Attributen eines »Oberschlesiers« sondern mit denen eines »Europäers«18: »Ich sage es Ihnen: Wenn meine jetzige berufliche Konstellation so bleibt wie sie jetzt ist, dann werde ich nicht mehr von hier wegziehen. Ein weiterer Grund wäre mein Alter und das, was ich schon erwähnt habe: Wir Europäer gewöhnen uns an unsere Nester, Häuser, Wohnungen, die wir quasi als Festungen aufbauen. Wenn ich es geschafft habe, so eine Festung aufzubauen, werde ich sie verteidigen, so ist das. Mein Haus ist meine Burg, wie es die Engländer sagen: My home is my castle. Also ich kann ab und zu von hier fortfliegen, wenn es sein muss; aber eher nicht – ich bleibe hier, hier. Es sei denn – man kann es nie ausschließen…«

18 Er differenziert an dieser Stelle zwischen »immobilen« Europäern und »mobilen« Amerikanern, die mehrmals im Leben zwischen den Wohnorten wechseln.

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Z WISCHENFAZIT Im ersten Teil des empirischen Kapitels wurde das transnationale Erwerbsleben der oberschlesischen Arbeitsmigranten analysiert. Aus einer Top-down-Perspektive (Makro-Meso- und Mikro-Ebenen) lassen sich folgende Indikatoren der Transnationalisierung feststellen: Die transnationale Migrationsindustrie der Neunzigerjahre entstand nicht aus einem Vakuum heraus – vielmehr basiert ihre Entwicklung auf dem historisch gewachsenen Migrationssystem zwischen Oberschlesien und Deutschland, dessen Kontinuität sich in vielen Aspekten beobachten lässt. Die doppelte Staatsbürgerschaft schafft eine Voraussetzung für die Formalisierung der transnationalen Arbeitsmarktstrukturen auf der Makroebene. Dagegen bietet sie aus individueller Sicht die Erweiterung der Lebensplanung in einen grenzüberschreitenden Raum – darin liegt für die Oberschlesier auch die Motivation für die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit für sich und die Kinder (mehr dazu unten). Die supranationale EU-Bürgerschaft erweitert zwar mittlerweile den transnationalen Arbeitsmarkt um weitere Länder (seit Ende der Neunzigerjahre insbesondere die Niederlande und Österreich), zugleich aber hat sie zur Folge, dass mit dem Beitritt Polens zur EU das »oberschlesische Privileg« der deutschen Staatsangehörigkeit unterminiert wird. Ebenfalls aus makroökonomischer Perspektive liegt auf der einen Seite die ständig steigende Nachfrage der westlichen Ökonomien nach gering qualifizierten, billigen und flexiblen Arbeitskräften vor, beispielsweise in der niederländischen Landwirtschaft und in der deutschen Bauindustrie, die auf der anderen Seite die EU-Pendelmigranten ideal befriedigen. Aus dieser Entwicklung etablierte sich eine ausgeprägte transnationale ökonomische Infrastruktur, die auf zum Teil bereits historisch gewachsenen sozialen Netzwerken basiert, und in neuerer Zeit durch hoch formalisierte Organisationen ergänzt wird, die eine transnationale oberschlesische community aus Pendlern entstehen lassen (Smith 2005). Die jeweiligen Formen der Arbeitsorganisation und die mit ihnen einhergehenden transnationalen Erwerbsformen prägen dabei die transnationale ökonomische Praxis in eine assimilative oder eine pluralistische Richtung. Je nach Bedarf der Migranten und Arbeitsmarktstrukturen, in die sie jeweils eingebettet sind, entwickeln sich diese transnationalen Praktiken so innerhalb bzw. parallel zu nationalen sozioökonomischen Kontexten. Die Vielfalt der transnationalen Erwerbsformen erklärt, warum sich die transnationale Erwerbsarbeit, trotz ihrer ambivalenten Bewertung durch alle Interviewte, nicht selten zu einer lebenslangen Perspektive entwickelt. Der oberschlesische Migrant kann zwischen diesen Erwerbsformen immer wieder wechseln, je nach der wirtschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Ländern, der Wettbewerbssituation

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auf den Arbeitsmärkten, der Lebensphase und Lebenslage, in der sich das Individuum gerade befindet, sowie dem ökonomischen, sozialen, kulturellen Kapital, über das er (gerade) verfügt usw. (Ausführlicher werden diese Aspekte im folgenden Teil dieses Kapitels erörtert.) Die Typologie hat diese »Anpassungsfähigkeit« der transnationalen Arbeitsmigration in verschiedenen Phasen und Lagen des Lebens verdeutlicht. So wird die vollerwerbliche Strategie von jungen Migranten als »Start ins Leben«, von älteren als »eingefahrene Bahn« gesehen, die nebenerwerbliche Strategie dagegen als »Absicherung nach beiden Seiten« oder als Rückversicherung. Es lässt sich in der Region eine transnationale Migrationskultur feststellen, die sich insbesondere in der Institutionalisierung der Arbeitsmigration manifestiert: Die Schüler orientieren sich bereits in ihren Ausbildungen an den westlichen Arbeitsmärkten, die Arbeit in den Schulferien gilt als Initiationsritus. Besonders positiv normiert sind die Konzepte der transnationalen Erwerbsarbeit als »Start ins Leben« im frühen Lebenszyklus und als nebenerwerbliche Ergänzung oder als Absicherung in der Folgezeit. Die vollerwerbliche Migrationsform wird zwar oft ambivalent bewertet; doch mit der Rationalisierung der Figur des »Zwangs zur Migration« (wegen Arbeitslosigkeit, Krisensituationen) oder durch die Haltung des Abwartens »bis sich in Polen etwas ändert«, und schließlich durch den neuen sozioökonomischen Statuswettbewerb in der Region, wird sie dennoch weiter praktiziert. Durch die biographische Perspektive konnten einerseits der konkrete zeitlichräumliche Rahmen, und andererseits die individuellen Umgangsstrategien dieser Migranten rekonstruiert werden. Es zeigten sich bestimmte Besonderheiten dieser Migrantengruppe, aber auch allgemeine Regelmäßigkeiten, die sich auf andere Fälle übertragen lassen. Hinsichtlich der Leitfrage – also ob bzw. in welcher Hinsicht sich die oberschlesischen Arbeitsmigranten als Transmigranten bezeichnen lassen – lautet die Antwort: Die transnationale berufliche Orientierung kann unterschiedlichen Umfang haben, der bereits bei der Haupt- bzw. Nebenerwerblichkeit der Arbeitsmigration einsetzt. Hinsichtlich des Transnationalisierungsgrades lassen sich die Erwerbsprojekte der oberschlesischen Pendler zwischen den beiden Idealtypen recurrent migrant und Transmigrant einordnen, wobei gerade die Realtypologie der Migrationsstrategien die Verschränkungen zwischen diesen beiden Idealtypen in der Realität verdeutlicht. Die Typologie hat hier einige überraschende Ergebnisse ans Licht gebracht: Einerseits liegt bei allen Befragten der Wunsch vor, in Polen arbeiten und leben zu können. Ausnahmslos alle Interviewpartner geben an, zumindest langfristig nach Polen zurückkehren zu wollen. Dabei gilt dies unabhängig davon, wie ihre Inkorporation im Zielkontext aussieht, und ob die Rückkehr »in ein paar Jahren« oder »erst im Rentenalter« erfolgen soll, ob es sich um Transmigranten, recurrent migrants oder Emigranten handelt. In dieser Orientierung erkennen wir Merkmale eines

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idealtypischen recurrent migrant – dies spricht für die monolokale Orientierung zum Herkunftskontext. Andererseits lassen sich hier auch Merkmale der grenzüberschreitenden plurilokalen Orientierung eines Transmigranten erkennen. Die grenzüberschreitende Erwerbsmigration gilt fallübergreifend als normativer Bestandteil des Erwerbslebens: Dies zeigt sich in der kollektiven »kognitiven Karte« einer »grenzüberschreitenden Gelegenheitsstruktur« und in der Vielfalt der transnationalen Strategien sowie ihren typischen Verläufen. Hinzu kommt, dass – genauso wie eine frühere oder spätere Rückkehr für alle Befragte subjektiv vorprogrammiert ist – ausnahmslos alle dennoch die transnationale Erwerbsstrategie fest in das jeweilige Zukunftsprojekt eingeplant haben, sei es als Zusatzerwerbsquelle (häufig bei »Einsteigern«), als vollerwerbliche Strategie (»Dauerpendler«) oder als Rückversicherungs-Strategie (»Flexible«). Diese »Absicherung nach beiden Seiten« wird ausdrücklich auch bei der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit für die zweite Generation angestrebt: Zwar wünschen die Migranten ihren Kindern keineswegs ein nomadisches Leben – sehen es aber zugleich als Ressource, auf die nötigenfalls zurückgegriffen werden kann.

S OZIALE S TRUKTUREN : I NTERSEKTIONEN VON E THNIZITÄT , S TAATSANGEHÖRIGKEIT , K LASSE , G ESCHLECHT , G ENERATION , L EBENSZYKLUS UND FAMILIÄRER K ONSTELLATION Im vorangehenden Teil dieses Kapitels wurden Typen der transnationalen Migrationsstrategien vorgestellt. In dieser ersten Annäherung stand dabei die ökonomische Dimension der oberschlesischen temporären Migration, wie etwa grenzüberschreitende Arbeitsmarktstrukturen und Erwerbsformen im Vordergrund. Von welchen sozialen Strukturgrößen die Erwerbsstrategien der Migranten beeinflusst werden, wurde bereits im Zusammenhang mit den Migrationsstrategien skizziert. Im Folgenden soll systematischer ausgearbeitet werden, um welche soziale Strukturgrößen es sich handelt, wie sie miteinander zusammenhängen und in welcher Weise sie die Migrationsstrategien beeinflussen. Im Sinne der Giddens’schen Strukturierungstheorie wird hier von der Dualität von Struktur und Agency ausgegangen. Demnach stellt die Struktur den Rahmen jeder Praxis und wird zugleich durch sie reproduziert/transformiert (Giddens 1984). Wie Richard Münch bemerkt, bringt Giddens mit seinem Konzept eher kein grundlegend neues Verständnis: Die Dualität der Strukturen bzw. die Dialektik des Objektiven und Subjektiven beschäftigte bereits die Klassiker wie Max Weber, Georg Simmel und Emile Durkheim (Münch 1994a: 195f). Es handelt sich somit um eine alte soziologische Frage nach

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idealtypischen recurrent migrant – dies spricht für die monolokale Orientierung zum Herkunftskontext. Andererseits lassen sich hier auch Merkmale der grenzüberschreitenden plurilokalen Orientierung eines Transmigranten erkennen. Die grenzüberschreitende Erwerbsmigration gilt fallübergreifend als normativer Bestandteil des Erwerbslebens: Dies zeigt sich in der kollektiven »kognitiven Karte« einer »grenzüberschreitenden Gelegenheitsstruktur« und in der Vielfalt der transnationalen Strategien sowie ihren typischen Verläufen. Hinzu kommt, dass – genauso wie eine frühere oder spätere Rückkehr für alle Befragte subjektiv vorprogrammiert ist – ausnahmslos alle dennoch die transnationale Erwerbsstrategie fest in das jeweilige Zukunftsprojekt eingeplant haben, sei es als Zusatzerwerbsquelle (häufig bei »Einsteigern«), als vollerwerbliche Strategie (»Dauerpendler«) oder als Rückversicherungs-Strategie (»Flexible«). Diese »Absicherung nach beiden Seiten« wird ausdrücklich auch bei der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit für die zweite Generation angestrebt: Zwar wünschen die Migranten ihren Kindern keineswegs ein nomadisches Leben – sehen es aber zugleich als Ressource, auf die nötigenfalls zurückgegriffen werden kann.

S OZIALE S TRUKTUREN : I NTERSEKTIONEN VON E THNIZITÄT , S TAATSANGEHÖRIGKEIT , K LASSE , G ESCHLECHT , G ENERATION , L EBENSZYKLUS UND FAMILIÄRER K ONSTELLATION Im vorangehenden Teil dieses Kapitels wurden Typen der transnationalen Migrationsstrategien vorgestellt. In dieser ersten Annäherung stand dabei die ökonomische Dimension der oberschlesischen temporären Migration, wie etwa grenzüberschreitende Arbeitsmarktstrukturen und Erwerbsformen im Vordergrund. Von welchen sozialen Strukturgrößen die Erwerbsstrategien der Migranten beeinflusst werden, wurde bereits im Zusammenhang mit den Migrationsstrategien skizziert. Im Folgenden soll systematischer ausgearbeitet werden, um welche soziale Strukturgrößen es sich handelt, wie sie miteinander zusammenhängen und in welcher Weise sie die Migrationsstrategien beeinflussen. Im Sinne der Giddens’schen Strukturierungstheorie wird hier von der Dualität von Struktur und Agency ausgegangen. Demnach stellt die Struktur den Rahmen jeder Praxis und wird zugleich durch sie reproduziert/transformiert (Giddens 1984). Wie Richard Münch bemerkt, bringt Giddens mit seinem Konzept eher kein grundlegend neues Verständnis: Die Dualität der Strukturen bzw. die Dialektik des Objektiven und Subjektiven beschäftigte bereits die Klassiker wie Max Weber, Georg Simmel und Emile Durkheim (Münch 1994a: 195f). Es handelt sich somit um eine alte soziologische Frage nach

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der Konstitution der Gesellschaft. Sicherlich soll an der Stelle nicht auf abstrakte grand theories zurückgegriffen werden, aber das soziologische Interesse an Regelmäßigkeiten ist nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade die biographische Methode bietet sich dafür an, das Wechselspiel zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen zu rekonstruieren (vgl. Lutz/Davis 2005: 232). Als theoretisches Instrument dazu dient hier die Intersektionalitätsanalyse (siehe theoretisches Kapitel). Mithilfe der Intersektionalitätsanalyse können das Zusammenspiel der sozialen Praxis mit den ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen und die durch sie (re-) produzierten sozialen Positionierungen des Akteurs rekonstruiert werden. Mit diesem Schritt sollen die zuvor vorgestellten Migrationsstrategien hinsichtlich der Erklärungskraft struktureller Aspekte geprüft werden: Welcher Zusammenhang besteht zwischen bestimmten sozialen Strukturgrößen und den Ausprägungen oberschlesischer Pendelmigration (Migrationsstrategien)? Was begünstigt und was verhindert eine mono- bzw. plurilokale Lebensweise und Orientierung? Wie im Kapitel zur Intersektionalitätsanalyse beschrieben, wurden ausgehend von der Sekundarliteratur aus dem Interviewmaterial induktiv sechs relevante intersektionelle Strukturkategorien herausgearbeitet: Klasse (einschließlich Bildung), Geschlecht, Generation, Lebenszyklus und familiäre Konstellation. Die sechste Kategorie, zusammengefasst aus Ethnizität und Staatsangehörigkeit galt dabei bereits durch die Festlegung der Untersuchungsgruppe (Migranten, Doppelstaatler), a priori als relevante Strukturgrößen. Die Ergebnisse der Überschneidungen dieser Kategorien (im Sinne der einer Intersektionalitätsanalyse) werden anhand von zwei kontrastiven, prototypischen Fallgeschichten dargestellt, wobei ergänzend weitere Fallgeschichten hinzugezogen werden, um möglichst das gesamte Bild in allen Variationen darzustellen. Mit diesen beiden Fallgeschichten sollen die soziale Praxis der Akteure im Alltag und die damit verbundenen Positionierungen im Geflecht der sozialen Differenzierung bzw. Ungleichheiten rekonstruiert werden. Dabei werden der jeweilige Kontext jeder einzelnen Differenzkategorie und die relationale Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Kategorien (Intersektionalität) analysiert. Die Fallgeschichten werden nun in zwei Schritten vorgestellt: Im ersten werden auf der Handlungsebene die Lebens- und Migrationsgeschichte und die Alltagspraxis rekonstruiert. Damit soll der Frage nach der Transnationalisierung des soziokulturellen Alltags nachgegangen werden. Im zweiten werden Erklärungen für die Ausprägungen der Transnationalisierung geboten. Dabei wird der Zusammenhang zwischen transnationalen Praktiken und ihrer Ausprägung einerseits und sechs gesellschaftlichen Strukturen mit ihren Intersektionen andererseits dargestellt.

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Mariola: Erster prototypischer Fall intersektioneller Praxis und Verortung in gesellschaftlichen Strukturen Mariola ist 48 Jahre alt, verheiratet und hat drei (davon zwei erwachsene) Söhne. Sie hat Abitur und ist von Beruf Energietechnikerin. 1977, unmittelbar nach der Schule, arbeitet sie zunächst in einem Kraftwerk; zwischendurch, Anfang der 80er Jahre, bekommt sie ihre beiden ersten Kinder. In dieser Zeit wechselt sie zu einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, wo sie als Buchhalterin arbeitet. 1990 bekommt sie ihren dritten Sohn und bleibt drei Jahre lang zu Hause. In dieser Zeit setzt der erwerbsbiographische Bruch ein, den Mariola als Anfang ihrer Migrationsgeschichte deutet. Anlass ist, dass ihr jüngster Sohn nierenkrank wird, was eine langwierige und kostspielige privatärztliche Behandlung erforderlich macht. Und zugleich fangen in dieser Zeit »die Massenentlassungen der Jahre 90er und die Arbeitslosigkeit« an: Mariola wird 1993 entlassen und kann »bereits mit 35« keine Arbeit mehr finden. Für die Behandlung des Sohnes wird das ganze Gehalt ihres Mannes verbraucht, die Ausgaben für die heranwachsenden Söhne steigen, und trotz finanzieller Unterstützung durch beide Elternpaare ist die Situation der Familie schwierig und führt zu Konflikten zwischen den Ehepartnern – »wenn z.B. der Kühlschrank leer war und mein Mann Bier kaufte«. Mariola nimmt in dieser Zeit kleine Jobs an, denn nur solche findet sie – unregelmäßige und wenig abgesicherte, schlecht bezahlte Tätigkeiten, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen, aber angesichts ihrer familiären Situation für sie eine »Erlösung« sind. Sie arbeitet dabei im geringen Umfang und nur auf Werkvertragsbasis als Volkszählerin und später als Haushaltshilfe bei Senioren. 1997 bekommt sie schließlich eine reguläre Stelle in einer Sandgrube, wo sie körperlich »mit der Schaufel in der Hand« arbeitet. 2000 wird die Sandgrube privatisiert. Obwohl der neue Arbeitgeber versichert, dass die Arbeitsverträge mindestens zwei Jahre lang unverändert bleiben, fürchtet Mariola um ihren Arbeitsplatz, weil sie die kürzeste Betriebszugehörigkeit hat, die jüngste unter den Mitarbeiterinnen ist und daher als erste entlassen werden kann; außerdem ist sie skeptisch, weil sie bereits eine Privatisierung und eine darauf folgende Entlassung erlebt hat. Ihr Vorgesetzter verspricht ihr zwar, sein Möglichstes zu tun, gleichzeitig jedoch rät er ihr, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen – »als Absicherung«. Von einer ähnlichen Situation berichtet auch ein anderer Interviewpartner, dessen Frau aufgrund ihres deutschen Passes quasi aus »sozialen Gründen« vor anderen entlassen wird, da der deutsche Pass offensichtlich als ökonomisches Kapital angesehen wird. So kündigt Mariola – sie selbst spricht hier allerdings mehrmals von »Entlassung«, die Grenze zwischen Entlassung und Kündigung ist in einer solchen einer Konstellation sehr aufgeweicht (das ist auch bei anderen Fällen deutlich geworden) – und investiert ihre Abfindung in die Beantragung der deutschen

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Staatsangehörigkeit für sich selbst und ihre Familie: »Denn man hörte ständig, dass der aus unserer Gegend arbeitet, jener arbeitet [im Ausland]«. Noch im selben Monat, in dem sie ihre Arbeitsstelle verlässt, fährt sie auf Grund einer Zeitungsannonce zur Arbeit zusammen mit ihrer Schwiegertochter und ihrer Freundin in die Niederlande. Sie wohnen während dieses ersten Arbeitsaufenthaltes in Deutschland und arbeiten sieben Wochen lang in einem Geflügelschlachthof in den Niederlanden. Die Arbeit ist unangenehm und schwer – die Frauen verarbeiten ohne Schutzhandschuhe und im Akkord tiefgefrorene Hähnchen. Trotz anfänglicher Schwellungen an den Händen wegen der Kälte kann sich Mariola nach zwei Wochen an die Arbeit gewöhnen. Danach fährt sie über Weihnachten nach Hause: »…dann haben wir [Frauen] davon ein wenig gelebt, das Geld war alle und man musste wieder fahren«. In dieser Aussage wird eine geschlechtsspezifische Erwerbsstrategie Mariolas angedeutet: Es handelt sich um eine saisonale, im ökonomischen, organisatorischen und emotionalen Sinn am Bedarf der Familie orientierte »Schaukelstrategie« (im Sinne von Okólski 2001). In ihrem nächsten Job muss Mariola Blumentöpfe in Boxen legen – wobei in der Zeitungsannonce nicht erwähnt worden war, dass die Boxen sich auf dem Boden befinden, was ständiges Bücken bedeutet. In den ersten drei Jahren zwischen 2000 und 2002 arbeitet sie im Durchschnitt jeweils zwei Monate pro Jahr. Dazwischen fährt Mariola jeweils für einen bis zwei Monate nach Hause. Sie arbeitet teilweise zusammen mit ihren beiden Söhnen und deren Freundinnen. Die Entscheidungen über die Arbeitseinsätze trifft Mariola immer vor dem Hintergrund der Haushaltssituation – so wie sie früher angesichts der Krankheit des Sohnes bzw. der finanziellen Krise in Polen ökonomisch aktiv wurde, greift sie jetzt nach demselben Muster auf die transnationale Erwerbsarbeit zurück: Sie fährt in die Niederlande, wenn der Mann nicht mehr zur Arbeit kommen kann, weil das zu alte Auto unterwegs versagt; sie fährt, wenn die Familie vor dem Winter Geld für Heizkosten braucht, und schließlich, wenn ihr Mann in seinem Betrieb in Polen neun Monate lang unbezahlten Urlaub bekommt, um in Deutschland auf einer Baustelle zu arbeiten, dann aber nach einer Woche ohne Arbeit zurückkehrt, oder wenn er später in Österreich um seinen Lohn betrogen wird. Ab 2003 nimmt ihre Abwesenheit zu – 2003 verbringt sie insgesamt nur zwei Monate in Polen. Da Mariolas Mann inzwischen auch im Ausland arbeitet, übernimmt die Schwiegertochter, die in Oberschlesien im selben Haus wohnt, die Betreuung des jüngsten Sohnes, dem sie bei den Schulaufgaben hilft und für den sie kocht. Zwar kommt ihr Mann alle zwei Wochen nach Hause, aber seine Anwesenheit ersetzt nicht Mariolas Anwesenheit. Vielmehr vermisst auch er Mariola in ihrer Rolle als Ehefrau, genauer genommen als Frau eines Migranten:

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»Er möchte, dass ich ihm Essen vorbereite, wenn er zur Arbeit fährt, solche Gläser mit Mahlzeiten. So wie ihr hierhin nach Polen kommt und hier Einkäufe macht, so was wollte er auch, und wenn ich im Ausland war, konnte ihm das keiner machen; er brachte Kleidung, Bettwäsche, alles musste für ihn gewaschen, vorbereitet, gebügelt werden, einfach ihn auf den Weg machen…«

Das Ritual des »Auf-den-Weg-Bringens« war während des Besuchs bei der Familie zu beobachten: An diesem Tag hat die Schwiegertochter ihren Mann »auf den Weg gebracht«, beide Ehepartner waren während des Interviews in der Küche und mit ihrem kleinen Kind mit den Vorbereitungen beschäftigt. Vor der Haustür lagen bereits mehrere Tüten mit selbstgemachten Mahlzeiten und Lebensmitteln bereit. Mariola kommentierte dies so: »Heute bereitet die Schwiegertochter ›Ihren‹ vor und ich werde in zwei Tagen ›Meinen‹ vorbereiten, ich mische mich jetzt nicht ein«. Als Migrantin balanciert Mariola zwischen der Arbeit im Westen und der Familie in Polen. Dieser emotionale Balanceakt ist charakteristisch für eine transnationale Familienführung und, wie der zweite Fall verdeutlichen wird, nicht grundsätzlich geschlechtsspezifisch – geschlechtsspezifisch ist jedoch die Lücke, die die Migranten im Herkunftskontext zurücklassen, und die Art, wie sie von den beteiligten Personen bewertet wird – insbesondere auf organisatorischer und emotionaler Ebene. Diese Lücke wird von zurückbleibenden Frauen eher gefüllt als von zurückbleibenden Männern, wie das Beispiel der Fürsorge durch die Schwiegertochter oben verdeutlicht. Wie von Migrantinnen, die ihre Kinder zurücklassen, häufig berichtet wird, leidet auch bei Mariola die emotionale Beziehung zu ihrem Sohn und sie ist mit den daraus resultierenden Erziehungsproblemen konfrontiert. Hierzu folgt eine längere Passage, die Einblicke in die Situation von Mariola sowie anderer Mütter liefert und einige aus der Forschung zur transnationalen Mutterschaft bekannten Aspekte zeigt: das emotionale Dilemma der Abwesenheit, die Strategie, die Abwesenheit durch materielle Zuwendungen wettzumachen (gilt auch für Väter), die Übernahme der Fürsorge für die Kinder durch die zurückbleibenden weiblichen Familienmitglieder (vgl. Parreñas 2005, Lutz 2007a, Triandafyllidou 2006, Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011): »Hmm, ich sage dir ehrlich, als ich zum ersten Mal gefahren bin, da war Patryk gerade zehn, und all die Zeit, als ich da war, denn es ist so, wenn du dahin willst, du hast eine gute Arbeitsstelle, wenn du längerfristig auf dieser Arbeitsstelle bleibst; wenn du sagst: ich fahre zurück, man sagt da wakantie, ähnlich wie auf polnisch wakacje […] für zwei oder drei Wochen, danach muss du zurück. Wenn du hier Familie, Kind hast, kannst du es nicht ständig machen. Z.B. in dieser Zeit von drei, eigentlich vier Jahren, zwei Jahre waren sehr viel, ein Jahr war ich fast ausschließlich da, als ich gezählt habe, dann war ich insgesamt zwei Monate zu Hause, und damals hat Patryk angefangen, zu mir auf Distanz zu gehen, ich hatte keine gemein-

226 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN same Sprache mehr mit ihm. Anfangs, als ich angerufen habe, hat er geweint: Mama komm’ zurück und so weiter, weißt du… Du rufst an, gehst dann ins Zimmer und weinst ins Kissen, du weinst einfach, so leider ist die Situation, und das war nicht nur bei mir so. Andere Mütter, die waren in einer noch schlechteren Situation, Dreijährige, Zweijährige haben sie zurück gelassen und erzählen: das Dreijährige zur Schwiegermutter, das Zweijährige zur Mutter, und das Siebenjährige zur Schwester, es ist sehr schwer für eine Frau, das ist es wirklich. […] Inzwischen bin ich schon fast ein Jahr lang zu Hause und ich kann mich allmählich wieder mit ihm verständigen. Er hat damals aufgehört zu lernen und man macht dann den größten Fehler, es machen die Eltern, die Mütter – du bist weg, also kaufst du ihm gute Klamotten, schöne Sachen und du willst ihm eben die Liebe ersetzen, aber es ist nicht gut, das ist sehr schlecht, das ist der größte Fehler, ein typischer Fehler, weiß du, dass ist so ein typischer Reflex, dass du für das Kind alles machen würdest und du willst es ihm wieder gutmachen. Und dann will er das, das kaufst du ihm, dann jenes, du kaufst es […] und er hat sich sehr von mir entfernt, er war so verschlossen. Mit den Älteren hatte ich immer Kontakt, sie haben mir immer über alles erzählt, wo sie sich aufhalten. Patryk hat mir anfangs gar nichts gesagt, hat nicht gelernt, nichts erzählt, jetzt erzählt er inzwischen: Dass er etwa in der Schule Streit hatte – da suchte er inzwischen Rat – es ist anders. Es ist sehr schwer dort […] Wenn ich wieder hier in dieser Wirklichkeit war, sah ich, dass Patryk aufgehört hat, sich mir anzuvertrauen, hat vor mir sein Handy versteckt […] wenn ich ihn fragte: Wie war es in der Schule, mit der Lehrerin: ›frag nicht, misch dich nicht ein, reg dich nicht auf, es ist nichts Großes‹ usw. Es ging so weit, dass wenn ich mich ihm widersetzt habe, da hat er seine Stimme erhoben, war frech zu mir. Damals... sagte ich zu meinem Mann, dass ich nicht mehr so oft zur Arbeit fahren werde und dann hat sich herausgestellt, dass er zur Arbeit ins Ausland geschickt wurde.«

Seit 2005 arbeitet Mariola nicht mehr, denn ihr Mann arbeitet für seine Arbeitgeber aus Polen in Deutschland und verdient »ausreichend« . Mariola hätte vor kurzem einen profitablen Arbeitsaufenthalt haben können, aber ihre eigene Mutter ist erkrankt, und jemand musste darüber hinaus die 80-jährige Schwiegermutter versorgen. Schließlich kann sie damit die Beziehung zu ihrem Sohn wieder aufbauen und »ihrem Mann regelmäßig Proviant vorbereiten«. Zurzeit verdient sich Mariola zusätzlich etwas mit einem kleinen Job: Ausfüllen von Steuererklärungen. Sie kümmert sich um ihre Familie, sie kann auch auf ihren Enkel aufpassen, wenn sich ihre Schwiegertochter in den Niederlanden was dazu verdienen will, wie sie es schon einmal getan hat. Trotz ihrer derzeitigen Auszeit von der Arbeitsmigration vertritt Mariola die »offene« Migrationsstrategie – die Haltung der »Flexiblen« (»Wie es sich halt ergeben wird«): »Also insgesamt habe ich verdient, ich bin zurückgekommen und jetzt… Gott sei dank, ich denke, mein Mann wird weiter seine Arbeit haben. Und wenn es wieder so läuft… denn es

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kann so kommen, bei denen weiß man nie… dass er heute da arbeitet, und dann wollen sie einen zurück und ich werde wieder fahren müssen, halt je nach Situation der Familie.«

Den Alltag und ihre sozialen Bindungen in den Niederlanden gestaltete Mariola nach dem »Schaukelprinzip«, das typisch für recurrent migrants ist; sie nutzt die Zeit in den Niederlanden ausschließlich zum Arbeiten. Die Freizeit ist eingeschränkt: »Wenn ich da längere Zeit gearbeitet habe […] dann machte ich Überstunden. Es geht dann darum, dass die Zeit schneller vergeht.« Der Kirchgang z.B. ist für Mariola »die einzige Unterhaltung in den Niederlanden«, eine Abwechslung vom monotonen, nur auf die Arbeit ausgerichteten Leben. Die Arbeitsgeber sorgen organisatorisch dafür, dass die Menschen zur Kirche kommen können, am Todestag von Papst Johannes Paul II. wurde sogar spontan eine zusätzliche Messe mit einem Bild des Papstes organisiert. Mariola bewertet die »polnischen Verhältnisse« in der polnischen Messe in den Niederlanden kritisch – etwa den autoritären Umgang des Priesters mit seinen vielen Landsleuten; anders als ein niederländischer Priester, die wenigen Messebesucher mit Respekt behandle. Im Zielkontext »reaktiviert« Mariola ihre ethnische Zugehörigkeit: Zum einen trifft sich diese neue ethnische Identifikation mit dem Empfinden der Zugehörigkeit zu einer neuen »Klasse« von oberschlesischen Pendlern (im Sinne von Gordons ethclass-Konzept) – und ist damit zunächst eher Ausdruck einer sozio-ökonomischen als einer ethnischen Positionierung. Andererseits jedoch enthält die von ihr postulierte kollektive Identität eindeutig ein Element ethnischer (und nicht klassenbezogener) Abgrenzung – so grenzt Mariola im Zielkontext die eigene ethnische Gruppe von denen anderer Ausländer ab: Wie viele andere Interviewpartner auch distanziert sie sich vor allem von »den Türken«. Vergleichbar mit einem race relations cycle, in dem die »neuen« Immigranten zeitlang mit »Alteingesessenen« um Ressourcen wie Arbeitsplätze oder Wohnungen konkurrieren (vgl. Park 1950: 150), deutet Mariola den Umgang zwischen Türken und Polen als Kampf um ökonomische Ressourcen (Positionierung auf dem Arbeitsmarkt). Anders als beim klassischen amerikanischen Prototyp dieses Phänomens handelt es sich dabei jedoch nicht um Konkurrenz zwischen Immigrantengruppen, die schlechtere oder bessere Ressourcen, etwa politische Rechte haben, sondern vielmehr um Konkurrenz zwischen den Residenten und Pendelmigranten: »Zum Beispiel, ich war auch in Deutschland bei einer Schwester, bei der zweiten Schwester, aber es war ganz anders da, auch in Kleve habe ich in Deutschland gelebt, mich da bewegt. Ja klar, Menschen sind unterschiedlich, es gibt Nette usw., aber generell ist es schon eine andere Kultur, zurzeit gibt es keine niederländische Kultur, wenn es um Holland geht, da hat sich die Kultur jetzt verändert, egal, wohin du gehst, wenn du beispielsweise zur Arbeit gehst, siehst du schon Türken, Marokkaner und er ist dein Chef und er verachtet dich, denn sie wissen, dass Polen besser arbeiten als sie und ihnen Arbeit wegnehmen. So wie früher die Deutschen

228 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN die Polen behandelt haben, denn sie haben ihnen Arbeit weggenommen, sie wurden entlassen. Leider spürt man so was jetzt in Holland, diese Türken, diese Marokkaner, sie spüren das ganze, da sie da schon lange Zeit leben…«

Dass es sich hier nicht nur um eine ethnisch-kulturelle Spannung, sondern auch um die zwischen zwei Arbeitsmodellen (mobil vs. immobil) handelt, verdeutlicht ein anderes Beispiel, in dem der Konflikt innerhalb der Gruppe der Oberschlesier selbst – den Aussiedlern und den heutigen Arbeitsmigranten – erlebt wird. Der Interviewpartner Sigmund äußert sich über die eigene ethnische Gruppe der oberschlesischen Aussiedler folgendermaßen: »Es ist wie beim ›Hund des Gärtners‹: Er darf selbst nicht fressen, aber anderen gönnt er auch nichts. Ausgerechnet diese Leute ärgern sich am meisten über die neue Erwerbsmigration, na, dass die da jetzt kommen und ihnen die Arbeit nehmen, na, sie haben Angst, dass die, die jetzt ankommen, dass sie entweder besser ausgebildet sind, na, oder reichhaltigere Erfahrungen haben und es besser können als die, die soundso viele […] Jahre früher ausgewandert sind [wyjechali], die schon etwas diese deutschen Gewohnheiten übernommen haben, oder in dieser Bevölkerung und in diesen Gewohnheiten aufgegangen sind…«

Für die emigrierten und nun in Deutschland sesshaften Schlesier personifizieren die pendelnden Verwandten – mit denen sie enge Beziehungen pflegen – quasi die »Flexibilisierungsprozesse« des heimischen Arbeitsmarktes: Denn entweder wandern Arbeitsplätze in den billigeren Osten, oder aber die billigen Osteuropäer kommen temporär selbst nach Deutschland. In Gesprächen mit Emigranten im Ruhrgebiet war zu erfahren, dass sie sich von beiden Prozessen negativ betroffen fühlen – sich aber dennoch nicht selten vor ihren deutschen Kollegen als »Polen« rechtfertigen müssen. An dieser Situation wird auch deutlich, wie nationale Stereotypen in Alltagssituationen aktiviert werden. Diese Stereotypisierung entsteht übrigens nicht nur in konkreten persönlichen Erfahrungen (wenn z.B. die polnischen Emigranten im Opelwerk Bochum ihren Arbeitsplatz verlieren, während ihre Verwandten im Opelwerk Gliwice einen bekommen), sondern wird auch konsequent durch deutsche Medien konstruiert, in denen der »Pole« immer für »soziale Konkurrenz« oder »Bedrohung der Ordnung« steht (vgl. Dorsch 2000, nach Cyrus 2001: 166). Dass die Konkurrenzsituation zwischen heimischen Arbeitnehmern und Migranten, insbesondere im sekundären Arbeitsmarktsektor, auch zugunsten Letzterer ausfallen kann (normalerweise geht man eher von einer Benachteiligung aus), ist nicht nur für den vorliegenden Fall spezifisch: Eine aktuelle (politisch freilich nicht neutrale) Studie zur Arbeitsmarktsituation der Zuwanderer in den USA zeigt, dass diese aufgrund positiver Stereotypisierung bei amerikanischen Arbeitgebern vor allem gegenüber der schwarzen heimischen Bevölkerung bevorzugt werden (Camarota 2006). Im deutsch-polnischen Kontext lässt sich dazu auch das Beispiel der

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polnischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft anführen, die bekanntlich bei deutschen Arbeitgebern beliebter sind als Autochthone, wie die Diskussion um die von der deutschen Regierung 2006 geplante Quotierung der dort beschäftigten ausländischen Arbeitnehmern auf 90% gezeigt hat. Zurück zu den interethnischen Beziehungen im Fall von Mariola: Ähnlich wie bei ihr fiel bei vielen Interviewpartnern eine negative bis hin zu rassistischer Einstellung zu anderen ethnischen Gruppen im Ankunftskontext auf. Eine solche Einstellung hat verschiedene Hintergründe – einer davon ist die eben geschilderte Konkurrenz zwischen »alteingesessenen« Immigranten und den »neuen« Pendelmigranten. Ein weiterer Aspekt ist die kulturelle Distanz bis hin zum kulturellen Rassismus: Viele der oberschlesischen Arbeitsmigranten beklagen etwa die »Faulheit« oder »Unsauberkeit« der »Ausländer« in Deutschland und den Niederlanden. Diese Merkmale werden als Gegensatz zu den eigenen Wertvorstellungen gesehen. Ein weiterer Aspekt ist die fehlende »multikulturelle Kompetenz«: Da Polen ein ethnisch weitgehend homogenes Land ist, fühlen sich die Oberschlesier von »ausländischen Mitbürgern« im Ankunftskontext gestört – dies gilt insbesondere für diejenigen, die konservative Weltanschauungen haben. Die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft ist ein möglicher Aspekt, die für die symbolische Verortung vieler Interviewpartner in Polen spricht (vgl. dritter Teil dieses Kapitels und hier »soziale mentale Karte«). Z.B. ergab eine quantitative Studie zur jüngsten Migration nach England, dass ein Drittel der Migranten das multikulturelle Staatsmodell als »abnormal« sieht und rassistische Einstellungen hat (Eade u.a. 2006: 18). Mariola spricht noch einen zusätzlichen Aspekt der Beziehungen zwischen Schlesiern und Türken an: Die Thematik der »widerrechtlichen Aneignung (defraudacja) polnischer Frauen« durch türkische Männer. Die polnischen Mädchen würden »missbraucht, erniedrigt und entwürdigt«. Diese Sicht in Bezug auf die Migration in die Niederlande ist aus mehreren Interviews zu entnehmen: Polnische Frauen werden mal als »Opfer« (wie bei Mariola), mal als »Schlampen« wahrgenommen (zur Vorstellung von den Niederlande als »Sodom und Gomorra«, siehe unten ausführlicher). Mariola spricht hier ein interessantes Phänomen an, das im Rahmen dieser Arbeit nicht verfolgt werden kann, jedoch empirisch weiter zu prüfen wäre. Es geht um die Frage, welche Rolle Sexualität als ein »Begleitphänomen« der Migration von oberschlesischen Frauen und Männern spielt. In den Interviews und informellen Gesprächen mit Migranten sowie türkischen Bekannten in Deutschland, in den Niederlanden und England wurde eine allgemeine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass polnische Frauen sich »wie Schlampen verhalten«. Zunächst müsste diese kollektive Überzeugung in ihrem Konstruktionsprozess kritisch hinterfragt und nicht als ein bloßes Faktum übernommen werden. Sofern es sich hier tatsächlich um ein empirisch vorliegendes soziales Phänomen handelt,

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(worauf andere Studien zum Milieu der Migranten hindeuten, z.B. Irek 1988, Zimowska 2006), müsste man in diesem Kontext weiterhin zwischen drei Situationen unterscheiden: Ob die Frauen erstens schlicht ihre Sexualität ausleben (»nichtinstrumentell«) oder zweitens »instrumentell« (Gelderwerb, Arbeitsplatz usw.) ihr Geschlecht (Sex) einsetzen, oder ob drittens sexueller Missbrauch vorliegt – was in einem anderen Interview geschildert wurde. Es scheinen alle drei Situationen vorzukommen.19 Mariola beschreibt an dieser Stelle die erste Variante, bei der sich die polnischen Migrantinnen in Männer verlieben und auf sexuelle Kontakte einlassen. Mariola erlebte einige Male derartige Situationen, wobei aber auch einigen Mädchen »solche Fehler« – so Mariola – durch die Gemeinschaft der oberschlesischen Frauen hätten ausgeredet werden können. Diese Situation der außerehelichen Kontakte betrifft aber auch die oberschlesischen Arbeitsmigranten untereinander. Dabei werden jedoch Kontakte zu farbigen Männern und die weibliche Sexualität (im Gegensatz zur männlichen) besonders skandalisiert. Kurzum: Durch fehlenden sozialen Rahmen und Kontrolle werden im transnationalen Kontext auf Sexualität bezogene soziale Normen immer wieder außer Kraft gesetzt und gegebenenfalls in der ethnischen community wieder hergestellt. Interessanterweise versuchen die Arbeitgeber, quasi in einer Art social engineering, diesen sozialen Rahmen durch entsprechende Zusammensetzung der Personengruppen in den Wohneinheiten herzustellen: »Sie mischen da die Älteren, die Jüngeren, in der Regel mischen sie und Frauen und Männer, aber nicht im Zimmer sondern im Bungalow, sie wissen, dass Frauen immer auf die Sauberkeit achten, denn wenn da nur Männer sind, dann welcher wird da aufräumen? Die haben es so gelernt, dass die Ehefrau immer aufräumt, dann ist die Wohnung auch sehr hässlich. Jeder denkt, dass ist nicht sein Teil, dass man nichts beachten muss […] Und ich sage dir, diese Mädchen wurden so missachtet, so missbraucht… schrecklich, sie wurden zu Liebhaberinnen gemacht. Es gab sogar so einen Fall, dass ein Paar gekommen ist, um sich für die Hochzeit Geld zu verdienen und es ist gar nicht mehr zur Hochzeit gekommen. Auch viele Jugendliche habe zu Drogen gegriffen – so ist es. Jeder hat halt seinen eigenen Willen, Charakter, starke Kinder – Widerstandsfähige, die kommen zurecht. Rafał [der älteste Sohn] arbeitet jetzt auch die ganze Zeit und seine Frau ist hier, und… es ist okay. Aber es gibt die Situationen, dass

19 In der Forschung der Prostitution und Migration gibt es zwei Positionen bezüglich der Frage der Freiwilligkeit der Prostitution – denen liegen verschiedene ideologische Annahmen zugrunde: zum einen wird jede Form der Prostitution als unfreiwillig gesehen (vgl. O’Connell: 2006), zum zweiten wird zwischen der freiwilligen Prostitution (als Erwerbsform) und der unfreiwilligen (als erzwungen etwa mit Gewalt oder durch Täuschung) (vgl. Munk 2006, Zimowska 2006) unterschieden.

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Ehepaare zusammen kommen, und sie gehen völlig kaputt – leider. Es ist so wie früher, als die Leute in die Lager20 kamen. Dort suchst du eine verwandte Seele, durch die Einsamkeit, mit wem du reden könntest, und so entstehen diese Zuneigungen, Freundschaft und auf welche Kosten…?«

In der letzten Aussage wird das Problem der Einsamkeit der transnational lebenden Migranten im Zielkontext geschildert. Gerade in den Niederlanden dauern die Trennungen von der Familie länger als in Deutschland, da durch die geographische Entfernung die Pendelintervalle länger sind. Der Aspekt der fehlenden emotionalen und der physischen Beziehung kommt hier besonders zur Geltung und die Lösung des Problems geschieht durch neue Beziehungen. Die »nicht-instrumentelle« Variante des Sexuallebens betrifft also beide Geschlechter und scheint eine Folge der physischen Trennung von den Partnern zu sein. Das soziale Umfeld beurteilt solche »Seitensprünge« bzw. ein liberales Sexualleben oft aus der eher konservativen Sicht auf den liberalen Lebensstil fern vom Herkunftskontext (fehlende soziale Kontrolle). Interessanterweise hat Mariola eine von vielen Interviewten geteilte, negativ besetzte mentale Karte der Niederlande – im Gegensatz zu Deutschland, obwohl Mariola nur in den Niederlanden arbeitet. Erstens spielt hier die gerade geschilderte Situation der geschlechtlich gemischten Migration eine Rolle, das gemeinsame Wohnen auf engem Raum, lange Arbeitsaufenthalte wegen des Charakters der Arbeit (saisonal) und der Entfernung zum Herkunftsort und daraus resultierende Einsamkeit. Ein Interviewpartner bezeichnet die Niederlande in diesem Sinn als »Sodom und Gomorrha«. Eine andere Mutter wünscht nicht, dass ihr verheirateter Sohn jemals in den Niederlanden arbeitet, weil es seine Ehe gefährden könnte. Zweitens scheint es Mariola in Deutschland nicht so viele Türken und Marokkaner zu geben und »es sei daher sauberer«. Schließlich ist Deutschland den Migranten »vertrauter«: Mariola kennt Deutschland gut, weil ihre Geschwister dort leben. Wollten ihre Söhne einmal auswandern, dann sollten nicht die Niederlande, sondern Deutschland das Zielland sein, wo unter anderem das soziale System besser sei als in den Niederlanden. Alle, die Mariola kennt, lassen sich in Deutschland nieder: »Holland absolut nicht. Von diesen vielen Leuten, die ausgewandert sind, ist keiner in Holland geblieben. Alle haben in Holland gearbeitet, haben sich aber in Deutschland niedergelassen. Alle haben in Holland gearbeitet, sie haben finanziell was erreicht und dann gingen sie zur Arbeit nach Deutschland und sind da geblieben.

20 Gemeint ist hier die Aufnahme in Wohnheime, Übergangswohnungen o.ä., in denen die Antragsteller nach der Ankunft in der Bundesrepublik untergebracht waren.

232 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN [Interviewerin:] Kennen Sie viele solche Leute? Ja, im Alter vom Rafał, die Tochter meiner Nachbarin hat zwei Kinder und die arbeiten auch in Deutschland, sie wohnen da und kommen nur zu Eltern hierhin, hier ist jedes zweite Haus leer, denn alle sind nach Deutschland ausgewandert.«

Die polnische Forscherin Maria Grygierczyk (2003) bewertet die Entscheidung zur Niederlassung in den Niederlanden als Ausdruck einer rein ökonomischen Motivation zur Migration: »Wir wissen doch, was für ein Wert es bis jetzt für Schlesier und Deutsche gewesen ist, dass sie in Deutschland arbeiten und sich niederlassen konnten. Denn Deutschland war – wie sie oft betonten – ihr zweites natürliches [sic] Vaterland. So müssen wir die Veränderungen sehen, auch hinsichtlich der Gründe für die Migration. Wir glauben, dass diese Gründe ganz deutlich, wenn nicht ausschließlich, ökonomischer Natur sind.« (Grygierczyk 2003: 442)

Im Bereich der interethnischen Beziehungen schildert Mariola schließlich ihre Erfahrungen mit den niederländischen Vorgesetzten, die von ethnischen und Klassen – Zuweisungen der Vorgesetzten geprägt werden: »Wir haben sogar bei so einer Frau namens Wanda gearbeitet […] eines Tages in der Kantine […] sie hat uns einfach verboten, Polnisch zu sprechen, oder Türkisch; du durftest nur Deutsch benutzen, oder Englisch, oder Niederländisch. Damals haben alle Polen rebelliert und sind weggefahren. Und wenn wir Polnisch reden wollten, dann sollten wir raus auf die Wiese gehen, uns da hinlegen und zuhören, es sind halt solche Sadisten.. und sie hat alle beschimpft, hat alle beleidigt, die Polen haben ihre Sachen gepackt, und ich sage dir – gut, dass da nur junge Leute gearbeitet haben […]. Denn Leute so wie wir, wie beispielsweise meine Eltern, es gab immer Verbote, im Kommunismus, Verbot für das oder jenes… da hat man sich daran gewöhnt, aber die Jugend kennt solche Verbote nicht, also hat sie der Ehrgeiz gepackt.«

Oder ähnlich: »Es gab auch solche Situationen, dass sie Polen, das Polnische gedemütigt haben. Es gab sogar so einen, der auf Deutsch sprach: ihr polnischen Kühe, polnische Kuh [im Original auf Deutsch], hat er die Frauen beschimpft, Kuh ist Kuh, nicht, ihr polnischen blöden Kühe, arbeiten! Tempo! [klatscht] schnell, schnell, schnell – Tempo also weiter, weiter! Arbeiten muss man – das ist klar, dass man nicht sitzt, aber nicht so, dass du nach 5 Stunden nicht mehr durchhalten kannst, oder nach einer, zwei. Und am schlimmsten ist es, wenn ein Chef oder Meister kommt, er setzt sich hin und zwingt dir zehn Minuten lang sein Tempo auf, und geht dann weg, aber du hältst so ein Tempo fünf bis zehn Stunden nicht durch, das ist normal, du musst ein normales Tempo haben. Bei diesen Arbeiten, wie da, als ich bei diesen Zwiebeln war in (…), da haben sie die Leute wirklich respektiert. Der Chef hat vorab gesagt: Alle

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arbeiten im eigenen Tempo; denn du kannst nicht – denn du wirst es nach ein paar Stunden nicht mehr durchhalten oder du wirst am nächsten Tag deine Hände nicht bewegen können, das ist normal, wenn du viel zu schnell anfängst.«

Diese Passagen zeigen Zuschreibungen, die auf ethnischen, Klassen- und möglicherweise geschlechtlichen Ungleichheiten basieren. Deutlich ist die Diskriminierung aufgrund des niedrigen beruflichen Status und der Machtposition innerhalb der beruflichen Hierarchie, die sich im ersten Beispiel auch gegen die niederländische Kollegin richtet (im Zitat nicht mehr ausgeführt). Im zweiten Beispiel tangiert die Klassenachse der Ungleichheit die der ethnischen: Die berufliche Machtposition wird zusätzlich verstärkt durch die ethnische Hierarchisierung: Als »willige und billige« Polen können sie unter Druck gesetzt werden. Wie das erste Beispiel zeigt, können die Migranten auch souverän mit solchen Situationen umgehen. Auf der anderen Seite kann es sich hier auch um ein teilweise durch die Migranten selbst verstärktes Phänomen handeln: Die Schaukelstrategie vieler Migranten, insbesondere bei Nebenberuflern, führt dazu, dass Migranten bereit sind, exzessiv zu arbeiten und sich so die entsprechende Erwartungshaltung der Arbeitgeber verfestigt. Eine Informantin, die selber unter oberschlesischen Arbeitsmigranten in den Niederlanden gearbeitet hat, bezeichnete die Arbeitshaltung vieler oberschlesischer Arbeitsmigranten als »Rekorde machen«. In diesem Fall leisteten die Schlesier mehr, als die Arbeitsnorm vorgab (z.B. statt 19 Paletten pro Stunde 35), ohne (direkte) Gratifikation (da es sich nicht um Akkordarbeit handelte), und entwickelten so eine Wettbewerbsspirale mit Leistungssteigerungen von einer Arbeitsschicht zur nächsten. Aus anderen Interviews und eigenen Beobachtungen oberschlesischer Aussiedler in Deutschland kann dieses Verhalten mit dem kulturell verankerten Arbeitsethos der Oberschlesier erklärt werden. Auch in der Aussage Mariolas wird das positive »ökonomische« Selbstbild der Schlesier in Abgrenzung zu »Holländern und Türken« deutlich. Die ethnische Diskriminierung in Form des Verbots bestimmter Sprachen in der Kantine illustriert die ethnische Hierarchisierung zwischen den »guten« Sprachen Englisch, Niederländisch, Deutsch und den »schlechten« Sprachen Polnisch und Türkisch. Inwieweit die zitierte Beschimpfung »polnische Kuh« einen sexistischen Hintergrund hatte, ist aus dem Material nicht eindeutig zu entnehmen. Wie am Anfang dieses Kapitels angekündigt, dient die einzelne Migrationsgeschichte der Illustration der soziokulturellen Praxis des Akteurs und seiner strukturell-kontextuellen Einbettung. Im nächsten Schritt wird dieser Zusammenhang verdeutlicht: Es wird gezeigt, für welche typische intersektionelle Positionierungen Mariola exemplarisch steht und welche Variationen das empirische Material in Bezug auf einzelne Aspekte ergeben hat. Und schließlich, inwieweit sich die vorlie-

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genden strukturellen Konstellationen auf die Transnationalisierung der Alltagswelt der Arbeitsmigranten auswirkt. Mariola: Vom Einzelfall zum ersten Typus intersektioneller Strukturierung Generation Mariola ist 48 Jahre alt und teilt damit die historisch-gesellschaftliche Erfahrungswelt der anderen Angehörigen der oberschlesischen Nachkriegs-Generation in der Stichprobe. In dem familiären Sinne der Generation vertritt Mariola die »erste Generation« der Arbeitsmigranten. Anders als ihre Eltern, die nur auswandern konnten, nimmt Mariola nach 1989 die temporäre Arbeitsmigration auf. Ihre erwachsenen Söhne jedoch treten bereits in eine verfestigte Struktur der temporären Arbeitsmigration ein (»zweite Generation«), wobei das elterliche Vorbild hier eine wesentliche Rolle spielte – Denn Mariola und ihr Ehemann tragen aktiv zur Arbeitsmigration ihrer Kinder bei, indem sie zusammen mit den Kindern zur Arbeit ins Ausland pendeln. Hier zeigt sich eine Dynamik, in der Arbeitsmigration als Erwerbsmodell von Generation zu Generation übertragen wird. Im Sinne Mannheim (1928) handelt es sich dabei um eine bewusste und unbewusste »Kulturübertragung« von Generation zu Generation durch soziale Erinnerungen, Einstellungen, Gefühle. In historischer Hinsicht vertritt Mariola die Nachkriegsgeneration, für die die intersubjektive Erfahrungswelt vier gemeinsame Elemente beinhaltet: Erstens handelt es sich hier um die Generation, die auf jene folgte, die die Grenzverschiebungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in Oberschlesien unmittelbar erlebten und diese Erfahrungen an ihre Kinder weitergegeben haben. Diese Erinnerungsarbeit wird hier im Zusammenhang mit Mariolas Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit relevant. Zweitens setzt das Erwerbsleben dieser Generation vor 1989 ein, nicht selten auch die Erfahrungen der informellen Arbeitsmigration in Deutschland – grundsätzlich aber ist die Arbeitsmigration für sie, im Gegensatz zur Nachfolgegeneration, nur ein Abschnitt des gesamten Erwerbslebens. Diese Generation lebt auch in einem Staat, der die nationalen Minderheiten für nicht existent erklärt bzw. verfolgt. So sind nationale Bekenntnisse zum Deutschtum, die deutsche Sprache und Kultur im öffentlichen und privaten Raum verboten. In diesem Zusammenhang wird die Etablierung von Organisationen und Vereinen der Deutschen Minderheit, die Wiedereinführung der deutschen Gottesdienste, die politische Partizipation der deutschen Minderheit, ihre Vertretung im polnischen Parlament, nach 1989 mit Enthusiasmus aufgenommen und erlebt. Der dritte Aspekt ist die Erfahrung des »Exodus« der Bekannten und Verwandten nach Deutschland: In vielen Familien wanderte ein Großteil, oft sogar die

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Mehrheit der Familienmitglieder in den 70er und 80er Jahren als Spätaussiedler nach Deutschland aus. Und viertens schließlich erlebt diese Generation mitten im Erwerbsleben die Transformation der 90er Jahre; der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft polarisiert die Bevölkerung in Transformationsgewinner und -verlierer. Mariola vertritt also erstens die Nachkriegsgeneration: ihre Deutungen der gesellschaftlichen Situation in der Region von heute zeigen, dass das historische Gedächtnis um Oberschlesien und seine Einwohner bei dieser Generation noch sehr lebendig ist.21 Kurz gesagt spielt die ethnische Komponente ihrer Identität für sie eine viel wichtigere Rolle als für ihre Kinder. Deren Inhalte sind etwa die Narrative über die »Sachsengängerei« der Großeltern, die nationale und ethnische »Optierung« der Eltern, aber auch die Erfahrung eigener Diskriminierung durch Institutionen wie Schulen und Behörden, nationalistische Propaganda sowie in persönlichen Kontakten mit Allochthonen, d.h. nicht aus Oberschlesien stammenden Polen. Auch andere Befragte, vor allem dieser Generation, benutzen in ihren Selbstbeschreibungen historische Schlüsselworte, Figuren und Symbole (etwa »optieren«, »oberschlesische Aufstände«, »fünfte Kolonne« usw.). Manche engagieren sich politisch und kulturell in Organisationen der deutschen Minderheit. Wir werden diese Thematik hier nicht weiter vertiefen, da die kognitiv-emotionalen Aspekte der räumlichen Verortung im dritten Teil dieses Kapitels ausführlicher behandelt werden. Das zweite gemeinsame Merkmal dieser Generation ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Auswanderung. Durch die Massenauswanderung nach Deutschland vor 1991 lebt ein Großteil der Verwandtschaft der Interviewpartner heute in Deutschland. RauziĔski (2002: 184) errechnet, dass rein statistisch auf eine in Polen lebende Person in größeren familiären Verbänden durchschnittlich 1,2 dauerhaft in Deutschland lebende Verwandte entfallen. Für einen Interviewpartner – Hartmut – sind es subjektiv »99% der Verwandtschaft«, in anderen Fällen sind es in der Regel Geschwister (wie bei Mariola) und weitere Verwandte, Bekannte und Nachbarn. Bedeutend ist hier der enge grenzüberschreitende Kontakt zwischen den Familienangehörigen, der u.a. durch regelmäßige Besuche der Emigranten aus Deutschland in Oberschlesien aufrechterhalten wird. Die Geografin Brygida Solga, die diese regelmäßigen Visiten der Emigranten auf ihre ökonomische Auswirkungen für die Region ausführlich analysiert hat, pointiert dieses Phänomen mit der Feststellung, dass deutsche Autonummernschil-

21 An dieser Stelle werden die Aspekte der symbolischen Verortung nicht besprochen, da sie in Teil 3 dieses Kapitels ausführlich behandelt werden. Hier soll auf diesen Aspekt nur im Zusammenhang mit der Bestimmung der Generationszugehörigkeit kurz hingewiesen werden.

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der im oberschlesischen Stadtbild zum Alltag gehören – »auffällig« seien dagegen polnische Schilder von außerhalb der Region (vgl. Solga 2004). Die beruflichen Netzwerke der temporären Arbeitsmigranten überlappen sich dabei relativ wenig mit denen der Emigranten. Ausschlaggebender als die praktische Hilfe bei der Suche nach Arbeit, die eher die formelle und informelle Infrastruktur in Form von Arbeitsmigrantennetzwerken übernimmt, ist der Austausch von Erfahrungen, Bedeutungen, Überzeugungen, Aspirationen. So wie Mariola verfügen die Arbeitsmigranten über Wissen über Deutschland, auch wenn sie nicht dort arbeiten. Oder sie messen ihren Lebensstil und Aspirationen, wie der im ersten Kapitel beschriebene Krystian, an den in Deutschland lebenden Verwandten. Schließlich haben die Erfahrungen der eigenen Emigration bzw. Auswanderungspläne und die Bewertungen der Emigration der anderen eine sinnstiftende Funktion für die eigene Mobilität (das betrifft auch die jüngere Generation, wobei hier die eigene Auswanderung weniger ausgeprägt ist, dazu mehr weiter unten). So setzten einige diese Pläne um, wie etwa Peter, der einzige Aussiedler in der Stichprobe, der im Rentenalter nach Polen zurückkehrt. Andere wandern ohne Familie aus, um hinterher in den 90er Jahren zur Pendelmigration überzugehen. Für den typischen Pendelmigranten von heute war jedoch die Auswanderung zwar ein Thema, das aber aus verschiedenen Gründen – wie dem Bau des Hauses (in Oberschlesien), der Ablehnung durch die Ehefrau, Ablehnung der Ausreiseanträge durch den Staat usw. – nicht realisiert wurde. Einige der Befragten fahren jedoch bereits vor der Wende zur Arbeit nach Deutschland, um sich dort informell – bei der damals noch sehr lukrativen Währungsrelation – etwas dazu zu verdienen und damit den »dritten« Weg einzuüben. Aus heutiger Perspektive wird die damalige Entscheidung über den Verbleib allerdings unterschiedlich bewertet. Auf der einen Seite bedauern viele im Rückblick auf die jahrelange Trennung von der Familie die Mühen der Mobilität oder die schlechte Arbeitsmarktposition, dass sie sich damals nicht für die Auswanderung entschieden haben, bzw. es nicht konsequent beim Bleiben belassen haben; auf der anderen Seite interpretieren die Befragten ihre Mobilität stetig vor dem Hintergrund der Auswanderung und sehen sie als »zweitbeste« Lösung in Relation zum Auswandern oder Bleiben – als einen »dritten« Weg. Denn sie kennen das Leben in Polen und in Deutschland und damit die Realität der Nicht-Migranten in Polen und der Emigranten bzw. deutschen Kollegen und Freunde im Zielkontext sehr gut und »messen« ihre Vorteile der mobilen Lebensweise im Vergleich zu beiden Kontexten. Eine weitere Differenzierungslinie innerhalb der Generation ist die zeitgenössische Erfahrung der Transformationsperiode in Polen. Die binäre Einteilung in Transformationsgewinner und -verlierer ist hier eine vereinfachte Perspektive – trotzdem ist sie hilfreich für die Bewertung des sozioökonomischen Hintergrunds der Entscheidung zur Arbeitsmigration.

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So lassen sich in der vorliegenden Gruppe eindeutige Transformationsverlierer festmachen, zu denen auch Mariola gehört. Arbeitslosigkeit und mangelnde soziale Absicherung führen die Befragten im Verlauf der 90er Jahre an die Armutsgrenze; die Arbeitsmigration ist für sie der einzig verfügbare Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Oder die Arbeitsmigration verhindert den trotz Arbeit drohenden sozioökonomischen Abstieg: Einer der Interviewten (Jakub) betreibt bis 2000 einen Bauernhof, wobei seine Frau zusätzlich zur Arbeit in die Niederlande fahren muss, damit der Hof gehalten werden kann. Schließlich wechseln sie gemeinsam zur vollerwerblichen Arbeitsmigration.22 Auf der anderen Seite befinden sich Transformationsgewinner, die sich durch ihr Humankapital, durch Glück usw. in der neuen ökonomischen Wirklichkeit gut zurechtfinden und daraus ökonomisches Kapital schlagen konnten (Hartmut, Sigmund, Pawel). Schließlich gibt es Migranten, die weder der einen noch der anderen Gruppe zuzuordnen sind (Krzysztof, Bogdan). Man kann im Allgemeinen sagen, dass die Migration zum Zeitpunkt der Entscheidung für die Transformationsverlierer eine Exit-Strategie ist, für Transformationsgewinner und alle anderen vielmehr die Nutzung der »grenzüberschreitenden Gelegenheitsstruktur«. Im Verlauf der Migrationsgeschichte kann sich die sozioökonomische Motivation jedoch verändern. Grundsätzlich erfahren die Arbeitsmigranten und ihre Familien eine sozioökonomische Mobilität nach oben – durch verbesserten Lebensstandard, materielle Investitionen, Ausbildung der Kinder. Zwar ist die Profitabilität der Arbeitsmigration im Laufe der 15 Jahre zunehmend gesunken, es lässt sich nicht mehr so viel Kapital innerhalb kurzer Zeit ansammeln, wie es die Migranten mit langen Migrationsgeschichten früher erlebten. Jedoch dient die Arbeitsmigration eher selten dazu, lediglich ein bestimmtes Status- oder Konsumniveau beizubehalten; meist wurde ein sozioökonomischer Aufstieg angestrebt. Darin besteht ein Unterschied zu Migranten aus anderen polnischen Herkunftsregionen, die primär versuchen, einen drohenden Abstieg zu verhindern (vgl. JaĨwiĔska u.a 1997: 62). Lebenszyklus Die Migrationsgeschichte Mariolas steht für eine bestimmte Lebensphase: Ihr bisheriges Erwerbsleben ist durch Brüche gekennzeichnet, sie hat keine reguläre Stelle und ist in einem für die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt ungünstigen Alter. Das gilt auch für Jobs im Ausland – bei jeder neuen (Vermittlungs-) Firma bekommt sie dies zu spüren; in vielen Unternehmen wird die Altersgrenze auf 45, oft sogar auf

22 Eine ganz andere Konstellation hatte ein anderer Migrant, der vollerwerblich in Deutschland arbeitete, um seinen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb profitabler ausrüsten zu können (zum Zeitpunkt des Interviews hatte das Paar bereits 90 Schweine).

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40 Jahre gesetzt. Aber wenn ein Vermittlungsbüro »einen kennt und braucht, dann nehmen sie dich – auch mit 50«. Das Alter ist also ein wesentlicher struktureller Faktor sozialer Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Zwar gilt dies, wie Mariolas Erwerbsverlauf in Polen zeigte, für den transnationalen ebenso wie den nationalen Kontext, auf dem Arbeitsmarkt für Unqualifizierte jedoch bekomme man wenigstens »den Fuß in die Tür«. Mariola bedauert, dass es in Polen nicht solche unqualifizierten Jobs gibt, denn andernfalls müsste sie nicht in die Niederlande fahren. Mit ihrem Alter begründet Mariola auch, dass sich die Selbstständigkeit in Polen weniger lohne, die sie und ihr Mann ursprünglich geplant hatten – »um nicht das ganze Leben im Ausland arbeiten zu müssen«. Hinzu kommt, dass die Arbeitszeit in den Niederlanden seit der Osterweiterung für die Rentenansprüche in Polen angerechnet wird, und wenn Mariola die Unterlagen der letzten Jahren zusammenstellt, die ihre Arbeitszeiten in den Niederlanden dokumentieren, könne sie wahrscheinlich das Rentenalter in Polen bald erreichen. In dieser Orientierung spiegelt sich die Haltung der älteren Arbeitsmigranten wider, die bis zur Rente transnational arbeiten wollen. Damit erweist sich der transnationale Arbeitsmarkt in Mariolas Wahrnehmung für unqualifizierte Beschäftigungen als eine Lösung für Arbeitnehmer in verschiedenen Lebensphasen und lagen: Für »Ältere« wie sie selbst ebenso wie für »Professoren, Lehrer, Magister«, also weitere (Transformations-) Verlierer auf dem neuen kapitalistischen Arbeitsmarkt. Auf den Zusammenhang zwischen dem Migrationshandeln und dem Lebenszyklus haben bereits einige Migrationsforscher hingewiesen (vgl. Levitt 2003 Levitt u.a. 2003, Triandafyllidou 2006: 226). Morokvasic (1984, nach Triandafyllidou 2006: 226) machte bereits 1984 auf den Zusammenhang zwischen dem Lebenszyklus und weiblicher Migration aufmerksam. Für sie ist die Vielfalt der Formen des Erwerbslebens der Frauen besonders auffällig: Bezahlt und unbezahlt, legal und illegal, Produktions- und Reproduktionsarbeit. Wenngleich diese Formen im Verlauf des Lebenszyklus wechseln, arbeiten die Frauen doch insgesamt kontinuierlich, was aber in der Erwerbs- und der Migrationsforschung nicht berücksichtigt wird – so Morokvasic. Auf den Aspekt des Lebenszyklus wird noch weiter unten unter dem Punkt »familiäre Konstellation« eingegangen. In dieser Untersuchung hat sich der Lebenszyklus als eine wichtige Erklärungsvariable für die Ausprägung der transnationalen Migration erwiesen. Insbesondere ist der Lebenszyklus in Relation zu einer anderen sozialen Größe – Gender – zu sehen. Mariola etwa wechselt, zum Zeitpunkt des Interviews, bedingt durch ihre familiäre und geschlechtliche Situation und Rollen als »Tochter« und »Mutter«, gerade in eine neue Lebenszyklusphase: Nach der fast abgeschlossenen Fürsorge für die Kinder beginnt nun die Fürsorge für die Eltern – somit sind ihre Migrations-

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möglichkeiten erneut eingeschränkt. Lebenszyklus und Gender sind in ihrer Kombination in Bezug auf die Migration zugleich ein Vor- und ein Nachteil: Auf der einen Seite führen sie dazu, dass Mariola eher ein recurrent migrant als eine Transmigrantin ist – ihre Kapitalien sind nur teilweise plurilokal verwendbar. Auf der anderen Seite entspricht sie mit ihrer Orientierung als Arbeitsmigrantin, die jederzeit nach Bedarf ins Ausland gehen kann, perfekt den Erfordernissen eines saisonalen und sehr flexiblen Arbeitsmarkts der Landwirtschaft – die Gelegenheitsarbeit entspricht hier ausnahmsweise den Bedürfnissen sowohl des Arbeitgebers wie auch des Arbeitnehmers (mehr siehe unter »Geschlecht«). Geschlecht Damit kommen wir zu einem weiteren differenzierenden Parameter, der das Migrationshandeln erklärt – dem Geschlecht. Es gibt mehrere »Orte«, an denen Mariolas soziale Lage, Praxis und Identität (dazu im Teil 3 dieses Kapitels) durch das Geschlecht beeinflusst werden: Arbeitsmarkt, Familie, soziale Migrantennetzwerke. So illustriert der Fall von Mariola die allgemein schlechtere Position der Frau am Arbeitsmarkt, bedingt durch familiäre Pflichten und Brüche im Erwerbsleben. Hier tangieren sich die sozial-strukturellen Benachteiligungen durch Geschlecht und Alter. Im transnationalen Kontext relativiert sich diese »traditionelle« Benachteiligung jedoch – denn die saisonale Beschäftigung auf dem niederländischen Arbeitsmarkt korrespondiert genau mit familiären Verpflichtungen der Frauen, die viel stärker die Erwerbsarbeit mit der Care-Arbeit verbinden müssen. Die Entwicklung des oberschlesischen transnationalen Arbeitsmarktes in Deutschland und in den Niederlanden (vgl. erster Teil in diesem Kapitel) illustriert die weltweite geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegmentierung für Migranten. Die Feminisierung der Migration (Lutz 2007a: 30, Sassen 1993: 74f) erfolgt hier nicht direkt durch Erschließung frauenspezifischer Arbeitsmarktsegmente, wie etwa bei der Migration im Bereich Haushaltsarbeit.23 Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Erweiterung des Arbeitsangebotes im männerspezifischen Bausektor in Deutschland auf geschlechtsunspezifische Land- und Gartenwirtschaft in den Niederlanden, wobei gerade die Saisonalität der Arbeitsverhältnisse der Lebenssituation von Ehefrauen oberschlesischer Migranten. Das Geschlecht prägt also deutlich das Pendelverhalten der Migranten. Die Frauen in der Stichprobe, insbesondere diejenigen mit familiären Verpflichtungen in Polen – Mütter, Töchter, Ehefrauen – verbringen tendenziell mehr Zeit in Polen. Sie arbeiten je nach Arbeitsart saisonal, wie die Bedarfspendlerinnen in der Landwirtschaft aus der Stichprobe, oder in Rotationssystemen im Haushaltsbereich (vgl.

23 Unter Haushaltsarbeit (domestic work) werden hier weiblich konnotierte, reproduktive Arbeiten wie Putzen, Kinder- und Altenbetreuung verstanden.

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Lutz 2007a). Das trifft nicht zu auf Singles oder kinderlose junge Frauen, die mit ihren Partnern oft vollerwerblich im Ausland arbeiten. Die Männer aus der Stichprobe hingegen pendeln ebenso intensiv nach Polen, oft in Intervallen zwischen einer und drei Wochen. Jedoch erinnert ihr Pendelverhalten eher an die klassische doppelte Haushaltsführung in nicht-transnationalen Pendler-Haushalten, bei der die Frauen zurückbleiben und sich um die Familie und den Haushalt kümmern. Diese vergeschlechtlichte Organisation der transnationalen Arbeit hängt also mit dem Lebenszyklus und der familiären Konstellation des Akteurs zusammen. Denn die Migration der Männer und Frauen wirkt sich unterschiedlich auf die Fürsorge-Situation in der Familie aus: Der care drain ist aufgrund von kulturell verankerten geschlechtlichen Rollen in der Familie bei der weiblichen Migration stärker ausgeprägt als bei männlichen Migration (dazu mehr weiter unten). Das führt dazu, dass die weiblichen Migranten viel häufiger eine zeitlich eingeschränkte Arbeitsmigration anstreben als die männlichen; und so sind Frauen eher unter den saisonalen (Landwirtschaft) bzw. zyklischen (domestic work) Migrationsmodi zu finden als die Männer, die vollerwerbliche Erwerbsstrategien anstreben, deren Schwerpunkte in Polen (nebenerwerbliche Arbeitsmigranten) bzw. in Deutschland/Niederlanden (vollerwerbliche Arbeitsmigranten) liegen – z.B. im Bausektor oder in der Landwirtschaft. Weiterhin bestimmt das Geschlecht die Position der Migrantin in den sozialen Relationen, etwa in der Familie. Für Mariola bedeutet die Arbeitsmigration keine signifikante Neupositionierung innerhalb der Familie in Bezug auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern bzw. Generationen: Wie viele andere Polinnen ihrer Generation war auch Mariola vor der Migration berufstätig, mit traditionellen Erwerbspausen während der Erziehungszeit und auch bedingt durch Arbeitslosigkeit (siehe oben). Erst die Brüche im Erwerbsleben ihres Mannes führen dazu, dass sich in der Familie die Zuständigkeiten verschieben und Mariola zeitweise die Ernährerrolle übernimmt. Dies sieht sie aber (bis heute) ausschließlich als eine Übergangsphase, eine Rückversicherungsstrategie. Je nach Situation kann sich jedoch die Geschlechterbeziehung durch die Migration radikal verändern, wie bei einer anderen bereits oben vorgestellten Frau aus der Stichprobe – Anna, die mit einem alkoholabhängigen Mann verheiratet ist. Man kann ihre Migrationsgeschichte als eine »Emanzipationsgeschichte« bezeichnen: Da Anna auf sich alleine gestellt ist und nur mit Unterstützung der Schwiegermutter rechnen kann, bedeutet die Arbeitsmigration für sie eine dauerhafte Übernahme der Ernährerrolle; Migration bedeutet für Anna daher eine materielle, soziale und emotionale Aufwertung. Anna sieht für sich eine neue materielle Perspektive: Sie emanzipiert sich aus der materiellen und emotionellen Abhängigkeit von ihrem Mann und sieht sich in einer neuen Machtposition ihm gegenüber und empfindet mehr Selbstbewusstsein.

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»Keiner sagt mir – mein Mann wird mir nicht mehr sagen, ›ich muss dir Geld geben«. Ich habe mein eigenes, das reicht mir aus.‹ Das ist es. Ich bin unabhängig von ihm, ich habe einfach den Mut gefasst und bin gefahren. Denn ich war immer so ein ›Hausmütterchen‹ (kura domowa), wie man sagt. Ich durfte nirgendwohin fahren ohne ihn, nicht? Und jetzt habe ich den Mut gefasst und habe mich durchgesetzt, auf mich selbst habe ich gesetzt, und das gefällt ihm, nicht?«

Die Arbeitsmigration fungiert für Anna außerdem als eine Therapie gegen ihre Depressionen, durch die sie in Polen arbeitsunfähig ist. Diesen »therapeutischen Ansatz« empfiehlt sie auch ihrem ältesten Sohn, der ebenfalls familiäre Probleme hat. Hier wird auch deutlich, dass Migration eine Art Flucht vor Schwierigkeiten in der Familie sein kann. In dem Sinn lässt sich die Migration nicht nur als Ursache, sondern oft auch als Folge von familiären Konflikten beurteilen: »Er hat den Pass beantragt und will zur Arbeit fahren [ins Ausland, wyjechaü], eben heute hat er mir geschrieben, dass er möglichst schnell zur Arbeit fahren will, aber hat den Pass noch nicht. Um zu vergessen – sage ich […] du fährst weg, vergisst, du entspannst dich, denn es bringt wirklich viel. Ich weiß es selbst vom letzten Jahr: Ich habe vom Leben abgeschaltet – vom allgemeinen Leben, Bekannten, der Familie, von allem. Damals hatte ich noch nicht das Handy, denn jetzt hat mir der jüngste Sohn eins zu Weihnachten geschenkt, also jetzt habe ich das Handy und rund um die Uhr Kontakt mit ihnen, also bin ich jetzt wieder nervös, denn sie schreiben ihrer Mutti über all ihre Probleme, und damals habe ich einfach abgeschaltet. Damals bin ich aufgeblüht und jetzt sitze ich hier und mache mir Sorgen, was da los ist. Die Handys haben einen Vorteil, aber auch Nachteil, man kann nichts machen, so ist das Leben – wie man so sagt.«

In diesem letzten Satz werden der Aspekt der transnationalen Mutterschaft und ihre Manifestierung durch die transnationale Kommunikation verdeutlicht – dazu ausführlicher weiter unten. So kann die Arbeitsmigration eine neue soziale Positionierung innerhalb der Familie mit sich bringen – als Mutter, als Ehefrau, als Schwiegertochter (Anna will das Haus der Schwiegermutter, in dem sie selbst wohnt, renovieren). Diese beiden Geschichten decken sich mit Ergebnissen anderer Studien zur Frage der Neubestimmung der Geschlechterbeziehungen durch die Migration – danach kann die Migration sowohl die bestehenden Geschlechterbeziehungen unverändert lassen bzw. verfestigen als auch verändern (vgl. Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011, Lutz 2007a, Mahler/Pessar 2006, Goldring 2001). Schließlich hat die weibliche bzw. männliche Migration unterschiedliche Konsequenzen für die Situation der zurückbleibenden Familienmitglieder – dazu mehr im folgenden Abschnitt über die familiäre Konstellation.

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Familiäre Konstellation Wie oben dargestellt, wird das Migrationshandeln wesentlich durch Geschlecht und Lebenszyklus bestimmt, die sich aber ihrerseits in die jeweilige familiäre Konstellation einfügen – denn die familiären Rollen erhalten vor dem Hintergrund des Lebenszyklus und sich verändernder Konstellationen neue Inhalte. So hat Mariola am Anfang ihrer Migration einen 10-jährigen Sohn – sechs Jahre später, zum Zeitpunkt des Interviews, ist er 16 und »erziehungsbedürftig«; außerdem sind ihre Eltern zunehmend pflegebedürftig. Die durch den Lebenszyklus bestimmten familiären Rollen sind mit unterschiedlichen gesellschaftlich festgelegten Anforderungen verbunden: Sie verlangen ihr ab, den pubertierenden Sohn zu erziehen (als Mutter), dem in Deutschland arbeitenden Ehemann »den Rücken freizuhalten« (als Ehefrau), die Eltern und Schwiegereltern zu betreuen (als Tochter bzw. Schwiegertochter), und schließlich die Schwiegertochter in deren Rolle als »transnationale Mutter« zu unterstützen (als Großmutter). Mariola repräsentiert somit eine spätere Phase des Lebenszyklus. Keine der Interviewpartnerinnen hatte während der Interviewführung kleine Kinder, allerdings schildert unter anderem Mariola (auch aus eigener Erfahrung bekannte) typische Situationen junger Mütter, die migrieren. Auch andere Fälle aus der Stichprobe zeigen, wie verschiedene Lebensphasen und familiäre Konstellationen das transnationale Erwerbsleben geschlechtsspezifisch prägen. Ada (34, Schneiderin) etwa ist Single. Sie arbeitet fünf Jahre lang vollerwerblich in Deutschland in einer Metzgerei und pendelt regelmäßig nach Polen. 2000 kehrt sie nach Polen zurück und fährt seit 2001 weitere fünf Jahre lang saisonal in die Niederlande. Seit 2006 arbeitet sie auf Werkvertragsbasis in einem Lager in Polen, wobei ihr wichtig ist, zu regelmäßigen Zeiten zu Hause zu sein, wo sie ihre alternde Mutter und ihre Großtante betreut. Ada ist auch ein »guter Geist« in ihrem kleinen Heimatort. Denn da alle jungen Menschen zur Arbeit im Westen sind, übernimmt sie teilweise deren Aufgaben im familiären Kontext – sie fährt für die älteren Menschen in die Stadt, um Formalitäten zu erledigen oder einzukaufen (zum Thema der durch Migration »verwaisten« Rentner siehe z.B. King/Vullnetari 2006). Ada kann nicht ausschließen, dass sie wieder zur Arbeit fahren wird, aber zurzeit erlauben es das Alter und der gesundheitliche Zustand ihrer Mutter nicht. Ganz anders sieht es bei Renata (26) und Ola (23) aus. Beide Frauen arbeiten vollerwerblich mit ihrem Freund bzw. Ehemann in den Niederlanden. Sie haben (noch) keine Kinder und setzen ihren »Start ins Leben« um, indem sie durch die Arbeitmigration in ihre Zukunft in Polen investieren: Renata hat ein Haus gebaut und ein Studium abgeschlossen, Ola hat sich ein Auto gekauft und hat bereits ein Grundstück für den Hausbau erworben. Beide Frauen haben keine familiären Verpflichtungen in Polen und verbringen zusammen mit ihren Partnern die meiste Zeit in den Niederlanden. Sobald sie nach Polen zurückgekehrt sind, wollen sie Kinder bekommen und sich zusammen mit ihren Partnern auch beruflich neu orientieren.

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Renata will auf keinen Fall, dass ihr Mann Pendelmigration praktiziert. Sollte es in Polen nicht funktionieren, würde sie eher in die Niederlande auswandern – dafür absolviert sie bereits Sprachkurse in Niederländisch. Allerdings ist ihr Mann gegen eine Auswanderung, was diese Planung kompliziert macht. Ola dagegen baut eine nebenerwerbliche Arbeitsmigration in ihre Zukunftspläne ein. Im Gegensatz zu anderen Frauen kann sie sich in Zukunft nicht vorstellen, dass ihr Freund zur Arbeit in die Niederlande geht, während sie mit dem Kind in Polen bleibt. Sie würde dann für diese Zeit mit dem Kind ebenfalls in die Niederlande ziehen. Diese Haltung junger Frauen spiegelt sich wider in den quantitativen Daten zum Migrationshandeln oberschlesischer Arbeitsmigranten. Sie zeigen nämlich einen deutlichen Rückgang der Arbeitsmigration unter Frauen ab dem 25. Lebensjahr (vgl. soziodemographische Merkmale der Arbeitsmigranten). Schließlich sind da noch Beispiele von Anna und der Ehefrau von Jakub zu erwähnen, welche Kinder haben, die teilweise erwachsen und teilweise minderjährig sind. Sie unterhalten während ihrer Arbeitsaufenthalte einen engen Kontakt zu ihren Familien und praktizieren saisonale Migration mit kurzen und intensiven Arbeitsaufenthalten. An den geschilderten weiblichen Fällen manifestiert sich also deutlich der Zusammenhang zwischen Geschlecht, Familienstand bzw. Familienzyklus und Arbeitsmarkt/Land auf der einen Seite, und dem Migrationshandeln auf der anderen Seite. Die haupt- bzw. nebenerwerbliche Erwerbsform hängt eindeutig mit dem Lebenszyklus, der familiären Konstellation und dem Geschlecht zusammen – Frauen, die familiäre Verpflichtungen in Polen haben, bevorzugen kurze Aufenthalte im Zielkontext, um ihrer Rolle als Frau, Mutter, Tochter in Polen nachkommen zu können. Der niederländische Arbeitsmarkt mit einem reichen Angebot an saisonaler Beschäftigung bietet vor diesem Hintergrund eindeutig bessere Möglichkeiten als der deutsche Arbeitsmarkt. Hinzu kommt, dass die Frauen in der Regel in einem Haushalt leben, in dem bereits die Männer migrieren. Grundsätzlich dominiert das Haupternährer-Modell, bei dem die Frauen höchstens saisonal im Ausland arbeiten. Da die Männer abwesend sind, übernehmen die Frauen die Reproduktionsarbeit. Die vollerwerbliche Arbeitsmigration der Männer – so eine vorläufige These, die allerdings einer weiteren empirischen Überprüfung bedarf – verhindert somit die volle Berufstätigkeit der Frauen. Denn zum einen müssen die Frauen durch die Abwesenheit der Männer im Alltag mehr Aufgaben übernehmen, wie die vorliegende Untersuchung ergeben hat; zum anderen sind die Haushalte durch das Einkommen der Männer so nicht auf einen vollen zweiten Verdienst angewiesen. Miera (2007: 220) etwa kommt in ihrer Monographie über die polnische Pendelmigration nach Deutschland zu dem gleichen Fazit: »Transnationale Haushalte basieren vielfach darauf, dass im Herkunftsland meist weibliche Angehörige die Reproduktionsarbeit leisten, während die MigrantInnen im Aufnahmeland auf ihre Funktion als Arbeitskräfte reduziert werden.«

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Einige Fälle zeigen jedoch, dass Frauen in bestimmten Lebensphasen bzw. Situationen dennoch auch eine vollerwerbliche Arbeitsmigration aufnehmen – nämlich dann, wenn sie Singles oder allein erziehend sind oder wenn sie noch keine Kinder haben oder die Kinder schon erwachsen sind. Oder wenn finanzielle Nöte entstehen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, dringend erforderliche Investitionen usw. In diesen Fällen kommt es meistens zu dem in der Fachliteratur bekannten Phänomen des care drain, d.h. dass durch »den Abzug von Versorgungskapital […] in den Herkunftsländern ein Versorgungsdefizit« entsteht (Lutz 2007a: 33). Während der Abwesenheit der Frauen übernehmen hier in der Regel andere Verwandte wie Großmütter, Geschwister usw. deren Aufgaben im familiären Rollengefüge oder die Kinder selbst, wobei die praktische Organisation des Alltags meist besser funktioniert als die emotionale Fürsorgearbeit. Mariolas eigene Geschichte illustriert dies sehr gut, aber auch ihre Schilderungen anderer Frauen – oder die Perspektive der Kinder transnationaler Mütter, wie etwa bei Ola: »Wie war es für Dich so im Allgemeinen, war es schwer oder? Ja, es war ein wenig blöd, denn du weißt, sonst wenn man nach Hause zurückkam, war immer das Mittagessen da. Und wenn ich jetzt kam, war der Papa da, aber dieser Papa… ich weiß nicht. Manchmal hat er irgendein Mittagessen gemacht, aber nicht so wie Mama. Man konnte mit ihm nicht so gut reden, nichts. Obwohl es jetzt gut ist [lacht] – jetzt kann man über alles reden. Aber früher ging es nicht, weil ich zur Schule ging, eben blöd irgendwie, die Mama kann man nicht ersetzten […] und wenn Papa länger arbeiten musste oder so was, dann ging ich zur Tante, denn zwei Straßen weiter wohnt die eine Tante, die andere, jetzt wohnt da auch der Opa… und immer, wenn die Mama aus Holland zurück kam, hat sie mir was mitgebracht, Süßigkeiten, oder eine schöne Jacke. Ja, es war anders.«

Heute, da alle Familienmitglieder im Ausland arbeiten, leistet die Tante die Fürsorgearbeit für Olas Vater – der Vater isst bei seiner Schwester und verbringt bei ihr seinen Feierabend. Dieses Ergebnis bestätigen andere Studien über Versorgungsarrangements in transnationalen Familien: Die Abwesenheit der Mutter führt höchstens vorübergehend zu einer Neudefinition der Geschlechterrollen hinsichtlich der Umverteilung der Reproduktionsarbeit, stattdessen kommt es zur Übernahme der Fürsorgearbeit (care work) durch andere weibliche Familienmitglieder (Parreñas 2001, 2005, Lutz 2007a, Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011). Klasse Der nächste Aspekt, der die soziale Praxis der Migranten einerseits stratifiziert und zugleich durch sie reproduziert wird, ist der der »Klasse«. Klasse wird hier nicht ausschließlich aus der traditionellen »vertikalen« ökonomischen Perspektive der

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Position auf dem Arbeitsmarkt bestimmt; vielmehr werden hier »horizontale« Kategorien, wie etwa Lebensstile (Hradil 2001), mit berücksichtigt. Analytisch wird dabei an das Konzept der Kapitalien Bourdieus angeknüpft (soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital), über welche die soziale Positionierung des Subjektes bestimmt wird. Im ersten Schritt soll hier die Kapitalausstattung Mariolas analysiert werden, im zweiten die Frage nach der sozialen Mobilität, und schließlich die Frage der Verschränkung der Klasse mit anderen Achsen der Ungleichheit. Insbesondere hinsichtlich der Kapitalausstattung der transnational lebenden Migranten ist das Prinzip der grenzüberschreitenden Analyse von Bedeutung: Erst durch die Optik des Herkunfts- und Ankunftskontextes lassen sich die Ressourcen und Positionierungen der mobilen Akteure hinreichend bestimmen. Das wichtigste kulturell institutionalisierte Kapital ist – wie für die gesamte Gruppe – die deutsche Staatsangehörigkeit beider Eheleute, Mariolas und ihres Mannes, die durch die Arbeitsmigration in ökonomisches Kapital umgesetzt wird: »Ich sage dir über das Leben ganz ehrlich: Wenn wir nicht arbeiten würden [im Ausland], wenn wir diesen Pass nicht hätten, dann hätten wir gar nichts im Leben. Nichts, buchstäblich nichts. Wenn mein Mann nach so vielen Jahren Arbeit, er ist Meister und er verdient diese 800 Złoty, also 200 Euro, als ich gesagt habe, dass mein Mann in ganzem Monat 200 Euro verdient, und jetzt gleichen sich doch die Preise an, dem Euro, das ist doch schrecklich – man weiß nicht, wovon man leben soll.«

Die deutsche Staatsangehörigkeit und die damit verbundene Möglichkeit der Arbeitsmigration sehen die Interviewpartner als wichtiges Startkapital (ausführlicher über die subjektive Bedeutung von Staatsangehörigkeiten siehe den dritten Teil dieses Kapitels). An dieser Stelle wird die strukturelle Positionierung von Mariola über Nationalität und Klasse bestimmt: Die deutsch-polnische Staatsangehörigkeit verschafft eine bessere Kapitalerstattung als die der »Nur-« Polen bzw. »Nur-« Deutschen, die diesen transnationalen ökonomischen Vorteil nicht nutzen können. Denn eine wichtige Quelle ökonomischen Kapitals sind bei Mariola auch die Jobs in Polen, die sie immer wieder annimmt und mit transnationaler Erwerbsarbeit kombiniert. Aber ebenso ist es die kürzlich vom Ehemann aufgenommene Arbeit in Deutschland, durch die Mariola die Arbeitsmigration gegenwärtig aufgeben konnte. Nicht zu unterschätzen ist das kulturelle Humankapital: Mariola verfügt über Wissen und Fertigkeiten, die es ihr erlauben, die kurzen Arbeitsintervalle effektiv zu nutzen: Sie nimmt mehrere Jobs an, wechselt, wenn es erforderlich ist, kennt sich sehr gut auf dem transnationalen Arbeitsmarkt aus. Das hat sich bereits vor

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dem Interview gezeigt, als Mariola – aus eigener Initiative – viele Informationen über Arbeitsagenturen, Kontakte usw. zur Verfügung stellte. Hier ist auch bereits das transnationale soziale Netzwerk zu erkennen, auf das sich Mariolas Arbeitsmigration stützt: das familiäre Unterstützungssystem während ihrer Abwesenheit, Emigranten und andere Pendelmigranten im transnationalen Kontext. Auffällig ist, dass Mariola ihre Arbeitsmigration in einem informellen Frauennetzwerk organisiert: Sie migriert immer zusammen mit anderen Frauen, die vergleichbar mit ihr saisonal für kurze, regelmäßige Aufenthalte in die Niederlande fahren. Die Frauen planen und realisieren die Arbeitsaufenthalte zusammen, womit sie sich gegenseitig praktische und soziale Hilfe leisten. So stellt das soziale Kapital eine wesentliche Ressource für die Pendelmigration und das Erzielen des ökonomischen Kapitals dar – wie bereits dargestellt, positioniert sich Mariola jedoch eher am unteren Ende der transnationalen sozialen Machtstrukturen, was vor allem mit ihrem Lebensschwerpunkt in Polen und nicht in transnationalen sozialen Räumen zusammenhängt. Bei der Frage der sozioökonomischen Mobilität sind dabei zwei Aspekte relevant: Der ökonomische Aufstieg und die Statusinkonsistenz (Dequalifizierung). Der ökonomische Aufstieg der Familie manifestiert sich, was typisch für die ganze Gruppe und in der Regel für die Transmigranten (vgl. den mexikanischen Fall) ist, vor allem in der Verbesserung des Lebensstandards und »Investitionen«, wie es Mariola selbst nennt. Diese beziehen sich in ihrem Fall etwa auf Renovierungen und Ausstattungen – analog zu den mexikanischen »Dollarhäusern« kann man hier von »Eurohäusern« sprechen.24 Die Aussage Mariolas macht allerdings deutlich, dass die Arbeitsmigration im Fall ihrer Familie eher eine existenzielle Bedeutung hat. In längerfristiger Perspektive bedeutet sie zwar einen ökonomischen Aufstieg der Familie, wie die Schilderung der materiellen Nöte aus der Vergangenheit zeigt. Aber – wie bei anderen Interviewpartnern – reicht das Einkommen nicht für große »Sprünge«, vielmehr geht es um den »normalen« Lebensstandard.

24 Als dollar houses werden in Mexiko Häuser bezeichnet, die von Geldüberweisungen der Migranten gebaut werden und sich durch ihre Pracht in der Regel von den Häusern der Nicht-Migranten abheben. Dollar houses stehen für den sozioökonomischen Aufstieg der Arbeitsmigranten im Herkunftsland. Im vorliegenden Fall müsste man analog von »EuroHäusern« sprechen. Auch in Oberschlesien fallen in vielen Gemeinden die prachtvollen Euro-Häuser der Migranten auf. In den Feldbeobachtungen während der Interviewtermine und anderen Besuche in der Region Oppeln konnte die Autorin ganze Straßenzüge mit neuen »Eurohäusern« sehen. Aus Gesprächen mit Einwohnern ging hervor, dass es sich tatsächlich zum großen Teil um Häuser von Migranten handelte.

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Romuald JoĔczy und Andrzej Brzezina (2006: 102) unterscheiden in ihrer quantitativen Studie über die Region Opole zwischen zwei Arten von Arbeitsmigration: einer »erzwungenen«, die lediglich einen Abstieg verhindert, und einer »freiwilligen«, die einen ökonomischen Aufstieg ermöglichen soll. Für die letzten Jahre konstatieren die Autoren eine zahlenmäßige Verschiebung von der freiwilligen zur erzwungenen Arbeitsmigration. Der qualitativ-biographische Zugang zum Erwerbsleben der Interviewpartner relativiert jedoch eine kategorische Trennung zwischen den beiden Ausprägungen der Arbeitsmigration, da sie ausschließlich die Einkommenssituation des Haushalts berücksichtigt, nicht jedoch die Bedeutung anderer Kriterien wie subjektive Erwartungen oder die zeitliche Dynamik. Das zeigt auch der Fall von Mariola. Zum Zeitpunkt des Interviews migriert Mariolas Ehemann und verdient »ausreichend«25, sodass sie sich wieder der Reproduktionsarbeit und gelegentlicher Erwerbsarbeit in Polen widmen kann. Ein weiterer Aspekt ist die Frage der Dequalifizierung Mariolas im unqualifizierten Arbeitsmarktsegment in den Niederlanden. Ihre Dequalifizierung beginnt bereits in Polen, bedingt durch Alter, Erziehungszeit und Arbeitslosigkeit in der Region. Interessanterweise misst Mariola zwar ihrer Dequalifizierung bereits in Polen eine hohe Bedeutung bei, auf der anderen Seite sieht sie in unqualifizierten Arbeiten in den Niederlanden eine Chance, überhaupt arbeiten zu können – so äußert sie ihr Bedauern, dass es in Polen unqualifizierte Arbeiten, anders als in den Niederlanden, nicht gebe. Mariola reflektiert nicht darüber, dass es in Polen durchaus unqualifizierte Jobs gibt, diese aber vermutlich ökonomisch für Mariola nicht attraktiv wären. So wird, wie allgemein aus der Literatur über transnational lebende Migranten hervorgeht, die Dequalifizierung im Ankunftskontext in Kauf genommen, um einen sozioökonomischen Aufstieg im Herkunftskontext zu erzielen (vgl. z.B. Goldring 1998, Pries 1998: 68). Interessanterweise nimmt ein Teil der befragten Migranten »befristet« die Statusinkonsistenz in Kauf – wie etwa Studenten, um ihr Fernstudium in Polen zu finanzieren und in Polen später einen qualifizierten Beruf ausführen zu können. Diese Strategie setzte in der Stichprobe z.B. der Befragte Marcin um, der heute als Lehrer an einem Gymnasium in Polen arbeitet. Bei einem großen Teil der interviewten Migranten jedoch bedeutet die Migration keine Dequalifizierung – diese Situation wird exemplarisch anhand der zweiten Migrationsgeschichte dargestellt (siehe unten). Der Fall Mariola verdeutlicht, dass die klassische, ausschließlich auf den nationalen container state bezogene Ungleichheitsforschung nur eingeschränkt die soziale Mobilität in transnationalen sozialen Räumen beschreiben kann. Zwar bleiben die beiden nationalen Kontexte weiterhin wichtige Bezugseinheiten für Mariola – in

25 Ca. 1000 Euro netto und nicht 200 Euro – sein letztes Gehalt in Polen.

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den beiden »getrennten« Kontexten empfindet sie sich als mehr oder weniger dequalifiziert. Hier kommt allerdings ein drittes, transnationales Referenzsystem hinzu, das für die letztendliche Bestimmung der sozialen Mobilität Mariolas berücksichtig werden muss (vgl. Pries 2008b: 60). Die soziale Positionierung Mariolas in diesem transnationalen Sozialraum – der Pendler-Community – wird geprägt durch die Nebenerwerblichkeit ihrer Arbeitsmigration: »Am schlimmsten ist es, wenn du alleine dahin fährst und an eine Elite gerätst, die schon längere Zeit da ist, die denken, dass sie da viele Jahre arbeiten und daher mehr Rechte haben und alles kennen. Es gibt aber auch andere Personen, die sehr freundlich sind.«

Dies ist ein Hinweis auf eine interne soziale Hierarchie unter den oberschlesischen Arbeitsmigranten, die nach der Migrationserfahrung und damit nach Zugang zu Ressourcen wie Wissen, Kontakten, Qualität des Arbeitsplatzes differenziert ist. Für Mariola als Ehefrau, Mutter, Schwiegertochter hat die Arbeitsmigration aus familiären Gründen nur einen relativ kleinen Umfang; deshalb »verliert« sie gute Arbeitsplätze, wie oben deutlich wurde, gehört nicht zur »Elite«. Zwar liegt Mariolas Lebensschwerpunkt in Polen, doch verfügt sie doch durch ihre sozialen Kompetenzen und die familiäre Konstellation – beide Söhne arbeiten vollerwerblich und in guten Positionen in den Niederlanden – über ein relativ gut ausgebautes transnationales soziales Netzwerk. Mariola knüpft interethnische ad hoc Kontakte, hat primäre Beziehungen zu polnischen Emigranten in den Niederlanden, über die sie Arbeitsplätze bekommt, hält jedoch vor allem Beziehungen zu Migranten und Nicht-Migranten aus ihrem Ort in Polen. Mariola lässt sich als ein Mitglied der transnational community (Smith 1997) bezeichnen – sie ist zur Zeit zwar eine »ruhende« Migrantin, aber auch als Nicht-Migrantin ist sie Mitglied eines Migrantenhaushalts und unterhält aktiv Beziehungen zu anderen Migranten. Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf Mariolas intersektionelle Positionierung folgende Schlüsse ziehen: Mariola verfügt über grenzüberschreitende Kapitalien, deren Schwerpunkt jedoch in Polen liegt und die sich im Laufe der Zeit durch mehrere andere strukturelle Positionierungen Mariolas im Ankunftskontext ausbauen konnten. Mariola verfolgte immer eine typische »Schaukelstrategie«. Dies hängt mit ihren Rollen in der Familie zusammen: Sie ist diejenige, die aufgrund ihrer familiären Konstellation und ihres Geschlecht Fürsorge für andere Familienmitglieder leistet, aber sich auch in der gegenwärtigen Situation komplett von der Erwerbsarbeit zurückziehen kann. Durch ihre jetzige Lebensphase muss sie wieder oder immer noch in Polen Fürsorgearbeit erbringen, was ihre transnationale Erwerbstätigkeit wesentlich einschränkt. Andererseits findet sie gerade im sekundären Arbeitssektor in den Niederlanden doch eine finanziell zufriedenstellende Beschäftigung, trotz des Alters und trotz der geschlechtsspezifischen Erwerbsbrüche. Hier

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profitiert sie von ihrer ethnischen Positionierung (mehr im Sinne der nationalen Lohndifferenziale zwischen Deutschland und Polen) und der Mobilität – einer Ressource, die relativ zu sehen ist, denn in anderen Perspektiven wirkt sie sich zu ihrem Nachteil aus, wie sich z.B. anhand der ethnischen Diskriminierung durch Vorgesetzte gezeigt hat. Ethnizität und Staatsangehörigkeit Wie beschrieben ist der Besitz der doppelten Staatsangehörigkeit von entscheidender praktischer Bedeutung für die Möglichkeit der Migration. Eine gewisse Brisanz liegt dabei in der Tatsache, dass beide hier in Frage kommenden Staatsangehörigkeiten im Wesentlichen auf einem ethnischen, nicht einem politischen Nationsbegriff basieren (vgl. Brubaker 1994). Ein solches Verständnis schließt die Anerkennung multipler Zugehörigkeiten traditionell grundsätzlich aus (was nicht bedeutet, dass die entsprechenden Regierungen und Verwaltungsapparate nicht unter Abweichung vom eigentlichen Grundprinzip weitgehend pragmatisch damit umgehen können, was insbesondere im Rahmen der EU inzwischen auch geschieht). Zusätzliche Brisanz entsteht durch die Tatsache, dass es hier nicht nur um ethnisch definierte Staatsangehörigkeiten geht, die grundsätzlich als exklusiv verstanden werden, sondern dass die gemeinsame Vergangenheit der betreffenden Ethnien im 19. und 20. Jahrhundert stark von Abgrenzung und Feindseligkeit geprägt war. Die ethnische Herkunft als »Deutschstämmige« stellt in erster Linie eine durch den Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit institutionalisierte kulturelle Ressource dar, die durch die Arbeitsmigration in ökonomisches Kapital umgesetzt werden kann. Diese in höchstem Maße institutionalisierte Form der politischen Transnationalität ermöglicht gerade die Entstehung der dichten materiellen und sozial grenzüberschreitenden Infrastruktur. Dass dieser politische Faktor von Bedeutung ist, war eine dieser Untersuchung zugrunde liegenden Thesen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Praxis der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit genauso bedeutend ist: Nicht alle in Oberschlesien lebenden Personen, die objektiv Anspruch auf die Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit haben, beantragen diese letztendlich auch. Es ist also nicht nur eine Frage der Rechte, die einem Akteur objektiv zustehen, sondern auch eine Frage einer mentalen Karte, die sich im Fall der Antragsteller offensichtlich nicht ausschließlich auf den polnischen Raum beschränkt. Der fehlende Automatismus der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit lässt sich etwa an einer der Autorin persönlich bekannten Familie in Oberschlesien nachvollziehen: Der in Oberschlesien lebende Vater hat die deutsche Staatsangehörigkeit nur aus »symbolischen«Gründen beantragt – zwar lebte er niemals in Deutschland, empfand sich aber als ein in Oberschlesien lebender Deutscher. Seine ältere (erwachsene) Tochter hat die deutsche Staatsangehörigkeit wegen ihres sich teilweise auf Deutschland erstreckenden Lebens (sie hat in Deutschland studiert und

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gearbeitet) und ihrer Zukunftspläne beantragt – es war also die Konsequenz ihrer subjektiven und realen Verortung in Polen und Deutschland. Schließlich hat die jüngere, ebenfalls erwachsene Tochter aufgrund des ius sanguinis zwar formell Anspruch auf die Anerkennung ihrer deutschen Staatsangehörigkeit, hat aber nicht einmal darüber nachgedacht, sie zu beantragen, da ihre Lebensplanung sich nur auf Polen bezieht – hier hat sie geheiratet und hat einen ihres hohen formellen Qualifikationsniveaus entsprechenden und für die lokalen Verhältnisse gut bezahlten Arbeitsplatz – und verortet sich damit sowohl objektiv wie auch subjektiv ausschließlich in Polen. An diesen drei Beispielen aus einer einzelnen Familie lässt sich gut nachvollziehen, wie die Entscheidung über die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit mit den subjektiven und realen Verortungen in Deutschland und Polen zusammenhängt: Die Entscheidung für die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit kann pragmatische oder emotionale Gründe haben, sie setzt aber mehr oder weniger voraus, dass sich die mentale Karte dieser Personen nicht ausschließlich auf den geographisch-historischen Raum Polen beschränkt. An diesem repräsentativen Einzelfall werden die Grenzen eines Rational-Choice-Modells für individuelle Migrationsentscheidungen deutlich, das zumindest implizit eine finanzielle Nutzenkalkulation unterstellt: Was der einzelne Migrant als »Nutzen« empfindet, kann je nach seiner mentalen Karte sehr unterschiedlich ausfallen – und Entscheidungen über Migration bzw. gerade »Nicht-Migration« entscheidend beeinflussen, die aus der herkömmlichen Kosten-Nutzen-Perspektive nicht »rational« erscheinen mögen. Die Untersuchung hat zudem die Bedeutung der sozialen Dynamik dieser Praxis gezeigt: Je mehr Menschen im sozialen Umfeld transnational leben, desto stärker wird auch transnational »gedacht«. Die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit wird so als eine soziale Norm etabliert, wenn sie auch nur als eine Art »Führerschein« dient, auf den man – wenn auch nicht gerade jetzt, so doch eventuell später – immer wieder zurückgreifen kann, wie es ein Interviewpartner formulierte. Gerade der Fall Anna, die als einzige aus der Stichprobe seit Jahrzehnten nicht in Oberschlesien, sondern in einer anderen Region Polens lebt, und die Arbeitsmigration nicht aus dem sozialen Umfeld, sondern aus den Medien kennt, macht die Bedeutung der lokalen Dynamik der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit und der Arbeitsmigration deutlich. Anna hatte nach eigener Aussage anfangs »Angst« vor der Arbeitsmigration; ausschlaggebend hierfür war die Präsenz des Themas Menschenhandel in den medialen Diskursen in Polen – Annas Vorstellung über Arbeitsmigration war zunächst stärker durch die massenmediale Vermittlung geprägt als durch konkrete Erfahrungen von Menschen aus dem Umfeld. Schließlich wurde Anna von ihrer – in Oberschlesien lebenden – Schwester, selbst Arbeitsmigrantin, überzeugt, dennoch die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen und einen ersten Job in den Niederlanden abzunehmen.

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Mariolas Migrationsgeschichte steht zudem, wie bereits oben angedeutet, für die Verschränkung der »Nationalität« mit der »Klasse« im Migrationskontext. Zum einen manifestiert sich dies in einer ethnischen Segmentierung des Arbeitsmarktes. Je nach Kontext bedeutet die Nationalität für die Oberschlesier eine bessere oder schlechtere Positionierung auf Grund der Klasse: Im »nur« niederländischen Kontext besetzt Mariola eine niedrige berufliche Position auf dem Arbeitsmarkt; im transnationalen Kontext hat sie jedoch durch die transnationale Lebensführung einen sozioökonomischen Aufstieg in Polen erreicht. Zum anderen verschränken sich die Nationalität und Klasse im Prozess der Selbst- und Fremdzuschreibungen. Am Beispiel der oben geschilderten Diskriminierungen durch die Vorgesetzen wird hier die negative ethnische Zuschreibung – auf der symbolischen Ebene manifestiert durch die »schlechtere« Sprache Polnisch – durch die Klassendistanz verstärkt: Die Vorgesetzten konstruieren mit ihren Zuschreibungen eine ethclass (im Sinne von Gordon 1964: 51) für ihre eigenen Zwecke: Die Migranten werden auf den Faktor Arbeit reduziert – am untersten Ende der ökonomischen und soziokulturellen Hierarchie. Dies ist kein migrationsspezifisches Phänomen, sondern generell charakteristisch für niedrig qualifizierte berufliche Positionen. In diesem Fall wird jedoch zusätzlich der ethnische Aspekt instrumentell konstruiert – durch die fehlenden Sprachkenntnisse der »Schaukel-Migranten«, ihre Abhängigkeit von der Organisationsleistung der Vermittlungsagenturen usw. können sie sich schlechter behaupten und können einfacher in der alltäglichen Praxis als »Niedrigqualifizierte« und »Fremde« durch »Vorgesetzte« und »Autochthone« an das untere Ende der sozialen Hierarchie verwiesen werden. Die Nationalität spielt schließlich auch die für Deutungs- und Handlungsstrukturen vor dem Hintergrund der Geschichte der Region und Familien, der Migrationsgeschichte und der kulturellen Identitätskonstruktion eine Rolle (dazu mehr im Teil 3 dieses Kapitels). In der folgenden Schilderung der aktuellen beruflichen Situation kommt die mehrfache Verschränkung der strukturellen Positionierungen Mariolas auf Grund von Lebensphase, Geschlecht, familiärer Konstellation, Klasse im Migrationskontext zum Ausdruck: »Und jetzt sollte ich wieder in der Saison wegen Zwiebeln, fahren, diese Arbeit fängt im Juli an – es gibt viele Stunden. Ich musste zurück [zjechaü], ich bin im September zurückgekommen und dann sollte ich wieder im November dahin, denn es ist die Wintersaison. Aber in dieser Zeit hatte meine Mutter eine Operation hinter sich, der Vater auch, so dass ich nicht weg konnte. Und Bernard arbeitet im Ausland, also damit ich es fortsetzen könnte, denn ich habe da Versicherungen bezahlt, und ich könnte mir in diesen Jahren für Rente einzahlen, denn ich habe insgesamt 19 Jahre gearbeitet, und ich würde gerne dahin fahren, aber leider konnte ich nicht, denn mein Mann war im Ausland und Eltern sind hier alleine […] Und leider bin ich nicht gefahren, und ich wusste, dass diese gute Arbeit weg war und da waren sehr nette Leute. Wenn du eine dauerhafte Arbeit haben willst, musst du immer verfügbar sein, du

252 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN musst ständig da arbeiten, denn wenn jemand anders auf diesen Arbeitsplatz kommt, das ist ja normal, dann kommst du nicht zurück auf diese Stelle und am schlimmsten ist es, wenn du zu einer neuen Arbeit fährst, du weißt nichts, zu einer neuen Unternehmen, bei so einem Unternehmen werden alle eingestellt und du kennst keinen.«

Mariola möchte gerne gerade wegen ihres Alters und zurückliegender Erwerbspausen im Hinblick auf die Rente mehr arbeiten. Sie tut dies aber nicht wegen ihrer geschlechtlichen Rolle in der Familie (als Tochter, Nichte, Ehefrau), wegen des Lebenszyklus, in dem sie nicht mehr für Kinder, aber schon für die Elterngeneration sorgen muss, und schließlich, weil bereits ihr Ehemann zur Arbeit in den Westen geht und sie in dieser familiären Konstellation die reproduktive Arbeit übernimmt. Dies beeinträchtigt ihre Position auf dem transnationalen Arbeitsmarkt, denn sie verliert ihr bereits kumuliertes Kapital – eine im ökonomischen und sozialen Sinne »gute« Arbeitsstelle. Wojtek: Zweiter prototypischer Fall intersektioneller Praxis und Verortung in gesellschaftlichen Strukturen Der Fall Wojtek soll als Kontrast zum Fall Mariola eine gegensätzliche soziale Strukturierung der Migrationspraxis illustrieren. Wojtek vertritt die zweite Generation der oberschlesischen Arbeitsmigranten, ist ein Mann, ein relativ junger Vater und repräsentiert eine erfolgreiche transnationale Karriere. Wojtek wurde bereits im ersten Teil des empirischen Kapitels näher vorgestellt. Im Folgenden soll nun zunächst die alltägliche soziale Praxis Wojteks dargestellt werden; anschließend wird die soziale Strukturierung in dieser Migrationsgeschichte dargestellt. Zur Erinnerung die biographischen Fakten: Wojtek ist 30, ElektromechanikerElektroniker von Beruf, verheiratet (seine Frau ist nicht berufstätig), er hat ein Kind. Er arbeitet nach der Schule 1,5 Monate lang in einem polnischen Unternehmen, heiratet dann 1993 mit 19 und wird kurz darauf Vater. 1993 fährt er zum ersten Mal nach Deutschland, wo er zuerst zwei Wochen lang in Gera arbeitet. 1993–1994 arbeitet er auf einer Baustelle in Dresden: Hier arbeitet er sich nach einem Monat hoch vom Hilfsarbeiter zum Zimmermann. Im Laufe der Zeit wird er zur rechten Hand des Meisters, mit dem er in einem Wohncontainer wohnt. Da der Meister Alkoholprobleme hat, arbeitet sich Wojtek in dessen Arbeitsgebiet ein (u.a. muss er Arbeitspläne für 80 Personen festlegen) und wird zum Vorarbeiter. In dieser Zeit hilft er jeden Sommer durchschnittlich zwei bis drei Monate im Landwirtschaftsbetrieb seiner Schwiegereltern in Polen. 1995 wechselt er zu einem Unternehmen, wo er zuerst offiziell als Vorarbeiter anfängt, aber dann zum »Baumeister« aufsteigt – bis 1997 ist es zuerst kurz Berlin und dann Cottbus. Seit 1998 leitet er zusammen mit seinem Vater und zwei Freunden ein Subunternehmen in Zusam-

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menarbeit mit einem jugoslawischen Generalunternehmen mit wechselnden Einsätzen: Berlin, Düsseldorf, Stuttgart, München, Wien. In der Migrationsgeschichte Wojteks ist seine soziale Mobilität bemerkenswert, die durch die Existenz eines transnationalen sozialen Raums ermöglicht wird. Wojtek repräsentiert dabei eine typische oberschlesische Bildungskarriere, für die eine praktische berufliche Orientierung charakteristisch ist: »Weshalb? Wie es war? Na ja, es war schon immer so, egal wie gut jemand in der Schule war, in unseren oberschlesischen Familien war es so, dass der Vater sagte: Sohn, das auf dem Papier ist nicht wichtig, wichtig ist es, was du machen kannst […] In meinem Fall z.B. war immer das beste Zeugnis, es gab gewonnene Schülerwettbewerbe in Geschichte, Polnisch, und ich habe doch die Berufsschule gemacht26, denn man musste eben etwas machen können, es war so, dass man es so machen musste… der Mann sollte arbeiten und verdienen.«

Anders als die Mehrheit der Arbeitsmigranten arbeitet sich Wojtek jedoch in der Hierarchie der oberschlesischen Arbeitsmigranten hoch: »Auf der Baustelle haben sie gesehen: Ein großer Mann, 187 cm. Groß, dann haben sie mir eine Schaufel gegeben und ich musste schaufeln, Das war meine erste Arbeit, die erste Woche hat es mir nicht gefallen […] und nach einer Woche dieses Schaufelns hatte ich so die Nase voll, dass ich schließlich zu dem Meister gegangen bin und sagte zu ihm: ›Mann, weißt du, dass ich groß bin, heißt nicht, dass ich blöd bin, ich werde nicht die ganze Zeit so rumlaufen und schaufeln.‹ In der zweiten Woche hat er mich zu einer anderen Arbeit geschickt, ich habe das eine bekommen, das zweite. Nach drei, vier Wochen habe ich schon normal als Zimmermann gearbeitet.«

Gerade in der alltäglichen Konfrontation mit »nationalen« Standardkriterien und karrieren wirkt sein Fall ungewöhnlich: »Und dass ich den [höheren] Abschluss nicht habe – kann man nichts machen. Das sieht schon ein wenig blöd aus, denn meine Kleine, z.B. einmal war in der Schule die Frage: ›Was macht dein Papa?‹, ›Was machst du?‹ ›Ich leite eine Baustelle‹ – sage ich, ›Werkzeuge deiner

26 In Polen, wo keine dem deutschen »dualen System« entsprechende Berufsausbildung existiert, ist »Berufsschule« (szkoła zawodowa) die Bezeichnung für den niedrigsten Schulabschluss, der zugleich eine Ausbildung für relativ gering qualifizierte Berufe beinhaltet. Darüber einzustufen sind die schulische Berufsausbildung für höher qualifizierte technische Berufe (technikum) sowie »Lyzeen« mit allgemeinbildendem oder fachbezogenem Profil, deren Abschluss zur Aufnahme eines Hochschulstudiums oder einer die Hochschulreife voraussetzenden, nicht-akademischen Berufsausbildung berechtigen.

254 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN Arbeit? ‹ Ich sage: ›Telefon, Zirkel, Plan‹. Was kann noch Werkzeug meiner Arbeit sein? ›Ein Funkgerät‹. Und sie schrieb: Mein Papa ist Ingenieur [lacht]. Denn ich führe da solche Arbeit aus. Ich leite Baustellen, große Baustellen. Ich habe Ahnung davon, weil ich schon manchen Bau gemacht habe, und wenn ich die Ausbildung angebe, dann steht da ›Berufsschule‹. Das ist ein wenig blöd so… nicht? Denn jeder meiner Leute hat die Berufsschule gemacht. Also das hätte ich anders gemacht, wenn ich etwas hätte ändern können. Und was das ändern würde? Wer weiß.«

Eine bessere Ausbildung – so Wojtek – würde jedoch seine berufliche Situation sowohl in Polen wie auch in Deutschland verbessern. Dabei berücksichtigt Wojtek bei diesen Überlegungen den gesamten transnationalen Raum: »Und dann hätte ich natürlich die Arbeit hier. Denke ich. Oder ich wäre mehr hier. Allerdings, mit diesem Papier würde ich vielleicht mehr schaffen als ohne. Jetzt hätte ich vielleicht weniger Probleme z.B., denn jetzt hätte ich vielleicht eine eigene Firma, wenn ich dieses Papier hätte, wenn ich die Ausbildung hätte.«

Wojteks kritische Haltung zur fehlenden oberschlesischen Bildungskultur wird relativiert durch den eigenen »transnationalen« Erfolg trotz des Fehlens eines formellen »nationalen« Diploms in Polen oder Deutschland: »Was das ändern würde? Es ist schwer zu sagen, schwer zu sagen, sicher… bei uns (sic) die Ausbildung muss man haben, aber man muss auch… Ich meine: Nicht jeder, der einen Magistertitel hat, oder den Doktor [lacht] […] Und wenn er das schon hat. Nicht jeder kann sich dazu in dieser Gesellschaft zurechtfinden. Es geht nicht darum, dass man da sitzt und auswendig lernt, sondern darum, was einer weiß. Also es ist egal, ob mit so einem Titel oder einem anderen er zurechtkommt, irgendwie durch das Leben kommt und zurechtkommt, allerdings mit diesem Papier würde ich vielleicht noch besser zurechtkommen, als ohne dieses Papier […] Aber dass es diese Ausbildung nicht gibt, kann man nicht machen.«

Trotz der fehlenden formellen Ausbildung erreicht Wojtek eine hohe berufliche Position. Man kann hier gar von einer »positiven« Statusinkonsistenz sprechen: Trotz fehlender formeller Ausbildung bzw. trotz extrem jungen Alters (damals 21 Jahre alt) übt Wojtek im transnationalen Kontext die Tätigkeit eines »Baumeisters« aus. Die für die herkömmliche berufliche Laufbahn erforderlichen Kriterien, wie ein entsprechender Abschluss oder jahrelange Erfahrung werden im transnationalen Kontext außer Kraft gesetzt. Als Autodidakt wird Wojtek zum Facharbeiter (Zimmermann): »Wir sind alle Autodidakten« – fasst Wojtek bezüglich der gesamten Gruppe zusammen. Hier spiegelt sich die allgemeine Tendenz wider, dass die ober-

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schlesischen Arbeitsmigranten in der Regel in anderen Berufen als in den erlernten arbeiten. Vom Arbeiter steigt dann Wojtek zum Vorarbeiter auf, wobei neben seinen Fertigkeiten und Ambitionen auch ein wenig Glück im Spiel ist, das er auszunutzen weiß: Weil der Meister Alkoholiker ist und Wojtek mit ihm in einem Wohncontainer wohnt und dem Meister sympathisch ist, lernt er seine Aufgaben kennen und übt sich in Planung, Karten erstellen usw. Dieses Wissen ermöglicht ihm später den Sprung vom Vorarbeiter zum Meister. Seit 1997 leitet er mehrere Baustellen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass im transnationalen Kontext für die berufliche Mobilität neben allgemeingültigen Faktoren wie Durchsetzungsfähigkeit und Findigkeit zusätzlich auch weiteres kulturelles Kapital gefragt ist, wie Sprachkenntnisse – hier sind es Polnisch bzw. Oberschlesisch, Deutsch und Serbokroatisch. Neben dem kulturellen ist das soziale Kapital entscheidend – dies zeigt sich etwa in der Situation, wo Wojtek noch am Anfang in seiner Meisterposition das fehlende notwendige kulturelle Kapital (deutsche Sprachkenntnisse) aus dem transnational verorteten sozialen Kapital zu schöpfen weiß: »Wir waren anfangs 30 Leute. Ich habe alleine angefangen und die ganze Zeit hatte ich die sprachliche Barriere, die Baupläne, Leute – es war kein Problem, das Problem war, dass ich der jüngste in der Kolonne war [S.1/25-27]. […] Mit diesen Sprachen war immer ein Problem. Und ich habe es so gelöst, dass ich hier einen Onkel habe, Bert, und er war auch vom Bau, aber konnte ebenso Erschließungen machen, mit der Zimmerei kannte er sich nicht so gut aus, aber er konnte super Deutsch. Und ich habe ihn engagiert, damit wir das zu zweit machen könnten. Er eher im Büro mit seinen Deutschkenntnissen und ich auf der Baustelle. Und so haben wir es zu zweit gemacht, wir hatten ca. 45 bis 50 Leute auf der Baustelle, und irgendwie funktionierte es.«

Die positive Statusinkonsistenz manifestiert sich außerdem in den großen Karrieresprüngen trotz seines jungen Alters: Mit 22 wird Wojtek Vorgesetzter seines Vaters, der eine vergleichbare Ausbildung und mehr berufliche Erfahrung als sein Sohn hat. »Und so ging es ganz gut. Auch interessant war es an dieser Baustelle, als der Chef mir einen Kolonnenführer mit einer Kolonne geschickt hat. Am Morgen um 7 Uhr, die Aufgabenverteilung, der Kolonnenführer mit der Kolonne kommt, und der Kolonnenführer war… mein Vater. Seit dieser Zeit arbeiten wir zusammen. Am ersten Tag war es sehr komisch, denn zu Hause – zwar wohnte ich damals nicht mehr zu Hause – ist der Vater eben ein Vater: Er entscheidet, wer was macht, und hier umgekehrt, so ein Typ – ich war damals 21, knapp 22. Ich habe ihm geboten, ich musste ihm sagen, was er zu tun hat. Es war sehr interessant. Und dann: Die erste Auseinandersetzung, die zweite Auseinandersetzung und seitdem sind wir Kumpel.«

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Aber diese Statusinkonsistenz war für Wojtek auch problematisch, sobald sich die soziale Hierarchie gleichermaßen aus der lokalen Gemeinde im Herkunftskontext und der Arbeitswelt im Zielkontext speiste: »Das war damals schon eine Katastrophe. An der Baustelle hat mich so einer korrigiert: ›Wir siezen uns hier nicht‹, aber ich habe immer zu meinen Mitarbeitern gesagt ›Herr soundso und Herr soundso‹. Ich konnte es nicht überwinden, gerade durch so einen Karol. Bei uns auf der Baustelle gibt es einen gewissen Karol Staszczak, er ist noch älter als mein Vater und sehr respektiert bei uns im Dorf. Das konnte ich nicht überwinden. Erst seit zwei Jahren duze ich ihn, ich konnte es irgendwie nicht überwinden, obwohl er mich mehrmals beschimpft hat.«

Eine hohe Position durch die »Klasse« macht die Einschränkungen des Alters wett, wobei dieser hohe gesellschaftliche Status sich hier aus dem transnationalen Kontext entwickelt. Wojtek hat nämlich eine zentrale Position innerhalb der transnational community inne: »Bei mir arbeitet die ganze Familie: Der Vater, Onkel, der Bruder der Mutter arbeitet bei mir, sein Sohn arbeitet bei mir seit einem Jahr. Der erste Cousin vom Vater, dieser andere Meister arbeitet auch bei mir. Alle meine Freunde arbeiten bei mir. Aus Twarog habe ich hier 80% der Leute.«

Wojteks berufliche Rolle in Deutschland überschneidet sich mit der Rolle als Nachbar im kleinen Ort in Polen; sie ist geprägt durch solidarische Beziehungen, basierend auf Hilfe und Verantwortung (vgl. Faist 1996: 16f.): »Als Subunternehmer will ich nicht agieren. Denn wenn das deutsche Unternehmen dem Jugoslawen nicht zahlen wird – dieses Generalunternehmen, dann wird er den Leuten nicht zahlen und sich davon nach Jugoslawien machen und wer wird den dann suchen? Aber ich lebe mit diesen Leuten zusammen. Noch vor drei Jahren hatten wir 170 Leute bei uns im Unternehmen, damals waren wir zu zweit: Stefan und ich. Man musste es alles managen: Büroarbeiten da, Personalarbeit hier und die Arbeiten an der Baustelle auch noch dazu. Also allmählich wird es für mich so ein Stress, dass ich langsam die Nase voll davon habe. Sogar Hamburg wollte ich nicht mehr übernehmen. Denn ich habe genug [Geld], um über die zwei, drei Wintermonate zu kommen, aber ich muss auch an diese Leute denken. Denn wenn sie keine Arbeit finden, dann kommen am nächsten Samstag, oder in zwei, drei Wochen nicht nur Männer sondern auch Frauen: ›Gib uns Arbeit, gib uns Arbeit, denn wir haben nichts zum Leben!‹ So ist es halt bei uns. Denn ich werde sie täuschen, täuschen und am Ende werde ich nicht bezahlen. Das können wir uns hier nicht erlauben, wir leben unter diesen Leuten. Ich habe nicht vor, nachdem ich vor drei, vier Jahren in dieses Haus eingezogen bin, bald hier wieder ausziehen zu müssen, weil die Leute mir die Fenster einschlagen. So geht es also nicht. Und solche gibt es ja viele, oft geht es jetzt so.«

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Auch aus der Perspektive der Herkunftsgemeinde zeigt sich der soziale Status Wojteks transnationalisiert. So erlangt er durch seine transnationalen ökonomischen und sozialen Ressourcen den Vorsitz im lokalen Verein der freiwilligen Feuerwehr27: »Gerade gestern war ich auf der Versammlung der Feuerwehr. Da haben sie gezählt: 26 Männer gab es früher und nur 3 sind geblieben, 23 sind weg. - Von der Freiwilligen Feuerwehr? - Ja, gestern war ich in der Versammlung. - Machen Sie da mit? - Sicher. - Haben Sie Zeit dafür? - Ich habe nie mitgemacht, aber schließlich doch. Sie haben mich immer gebeten für den Vorstand zu kandidieren: ›Komm, komm‹. Wenn ich erstmal im Vorstand bin, dann mache ich auch was. Im Moment habe ich keine Zeit. Aber in diesem Jahr möchte ich mir endlich alles so organisieren, dass ich ein wenig Zeit habe. - Und warum ist es Ihnen wichtig, bei der Feuerwehr dabei zu sein? - Man wird anders angesehen, wenn man irgendwo engagiert ist. Die Unternehmen [in Deutschland] haben etwa ein Boot gespendet. Immer wenn sie etwas brauchen, versuche ich bei meinen Chefs etwas zu erreichen, damit sie was kriegen. Einen Rasenmäher haben wir auch gespendet.«

Wojtek ist eine statusorientierte Persönlichkeit, was in dieser Aussage deutlich wird. Trotz seines jungen Alters kann er im lokalen transnationalen Kontext – durch konkrete finanzielle grenzüberschreitende Hilfen, aber wahrscheinlich auch durch seine hohe Position und Macht in der beruflichen Struktur unter den Arbeitsmigranten – Anerkennung und Prestige genießen, was sich u.a. darin äußert, dass man in Bezug auf den Vorsitz in der freiwilligen Feuerwehr (Statussymbol) um ihn wirbt. Und da sich Wojtek in seiner Statusorientierung mit seinen materiellen Statussymbolen (z.B. durch das große Haus) nicht von anderen Arbeitsmigranten abheben kann, greift er zu anderen Statusträgern, die einerseits genuin lokalen Charakter haben, andererseits aber durch transnationale Ressourcen wie Macht und Geld realisiert werden. Wojtek sieht aber auch eine solche ökonomische Abhängigkeit der Region von Geldüberweisungen aus dem Westen durchaus kritisch, weil sich diese auf die schwach ausgeprägte ökonomische Aktivität in der Region negativ auswirkt. Problematisch sind auch soziale Spannungen zwischen den Einwohnern, die im Zu-

27 Die »freiwillige Feuerwehr« ist eine der wenigen fest etablierten zivilgesellschaftlichen Institutionen bzw. Orte des öffentlichen Lebens in oberschlesischen Gemeinden.

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sammenhang mit der Arbeitsmigration entstanden sind. Da ist erstens der Neid der Nicht-Doppelbürger: »Und es ist sehr schwer. Ich habe ein paar Freunde, die keine Chance haben, dahin zu fahren, ich meine: Sie sind keine Doppelstaatsbürger, sie haben keine Chance, dahin zu fahren und dazu zu verdienen. Diese Leute haben keinen richtigen Lebensstart hier. Entweder sitzen sie hier mit Mutter und Vater, wenn Mutter und Vater Geld haben. Meistens sind es schon Rentner. Dann leben sie von diesen Rentnern, denn nur so können sie leben. Denn wenn der Mann zur Arbeit geht und 600 bis 700 Złoty verdient [ca. 150-170 Euro], dann hat er keine Chance, davon zu leben. Bei mir verdienen die Jungs soviel in einer Woche bzw. sogar mehr. Diese Menschen leben auch anders und gucken uns schief an, dass wir etwas haben; aber sie sehen nicht, was wir dafür bezahlen. Jede Woche 1000 km hin und zurück zu fahren ist nicht wenig.«

Zweitens sieht Wojtek die Veränderung der sozialen Relationen durch das materielle Konkurrenzdenken und sieht angesichts seines modernen Lebensstils die traditionelle oberschlesische, eher asketische, Handlungsorientierung kritisch, wonach jeder selbstgenügsam ist und etliche Arbeiten die im Haushalt anfallen selbst machen kann (z.B.: Fahrrad reparieren, Renovierungen durchführen usw.). Man sieht hier deutlich, wie Wojteks »modernes« Arbeitsleben (wenig Freizeit, arbeitsteilige Spezialisierung usw.) seine Werte- und Handlungsorientierung in Bezug auf Freizeit und wirtschaftliche Zusammenhänge verändert: »Denn wer wird hier überhaupt etwas kaufen? Ich bin Automechaniker bzw. -elektriker und fahre zur Werkstatt, um das Öl zu wechseln. Denn zum einen habe ich keine Zeit und zum zweiten habe ich keine Lust. Denn wenn ich es für zwanzig Złoty machen lassen kann, das ist vier, fünf, jetzt schon, sagen wir, schon sechs Euro, dann ist es eine halbe Stunde meiner Arbeit, also ich werde mich nicht abmühen in meiner Garage, sondern ich fahre dahin. Bei uns in Schlesien war es immer so, jeder machte es so, so…. jeder konnte sich selbst Sachen machen und jeder machte es so. Ich sagte immer: ›Jeder soll das machen, was er kann, der Elektriker soll die Elektrik machen, der Mechaniker das Auto und ich werde bauen.‹ Aber bei uns in Schlesien gibt es so was nicht. Bei uns ist es so, dass wenn ich jetzt eine Werkstatt aufmachen würde und ich wäre gut darin, dann würde keiner von hier herum zu mir kommen, denn mir würde es zu gut gehen. Sie fahren 100 km weiter zu einem anderen, Hauptsache nicht zu mir. So ist es bei uns – bei uns gibt es so einen Neid. - Hier in Oberschlesien oder…? Hier bei uns, im Oppelner Schlesien, unter diesen Leuten. Früher gab es so was nicht. - Durch diese Arbeit [im Ausland; wyjazdy] ? Durch diese Arbeit [im Ausland]. Bei uns gab es so was früher nicht, jeder hat dem anderen geholfen. Und jetzt gibt es großen Neid: ›Wo arbeitest du, wie viel Euro verdienst du mehr, uhhhh – jetzt spreche ich nicht mehr mit dir.‹ Das ist eine Katastrophe, was passiert. Es gibt

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solche Gruppen von Menschen, die mit uns zusammen halten, aber der Rest ist unfreundlich und früher gab es so was nicht. Das ist ja alles dadurch, es hat mehr Negatives als Positives gebracht.«

Die transnationalen Ressourcen haben ihren Geltungsbereich nicht nur im Herkunftskontext sondern auch im Ankunftskontext. Wojtek vertritt das positive kollektive Selbstbild der Schlesier in Abgrenzung zu den Deutschen als Alleskönner, schnell, flexibel, arbeitsam. Wojtek zeigt sich stolz über die Leistungsstärke seiner Gruppe bzw. Landsleute: »Denn uns mögen sie nur, wenn sie uns brauchen. Denn unser Bauleiter, so ein Möller, wir sagen immer: ›Möller, der Blödmann‹, aber er ist da, weil er Deutscher ist. Er sagte immer: ›Eure Stärke liegt darin, dass ihr flexibel seid, ihr arbeitet 12 Stunden durch. Ihr könnt euch immer der Situation anpassen. Und der Deutsche hat sein Gesetz.‹ Ich sagte Ihnen mal so: ›Ihr Deutsche seid so, ohne Gesetz schafft ihr es nicht mal, aufs Klo zu gehen‹. Denn so ist es, sie können es nicht. Unser Mann ist gelernter Bäcker und arbeitet auf der Baustelle. Er schweißt, er fährt eine Zugmaschine und einen Kran, er mauert, zimmert, er macht alles, was gemacht werden muss. Wir machen alles an der Baustelle. Jetzt wollen sie immer mehr Papiere haben, aber unsere Leute machen alles und der Deutsche nicht…. Der Deutsche, wenn er Zimmermann ist, dann kann er keinen Stein transportieren, denn er weiß nicht, wie er es anpacken soll. Deswegen sind wir da. Da bauen nur Schlesier. Polen bauen, Jugoslawen und immer weniger Türken gibt es inzwischen. Früher waren es auch Portugiesen. Wir haben ganz Deutschland gebaut. Ich habe mir mal mit meiner Frau in Berlin angeguckt, was wir schon alles gebaut haben, nur große Bauten […] ich habe das Bundespressecenter, Bundeskanzleramt gemacht, drei Monate lang, aber immerhin…«

Wojteks soziale Kontakte und Beziehungen sind grenzüberschreitend. Im beruflichen Leben hat er auf Grund seiner Position sowohl ethnische wie interethnische Kontakte. Seine privaten Bekanntschaften in Deutschland gewinnt er durch das Berufsleben und er greift auf sie auch hauptsächlich im beruflichen Leben wieder zurück. Denn ähnlich wie bei Mariola ist auch Wojteks Freizeit in Deutschland sehr eingeschränkt: »Aber so im Allgemeinen…. Was haben wir Gutes mitgebracht…? Das ist eine gute Frage…. Nichts Gutes haben wir mitgebracht. Das ist nichts. Was macht man da abends in Deutschland? [w rajchu] Am Abend nach der Arbeit setzt man sich hin und macht ein Bier auf und man sitzt so herum. Der eine hat einen Fernseher, der andere liest eine Zeitung, aber die meisten sitzen beim Bier. Das ist alles, was die Jungs machen. - Und Sie? Geburtstage organisieren wir uns… - Und Sie?

260 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN Und ich auch. Was habe ich? Die Leute arbeiten bis sechs Uhr, und wenn die Leute bis sechs Uhr arbeiten, betoniert noch eine Kolonne bis acht, halb zehn. Wenn die fertig sind, dann muss der Abdruck berechnet werden, das heißt der Rest dieses Betons, und ich muss wegen dem Beton telefonieren. Inzwischen gehe ich die Männer durch, auf der Arbeit will ich noch nicht Bier trinken. Also gehe ich ins Büro die Stunden zu zählen und den Plan für den nächsten Tag aufzustellen, denn um zehn vor sieben ist bei mir auf der Baustelle immer eine Versammlung, damit man um sieben pünktlich anfangen kann. Also muss ich es am Abend fertig haben. Dann gehe ich zur Baustelle, zähle den restlichen Beton. Da bleiben noch der Kranfahrer und fünf, sechs oder vier, fünf Leute. Ich rufe beim Betonwerk an: ›Soundso viel Beton‹, ›hört zu Männer, wenn was übrig bleibt, dann kippt es hier und hier aus.‹ Und dann gehe ich nach oben, ziehe mich um, wasche mich, trinke noch ein Bier im Büro. Dann gehe ich nach unten zu den Jungs, trinke noch ein Bier. Wir sprechen ein wenig und dann gehe ich schlafen, da ich um sechs aufstehen muss. Die Jungs stehen um halb oder zwanzig vor sieben auf. Ich muss früher aufstehen, da ich mich rasieren muss, da ich gut aussehen muss, an der Baustelle. Mich haben immer alle ausgelacht bzw. alle Meister, denn ein Mann an der Baustelle muss gebräunt sein, wenn du einen hellen Mann siehst, dann arbeitet er nicht auf der Baustelle, sondern im Büro. Wir als Meister auf der Baustelle bzw. Baumeister können nicht ohne Hemd herumlaufen, wir müssen uns gut präsentieren, wir müssen eine entsprechend saubere Hose haben. Manche tragen ihre Sachen sogar drei Wochen lang und die werden nicht gewaschen – von diesem Beton, wie soll man es waschen? Und wir müssen uns nach außen gut präsentieren, jeden Tag ein neues Hemd, rasiert, ja – gute Präsentation muss sein. Das ist der Unterschied zwischen den Leuten, die normal arbeiten und uns…«

Wie andere Arbeitsmigranten thematisiert auch Wojtek mehrmals die Trennung von der Familie. Zwar hat er von Beginn seiner transnationalen Karriere an regelmäßig gependelt. Als er noch »unten« in der beruflichen Hierarchie stand, hat er sogar Vorgesetzte geschmiert, damit er jedes Wochenende mit der »Elite« nach Hause durfte und nicht – wie die anderen jungen Arbeiter – nur jedes zweite Wochenende. Durch die alltägliche Trennung von der Familie habe er jedoch »die Kindheit seiner Tochter verpasst« – eine in ähnlicher Weise von den meisten interviewten Arbeitsmigranten berichtete Erfahrung. Scherzhaft stellt Wojtek fest, durch die Trennung von seiner Frau habe er nur ein Kind, für mehr sei keine Zeit da. Seine Frau habe sich mit diesem Leben arrangiert – »mal mehr, mal weniger«. Sie musste unter anderem alle »männlichen« Aufgaben selbst übernehmen, wie etwa Lampen aufhängen, Jauchegrube leeren. Beim Hausbau sei sie die »Bauleiterin« und Wojtek nur der »Bauherr« gewesen – bis heute kenne sie sich mit den Baumaterialien in Polen besser aus als Wojtek. Für andere männliche Arbeiten sei zusätzlich der Großvater zuständig: Wenn beispielsweise das Fahrrad der Tochter defekt sei, gehe sie direkt zum Opa, und nicht

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zum Vater, der auch am Wochenende beschäftigt und »genervt« sei.28 Eine solche Arbeitsteilung innerhalb der Großfamilie muss nicht spezifisch durch die Migration bedingt sein, wird aber sicherlich durch die Abwesenheit der Familienmitglieder verstärkt. Das private Leben in Deutschland ist, wie oben geschildert, relativ eingeschränkt. Jedoch lassen sich auch hier einige Praktiken feststellen, die über das Berufliche hinausgehen und auch einen transnationalen Charakter haben. So gehört zu den recht bescheidenen Freizeitpraktiken der Medienkonsum. Wojtek liest täglich die »Bild«. Es sei »praktisch«, denn sie koste nur 50 Cent und man könne sie holen, wenn man Brötchen kaufen gehe. Wojtek kauft auch polnische Zeitschriften und bringt sie mit. Ein Internetzugang sei auf der Baustelle zu teuer. In Polen sehe er hauptsächlich Sportberichte und polnische Sender. Eine Ausnahme sei der regionale Fernsehsender RBB Berlin: Wojtek schaue ihn gerne, denn er fühle sich mit Berlin, als einzigem Ort in Deutschland, verbunden. Wojtek regt sich oft darüber auf, wie einseitig Polen in den deutschen Medien dargestellt werde. Zur Kirche geht Wojtek in Deutschland nicht; er würde wahrscheinlich auch nicht gehen, wenn er an den Wochenenden in Deutschland wäre, denn er empfindet die deutsche Kirche als »Zirkus« – eine von vielen Arbeitsmigranten verwendete Bezeichnung. »Unsere Kirche und die Kirche da, das sind zwei verschiedene Sachen. Da bin ich durch eine Seitentür rein gekommen und ich wusste gar nicht, wo ich knien sollte. Man konnte den Altar gar nicht ordentlich sehen, gar nicht. So eine Zirkus-Kirche.«

Bezüglich seiner deutschen Staatsangehörigkeit musste Wojtek selbst nichts unternehmen – sein Vater hatte das für ihn übernommen. Wojtek selbst hat sie aber wiederum für seine Tochter beantragt: »Es ist nun mal so bei uns hier. Wenn uns mal jemand hier rausschmeißen wollen [sic], dann wird er immer eine Möglichkeit finden. Warum nicht, wenn man die Möglichkeit hat… Warum nicht, meine Frau hat sie auch… Deshalb. Es kann also mal so mal so kommen. Als wir etwa nach Ägypten gefahren sind, brauchte ich kein Visum, sie mit ihrem polnischen Pass schon.«

28 Das war während des Interviews selbst zu beobachten: Wojtek hatte zwar gerade eine kurze Winterpause (das Interview fand im Januar statt), trotzdem wurde das Interview mehrmals durch Telefonanrufe und Besuche unterbrochen, die beruflichen Charakter hatten.

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Es sind also vorwiegend pragmatische Gründe, wie etwa bessere Einreisebestimmungen für deutsche Bürger. Aber die in dieser Aussage angedeutete historische Perspektive entfaltet sich auf Grund der Interviewfrage nach der erwünschten Zukunft der Tochter – Wojtek möchte, wie die meisten Migranten, dass seine Tochter »hier« lebt, dafür hat er das Haus gebaut. Die symbolische Bedeutung der Geschichte findet sich aber auch bei Wojtek, in seinen politischen Vorstellungen über Polen und Deutschland und die doppelte Staatsangehörigkeit: »Wer weiß, wie es mit Polen kommen wird. Ich sage immer, wie Bismarck mal gesagt hat: ›Gegen Polen braucht man keinen Krieg zu führen, die muss man sich nur selbst regieren lassen, die erledigen sich selbst‹. Und so ist es leider bei uns, die Polen konnten nicht regieren, können nicht regieren und werden nie regieren können. Sie lassen sich nichts sagen. Das ist dieser nationale Stolz, dieses liberum veto29, was es ja früher mal gab. Ich weiß nicht, wie lange es noch so gehen wird, angeblich ist alles in Ordnung – im Fernsehen, aber die Schulden wachsen. Es kann mal so kommen wie in Argentinien, dass die Schulden unser Volkseinkommen übersteigen, unser gesamtes Budget, es kann so oder so kommen, man weiß nicht, was aus diesem Land wird. Die Geschichte zeigt, dass dieses Polen nie lange bestanden hat. Jetzt wird uns keiner auf einem Pferd oder wie früher 1939 einnehmen, denn so was gibt es nicht mehr, jetzt macht man alles finanziell. Hier werden sie was nehmen, da was nehmen. Und da ist es doch mehr stabil. Auch bei all diesen Veränderungen, die es da gibt, ob die SPD regierte oder die CDU, es ist doch mehr stabil da als hier. Ich würde nicht gerne von hier wegfahren, aber ich bin vorsichtig, denn man weiß nicht, was kommen wird. Es ist besser, wenn sie diese Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit hat. Das schadet keinem im Moment. Bereits durch ihren Familiennamen, ob sie den behält oder weglässt, wird hier jeder ›Goebbels‹ zu ihr sagen, wenn sie Schneider heißt, das ist ganz einfach, dann soll sie es besser auch haben. Wenn sie sie schon beleidigen wollen, dann gibt es wenigstens etwas, wofür [es sich lohnt, die Beleidigungen zu ertragen, EPM].«

Auf die Frage nach seiner Teilnahme an Wahlen sagt Wojtek dennoch, dass er »hier« (in Polen) zur Wahl gehe, »da« (in Deutschland) jedoch nicht – mit der Begründung »Das sind nicht meine Wahlen«: »Nein. Einfach – was bringen mir diese Wahlen denn? Nichts! Ich werde da nicht leben, ich gehe da zu Wahlen, wo ich lebe […]. Wenn es mir da nicht mehr gefällt, wenn Frau Angela

29 Der Begriff liberum veto bezieht sich auf die Geschichte Polens des 17./18. Jahrhunderts, als in dem aus Adeligen bestehenden Parlament das Einstimmigkeitsprinzip herrschte und ein einzelner Abgeordneter so eine Entscheidung blockieren konnte. In der historischen Bewertung wird dieses Prinzip für die anarchischen Zustände, die Rückständigkeit und schließlich die Teilungen Polens mitverantwortlich gemacht.

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anfängt, zu beleidigen und sagt: ›Schneider ist kein Deutscher mehr, hau’ hier ab‹, dann werde ich eben hier sein. Da will ich sowieso nicht bleiben. Also mich interessiert, was die SPD macht, die CDU, CSU und die anderen, wie sie alle heißen… Mich interessiert die Politik im Allgemeinen… - Ja, und warum interessiert es Sie, wenn Sie doch sagen ›Ich wohne da nicht, es hat keine Bedeutung für mich‹. Interessiert es Sie ›einfach so‹? Ich interessiere mich ganz allgemein für Politik, denn man weiß dann Bescheid, wie es ungefähr zugeht, man kann selbst seine Schlüsse ziehen. Man hat immer gesagt, als Kohl da war, da war es für die Schlesier gut. Als dieser Hanswurst Schröder kam, dann wurde alles durcheinander gebracht und jetzt weiß man gar nicht mehr, wie es für uns sein wird. Und davon hängt es ab, wie es für uns da sein wird. Denn die einen wollen uns da, die anderen nicht; die einen wollen uns mehr, die anderen weniger. Damit man weiß, wie man sich einrichten soll. Es ist genauso, wie es in Polen im Moment mit der Politik aussieht.«

Diese Passage sagt viel über Wojteks politische Haltung aus: Zum einen verdeutlicht sie, dass seine emotionale Bindung an den Herkunftskontext stärker ist als die an den Ankunftskontext: Er geht in Deutschland nicht wählen, weil er dort »nicht lebt« – implizit bringt er damit zum Ausdruck, dass Deutschland nur »zum Arbeiten« sei, nicht »zum Leben«. Dieser klaren Aufteilung entsprechen auch seine politischen Interessen: An der deutschen Politik ist Wojtek nur insofern interessiert, als sie sein eigenes Leben zu betreffen scheint; dabei ist er davon überzeugt, dass die Konservativen in Deutschland (CDU/CSU) traditionell die Interessen der Deutschstämmigen im Osten vertreten. Schwer zu entscheiden ist freilich, inwieweit seine Sympathie für die konservative Seite des deutschen Parteienspektrums darauf zurückzuführen ist, dass er sie als die zuverlässigere Vertreterin der Interessen der eigenen Bezugsgruppe wahrnimmt, oder ob sie eher durch eine konservativ-katholische, »antikommunistische« Grundhaltung bedingt ist – die in Oberschlesien ebenso wie in anderen Teilen Polens anzutreffen ist, auch wenn sie hier weniger als anderswo mit »anti-deutschen« Stereotypen korrespondiert. Interessant ist auch, dass die eigene politische Zugehörigkeit als sehr »fragil« gedacht wird: Es ist nicht eindeutig zu erschließen, ob dieser Haltung eine reale Einschätzung der heutigen deutschen politischen Tendenzen oder Ausdruck des historischen kollektiven Wissens ist, dem Skepsis gegenüber nationalen Ordnungen und deren dauerhaften Gültigkeit zugrunde liegt. Auf letztere würde die allgemeine Argumentationsweise Wojteks hinweisen, die oft an historische Figuren anknüpft. Der emotionale Lebensschwerpunkt liegt für Wojtek in Oberschlesien. Die Begründung dafür lässt sich mit bestimmten Urteilen, Werten und Vorstellungen erklären, die sich zu einer kollektiven mentalen Karte verdichten lassen, auf der eine Grenze zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« (im Sinne Tönnies’) verläuft. Auf diesen Aspekt kommen wir im letzten Teil dieses Kapitels noch detaillierter zu

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sprechen; er ist aber für das Verständnis der sozialen Einbettung unabdingbar, daher soll bereits an dieser Stelle illustriert werden, wie der Herkunftskontext als »Gemeinschaft« dem Ankunftskontext als »Gesellschaft« gegenübergestellt wird: »...Mir gefällt die Atmosphäre nicht, die da ist, mir gefällt das Leben in der Stadt nicht. Das ist einer der Aspekte… Hier gehe ich raus, das gehört mir und ich mache was ich will […] Hier gehe ich Schneeschaufeln und treffe den Nachbarn – ›Hallo‹ – ›Hallo‹. ›Komm einen trinken‹, oder ›komm eine rauchen, wir reden ein wenig‹ und da kommt schon der nächste. Man kennt alle in der Umgebung und alle kennen einen. Man ist jemand in diesem Umfeld. Und da… es ist alles irgendwie künstlich, ich weiß nicht...«

Auch Wojteks Distanz zur Multikulturalität schließt sich dem Argumentationsmuster Gemeinschaft vs. Gesellschaft an. Dabei wird in diesem Zusammenhang der oft verwendete Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen: »Einmal, als ich zehn war, in Dortmund habe ich nämlich so eine Tante, von der wir dieses Haus hier gekauft haben, nicht, dieses Familienhaus, da war ich nur ein mal, damals war Deutschland noch schön und sauber, alles war anders. Und jetzt ist alles…. […] Deutschland ist nicht mehr Deutschland, da in Deutschland muss man kein Deutsch sprechen können, genauso in Österreich. […] Genauso in Deutschland, jede zweite Kneipe, das ist ein Türke oder Jugoslawe. Jeder zweite auf der Baustelle ist ein Russe oder ein Jugoslawe, also Deutsch ist allmählich nicht mehr nötig da in Deutschland. In Deutschland muss man Türkisch können. - Nervt Sie das? Ja, es nervt mich.«

Ein Stück »Zuhause« hat Wojtek jedoch auch in Deutschland gefunden, und zwar in Berlin: »… denn Berlin ist für mich so, wie eine einzige Stadt. Wenn ich jemals auswandern und da bleiben würde, wenn schon… dann wäre es Berlin. Immerhin habe ich da neun Jahre verbracht, Berlin ist doch so… vertraut.«

Die Geschichte und viele Alltagssituationen »machen« aus Wojtek einen Oberschlesier, der sich deutlich von Polen und Deutschen abgrenzt: »- Ich habe noch eine Frage, die nach der Nationalität, sie haben in diesem Interview schon davon gesprochen… Schlesier. - Schlesier. Wenn man Sie fragen würde, ob diese Kategorie »Nationalität« für Sie Bedeutung hat? Sie hat Bedeutung.

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- Sie hat Bedeutung und sie bezeichnen sich als Schlesier. Und was bedeutet es für Sie, dass Sie ein Schlesier sind? Dass ich weder bei den Polen, noch bei den Deutschen bin. Denn die Deutschen haben uns schon mal in den Arsch getreten, wie man sagen könnte, und die Polen auch. Die Polen haben meinen Großvater für zwei Monate inhaftiert, da er sich seinen Namen in ›Szymczak‹ oder so was umändern sollte, aber er wollte ›Schneider‹ mit ›ei‹ heißen. Und er hatte nur Glück, dass er ein Typ mit Geld war, und er wurde nicht umgeschrieben. Denn die meisten wurden umgeschrieben. […] Ich meine, die Polen haben uns immer beleidigt, und sie werden uns immer beleidigen. Es gibt zwar diese Symbiose, sagen wir, dass wir hier zusammen leben. Nicht, dass ich Nationalist wäre, dass ich irgendetwas gegen irgendjemanden hätte, sogar gegen Juden habe ich nicht viel [sic]. Und genauso ist es mit den Deutschen: Was hat uns der Deutsche gegeben? Der Deutsche wird uns auch nicht helfen, beim Deutschen werden wir immer Polen sein, wir werden immer die Polen sein, immer, denn wir sind hier in Polen geboren, nicht aus unserer Schuld. Und für den Polen werden wir immer die fünfte Kolonne sein, Volksdeutsche, die sich so von hinten an sie heranschleichen und sie nehmen und was weiß ich was sie ihnen noch antun werden. So ist das, so ist das, und das kann man spüren, sowohl da als auch hier. Deshalb ist das wichtig… für mich wäre es am besten, wenn Schlesien separat wäre. Eine Partei gründen und Schlesien separat haben. Obwohl es jetzt nicht möglich ist, diese ganze Globalisierung, alles zusammen. So eine Möglichkeit besteht nicht, aber es wäre schon gut, es wäre gut, wenn Schlesien separat wäre.«

Der Fall Wojtek repräsentiert vielmehr eine transnationale soziale Praxis als der erste Fall Mariola. Mehrere Indikatoren deuten darauf hin, dass Wojtek ein Transmigrant ist: sein Pendeln, seine grenzüberschreitende Kommunikation mit der Familie, seine sozialen Beziehungen in Polen und in Deutschland, seine gleichzeitige soziale Positionierung im polnischen und deutschen Kontext, sein plurilokaler Medienkonsum, sein Wissen über beide Gesellschaften. Vom Einzelfall zum zweiten Typus intersektioneller Strukturierung Im zweiten Schritt soll – wie oben – das Exemplarische des Falls Wojtek vor dem Hintergrund der Varianzen in anderen Fällen illustriert werden. Generation Wojtek steht erstens exemplarisch für die »zweite Generation« der oberschlesischen Arbeitsmigranten im familiären Sinn (vgl. Karl Mannheim 1928). Die Arbeitsmigration wird hier von der Elterngeneration an die Kindergeneration weiter gegeben. Wojteks Vater arbeitete vor 1989 »schwarz« in Deutschland und begann in den 90er Jahren zeitgleich mit seinem Sohn die regelmäßige Arbeitsmigration. Der Vorbildcharakter der Elterngeneration ist genauso bedeutend wie die aktive Förderung der Arbeit im Westen durch die Eltern. So kann sich Wojtek noch heute daran erinnern, dass die Familie mit dem vom Vater verdienten Geld Kohle für den gan-

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zen Winter kaufen konnte. Über die Unterstützung der Eltern für die Migration des Sohnes erfahren wir in diesem Fall nichts. Diese Haltung der Eltern gegenüber der Arbeitsmigration der Kinder ist im Allgemeinen in der gesamten Auswahl unterschiedlich. Die Eltern wünschen sich generell, dass die Kinder nicht – wie sie – zur Arbeit in den Westen gehen müssen. Sie investieren daher in ihre Ausbildung, damit sie bessere Chancen auf dem polnischen Arbeitsmarkt haben. Einige blockieren die Arbeitsmigration der Kinder, wie z.B. Heinrich, der seinem Sohn erst dann einen studentischen Job in den Niederlanden erlaubt hat, als der die Hälfte seines Studiums hinter sich hatte. Viele allerdings helfen ihren Kindern aktiv bei dem ersten Schritt, indem sie sie z.B. mitnehmen (vgl. der Fall Mariola). Wie das Beispiel eines Migranten-Ehepaars aus der Stichprobe zeigt, prägt die Erwerbsmigration sowohl die materielle Aspirationen der Kinder wie auch die Erwerbsnormen. Das älteste ihrer vier Kinder arbeitet inzwischen vollerwerblich in den Niederlanden, das zweite in den Ferien während seines Studiums: »Jakubs Ehefrau: Ich sage es so, ich habe mit den Kindern gesprochen, so ehrlich, und sie träumen alle davon, ins Ausland zu gehen. Nicht für immer, aber um etwas finanziell zu erreichen […] Für mich wäre es ideal, wenn sie nach dem Studium hier Arbeit aufnehmen könnten. Aber keiner dieser jungen Menschen, zumindest unsere Kinder nicht, wird für 800 Złoty arbeiten, nach dem Studium, nicht? Sie wollen 1500 und mehr. […]. Jakub: Ich bin nicht so zu 100% für diese Arbeit im Ausland [wyjazdy]. Für die Arbeit im Ausland ja – sie können ja ins Ausland, damit sie was verdienen, aber sie sollen das Leben der Reihe nach nehmen, damit sie wissen, dass das Brot da, in Holland ist, dass man da verdienen muss, damit man etwas hierhin bringen kann, um einen Monat zu überleben, oder zwei und dann wieder fahren muss. Damit es dieses stabile Leben gibt, für sie und für uns alle, denn wenn es diese Stabilität in Polen nicht mehr gibt, dann – keine Chance. Keine Chance, die Jugend hier im Land halten zu können.« (Hervorhebung EPM)

Eine ganz andere, kritischere Haltung gegenüber der temporären Migration vertritt z.B. Paweł, ein 50-jähriger Vater dreier Töchter, von denen zwei erwachsen sind. Für ihn habe die Migration in familiärer Hinsicht zu viele Kosten gebracht. Er hat noch vor 1989 mit der Pendelmigration begonnen und ist bis 1997 gependelt. Danach war er aus gesundheitlichen Gründen in Deutschland arbeitsunfähig und ist daher nach Polen zurückgekehrt. Paweł ist grundsätzlich gegen die Pendelmigration und meint, man solle sich entweder für das Leben dort oder hier entscheiden. Konsequenterweise hat er daher nicht die deutsche Staatsangehörigkeit für seine Töchter beantragt. Und trotzdem leben auch seine beiden Töchter in typischen Migrantenhaushalten: Der Ehemann der mittleren Tochter arbeitet seit sechs Jahren – wie so oft schon seit seinem Schulabschluss – über ein polnisches Unternehmen in Deutschland. Die Eheleute

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haben ein Kind, die Frau ist zum zweiten Mal schwanger. Sie bauen zurzeit ein Haus und haben sich gerade ein neues Auto gekauft. Der Mann der ältesten Tochter hat bis vor kurzem in einem Nachbardorf gearbeitet: In seinem Beruf als Kfz-Lackierer, bis zu 15 Stunden am Tag, oft auch bis ein oder zwei Uhr nachts, für 1000 Złoty (ca. 250 Euro) – unter ständigem Druck und in einer von Respektlosigkeit geprägten Arbeitsatmosphäre, wie die Tochter später in einem informellen Gespräch erzählte. Seit zwei Monaten arbeitet er nun mit seinem Schwager in Deutschland – in der Regel bis 16 Uhr und mit höherem Einkommen. Er habe inzwischen zugenommen, habe morgens keine stressbedingten Magenschmerzen mehr wie zuvor, betont seine Frau. Beide Schwiegersöhne kommen alle vier bis sechs Wochen nach Hause. Und obwohl Paweł aus eigener Erfahrung die Trennung der Familie durch temporäre Migration nicht befürwortet, mische er sich bei seinen Kindern nicht ein. Das skizzierte Beispiel zeigt erstens, dass der Alltag in einem Migrantenhaushalt »erlernt« werden kann – so verbringen die Schwestern den Alltag zusammen und unterstützen sich gegenseitig – und zweitens, dass ein Arbeitsplatz an Ort und Stelle prekärer sein kann als einer im Ausland. An diesem Punkt soll jedoch wieder auf die Frage der Generation eingegangen werden. Das Fallbeispiel Wojtek steht auch im historischen Sinn für die zweite Generation: Seine Generation wurde bereits in die Transformationsperiode hineingeboren – soziale Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, aber auch die Wohlstandsversprechungen des Kapitalismus sind für diese Generation eine Selbstverständlichkeit. Situation und Orientierung der oberschlesischen »zweiten Generation« decken sich in etwa mit denen der gesamtpolnischen »Generation 1200« – ein Label mit dem im polnischen öffentlichen Diskurs die Arbeitsmarktsituation von jungen, gut ausgebildeten Polen in Anlehnung an den Roman »Generation 1000 Euro« von Antonio Incorvaia und Alessandro Rimassa (2007) die Arbeitsmarktsituation von jungen, gut ausgebildeten Polen gekennzeichnet wird: Sie sind arbeitslos oder verdienen 1200 Złoty (umgerechnet ca. 300 Euro, die Hälfte des Durchschnittsgehaltes), sind aktiv und mobil – ein Großteil von ihnen stellt die Emigrationswelle nach Großbritannien bzw. Irland nach Polens Beitritt zur EU im Jahr 2004 dar (vgl. Staszewski 2006). Im Gegensatz zur polnischen »Generation 1200« versuchen die jungen Schlesier der »zweiten« Generation nicht einmal, von diesen 1200 Złoty in Polen zu leben – seit ihrer Kindheit erlernten sie die Arbeitsmigration als Norm von ihren Eltern und ihrem Umfeld; sie setzen sie bereits seit den 1990er Jahren »massenhaft« ein, und nicht erst wie andere junge Polen erst seit 2004 (Polens Beitritt zur EU) ein. Peer pressure und die Weitergabe der Arbeitsmigration als Lebens- und Erwerbsnorm an die folgende Generation sind entscheidende Momente, die diese Generation ausmachen. Der Umgang mit dem Thema Auswanderung ist bei dieser Generation weniger biographisch geprägt, ist vielmehr eine potentielle Alternative oder eine Folge der

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Beobachtung der Emigranten. Wie Wojtek es zugespitzt formuliert: Sein Jahrgang gehöre schlicht nicht mehr zur »Auswanderergeneration«. Trotzdem finden sich auch in dieser Generation Auswanderer – wie aus dem sozialen Umfeld vieler Interviewpartner erkennbar ist. Entsprechend wird auch in der zweiten Generation die befristete Migration als eine Kompromisslösung zwischen Auswandern und Bleiben verstanden. Auch das historische Gedächtnis ist bei der zweiten Generation deutlich schwächer ausgeprägt als bei der Elterngeneration – Wojtek ist hier eher eine Ausnahme. Jedoch sind die Erinnerungen an die Geschichte der Familie und der Region auch hier lebendig, was die historische These des Transnationalismus auch für diese Generation geltend macht. Auf der anderen Seite wächst diese Generation praktisch in eine pluralistische Gesellschaft hinein. Die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rechte als deutsche Minderheit wurden durch die Eltern erkämpft und gefeiert aber für die junge Generation ist die Organisation eher ein historisches Relikt. Die Selbstverständlichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit, der internationalen Mobilität, der grenzüberschreitenden Lebensplanung und mehrfacher Identitäten charakterisiert die Haltung dieser Generation. Lebenszyklus Wojtek repräsentiert andere Phasen im Lebenszyklus als Mariola. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Wojtek 31, seine Migrationsgeschichte reicht elf Jahre zurück. Mit 19 Jahren erwartet Wojtek ein Kind. Er heiratet, wird Vater und »muss zusehen, wovon die Familie leben soll«. Wie bei einigen anderen Interviewpartnern implizieren Heirat und Familiengründung, eine institutionelle biographische Prozessstruktur (Schütze: 1981), den Einstieg in die Arbeitsmigration. Wojtek kündigt seine Arbeitsstelle in einem Großbetrieb, in dem er nur einige Monate gearbeitet hat und fährt zur Arbeit in den Westen. Er ist Haupternährer und will seiner Familie »einen guten Start ins Leben« schaffen – er verfolgte in dieser Lebensphase die typische Migrationsstrategie eines »Einsteigers« (siehe den ersten Teil dieses Kapitels). Die vollerwerbliche Arbeitsmigration ist unter jungen männlichen Migranten mit familiären Verpflichtungen weit verbreitet. Eine andere Migrationsstrategie, die in der Stichprobe von einem anderen jungen Vater – Krystian (ebenfalls 31) – repräsentiert wird, ist die nebenerwerbliche Erwerbsmigration, neben einem beruflichen Schwerpunkt in Polen. Wie an Migrationsstrategien im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt, ist die nebenerwerbliche Erwerbsstrategie am meisten erwünscht. Doch gerade in dieser frühen Phase des Le-

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benszyklus scheint die Vollerwerblichkeit die dominante Erwerbsstrategie zu sein.30 Zum einen liegt es am jungen Alter der Migranten, die viele Hürden des nomadischen Lebens auf sich nehmen können (wie etwa im Fall von Jan im ersten Teil dieses Kapitels), zum zweiten an dem Lebenszyklus einer Familie – die familiäre Konstellation wird hier durch den Lebenszyklus und die geschlechtlichen Rollen in der Familie bestimmt: Der Haushalt will sich einen Wohlstand aufbauen, und während die Kinder noch klein sind, übernimmt die Ehefrau in der Regel ohnehin die reproduktive Arbeit, unabhängig davon, ob der Mann in Polen oder im Ausland arbeitet. Gerade dieses »Rückenstärken« durch die Ehefrauen scheint die Entscheidung zur vollerwerblichen Erwerbsstrategie einfacher zu machen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Wojtek in einer Lebensphase, in der er bereits eine gewisse materielle Stabilität aufgebaut und einige Jahre Berufserfahrung hinter sich hat. Nach einer langen Phase, die einerseits mit anstrengendem Pendelns, andererseits aber mit einer guten beruflichen Position in Deutschland verbunden war, hält er sich seine Erwerbspläne nun offen. Mit 31 Jahren ist er noch nicht »zwangsweise eingependelt«, wie die älteren Migranten aus der Migrationsstrategie der »Dauerpendler«, aber seine Rückkehrpläne sind nicht so stark determiniert wie die der »Einsteiger« – seine Integration auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist sehr gut, ein Neustart in Polen wäre hingegen nicht so einfach, wie es vielen Einsteigern scheint – das jedenfalls konnte Wojtek in zwei Anläufen persönlich erfahren. Von seiner Lebensphase her gesehen – im Sinne des Alters, der beruflichen Laufbahn und der familiären Situation – kann er sich die Berufsoptionen nach beiden Seiten offen halten. Familiäre Konstellation und Geschlecht Das Geschlecht prägt das Migrationshandeln Wojteks mindestens auf zwei Ebenen. Zum einen arbeitet er in einem geschlechtsspezifischen Arbeitsmarksegment, das Mitte der 90er Jahre noch ein enormes Beschäftigungspotential für osteuropäische Männer hatte, was an der erfolgreichen Entwicklung von Wojteks Berufskarriere deutlich wurde. Zum anderen bestimmt das Geschlecht seine Performance als Vater und als Ehemann: Während die Tochter klein ist, setzt sich Wojtek durch, um in ein- anstatt zwei-wöchentlichen Intervallen nach Polen pendeln zu können. Wenn seine Schwiegereltern, bei denen die junge Familie zu diesem Zeitpunkt noch lebt, Erntezeit haben, kommt er in den Sommermonaten zurück nach Polen, um als »männliche« Kraft bei der Ernte auszuhelfen.

30 Diese Erwerbsorientierung der Väter von kleinen Kindern bestätigen auch die quantitativen Untersuchungen (vgl. Forschungsstand) und andere Studien zur Migrationsforschung, z.B. Triandafyllidou (2006: 228).

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Möglich sind diese regulären Pendelintervalle durch die spezifische Organisationsform des Arbeitsmarktsegmentes, in dem Wojtek arbeitet (vgl. Teil 1 dieses Kapitels) Da das transnationale Leben der Männer hier hochgradig organisiert ist, was unter anderem Folge der Verbreitung der transnationalen Erwerbsmigration in der Region ist, kann sich Wojtek auf eine flexible Transportinfrastruktur und organisation verlassen. Anders als Mariola, die nur auf öffentliche Transportmittel zurückgreifen kann, was entsprechend den Aufwand und Kosten steigert. Ob ein Mann oder eine Frau migriert, ist zudem für den Herkunftskontext von entscheidender Bedeutung. Wie im Fall Mariolas bereits geschildert, wird die männliche vollerwerbliche Migrationsstrategie nur dadurch ermöglicht, dass die Ehefrau dem Migranten im reproduktiven Lebensbereich »den Rücken stärkt«. Diese traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf das Migrationshandeln beider Geschlechter wurden bereits anhand des Falls von Mariola aus der weiblichen Perspektive beleuchtet. Mit dem Beispiel von Wojtek wird die Situation eines männlichen Haupternährers mit einer zurückbleibenden, nicht erwerbstätigen Ehefrau illustriert. Wie oben bereits geschildert, übernimmt die Frau hier viele typisch männliche Aufgaben. Darüber hinaus unterstützen auch andere Familienmitglieder die Frau im Alltag, wie in diesem Fall ihre Eltern. Die Abwesenheit des Mannes wird immer wieder zum Thema der Gespräche zwischen den Ehepartnern – die Auseinandersetzung über Arbeitsmigration ist bei den meisten Interviewpartner ein Thema und zeigt die verschieden Modi der Entscheidungsfindung in der Familie – von einseitigen bis zu (mehrheitlichen) gemeinsamen Entscheidungen, die allerdings im Falle der temporären Migration leichter zu ändern sind als im Falle der Emigration. Dieses wurde besonders deutlich im Fall von Paweł, der 1988 gegen den Willen seiner Frau emigrierte; anders als bei Migranten nach der Wende hatte eine solche Migrationsentscheidung damals wesentlich häufiger einen endgültigen Charakter als heute. Bei der Betrachtung der transnationalen geschlechtlichen Beziehungen stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Konsequenzen für die physischen Aspekte einer Beziehung. Scherzhaft stellt etwa Wojtek fest, dass die alltägliche Trennung der Grund dafür sei, warum er nur eine Tochter hat – »zu mehr sei er nicht gekommen«. Die Umstände der Enthaltsamkeit werden nur von wenigen Migranten direkt thematisiert, wahrscheinlich, weil es sich um ein intimes Thema handelt.31 Der konservative Sigmund z.B. argumentiert in diesem Zusammenhang mit moralischen Figuren, deutet aber auf die Schwierigkeit des Umstands hin: »Na und später, durch dieses ständige Fahren [jeĪdĪenie], es hängt auch davon ab, wer, wie verantwortungsbewusst er ist, weil oft auch… in diesem Fall leidet die Ehe, denn viele junge

31 Die Frage nach dem Sexualleben wurde daher auch nicht direkt gestellt.

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Leute haben geheiratet, es stellt sich heraus, dass die Frau hier mit dem Kind sitzt, der Typ fährt verdienen [jedzie zarabiaü] und jetzt hängt es davon ab, wie die persönliche Verantwortung von beiden ist. Die einen halten das besser aus, andere schlechter, es ist so, oft ist es so, dass bei diesen Fahrten [przy tych wyjazdach] auch informelle Beziehungen anfangen, ob dort oder sogar hier, denn es ist auch so, dass manche Frauen, die hier geblieben sind, nicht immer mit dem Problem zurechtkommen und dann anfangen, na ja, zu wildern, weil die Hormone auch irgendwie arbeiten, na und so ist das, später führt das auch zum… zum Zerbrechen von Ehen. Besonders für Leute, die psychisch vielleicht ein kleines bisschen schwächer sind, diese Belastungen nicht aushalten können, oder für Unverantwortliche. [Pause] Ob sie sich nun nicht bewusst sind, oder wie, welche Folgen das mit sich bringt, na, sie bringen sich in die verschiedensten Schwierigkeiten. Na und später gibt es, so hört man manchmal, entstehen auch informelle Beziehungen, ob von Männern oder Frauen und das führt zu Problemen.«

Für Hartmut ist es eine »starke Reife«, die sich zwischen ihm und seiner Frau mit der Zeit entwickelt habe, eine neu erlernte Art des Umgangs mit dem Problem: »Ich sage es so: Es ist nie so, wenn zwei Pflanzen nebeneinander wachsen… Es ist ja immer so, dass sie nebeneinander wachsen, denn die Zeit, die vergangen ist, diese Zeit kann man nicht zurückdrehen. Und aus der Perspektive der Jahre, so mancher Moment, der ein unscheinbarer Moment war, ein Moment, der eigentlich nichts Neues brachte, jetzt, aus der Perspektive dieser Jahre, denkt der Mensch, dieser Moment hätte doch länger dauern können, er hätte anders genutzt werden können. - Und könnten Sie ein Beispiel nennen? Wissen Sie, also ein Beispiel, das möchte ich hier nicht nennen. Ich möchte nur das sagen, etwa aus der Perspektive des Vaters, der Junge wuchs, gut, dass er einen Opa hatte, eine Oma und die Ehefrau. Es gab solche Phasen im Leben, dass wir uns nur einmal in einer bestimmten Zeit gesehen haben, einmal im Quartal. Ich weiß noch, als er mal zu mir geflogen ist und dann sagte er zu mir – inzwischen habe ich mir einen Bart wachsen lassen, mein Gesicht hat sich auch verändert, und er sagt nach dieser langen Abwesenheit: ›Onkel, wir sind zum Papa gekommen.‹ Ich weiß, er sagte es nicht, ja…sondern auf einmal stand jemand vor ihm, den er drei Monate lang nicht gesehen hat, und dieser eine stellte sich vor ihm, und keiner sagte ihm, dass es eben dein Vater ist. Ja, es sind eben die Momente, die man nicht vergessen kann. Aber auch in diesem Leben… der Frau und des Mannes, das kann man nicht nachholen. Denn die Zeit vergeht und so oder so die Physiologie wirkt… uns schreitet fort. Ja, das war meine nächste, so eine Fragensammlung über das Familienleben eben. Irgendwelche Konflikte, Entscheidungen? Dann sage ich Ihnen, man arbeitet sich ein System heraus, dieses System nenne ich ›starke Reife‹ und zwar deshalb, weil wir uns sogar am Telefon streiten können, und jetzt auch. Also trotz dieser Entfernung sind wir uns nah.«

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An diesem Zitat wird deutlich, dass es sich für Hartmut um ein zu intimes Thema handelt, als dass er offen darüber sprechen könnte; so weicht er zuerst auf die Verluste in der Beziehung zu seinem Sohn aus. Auch für Krzysztof ist die physische Trennung schließlich ein Problem für die sexuellen Bedürfnisse. Als einziger Interviewter stellt Krzysztof in diesem Zusammenhang die Option der Prostitution dar, wobei unklar bleibt, in wieweit Krzysztof tatsächlich auf sexuelle Dienstleistungen zurückgegriffen hat32: »Geld ist wichtig, aber nicht am wichtigsten. Gesundheit, Familie sind wichtiger für mich, aber so lange es so ist, wie es ist... meine Frau akzeptiert es momentan, andere interessieren mich momentan nicht, denn in diesem Alter würde sich eine Jüngere nicht mehr für mich interessieren [lacht]. Und in ein schönes Lokal zu gehen, da muss man zahlen, das interessiert mich auch nicht, 100 Euro wollen sie für eine Stunde… ja also… und zehn Tage ist für mich Zeit, dass es mich nicht stört, um da zu sein. Ich komme zurück nach Hause, wir lieben uns ein wenig […] Ja, das Leben. Das ist ein Zigeunerleben, denn es ist hier und da. Das Zuhause ist hier und da. Da muss man ganze Woche leben, hierhin kommt man nur für zwei Tage nach Hause, so dass für nichts Zeit da ist, mit allem muss man sich… ja. Für längere Zeit… einen Monat lang und… es bewegte mich schon da. Als ich es einen Monat lang ohne Heimfahrt aushalten sollte, dann hat mich schon in der Hose alles gestört [lacht]. Also es bringt nicht viel. Ich habe meistens Arbeit hier in der Nähe gesucht, aber diese Arbeiten hier nah waren irgendwann zu Ende.«

Insbesondere in Bezug auf die Beziehungen zu den (kleinen) Kindern thematisieren alle befragten männlichen Migranten die permanente Trennung von der Familie als das größte Problem der Arbeitsmigration. Die emotionalen Kosten der familiären Trennung gelten also nicht nur für weibliche Migrantinnen. Die Rolle als transnationaler Vater/Mutter prägt das Pendelverhalten nach Polen: Die Schilderungen Pawełs z.B. machen deutlich, inwieweit die Rollen des Vaters und Ehemanns motivieren, die Strapazen des nomadischen Lebens durchzuhalten. Diese emotionalen Aspekte tragen dazu bei zu erklären, warum sich die Arbeitsmigranten entscheiden bis zu 2000 km in einer Woche zurückzulegen. Paweł überwindet alle Hürden (Entfernung, Wetter, Arbeitgeber, Müdigkeit), um mit seiner Familie zusammen zu sein, um seinen Kindern Geschenke zu bringen, ihre Freude zu sehen. Diese Handlungsorientierung als Vater/Ehemann ist eine wichtige Komponente des Selbstbil-

32 In der Regel konnten die Interviews in getrennten Räumen durchgeführt werden. Im Falle Krzysztofs jedoch blieb die Tür zu der Küche, in der sich seine Frau mit einer Bekannten befand, offen, so dass gerade bei so einer intimen Frage der Einfluss des Interviewsettings zusätzlich berücksichtigt werden muss.

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des– aus heutiger Perspektive kommt eindeutig Stolz in Bezug auf die damalige Haltung dazu: »Wir sind immer zusammen mit Michał nach Polen gefahren. Dann [hieß es manchmal] schon Mittwoch, wenn schlechtes Wetter angesagt war, Glätte, Schnee – wir fahren nicht! Wir fahren nicht, denn vielleicht kommen wir nicht an, nicht wahr. Aber wenn der Mittwoch da war, da hatten wir schon die Pakete für Kinder gekauft. Wir waren schon bereit zum Fahren, wir waren schon entschlossen zu fahren. Und so hat man die Jahre verbracht. Als wir das mal zusammengerechnet haben – wir haben drei Monate im Jahr im Auto verbracht. Aber man hat alles überlebt. Also es war sehr schwer. In der gesamten Geschichte meiner Migration, meines Reisens, haben wir 1.200.000 Kilometer gemacht. Jeden Freitag bzw. Donnerstag nach Hause […] Der Chef kam manchmal: ›bleib, bleib, es ist Arbeit da‹. Ich sagte: ›Chef, ich habe Familie in Polen, ich fahre nach Polen. Und es gab keine Diskussion. Ich habe Familie in Polen und ich fahre weg. Am Montag, habe ich gesagt, da arbeite ich wieder länger und die ganze Woche lang hole ich es nach. Und keine Chance, er konnte mich nicht aufhalten und damit basta. Die ganze Zeit Arbeit, Arbeit und Arbeit. So sind wir manchmal gekommen, an der Grenze waren Schlangen, fünf Kilometer lang. Also wenn wir um [unverständlich] Uhr losgefahren sind, wir kamen um vier, fünf Uhr morgens an. So viele Stunden ist man gefahren, und trotzdem hat man nicht nachgegeben, zur Familie musste man einfach fahren. So war das alles…. Es war ein sehr schweres Brot.«

Regelmäßige Heimfahrten (powroty) zur Familie als Ritual, als Sinnstiftung für Strapazen, erscheinen in den aufgeschichteten Erinnerungen als zentrale Ereignisse dieser Lebensphase. Die Heimfahrten erst verleihen dem Arbeiten und Leben in Berlin sowie der Vaterrolle ihren subjektiven Sinn. Alle Väter in der Stichprobe bezeichnen die Trennung von ihren (vor allem kleinen) Kindern als »verlorene Zeit« – so z.B. Paweł: »Es ist schwer, denn als ich anfing zu fahren, waren die Kinder so [zeigt] und jetzt sind sie alle größer als ich.« Häufig schildern die Befragten das »Weinen der Kinder am Telefon« und Szenen, wie sie vor der Abfahrt der Väter weinen und sich verstecken; diese Schilderungen sind es meist, die die rückblickend die kritische Bewertung der Arbeitsmigration hinsichtlich des Familienlebens begleiten. Das Pendeln und – seltener, aber auch – Besuche der Familie in Deutschland sind eine wichtige Strategie zur Aufrechterhaltung enger familiärer Beziehungen. Wie Sigmund formuliert: »Obwohl wir, die wir in so einem zweiwöchentlichen System fahren, das ist auch ermüdend, sei es psychisch, oder allein die Fahrten an sich, das ist, das ist schon ermüdend. Zehn Stunden eine Richtung, dazu kommt der Faktor, dass die Straßen nicht immer die besten sind, na, das macht die Fahrtzeit entsprechend länger. Na, aber… Es ist doch nicht ganz so schlecht, denn dieser häufige Kontakt mit der Familie, da ist doch immer viel zu tun, denn wenn die Kinder für längere Zeit ohne eine Unterstützung zurückgelassen werden, oder sogar ohne all-

274 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN gemeine Betreuung, wirkt sich das später negativ auf die Familie aus, denn hier und da sehe ich doch, dass es solche Situationen gibt und das muss wohl so […] aussehen, der Vater kommt nur, um das Geld zu bringen, und eigentlich ist er zuhause überflüssig. Ich habe ein paar Freunde, die in so einem System gefahren sind, und dadurch wurde die Familie, oder auch das Band zwischen ihnen, stark belastet. Außerdem bemühe ich mich, so zu fahren, dass ich so schnell wie möglich zuhause bin. Nicht immer will der Vertragspartner, sagen wir der auf der deutschen Seite, nicht immer will er das verstehen, na, sie denken, dass man immer abrufbereit sein müsste, oder dass die Leute immer abrufbereit sein müssten.«

In dieser Aussage kommt der pädagogische Aspekt der Vater-Kind-Beziehung zum Ausdruck, den auch der folgende Befragte – Bogdan – auch als geschlechtsspezifische männliche Erziehung auffasst. So wird suggeriert, die zurückbleibenden Frauen seien in ihrer Elternrolle überfordert, denn es fehle das »männliche Element«: »Na ja, es ist anders, denn diese Kinder… wie soll man es sagen… sie spüren doch mehr Respekt vor dem Vater, nicht. Meine Frau ist schon so lange ohne Unterbrechung mit ihnen, sie ist sehr überempfindlich in diesem Punkt, nicht, wenn ich länger weg bin, dann sagt sie: »Wenn etwas passiert, dann wirst du mir Vorwürfe machen« Und ich sage: »Nein, das ist doch klar, dass es Jungs sind, junge Männer so langsam, aber sie müssen auch selbst mehr Freiheit haben, selbstständig sein, nicht?«

Die Situation kann in der Tat so weit eskalieren, dass der Vater die Kinder in den Westen mitnimmt, wie bei Antoni (65) der Fall: Nachdem der 13-jährige Sohn bei einem Diebstahl festgenommen wurde, entschieden sich die Eltern, dass der Vater ihn nach Österreich mitnimmt, wo er später eine Ausbildung absolviert hat und heute selbstständig ist. Freilich ist dies ein Extrembeispiel und keine gängige Lösung erzieherischer Probleme. In einem anderen extremen Fall, über den ein Interview mit einer zurückgebliebenen Mutter durchgeführt wurde, gibt diese ihren jugendlichen Sohn in einer Erziehungseinrichtung ab. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass man durchaus auch im Falle der männlichen transnationalen Migration von care drain sprechen sollte – auch wenn dieser nicht in dem Maße relevant ist wie beim Wegfall der Betreuungsarbeit durch die Migration von Frauen. Dieser Aspekt wird aber weder in der Literatur noch in öffentlichen Diskursen explizit thematisiert (vgl. Lutz/Palenga-Möllenbeck 2011). Für die vollständige Analyse des transnationalen Familienlebens müsste die Sicht aller Familienmitglieder berücksichtigt werden – dies war allerdings nicht Teil unserer Fragestellung. Eine der wenigen interviewten zurückbleibenden Ehefrauen berichtet wie folgt über das Familienleben in einem Migrantenhaushalt: Für die Kinder sei die Trennung vom Vater ein »emotionales Schaukeln« gewesen. Der

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Vater sei nach Hause gekommen, um sich zu erholen, und die Kinder hätten ihn regelrecht gestört.33 So enttäuschte der Ehemann die Erwartungen seiner Frau, dass er seinen Verpflichtungen als Ehemann und Vater nachkommen würde. Zwar hätte sie gut verstehen können, dass er sich von der schweren Arbeit erholen musste – aber letztendlich hätte sie »diese Karre allein zu ziehen« gehabt. Eine solche mentale Abwesenheit trotz physischer Anwesenheit beobachtet die Informantin besonders bei denjenigen Migranten in ihrem sozialen Umfeld, die selten nach Hause kommen, nicht jedoch bei regelmäßigen Pendlern – auch ihr Familienleben habe sich positiv entwickelt, nachdem der Ehemann nicht mehr nur alle drei Monate, sondern alle drei Wochen zurückkam. Von Situationen der Entfremdung zwischen den Ehepartnern im Alltag berichtet auch ein anderer Experte – ein Geistlicher, der auch als Lehrer an einer Schule arbeitet und im Rahmen seiner Magisterarbeit ebenfalls selbst Migrantenfamilien interviewt hatte. Seinen Erfahrungen nach stören sich die Ehepartner während der »Besuche« des Vaters gegenseitig in ihrem Alltag– die Ehefrau freut sich beispielsweise, wenn nach seiner Abfahrt wieder Ordnung im Haus herrscht – er freut sich, wenn er die Kinder nicht erziehen muss. Auch die Interviewpartner hier berichten »zwischen den Zeilen« von den Schwierigkeiten des Alltags nach der Rückkehr, – wie etwa Ludwig in Bezug auf seine Beziehungen zu den Kindern und seine »vorsichtige« und sehr bewusst reflektierte Vaterrolle: »Samstags oder sonntags, man muss dann damit ein wenig vorsichtig sein, ich kann nicht nach Hause kommen und [sagen] ›rühr’ das nicht an, rühr’ dies nicht an‹, denn dann wäre ich zu Hause mehr ein Tyrann als ein Vater.«

An dieser Aussage ist zu erkennen, dass Ludwig den traditionell männlichen, autoritären Erziehungsstil an die Erfordernisse der transnationalen Vaterschaft anpasst, in der die Beziehung und Kommunikation mit Kindern durch häufige Abwesenheit ohnehin belastet ist (vgl. Parreñas 2008). Sigmund schildert einen typischen Tagesablauf während eines Besuches zu Hause, der vergleichbar mit der Situation der migrierenden Mütter ist, die auch während der Besuche zu Hause die aufgelaufenen, »weiblich« konnotierten Haushaltsarbeiten nachholen müssen: »Wenn man fährt [jeĪeli jeĪdĪac], kommt man nach Hause… alle zwei Wochen, für drei, vier Tage, na, und darum hat man keine Zeit, sich an irgendwelchen Arbeiten zu beteiligen, oder an Treffen teilzunehmen, na weil… es gibt andere Beschäftigungen im Haus, die unbedingt

33 Dieses Phänomen bestätigt eine Untersuchung über die Auswirkung der Arbeitsmigration auf das Eheleben (vgl. Wojaczek 2007: 146).

276 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN gemacht werden müssen, es gibt Sachen, die sich ansammeln, und wenn man nicht da ist, geht alles mit Vorliebe kaputt. Normalerweise ist es so, solange man zuhause ist, funktioniert alles, kaum ist man zur Tür heraus, geht dies oder das kaputt. Und diese Sachen sammeln sich an, sammeln sich an, für die paar Tage, an denen man zuhause hereinschaut, wartet immer schon so ein Berg Sachen, die getan werden müssen, na… Sachen, die keinen Aufschub dulden.«

Auch wenn sich Sigmund hier durchaus in ein positives Licht rückt, wird deutlich, dass Konflikte im Alltag eines Arbeitsmigranten auf »Heimaturlaub« vorprogrammiert sind. Zu den wichtigsten Praktiken des transnationalen Familienlebens gehört neben dem regelmäßigen Pendeln die grenzüberschreitende Kommunikation. Alle Interviewpartner telefonieren regelmäßig nach Hause – in der Regel über Mobiltelefone, da aufgrund der mobilen Lebensweise nur wenige über Festnetzanschlüsse verfügen. Hinzu kommt die Bedeutung von Textnachrichten; sie werden vor allem wegen der niedrigen Kosten für die Pflege eines regelmäßigen Kontakts im Alltag genutzt. »Ja, den Kontakt habe ich praktisch laufend, denn die Kinder… schicken mir täglich irgendwelche SMS darüber, was man macht, wohin sie fahren, was sie machen, ich habe laufend Informationen, was ist passiert, wenn im Dorf irgendwas passiert ist, habe ich laufend Informationen aus dem Dorf oder aus der Umgebung, vor kurzem z.B., als diese Kirche in Czarnowłasy niedergebrannt ist, da hatte ich doch auch schon nach ein paar Stunden die Information, dass etwas passiert ist, das etwas los ist. Also… und ich bemühe mich auch anzurufen, insofern es möglich ist, zwar muss ich vom Handy aus anrufen, das ist dann auch teuer, aber es gibt solche Möglichkeiten, call center, die man in Anspruch nehmen kann. In den Wohnungen gibt es in der Regel kein Festnetztelefon.« (Sigmund)

Bogdan (46), der seit 1991 in Deutschland arbeitet, vergleicht die Intensität der transnationalen Bindungen mit der zurückbleibenden Familie durch Pendeln und Kommunikation von heute mit der Situation Anfang der 90er Jahre: »Jetzt ist es bequem. Tagtäglich diese SMS, und das ist nicht so teuer, man kann anrufen und sich erkundigen, nicht, etwas schreiben, klar – es ist immer was los, nicht. Früher, es waren Monate ohne Lebenszeichen, [ohne dass man wusste,] was zu Hause los ist«.

Bogdan sieht sich dank der modernen Transportmittel im Vergleich zu seinen Urgroßeltern, die ebenso im Wochentakt zwischen dem Wohn- und Arbeitsort pendelten, im Vorteil:

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»Nein… manchmal sagt er [Priester] uns in der Predigt, »diejenige, die zur Arbeit ins Ausland gehen dies, jenes …« aber… gibt es eine andere Wahl? Unsere Urgroßväter sind doch auch schon zur Arbeit weg gegangen, etwa zur Zeche, da waren sie auch die ganze Woche weg, in der Woche waren sie weg und am Wochenende kamen sie zurück, wie die Oma erzählt, haben die Opas es auch so gemacht Jahre davor, nicht, und jetzt ist es wieder so gekommen […] Er ist für eine Woche weggegangen, er hat – sagt sie – drei Tage hat er gearbeitet und zwei Tage war er vor Ort, da hatten auch nicht alle Arbeit, waren also zufrieden, dass sie überhaupt Arbeit haben, sie kamen auch nur über das Wochenende zurück nach Hause, nicht? Und jetzt ist es bequem, denn es gibt Autos, nicht? Es ist schneller… Autos, Busse – es gibt alles, nicht… die Busse fahren sogar regelmäßig, täglich kann man nach Hause fahren, wenn etwas Unerwartetes passiert, nicht?«

An dieser Aussage wird auch deutlich, wie Bogdan seine eigene Arbeitsmigration in ihrer historischen Kontinuität für die ganze Region und ihre oberschlesischen Familien deutet. Vor diesem Hintergrund nehmen viele Menschen Migration als »Zwang« wahr – so spricht Bogdan hier davon, »keine andere Wahl« zu haben – einen Zwang, dem weder Bogdans Urgroßväter, noch er selbst und seine eigene Kinder hätten entkommen können. Auf diese beiden zentralen Denkfiguren bezüglich der Arbeitmigration im kollektiven Bewusstsein der Interviewpartner wird im dritten Teil dieses Kapitels noch näher eingegangen. Schließlich ist es nicht nur Bogdan, der regelmäßig nach Polen pendelt sondern es kommen inzwischen auch die Familienmitglieder zu Bogdan nach Deutschland – die Kinder in den Ferien und die Ehefrau dazwischen. Wenn die Kinder in nächster Zukunft aus dem Haus sein werden, wollen die Ehepartner den Nachzug der Ehefrau organisieren – zumindest für längere Abstände und bis Bogdan das Rentenalter erreicht. Für die transnationalen Bindungen zwischen den Generationen spielt sowohl bei Vätern als auch Müttern die »kommodifizierte Elternschaft« eine wichtige Rolle: »die Kompensation der physischen Abwesenheit der Mutter [bzw. Vater] durch den Transfer materieller Güter, die in physische Versorgung und Ausbildung der Kinder investiert werden« (Lutz 2007a: 151). Die von Parreñas (2005) und Lutz (2007) am Beispiel philippinischer bzw. polnischer transnationaler Mütter beschriebene »kommodofizierte Elternschaft«, die primär zur Kompensation der Abwesenheit dient, findet sich auch in den Schilderungen der hier befragten Migranten, wie etwa hier bei Bogdan: »Ja, die Kinder waren klein, die Tochter war sieben oder acht Jahre alt, sie war die älteste, also es war ganz anders, weil diese Kinder waren bei der Mutter, sie gingen in den Kindergarten – klar, das fehlte ihnen: Warum ist Papa weg? Der andere Papa ist hier und unserer ist weg? Da sagte meine Frau zu mir, es wäre besser, wenn ich zurückkäme, wenn der Papa zurückkommt, dann bringt er Geschenke, Süßigkeiten, nicht wahr. Man hat Sachen mitgebracht,

278 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN nicht… man hat immer Geschenke gekauft… wenn man zurückkam, damit diese Kinder irgendwie abgegolten (belohnt) wurden für diese Zeit. Ich habe immer gesagt, was ich nicht hatte, sollen meine Kinder haben, nicht wahr. Ja…. - Ist das für Sie so ein Ziel, das, was Sie nicht hatten, sollten Ihre Kinder haben? Ja, irgendwelche… mit irgendetwas will ich es abgelten, nicht? - Dass Sie weg waren, ja? Ja, dass ich weg war. - Wie gelten Sie es jetzt ab? Früher mit den Süßigkeiten… Jetzt bringt man weniger Süßigkeiten, das lohnt sich nicht mehr, jetzt kann man die Süßigkeiten besser hier kaufen. Jetzt [lacht] jetzt gilt man nicht ab, denn wofür, höchstens – sie kriegen Taschengeld jedes Mal, wenn ich zurückkomme.«

Aus der folgenden Erzählung von Anna, Mutter eines 17-Jährigen Teenagers, erfahren wir von ihrem Sohn, der quasi einen neuen Computer gegen die Anwesenheit der Mutter »tauscht«, aber zugleich Verständnis für die existenzielle Notwendigkeit der Migration der Mutter hat und die Sonderwünsche zurückstellen kann – zumindest nach den Worten der Mutter. Die Literatur über zurückbleibende Migrantenkinder geht davon aus, dass insbesondere Kinder aus der Arbeiterklasse (anders als solche aus der Mittelklasse) Verständnis dafür haben und eher akzeptieren, dass Eltern für die materielle Versorgung der Familie abwesend sein müssen (Zentgraf/Chinchilla 2012). »- Aber er [der 17-jährige Sohn] akzeptiert es? Eigentlich schon. - Er versteht die Situation? Er freut sich sehr, denn er träumt von einem Computer. Denn er hat keinen Computer und alle haben einen. Er träumt sehr davon und ich sagte, dass, wenn ich viel verdiene, kaufe ich ihm einen Computer. Aber wenn ich wenig verdiene, dann muss er warten, bis ich das nächste Mal fahre [do nastĊpnego wyjazdu]. […] Also [sagt er]: ›Mama, bleib ruhig länger da, ich komme hier schon zurecht, ich werd’ auch in der Schule lernen.‹ Damit ich ihm den Computer kaufe… Und jeden Tag eine SMS ist schon obligatorisch. Denn wenn ich nichts schreibe, kriege ich drei, vier Signale, warum ich nicht antworte. Hier ist alles okay, habe ich ihm gesagt, ich texte jeden zweiten Tag – habe ich ihm gesagt, denn es kostet ja, nicht? Und er war einverstanden, dass ich sparen soll, damit es den Computer gibt. Und ich sage: ›Warten wir mal ab, ob es [Arbeits-] Stunden gibt, denn wenn es keine gibt, dann gibt es auch keinen Computer‹, sage ich. ›Dann wirst du warten müssen‹, sage ich. Aber er versteht das, es ist okay, zuerst die Zentralheizung und dann der Computer, nicht wahr? Er hat Verständnis, dieser Junge, anders kann ich es nicht sagen, er weiß, dass es manchmal so eine Situation gibt, denn es war schon öfter so, früher, er war klein und er weiß, wie es ist. Also, es ist kein Problem, nein.«

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Migrationshandeln der Interviewpartner wesentlich von Lebenszyklus, Geschlecht und familiärer Konstellation bestimmt wird. Auf der Makroebene sind bereits bestimmte Arbeitsmarktsegmente geschlechtsspezifisch, d.h. sie ziehen männliche bzw. weibliche Migranten an. Auch die Organisation der Arbeit – etwa Pendelmigration, saisonale Migration, Rotation – korreliert mit den Bedürfnissen der Frauen und Männer, Rentner, Nebenberufler oder Haupternährer. Die familiären Konstellationen sind ebenfalls wichtige Erklärungsfaktoren für den Migrationsprozess. Die Migration eines oder beider Partner kann die zwischengeschlechtlichen Beziehungen und Hierarchien nachhaltig verändern oder verfestigen – die Folge kann eine materielle oder emotionale Emanzipierung, Konservierung oder Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse sein. Dazu kommen hohe soziale Kosten, die in der Regel auf beiden Seiten durch die Trennung entstehen. Das bezieht sich auch auf die Beziehung zu den Kindern. In nur zwei Fällen in der Stichprobe waren weibliche Migranten die Haupternährer. Aber auch in diesen Fällen bestätigte sich die Beobachtung von Helma Lutz über eine Krise der männlichen Identität bei zurückbleibenden Männern, die oftmals zu Alkoholproblemen und schlichter Überforderung im Familienalltag führen (Lutz 2007a: 167). Klasse Die hohe Positionierung Wojteks auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Gefüge lässt sich analytisch mit der Kategorie der Klasse erfassen. Wie im ersten Schritt ausführlich dargestellt, verfügt Wojtek über Kapitalien, durch die er eine sozioökonomische Mobilität erfahren konnte: Er genießt einen hohen Status in der Herkunftsgemeinde und besetzt als »Baumeister« einen hohen Rang in der beruflichen Hierarchie – und dies gerade aufgrund seiner transnationalen Ressourcen, nicht aufgrund formeller Voraussetzungen (Bildungstitel), die typischerweise nur in einem nationalen container space anerkannt werden. Sein ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital hat Wojtek maßgeblich im transnationalen Raum akkumuliert, und gerade hier profitiert er davon – im Gegensatz etwa zu Mariola, die durch ihre relativ spät einsetzende Migrationsgeschichte, ihre familiären Verpflichtungen und ihre familiäre Konstellation (ihr Mann ist ebenfalls Arbeitsmigrant) ihren eindeutigen Lebensmittelpunkt in Polen hat und über ein eher schwaches transnationales Kapital verfügt. Wojtek hingegen baut seine sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen in Deutschland kontinuierlich aus. Seine gute Kapitalausstattung im transnationalen Raum ist nicht zuletzt bedingt durch seine Zugehörigkeit zur zweiten Generation – und deren selbstverständlichen Umgang mit einem transnationalen Erwerbslebens – sowie seine geschlechtlich und durch familiäre Konstellation geprägte Rolle als Haupternährer.

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Da Wojtek sein gesamtes Erwerbsleben transnational gestaltet hat, kann man nur spekulieren, wie er sich in einem einzelnen (deutschen oder polnischen) nationalen Kontext sozial und beruflich positionieren würde. Dies steht für Wojtek – wenn es nach ihm geht – auch nicht zur Debatte. Sollte er nämlich weiterhin in Deutschland arbeiten, wird er ein transnationales Leben führen; sollte er seinen beruflichen Schwerpunkt dagegen in Polen setzen, will er seinen transnationalen »Trumpf« ebenfalls weiter nutzen. Dieses Bewusstsein über transnationales Kapital manifestiert sich in Wojteks Migrationsstrategie als »Flexibler«: Seine Ressourcen in Deutschland und in Polen erlauben es ihm, seine Zukunft tatsächlich offen zu planen (»wie sie sich ergeben wird«). Ethnizität und Staatsangehörigkeit Die Positionierung Wojteks aufgrund der Nationalität ist grundsätzlich identisch wie bei Mariola, da gerade die deutsch-polnische Staatsangehörigkeit ein strukturelles Merkmal der Untersuchungsgruppe war. Die Nationalität als politisches Kapital gilt also für beide Fälle in gleicher Art und Weise: Wojtek verfügt neben der polnischen auch über die deutsche Staatsangehörigkeit, wobei er diese nicht selbst beantragt hatte – er beantragt jedoch die deutsche Staatsangehörigkeit für seine Familienmitglieder aus pragmatischen Gründen (Reiseerleichterungen) und als Absicherung (siehe oben). Den »ethnischen« Vorteil der oberschlesischen Migranten – den relativ problemlosen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit – sieht Wojtek in ihrer »Variabilität« in Zeit und Raum. Denn wie viele Interviewpartner antizipiert er die Konkurrenz mit Polen ohne deutschen Pass seit der EU-Osterweiterung: »Und jetzt, wenn es zu Ende geht, und es wird zu Ende gehen – früher oder später. Denn entweder wird es sich für uns nicht lohnen. Denn wenn jetzt diese ganze Sezession, Rezession kommt, dass wir – Polen ist schließlich der EU beigetreten und man wird da arbeiten können, denn schon jetzt gibt es so einen Trick, dass ein Pole mit polnischen Papieren schon arbeiten kann – im Osten, in Berlin ist es noch nicht möglich, aber im Westen: Westfalen, Baden… hier gibt es schon diese Möglichkeit […] Also wir sind auf diesem deutschen oder österreichischen Markt so langsam nicht mehr konkurrenzfähig und das wird zu Ende gehen, in zwei, drei Jahren ist es vorbei für uns, wir werden da nicht mehr arbeiten, aus unserer Gruppe werden bleiben – wenn wir jetzt 70 Leute sind, werden wir 10 bleiben. Es werden diejenigen bleiben, die die Sprache kennen, diejenigen, die da oben Beziehungen haben, die werden bleiben. Und der Rest wird gehen, sie werden hierhin zurückkommen und hier wird eine große Arbeitslosigkeit sein.«

Die Verschlechterung der Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt bedeutet jedoch auch, dass deutschsprachige schlesische Arbeitsmigranten in den beiden anderen deutschsprachigen Ländern Arbeit suchen, der oberschlesische Migrationsraum sich also um Österreich und die Schweiz erweitert:

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»Viele Leute pendeln nach Österreich, der Lohn ist niedriger als in so einer Leihfirma, aber die Arbeit ist sicherer. Früher haben Leute darauf geachtet, dass sie schnell verdienen, am liebsten jede Woche den Lohn ausgezahlt bekommen und schnell einen Haufen Geld verdienen, kein Kindergeld, kein Steuerausgleich – nichts dieser Art. Jetzt achten immer mehr Leute darauf, dieses Kindergeld zu haben, Papiere zu haben – damit es zu der Rente zählt. Viele, viele dieser Leute haben es begriffen und sehen, dass man es so in längerer Perspektive nicht durchziehen kann. Das sind alles Leute, die hier in Deutschland schon 10, 12, 15 Jahre arbeiten und weiter da sitzen.«

Ebenso verschafft seine ethnische Herkunft Wojtek einen ökonomischen Vorteil auf dem deutschen Arbeitsmarkt – denn nur durch seine grenzüberschreitende Lebensweise und die Kombination von Erwerbstätigkeit in Deutschland und Konsum in Polen ist die Arbeit im Bausektor noch finanziell attraktiv. Die polnische Herkunft bedeutet aber auch Nachteile für die Arbeitsmigranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt – etwa hinsichtlich der Bildungsabschlüsse, die im jeweils anderen nationalen System nicht anerkannt werden. Wie am Fall Wojteks deutlich wurde, muss dies unter bestimmten Umständen zwar nicht zur Dequalifizierung führen; doch auch in seinem Fall könnte das »polnische« Ausbildungszeugnis, je nach Bewerbungssituation, in Zukunft von Nachteil sein, wenn er sich auf dem Arbeitsmarkt des deutschen »Nationalcontainers« bewirbt. Neben dieser eindeutig strukturellen Positionierung der Migranten durch Kategorien Ethnizität/Nationalität in der politischen (Staatsangehörigkeit) und geographischen Dimension (Leben in zwei Nationalstaaten) gibt es die Ebene der symbolischen Repräsentationen – hier wird die Ethnizität in Zuschreibungen in Alltagsinteraktionen und Diskursen symbolisch konstruiert. Zwar wird dieser Bereich im letzten, dritten Teil dieses Kapitels ausführlicher besprochen; allerdings hat die Trennung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten einen analytischen Zweck und liegt in der empirischen Wirklichkeit so nicht vor. Deshalb werden wir, ähnlich wie im Fall Mariolas, auch hier auf die diskursive Ebene der Ethnizität eingehen. Die Ethnizität wird im Alltag von Wojtek (Deutschland und Polen) sowohl positiv wie auch negativ konstruiert. Wojtek thematisiert (wie auch andere Migranten) stärker negative ethnische (Hetero-) Stereotype; die positiven Inhalte werden eher in Selbstbildern (Autostereotypen) produziert, dazu ausführlich im dritten Teil. Die negativen Diskurse finden sich in mehreren Interviews wieder. An Wojteks Fall und anderen Fällen zeigt sich, wie sich diese Diskurse auf Alltagsinteraktionen der Migranten auswirken – so etwa das Problem,

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dass man für die jeweilige Mehrheitsgesellschaft jeweils ein Pole bzw. ein Deutscher »ist«34: »In diesem zweiten Unternehmen ist so ein Deutscher der Geschäftsführer. Wir waren ja Freunde, aber in letzter Zeit klappt es irgendwie nicht mehr. In der Regel gefallen die Schlesier nicht mehr- Warum? Es gibt solche Situationen, wenn an der Baustelle etwas verloren geht, dann haben wir es geklaut. Diesel geht verloren, weil sie da was dazu getan haben, schon heißt es, wir hätten ihn geklaut. Wir stehen unter Generalverdacht. Und so ist es: An der Grenze, wenn du hierhin kommst, früher war es so, jetzt nicht mehr so, aber immer noch. Für Deutsche sind wir Polen. Und für Polen sind wir die fünfte Kolonne, also wir sind nirgendwo. Es wäre besser, das ist meine Meinung, es wäre besser, wenn dieses Schlesien separat von Deutschland und von Polen wäre. Ich fühle mich, ich fühle mich nicht als Pole, ich fühle mich als Schlesier. Und das ist die Antwort auf die Frage, warum ich hier nicht auswandern würde. Denn dort wollen sie mich nicht und hier wird mich auch kein Pole respektieren, niemals. Wenn ich hier Kalinowski heißen würde, dann könnte ich Direktor einer Bank sein, aber wenn ich Schneider heiße, dann werde ich kein Bankdirektor. Wenn mein Name englisch oder französisch klingen würde, wäre es was anderes. Aber deutsch, nein – da würde schon was nicht stimmen. Also uns wollen sie weder hier noch da.«

Auffällig in dieser Aussage ist, dass Wojtek sich als Schlesier aufgrund der durch die jeweilige Mehrheitsgesellschaft zugeschriebenen ethnischen Stereotype in einer Zwischenposition sieht: Nicht nur die ethnischen Diskriminierungen in Deutschland, sondern auch die in Polen bilden hierfür den Hintergrund. Der Verdacht des Diebstahls ist für die Interviewpartner eine ständige Erfahrung: Einer der Interviewten berichtet sogar von einem Test auf Diebstahl, dem er und seine oberschlesischen Kollegen unterzogen wurden. Dass solche ethnischen Zuschreibungen nicht nur für untere soziale Positionen charakteristisch sind, zeigt das Beispiel Hartmuts: »Mir gefällt noch so eine Sache nicht. Das ist eine Sache, die vielleicht mit der traditionellen Wahrnehmung der Polen durch Deutsche zusammenhängt. Ich hatte letztens in Heidelberg so ein gutes Beispiel, wo im Rahmen einer groß angekündigten Betriebsfeier, wo Polen, Rumänen, Bulgaren, Österreicher, Türken, Ukrainer, Litauer usw. waren. Und der Autor, der Organisator, also die deutsche Seite, es gab einige Vorgesetzte in dieser Firma, denen man anmerkte, dass sie Polen für Diebe halten, und das gab man uns zu verstehen. Ich finde, auf diesem Niveau sollte es so etwas überhaupt nicht geben. Und das überträgt sich auf die Stufe

34 Wobei Wojteks ethnische Identität ein klassisches Beispiel einer reactive ethnicity. Er selbst denkt in essentiellen Kategorien (vgl. Abschnitt 3).

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darunter, dass der Schweißer – ein Deutscher sagt, dass er hier deswegen mit einem Hammer arbeiten muss, weil der Pole, ein Nichtstuer, ihm etwas geklaut hat und deswegen ist es so. Also das gefällt mir nicht.«

Eine weitere ethnische Zuschreibung entsteht durch die Medienberichte über Polen als rückständiges Land; die Interviewpartner fühlen sich genötigt, dieses in Alltagssituationen klarzustellen und fühlen sich durch eine derartige Berichterstattung »genervt«: »Ein paar Mal habe ich Sendungen über Polen gesehen. Ich kann mich noch erinnern, eine war über Masuren, dass ein Typ mit einem Nyska [alter polnischer Kastenwagen] herumgefahren ist und ein Wanderkino hatte, und da in Spritzenhäusern oder Scheunen hat er Aufführungen gemacht, mit Filmen aus den – sagen wir – 60er Jahren. Und in einer anderen Sendung ging es darum, dass irgendwo in Oberschlesien… wie die arbeitslosen Polen Kohle aus den Waggons klauten. Also am nächsten Tag fragten alle Deutsche, die die Sendung gesehen haben, sie fragten, ob es wirklich so in Polen ist, dass es so ein Kino im Kastenwagen gibt, ein Typ mit einer Kurbel dreht und jemand am Klavier spielt, damit man Ton dazu hat [Ironie in der Stimme]. Einfach, manche, manche denken, wir seien aus der dritten Welt… oder sie fragen, ob es bei uns Supermärkte gebe: ›Gibt es bei euch Aldi?‹ ›Gibt es nicht.‹ ›Und ein anderer Laden, Penny?‹ ›Gibt es nicht.‹ ›Oh Mann, also ihr habt da gar nichts!‹ Sie wissen z.B. nicht, dass es Tesco gibt, dass da Real ist. Manche sehen uns so, als ob wir wirklich von was weiß ich woher kämen.«

Zusammenfassend lässt sich zur Positionierung der oberschlesischen Arbeitsmigranten auf Grund der Kategorien Ethnizität/Nationalität Folgendes festhalten: Die Nationalität entfaltet insbesondere im Zielkontext ihre Wirkung. Die »zweite«, deutsche Staatsangehörigkeit verschafft den Migranten einerseits einen privilegierten rechtlichen Status in EU-Staaten wie Deutschland oder den Niederlanden, was neben praktischen Folgen auch eine Planungssicherheit ermöglicht. Auf der anderen Seite jedoch sind die Oberschlesier, etwa hinsichtlich ihrer Bildungsabschlüsse, schlechter gestellt als ausländische Bildungsinländer in Deutschland, was ihnen teilweise die Integration in den Arbeitsmarkt im Zielland erschweren kann (freilich nicht muss). Vor allem aber entwickelt die Ethnizität ihre Wirkung auf der symbolischen Ebene: Hier führen die positiven bzw. negativen ethnischen (essentialistischen) Bilder zu besseren oder schlechteren Ausgangssituationen für die Akteure: einerseits vermutet man in ihnen potentielle Diebe, andererseits auch »Alleskönner«.

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Z WISCHENFAZIT Nachdem im ersten Unterkapitel die realtypologischen Migrationsstrategien der oberschlesischen Pendelmigranten herausgearbeitet und ihre ökonomischen Hintergründe dargestellt wurden, wie etwa die möglichen Erwerbsformen, hat sich das zweite Kapitel stärker mit der soziokulturellen Alltagspraxis der Akteure beschäftigt und die Frage nach der sozialen Strukturierung gestellt. Ausgehend von der vorliegenden Literatur zu dem Thema wurden aus dem Material induktiv sechs zentrale intersektionelle Kategorien herausgearbeitet, die die Positionierung der Akteure im (transnationalen) sozialen Raum maßgeblich bestimmen und damit als Erklärungsvariablen der Migrationspraxis zu bewerten sind. Die Analyse hat gezeigt, wie sich die Kategorien Generation, Lebenszyklus, Geschlecht, familiäre Konstellation, Klasse und Nationalität in einer Wechselwirkung untereinander auf die Migrationspraxis der Akteure auswirken. Diese Faktoren ermöglichen es, die Migrationsstrategien der Untersuchungsgruppe zu erklären – neben individuellen Motiven hinter jeder Migrationsstrategie sind es eben auch strukturelle Faktoren, die die lebensgeschichtliche Dynamik der Migrationsstrategien ausmachen. Das Forschungsinteresse an der sozialen Praxis und ihrem gesellschaftlichen Kontext bezieht sich hierbei jedoch in erster Linie auf die Frage nach der Transnationalisierung der Lebenslagen und Lebensstile der Migranten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den festgestellten strukturellen Aspekten und der transnationalen Migration – welche Faktoren begünstigen, welche behindern eine transnationale Lebensweise und Orientierung? Diese Frage lässt sich am besten in zwei analytischen Schritten beantworten. Zum einen: Welche Aspekte sprechen für temporäre Migration und gegen Emigration oder Nicht-Migration? Zum anderen: Unter welchen Umständen werden die temporären Migranten zu Transmigranten bzw. recurrent migrants? Temporäre Migration vs. Auswanderung Die soziale Praxis der temporären Migration in all ihren möglichen Formen (zyklische Migration, Pendelmigration), als Gegenmodell zur Emigration, ist eine erste Voraussetzung für die Entstehung transnationaler Migration, so wie sie in dieser Arbeit in einem eher engen Sinn definiert wird (siehe Theorie-Kapitel). Die Ursachen für die Entstehung temporärer Migration wurden bereits in zahlreichen empirischen Studien dargelegt (siehe Forschungsstand). Diese Fallstudie ergab jedoch weitere empirische Ergebnisse, die das Phänomen der temporären Migration detaillierter erklären. Es sind dies drei entscheidende Aspekte: die Flexibilisierung der

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Z WISCHENFAZIT Nachdem im ersten Unterkapitel die realtypologischen Migrationsstrategien der oberschlesischen Pendelmigranten herausgearbeitet und ihre ökonomischen Hintergründe dargestellt wurden, wie etwa die möglichen Erwerbsformen, hat sich das zweite Kapitel stärker mit der soziokulturellen Alltagspraxis der Akteure beschäftigt und die Frage nach der sozialen Strukturierung gestellt. Ausgehend von der vorliegenden Literatur zu dem Thema wurden aus dem Material induktiv sechs zentrale intersektionelle Kategorien herausgearbeitet, die die Positionierung der Akteure im (transnationalen) sozialen Raum maßgeblich bestimmen und damit als Erklärungsvariablen der Migrationspraxis zu bewerten sind. Die Analyse hat gezeigt, wie sich die Kategorien Generation, Lebenszyklus, Geschlecht, familiäre Konstellation, Klasse und Nationalität in einer Wechselwirkung untereinander auf die Migrationspraxis der Akteure auswirken. Diese Faktoren ermöglichen es, die Migrationsstrategien der Untersuchungsgruppe zu erklären – neben individuellen Motiven hinter jeder Migrationsstrategie sind es eben auch strukturelle Faktoren, die die lebensgeschichtliche Dynamik der Migrationsstrategien ausmachen. Das Forschungsinteresse an der sozialen Praxis und ihrem gesellschaftlichen Kontext bezieht sich hierbei jedoch in erster Linie auf die Frage nach der Transnationalisierung der Lebenslagen und Lebensstile der Migranten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den festgestellten strukturellen Aspekten und der transnationalen Migration – welche Faktoren begünstigen, welche behindern eine transnationale Lebensweise und Orientierung? Diese Frage lässt sich am besten in zwei analytischen Schritten beantworten. Zum einen: Welche Aspekte sprechen für temporäre Migration und gegen Emigration oder Nicht-Migration? Zum anderen: Unter welchen Umständen werden die temporären Migranten zu Transmigranten bzw. recurrent migrants? Temporäre Migration vs. Auswanderung Die soziale Praxis der temporären Migration in all ihren möglichen Formen (zyklische Migration, Pendelmigration), als Gegenmodell zur Emigration, ist eine erste Voraussetzung für die Entstehung transnationaler Migration, so wie sie in dieser Arbeit in einem eher engen Sinn definiert wird (siehe Theorie-Kapitel). Die Ursachen für die Entstehung temporärer Migration wurden bereits in zahlreichen empirischen Studien dargelegt (siehe Forschungsstand). Diese Fallstudie ergab jedoch weitere empirische Ergebnisse, die das Phänomen der temporären Migration detaillierter erklären. Es sind dies drei entscheidende Aspekte: die Flexibilisierung der

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Arbeitsmärkte, die soziale Dynamik der temporären Migration und der Vorteil eines festen Wohnsitzes in Polen bei gleichzeitiger Erwerbsmobilität. »Flexible« Arbeitsmärkte Der Vorteil der temporären gegenüber der dauerhaften Arbeitsmigration lässt sich erstens aus der Perspektive der Arbeitsmärkte erklären. Dieser Aspekt wurde bereits im ersten Teil dieses Kapitels ausführlich besprochen; hier sollen noch einmal kurz die Ergebnisse in Bezug auf die Leitfrage skizziert werden. Die Nachfrage nach temporären ausländischen Arbeitskräften ist nichts Neues – wie verschiedene historische Beispiele von Anwerbungsprogrammen zeigen, z.B. saisonale Arbeitskräfte aus Ostpreußen in Deutschland, das Bracero-Programm in den USA usw. In einer »postindustriellen« Wirtschaft, in der das Normalarbeitsverhältnis, insbesondere im Dienstleistungssektor immer mehr zugunsten prekärer Beschäftigungsverhältnisse erodiert, erlebt diese Arbeitsform eine dynamische Entwicklung – bestimmte Arbeitsmarktsegmente, wie die Landwirtschaft oder Haushaltsarbeit in Deutschland, sind regelrecht auf flexible und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Diese Fallstudie zeigt, wie es unter bestimmten günstigen (rechtlichen, ökonomischen, geographischen) Voraussetzungen – d.h. Nachfrage des Arbeitsmarktes und Vorliegen eines Lohngefälles – zur Entstehung einer hoch formalisierten transnationalen »Migrationsindustrie« kommt. Es handelt sich hier nicht mehr um einzelne Programme oder ein »zirkuläres Arbeitsmigrationsregime« (Cyrus 2000: 305)35, sondern um einen transnationalen Arbeitsmarkt, der eine eigene Dynamik entwickelt. Dementsprechend hat er für eine Gruppe von Akteuren – die recurrent migrants – den Charakter eines »Gastarbeitersystems« hat, für eine andere Gruppe – die Transmigranten – ein Sprungbrett in eine mehr oder weniger dauerhafte berufliche Integration ist. In der zweiten Gruppe befinden sich Migranten, die lebenslang zu einer Nebenbeschäftigung ins Ausland gehen, die zyklisch zwischen dem Herkunfts- und Zielkontext wechseln oder zu Dauerpendlern mit der Perspektive der Rückkehr im Rentenalter werden (vgl. Migrationsstrategien). Die Studie hat dabei gezeigt, warum und unter welchen Umständen die Akteure dieser temporären Nachfrage nachgehen, obwohl sie unter rechtlichen Gesichtspunkten genauso gut bleiben bzw. dauer-

35 Cyrus definiert ein zirkuläres Migrationssystem in Anlehnung an den Ansatz des Migrationssystems nach Kritz u.a. (1992) wie folgt: »zirkuläre Arbeitsmigrationsbewegungen [sind] empirisch nachweisbar«, es existiert ein »staatliches zirkuläres Arbeitsmigrationsregime« (= »Gesamtheit der Normen und Praktiken eines Nationalstaates, um Zirkularität bzw. Rotation bei der Arbeitsmigration durchzusetzen«).

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haft auswandern könnten. Der transnationale temporäre Arbeitsmarkt bietet nämlich viele »offene« und »kompatible« Erwerbsformen. Diese Kompatibilität bezieht sich auf strukturelle Lebenslagen wie Geschlecht, Lebenszyklus, Klasse (verfügbare Kapitalien) und individuelle Momente wie familiäre Konstellation, biographische Erfahrungen und Handlungsschemata usw. Soziale Dynamik Weiterhin hat die Studie die Bedeutung des Faktors der sozialen Dynamik bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung der Migration (generell) bestätigt; hier waren die Theorien der sozialen Netzwerke und sozialen Kapitals sowie der cumulative causation (Massey u.a. 1994) hilfreich. Wie in vergleichbaren Regionen, etwa in Mexiko, hat sich in Oberschlesien seit Jahrzehnten eine regelrechte »Migrationskultur« (vgl. Massey u.a. 2005: 47f.) entwickelt, die seit den 90er Jahren die temporären Migrationsformen etabliert. Die soziale Dynamik setzt schon bei der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit ein, einer Praxis, die nicht unbedingt instrumentellen Abwägungen folgt, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern bei der historische, familiäre und lebensweltliche soziale Aspekte mitspielen. Diese Migrationskultur beinhaltet sozioökonomische Aspirationen, Erwerbsnormen und Lebensstile. Die Verbreitung erfolgt intergenerationell und im direkten sozialen Umfeld, wodurch sich hier eine im Herkunftskontext geographisch begrenzte (vor allem im Oppelner Oberschlesien) transnational community heraus bildet. »Pendeln statt Auswandern«: allgemeines osteuropäisches Phänomen oder oberschlesisches »Erbe«? Die von Migrationsforschern wie Morokvasic, Miera, Cyrus, Okólski und Iglicka seit Mitte der 90er Jahre für Osteuropa diagnostizierte Tendenz zur »Mobilität statt Auswanderung« und ihre Ursachen verlieren mit dem vorliegenden Fall nicht an Aktualität und Erklärungskraft. Zu den wichtigsten Aspekten gehören: die Veränderung (für viele Verschlechterung) der sozialen und wirtschaftlichen Situation in den frühen 90er Jahren, das ökonomische Lohngefälle zwischen den Ländern (z.B. Deutschland-Polen, Polen-Ukraine), historische Migrationssysteme, die neue geopolitische Situation nach 1989 und die daraus resultierende Freizügigkeit. Die Spezifika des vorliegenden Falls (doppelte Staatsangehörigkeit, historisches Grenzgebiet, stark ausgeprägte Emigrationsgeschichte) verdeutlichen noch stärker bestimmte Muster der osteuropäischen Arbeitsmigration (z.B. die Vielfalt der temporären Ausprägungen der Arbeitsmigration wie pendeln, zyklisch arbeiten, Saisonalarbeit, Rotationssysteme) oder sie weichen von ihr ab (z.B. bezüglich historischer Erzählungen über Familienmigration).

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Das Material zeigt, dass die temporäre Migration keineswegs eine bewusst gewünschte Lebensweise ist: Die Mühen des Alltags und des Pendelns für die Migranten und der Trennung für die ganze Familie machen das transnationale Erwerbsprojekt für praktisch jeden Interviewpartner sehr ambivalent. Diese gespaltene Bewertung wird mit unterschiedlichen Begründungen überwunden: Die einen betrachten die Migration schlicht als ein »Zwang«, die anderen als die »zweitbeste« Lösung: Die beste Alternative bestünde darin, gar nicht migrieren zu müssen, die temporäre Migration sei jedoch unter den gegebenen Umständen sowohl besser, als gar nicht migrieren zu können (für Nicht-Doppelstaatler war der Arbeitsmarkt in Deutschland bis Mai 2011 geschlossen), als auch, als dauerhaft auszuwandern zu müssen. Der Vorteil ergibt sich aus ökonomischen Disparitäten; diese ermöglichen es, das im »Westen« erzielte Einkommen im »Osten« zu konsumieren, mit der Folge, dass im Herkunftskontext ein sozioökonomischer Aufstieg realisiert oder zumindest ein Abstieg vermieden werden kann. Wie Morokvasic diese Strategie in Bezug auf polnische Pendelmigranten in Deutschland bereits vor fast 20 Jahren erklärte: Die transnationale Pendelbewegung kann man als eine Strategie ansehen »um zu Hause bleiben zu können«, um einen »sozialen Abstieg [zu] vermeiden […], Kapital zu beschaffen […], den Lebensstandard zu halten usw.« »[E]s handelte sich um Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, um nicht zum Bodensatz der sich schnell und unvorhergesehen verändernden Gesellschaft zu werden« (Morokvasic 1994: 169). Das vorliegende Material macht deutlich, dass der Nutzen für die transnationalen Migranten weit über die sozioökonomische Mobilität hinausgeht. So zeigt die Analyse ihrer mentalen Karten etwa, dass das Pendeln die Aufrechterhaltung bestimmter z.B. ländlicher Lebensstile erlaubt – etwa im Bezug auf »gemeinschaftliche« soziale Beziehungen, das Wohnen im Einfamilienhaus und die Nähe zur Natur (siehe ausführlicher 3. Unterkapitel). Darüber hinaus wurde deutlich, dass sich die Ehepartner oftmals über die Emigrationspläne uneinig sind, wobei in unserer Stichprobe die Frauen eher für den Verbleib und die Männer für die Auswanderung waren. Anders als für Emigranten stellt die temporäre Migration, zumindest für die zurückbleibenden Familienmitglieder, keinen lebensweltlichen Bruch dar. Weiterhin zeigt sich die Rolle der Auswanderungsgeschichte in der Region Oberschlesien für das heutige Migrationsgeschehen: Das Vorhandensein enger Beziehungen zu Emigranten im Zielland bringt deren in Oberschlesien verbliebenen Verwandten und Bekannten das dortige Leben näher und trägt so dazu bei, die Lebenswelt in Oberschlesien allgemein zu transnationalisieren. Der Besitz der doppelten Staatsangehörigkeit trägt zu einer transnationalen Orientierung bei, da sie die Zukunft in beiden nationalen Kontexten längerfristig planbar macht – dies bezieht sich auf alle drei Typen der Migration: auf Transmigranten, auf recurrent migrants, die ihren Lebensschwerpunkt in Polen haben, und sogar Emigranten, die mit dem polnischen Pass einfacher zu Rückkehrmigranten werden können.

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Der Fall von Wojtek und andere Fälle mit langer Migrationsgeschichte machen zudem die Konsequenzen zunehmender (organisatorischer) Formalisierung und (kultureller) Institutionalisierung der oberschlesischen transnationalen Arbeitsmigration deutlich. Dies führt dazu, dass das Pendeln zwischen Polen und Deutschland/Niederlanden im Laufe der 20 Jahre zunehmend regelmäßiger, einfacher und selbstverständlicher wurde. Der politische Hintergrund macht den Unterschied zur mexikanischen Transmigration deutlich: Dort sind das physische Pendeln und die Lebensprojekte der Migranten durch die nationalstaatlichen Grenzen wesentlich stärker eingeschränkt als dies für die Doppelstaatler oder auch für »nur polnische« Staatsbürger der Fall ist: Zwischen Deutschland und Polen besteht bereits seit 1991 Visafreiheit – zwar ist sie beschränkt auf touristische Zwecke, wird aber nicht selten von undokumentierten Arbeitsmigranten in Anspruch genommen. Recurrent migration vs. transnationale Migration Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurde die Einschränkung vorgenommen, wonach der temporäre Charakter nur eine von mehreren Dimensionen transnationaler Migration ist; mit anderen Worten: Nicht jeder temporäre Migrant ist gleichzeitig ein transnationaler Migrant. Die soziale Praxis der temporären Migration kann im Leben des Akteurs marginal und episodisch sein, so dass dieser dem Idealtypus des recurrent migrant mit seinem ausschließlichen Bezug zum Herkunftskontext zugeordnet werden kann. In dieser Studie werden temporäre Migranten auf Vorliegen oder Fehlen transnationaler Merkmale hin untersucht. Dabei wird der Idealtypus des Transmigranten sowohl vom klassischen Emigranten als auch vom recurrent migrant abgegrenzt. Welches Fazit lässt sich aus den bisher dargestellten Ergebnissen – der ökonomischen und sozialen Dimensionen – der oberschlesischen temporären Arbeitsmigration in Bezug auf die Transnationalisierungsfrage ziehen? Welche Faktoren führen zu einer mono- bzw. plurilokalen Lebensweise? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. Umfang der transnationalen Praxis und zeitlicher Verlauf Erstens erweisen sich der Umfang und die zeitliche Perspektive der Migration als entscheidend. Wie im Theorieteil dargestellt, wird in der vorliegenden Arbeit ein »enges« Konzept der Transmigration zugrunde gelegt, der Umfang der transnationalen Praktiken spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Autoren sprechen hier etwa von umfassenden (im Gegensatz zu bloß selektiven) transnationalen Praktiken (Levitt 2003) oder von Kern-Transnationalismus – dieser liegt vor, wenn transnationale Praktiken einen wesentlichen Bestandteil des Alltagslebens der Migranten ausmachen (Guarnizo 2000). Auch wird in dieser Untersuchung die These vertreten, dass diese transnationalen Praktiken im Lebensverlauf an Intensität ab- und zunehmen können (Levitt 2003: 184) und allgemeiner, dass transnationale Inkorporation ein »zukunfts- und ergebnisoffener Prozess« ist (Pries 2004a). Um festzustellen, ob in

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diesem Sinne von Transnationalität gesprochen werden kann, ist es daher nicht ausreichend, nur eine bestimmte Phase der Migration zu analysieren; vielmehr müssen die gesamte bisherige Migrationsgeschichte und die Zukunftsvorstellungen eines Menschen berücksichtigt werden. Für die untersuchte Gruppe oberschlesischer Arbeitsmigranten gilt, dass sie durch ihren familiären Schwerpunkt in Oberschlesien intensive Bezüge zum Herkunftskontext aufrechterhalten, jedoch nicht alle bauen Bezüge zum Ankunftskontext auf. Bei jeder einzelnen Erwerbsbiographie stellt sich also die Frage, welches Ausmaß die Migration einnimmt: Ist sie eine kurze Episode, etwa um Geld für das Studium zu verdienen, oder wird sie zu einer lebenslangen Perspektive? Wie die vorgefundenen Erwerbsformen und Erwerbsbiographien gezeigt haben, kann dieser Umfang in dieser Untersuchungsgruppe sehr groß oder sehr gering sein. Wie intensiv die transnationale Migration praktiziert wird, hängt wiederum von den im vorausgehenden Abschnitt dargestellten Strukturgrößen und ihren Wechselwirkungen ab. So bestimmt die Generation, zu der ein Befragter gehört, die Erwerbsnormen, also die Frage, ob überhaupt eine Erwerbstätigkeit in Polen ausgeübt wird. Hier zeigt sich, dass die zweite Generation der oberschlesischen Pendelmigranten – die, anders als die erste, aufgrund der politischen Umstände überhaupt erst die Möglichkeit besitzt, das Pendeln als dritte Alternative zu Auswandern oder Bleiben zu wählen – direkt nach der Schule in die Arbeitsmigration einsteigt und so zu potentiellen lebenslangen »Dauerpendlern« wird. Das Geschlecht spielt eine Rolle bei bestimmten Arbeitsmarktsegmenten und beeinflusst das Migrationshandeln: Für vollerwerbliche Migranten stehen auf dem deutschen Arbeitsmarkt vorwiegend im Bausektor Arbeitsplätze zur Verfügung – ein Grund, weshalb vollerwerbliche Migration vorwiegend Männern vorbehalten ist; Frauen hingegen üben in der Regel saisonale Beschäftigungen, etwa in der Landwirtschaft aus. Frauen mit familiären Verpflichtungen tendieren zudem zu zyklischen und kurzen Aufenthalten, um ihrer Fürsorgerolle in der Familie nachkommen zu können. Die Männer dagegen arbeiten unabhängig davon, ob sie familiäre Verpflichtungen haben oder nicht, häufiger vollerwerblich, auf regelmäßiger Basis. So bestimmen geschlechtsspezifische Rollenverteilungen die Migrationsmuster der Frauen und Männer: Die Frauen betreiben viel häufiger eine typische »Schaukelstrategie« und bauen kaum Bindungen zum Ankunftskontext auf. Die Männer dagegen können mit ihren Migrationsmustern viel eher transnationale Bindungen zu Herkunfts- und Ankunftskontext aufbauen und pflegen. Der Lebenszyklus in Verbindung mit dem Geschlecht beeinflusst das Migrationshandeln ebenso: So verbringen junge kinderlose Paare die meiste Zeit im Zielkontext, was sich entsprechend auf ihre Bindungen zum Herkunfts- und Zielkontext auswirkt. In der Phase der Kindererziehung werden die Rollen geschlechtsspezifisch verteilt – zwischen dem Mann als Haupternährer und der Frau als Nebenernährerin bzw. Hausfrau. Schließlich kommen die Frauen wiederum in einer späte-

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ren Lebensphase zum Zuge, vorausgesetzt sie haben keine Fürsorgearbeit in der Familie zu leisten (für Kinder, Enkelkinder oder (Schwieger-) Eltern). Die familiäre Konstellation – Familienstand und die Situation der Familienmitglieder – entscheidet ebenfalls darüber, welche Migrationsstrategie passend ist. Der Fall Wojtek hat etwa eine »modellhafte« Konstellation gezeigt, aber bereits die Fälle Mariola und Anna zeigten die »Abweichungen«, besondere Lebenssituationen – die ebenso zu einer Normalbiographie gehören – wie Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Single-Dasein usw. Der Umfang der Arbeitsmigration hängt schließlich stark von dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital ab, über das die Migranten verfügen. Struktur (transnationaler) Kapitalien und zeitlicher Verlauf Schließlich unterscheiden sich die Arbeitsmigranten hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit, wobei »Klasse« hier im Sinne Pierre Bourdieus anhand des Zugangs zu finanziellem, sozialem und kulturellem Kapital definiert wird. So muss im Einzelfall die Frage gestellt werden, über welche Kapitalien der Migrant verfügt und wie sie räumlich zu verorten sind. Über welche ökonomischen Ressourcen und Perspektiven verfügt er in beiden nationalen Kontexten, in welche sozialen Netzwerke ist er eingebunden, über welche Fertigkeiten und welches Wissen verfügt er/sie? Die Klassenpositionierung ist eine sehr dynamische Struktur und hängt von vielen individuellen Faktoren wie etwa der Familiengeschichte ab: So lernt beispielsweise Darek – obwohl er im nationalen Kontext »nur« ein Berufsschulabgänger ist – bereits als Kind Deutsch: Denn seine Großeltern wandern aus und bringen dem Enkel eine Satelliten-Anlage, über die er als Kind deutsche Zeichentrickfilme sehen kann. Später kann er mit dem Mann seiner Tante – einem rumänischen Aussiedler – nur auf Deutsch sprechen. Und heute, als Arbeitsmigrant, kann sich Darek aufgrund seiner Fertigkeiten und seiner langen Erwerbsmigration unabhängig vom formellen transnationalen Arbeitsmarkt in dem deutschen und inzwischen österreichischen öffentlichen Raum (Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Ämter, primäre Bekanntschaften) bewegen. Der 56-jährige Krzysztof dagegen lernte Deutsch von seinen Eltern, die noch zu »deutschen Zeiten« lebten und sich selbst als Deutsche bekannten. Heute lässt sich Krzysztof, zwar ein einfacher Aushilfsarbeiter, jedoch nicht, wie er selbst sagt, »für dumm verkaufen« und macht sich im Laufe der Zeit, ähnlich wie Darek, von den ökonomischen ethnischen Abhängigkeitsstrukturen unabhängig. Ein weiterer Faktor ist die eigene Erwerbsgeschichte: Über welche Ressourcen verfügt der Akteur im Herkunfts- und Ankunftskontext? Hat er eine Kombination aus einem »nur« befriedigenden Job im Zielkontext und einer gut bezahlten Arbeitsstelle im Herkunftskontext – wie z.B. der recurrent migrant Krystian, der neben seiner qualifizierten Arbeitsstelle in Polen saisonal und unterqualifiziert in Deutschland arbeitet? Oder wechselt er, wie der Transmigrant Hartmut, zyklisch und längerfristig zwischen

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qualifizierten Arbeitsstellen in Deutschland und Polen? Um welche Art Tätigkeiten im Zielkontext handelte es sich, wie waren sie organisiert, welche materiellen und nicht materiellen Ressourcen haben sich daraus ergeben? Die Konsequenzen der Art der Tätigkeit sowie ihrer Organisationsform auf das soziale Leben im Zielkontext wurden im ersten Teil dieses Kapitels ausführlich dargestellt. So lässt sich zwischen pluralistischen und assimilativen Modi der sozioökonomischen Inkorporation im Zielkontext unterscheiden, und die festgestellten Arten und Formen der Beschäftigung tragen neben der transnationalen Komponente eine Ausprägung zwischen diesen zwei Polen. Eine assimilative Ausprägung ermöglicht jeweils die Entstehung dauerhafter Bindungen in der ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Sphäre, es lässt sich hier aber keinesfalls ein Automatismus feststellen, wie der Fall Wojtek deutlich macht, der sich in seiner subjektiven Orientierung in Polen verortet. Schließlich sind es – wie beim Umgang mit der Arbeitsmigration – strukturelle und lebensgeschichtliche Aspekte, die auf die Entwicklung der Kapitalausstattung im Zeitverlauf Einfluss haben: So macht etwa der Fall Mariolas den strukturellen Aspekt deutlich, der in ihrer Fürsorgepflicht für den heranwachsenden Sohn, ihren Ehemann und ihre alten Eltern besteht – aufgrund dessen kann sie nicht auf ihren guten Arbeitsplatz in den Niederlanden zurückgreifen und »verliert« dadurch. Für Wojtek wiederum ist es ein lebensgeschichtlicher Aspekt – die Schwangerschaft seiner Freundin –, die ihn dazu veranlasst, sein Arbeitsverhältnis in Polen zu kündigen und die Arbeitsmigration nach Deutschland aufzunehmen. Zwar ist die Mobilität bereits zu seiner Schulzeit in seine Erwerbsbiographie »eingeschrieben«; doch trägt erst diese lebensgeschichtliche Statuspassage entscheidend dazu bei, dass Wojtek sich die Migrationsstrategie des »Einsteigers« zueigen macht, die einen beruflichen Schwerpunkt im Zielkontext impliziert. Schließlich ist es nicht nur die »konkrete« Praxis, die einen Transmigranten ausmacht – es ist auch seine subjektive Orientierung, seine »Art der Zugehörigkeit« (Glick Schiller/Levitt 2004), die zweite analytische Dimension, in der sich der Transmigrant von einem Emigranten und einem recurrent migrant unterscheidet. Eine der empirischen Ausprägungen der subjektiven Orientierung wurde bereits im ersten Teil dieses Kapitels anhand der beruflichen Zukunftsentwürfe ausführlicher analysiert. Im folgenden dritten Teil soll diese Ebene der transnationalen Lebenswelt der Akteure dargestellt werden. Hier werden die Identitäten der Migranten unter dem Aspekt der Transnationalisierung analysiert. Identität wird hier an konkreten Praktiken, Selbstbeschreibungen und mentalen Karten der Akteure festgemacht.

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T RANSNATIONALE

SUBJEKTIVE

V ERORTUNGEN

Im dritten und letzten Schritt der Analyse der Transnationalisierung von Lebenswelten der oberschlesischen Arbeitsmigranten wird die subjektive Dimension der oberschlesischen Arbeitsmigration untersucht. Auch hier orientiert sich die leitende Fragestellung am Begriff der Transnationalisierung: Entstehen durch die temporäre Arbeitsmigration der Akteure plurilokale Identitäten und subjektive Verortungen? Mit dem Begriff »subjektive Verortungen« soll über das Konzept der Identität hinaus, das in erster Linier nach der Konstruktion des Selbstbildes fragt, die subjektive Sinnwelt des Befragten insgesamt in den Blick genommen werden (Schütz/Luckmann 2003:32). Mit der subjektiven Verortung wird in diesem Sinne unter anderem das für die transnationale Alltagswelt der Migranten relevante »Wissen« ermittelt. Dieses manifestiert sich auf der Handlungsebene der Akteure in ihrer konkreten Praxis, ihren Kognitionen und Gefühlen. So lassen sich die Indikatoren für Identitäten und subjektive Verortungen der Befragten aus mehreren Quellen des Datenmaterials gewinnen: In erster Linie aus den biographisch rekonstruierten Selbstpräsentationen und Praktiken mit den ihnen zugrunde liegenden Sinnstrukturen. Zweitens werden anhand des Analyseinstruments »mentale Karte« gezielt topographische Sinnstrukturen erschlossen. Drittens geht es um Selbstbeschreibungen in verschiedenen Textkontexten, die im abschließenden Nachfrageteil des Interviews jeweils gezielt erfragt wurden. »Historisch-imaginierter« und »gelebter« Transnationalismus Die Fallstudie hat weiteres empirisches Material zur Ausarbeitung des Transnationalismus-Konzepts beigetragen; unter anderem hat sie verdeutlicht, dass Transnationalismus in zwei Formen auftreten kann, die sich gegenseitig bedingen können, was jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein muss: Auf der einen Seite konnte ein »historisch-imaginierter« Transnationalismus identifiziert werden – er bezeichnet ein Diaspora-Bewusstsein im klassischen Sinne (vgl. Safran 1991), wie es für ethnische Minderheiten typisch ist, deren Bindungen zum »Vaterland« ausschließlich symbolischer Natur sind. Auf der anderen Seite findet sich ein »gelebter« Transnationalismus, der auf einer tatsächlichen praktischen Migrationserfahrung der Akteure (bzw. dessen Umfeldes im breiten Sinne) aufbaut. Beide extreme empirische Ausprägungen finden sich in unserer Stichprobe wieder. Die Unterscheidung zwischen dem historisch-imaginierten und praktisch-gelebten Transnationalismus ist ein erster Ansatz zur Typisierung der transnationalen symbolischen Verortungen oberschlesischer Arbeitsmigranten: Im idealtypischen historisch-imaginierten Transnationalismus stattet der Migrant seine Lebens-

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welt mit Sinnvorräten aus der Vergangenheit aus (genauer gesagt mit solchen aus seiner Vorstellung der Vergangenheit) – ein solcher Transnationalismus kann ausschließlich imaginär sein. Im Unterschied dazu basiert der »gelebte« Transnationalismus auf tatsächlichen Bindungen zum Ankunftskontext, die durch Migration entstehen und kommt idealtypisch auch ohne jede Bezugnahme auf eine imaginierte Vergangenheit aus. In der Mitte zwischen diesen beiden Idealtypen gibt es Migranten, die sowohl auf historische Wissensbestände zurückgreifen, sie aber durch ihre transnationale Alltagswelt mit gegenwärtigen transnationalen Bindungen kombinieren. Im Folgenden werden diese drei Formen des subjektiven Transnationalismus illustriert. Der historisch-imaginierte Transnationalismus steht dabei als solcher nicht im Fokus des Interesses, da es uns vor allem um die Auswirkungen der Arbeitsmigration für die Entstehung von transnationalen Bindungen geht. Dennoch ergibt sich aus dem Material die interessante Beobachtung, dass Migranten durchaus dauerhaft einen historisch-imaginierten Transnationalismus pflegen können, da die über lange Zeiträume konservierten historischen Vorstellungen nur in einer Art Diaspora gelebt werden und die Konfrontation mit der aktuellen Realität unbeschadet überstehen. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür ist die Tätigkeit der Organisationen der (sich selbst so bezeichnenden) deutschen Minderheit in Oberschlesien. Der Befragte Wojtek stellt fest, dass die oberschlesischen Arbeitsmigranten einerseits und Menschen, die sich explizit als ethnische Deutsche verstehen und in den verschiedenen formellen Organisationen »deutschen Minderheit« aktiv sind, anderseits in zwei getrennten Welten lebten: Während die Migranten eher praktische Hilfe für ihr transnationales Leben benötigten (z.B. rechtliche Beratung), wollten die Mitglieder der Minderheitsvereine »nur Kaffe trinken, Kuchen essen und deutsche Lieder singen«. Der historisch-imaginierte Transnationalismus kann aber auch in den gelebten Transnationalismus einfließen, indem historische Wissensbestände für viele Arbeitsmigranten ein Repertoire an »Interpretationswerkzeugen« darstellen – neue Erfahrungen erhalten durch das Historische einen Sinn zugeschrieben, umgekehrt wird das Historische angesichts der neuen Erfahrungen verfestigt, neu interpretiert oder aufgehoben. Die Prozesse der subjektiven Verortung durch gegenwärtige Migration, die oft das Historische einbeziehen, stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Die oben dargestellten drei Ausprägungen des subjektiven Transnationalismus – historischimaginiert, praktisch gelebt und der Zwischenbereich – werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. In einer ersten analytischen Annäherung werden dabei rekonstruierte ethnische Identitätskonstrukte dargestellt. Für die meisten Migranten ist Ethnizität nicht die primäre Identitätskomponente; aber durch die Migration – und hier insbesondere durch die Konfrontation durch die Infragestellung in der Mehrheitsgesellschaft – gewinnt sie im Zeitverlauf größere Relevanz. Dabei zeigt sich, dass Ethnizität ein breites Konzept ist, das als »Sprungbrett« bzw. Projektionsfläche für weitere Identifikationskategorien dient.

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Im zweiten Schritt werden mentale Karten dargestellt, mit denen sich die kollektiven Deutungs- und Handlungsstrukturen der Migranten im transnationalen sozialen Raum erklären lassen: Zuerst werden hier, anknüpfend an den historischimaginierten Transnationalismus, historische Interpretationsfiguren dargestellt. Anschließend wird zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Deutungen des transnationalen Raumes übergeleitet. Die dominierende Interpretation räumlich-sozialer Verhältnisse lässt sich dabei gut mit dem klassischen Tönnies’schen Gegensatzpaar »Gemeinschaft« vs. »Gesellschaft« beschreiben: Der Herkunftskontext bildet in diesem Sinne die »Gemeinschaft«, der Ankunftskontext die »Gesellschaft«. Für die Befragten haben dann die »vertraute« Gemeinschaft und die »anonyme« Gesellschaft verschiedene positive oder negative Bedeutungen; der geographische Raum wird so mit entsprechenden Emotionen und Kognitionen besetzt. Im dritten Schritt werden dann einzelne lebensweltliche Orte symbolischer Verortung in den Blick genommen. Wir unterscheiden dabei analytisch zwischen »öffentlichen« und »privaten« Räumen. Dabei wurde bereits im vorausgehenden Teil dieses Kapitels anhand biographischer Erzählungen gezeigt, wie die Strukturgrößen Klasse, Gender usw. auch als identitätsstiftende Faktoren wirken. In diesem Abschnitt sollen diese Erkenntnisse ergänzt und fallübergreifend, anhand der öffentlichen/privaten subjektiven Verortung, zusammengestellt werden. Die Rekonstruktion der Verortungen im symbolischen transnationalen Raum zeigt schließlich, dass der subjektive Sinn der transnationalen Migration sich nicht auf die ökonomische Motivation der Akteure reduzieren lässt – soziale Normen, Identitäten und Gefühle sind ebenso als Antriebskräfte für die Praxis der Migranten zu erkennen; sie sind Erklärung für die Entstehung und Aufrechterhaltung des Transnationalen Sozialen Raums. Ethnische Identitätskonstrukte Eine zentrale Kategorie, in der sich die symbolische transnationale Orientierung manifestiert, ist »Ethnizität«. Wie im Theorie-Kapitel geschildert, repräsentiert die Fallgruppe der Oberschlesier eine für Grenzregionen typische Identität, auch – und wieder – über ein halbes Jahrhundert nachdem sie aufhörte, im politischen Sinne eine solche zu sein. Aus diesem Grund ist die regionale ethnische Identität Oberschlesiens in Polen durchaus ein Forschungsthema mit einer langen Tradition. Allerdings berücksichtigt die vorliegende historische und soziologische Literatur in diesem Kontext das Thema Migration kaum; umgekehrt setzt die wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Literatur über die Migration aus Oberschlesien das Thema kaum in Beziehung zu den dortigen Identitätskonstruktionen. Die vorliegende Arbeit soll genau dieser vernachlässigten Verbindung zwischen ethnischer Identität und Migration nachgehen. Aus den theoretischen Vorüberlegungen ließ sich nun die These ableiten, dass »Ethnizität« für die Untersuchungs-

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gruppe zweifach relevant sein konnte – im Kontext der komplizierten ethnischen Geschichte der Region und im Kontext der Migration. Die Untersuchung hat – erstens – gezeigt, dass die vorzufindenden Formen ethnischer Identität sowohl monowie auch plurilokale Ausprägungen aufweisen, dass – zweitens – Transnationalismus in den genannten zwei Ausprägungen (historisch-imaginär und praktisch gelebt) vorkommt, und dass – drittens – die dominante ethnische Identität »oberschlesisch« – nicht nur herkömmliche ethnische bzw. nationale Elemente und Prozesse umfasst, sondern auch eine Projektionsfläche ist, auf der sich weitere Identitätselemente widerspiegeln. Im Folgenden werden die ethnischen Identitätskonstrukte der befragten Migranten dargestellt. Der Begriff kollektive Identität wird hier in einem weiten Sinne verwendet: Er steht sowohl für die nationale Ebene der Identifikation sowie die Ebenen unterhalb (regional, lokal) und oberhalb des Nationalen (europäisch, »universell«) (vgl. Hall 1992, Robertson 1992). Vorgefunden wurde eine große Vielfalt an Identitätskonstrukten, wobei die regional gebundene Selbstbeschreibung als »Oberschlesier« (mit 20 von 23 Fällen) eindeutig dominierte36; nur in drei Fällen haben sich die Befragten nicht selbst als Schlesier identifiziert.37

36 Die Relevanz dieser ethnischen Kategorie bei der Selbstbeschreibung spiegeln die überraschenden Ergebnisse der Volkszählungen 2002 und 2011 wider. Dabei haben sich 2002 insgesamt 173.153 Personen als Angehörige der »schlesischen Nationalität« und 152.897 als Angehörige der »deutschen Nationalität« (GUS 2002a) deklariert. Dabei spricht die Verteilung dieser Befragten nach den beiden Regionen Oberschlesiens (Kattowitz und Oppeln) für sich: 106.855 Oppelner Oberschlesier haben de deutsche Nationalität angegeben, 24.199 die schlesische; in der Woiwodschaft Oberschlesien (Kattowitz) waren es dagegen 148.544, die die schlesische, und 31.882, die die deutsche Nationalität angegeben haben (GUS 2002b). Neben der ehemaligen Zugehörigkeit des größten Teils Oppelner Region zu Deutschland vor 1939, war hier sicher die Kampagne der Organisation RAĝ (»Bewegung für die Autonomie Oberschlesiens«) mit dem Schlagwort »Du hast das Recht, die schlesische Nationalität zu deklarieren« von Bedeutung. Die Angabe anderer nationaler Zugehörigkeiten, als der in Polen offiziell anerkannten Minderheiten, war als geschlossene Antwortmöglichkeit im Fragebogen nicht vorgesehen; laut Medienberichten haben sich viele Interviewer geweigert, diese Angabe auf Wunsch des Befragten. einzutragen. In der Volkszählung 2011 wurde die Auswahl an Kategorien daher erweitert: Unter anderem wurde eine zusätzliche offene Frage zu ethnischnationalen Identifikationen gestellt; darüber hinaus wurde ausdrücklich die Angabe einer zweiten Nationalität oder Ethnizität angeboten. So ging in der Volkszählung von 2011 die deutsche Nationalität/Ethnizität von 152.897 auf 126.000 (Zahlen abgerundet) zurück, und die schlesische erhöhte sich sprunghaft von 173.153 auf 817.00, davon 362.00 als ausschließlich schlesische Nationalität/Ethnizität (GUS 2012: 106). Diese Zahlenverhältnisse sowie eine intensive mediale Debatte über die angebliche Zurückhaltung der Daten zu ethnischen Fragen durch das

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Analytisch lassen sich drei Typen oberschlesischer Identität unterscheiden. Alle weisen eine »oberschlesische« Komponente auf; der Unterschied liegt jeweils im Bezug zu den nationalen Kategorien deutsch/polnisch. In der folgenden Übersicht über die Typologie wird die jeweilige Funktion des »Oberschlesischen« verdeutlicht, das sich als Ausdruck von ethnisch und nicht-ethnisch definierten Zugehörigkeiten manifestieren kann. Tabelle: Typen »oberschlesischer Identität« »weder noch«: (7-10 Fälle)38

»sowohl als auch« (5-6)

»entweder oder« (5-7)

a) essentialistische Variante: Lokalität bzw. Regionalität, starke Abgrenzung von deutsch und polnisch (2 bzw. 4 Fälle)

deutsch und polnisch

a) deutsch (0-2 Fälle) b) polnisch (5 Fälle)

b) nicht-essentialistische Variante: Lokalität bzw. Regionalität, Differenz zu deutsch und polnisch (2 Fälle) c) europäische bzw. universalistische Variante verbunden mit Lokalität bzw. Regionalität (3 bzw.4 Fälle)

Statistikamt Ende 2011 zeigen, dass das Thema der oberschlesischen Identität weiterhin nicht an Relevanz verliert sondern eindeutig gewinnt. 37 Anhand der einzelnen Biographien wurden die Hintergründe für eine solche Ausprägung der ethnischen Identität rekonstruiert. In einem Fall handelte es sich um eine in der polnischen Unabhängigkeitsbewegung politisch engagierte Person mit einer starken patriotischen Gesinnung, deren Familie »immer polnischer Orientierung« gewesen und deren Großvater für seine Teilnahme in den oberschlesischen Aufständen in Auschwitz umgebracht worden sei. Im zweiten Fall handelt es um eine Person, die in ihrer frühen Jugend aus der Region wegzog und problematische Kindheitserinnerungen mit der Region verbindet. Die dritte Person will sich von der oberschlesischen Kultur, die sie negativ im Sinne einer ethclass wahrnimmt, distanzieren. 38 Zuordnung der Einzelfälle: 1a. Wojtek, Ola + Krystian, Heinrich (ggf. 3a), 1b. Jakub, Paweł, 1c. Marcin, Tomek, Jan, + Ludwig (ggf. 2), 2. Bogdan, Sigmund, Hartmut, Krzysztof, Marek + Ludwig (ggf. 1c) 3a Krystian, Heinrich (beide ggf. 1a) 3b Ada, Mariola, Darek, Peter, Grzegorz.

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»Weder noch« – essentialistisch Der Typ »weder noch« bezeichnet Distanz zu bzw. Verzicht auf nationale Kategorien. Darunter gibt es erstens eine essentialistische Variante, bei der das Label »oberschlesisch« im ethnozentrischen Sinne und in starker Abgrenzung von Deutschen und Polen verwendet wird. Eine solche Positionierung als Oberschlesier, der sowohl durch die polnische als auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werde, bringt der Befragte Wojtek – in einer oben bereits in anderem Zusammenhang zitierten Aussage – wie folgt auf den Punkt: » Es gibt solche Situationen, wenn an der Baustelle etwas verloren geht, dann haben wir es geklaut. [...]. Für Deutsche sind wir Polen. Und für Polen sind wir die fünfte Kolonne, also wir sind nirgendwo. Es wäre besser, das ist meine Meinung, es wäre besser, wenn dieses Schlesien separat von Deutschland und von Polen wäre. Ich fühle mich, ich fühle mich nicht als Pole, ich fühle mich als Schlesier. Und das ist die Antwort auf die Frage, warum ich hier nicht auswandern würde. Denn dort wollen sie mich nicht und hier wird mich auch kein Pole respektieren, niemals. Wenn ich hier Kalinowski heißen würde, dann könnte ich Direktor einer Bank sein, aber wenn ich Schneider heiße, dann werde ich kein Bankdirektor. Wenn mein Name englisch oder französisch klingen würde, wäre es was anderes. Aber deutsch, nein – da würde schon was nicht stimmen. Also uns wollen sie weder hier noch da.«

Hier zeigt sich als Reaktion auf die Diskriminierung das mehrmals beschriebene Phänomen der Isolation gegenüber der polnischen und der deutschen Mehrheit und den Rückbezug auf die eigene separate Identität (vgl. BerliĔska 1999). Dieser Isolationismus hat jeweils Hintergründe in der tradierten Geschichte der Region sowie überlieferten Episoden aus der Familiengeschichte der Befragten. Er geht einher mit der Überzeugung, dass Oberschlesien eine »innere Kolonie« zwischen Polen und Deutschland sei (ausführlicher zur Figur der »inneren Kolonie« siehe unten). Eine vergleichbare essentialistische ethnische Identität weisen die beiden Fälle aus der dritten Gruppe (»entweder oder«) auf. Diese Befragten verbinden ihr »Schlesiertum« mit einer deutschen Variante, die sie als »deutsche Option« bezeichnen. Sie beziehen sich mit dieser Formulierung bewusst oder unbewusst auf einen Begriff aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – damals wurde unter der Regie des Völkerbunds in Oberschlesien ein Referendum durchgeführt, das über die Zugehörigkeit der Region zu Deutschland oder zu dem wiederhergestellten polnischen Staat entscheiden sollte. Letztlich wurde die Region in einer auf beiden Seiten umstrittenen Entscheidung 1921 geteilt. Die einzelnen Bürger konnten daraufhin »optieren«, mit welcher Nationalität sie sich identifizierten. Wer nicht für den Staat »optierte«, zu dem sein Wohnort nun gehörte, musste diesen deswegen nicht verlassen, gehörte aber offiziell zu einer exterritorialen nationalen Minderheit. Der Begriff »Optieren« ist im Sprachgebrauch Oberschlesiens noch relativ gebräuchlich, wie auch die Interviews zeigten. Heinrich überträgt ihn hier freilich auf eine

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ganz andere Realität: Hier geht es nicht um eine politisch-juristische Entscheidung, vielmehr wird rein auf das historisch imaginierte »Deutschtum« der Region Bezug genommen. Mit der heutigen Realität in Deutschland identifizieren sich die beiden Befragten hingegen ausdrücklich nicht – insofern repräsentieren diese beiden Fälle einen historisch imaginierten Transnationalismus. Einen solchen nur überlieferten, imaginären Bezug zu Deutschland repräsentiert etwa Heinrich, der sich zwar als Deutscher bekennt, aber noch niemals in Deutschland gewesen ist und auch nicht vorhat, dorthin zu reisen. An der folgenden längeren Passage soll dieser – nur scheinbare – Widerspruch erläutert werden: »Soweit ich mich erinnern kann, stammte unsere Familie aus der Umgebung von Grodzisko, nicht nur Grodzisko selbst, sondern auch aus der Umgebung. Im Umkreis von zwanzig Kilometern leben wir schon seit den letzten hundert Jahren. Und die Eltern waren sehr verbunden hier mit Schlesien. Und wie typische Schlesier, aber immer der deutschen Nationalität. Sie waren nicht polnischer Nationalität, sondern sie hatten immer die deutsche Option, Nationalität […] Der Opa väterlicherseits, soweit ich weiß, waren das immer Deutsche. Und der Opa mütterlicherseits auch. Aber die vielleicht nicht so sehr. Aber die anderen – bis auf die Knochen. Die väterlicherseits ließen auf die Deutschen absolut nichts kommen. Die von Omas Seite vielleicht auch nicht, aber sie waren mehr, man könnte sagen, Kosmopoliten. Aber väterlicherseits und meine Onkel, dieser Onkel Stanek war im ersten Weltkrieg in der Garde von Kaiser Wilhelm, er war in solchen Elite-Einheiten […] - Also die Eltern hatten keine Kontakte nach Deutschland? Nein, nein. Und ich kann noch eins sagen, als die Russen kommen sollten, da hat dieser Schmidt gesagt: ›Peter, komm, die Russen kommen hierher, wir hauen ab!‹ Und so sollte meine Mutter mit Wolfgang [dem älteren Bruder] mit dem Auto fahren und sie sollten sich zurückziehen. Aber meine Mutter wollte nicht fahren, sie sagte: ›Peter, wo werden wir da hingehen, wir haben doch keine Familie da im Westen.‹ Und so sind sie hier geblieben. Sie wollten nicht flüchten, weil sie da keinen hatten. Das sind typische Schlesier […] - Und haben Sie je über die Auswanderung nach Westen nachgedacht? Nein. - Und wie oft waren sie früher in Deutschland? In Deutschland war ich kein einziges Mal. - Haben Sie keine Lust dahin zu fahren, es sehen? Oder haben Sie keine Zeit? Ich sage dir ehrlich, vielleicht würde ich gerne mal dahin fahren und mir dieses Deutschland angucken, aber Deutschland als Land, da würde mir vielleicht am meisten Bayern gefallen. - Und woher wissen Sie etwas über dieses Land? Aus den Büchern oder… Ein wenig aus Büchern, vom Fernsehen, und zweitens hat Vater früher erzählt. Er kannte einen Offizier aus Bayern und sie hatten Kontakt zueinander.«

Der andere Befragte aus dieser Kategorie, Krystian, konnte dagegen konkrete Erfahrungen in Deutschland sammeln und reflektiert über die Differenzen zwischen

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den Deutschen in Oberschlesien und den »echten«39 Deutschen. Krystian legt, wie eingangs erwähnt, großen Wert auf die Betonung des deutschen Elements innerhalb seiner oberschlesischen Identität. Dies scheint, wie in anderen Fällen, auf eine reactive ethnicity innerhalb der polnischen Gesellschaft hinzudeuten. Dennoch tendiert er dazu, sich von »echten« Deutschen eher zu distanzieren. Er ist sich völlig dessen bewusst, dass der Besitz eines deutschen Passes in der Praxis nur eine recht fragile Bindung an die deutsche Gesellschaft darstellt. Das bringt er auf selbstironische Weise zum Ausdruck: »Diese Emigration vor zehn, fünfzehn Jahren, das war besser als dieses jetzt... Damals wanderten ganze Familien aus, der deutsche Staat war auch nicht immer... aber er war besser als er jetzt ist, denn damals hatten sie Sprachkurse, hatten alles... Jetzt... Du hast den Pass – du bist ein Deutscher, also komm alleine klar! (haha) Wenn du ein Deutscher bist – komm selbst klar. Du hast Deinen Pass, lass Dir noch einen Ausweis ausstellen und dann bist du schon ein ›echter‹ Deutscher... Keiner gibt Dir was umsonst ... Die damals konnten noch etwas nutzen...«

Krystian geht noch weiter: Er hat er das Gefühl, dass die »wirklichen« Deutschen ihre vermeintlichen oberschlesischen Landsleute zwar als nützliches Reservoir an preisgünstiger Arbeitskraft zu schätzen wüssten, darüber hinaus jedoch deren emotionales Bedürfnis nach Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zur deutschen ingroup weder verstünden noch respektierten. Dies geht sogar so weit, dass er die Diskriminierung oberschlesischer Arbeitsmigranten in der deutschen Gesellschaft mit der Situation von Afroamerikanern in der US-Gesellschaft vergleicht – ihnen aber sogleich eine Mitschuld an dieser Situation zuschreibt: »Und wie oft passiert es, dass einer dahin fährt und seine Versicherung wird nicht bezahlt, die Leute werden reingelegt, und wer profitiert davon? Die deutsche Gesellschaft. Der Pole, d.h. der polnische Schlesier ist da – das sind jetzt vielleicht scharfe Worte – ein weißer Neger. Man sagt zum Beispiel, dass der Schlesier blöd ist. Er ist blöd, denn er will nicht lernen, denn warum soll er auch lernen wenn er – nachdem er fertig ausgebildet ist – keine Arbeit findet? Dann kann er doch besser in den Westen zur Arbeit fahren…. Er brauchte eigentlich gar nichts gelernt zu haben, eine solche Haltung ist hier in Schlesien verbreitet […] schon seit hundert Jahren. Der Schlesier sieht nur das Geld.«

39 Der Ausdruck »echte« Deutsche (im Original deutsch) wird unter Oberschlesiern verbreitet für Deutsche ohne biographischen Bezug zu Polen verwendet, um diese von Immigranten aus Oberschlesien zu unterscheiden.

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Doch auch auf einer abstrakteren Ebene bleibt Krystian auf kritischer Distanz zur deutschen Gesellschaft. »Deutschland« ist bei ihm ein Synonym für Modernisierung an sich. Das Leben dort gerate immer mehr auf eine schiefe Ebene – wörtlich spricht er von einem »verbogenen Leben« (Īycie skrzywione). Traditionelle oberschlesische Werte wie das Arbeitsethos oder die Bedeutung der Familie seien gefährdet: Die Menschen verlören den Respekt vor der Arbeit anderer und selbst vor den eigenen Eltern. Wie andere Interviewpartner kritisiert Krystian vehement die Institution des Altersheims. Er sieht jedoch, wie Polen mit Verspätung von den gleichen Tendenzen bedroht werde – die McWorld, wenn man so will, schiebt sich für Krystian langsam über die Grenze aus Deutschland nach Polen. Bei Krystian sehen wir einen Versuch, aus einer kalten, anonymen »Gesellschaft« (im Sinne Ferdinand Tönnies’) zurückzukehren in das verlorene Paradies einer letztendlich ethnisch definierten solidarischen »Gemeinschaft« (ausführlicher zur mentalen Karte »Gemeinschaft vs. Gesellschaft« unten). Insofern lässt sich Krystians energische Betonung seines deutsch-oberschlesischen kulturellen wie genetischen »Erbgutes« vielleicht als Ausdruck eines typisch postmodernen, reaktiven subalternen Ethnizismus deuten, der nahtlos an den tradierten, vormodernen subalternen Ethnizismus anknüpft. »Weder noch« – nicht essentialistisch Die zweite Variante der Gruppe »weder noch« versteht das Label »oberschlesisch« vorwiegend in nicht-ethnischen Kategorien – als einen bestimmten Lebensstil, als sprachliches Symbol für ein Heimatgefühl. Auch hier ist Nationalität jedoch eine explizite Bezugsgröße, wenn auch eine negative: Die Befragten distanzieren sich von nationalen Kategorien, aber im Gegensatz zu der ersten Gruppe tun sie dies nicht, weil sie diese Kategorien per se ablehnen, sondern vielmehr aus einer »nationalen Unsicherheit« heraus, die in den Interviews immer wieder zum Ausdruck kommt – wie z.B. in dem folgenden Ausschnitt bei Paweł: »Meiner Meinung nach ist das so: Ich bin in Polen geboren, aber in Schlesien, und ich bin der Meinung, dass ich kein großer Pole bin als Schlesier. So scheint es mir. Auf der anderen Seite: Ich bin nach Deutschland gefahren, aber ich fühle mich nicht so, als wenn ich ein großer Deutscher wäre, also ich würde mich nicht nach außen als Deutschen darstellen, nicht wahr? Ich bin der Meinung, ich bin hier geboren und hier ist mein Platz [...] Denn Schlesien, man weiß es nicht so richtig, die Geschichte ist so verlogen, so getürkt, dass man es einfach nicht weiß. Die einen sagen, dass Schlesien 900 Jahre lang deutsch war, die anderen 600 Jahre, also, woher kommt Schlesien denn jetzt eigentlich? Wem gehört es? Vielleicht ist Schlesien wie der Vatikan oder andere Staaten, die in andere einverleibt sind. Man weiß nicht, wie es ist. Sie haben uns so betrogen, dass man nicht weiß, woher wir sind.«

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In einem anderen Fall (Jakub) impliziert die Variante gerade einen Verzicht auf jegliche ethnische Zugehörigkeit im symbolischen Sinne. »Oberschlesisch« steht hier vielmehr für eine pragmatische Lebensorientierung: »Ich fühle mich als Schlesier. Denn mit meiner Sprache… Wenn ich [in Polen] zum Amt gehe, da komme ich auch mit meinem Polnisch nicht so ganz klar, aber ich kann halt nicht anders sprechen [...] Und wenn mich einer fragen würde, welche Sprachen ich kenne, dann sage ich: schlesisch und zwei so nebenbei, ich kann mich mit jedem irgendwie verständigen [...] Ich fühle mich als Schlesier, nicht als Deutscher, nicht als [Pole], auch nicht als Europäer, weil… du musst ja eh alles für dich selbst verdienen; um was zu haben, musst du arbeiten, egal ob du das so oder so machst – du musst arbeiten, verstehst du, ganz alleine, und wenn du allein nicht klar kommst, hilft dir keiner [...] Und ich sage dir, ich fühle mich halt als Schlesier, egal ob sie mir das glauben oder nicht, egal ob es diese schlesische Nationalität gibt oder nicht, ich fühle mich als Schlesier von Mutter, Vater, Opa, Oma40, verstehst du...«

Diese nicht-symbolische Deutung wird noch einmal klar, wenn Jakub zwischen einer patriotischen (nationalen) und einer pragmatischen (seiner eigenen) Orientierung innerhalb seiner Familie unterscheidet: »Und wie jeder einzelne Schlesier es vorhat, etwas im Leben zu haben. Das ist das, weißt du, mich treibt es an, dass man etwas hat, einfach. Ich war schon so von klein an… ich meinen nicht, dass ich es angeboren hätte, denn zum Beispiel ein Onkel mütterlicherseits war in den [Oberschlesischen] Aufständen, der zweite war im Krieg, und der Vater meiner Mutter ist im Krieg gefallen, ihre Mutter ist hier ums Leben gekommen, sie waren während des Krieges Waisen. Ihre Kinderjahre, was sie so erzählte, das war schlimm.«

Und abschließend noch einmal zu Paweł – in der folgenden Passage zeigt sich, dass »schlesisch« hier im Grunde weniger eine ethnische Kategorie mit spezifischen Eigenschaften ist als eine Frage der lokalen Bindung, der Bezeichnung eines vertrauten »Zuhauses«, einer Heimat. Dieses Bewusstsein gewinnt Paweł durch sein transnationales Leben und Kontakt zu Menschen anderer Herkunft. Die Beispiele einer einfachen »Zwiebel« oder »Taube« verdeutlichen die Bedeutung des »schlesisch«: »Und Sport, Sport interessiert mich. Ich bin Fan von allen, von Polen, Deutschen, Spaniern, wer der beste ist, von dem bin ich Fan. Ich selbst war auch ein guter Sportler, ich habe Fußball gespielt. Bei mir gibt es so was nicht: Ich bin Deutscher, Pole, ich bin Russe, jeder ist dieser Nationalität, wo er geboren wurde. Als ich da gearbeitet habe, da war ein Usbeke, aus

40 Im Original deutsch.

302 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN Usbekistan. Armer Kerl: Er aß nur Brot, Zwiebel und trank Milch. Er aß trockenes Brot. Ich sage ihm: ›warum kaufst du dir keinen Schinken?‹ Er sagte zu mir: ›Weil es nicht mein Schinken ist.‹ Und später, als er so aß, habe ich selbst angefangen diese Zwiebel zu essen. Denn ich habe gelesen, dass es gesund ist und schon aß ich Zwiebel. Schinken habe ich mir auch gekauft, das ist klar […] Ich denke vor allem, dass ich in Polen geboren wurde, aber in Schlesien, und ich finde, dass ich nicht so ein großer Pole bin wie ein Schlesier, so scheint es mir. Auf der anderen Seite bin ich nach Deutschland gefahren, aber ich fühle mich nicht als großer Deutscher, oder würde mich nicht präsentieren, dass ich angeblich Deutscher bin, nicht? Ich finde, ich bin hier geboren und hier ist mein Ort. - Also Sie würden sagen, ein Schlesier, aber eher ein Pole, ja? Ja klar, doch da, wo der Mensch geboren wurde. Ich habe Tauben. Wenn ich eine nach Holland oder Deutschland schicke, dann kommt sie zu mir zurück. Warum? Warum bleibt sie nicht da irgendwo sondern kommt zu mir zurück? So wie der Mensch, das ist das gleiche. Da wo der Mensch geboren wurde, da zieht es ihn hin, und vor allem da und deswegen vor allem [bin ich] Schlesier, ja.«

»Weder noch« – übernationale Konzepte Die Vertreter der dritten Variante verzichten – teils bewusst, teils unbewusst – auf nationale Kategorien und verwenden stattdessen zusätzlich zum Label »oberschlesisch« europäische bzw. universelle Beschreibungen als »Mensch«, »Grenzmensch«, »Freund«, »Europäer« usw. Nicht-ethnische Kategorien der Selbstbeschreibung verweisen oft darauf, dass die Befragten im transnationalen Raum viele Identifikationsquellen finden, wobei es aber nicht um Ethnizität geht, sondern z.B. um Freundschaften, gemeinsame Interessen, berufliche Identitäten, kosmopolitische oder universelle (d.h. nicht ethnisch definierte) und religiöse Selbstverortungen. Dies ist charakteristisch für den praktisch »gelebten« Transnationalismus. Der Befragte Marcin etwa verwendet das »Oberschlesische« für die Beschreibung einer »glokalen« Identität (im Sinne von Roland Robertson, 1992), die hier das Regionale bzw. das Lokale mit dem Universellen (hier das Label »europäisch«) kombiniert: »Wenn jemand von mir eine hundertprozentig befriedigende Antwort in Sachen Nationalität kriegen möchte, dann sage ich einfach: ich bin Europäer, ich fühle mich als Europäer. Dieses Konzept des vereinten Europas, mit einem weiten Horizont [...] Umso mehr, da ich selbst diese Erfahrung gemacht habe. Es ist etwas anderes, ob man in einem kleinen Dorf wohnt, oder ob man in eine große [...] Stadt fährt. Man arbeitet mit verschiedenen Nationalitäten, manchmal ist das schwierig, aber es bringt viel Befriedigung und es sind dann bestimmte Erfahrungen für später […] Also wenn ich mich direkt festlegen müsste, dann würde ich sagen, dass

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ich mich eher mit dieser Heimat41 – Schlesien – verbunden fühle. Egal ob sie jetzt polnisch, schlesisch oder tschechisch ist, vor allem liegt sie in Europa.«

Für den Rückgriff auf das Label »Europäer« gibt es verschiede Erklärungen. Im Fall von Marcin ist es ein Beispiel für das »Reflektieren von Hybridität« durch einen Geschichtslehrer. Werbner (1997) macht bei seiner Untersuchung über hybride Identitäten auf die Problematik aufmerksam, dass die Reflexionsfähigkeit der Befragten je nach Bildungsstatus variiert. In diesem Kontext unterscheidet er zwischen unbewusster, »organischer« und bewusst »reflektierter« Hybridität. In diesem Sinne stellt sich Marcin im Interview als bewusst reflektierender europäischer Kosmopolit dar – seine »private« hybride Identität prägt dabei seine berufliche Rolle als Gymnasiallehrer der Fächer Geschichte und Sozialkunde. Eine andere Variante des »weder-noch« vertritt der Befragte Jan. Für ihn sind ethnische Kategorien zweitrangig. Die nationale Unsicherheit wird hier, anders als in der zweiten Gruppe, mithilfe der universellen Auffangkategorie »Mensch« gelöst. Dabei handelt es sich hier nicht um ein »Herunterspielen« des Nationalen oder eine »strategische Entdramatisierung« nationaler Identität (Schmidtke 2004), wie es oft auch bei »anderen Deutschen« (wie Mecheril (1994) deutsche Staatsangehörige »mit Migrationshintergrund«, bezeichnet, die sich visuell sichtbar von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden) als typischer Umgang mit Diskriminierungen anzutreffen ist. Diese Unbefangenheit zeigt die folgende Passage: »- Sag mir, als wer fühlst du dich im Allgemeinen, wie würdest du dich selbst bezeichnen? Als wer ich mich fühle? - Hmm. [Als] Pole. Mit deutschem Pass. Ich weiß nicht, wie ich mich bezeichnen sollte... ich bin Jan. Ich fragte immer Holländer: wie seht ihr mich? Und einer sagte: »ein Pole, der neu ankommt, das ist ein Pole. Holländer ist ein Holländer«. Und sie haben mir gesagt, egal wir perfekt ich holländisch sprechen würde, obwohl ich in Holland leben würde, alles, werde ich sowieso Jan sein, ich werde nicht ein Holländer sein, nicht. Du wirst es nie sein, nie… ich bin, werde zu keinem Holländer, denn ich wurde hier nicht geboren, ich bin Jan, nicht? Und so weiß ich nicht, ja… - Und was heißt das, dass du Jan bist? Ganz ich, so wie sie mich kennen, nicht? Einfach, dass ich sogar ein Russe oder Ukrainer sein kann, aber sie haben ihn kennen gelernt als Jan – ein guter Mensch, oder so was und es ist nicht wichtig wie, woher er kommt, was er ist, es zählt sein Wert als Mensch, ich weiß nicht, ich empfinde es so, wie sie mir das erklärt haben.«

41 Das Wort hajmat (nach polnischer Orthographie) ist Bestandteil der oberschlesischen Umgangssprache.

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Dass die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit, insbesondere in der jungen Generation, abnimmt, zeigt sich in allen untersuchten Fällen. Die ethnische Zugehörigkeit im traditionellen Sinne, die also nicht wie hier lediglich als »Sprungbrett« für andere Formen der Selbst-Identifikationen gedacht ist, ist in der Regel eine zweirangige Identitätskomponente. Mehrere Interviewpartner distanzieren sich vom nationalen Patriotismus – unabhängig davon, wie sie sich national verorten. Ein Beispiel dafür ist die folgende Passage bei Tomek: »- Eine kurze Frage nach der Nationalität. Hat es… diese Kategorien irgendwelche Bedeutung und… fühlen Sie sich…? Nein, sicher bin ich kein Patriot, der für Polen sterben könnte, denn ich denke, dass Polen mir nichts Interessantes gegeben hat… ich weiß nicht. Ja, und sicher würde ich nicht als Freiwilliger für Polen kämpfen. Als Deutscher auch nicht. - Verstehe, es hat für Sie keine Bedeutung. Nein, nein. Nur wenn man die Nationalität angeben muss, ein Stück Papier, aber so im Kopf… - Uns was würden Sie auf diesem Stück Papier schreiben? Polnisch. - Polnisch. Hier bin ich immerhin geboren. - Aber das ist auf dem Papier, aber wenn ich einfach so frage, dann hat es für Sie keine Bedeutung? Es hat keine Bedeutung, ob Deutscher oder Pole.«

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die jungen oberschlesischen Migranten nicht von ihren »nur-polnischen« Freunden (die nach Großbritannien migrieren), die ebenso einen pragmatischen Umgang mit nationalen Kategorien zeigen. (z.B. Eade u.a. 2006: 15f.). »Sowohl als auch« Die Vertreter des hier mit »Sowohl als auch« apostrophierten Typs verstehen sich als eine Mischung aus den Kategorien deutsch und polnisch. Beiden Kategorien nehmen dabei von Fall zu Fall unterschiedliche Bedeutungen an. Zum einen spielen hier die historischen Aspekte eine Rolle. Sie klingen an in der ethnischen deutschpolnischen Familien- und Regionsgeschichte, die in der Familie und sozialen Umfeld erinnert wird, wie z.B. Hartmuts Schilderung zeigt: »- […] Sie haben betont, dass Sie darauf nicht verzichtet haben, dass es für sie wichtig, dass Sie auch die polnische haben? [gemeint ist hier der Nicht-Verzicht auf die polnische Staatsangehörigkeit.] Ja, es ist wichtig für mich.

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- Also so von Gefühlen her, emotional? Auch. Das ist dieses zweite Bein, dieses ›Chamäleon‹. Chamäleon ist schlecht formuliert… diese zweite Seite meiner Familie. Das was ich Ihnen früher gesagt habe, dass meine Mutter mehr in diesem germanischen Kontext erzogen wurde, weil sie im Zentrum von Opole lebte, und der Vater lebte hier, in Zakrzów, also sie, die ganze Familie war mehr in diesem oberschlesischen Geist erzogen […] Ich glaube, dass es auch eine symbolische Dimension hat, und zwar diese, dass es auch so ist ist, dass meine erste Sprache Deutsch war, und dass meine Eltern deklarierte Deutsche waren und dass ich von Geburt – ich meine, Entschuldigung, meine Großeltern mütterlicherseits, die bis zu 50ern auf den Koffern gesessen haben und nur darauf gewartet haben, von hier abhauen zu können, denn sie waren sich nicht sicher, was kommen würde. Ja, da die Familie sehr groß war und manche auch aus dieser Region kamen, also es waren solche, die sich nicht beeindrucken ließen: »als uns Adolf in den 20ern ausgesiedelt hat…‹ […] Also diese Seite der Mutter kommt von so was. Obwohl es auch solche gab, die obwohl sie Rassendeutsche waren: ›Ich bleibe hier und damit basta, denn ich habe hier meine sechs Stunden und es kann noch ein Chinese und Russe kommen, mir ist das egal.‹ Und ich wollte damit sagen, dass wir, als Familie, wir haben so eine seltsame... Ich würde nicht sagen wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber wir haben schon zwei Seiten. Denn in den älteren Generationen, von der Seite, mütterlicherseits, da waren Leute, die mehr in dieser oberschlesischen Tradition erzogen waren, später änderte sich das allmählich ein wenig: In die Familie kamen Leute, die mehr mit dieser germanischen Kultur verbunden waren, und das hat zu dieser Situation bei mir geführt, wo die Mutter in der germanischen Kultur aufgewachsen ist, und der Vater – obwohl er nur ein paar Meter weiter geboren ist – war mehr in dieser polnischen Kultur. Also ich habe nicht so eine klare Meinung darüber, ob ich so oder so bin. Aber vielleicht ist das besser so, denn wenn man hier, in Oberschlesien lebt, uns hat mal jemand es so gesagt, wenn in Polen… man lernen wollte, wie man mit verschiedenen Nationalitäten zusammen lebt […] wir leben hier schon seit Jahrzehnten, Jahrhunderten in so einem Vielvölkerumfeld und keiner braucht uns zu belehren, wie wir uns zu verhalten haben, denn wir verhalten uns normal. Wir wissen, dass an Weihnachten die aus Ukrainer das haben, oder jenes auf dem der Schlesier. Wir tauschen das aus. Wenn man Wodka getrunken hat, dann aus Gläsern [200ml Glas], denn in Litauen tut man es so. Seit Jahrhunderten sieht es so aus.«

Zum anderen ergibt sich die deutsch-polnische Identität durch die Erfahrung der Identität und Bindungen, die durch den Alltag in zwei »Welten« entstehen. Der Befragte Bogdan beispielsweise hat sich als einer der wenigen Interviewten ein »zweites Zuhause« in Deutschland aufgebaut: er hat seit elf Jahren ein Normalarbeitsverhältnis an einem einzelnen Ort. Gerade sein Fall macht die Bedeutung von lokalen Bindungen für die soziale und symbolische Inkorporation deutlich. Die Geborgenheit »vor Ort« ist der Aspekt, der den anderen Interviewpartnern im Ankunftskontext fehlt – und die Bedeutung erklärt, die sie der lokalen Zugehörigkeit im Herkunftskontext beimessen.

306 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN »Es ist bequem, klar, denn es ist klar, es ist so, als ob es da schon mein zweites Zuhause wäre, nicht? Wenn ich dahin komme, dann habe ich da schon meine Sachen, sie sind da, nicht? Und wenn die aus der Firma kommen, sehe ich, dann haben sie einzelne Töpfe, sie sitzen auf Koffern, ja […] Ja, das ist für mich gut, dass ich dahin komme, dass ich weiß, dass es so ein dauerhafter Ort ist, nicht? Wenn ich etwas erledigen muss, dann weiß ich schon, wo alle Büros in der Nähe sind, Geschäfte, was ich immer brauche: ich steige in den Bus ein, ich fahre zur Stadt und es ist erledigt, nicht? Und wenn ich wäre: heute hier, morgen da und übermorgen noch woanders, dann würde mir so ein Leben nicht gefallen…«

Bogdan versteht seine polnisch-deutsche Zugehörigkeit als alltägliches Leben in zwei Welten, das hier die Metapher »zu Hause« annimmt: »Ich fühle mich sowohl ›hier‹ als auch ›da‹, das muss ich ehrlich sagen, ich fühle mich sowohl als Pole, na Pole... Oberschlesier, ja, und da fühle ich mich auch als Deutscher... ja, und... Ich empfinde das so, dass ich hier und da bin, hier ist mein Zuhause und da ist mein Zuhause...ich mache nicht so einen Unterschied, dass es in Polen sein müsste, dass ich mich in Polen besser fühlen würde, oder so was ähnliches, mir macht das keinen Unterschied, nein. Diese Situation ist gut: dass man fahren kann, dass man fahren konnte, dass man arbeiten kann, denn wenn es nicht ginge, dann wovon sollte man leben in heutigen Zeiten, nicht? Ja… mir macht das keinen Unterschied, ob es Polen und Deutschland ist, nicht? Es ist alles gleich, ich fühle mich genauso da wie hier… Das einzige was fehlt, ist diese Sprache, dass man diese Sprache… man redet, aber es ist nicht so, wie es sein sollte, man ist zu spät gefahren, zu alt, um die Sprache erlernen zu können.«

Auch der Befragte Hartmut repräsentiert eine transnationale symbolische Verortung, die einen historisch-imaginierten und praktisch-gelebten Transnationalismus miteinander kombiniert: So bezieht sich seine deutsch-polnische Verortung auf übermittelte (wie oben ausführlich dargestellt) und reale Aspekte, hier auf das durch die deutsche und polnische Arbeitskultur geprägte Berufsleben: »Es gibt die beiden [Nationalitäten] und sie können miteinander leben [...] Ich sage mal so: Dieses eine, die sprichwörtliche deutsche Genauigkeit, ist in den Boden der polnischen Wirklichkeit verpflanzt. Das kommt daher, dass ich für ein polnisches Unternehmen arbeite. Und umgekehrt… ich habe so etwas ›Ulanenhaftes‹42 bei Entscheidungen...«

42 »Ulanenhaftigkeit« (ułaĔskoĞü) bezieht sich hier auf ein historisches polnisches Autostereotyp, das u.a. Eigenschaften wie Temperament, Spontaneität, Mut und Eigensinnigkeit umfasst.

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Nicht nur ein Nebeneinander der beiden Elemente sondern auch das »Übersetzen« zwischen den beiden – eine Brückenfunktion – kann die deutsch-polnische Identität und Praxis ausmachen: »Aber andererseits sind solche Fahrten [wyjazdy], für eine bestimmte Zeit, auch etwas Gutes, weil man sich umsehen kann, wie es anderswo aussieht, wie es funktioniert, man kann das auf seinen eigenen Grund und Boden übertragen, und dann unterstützt das, oder, oder, bereichert und nationales oder kulturelles Wissen. Um so mehr als wir, da wir an einem Berührungspunkt zweier Kulturen leben, praktisch sowohl mit der deutschen Kultur und der polnischen Kultur auf dem Laufenden sind, de facto stellen wir ein gewisses Verbindungsstück dar, na, weil, indem wir hier vor Ort sind, muss man diese deutschen Interpretationen übertragen, oder sagen, was das eigentlich heißen soll; und den Deutschen wiederum erklärt man die Dinge, die es in Polen gibt, auch das muss man entsprechend interpretieren, ihnen das nahe bringen, weil das, was sie sehen, nicht immer das ist, was sein sollte, das, was die polnische Kultur aussendet, welches Signal sie aussendet, sie können das nicht immer entsprechend interpretieren.« (Sigmund)

Ein solches Selbstbild ist charakteristisch für viele Migranten, die an der Grenze zwischen zwei nationalen Kulturen leben. Kazimierz Wóycicki (2000: 265) z.B. untersuchte polnischsprachige Personen in Düsseldorf und fand bei vielen der Befragten eine vergleichbare Selbstwahrnehmung – sie empfanden sich als Bestandteil einer »Brücke« zwischen Deutschland und Polen, als »Botschafter Polens« in Deutschland und umgekehrt. Eine doppelte nationale Orientierung der Individuen in einem nationalen Kontext bedeutet allerdings auch, sich vor der Mehrheitsgesellschaft ständig erklären/rechtfertigen zu müssen, denn als ein Doppelstaatler und Pendelmigrant gehört man immer noch zu einer »verdächtigten« Minderheit, wie die Szenen vehementer Rechtfertigungen Ludwigs anschaulich zeigen: »Ich meine, Nationalität, ich kann immer sagen: polnisch-deutsch, deutsch-polnisch, wie es geschrieben wird ist egal. Ich würde sogar nicht sagen […] dass ich nur ein Deutscher bin, denn ich bin in Polen geboren und gar… ich meine in Polen – in Oberschlesien, sagen wir es kurz: welches zu Polen gehört. Ich habe damit kein Problem wenn man mir sagt: ›Du, warum kommst du nicht nach Deutschland, oder so was?‹ Denn manchmal, in solchen Dialogen mit Deutschen, sage ich: ›Hör mal, wie viele Jahre lebst denn du in deinem Ort?‹ ›Ja, mein Opa hat da schon gelebt, und die Oma und die Eltern, und ich wohne da auch.‹ ›Du hast Dir aber ein Haus gebaut.‹ ›Ja, aber im gleichen Ort.‹ Und ich sage: ›Und warum hast du in dem gleichen Ort das Haus gebaut, warum nicht bei Frankfurt oder irgendwo, wo du es näher zur Arbeit hättest?‹ ›Denn da haben schon alle gewohnt.‹ Ich sage: ›Na siehst du, mein Opa lebte da [Anm.: in Oberschlesien], mein Urgroßopa lebte da, mein Opa, meine Eltern lebten da.‹ ›Aber nach dem Krieg, warum sind sie dahin gegangen? Weil sie zu den Siegern gehen woll-

308 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN ten!‹ Und ich sage: ›Nein, nein, hör mal zu, das ist nicht so, siehst du, mein Opa, mein Urgroßopa.‹ Und wieder von Anfang an: ›Mein Urgroßopa lebte da, Opa lebte da, meine Eltern lebten da und warum sollten sie das zurück lassen? Das war ihr Familienhaus, warum sollten sie es verlassen?‹ […] Ich habe kein Problem damit, sage ich immer. Warum soll ich nicht die doppelte Staatsangehörigkeit haben, wenn meine Eltern in Deutschland geboren waren, du bist geboren in Deutschland und dass ich in Polen geboren wurde, was kann ich dafür, das ist nicht meine Schuld. Und deswegen, deswegen habe ich die doppelte Staatsangehörigkeit und ich schäme mich nicht deswegen, dass ich die polnisch-deutsche, oder deutsch-polnische [Staatsangehörigkeit habe], das hat keine Bedeutung. Ich habe die deutsche, weil ich denke, dass die Eltern es verdient haben, dass ich die weiter aufrechterhalte, dass sie mir die weitergeben, wofür ich mich nicht schäme. Auf der anderen Seite habe ich das Recht auf die polnische Staatsangehörigkeit, warum sollte ich darauf verzichten, warum? Ich habe keinen Grund dazu. Ich schäme mich auch nicht, dass ich in Schlesien geboren wurde und es gehört zu Polen und ich habe hier – sagen wir – Freunde, hier, Bekannte, Freund, Familie. Und gerade in diesen Zeiten, wo wir ein gemeinsames Europa sind. Warum, das hat doch zurzeit eine große Bedeutung. Also ich sehe keins… […] Ich denke, dass andere es auch so empfinden sollten, und uns nicht wie irgendwelche Tyrannen wahrnehmen sollte, oder als Leute, die Deutschland überschwemmen [lacht]. Sie haben uns die Möglichkeit gegeben, hier zu arbeiten, wir haben sie nicht dazu gezwungen, also…«.

Auch der Emigrant Marek kann bzw. will nicht seine polnische Identifikation »ablegen«; statt dessen konstruiert er eine ethnisch hybride Identität, die seine Herkunft und seine engen sozialen und kulturellen Verbindungen nach Polen einerseits und sein jetziges Leben und seinen Zukunftsentwurf in Deutschland andererseits manifestiert: »Ich fühle mich halb als Oberschlesier, halb als Pole und halb als Deutscher. - So eine Mischung, in einer Person drei? Ich habe ein Jahr lang in Deutschland mit Tschechen gearbeitet, die haben auch deutsche Pässe, wie wir hier in Schlesien. Und ich habe ein Jahr mit denen gewohnt, und als ich mal zu Bekannten gefahren bin, haben die gesagt: ›Was machst du denn? Du redest schon tschechisch!‹ Und er [einer der Tschechen] ist mit Bekannten Bier trinken gegangen, und die haben zu ihm gesagt ›Du redest schon polnisch!‹ Ja, so sind mir tschechische Wörter dazwischen gekommen. - Aber wenn es um die Identität geht, dann alles ein wenig? Polnisch, weil ich hier erzogen wurde, das ist automatisch… - Und zur polnischen Kirche nicht? Das alles steckt so in dir, in jedem. Wenn du hier aufgewachsen bist, die Sprache kannst du perfekt und du fühlst dich auch als Pole. Es gibt Leute, die kein Deutsch können, aber Polnisch reden sie grundsätzlich nicht. Der kann Deutsch mittelmäßig, aber auf Polnisch flüstert er höchstens mit dir. Damit die Deutschen es nicht hören. Und die Deutschen lachen darüber.

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Ich habe mal so einen erlebt, der Typ gab sich als großer Bayer aus, Polnisch hat er gar nicht gesprochen. Dann haben sie ihn ausgelacht.«

Das Bewusstsein seiner Herkunft, seine Sprache, seine Empfindungen machen für Marek seine Zugehörigkeit zum Polentum aus. Diese stellt allerdings in keinem Widerspruch zu anderen Zugehörigkeiten; das »Ablegen« von Nationalitäten im Zuge von Migration ist in Mareks Augen lächerlich. »Entweder-oder«: polnisch Der Typ »Entweder-oder« steht für eine ausschließlich nationale Identifizierung als entweder »nur deutsch« oder »nur polnisch«. Die deutsche Spielart dieser Identifizierung bei den befragten Migranten wurde eingangs bereits ausführlich besprochen. Die ausschließliche Selbstbeschreibung als Polen wurde in der Stichprobe bei weiblichen und jungen Befragten angetroffen. Letztere beschreiben sich souverän als »Polen«. Ein Beispiel dafür ist Mariola: »… eindeutig polnisch. Ich fühle mich als Polin [...] Deutsche Herkunft, aber polnische Nationalität. [...] Vielleicht nur wegen dieser Zeit, weil ich hier meine Ausbildung bekommen habe und daher einen gewissen Respekt habe. Ich würde das mit den Eltern vergleichen, denn nicht die Mutter, die dich geboren hat, ist wichtig, sondern die, die dich erzogen hat. Darum sage ich, wenn sie nach der Nationalität fragen, egal wo ich bin, sage ich immer ‚Ich bin Polin [...]’ Man kann auch sagen, dass das hier meine – wie man sagt – Heimat [hajmat] ist. Meine Eltern zum Beispiel sehen das anders. Denn sie haben erlebt, hier war Polen, die Annexion, also sprach man Polnisch, dann kam die deutsche Annexion und sie gehörten zu Deutschland. Also diejenigen, die hier in der Zeit in Deutschland [sic] aufgewachsen sind und zur deutschen Schule gegangen sind, die hielten sich für Deutsche. Und wir vielleicht, die wir hier aufgewachsen sind, als das schon polnische Gebiete waren – wir halten uns für Polen, so ist das halt. Im Grunde kann ich kein Deutsch, mit Deutschland verbindet mich nichts.«

Die Befragten dieser Kategorie machen ihre polnische Identität weiterhin an der Tatsache fest, dass ihr gesellschaftlicher Lebensmittelpunkt in Polen liegt (was freilich für die ganze Gruppe charakteristisch ist.) So erfüllt z.B. Darek theoretisch durchgehend in allen Lebensbereichen die Merkmale eines transnationalen Migranten; wenn es darum geht, seine eigene Nationalität zu deklarieren, gibt er jedoch eindeutig »polnisch« an, denn: »Ich habe hier Familie, Freundin, Freunde, Wettfahrten […] das ganze Umfeld, Bekannte, Umgebung – man kennt alles, viel besser, in Polen sind die Leute so… in Ordnung, und in Polen leben Polen.« Gerade diese Fallanalyse zeigt, wie bedeutend die tatsächliche Praxis der Akteure für die Bestimmung der Transnationalität ist – ob eine Person die Merkmale eines transnationalen Lebens erfüllt, hat nur bedingt damit zu tun, ob sie sich bewusst selbst als transnational beschreiben. Im Fall Darek war der Zugang zu seiner

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subjektiven Welt methodisch (aufgrund seiner Wortkargheit) sehr schwierig. Seine nationale Selbst-Deklaration entspricht nur teilweise seiner alltäglichen Lebenspraxis – erst die Analyse der gesamten alltäglichen Lebenspraxis in Polen und in Deutschland zeigt, dass Darek – entgegen seiner eindeutigen Selbstdeklaration als Pole – durchaus auch symbolische Bindungen zu Deutschland aufgebaut hat. Beispielsweise spricht Darek gut Deutsch, sieht ausschließlich deutsche Fernsehsender, auch wenn er in Polen ist (weil die Deutschen qualitativ besser als die polnischen seien), er pflegt in Deutschland Freundschaften. Mit dieser Feststellung soll nicht impliziert werden, dass deutsche Sprachkenntnisse oder Freundschaften zu Deutschen der Selbstbeschreibung als »eindeutig polnisch« widersprechen; mit den genannten Bindungen unterscheidet sich Darek jedoch von den zahlreichen »NurPolen«, denen solche Bindungen fehlen – und eben auch von Oberschlesiern mit deutscher Staatsangehörigkeit, die sich als »Deutsche« deklarieren, jedoch ebenfalls keine oder kaum Bezug zur deutschen Gesellschaft haben. Somit wird durch die Position Dareks ein weiteres Mal die Relativität nationaler Selbstbeschreibungen hervorgehoben. Ein weiteres Beispiel dafür sind die Befragte Renata und ihr Ehemann. Renata, die in den Niederlanden arbeitet, ist sozial und kulturell durchaus eine transnationale Migrantin; sie spricht Niederländisch, pflegt Beziehungen in den Niederlanden und gibt an, sich eine dauerhafte Auswanderung in die Niederlande gut vorstellen zu können. Allerdings sieht auch sie sich eindeutig als »Polin« – was sie auch im Falle einer Auswanderung dorthin bliebe. Ihr Mann verorte sich dagegen subjektiv eindeutiger in Polen, wie Renata schildert: »Er spricht Deutsch, spricht gut, aber irgendwie ist es so, dass er entschlossen ist, zurückzukehren. Hier ist alles für ihn anders, besser, leckerer, das ist wohl eine psychologische Einstellung und mit dieser Einstellung lebt er so. Er lässt gar nicht den Gedanken zu, dass er da leben könnte.«

Renata dagegen will sich eine Option auf eine Zukunft in den Niederlanden erhalten, indem sie Sprachkurse besucht, Freundschaften im Ankunftskontext pflegt und eine alternative berufliche Zukunft in den Niederlanden entwirft. Trotzdem identifiziert sich Renata eindeutig als Polin – was mindestens zum Teil Ausdruck einer reactive ethnicity ist, wie die folgende Aussage verdeutlicht: »Ich meine... hier fühle ich mich mehr ›bei mir zuhause‹. Was das betrifft, das ist in jeder Hinsicht ein totaler Komfort, hinsichtlich der Nationalitätsfrage […] Und dieser Kontakt, wenn man selbst offen ist, dann triffst du sicher viele Leute, die dir klar machen werden, dass du eine Polin bist. 200-mal sind sie nett zu dir, und wenn dir einmal etwas nicht gelingt, dann sind sie imstande, dir zu suggerieren, dass du eine Polin bist und nicht mehr zu uns gehörst.

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Es gibt auch Leute, die dir gegenüber nicht so sind, die so freundlich und nett sind, dass du sie ruhig Freunde nennen kannst.«

Auch für den Fall, dass sie dauerhaft auswandern sollte, sieht sich Renata eindeutig als Polin: »Ob ich hier oder da sein werde, ich bleibe Polin.« Dabei konstruiert sie ihr Polentum interessanterweise in Opposition zum Schlesiertum«: Renatas Lebensprojekt ist ein sozialer Aufstieg durch Bildung und Lebensstil – im Gegensatz zu Oberschlesiern, die in Renatas Augen nur über ihre »Eurohäuser«43 sprechen können, »kurzsichtig« seien und keine Aspirationen hätten. Sie führe mit ihnen allenfalls »nette Gespräche über Renovierungen des Hauses oder Kochen«. Als stark statusorientierte Person bewegt sich Renata sozial außerhalb der Community der oberschlesischen Pendler und fühlt sich ihr nicht zugehörig. Vielmehr misst sie ihre Ambitionen an der polnischen (und niederländischen Mehrheitsgesellschaft). Wie bereits gezeigt, ist Renatas eindeutige Selbstidentifikation als Polin – und nicht als Oberschlesierin im ethnischen Sinne – vor allem auch ein Versuch, sich von einer stigmatisierten sozialen Klasse (im Sinne von Gordons Begriff der ethclass) zu distanzieren und soziale Mobilität zu demonstrieren. Hier zeigt sich einmal mehr, dass ethnisch-nationale Identifizierungen oder Distanzierungen auf komplexe Weise mit anderen persönlichen Identitätskomponenten verbunden sein können: Im Grunde ist Renatas Selbstbeschreibung als »Polin« nicht weniger instrumentell als die von der polnischen Mehrheitsgesellschaft oft als solche kritisierte Selbstbeschreibung anderer Oberschlesier als »Deutsche«. Zusammenfassung: Ethnische Konstrukte44 Die vorgefundenen ethnischen Konstrukte werden auch in anderen Studien zur ethnischen Identität von Oberschlesiern oder auch anderen Minderheiten in Grenzgebieten bzw. Migrantengruppen bestätigt (Mecheril 1994; Kłoskowska 1996; Pallares 2003). Hier wird deutlich, dass die oberschlesischen Migranten ein recht universelles Repertoire an ethnischen Identitätskonstrukten benutzen, die von monolokal über bi- bis hin zu multilokal reichen. Ethnische Identität stellt in dem Sinne ein universelles Phänomen dar, dessen empirische Ausprägung je nach Zeitverlauf, gesellschaftlichen Strukturen und Interaktion variiert (vgl. Heckmann 1997: 53f). Für uns ist aber in erster Linie der Zusammenhang zwischen den Identitätskonstrukten und der grenzüberschreitenden Lebensweise interessant. Hier spielen in die

43 Siehe Fn. 24, S. 10. Renata selbst verwendet diesen Begriff nicht, aber aus dem Kontext ist klar, dass sie auf diese Art von Statussymbolen Bezug nimmt. 44 Die folgenden Abschnitte enthalten Ergebnisse, die auszugsweise in Palenga-Möllenbeck (2007) veröffentlicht wurden.

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Vergangenheit zurückreichende Faktoren wie Familien- und Regionalgeschichte, Grenzkultur und Identität, Emigration bis heute eine wesentliche Rolle (historischimaginierter Transnationalismus); zugleich hat die in den Neunzigerjahren einsetzende Migrationspraxis ihrerseits eine eigene identitätsstiftende Funktion entwickelt (»gegenwartsbezogener Transnationalismus«), die wiederum mit den historischen Elementen eine Verbindung eingeht. Beispiele sind hier der Gebrauch von Sprachen bzw. Dialekten (beide Sprachen werden zu Alltagssprachen) oder der Medienkonsum (die meisten Befragten sehen auch in Polen vorwiegend deutsche Fernsehsender). Die Befragten geben an, im Berufsleben einen »deutschen Arbeitsstil« zu pflegen und kultivieren zugleich Autostereotypen als »polnischer Alleskönner« oder »oberschlesischer Workaholic«, als gleichzeitige Repräsentanten von »slawischer« Spontaneität und »deutschem« Arbeitsethos. Die heterogenen Ausprägungen mono- bzw. plurilokaler Identitäten der Migranten werden von verschiedenen, teilweise gegenläufigen Prozessen beeinflusst: Einerseits lässt sich das bekannte Phänomen einer im Laufe der Zeit zunehmenden Inkorporation in den Ankunftskontext (Sprache, Alltagswissen usw.) beobachten, das sich entsprechend auf die Identifikation auswirkt. Andererseits wirkt die spezifische Lebens- und Arbeitspraxis dieser konkreten Gruppe einer solchen Inkorporation und Identifikation mit dem Ankunftskontext entgegen: Kaum ein Pendelmigrant steht in einem konventionellen Arbeitsverhältnis, die meisten arbeiten für Zeitarbeitsfirmen, polnische bzw. oberschlesische Unternehmen oder in mehr oder weniger geschlossenen ethnischen Kleingruppen innerhalb der Belegschaften deutscher Unternehmen. Die Einsatzorte wechseln meist mehrmals im Jahr, sodass die Migranten kaum soziale und kognitive Bindungen an den Ankunftskontext aufbauen können; vielmehr stärkt gerade die Flüchtigkeit des Ankunftskontexts die lokalen Bindungen im Herkunftskontext, in den sie regelmäßig zurückkehren. Ein weiterer Faktor, der die Identität der Migranten mitgestaltet, sind die Reaktionen, die sie von »Sesshaften« im Herkunfts- und Ankunftskontext erfahren. Einerseits gibt es hier wie dort ein ansatzweise positives Klima für hybride Identitäten; in Polen etwa z.B. die Anerkennung der deutschen Minderheit, in Deutschland die überwiegend positive Konnotation von Schlagworten wie Flexibilität, Europäisierung, Pluralisierung usw. So argumentiert etwa Ewa Morawska, dass transnationale Phänomene nichts Neues seien, sondern es lediglich immer mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wahrnehmungsbereitschaft dafür gebe (Morawska 2003: 33). Andererseits sind die Migranten im Alltagsleben wie im politischen Diskurs noch immer mit einem dominanten nationalen Denken konfrontiert: Nichtmononationale Identitäten und Lebenspraktiken von Migranten werden immer wieder in Frage und unter den Generalverdacht der Illoyalität gegenüber einer »Leitkultur« gestellt; die mobile Minderheit muss ständig vor einer immobilen Mehrheit Rechenschaft abgeben, wie die oben zitierte Schilderung Ludwigs zeigt – eine Situation, die ähnlich in vielen Interviews beschrieben wurde. Paul Mecheril (1994) hat

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die Reaktionen von Menschen mit »Migrationshintergrund« auf derartige Reaktionen untersucht und typisiert – Migranten können demnach mit »Rückzug« reagieren, »überdeutsch«, »antideutsch« oder »weltbürgerlich« werden. Dementsprechende Reaktionsmuster waren auch in der vorliegenden Stichprobe zu identifizieren. Im Sinne Goffmans (1967) handelt es sich hier um eine klassische Situation der Identitätsbedrohung und verschiedene Arten des Umgangs mit Stigmatisierungen der eigenen Person. Weiterhin kann die vordergründig eindeutig regionale Identität als »Oberschlesier« sehr unterschiedliche Inhalte repräsentieren: Es gibt einen essentialistischen und einen konstruktivistischen Begriff des »Oberschlesiertums«; beide können wiederum jeweils einen lokalen, regionalen, nationalen oder supranationalen Bezug aufweisen. Die essentialistische Variante kann eine Folge von reactive ethnicity (Glazer 1993) sein – etwa, wenn die Migranten im Ankunftskontext diskriminiert werden, auf Unverständnis für ihre Lebensweise stoßen und daraufhin ihre oberschlesischen bzw. polnischen »Wurzeln wieder entdecken«. Die konstruktivistische Variante führt dagegen tendenziell zu einer Identifikation mit beiden Orten und Gesellschaften. Diese kann bewusst deklariert und/oder praktisch gelebt werden45, wobei ersteres nicht unbedingt letzteres bedingt. So kommt es durchaus vor, dass eine ausgeprägt plurilokale Lebenspraxis und Orientierung zwar eine entsprechende Identifikation nahelegen würde, diese aber (zumindest bewusst) nicht stattfindet. Insbesondere »bildungsferne« Personen tendieren dazu, trotz evident »transnationaler« Lebensführung einer monolokalen nationalen Selbstbeschreibung den Vorzug zu geben (»Ich bin einfach Pole«) – allerdings auch nur auf Nachfrage und zögerlich. Hierin drückt sich somit weniger eine besondere Loyalität gegenüber dem »Polentum« aus, sondern eher eine allgemeine Indifferenz gegenüber nationalen Kategorien, wobei bei genauerem Nachdenken spontan und relativ unreflektiert zur naheliegendsten Antwort gegriffen wird. Diese Menschen erleben Plurilokalität als ihre »Lebenswelt« und befragen diese nicht auf ihre Folgen für die eigene Identität im Schützes Sinne; anders als ihr monolokal orientiertes soziales Umfeld erleben sie diese Multilokalität – als im Sinne von Schütz/Luckmann (2003: 31) – »unproblematisch« und »fraglos«. Bezieht man diese Beobachtung auf die beiden zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen Typen von symbolischem Transnationalismus (historisch-imaginiert und praktisch gelebt), lässt sich festhalten, dass in der historisch-imaginierten Ver-

45 Zwischen praktizierter und deklarierter Identität (bzw. »organischer« und »reflektierter Hybridität«) unterscheidet z.B. Werbner (1997). Kłoskowska (1996) unterscheidet zwischen deklarierter »nationaler Identifikation« und »kultureller Valenz« als praktischer Aneignung dieser nationalen Kultur.

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sion Ethnizität die zentrale Identitätskomponente ist. Aber selbst die vorwiegend in ihm zum Vorschein kommenden ethnischen Identitätskonstrukte haben weitere Bezüge verdeutlicht, wie sie auch und vor allem für den gelebten Transnationalismus bestimmend sind, wie Familie, Freundschaften, Beruf, Interessen. Auf diese kommen wir im dritten Unterkapitel ausführlicher zu sprechen. Zunächst jedoch sollen im zweiten Unterkapitel die kollektiven Denkfiguren, mentalen Karten die den symbolischen oberschlesischen Transnationalismus prägen, dargestellt werden. Transnationale mentale Karten: »historisch«, »sozial« »ökonomisch« und politisch Die symbolischen Zugehörigkeiten – ob ethnisch, kulturell, sozial oder politisch – speisen sich aus einem Reservoir des kollektiven Wissens. Für unsere Fragestellung, d.h. die Sinngebung von Migration als Bewegung im sozialen wie geographischen Raum, waren dabei in erster Linie die räumlich strukturierten Deutungs- und Handlungsorientierungen der Befragten (»mentale Karten«) von Bedeutung. Unter einer »mentalen Karte« verstehen wir die Gesamtheit aller Vorstellungen, Wahrnehmungen, Bedeutungen, Einstellungen und Emotionen, die bewusst bzw. unbewusst mit einem Raum verbunden werden (Gould/White 1974); dabei unterscheiden wir auf Grundlage des empirischen Materials dieser Arbeit analytisch zwischen historischen, ökonomischen und sozialen Karten. Empirisch äußern sich diese mentale Karten in Form von in den Erzählungen immer wieder wiederkehrenden Figuren – den »Topoi«, verstanden als: »kommunikative Ausdrucksformen, die in unterschiedlichen Gestalten verfestigt, ähnliche Inhalte aufweisen« (Knoblauch 2006: 222). Historische mentale Karten Die starke Bedeutung, die auch jüngere Befragte in ihren Erzählungen geschichtlichen Themen beimaßen, war durchaus überraschend. Zwar nimmt die Bedeutung dieses Aspekts von Generation zu Generation ab; trotzdem ist bemerkenswert, wie relativ fest historisches Wissen auch bei jungen Menschen verankert ist und die Identität mitprägt. Dabei spielt vor allem die Geschichte der Region und der eigenen Familie eine Rolle. Die entsprechenden Narrative werden im Sozialisationsprozess und in der Kommunikation innerhalb der ethnischen Gruppe konstruiert und für die gegenwärtige Situation jeweils rekonstruiert. Dabei sind vor allem drei Topoi interessant: 1. Die Konstruktion von Oberschlesien als unterprivilegierter Grenzregion und »innere Kolonie«, 2. die Konstruktion von Migration als historischem Artefakt und 3. die Betonung einer besonderen Heimatverbundenheit.

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Oberschlesien als »Grenzland« und »innere Kolonie« Im kollektiven Bewusstsein ist Oberschlesien vor allem als historisches deutschpolnisches Grenzland präsent; auch über 60 Jahre nach dem Ende dieses Status wirkt diese historische Realität noch kognitiv nach und beeinflusst die ethnischkulturelle Identitätskonstruktion der Befragten. Interessanterweise beeinflussen die Grenzen und die ethnische Situation in der Zeit zwischen 1920 und 1939 auch heute noch die Grenzziehungen zwischen dem »Innen« und »Außen« der eigenen ethnischen Gruppe: So wird etwa der »deutsche« Raum Opole (Opole) mit dem »polnischen« Raum Kattowitz (Katowice) kontrastiert, oder es ist die Rede von »polnisch« oder »deutsch gesinnten« Orten innerhalb des ehemals deutschen Territoriums. Der Befragte Grzegorz schildert diese Situation aus der Sicht eines Bewohners der »polnischen« Seite: »Da haben manche Leute schon 7 Jahre gearbeitet, in diese Weise oder woanders, teilweise ohne Papiere, viele kamen aus der Oppelner Region, der Oppelner Woiwodschaft, sie hatten da mehr Kontakt zu Deutschland, hierhin kam es später, überhaupt empfinden sie sich als bessere Deutsche als wir hier. - Ja? Als wir hier, aus der Woiwodschaft Oberschlesien [Kattowitz], ja. Einfach, wenn man mit ihnen redet, jeder fragt; woher kommst du, aus Kattowitz? [frühere Bezeichnung für Woiwodschaft Oberschlesien] Ich sage: ›Ja, Rybnik, in der Nähe von Kattowitz‹, dann sagen sie schon hadziaj oder gorol zu dir [Bezeichnungen für die nicht-autochthone Bevölkerung Oberschlesiens]. Ich sagte immer, bei Rudy in der Nähe von Racibórz, denn Rudy, Racibórz, das assoziieren sie mit diesen Gebieten, ich sage nie Rybnik, denn es sind solche Leute, weiß du, manche meinten das ernst, und dann können sie dich in irgendeiner Weise beleidigen, weißt du was ich meine, nicht? - Ja.. Oder so… und ich selbst finde nicht, dass sie bessere Deutsche sind als wir hier, und im allgemeinen gibt es viele Leute, die kein Deutsch sprachen, und angeblich kommt so einer aus der Region, wo das Deutsche mehr entwickelt und vertraut ist.«

Der Befragte Sigmund wiederum zeichnet diese Karte aus der Perspektive der »deutschen« Seite: »Es reicht nur, dass man mit dem Auto die Strecke aus Gliwice, die Eins fährt, wenn man an Tychy vorbeifährt, an der Stelle des Übergangs von Schlesien nach Kleinpolen bzw. die alten polnischen Gebiete, sieht man diese Unterschiede bis heute, dass die Architektur anders aussah, dass Menschen sich anders verhalten, na es ist so, je tiefer hier in Richtung Opole, desto deutlicher werden diese Unterschiede.«

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Dabei gilt die Region stets als ökonomisch und politisch benachteiligt; in Anlehnung an die Begriffe Michael Hechters (1975) könnte man sie als »innere Kolonie« oder »slawisches« bzw. »germanisches Randgebiet« eines auf ethnische Homogenität bedachten deutschen und polnischen Nationalstaats bezeichnen.46 Diese Konstruktion einer Diskriminierungs- und Ausbeutungsgeschichte knüpft unmittelbar an die Schilderungen der aktuellen, eigenen Erfahrungen als Arbeitsmigrant an. Besonders deutlich zeigt dies z.B. die drastische Sprachfigur, mit der sich die Migranten selbst als die »weißen Neger« [sic] ihrer deutschen Arbeitgeber bezeichnen. In der folgenden Aussage etwa konstruiert Sigmund einen Zusammenhang zwischen der peripheren Lage Oberschlesiens (sowohl in der ferneren Vergangenheit wie heute) und der langen Tradition der Arbeitsmigration ihrer Bewohner: »Und wir leben nun mal in solchen Zeiten... die uns zwingen, auf diese Reisen zu gehen. Weil, auch früher sind die Leute aus dieser Region – leider – ’rausgefahren, zur Arbeit, man kann die Spuren davon finden, wenn man heute dorthin reist... – im Grunde dort arbeitet, denn es ist ja nur für die Arbeit, dieses Fortfahren, die Spuren davon zeigen sich von Zeit zu Zeit irgendwo dort; denn Schlesien ist nun mal – leider – so ein Land, in das nie jemand so richtig investiert hat. Vor dem Krieg wurde nicht in dieses Gebiet investiert, und heute eben auch nicht, dieses Gebiet ist irgendwie ein bisschen vergessen, es reicht schon, sich ... geografische Karten aus der Kriegszeit oder von vor der Kriegszeit anzusehen, wo das Autobahnnetz gezeigt ist, na diese Autobahnen hier, das Straßennetz, das Bahnnetz, die Industrie, irgendwie so schwach ist das hier eingezeichnet... Das Gebiet war auch verbunden mit... Deutschland, und dort kann man das Ruhrgebiet sehen, oder Berlin, es gibt viel mehr Netze – Industrie und Eisenbahn... und hier, naja... je weiter vom Zentrum, um so weniger gab es davon. Und so ist es bis heute geblieben. Die großen Industriezentren ziehen ziemlich viel ... Kapital oder ... irgendwelche Investitionen an sich. So, wie diese Investitionen früher gefehlt haben, so fehlen sie auch heute... Und die Ausbildung, na ... sie ermöglicht uns, verschiedene ... Beschäftigungen anzunehmen, verschiedene Optionen... und wenn es vor Ort nichts gibt, na dann sucht man eben, irgendwas, damit... damit man von irgendwas leben kann... Das ist wohl nicht nur die Schwäche der Oberschlesier, denn wie man beobachtet, oder in Filmen sieht, hatten die Tschechen oder Slowaken auch ähnliche Erfahrungen…«

Interessant ist hier auch, dass Sigmund – im Gegensatz zu anderen Befragten – die lange Tradition der Arbeitsmigration aus Oberschlesien nach Deutschland nicht nur aus Erzählungen bzw. der Literatur kennt, sondern die Spuren dieser historischen Arbeitsmigration in Deutschland verfolgt: In weiteren Passagen des Interviews ist

46 Für die Übertragung des Modells der »inneren Kolonie« auf die Region argumentiert Szmeja (2000: 58-74).

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etwa zu erfahren, dass sich Sigmund nach Feierabend mit der Landeskunde der Region beschäftigt, in der er eingesetzt ist. Oberschlesien und der Topos »Migration« Wie eine Studie von 1996 (Grygierczyk 1997: 44) gezeigt hat – und auch die vorliegenden Interviews bestätigt haben –, schreiben Oberschlesier dem Phänomen der Migration noch in der Zurückweisung quasi resignierend eine Unvermeidlichkeit und historische Kontinuität zu: Die Menschen seien halt »schon immer« von hier ausgewandert und würden es auch weiterhin tun. Die oberschlesischen Migranten früherer Generationen bilden einen sinnstiftenden Bezugspunkt – so beschreibt Sigmund, wie er an seinen wechselnden Einsatzorten in Deutschland immer wieder auf Spuren seiner Vorgänger stoße. Auch verwiesen viele Interviewpartner darauf, dass bereits ihre eigenen Großeltern als landwirtschaftliche Saisonarbeiter (»Sachsengänger«) in Deutschland gearbeitet hätten oder wochenweise zwischen ihrem Arbeitsplatz auf der Zeche und ihrem Heimatort gependelt seien: »Er ist für eine Woche weggegangen, er hat – sagt sie – drei Tage hat er gearbeitet und zwei Tage war er an Ort und Stelle, da hatten auch nicht alle Arbeit, waren also zufrieden dass sie überhaupt Arbeit haben, sie kamen auch nur über das Wochenende zurück nach Hause, nicht. Und jetzt ist es bequem, denn es gibt Autos, nicht, es ist schneller… Autos, Busse – es gibt alles, nicht… die Busse fahren sogar regelmäßig, täglich kann man nach Hause fahren, wenn etwas Unerwartetes passiert, nicht?«

Auch der für ein Experteninterview befragte Priester steht in seiner offiziellen Position der Arbeitsmigration einerseits eher kritisch gegenüber; andererseits erinnert auch er daran, dass das Phänomen der Arbeitsmigration »schon immer da gewesen« sei: »Diese Tendenz ist da und wir als Priester versuchen, diese Tendenz aufrechtzuerhalten, wir sagen: ›Hör mal, sobald du kannst, komm zurück‹, und sie wissen es sehr gut. Wir bemühen uns, dass sie zusammen sind: da oder hier. Ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, wo ich selbst solche Arbeitsaufenthalte organisiert habe, ich habe Orte genannt. Wenn sie es zusammen machen können, dann ist es ideal. Und es gibt schon einige Paare, die zusammen fahren und das ist eine gute Konstellation. Es gibt einige solche Paare. Aber wenn wiederum Kinder da sind, dann muss jemand bei den Kindern bleiben, das ist auch nicht gut… das alles ist krank, das ist nicht gut, aber was will man machen – so ist die Situation. Obwohl ich mir manchmal auch denke, ›mein Gott, früher war es doch auch schon so‹. Mein Vater etwa ist immer in die Region Posen gegangen, denn da haben sie Häuser geputzt, dann war er die ganze Woche über weg. Der Großvater fuhr nach Bytom wegen der Arbeit, ich kann mich erinnern, er war auch weg, er fuhr jede Woche, alle zwei Wochen, er wohnte da in einem gemieteten Zimmer. Also dieses Problem wird es irgendwie immer geben, nur sind diese Migra-

318 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN tionen heute längerfristiger und heute gibt es mehr Gefahren. Ich sage immer, ich bewundere die heutige Jugend, denn ich als junger Mann hatte nur eine Kneipe ›um die Ecke‹ und sie haben eine ganze Palette an Möglichkeiten.«

Diese intersubjektive Aktualisierung der historischen Migration und die Erfahrung der »Allgegenwärtigkeit« von Migration im eigenen Umfeld verstärken sich somit gegenseitig. Migration als Mittel zum Einkommenserwerb wird zu einer sozialen Norm in der Region, die wiederum zur sozialen Dynamik der Migration beiträgt. Oberschlesien und »Heimatverbundenheit« In ihren Erzählungen betonen die Migranten immer wieder, dass autochthone Einwohner Oberschlesiens sowohl in der Vergangenheit also auch heute stets gezwungen gewesen seien bzw. sind, mobil und flexibel zu sein. Zugleich jedoch heben sie als ein zentrales Attribut ihrer ethnischen Identität eine besondere »Heimatverbundenheit« hervor – an diesem Topos setzen etliche Befragte beim Beginn ihrer erzählten Lebensgeschichte an. Dem »kleinen Vaterland« Oberschlesien wird – im Gegensatz zum »großen Vaterland«47, dem polnischen Nationalstaat – ein besonderer Stellenwert zugeschrieben (Ossowski 1967). So dient die Betonung der Heimatverbundenheit autochthonen Oberschlesiern zur Identitätskonstruktion durch Abgrenzung – gegen die nach 1945 angesiedelten Allochthonen, teils aber auch gegen diejenigen Deutschstämmigen, die der Region nach 1945 oder als Spätaussiedler den Rücken kehrten. Wie im folgenden Abschnitt ausführlicher erörtert wird, dient diese Abgrenzung auch dazu, eine als vertraut und solidarisch imaginierte »Gemeinschaft« (im Sinne Ferdinand Tönnies’) gegen die anonyme Modernität der »Gesellschaft« in Deutschland und Polen zu stabilisieren. Auf diese Weise wird die intersubjektiv erinnerte Geschichte der Region zu einer wichtigen Sinnressource für das Migrationshandeln. Das folgende, oben bereits in anderem Zusammenhang angeführte Zitat aus der Erzählung von Heinrich bringt diesen Topos der oberschlesischen Heimatverbundenheit prägnant zum Ausdruck: »Soweit ich mich erinnern kann, stammte unsere Familie aus der Umgebung von Grodzisko, nicht nur Grodzisko selbst, sondern auch aus der Umgebung. Im Umkreis von zwanzig Kilometern leben wir schon seit den letzten hundert Jahren. Und die Eltern waren sehr verbunden hier mit Schlesien […] Und ich kann noch eins sagen, als die Russen kommen sollten, da hat dieser Schmidt gesagt: ›Peter, komm, die Russen kommen hierher, wir hauen ab!‹ Und so sollte meine Mutter mit Wolfgang [dem älteren Bruder] mit dem Auto fahren und sie sollten sich zurückziehen. Aber meine Mutter wollte nicht fahren, sie sagte: ›Peter, wo werden wir da

47 Zu den Begriffen »kleines« bzw. »großes Vaterland« siehe S. 46.

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hingehen, wir haben doch keine Familie da im Westen.‹ Und so sind sie hier geblieben. Sie wollten nicht flüchten, weil sie da keinen hatten. Das sind typische Schlesier […].«48

Soziale Karten: zwischen »Gemeinschaft« in Oberschlesien/Polen und »Gesellschaft« im Westen Die dominante kognitive Besetzung des sozialen transnationalen Raums lässt sich treffend mit der von Ferdinand Tönnies geprägten klassischen Dichotomie von »Gesellschaft« und »Gemeinschaft« beschreiben – hier symbolisiert »der Westen« die (moderne, pluralistische, urbane) Gesellschaft während Polen, genauer gesagt Oberschlesien, für die dazu gegensätzliche Vision einer Gemeinschaft steht – oder auch mithilfe der pattern variables von Talcott Parsons, insbesondere mit den Gegensatzpaaren Affektivität vs. Neutralität, gruppenbezogene vs. universelle Wertvorstellungen und Orientierung an kollektiven vs. individuellen Interessen. Wie sich die einzelnen Migranten symbolisch in diesem Kontinuum verorten, hängt von vielen Aspekten ab. Im Folgenden sollen die sozialen Orte des symbolischen Bezugs der oberschlesischen Transmigranten und ihre Erklärungen dargestellt werden. Ausgehend von dem in allen Erzählungen vorgefundenen Topos von Gemeinschaf vs. Gesellschaft werden soziale Orte vorgestellt, an denen die transnationale Wirklichkeit von Akteuren gedeutet und sozial verobjektiviert wird. Hier unterscheiden wir analytisch zwischen der Sphäre der Arbeit, den öffentlichen und den privaten sozialen Räumen. »Gemeinschaft«: Familie und vertraute Umgebung Wie die einzelnen Befragten Gemeinschaft und Gesellschaft subjektiv beurteilen, hängt u.a. davon ab, ob sie eher konservativere oder eher modernere Werte vertreten. So lehnen einige von ihnen »moderne« Lebensformen und die Assimilation an diese ab: Sigmund z.B. distanzierte sich von einer »modernen« Einstellung zur Arbeit. Oft jedoch identifizieren sich die Befragten tendenziell und ambivalent mit beidem. Die unterschiedlichen Varianten dieser Positionierungen sollen im Folgenden detaillierter dargestellt werden. Die Charakterisierung Oberschlesiens als Ort von »Gemeinschaft« wird daran fest gemacht, dass dort noch traditionelle kulturelle Werte dominierten: Dazu zählen enge familiäre Bindungen, uneigennützige Hilfe unter Nachbarn und Bekannten, Respekt vor und die Übernahme von Verantwortung für Ältere, ein hoher Stellenwert von Religion und die Pflege des eigenen Dialekts. So wird den Migranten gerade durch das Leben in zwei Welten ihre subjektive Zugehörigkeit bewusst, die Konfrontation mit anderen Wertevorstellungen und Lebensstilen macht dies erst möglich. Wichtig ist hier aber auch die Empfindung von Geborgenheit nicht nur im kulturellen, sondern schlicht im »lokalen« Sinne: Die den Befragten in der Regel seit ihrer Kindheit vertraute lokale Umgebung vermittelt ihnen ein Gefühl von sozialer

48 Vgl. hierzu das Zitat aus Grass’ Blechtrommel auf S. 20.

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Einbettung und Vertrauen. Beide Aspekte spielen eine wichtige Rolle, wobei die letztere eine universelle Erfahrung aller Befragten ist und nicht nur bei den traditionell Orientierten auftritt. Dabei zeigt sich, dass gerade die durch mobile Arbeitsverhältnisse verursachte fehlende lokale Bindung zum Herkunftskontext die Bedeutung des lokalen »Ankers« im Herkunftskontext stärkt. Diejenigen Migranten, die längerfristig an einem Ort Wurzeln schlagen konnten, haben auch eine intensivere symbolische Beziehung zu diesem Ort aufgebaut, die sich in sozialen Beziehungen, lokalen Kenntnissen, Gefühlen manifestiert. Lassen wir an dieser Stelle zur Verdeutlichung einige Befragte diese typischen Sichtweisen artikulieren: »Und an Polen gefällt mir, dass es so eine typische Familie gibt, dass es Kinder gibt, dieses Zuhause, diese Familie hauptsächlich mit den Kindern, das gibt es hier immer noch. Da in Deutschland, diese Leute denken immer weniger an die Ehe, oder erst im höheren Alter, wenige gründen eine Familie, ich weiß nicht warum, wodurch das bedingt ist, diese Denkweise, sagen wir mal: statt Kinder haben sie einen Hund zum Beispiel. Das gefällt mir bei denen nicht. Es gibt diese Familie nicht.« (Grzegorz) »Aber dahin auswandern? […] Aber das ist nicht am wichtigsten. Am wichtigsten ist einfach: Ich könnte es nicht, ich würde nicht dahin auswandern. Mir gefällt die Atmosphäre nicht, die da ist, mir gefällt das Leben in der Stadt nicht. Das ist einer der Aspekte… Hier gehe ich raus, das gehört mir und ich mache was ich will […] Ich habe so viel Spaß hier. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren haben wir Wurst geräuchert, wir haben ein Reh geschossen, ich kenne einen Jäger, er hat es mitgebracht und wir haben Wurst geräuchert. […] [In Deutschland] kennt keiner keinen, da guckt einer den anderen schief an. Hier gehe ich Schneeschaufeln und treffe den Nachbarn – ›Hallo‹ – ›Hallo‹. ›Komm einen trinken‹, oder ›komm eine rauchen, wir reden ein wenig‹ und da kommt schon der nächste. Man kennt alle in der Umgebung und alle kennen einen. Man ist jemand in diesem Umfeld. Und da… es ist alles irgendwie künstlich, ich weiß nicht... Vielleicht wäre es in dieser Hinsicht besser, dass wir dann zusammen wären. Aber auch wenn wir eine große Wohnung hätten, um da zu überleben, müssen der Mann und die Frau arbeiten. Es gibt nicht so eine Möglichkeit zurzeit, dass nur einer arbeitet.« (Wojtek)

Den Aspekt der Vertrautheit mit der eigenen Umgebung bringt auch Ludwig in der bereits zitierten Aussage auf den Punkt: »Denn manchmal, in solchen Dialogen mit Deutschen, sage ich: ›Hör mal, wie viele Jahre lebst denn du in deinem Ort?‹ ›Ja, mein Opa hat da schon gelebt, und die Oma und die Eltern, und ich wohne da auch.‹ ›Du hast Dir aber ein Haus gebaut.‹ ›Ja, aber im gleichen Ort.‹ Und ich sage: ›Und warum hast du in dem gleichen Ort das Haus gebaut, warum nicht bei Frankfurt oder irgendwo, wo du es näher zur Arbeit hättest?‹«

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In der zuvor zitierten längeren Passage aus dem Gespräch mit Wojtek wird auch ein anderer wichtiger Aspekt dieser Dichotomie angesprochen, der sich überraschenderweise als ein wesentlicher Grund der Bindung an den Herkunftskontext herausgestellt hat: Da die Migranten vorwiegend aus der agrarisch geprägten Region um Opole kommen, assoziieren sie diese mit »Landleben«, Ruhe, Natur usw. Dieser Gegensatz von Stadt und Land – der ebenfalls eine Chiffre für den Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft, darauf aber nicht zu reduzieren ist – tauchte in den Interviews immer wieder auf. An ihrer Ankunftsgesellschaft nehmen die Pendler dagegen vor allem deren Modernität und Urbanität wahr: »Es ist eine andere Atmosphäre, denn du kommst zurück, gehst du raus auf den Hof, du läufst ein bisschen herum, was braucht man hier oder da. Da gibt es nichts zu tun, nicht? Das fehle manchmal, nicht… der Mensch ist es so gewohnt, dass man immer hier gräbt, hier etwas macht, da etwas macht, nicht. Da kommt man heim, du kommst nach der Arbeit zurück und es ist schon zu Ende, nicht… das Mittagessen kochen, ein bisschen Fernsehen gucken und dann schlafen gehen.« (Bogdan)

Das eigene Haus, Hobbys wie Gartenarbeit oder Tauben züchten müssen von den Arbeitsmigranten durch ihren Lebensstil teilweise aufgegeben werden. Auf sie wollen sie aber spätestens im Rentenalter zurückkehren. Im Gegensatz zu den Auswanderern, die jetzt in Deutschland in »Wohnblocks« hausen müssten49, bewahren sie sich gerade durch ihre transnationale Strategie diese Möglichkeit. Die Möglichkeit, im Gegensatz zu den dauerhaften Emigranten im eigenen Zuhause in Oberschlesien wohnen zu können, wird von vielen Befragten als wesentliches Argument verwendet, um die temporäre gegenüber der dauerhaften Migration zu legitimieren. Auf die weitere empirische Ausformung der »Gemeinschaft« durch soziale Beziehungen kommen wir später im Abschnitt »private Räume« zurück. Innerhalb der westlichen »Gesellschaft« positionieren sich die Befragten differenzierter als zur »Gemeinschaft« in Oberschlesien: Sie kann zum einen völlig abgelehnt werden – dies geschieht oft bei Rückkehrmigranten, die sich ausschließlich in Polen bzw. Oberschlesien verorten. Die westliche »Gesellschaft« fungiert als negativer Kontrast zur oberschlesischen »Gemeinschaft«; sie steht für Anonymität – man könne nicht einfach unangemeldet auf einen Kaffee beim Nachbarn vorbei-

49 Unter den oberschlesischen Emigranten war oft zu beobachten, wie das Problem des urbanen Lebens umgegangen wird. Wenn sie sich längerfristig kein eigenes Haus bauen, mieten sie einen Schrebergarten, wo sie - ähnlich wie türkische Migranten – Gemüse anbauen. Oder – die einfachste Form – es werden auf dem Balkon eigene Gemüse und Kräuter gezüchtet.

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kommen –, für zu lose soziale und familiäre Bindungen, die sich etwa in der von den Befragten viel kritisierten Institution des Altersheims zeigen. Multikulturalität und political correctness im Westen werden nur in Ausnahmen als Fortschritt erachtet – häufiger dagegen als ein Ausdruck kultureller bzw. moralisch-religiöser Beliebigkeit. Zu vermuten steht, dass derartige Äußerungen oft auch eine kompensatorische Funktion erfüllen angesichts der als demütigende Statusinkonsistenz wahrgenommenen Notwendigkeit, im Westen mit dort dauerhaft ansässigen, oft gering qualifizierten Immigranten (z.B. Türken) im Niedriglohnbereich konkurrieren zu müssen. Die Erfahrung, sich durch die Anwesenheit ethnisch-kulturell »Fremder« im Zielkontext selbst als »fremd« zu empfinden, ist ein weiteres Merkmal, das die sozialen mentalen Karten prägt. Ebenso kann das Fehlen der Gemeinschaft jedoch im Sinne der größeren individuellen Freiheit positiv gedeutet werden (im Sinne von »Stadtluft macht frei«): Die Menschen seien freier in ihren Meinungen und ihrem Aussehen, die Kirche sei nicht so autoritär und »langweilig« wie in Polen, man kann leben, wie man selbst will und werde nicht beobachtet bzw. kritisiert. Ob die Befragten der »Gesellschaft« im Ankunfts- bzw. der »Gemeinschaft« im Herkunftskontext den Vorzug geben, hängt dabei nicht – wie hypothetisch zuerst vermutet – primär mit deren Alter oder Bildungsniveau zusammen: Vielmehr sind es tagtägliche Erfahrungen, die die jeweilige subjektive Präferenz für den einen oder anderen Raum auf der mentalen Karte ausmachen. Ein Beispiel für eine typische ambivalente symbolische Verortung zwischen der polnischen »Gemeinschaft« und der niederländischen »Gesellschaft« können einige Aussagen des Befragten Jan dienen. Auf der einen Seite sieht Jan seine Zukunft in Oberschlesien und lehnt viele Elemente der westlichen Gesellschaft ab: »In Polen gefällt mir alles. Etwa, bei uns in Oberschlesien gibt es das Dorf, wo wir leben und… das ganze Leben habe ich da verbracht […] Hierhin auf Dauer? Nein. Hier gefällt es mir überhaupt nicht: Mir gefallen die Staus nicht, mir gefällt es nicht, dass es zu viele Türken, Schwarze gibt. Polen ist Polen. Es gibt doch diese Ruhe, du weißt, dass du zu Hause bist, nicht? [Hier] hast du immer fremde Leute in der Wohnung. Angeblich ist das unser Zuhause, du bist hier bei uns zu Gast, aber du musst damit rechnen, dass jemand irgendwelche Probleme macht, oder so was, denn es sind unterschiedliche Leute.«

Das Leben in den Niederlanden prägt jedoch auch Jans Orientierungen, etwa wie hier in normativer Dimension, in Bezug auf seine Religiosität und das Zusammenleben mit seiner Freundin vor der Ehe:

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»Ich meine, all diese Situationen, die wir hatten, diese Brände50, das alles, da dachte ich am Anfang, dass es vielleicht, etwa, die Strafe ist, dass man nicht zur Kirche geht oder so etwas, aber später… ich denke, es ist die Frage des Schicksals, nicht […] Die holländische Mentalität ist so… ganz anders als bei uns, nicht. Dass… etwa, vielleicht sitze ich hier zu lange und sehe inzwischen das alles so wie sie. Einmal fragte ich einen ›Gehst du nicht zur Kirche?‹ Und er sagte mir: ›Ich werde dann zur Kirche gehen, wenn es Bier umsonst gibt‹ [lacht] Also sie sehen es anders, ja… die wichtigsten Werte sind das Haus, das ist das größte Ziel, was mich hier hält, nicht. Ansonsten würde ich hier nicht sitzen, keine Chance.« »Ich meine, ich habe schon öffentlich gesagt: dass ich nicht heirate, solange…, ich finde, die Zeiten ändern sich, ich finde in Polen gibt es… am meisten nerven mich diese alten Omas, Opas, die einfach alles verbieten, dass, etwa… Hier gefällt mir das Leben mehr, ist nicht so kompliziert, offen, etwa…. sagen wir mal in Polen… in Holland […] werden verschiedene Sachen angezogen, in Polen würde so mancher nie so auf die Straße gehen, und hier laufen sie so auf der Straße und keiner achtet darauf, keiner guckt, schwätzt, zeigt mit dem Zeigefinger auf ihn, nicht? Und in Polen würden sie dich sofort…, nicht? Es geht ein Krüppel [sic] daher, oder einer mit einem schiefem Arm, sofort wird er angeglotzt, nicht? […] Er lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, nicht? Und hier ist die Mentalität dieser Menschen – eine andere Mentalität als in Polen, und mir gefällt diese Mentalität mehr und ich finde, dass unter den jungen Menschen diese Mentalität auch schon einsetzt, dass sich das alles ändert.«

Die Mehrheit der Interviewpartner lobt an ihrem Ankunftskontext dessen Charakter als effektives »System« im ökonomischen, politischen und sozialen Sinne, der sie dazu veranlasst, sich positiv mit ihm zu identifizieren. Dies ist nicht nur mit der traditionellen oberschlesischen Anerkennung der »zivilisatorischen Überlegenheit« Deutschlands über Polen zu erklären, die der »Deutsche« Heinrich mit einem Sprichwort auf den Punkt bringt: »Man sagt bei uns: etwas gut, besser und deutsch«. Diese Figur der zivilisatorischen Überlegenheit ist in den deutschpolnischen Beziehungen historisch verankert und resultiert aus den gegenseitigen Vorurteilen bezogen auf das jeweilige Nachbarland. Die Migrationsforschung zeigt, dass sich diese Vorurteile auch auf die alltäglichen Selbst- und Fremderfahrungen der Migranten auswirken: Dass sich polnische Immigranten mit Deutschland als einem gut funktionierenden (politischen, ökonomischen, sozialen) System identifizieren, haben auch andere Studien zur polnischdeutschen Migration gezeigt (Cyrus: 2003, Morawska: 2003, Wóycicki 2000).

50 Hier bezieht er sich auf verschiedene »Notfälle«, von denen er zuvor im Interview berichtet hatte: ein Brand des Wohnhauses in den Niederlanden, ein Brand eines Reisebusses, mit dem er in den Urlaub gefahren ist, ein schwerer Autounfall auf dem Weg von der Arbeit in den Niederlanden nach Polen.

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Auch Studien zur Ost-West Migration, wie etwa zur ukrainisch-polnischer Migration (Bieniacki u.a.: 2005), zeigen vergleichbare soziale Konstruktionen des jeweiligen Nachbarlandes im Kontext der Migrationsachse Ost-West. Weitere soziale Orte der Identität und Zugehörigkeit Wie bereits am Anfang dieses Abschnitts erwähnt, erfolgt der Aufbau symbolischer Bindungen zum Herkunft- und Ankunftskontext an mehreren Orten. So sollen im dritten Schritt, im Anschluss an die mentale Karte »Gemeinschaft vs. Gesellschaft«, weitere einzelne Ausprägungen der symbolischen Verortungen zwischen Polen und Deutschland/Niederlanden dargestellt werden. Dazu werden einzelne Orte der symbolischen Verortung innerhalb der Lebenswelt aufgezeigt, wobei zwischen »öffentlichen« und »privaten« Räumen unterschieden wird. »Öffentliche Räume« Arbeitsplatz Der wichtigste öffentliche Raum im Ankunftskontext ist der Arbeitsplatz. Die Lebenswelt der oberschlesischen Arbeitsmigranten kann man pauschal mit dem Kontrast »Arbeiten im Westen, Leben in Oberschlesien« bezeichnen. Wie die Darstellungen der Lebenspraxis in den ersten zwei Unterkapiteln gezeigt haben, entstehen bei den Transmigranten auch Bindungen privater und nicht nur beruflicher Art zum Zielkontext. Die erste Art der symbolischen Bindung zum transnationalen Arbeitsmarkt manifestiert sich in der Art und Weise, wie die Migranten ihre Arbeitsmigration im Allgemeinen begründen. Es lassen sich hier zwei Figuren feststellen, die man (analog zu historischen und gesellschaftlichen Topoi) als ökonomische mentale Karte bezeichnen kann. Eine häufig wiederkehrende Argumentationsfigur ist die Überzeugung, durch Arbeitslosigkeit bzw. niedriges Einkommen zur Migration gezwungen zu sein. Allerdings haben die objektiven ökonomischen Lebensumstände allein für die Entscheidung zur Migration nur eine eingeschränkte Erklärungskraft, wie Grygierczyk (1997: 45f) in einer Studie über die Migration der Oberschlesier und deren diesbezügliches kollektives Wissen aufgezeigt hat. Wie Studien von Wirtschaftswissenschaftlern ergaben, ist die Entscheidung oftmals gerade nicht durch Arbeitslosigkeit und Armut »erzwungen« – die wirtschaftliche Existenz der Migranten ist gesichert, sie streben aber ein höheres Einkommen an (Brzezina/JoĔczy 2006: 101). Hier kommt eine soziale Normierung durch die am Westen orientierten Aspirationen und die Institutionalisierung der Arbeitsmigration als auslösender Faktor hinzu. Auch in der vorliegenden Untersuchung ließ sich dies beobachten: Obwohl alle Befragten angaben, zur Migration »gezwungen« zu sein, waren tatsächlich nur wenige von arbeitslos oder unmittelbar von Arbeitslosigkeit betroffen – fast alle hatten

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ihre Arbeitsplätze in Polen von sich aus gekündigt. In der Figur des »Zwangs« manifestiert sich dabei eine ambivalente Einstellung zur Migration: Die Befragten sind sich vollkommen ihrer hohen sozialen Kosten bewusst und empfinden es daher als erforderlich, diese zu rechtfertigen – gegenüber sich selbst, der eigenen Familie, aber auch angesichts öffentlicher Kritik in der Herkunftsgesellschaft (z.B. der Kirche) wie auch der Zielgesellschaft (z.B. in Reaktion auf Vorwürfe wegen mangelnder Assimilation oder »Lohndumping«). Hier kommen dann die angeführte historische Tradition der Migration und eben das Argument des ökonomischen Zwangs ins Spiel. Dieses tritt in verschiedenen Ausprägungen auf, wobei sich zwei Arten ökonomischer mental maps ausmachen lassen: Bei einer Variante werden die polnische und die westliche Realität dichotom gezeichnet; die wirtschaftliche Lage in Polen wird als krass negativ, die im Westen dagegen äußerst positiv dargestellt. Aus dieser Dichotomie heraus ergebe sich unvermeidlich ein Zwang zur Migration, sei es in Form herkömmlicher Emigration oder zur Pendelmigration. Weitaus häufiger als diese Variante war eine differenziertere Spielart, bei der nicht mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Zustand der polnischen Gesellschaft argumentiert wird, sondern mit den unmittelbaren eigenen Lebensumständen, die momentan keine Alternative zur Migration ließen. Diese Migranten nutzen eine »grenzüberschreitende Gelegenheitsstruktur«, sie versuchen quasi, stets ihren »Fuß in der Tür« zu halten. Sie sind grundsätzlich sowohl für den deutschen als auch den polnischen Arbeitsmarkt offen und wechseln je nach den sich bietenden Gelegenheiten, dem Lebensabschnitt und den aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwischen diesen hin- und her. Dass diese zweite Variante in der Stichprobe dieser Arbeit deutlich häufiger vorkommt, mag damit zusammenhängen, dass die wirtschaftliche Realität in Polen und im Westen mittlerweile neu bewertet wird – die Dichotomie vom »goldenen Westen« und »grauen Osten« ist in der Form nicht mehr aktuell. Dies mag einerseits an dem in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur im Durchschnitt gegenüber dem Westen stark gestiegenen Einkommensniveau und Lebensstandard in Polen liegen, aber wohl auch daran, dass die Befragten ihr Wissen über die Lage im Westen nicht mehr nur (wie noch vor der Wende) aus den oft idealisierenden Erzählungen persönlich bekannter Emigranten auf »Heimaturlaub«, sondern inzwischen aus eigenen Erfahrungen beziehen. In beiden Fällen jedoch resultiert die Vorstellung von einem »Zwang zur Arbeitsmigration« aus einer positiven Rückkopplung, die einige Befragte als »Teufelskreis« wahrnehmen – wie z.B. Sigmund: »Denn wenn man dieses Fahren anfängt [jeĪdĪenie], na, dann verliert man irgendwann völlig diesen Markt vor Ort und man ist praktisch dazu gezwungen zu fahren, weil es pff... nichts anderes zum Arbeiten gibt.

326 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN Um aus diesem Kreis irgendwie herauszukommen, muss man sich selbst an einem bestimmten Punkt ›Stopp‹ sagen, ›ab heute fahre ich nicht mehr‹, aber man muss auch ein bestimmtes Kapital angesammelt haben, eine bestimmte Zeit warten, irgendwelche einzelnen oder kleine Aufträge übernehmen, um wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückzukehren. Denn bei diesem Fahren ist es später schwierig, in den Wirtschaftskreislauf zurückzukehren. Na, und das sagt man auch den jungen Leuten, dass sie generell... wenn man einmal anfängt zu fahren, keine Arbeit aufnimmt, dann verurteilt man sich zu diesem ständigen Fahren.«

Das Argument des »Teufelskreises« wird im öffentlichen Diskurs (Presse, katholische Kirche) (vgl. z.B. Wojaczek 2005) kritisch thematisiert, auch unter Migranten selbst. Darunter werden solche sozialen Phänomene subsumiert wie: fehlende Bildungsaspirationen in Verbindung mit materiellen Aspirationen bei Jugendlichen, steigende materielle Erwartungen der Arbeitsmigranten, Verlust des Anschlusses auf dem heimischen Arbeitsmarkt. In diesem Sinne kritisierte ein landesweit erscheinendes Nachrichtenmagazin die mobile Lebensweise der Oberschlesier und seiner Zukunftsträchtigkeit zum Ausdruck: »Hier ist man immer zur Lohnarbeit gegangen, und nach der Arbeit war das wichtigste das eigene Zuhause. Heute geht man nicht zur Arbeit, man fährt [jeĨdzi]. Aber womöglich erkennen die an einen hohen Lebensstandard gewohnten Oberschlesier hinter den Scheiben des Busses eines Tages zu spät, dass das Modell eines Lebens, das darauf basiert, tausend Kilometer von zuhause entfernt zu arbeiten, keine Zukunft hat« (Baster 2003: 121, zitiert nach ĩurawska 2005: 26).

Die für die Untersuchung befragten Experten – ein Lehrer, ein Priester sowie eine Bürgermeisterin – verwendeten dieses Argumentationsmuster ebenfalls. Einerseits beurteilten sie die Arbeitsmigration eindeutig als negativ: Die Väter werden zu »Partnern« für ihre Kinder, die Mütter fahren zur Entspannung von ihren schwer erziehbaren Kindern zur Arbeit, in der lokalen Gemeinschaft entstehen Spannungen zwischen Doppelstaatlern und der Bevölkerung ohne deutschen Pass, und im allgemeinen ist diese Arbeitsmigration – so die Bürgermeisterin – eine »Katastrophe für uns«. Andererseits, so z.B. der Lehrer, gebe es für diese Kinder keine Alternative, wenn sie nur Ausbildung und keine berufliche Erfahrung haben – sie müssten zur Arbeit in den Westen. Die Bürgermeisterin formulierte es ähnlich: »[W]enn man einen Job und Familie hat, muss man fahren. Ich werde auch für ein, zwei Monate fahren müssen, um meine Zähne machen lassen zu können, Schulbücher für meine Enkel zu kaufen und die Rechnungen sind so hoch...«

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Interessant ist an dieser Stelle weniger die Frage, inwieweit dieser »Teufelskreis« tatsächlich objektiv existiert und welche Gründe es dafür gibt; interessant ist vielmehr die (kollektive) Vorstellung von einem solchen Teufelskreis, aus dem man nur schwer herauskommen könne, in die sich in das Argument des Zwanges sehr gut einfügt. So wird auf der intersubjektiven Ebene ein Deutungsmuster re(produziert), nach dem das eigene Handeln – ähnlich wie bei Topos des Zwanges zur Migration – als Folge eines äußeren »Gesetzes« gedeutet wird, nicht als eine individuelle Entscheidung. Für unsere Fragestellung ist relevant, dass dieses Gesetz seine Geltung nur in einem sozio-kulturell-ökonomischen transnationalen Raum entwickelt. Auf diese Art und Weise gibt es nicht nur eine real existierende transnationale Opportunitätsstruktur, die Menschen aus Oberschlesien aus vielen Gründen den Zugang zum westlichen Arbeitsmarkt einfacher macht als zum heimischen, sondern auch eine verfestigte Überzeugung darüber auf der subjektiven Ebene, die in verschiedenen Arenen der Kommunikation reproduziert wird. Berufliches Selbstbild Das berufliche Selbstbild der Befragten hängt generell mit der Lebensorientierung jedes einzelnen zusammen: Für einige der Befragten ist die Leistungs- und Berufsorientierung eine wichtige Komponente der Identität. Im Kontext der Migration greifen sie auf kollektive (selbst-) zugeschriebene Bilder zurück. Dabei sind dies nicht nur ausschließlich aus dem Herkunftsland »mitgebrachte« Merkmale, wie oft bei Immigranten der Fall, sondern auch Attribute, die sich aus der mobilen Lebensweise ergeben. Viele der Interviewpartner, besonders diejenigen der ersten Generation, identifizieren sich implizit oder explizit mit dem traditionellen oberschlesischen Arbeitsethos. Dieses bildet eine zentrale Komponente der kollektiven ethnischen Identität und beinhaltet körperliche Arbeit als Ideal. In seinem geschichtlichen Wandel hat das Arbeitsethos sowohl positive als auch negative Teilaspekte angenommen (Błasiak 1993)51: Einerseits sind dies positive Merkmale wie Fleiß, Verlässlichkeit, Professionalität, die einen Oberschlesier autostereotypisch auszeichnen und zugleich eine wichtige symbolische Differenzierungslinie zwischen der eigenen Gruppe und den »Anderen« (d.h. den nicht-oberschlesischen polnischen Allochthonen) markieren. Andererseits ist es verbunden mit der negativen Vorstellung über den niedrigen Status der Oberschlesier in der vertikalen Struktur der Arbeitsteilung in Polen

51 In seiner Studie von 1991 analysiert Błasiak (1993) den Wandel des oberschlesischen Arbeitsethos vor dem geschichtlichen Hintergrund – von der Industriellen Revolution bis zur Nachkriegszeit. Die Arbeitsmigration der Nach-Wende-Zeit ist aus zeitlichen Gründen noch nicht berücksichtigt.

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(Stichwort »weißer Neger«). Diese Vorstellung stellt ein dialektisches Gegengewicht zum positiven Selbstbild dar. Wie einige der Interviewpartner betrachtet z.B. Sigmund den niedrigen Status der pendelnden Oberschlesier in Deutschland sehr kritisch. Dieser resultiere – so Sigmund – aus mangelnden Sprachkenntnissen und Bildungsaspirationen bei Oberschlesiern. In diesem Zusammenhang zieht Sigmund in Bezug auf die soziale Hierarchie innerhalb des Migrantenmilieus implizit Vergleiche mit der historischen Rolle Schlesiens als »interner Kolonie«: »Denn schon jetzt ist es viel so, dass... unsere Leute, die in Deutschland sind, sich nicht mit dem deutschen Arbeitgeber verständigen können, oft ist es so, dass sie die Hilfe von Leuten nutzen, die nicht aus Schlesien kommen, die aus Zentralpolen kommen, aus Ostpolen, oder sogar die, die schon hier in Schlesien wohnen, aber nicht angestammt [rdzennie] mit diesen Gebieten verbunden sind; die Oberschlesier sind gezwungen, diese Hilfe [anzunehmen], weil sie selbst keine Kontakte knüpfen können.«

Sigmund kritisiert an den Oberschlesiern auch deren niedrigen Bildungsaspirationen und Passivität; diese seien ausschlaggebend dafür, dass sie anstrengende und schlecht bezahlte Arbeit annehmen müssten. Diese Kritik zeigt deutlich die folgende Aussage, die im Anschluss an die Frage fehlender politischer Interessen bei Oberschlesiern fiel: »[D]ie Leute fühlen sich nicht richtig verpflichtet, für ihre eigenen Leute zu stimmen; sie haben diesen Pass und was wollen sie mehr? Und im Grunde braucht man das nicht zu seinem Glück, sondern nur für eine gute Arbeit und damit man seine Ruhe hat. Darum sieht man auch bei Konflikten, politischen Konflikten, eigentlich nicht, dass Oberschlesier da allzu stark protestieren würden. Na, sie haben ihre Ruhe und lehnen sich nicht aus dem Fenster. Na, was… manchmal ist es nicht so, wie es sein sollte, denn größere Aktivität ist das, was später Befriedigung verschafft. Denn auch wenn man es könnte… besser, man lehnt sich nicht aus dem Fenster, man fährt nur zur Firma, wo man nicht denken muss, sondern nur auf den Arbeitsplan guckt: Wo gehe ich morgen zur Arbeit. Na, man könnte auch… Na, aber das… pfff das […] ist ein bisschen wenig, auf diese Weise erwirbt man zu wenig Erfahrung.«

An der Aussage wird deutlich, dass Sigmund explizit das Ethos physischer Arbeit unter den Oberschlesiern kritisiert – und sich gleichzeitig selbst als Gegenpol zu dieser Haltung präsentiert. Diese Komponente der Selbstpräsentation kehrt in verschiedenen Kontexten in der autobiographischen Erzählung Sigmunds wieder (so habe er z.B. in Polen in einer »elitären« Abteilung gearbeitet). Zugleich zeigt sich hier, wie Sigmund sein ökonomisches Selbstbild konstruiert: Er positioniert sich mit einem neuen, positiven ökonomischen Selbstbild unter den oberschlesischen

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Pendelmigranten, das neben traditionellen Komponenten (Fleiß) auch neue Elemente aufnimmt. Diese sind zum einen die Vorteile, die – so Sigmund – mobile Arbeitnehmern gegenüber Immobilen hätten, zum anderen bestimmte Fertigkeiten der Menschen »aus dem Osten«: So beschreibt Sigmund die Haltung der deutschen Arbeitnehmer, die nur »ihre 38 Stunden« abarbeiteten – »mehr machen sie einfach nicht«. Die oberschlesischen Arbeitnehmer dagegen arbeiteten durchschnittlich 50 Stunden pro Woche, was er als Vorteil betrachtet. Sigmund äußert sich an keiner Stelle direkt negativ über sesshafte Arbeitnehmer, vergleicht jedoch immer wieder die »Mobilen« gegenüber den »Immobilen«, wobei Letztere schlechter abschneiden. So spricht Sigmund über »assimilierte« Pendler z.B. wie folgt: »Als, als Leute, die jeweils zwei, [...] drei Monate, zwei, drei Monate da sind, dann kommt man später in eine Phase, wo diese Leute, na... sich mit der einheimischen Bevölkerung identifizieren, ihre Gewohnheiten im Bezug auf die Arbeit annehmen, na, weil in diesem System da ist keiner im Stande, lange Arbeitstage durchzuarbeiten, sagen wir einen Monat, oder zwei Monate oder drei Monate mit sehr langen Arbeitstagen.«

Neben der Eigenschaft der Flexibilität trägt ein weiteres zum positiven Selbstbild bei: das (Auto-) Stereotyp der Arbeitsemigranten aus Osteuropa als »Alleskönner« (vgl. Cyrus 2001: 189). Sigmunds folgende Äußerung bringt den Vergleich zwischen deutschen und polnischen Arbeitnehmern auf den Punkt: »Sie haben kein breites historisches oder geographisches Wissen, sie sind ausgerichtet wie diese Grubenpferde, Klappen auf die Augen und geradeaus, nur diese eine Richtung, und die ist so, so einen schmalen Balken hat er, dass, kommt es nur zu einem anderen Thema, dann steht er schon auf dem Schlauch. Und wir haben so ein breites Wissen, dass ich meine Arbeit bei einer Spannung von 13 Volt anfangen kann und bei 110 oder 110 Kilovolt aufhören kann, es jagt mir überhaupt keine Angst ein, wenn ich das mache, aber für Deutsche ist das... er hat nur so viel, wenn man, wenn man dem Zeugnis nach Elektroniker ist, dann schließt man sicher nicht mehr den Beleuchtungsschalter von 220 Volt an, na, das ist ihre Meinung.«

Das gleiche, für die ganze Gruppe sehr repräsentative, durch Abgrenzung konstruierte kollektive Selbstbild bringt zugespitzt der Befragte Wojtek in einem oben bereits zitierten Abschnitt zum Ausdruck: »Denn uns mögen sie nur, wenn sie uns brauchen. Denn unser Bauleiter, so ein Möller, wir sagen immer: ›Möller, der Blödmann‹, aber er ist da, weil er Deutscher ist. Er sagte immer: ›Eure Stärke liegt darin, dass ihr flexibel seid, ihr arbeitet 12 Stunden durch. Ihr könnt euch immer der Situation anpassen. Und der Deutsche hat sein Gesetz.‹ Ich sagte Ihnen mal so: ›Ihr Deutsche seid so, ohne Gesetz schafft ihr es nicht mal, aufs Klo zu gehen‹. Denn so ist es, sie können es nicht. Unser Mann ist gelernter Bäcker und arbeitet auf der Baustelle. Er

330 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN schweißt, er fährt eine Zugmaschine und einen Kran, er mauert, zimmert, er macht alles, was gemacht werden muss. Wir machen alles an der Baustelle. Jetzt wollen sie immer mehr Papiere haben, aber unsere Leute machen alles und der Deutsche nicht…. Der Deutsche, wenn er Zimmermann ist, dann kann er keinen Stein transportieren, denn er weiß nicht, wie er es anpacken soll. Deswegen sind wir da. Da bauen nur Schlesier. Polen bauen, Jugoslawen und immer weniger Türken gibt es inzwischen. Früher waren es auch Portugiesen. Wir haben ganz Deutschland gebaut. Ich habe mir mal mit meiner Frau in Berlin angeguckt, was wir schon alles gebaut haben, nur große Bauten […] ich habe das Bundespressecenter, Bundeskanzleramt gemacht, drei Monate lang, aber immerhin…«

Das Selbstbild als »Alleskönner« taucht in vielen Interviews auf. Die Beurteilungen über die berufliche Positionierung der oberschlesischen Arbeitsmigranten im Ankunftskontext können also positiv (»Alleskönner«) und negativ (»weiße Neger«) ausfallen. Mediennutzung Ein weiterer wichtiger öffentlicher Raum für die oberschlesischen Arbeitsmigranten ist der mediale Bereich: Wie bereits im zweiten Unterkapitel dargestellt, gehört eine intensive Nutzung der deutschen Medien, insbesondere des Fernsehens, zum Alltag der meisten Interviewpartner. Die narrativen Interviews haben gezeigt, dass viele der Befragten über ein fundiertes Wissen über die deutsche gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Realität verfügen. Neben den sozialen Kontakten in Deutschland spielen hierfür Medien eine bedeutende Rolle. Auch in Polen wird teilweise mehr auf Deutsch als auf Polnisch ferngesehen. Die recurrent migrants verfügen dagegen in der Regel nicht über sehr gute Deutschkenntnisse und sehen auch in Deutschland und den Niederlanden polnischsprachige Sender. Die mediale, transnationale Bindung an Deutschland bzw. die Niederlande ist insbesondere für »ruhende« Migranten wichtig, die auf diese Art und Weise ihre Sprachkenntnisse und ihr Wissen über die Situation im Zielkontext pflegen können. Wie konkrete Inhalte aus transnationaler Perspektive zusätzliche Bedeutungen entfalten können, zeigt sehr gut der folgende Auszug aus dem Interview mit Ludwig: »Uns so habe ich angefangen, wie man sagt na westach (im Westen), später waren diese Pendelfahrten (zjazdy) nicht so oft… - Was heißt na westach? Na westach bedeutet Westdeutschland - Ah so, und jetzt ist es in ganz Deutschland? Jetzt ist es… Aber diese Einteilung gibt es weiterhin, also wenn man abkürzt, dann sagt man weiter Westen und Osten, so dass jeder weiß, was gemeint ist. Also, diese Grenze gibt es immer noch in Deutschland.

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- Und für euch, die ihr da in Deutschland arbeitet? Also, für uns wiederum, wir bezeichnen es als na ostach, und das heißt, dass es für uns weniger Kilometer sind. Also so unter uns, wenn wir uns unterhalten, dann sagen wir: ›Wo arbeitest du na ostach? Und du na westach? Also fährst du alle zwei Wochen nach Hause. Nein, denn wir fahren über Tschechien, denn wir sind in Bayern oder woanders‹. Also diese Grenze gibt es weiterhin. Und unter den Deutschen auch, nicht alle waren zufrieden, dass der Osten, dass Westdeutschland sich mit DDR verbunden hat. Also es war, es ist für keinen ein Geheimnis, dass Leute aus dem Westdeutschland nicht… ein Teil zumindest, ein größerer Teil, nicht zufrieden ist, wenn man so mit den Leuten spricht, sind sie nicht damit zufrieden, dass es so plötzlich kam und sagen wir – im gewissen Sinne sind sie benachteiligt denn die Steuern sind höher. Die aus dem Osten sagen wiederum, hier sind sie auch benachteiligt, denn die im Westen haben mehr Geld, kriegen mehr Geld als sie, praktisch für die gleiche Arbeit. Also es hat zwei Seiten. […] Also diese Grenze zwischen den Deutschen gibt es immer noch, und für uns ist diese Grenze, sagen wir mal, praktisch: wie viel Kilometer hast du bis nach Hause. Wenn es über 600 km sind, dann bist du schon im Westen, wenn es weniger sind, dann bist du besser dran, wie man sagt.«

Die Interviewpartner konsumieren auch in Polen und teilweise auch in Deutschland polnische Medien, die sie in der Regel nicht in Deutschland kaufen, sondern einfach mitnehmen. In diesem Sinne sind sie in medialer Dimension in Polen keinesfalls »entwurzelt« (Okólski 2001, Łukowski 2001) sondern informieren sich regelmäßig über die Situation in Polen bzw. in der Region. Das wurde z.B. bei denjenigen deutlich, die eine konkrete berufliche Zukunft in Polen planen oder bei den häufigen Aussagen über die politische Situation in Polen. Kirche Das kirchliche Umfeld ist einer der wenigen weiteren öffentlichen Orte, in denen symbolische Bindungen entstehen. Für die meisten Interviewpartner ist die Religion bzw. Mitgliedschaft in der katholischen Kirche relevant. In den Niederlanden und insbesondere in Deutschland spielt die sog. Polnische Mission eine wichtige Rolle. Die katholische Kirche bietet hier eine Seelsorge in der jeweiligen Landessprache und eine landestypische Liturgie (Lieder, Feiertage usw.). Aus eigener Beobachtung des Feldes geht hervor, dass die Polnische Mission eine wichtige soziale und religiöse Institution für die polnischen Immigranten in Deutschland ist (vgl. Kiwerska 2000). Auch für temporäre polnische Migranten ist die polnische Kirche ein wichtiger sozialer Ort für den Informationsaustausch, die Arbeitssuche und die Statusdemonstration (vgl. Miera 2007: 208f). Theoretisch betrachtet lässt sich die Inkorporationsleistung der polnischen Kirche mit dem Integrationsmodell »ethnischer Pluralismus« oder auch dem Konzept der »transnationalen sozialen Räume« klassifizieren: Im ersten Fall handelt es sich um den von der Kirche geprägten Raum um eine ethnisch-kulturelle Nische, im

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zweiten Fall um ein Beispiel grenzüberschreitender sozialer Bindungen zu Polen (vgl. Faist 2000a). So erhalten die polnischen Einwanderer hier die Möglichkeit, ihre kulturellen Eigenheiten weiterhin zu pflegen. Zudem kommen aber auch transnationale Bindungen zum Vorschein, etwa in Form von polnischen Medien, die hier gekauft werden können, oder die Pflege von Kontakten zu Transmigranten, die in Polen und in Deutschland leben. Das vorliegende Material ergab, dass die polnische Kirche auch für die oberschlesischen Arbeitsmigranten sowohl ein religiöser als auch ein sozialer Ort ist, der transnationale Funktionen hat. Wenn die Arbeitsmigranten die Möglichkeit haben, eine polnische Kirche einfach zu erreichen, nutzen sie diese. In der polnischen Kirche fühlen sie sich, aus sprachlichen und formalen Gründen, vertrauter. Dazu kommen die sozialen Begegnungen, die im Ankunftskontext außerhalb des Arbeitsund Wohnortes begrenzt sind. Wie bereits im zweiten Unterkapitel erwähnt, engagiert sich die regionale Kirche in Polen in der Seelsorge für ihre Mitglieder im Ankunftskontext. So wie die Affinität für die polnische Kirche im Zielkontext unter den Migranten relativ weit verbreitet ist, ist die Einstellung zu den herkömmlichen deutschen Kirchengemeinden geteilt, wie bereits im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen der polnischen »Gemeinschaft« und der deutschen/niederländischen »Gesellschaft« angedeutet. Ein Teil der Migranten kann sich in der westlichen kirchlichen Institution nicht wiederfinden: Die im Vergleich mit der polnischen Kirche moderne liturgische Form wird abgelehnt und als »Zirkus« gesehen. Für die Befragten, die diese Meinung äußern, ist die polnische Kirche die einzige Adresse; für einige Migranten, die regelmäßig nach Polen kommen, kommt der Kirchengang nur während des Aufenthalts in Polen in Frage. Ein Teil der Migranten sieht die deutsche kirchliche Praxis eher neutral, auch wenn sie sich eher für den Besuch einer polnischen Kirche entscheiden, sofern diese Alternative vorhanden ist. Und schließlich gibt es Migranten, die sich in der weniger konservativen, westlich geprägten Kirche wohler fühlen als in der ihrer Herkunftsgemeinde in Polen. Sie schätzen an ihr den weniger autoritären Umgang mit den Gläubigen durch die Priester, die altersgerechte Gestaltung der Liturgie und halten die von ihr vertretene Form von Religiosität für zeitgemäßer. Politik Die politische Partizipation und Identifikation war in dieser Arbeit aus zwei Gründen eine bedeutende Frage: zum einen bestimmte handelt es sich hier um eine spezifische Gruppe von Migranten, nämlich Doppelstaatler, die in zwei nationalstaatlichen Gemeinwesen gleichermaßen zur politischen Partizipation berechtigt sind. Daher war die politische Inkorporation der Befragten quasi automatisch eine relevante Frage. Zum anderen muss die politische Dimension wegen der Fragestellung

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und des theoretischen Rahmens berücksichtigt werden – politisches Handeln ist eine der Dimensionen der Inkorporationsmodelle, die es zu untersuchen gilt. Es zeigte sich, dass das politische Engagement der Arbeitsmigranten schwach ausgeprägt ist – keiner der Befragten hat je an Wahlen in Deutschland teilgenommen. Diese Tatsache muss jedoch differenziert interpretiert werden: So sind die Migranten generell, also auch in Polen, politisch wenig engagiert; zweitens sind es auch formale Gründe, die hinter der fehlenden Partizipation stehen: Erstens sind die Migranten an Wochenenden in der Regel nicht in Deutschland sondern in Polen, wodurch sie an dem Verfahren der Briefwahl teilnehmen müssten – eine Möglichkeit, die in Polen unbekannt ist. Zweitens sind sie zum Teil gar nicht wahlberechtigt, da sie nie in Deutschland angemeldet waren: Grundsätzlich ist für die Wahlberechtigung zwar nur der Besitz der Staatsangehörigkeit ausreichend, man muss keinen aktuellen Wohnsitz in Deutschland haben – Voraussetzung ist allerdings, dass man zu irgendeinem Zeitpunkt nach 1949 für mindestens drei Monate auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik angemeldet war. Für die aktive politische Beteiligung besteht also eine zusätzliche technisch-administrative Schwelle. Sicherlich ist diese auch für Betroffene ohne festen Wohnsitz in Deutschland nicht unüberwindlich – theoretisch könnten sich Interessierte etwa vorübergehend bei Verwandten oder Freunden anmelden; dies würde aber ein sicherlich über den Durchschnitt der einheimischen deutschen Bevölkerung hinausgehendes politisches Engagement voraussetzen, das daher nicht als objektiver Vergleichsmaßstab für die Integration der Migranten gelten kann.52 So geben vielmehr die rekonstruierten Vorstellungen, Urteile und Emotionen über den politischen transnationalen Raum Aufschluss über die subjektiven politischen Positionierungen der Migranten. Diese konnten unter anderem aus der Praxis der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit bzw. des Besitzes der doppelten Staatsangehörigkeit (etwa die Frage des Verzichtes auf eine der Staatsangehörigkeiten) abgeleitet werden, die im Folgenden genauer dargestellt werden soll.

52 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die allgemein beklagte Rückläufigkeit der Wahlbeteiligung in Deutschland. Es bedarf wenig Fantasie sich auszumalen, dass diese noch wesentlich niedriger läge, wenn die Bürger zusätzliche administrative Hürden zu überwinden hätten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die niedrigen Wahlbeteiligungen in den USA, wo kein Melderegister besteht und daher vor jeder Wahl eine Eintragung ins Wahlregister erforderlich ist. Mit diesen Hinweisen soll das relative Desinteresse der Betroffenen für die deutsche Politik nicht begründet oder gar gerechtfertigt werden; sie sollen lediglich zeigen, dass es kaum möglich ist, das politische Engagement der jeweils nur vorübergehend in Deutschland anwesenden Doppelstaatler objektiv mit dem Engagement »sesshafter« Deutscher zu vergleichen, da beiden Gruppen ein unterschiedlicher Aufwand abverlangt wird.

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Doppelte Staatsangehörigkeit – instrumentelle und symbolische Motive Wie bereits im zweiten Unterkapitel über die Praxis der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten, ist die Beantragung der zweiten Staatsangehörigkeit keineswegs eine »selbstverständliche« Praxis, die sei es aus der Perspektive der Rational-Choice-Theorie, sei es aus der Perspektive des normbestimmten Handelns – für die Betreffenden quasi automatisch aus ihrem vorhandenen Rechtsanspruch folgt. Auch wenn die Befragten selbst davon ausgehen, dass es sich hierbei um etwas »Selbstverständliches« handelt, zeigt die Auswertung ihrer Erzählungen, dass es vielfältige Motivationslagen gibt, die Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit zu beantragen. So muss zunächst festgehalten werden, dass nicht alle Deutschstämmigen, die den Anspruch darauf haben, diese Feststellung auch tatsächlich beantragen. In der Untersuchung ist die soziale Dynamik dieser Praxis deutlich geworden – und die Tatsache, dass die Befragten zuerst »transnational« denken müssen, d.h. Deutschland erst in ihren subjektiven Handlungsraum einbeziehen müssen, bevor sie sich für diese Beantragung entscheiden. Diese Vorstellungen müssen dabei nicht konkret sein – es genügt, die Option der Arbeitsmigration oder des Lebens im Ausland im Hinterkopf parat zu haben. Wie einer der Befragten es bezeichnete: der Pass fungiert als »Führerschein«, den man aktuell vielleicht nicht benötigt, aber auf den man immer zurückgreifen kann. Die Motive für die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit lassen sich in rein symbolische und instrumentelle unterscheiden, wobei die letzteren eindeutig dominieren.53 Bei der instrumentellen Motivation wird mit dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit die Möglichkeit der legalen Arbeit im Westen verknüpft. Die Mehrzahl der Interviewten beantragte die deutsche Staatsangehörigkeit vor dem Hintergrund der Arbeitsmigration. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist quasi hier ein »Ticket« in den europäischen Arbeitsmarkt. Die symbolische Dimension der Motivation ist etwas komplexer. Sie kann schlicht die Zugehörigkeit zu einem ethnischen Kollektiv (Deutsche, Oberschlesier) »dokumentieren«. Darüber hinaus haben die meisten Interviewten unterschwellig dichotome politische Vorstellungen vom politisch stabilen Westen bzw. unstabilen Osten. Das historische Wissen um die Region bzw. Familiegeschichte spielt hier hinein. Schließlich werden die Interviewten nach der Feststellung der Staatsangehörigkeit in alltäglichen Interaktionen oft mit der Frage nach der Begründung ihres Privilegs konfrontiert. Spätestens ab diesen Zeitpunkt fangen die Befragten an, eine

53 Eine aktuelle qualitative Untersuchung über Doppelstaatler (in Polen) unterscheidet ebenso zwischen der instrumentellen und symbolischen Motivation der doppelten Staatsangehörigkeit (vgl. KoryĞ 2006).

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eigene Erzählung über die Positionierung im transnationalen sozialen Raum zu konstruieren. Im Folgenden werden einige der Aspekte typisiert, mit denen die Befragten ihre doppelte Staatsangehörigkeit begründen. Deutsche Staatsangehörigkeit als symbolische Anerkennung In diesem Fall wird die Motivation, die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, mit der eigenen ethnischen Identität begründet. Diese Motivation ist unabhängig von konkreten Migrationsplänen der Befragten und soll vielmehr die eigene ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit »dokumentieren«. Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Diskriminierung der deutschstämmigen Bevölkerung in der Region, die in den Familienerzählungen weiter gegeben wurde und von den älteren Interviewpartnern noch selbst erlebt wurde, hat die heutige Anerkennung der deutschen Minderheit durch den polnischen Staat einen großen ideellen Wert. Die deutsche Staatsangehörigkeit bedeutet gleichzeitig eine symbolische Anerkennung der Minderheit durch den deutschen Staat. In dieser Begründung ist der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit also rein »wertrational« zu verstehen; er ist Selbstzweck bzw. dient der Deklaration – vor anderen wie vor sich selbst – der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit einer bestimmten Kultur und Geschichte. Diese erste Form der Motivation als eine »reine Anerkennung« wird dabei oft neben weiteren, dominanteren Motivationen zum Ausdruck gebracht – keiner der Befragten gab diese idealtypische Motivation in »Reinform« an. Vielmehr wird sie stets kombiniert mit (a) Erinnerungen an die Geschichte der Region oder (b) der gegenwärtigen und zukünftigen Situation – sei es die eigene oder die der Kinder. In vielen Fällen ist es schwierig, diese verschieden Formen empirisch voneinander zu trennen. Die folgende Aussage Sigmunds veranschaulicht diese Vermischung verschiedener Motive: »- Haben Sie auch für [Ihre Kinder] die [deutsche] Staatsangehörigkeit beantragt? Haben sie die auch? Sie haben sie. Ich habe mich nur – sozusagen – halt auf all diese Eventualitäten früher vorbereitet […]. Wenn, wissen Sie, der Mensch sich als Schlesier, oder als Deutscher fühlt54, ist es besser, sich abzusichern. - In Bezug auf Kinder auch?

54 Hier kommt ein interessanter sprachlicher Gesichtspunkt zum Tragen, der nur schwer übersetzbar ist. Der Interviewpartner benutzt hier nicht eine Konstruktion mit dem Verb für »sich fühlen« – etwa czuü siĊ kimĞ (wörtlich »sich jemand fühlen«, im Sinne von »sich deutsch/polnisch usw. fühlen). Stattdessen verwendet er die Konstruktion mit dem verwandten Verb poczuwaü siĊ jako (etwa »sich nach außen erkennbar wie jemand fühlen, zu erkennen geben, sich eine Identität zueigen machen«).

336 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN In Bezug auf Kinder auch. Um so mehr, als wir viel deutsche Kultur in uns haben. Aus dem Grunde haben wir sie beantragt.«

Hinzu kommen methodologische Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. Erstens besteht die Stichprobe dieser Untersuchung ausschließlich aus tatsächlichen Migranten. Zwar haben einige der älteren Befragten die deutsche Staatsangehörigkeit lange vor Aufnahme der Migration beantragt und die »ethnische« Motivation konnte zweifellos anhand der narrativen Erzählungen rekonstruiert werden. Eindeutiger belegbar wäre eine solche Haltung nur anhand von Personen, die zwar die deutsche Staatsanghörigkeit besitzen und sich als Deutsche bezeichnen, aber dennoch nie migriert sind. Hinzu kommt, dass auch bei Personen, die nicht vorhatten zu migrieren, dies aber aufgrund ihrer Staatsanghörigkeit in Zukunft tun könnten, durchaus – eventuell unbewusst – auch ökonomische, »zweckrationale« Motive eine Rolle spielen können. Möglicherweise halten es diese Personen nur für »nobler«, sich (auch gegenüber der Interviewerin) als von ideellen »Werten« motiviert zu präsentieren, und wollen vermeiden, als eigennützige »Wirtschaftsmigranten« zu erscheinen. Deutsche Staatsangehörigkeit als »Rückversicherung« vor dem Hintergrund historischen Wissens Analytisch zu unterscheiden ist diese Haltung von einer auf den ersten Blick sehr ähnlichen: Bei vielen Interviewten spielt das subjektive historische Wissen ebenfalls eine Rolle, jedoch ohne dass eine darin gründende Identität den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit zu einem Wert an sich machen würde. Eine gute Illustration dafür liefert Mariola. Mariola beantragt die deutsche Staatsangehörigkeit vor dem Hintergrund der Arbeitsmigration – sie wird wie eine Investition in die Zukunft im Sinne der Ressourcen gesehen. Aber es schweben auch andere Erfahrungen im Hintergrund: die Situation der Eltern im Kontext der Grenzverschiebungen und Vertreibungen nach 1945 und die Emigration der Geschwister in den 80er Jahren. In den 1990er Jahren erlebt Mariola in der Region nationale Spannungen: Sie erinnert sich an Medienberichte über Schmiererein wie »Schlesier raus nach Deutschland« in mehreren Orten – die sie auf den Neid der »Nicht-Schlesier« zurückführt.55 Diese sieht Mariola durch die Brille der schwierigen Erfahrungen ihrer Familie; aus dieser Perspektive gewinnt die deutsche Staatsangehörigkeit für Mariola eine zusätzliche Bedeutung – als politische Absicherung.

55 Eine Recherche hat keine Quellen für diese im Gespräch artikulierte Erinnerung der Interviewpartnerin ergeben; auf die tatsächlichen Ereignisse kommt es hier allerdings auch nicht an, sondern vielmehr auf die subjektive Wahrnehmung der Befragten.

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»Und damals habe ich für uns alle, für die Familie, es entschieden. Außerdem es gab so einen Moment, dass… es gab solche Zeit, dass man sagte, dass sie all diese Oberschlesier hier angeblich weg wollten, es gab so ein Gerede, als die SolidarnoĞü an die Macht kam usw. Es gab Aufschriften an den Wänden usw.: alles gegen Deutsche, weg, weg, weg. Ich sagte: ›man muss sich absichern, denn jetzt…‹ Vielleicht war das der Einfluss meiner Eltern oder der Schwiegermutter, dass man wird fliehen müssen. Und jeder, der diesen Pass hat, wird diese Grenze übertreten können, und wer ihn nicht hat – bleibt […] Mit diesem Hintergedanken, dass man in Zukunft arbeiten kann und außerdem dachte ich, was immer passieren wird, packe ich meine Familie zusammen und fliehe. Ich habe da zwei Schwestern. Also es ist besser so, wie es meine Schwiegermutter sagte, sich so im Leben zu orientieren. Auf gepackten Koffern zu sitzen, so wie sie damals. Sie wollten fliehen, um zu leben.«

Diese Sichtweise ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass Mariola – anders als ihre Eltern – sich selbst nicht als Deutsche sondern als Polin sieht. Trotzdem empfindet sie die beschriebenen nationalen Spannungen zwischen Polen und Deutschen in der Region als Bedrohung, da sie nicht sicher ist, ob die polnische Mehrheitsgesellschaft sie letztendlich tatsächlich als Polin akzeptiert. Inwieweit diese Gefühlslage eine wesentliche Entscheidungsgrundlage war, sei dahingestellt; wichtig ist, dass solche – wenn auch nur unterschwellige – Gefühle, Erinnerungen, Assoziationen überhaupt (noch) vorhanden sind und sich mit neuen aktuellen Inhalten (hier die in den 1990er Jahren erlebten nationalen Spannungen in der Region) besetzen lassen. Als Kombination aus historischen Erinnerungen und aktuellen Vorstellungen ergibt sich auch die Überzeugung, dass »der Westen« im Gegensatz zu »dem Osten« politisch stabil ist. Diese dichotome Vorstellung fügt sich in das allgemeine Vertrauen in »den Westen« als System, was ebenso aus der Erinnerung an die politische Situation vor 1989 resultiert. Das größere Vertrauen in westliche politische Institutionen und die Kontrastierung eines korrupten, nicht vertrauenswürdigen politischen Systems in Polen mit einem rechtsstaatlichen, verlässlichen politischen System im Westen und insbesondere in Deutschland war in den meisten Interviews zu finden. Ein solcher Ost-West-Gegensatz prägt die Stimmung in ganz Polen und ist keineswegs auf die Angehörigen der deutschen oder anderer ethnischer Minderheiten beschränkt; ein angenommener Interessengegensatz zwischen »uns und denen da oben« (my i oni), d.h. ein ausgeprägtes Misstrauen in den Staat und die jeweiligen politischen Eliten ist ein permanentes Merkmal der politischen Kultur mit langer Tradition, dessen Wurzeln sich bis in die Zeit vor den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Wie eine Studie von »Internetdiskussionen« über die Motive zur Migration in der jüngsten Migration (seit 2004) zeigt, ist – nach ökonomischen Gründen – gerade die Unzufriedenheit mit der politischen Situation in Polen für die (dauerhafte) Emigration ausschlaggebend. Sie ist also keineswegs ein besonderes Merkmal der Kultur der autochthonen

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Einwohner Oberschlesiens, aber eben auch bei diesen anzutreffen und wirkt sich bei ihnen in einer spezifischen Weise aus. Deutsche Staatsangehörigkeit als symbolische Dimension des transnationalen Lebens Wie eingangs bereits festgestellt, haben die Staatsangehörigkeit und die Nationalität für viele der Befragten kaum Bedeutung und werden vielmehr pragmatisch vor dem Hintergrund der (möglichen) Arbeitsmigration gesehen. Diese Haltung haben mehrere Migranten in der sehr ähnlicher Art wie Jan zum Ausdruck gebracht: »Es ist so, dass… etwa, wenn jetzt dieses Polen, etwa, es wieder Teilungen gäbe es oder so was, wenn Polen Pleite gehen würde als Land, dann würde ich mir da nicht den Kopf zerbrechen.«

Diese eher distanzierte Einstellung zu nationalen und politischen Kategorien wird aber im Kontext der Migration von vielen in Frage gestellt. Erst durch ihre mehrfachen Zugehörigkeiten werden die Doppelstaatler von der Mehrheitsgesellschaft kritisch auf ihre Bindungen, Loyalitäten, Rechte befragt. Erst durch diese kritischen Auseinandersetzungen sind die Migranten gezwungen, Erzählungen über ihre Zugehörigkeit vor sich selbst und der Umgebung zu konstruieren, wie an dieser bereits zitierten Aussage Ludwigs deutlich wird: »Ich habe kein Problem damit, sage ich immer. Warum soll ich nicht die doppelte Staatsangehörigkeit haben, wenn meine Eltern in Deutschland geboren wurden, du bist in Deutschland geboren, und dass ich in Polen geboren wurde, was kann ich dafür, das ist nicht meine Schuld. Und deswegen, deswegen habe ich die doppelte Staatsangehörigkeit und ich schäme mich nicht deswegen, dass ich die polnisch-deutsche, oder deutsch-polnische [Staatsangehörigkeit habe], das hat keine Bedeutung. Ich habe die deutsche, weil ich denke, dass die Eltern es verdient haben, dass ich die weiter aufrechterhalte, dass sie mir die weitergeben, wofür ich mich nicht schäme. Auf der anderen Seite habe ich das Recht auf die polnische Staatsangehörigkeit, warum sollte ich darauf verzichten, warum, ich habe keinen Grund dazu. Ich schäme mich auch nicht, dass ich in Schlesien geboren wurde, und es gehört zu Polen und ich habe hier – sagen wir – Freunde, hier, Bekannte, Freunde, Familie. Und gerade in diesen Zeiten, wo wir ein gemeinsames Europa sind. Warum, das hat doch zurzeit keine große Bedeutung. Also ich sehe keins…«

Unabhängig von solchen, positiven Aussagen zum Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist bei vielen der Befragten durchaus eine Enttäuschung darüber zu vernehmen, dass sie zwar auf dem Papier Deutsche wie alle anderen auch sind, sich in der Realität aber als Arbeitnehmer bzw. Bürger »zweiter Klasse« behandelt emp-

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finden – eine Problematik, von der auch Aussiedler berichten (z.B. Römhild 1998 zu sog. »Russlanddeutschen«). Diese Diskriminierung manifestiert sich vor allem in Alltagssituationen, wo die Migranten durch ihren Akzent bzw. mobile Lebensweise als Fremde gesehen werden. Dazu kommt die Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt oder Diskriminierung durch Beamte, etwa bei Behördengängen oder bei der Einreise. Hierzu zwei Beispiele: So berichtet etwa Marcin, wie ein Beamter sich darüber wunderte, dass er zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, aber nicht fließend Deutsch spricht: »Lernen Sie zuerst Deutsch und dann kommen Sie noch mal zu uns« – zitiert Marcin eine entsprechende Bemerkung. Hierbei wäre allerdings – was grundsätzlich schwerfällt und hier nicht möglich ist – von Fall zu Fall zu unterscheiden, inwieweit eine objektiv schlechte Behandlung, etwa durch Beamte, tatsächlich kausal mit einem Status als »Deutsche zweiter Klasse« zusammenhängen; schließlich fühlen sich auch »Deutsche erster Klasse« von Behörden oft genug arrogant behandelt. Auch führen Betroffene eine objektiv schlechte Behandlung durch andere oft subjektiv auf ihren Status als Minderheitsangehörige zurück, obwohl das nicht haltbar ist. So etwa der Befragte Krystian, der an mehreren Stellen im Interview betont, die oberschlesischen Arbeitsmigranten seien »Deutsche zweiter Klasse« (»weiße Neger der deutschen Gesellschaft«) – Krystian projiziert seine allgemeine Überzeugung über die Machtasymmetrie zwischen »eigentlichen« Deutschen und oberschlesischen Arbeitsmigranten auch auf Alltagssituationen. Wenn er z.B. von einem deutschen Kollegen als »Holzkopf« bezeichnet wird, lacht er zwar mit den anderen über den »Witz« – leidet aber stark darunter, dass seine Sprachkenntnisse nicht ausreichen, um sich zu verteidigen. Wie die meisten Befragten berichten, verstünden ihre deutschen Bekannten oft nicht, warum die Oberschlesier deutsche Staatsangehörige wären; geschichtliche Kenntnisse über die deutsche Vergangenheit der Region – für diese Gruppe eine Selbstverständlichkeit – seien unter der deutschen Mehrheitsgesellschaft gering verbreitet. »Private« soziale Räume Die zweite Kategorie sozialer Räume, in denen subjektive Positionierungen der Migranten konstruiert werden, kann man als »privat« bezeichnen, weil sie sich im Gegensatz zu den öffentlichen Räumen auf das Privatleben der Befragten – Freundschaften und Familienleben – beziehen. Zum großen Teil befinden sich die privaten Räume im Herkunftskontext und bilden die »Gemeinschaft« – samt der Familie und Bekannte –; teilweise erstrecken sich die privaten Räume auch auf den Zielkontext. Diese privaten sozialen Räume, die zum Teil nationale Grenze überschreiten, prägen die Identität, Sinn- und Handlungsorientierungen der Migranten. Am Anfang dieses Abschnittes ist die Entstehung der ethnischen Identität durch soziale Bindungen dargestellt. Im Folgenden sollen weitere identifizierte Arten der subjektiven

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Orientierung im Zusammenhang mit primären sozialen Beziehungen dargestellt werden. Neben der Ethnizität erweisen sich die Kategorien Klasse, Gender, Familie, Alter, Generation und individuelle biographische Ereignisse als relevant für die Identitätskonstruktion. Die Themen des Familienleben und Freundschaften wurden anhand des biographischen Materials im zweiten Teil dieses Kapitels bereits ausführlicher dargestellt. Hier handelt es sich also um einen Rückblick und die Frage, welchen Stellenwert familiäre und freundschaftliche Beziehungen für die subjektiven Orientierungen, Handlungsmotive und Selbstbilder der Pendelmigranten haben. Familie Durchgehend für alle Interviewpartner war die Familie (Ehepartner, Kinder, Eltern und ferner Geschwister) der wichtigste soziale Bezugspunkt. Die Regel war, dass ein Teil der Familie in Polen zurückblieb; junge Partner planten ihre Zukunft zusammen mit dem (Ehe-) Partner, die mit den Befragten migrierten oder in Polen zurückblieben, wenn sie dort familiäre, berufliche oder andere Bindungen/Verpflichtungen hatten. In bestimmten Situationen, wenn Kinder erwachsen waren oder keine Kinder da waren, gingen die Partner zusammen bzw. abwechselnd zur Arbeit in den Westen. Bei den erwachsenen Kindern der Befragten aus der ersten Generation wurden alle drei Möglichkeiten des Umgangs mit der Migration vorgefunden: sie blieben in Polen, pendelten ebenso wie die Eltern oder wanderten aus. Die Eltern der Befragten lebten mehrheitlich in Polen, aber die Geschwister und weitere Verwandte waren oft Emigranten. Das soziale Umfeld, also Nachbarn und Freunden waren ebenso teilweise »sesshaft«, aber größtenteils ebenfalls temporäre Migranten oder teilweise Emigranten. Wie die befragten Migranten mit Kindern im Alltag die Elternrolle ausfüllen, wurde bereits im zweiten Teil beschrieben; an dieser Stelle kommen wir auf diesen Aspekt noch einmal im Kontext der subjektiven Positionierungen der Migranten im transnationalen Raum zurück. Welchen Stellenwert hatte das Elternsein für diese subjektive Verortung der Befragten? Wenn die Kinder noch nicht erwachsen sind, bedeutet die Arbeitsmigration eine zeitweise Trennung. Insbesondere bei Eltern mit Kleinkindern wiegt die Trennungssituation aus der Sicht der Befragten schwer; die Trennung von der Familie, insbesondere den Kindern, wird von den Migranten als größter Nachteil der Arbeitsmigration genannt. Die Frauen vermeiden die Trennung eher, indem sie nur kurze Arbeitsaufenthalte absolvieren bzw. in den ersten Lebensjahren des Kindes ganz auf die Migration verzichten. Wobei diese Strategie gerade durch die Arbeitsmigration der Partner erst ermöglicht wird. Jedoch funktioniert diese Strategie nicht mehr, sobald der männliche Ernährer aus welchen Gründen auch immer ausfällt (und diese Situation ist zunehmend keine Ausnahme mehr): In dieser Studie lagen die Gründe z.B. bei der Arbeitslosigkeit des Ehemannes, dem zu niedrigem Einkommen des Ehepartners sowie dem Wegfall des Einkommens durch Alkoholismus des Partners usw. Anders bei den Vätern:

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Durch Fremd- und Selbstzuschreibungen sehen sie sich in einer Ernährer-Rolle. Ein Intrarollen-Konflikt zwischen der Ernährerrolle und erzieherischen, emotionalen Aufgaben ist bei allen Interviewpartnern vorhanden. Der Umgang mit dieser Ambivalenz ist unterschiedlich: Es wird mit der Figur des ökonomischen Zwanges, der historischen Erinnerung über Arbeitsmigration in der Familie und in der Region argumentiert, die Ernährerrolle wird betont. Wichtig sind hier auch die transnationale Kommunikation und regelmäßige Besuche nach Hause; gerade das regelmäßige Pendeln nach Polen wird als ein wichtiger Teil der erzieherischen bzw. emotionalen Arbeit gesehen. Das Pendeln hat hier also nicht nur eine konkrete Dimension des Wechselns zwischen zwei physischen Lebensorten, sondern eine emotionale und sinnstiftende Bedeutung. Plastisch stellt die Erfahrung des Reisens der Befragte Paweł dar: »Als wir gefahren sind, da haben wir beide gewinselt, bis wir an die Grenze kamen. Als wir dann an die Grenze kamen, dann hatten wir schon andere Pläne. Dass wir dies und das kaufen. Das schlimmste war es, die Grenze zu übertreten. Denn es fiel so schwer, wegzufahren. Und wenn man zurückfuhr, dann fühlte man sich schon besser. So entspannt war man…«

Viele Migranten berichten in diesem Zusammenhang, dass sie das Getrenntleben wie eine von selbst ablaufende, fremdbestimmte Routine empfinden – ein Befragter verglich es gar mit einer Art »Trance«. Die Trennungen von der Familie und von zu Hause, der Moment des Überwechselns, fällt besonders schwer. Das wird dann besonders deutlich nach längeren Aufenthalten zu Hause: Die Migranten berichten, dass sie immer Zeit brauchen, um sich sowohl im Leben in Polen wie auch in Deutschland/Niederlanden immer aufs Neue einzurichten. Für die meisten ist schließlich die in näherer oder fernerer Zukunft eingeplante dauerhafte Rückkehr ein wichtiges Argument, um die gegenwärtige Situation zu rechtfertigen. Wie die geschilderten Migrationsstrategien zeigen, gelingt manchen tatsächlich die dauerhafte Rückkehr bzw. dauerhafte Auswanderung; viele richten sich allerdings mit der permanenten Migration ein (»settled in migration«). Der Befragte Grzegorz beschreibt diese Situation mit dem Blick eines geschulten Ethnologen: »So viele Leute fahren dahin [...] Dahin fahren einfach alle, alle. Wenn Kinder da sind, dann kochen sie sich selbst zu Hause, weil die Eltern arbeiten. Oder die Frauen sind alleine zu Hause, weil die Männer arbeiten, das… was ist hier los… ich überlege immer, was wird weiter passieren mit diesen Menschen. Manche Personen, wie ich gehört habe, haben ihre Kinder dahin mitgebracht. Zum Beispiel haben die Frau und der Mann da gearbeitet, hier waren zwei Kinder bei den Großeltern, sie haben die Kinder zu sich genommen und bauen da ihre Zukunft auf. Das geht noch und nicht […] die Familie hier. Jetzt… vor ca. zwei Wochen war ich auf einem Geburtstag und da war ein Typ, der jetzt in Deutschland arbeitet. Und er kam zu

342 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN diesem Geburtstag mit seiner Frau und Tochter, und zwei Monate hat das Kind den Vater nicht gesehen, zwei Jahre war sie alt. Ich sage: was hast Du vom Leben? Er hat kein Leben: Zwei Monate ist er weg, er kommt für eine Woche und dann ist er wieder weg. Dieses Kind: ›Papa, Papa‹. Ich sage: ›Tomek, wann kommst du zurück?‹ So viele haben gesagt, sie fahren mit einem konkreten Ziel, aber keiner kann damit aufhören.«

Migranten, die eine jahrelange Trennung von ihren mittlerweile erwachsenen Kindern erlebt haben, bedauern meist, dass sie sich nicht entschieden hätten, entweder auszuwandern oder nur in Polen zu arbeiten, als die Kinder noch klein waren. Sie betonen auch, dass in der ersten Phase der Arbeitsmigration (bis ca. Mitte der 1990er Jahre) die Pendelintervalle länger und dementsprechend die Besuche in Polen seltener waren. Diese – aus der Sicht der Befragten – positive Veränderung zugunsten einer stärkeren Einbeziehung in das Familienleben im Herkunftskontext konnte insbesondere an einigen langen Migrationsbiographien verfolgt werden. Alle Befragte, deren Arbeitsmigration bereits Mitte der 1990er oder sogar noch vor der Wende begann, berichten, dass sie durch die zunehmende Frequenz der Besuche in Polen (ein- bis zweiwöchentlich zum Zeitpunkt der Interviews), viel stärker in das Familienleben einbezogen sind. In dem Sinne kann man zusammenfassend festhalten, dass durch die regelmäßige Präsenz der Eltern zu Hause sowie den verbesserten virtuellen Kontakt mit den Familien insbesondere über (Mobil-) Telefonate, die hier praktizierte Elternschaft zunehmend als transnational bezeichnet werden kann. Die Arbeitsmigration ist in der Regel eine Entscheidung, die in der Familie getroffen wird. In seltenen Fällen entscheiden die Migranten gegen den Willen der Ehepartner; auch in dieser Stichprobe waren derartige Fälle anzutreffen. Die Regel ist das jedoch familiäre Arrangement. Es ist auch oft das Resultat der Entscheidung gegen die Auswanderung, hinter der Ehefrauen stehen. Das kann jedoch nicht darüber täuschen, dass die Migration kontinuierlich Gegenstand weiterer Aushandlungen zwischen den Ehepartnern ist. Die Beziehung wird durch die Trennung auf Probe gestellt, Entfremdung bzw. Konflikte sind eine Nebenfolge. Ein genauerer Einblick in das Eheleben der Migranten war hier aus methodologischen Gründen nicht möglich – nur in wenigen Fällen war es möglich, mit den Partnern der Befragten zu sprechen. Wie jedoch bereits in den ersten Unterkapiteln ausführlich dargestellt, sind die in der Regel zurückbleibenden Ehepartner wichtige Bezugspersonen für die Migranten. Durch ihre Unterstützung zu Hause wird oft das transnationale Leben der Migranten in der Form (mit Schwerpunkt in Polen) überhaupt erst ermöglicht. Eine nicht zu vernachlässigenden Personengruppe sind die Eltern der Migranten. Je nach dem, ob die Eltern leben und wo, ob sie auf Hilfe angewiesen sind und wer die Betreuungsarbeit in der Familie übernehmen kann, wird die Entscheidung über Auswanderung bzw. Pendelmigration getroffen. Die Mehrheit der Interview-

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partner aus der ersten Generation und – nicht wenige aus der zweiten – haben Geschwister, die dauerhaft in Deutschland leben. Und so stellt sich bei älteren Befragten die für die Migration relevante Frage, wer die praktische und emotionale Betreuung der Eltern übernehmen kann und will, wenn die migrierenden Kinder fort sind. Junge Migranten stehen vor der Frage, wer die kleinen Kinder betreut – eine Aufgabe, die meist den Großeltern zufällt. Auf jeden Fall erzeugt die längere Abwesenheit von Personen – insbesondere wenn es sich um Frauen handelt –, die von ihnen abhängige Kinder oder Alte betreuen, einen care drain. Dies fällt umso stärker ins Gewicht, als der Staat in Polen wenig Unterstützung für Familien in entsprechenden Situationen bietet und die Hauptlast der Familienarbeit von den Frauen geleistet wird (Szelewa/Polakowski 2008, PlomieĔ 2009, Keryk 2010). Je nach familiärer Situation leben die Familienmitglieder dauerhaft in Deutschland bzw. arbeiten haupt- bzw. nebenerwerblich in Deutschland bzw. in den Niederlanden; in solchen Fällen erstreckt sich der familiäre private Raum über die Grenze hinweg. So ist es z.B. bei dem bereits im ersten Unterkapitel beschriebenen Befragten Krystian der Fall, der vor Aufnahme seiner Migration beim Bau des Hauses seiner in Deutschland lebenden Geschwister hilft. Die Beziehungen zu den Geschwistern stellen in seinem Fall nicht nur soziales und kulturelles Kapital bereit, das für die bereits »vorhandenen« Ziele genutzt werden konnte. Durch sie verändert sich zuerst Krystians Selbst- und Weltbild, sie setzen neue Normen und Maßstäbe, erweitern Erwartungshorizonte, lassen neue Bedürfnisse entstehen. Krystian ist sich dessen durchaus kritisch bewusst: »Mein Abenteuer mit Deutschland fing an […] seit 1989, als dies alles anfing. Die Auswanderung der Menschen von hier nach Deutschland, damals ist mein Bruder ausgewandert, meine Schwester, und ich bin alleine zurückgeblieben hier in Polen, von meiner Frau sind auch zwei Schwestern ausgewandert. Na ja, es ist im Grunde so, dass die Familien so ein bisschen auseinander gefallen sind, und dank dessen – vielleicht ist das schädlich – dank dessen sieht der Mensch mehr aber… will eben auch mehr […] Ich bin in der schlechten [sic] Situation, dass ich sehe, wie sie da leben. Sicher, wenn ich es nicht sehen würde, dann wäre man viel ruhiger und hätte nicht das Bedürfnis, ’rauszufahren. Denn […] die Psyche des Menschen ist so – glaube ich – dass… Vielleicht ist das auch gut so, weil man dank dessen ja vorankommt – dass man immer besser leben, mehr haben will. Und wenn man sieht, dem einen geht es besser, dann… Verflixt… Dann müsste man sich auch bemühen, damit es uns genauso gut geht, mindestens so gut…«

Mit anderen Worten: Transnationale Migration hilft nicht nur bei der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern oftmals produziert sie erst Bedürfnisse, die dann durch Migration befriedigt werden sollen. Ein Haus besitzen zu wollen, sagt Krystian einmal, sei eine regelrechte »Krankheit«.

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Freundschaften und soziales Umfeld So vergleichen sich die Migranten mit ihren in Deutschland lebenden Verwandten (wie Krystian) oder Freunden; viele entscheiden sich aus diesem Grund für die Migration. Die meisten messen sich an der transnational community und weniger an der Mehrheitsgesellschaft in Polen. So bleiben sie gefangen zwischen dem »NichtBleiben« und »Nicht-Auswandern«, da sie ständig mit beiden Referenzgruppen – den Auswanderern in Deutschland und den Nicht-Migranten in Polen – konfrontiert sind und ihre eigene Situation als Pendelmigranten mit ihnen und mit anderen Pendelmigranten vergleichen können. Diese Orientierung und Vergleiche beziehen sich auf den Lebensstil, das Familienleben, materielle Anspruchshaltungen. Dass die subjektiven Positionierungen entlang der Klasse im transnationalen Raum spannungsreich sein können, zeigen insbesondere Extremfälle. Ein solcher Fall ist etwa Renata: Sie ist eine junge Frau, die mit der Arbeitsmigration ihr Studium finanziert. Der Aspekt »Klasse« prägt Renatas soziale Verortung. Nicht familiäre oder ethnische Bindungen (letztere spielen für sie sowieso keine Rolle), sondern Bekanntschaften und Freundschaften bilden das soziale Kapital. Da Renatas Lebensmittelpunkt im Moment in den Niederlanden liegt, hat sie die meisten Bekanntschaften dort: darunter sind Niederländer, u.a. eine niederländische Freundin, deren Stelle als Lageristin Renata übernommen hat. Sie studieren beide und haben ähnliche Interessen; sie treffen sich einmal pro Woche, wenn Renata in einem bestimmten Ort arbeitet. Außerdem pflegt sie Freundschaften mit Polen – dabei handelt es sich meist um Emigranten, die in den Niederlanden andere Aspirationen bzw. einen anderen Lebensstil haben als die Oberschlesier. Sie und ein Freund aus Gliwice (ein Emigrant) helfen sich gegenseitig organisatorisch (z.B. beim Devisenkauf, Transport). Mit den oberschlesischen Arbeitsmigranten hat Renata dagegen am wenigsten privaten Kontakt. Dass sie sich der Gruppe der Oberschlesier nicht zugehörig fühlt, zeigt die folgende Aussage deutlich: »Ich sage es so: Nach Holland kommen oft wenig ehrgeizige Personen. Zumindest empfinde ich das so. Vor allem Oberschlesier, und unter ihnen halte ich mich auf. Das sind Leute, die oft wenig hohe Aspirationen haben, eher: das Haus schön zu renovieren oder sich schöne Dekorationen an den Fenstern zu machen. Sie interessiert die Frage der Bildung nicht, oder dass man zum Beispiel ein Geschäft ausprobieren kann, wenn es nicht klappt – na, kann man nichts machen. Das sind alles unsere Erfahrungen, zumindest ich sehe es so. Das sind Leute, die es so nehmen… kurzsichtig. Nicht alle, aber…Vielleicht ist das auch ein Problem dieser Art, dass ich in der Regel eine Position habe: als Übersetzer oder ich organisiere die Arbeit, in der Regel habe ich eine höhere Position als sie und deswegen gibt es irgendwelche Anspielungen, oder schiefes Gucken […] Ich bin selbst Schlesierin, und es ist nicht so, dass ich die schlesische Gruppe kritisieren würde, denn es geht nicht darum, aber irgendwie… selten treffe ich jemanden, mit dem ich mich völlig locker fühle. Es gibt solche Themen: wir sprechen

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über Kochen, Renovierungen am Haus – über solche Sachen. Aber so eine volle Lockerheit, in jeder Hinsicht, da empfinde ich dieses Verständnis nicht.«

Renata gehört damit zu den klassischen »Einsteigern«: Zwar hat sie inzwischen ein Arbeitsangebot in Polen bekommen, geht aber gemeinsam mit ihrem Ehemann in den Niederlanden einer eher unqualifizierten Arbeit nach – dies will sie solange fortsetzen, bis sie ihr Haus zu Ende gebaut hat, genug Startkapital für die Selbständigkeit ihres Mannes vorhanden ist und sie eventuell ihr Masterstudium abgeschlossen hat. Sollte sich Renata ihren Berufswunsch Grundschullehrerin nicht erfüllen können, würde sie gerne in die Niederlande auswandern; dafür besucht sie bereits Niederländischkurse. Das Leben der Mehrheit der oberschlesischen Pendler, wie auch ihre ältere Schwester es konsequent vorlebt, will sie dagegen nicht teilen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der oberschlesischen Arbeitsmigranten ist für sie nicht identitätsstiftend, sondern nur vorübergehendes Mittel zum Zweck. Im Gegensatz zu Renata ist die Mehrheit der Befragten jedoch fest in diese transnationale Gemeinschaft eingebunden, zu der die Arbeitsmigranten und ihre nicht-migrierenden Familien (Kinder, Ehefrauen, Eltern usw.) gehören. Diese transnationale Gemeinschaft erstreckt sich auf die nicht-migrierenden Familien und lokalen Gemeinden im Herkunftskontext sowie auf Verwandte und Freunde im Zielkontext. Daraus ergeben sich in verschiedenen Lebensbereichen subjektive Bindungen zum Herkunfts- und Ankunftskontext. Dabei bleibt in dieser Untersuchungsgruppe tendenziell der Herkunftskontext der wichtigere Referenzrahmen, denn dort haben alle Befragten ihre Jugend verbracht und dort spielt sich ihr privates Leben hauptsächlich ab.

Z WISCHENFAZIT Welche Schlussfolgerungen lassen sich nach der Analyse der subjektiven Aspekte in der oberschlesischen Pendelmigration ziehen in Bezug auf die Leitfrage dieser Arbeit? Verorten sich die Migranten auch subjektiv transnational und welche Bedeutung hat dies für ihre Migration? Die Analyse konnte einige Formen der subjektiven transnationalen Verortungen aufzeigen. Dabei stellte sich heraus, dass für die untersuchte spezifische Gruppe von Migranten, die in einer ehemaligen Grenzregion beheimatet sind, die Vergangenheit ein wichtiges Reservoir von Deutungen ist, die verwendet werden, um dem eigenen Handeln und rückwirkend eigenen Biographien einen bestimmten Sinn zuzuschreiben. Neben dem prototypischen Fall eines nur imaginierten (im Sinne Benedict Andersons) und nicht gelebten Transnationalismus konnte gezeigt werden,

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über Kochen, Renovierungen am Haus – über solche Sachen. Aber so eine volle Lockerheit, in jeder Hinsicht, da empfinde ich dieses Verständnis nicht.«

Renata gehört damit zu den klassischen »Einsteigern«: Zwar hat sie inzwischen ein Arbeitsangebot in Polen bekommen, geht aber gemeinsam mit ihrem Ehemann in den Niederlanden einer eher unqualifizierten Arbeit nach – dies will sie solange fortsetzen, bis sie ihr Haus zu Ende gebaut hat, genug Startkapital für die Selbständigkeit ihres Mannes vorhanden ist und sie eventuell ihr Masterstudium abgeschlossen hat. Sollte sich Renata ihren Berufswunsch Grundschullehrerin nicht erfüllen können, würde sie gerne in die Niederlande auswandern; dafür besucht sie bereits Niederländischkurse. Das Leben der Mehrheit der oberschlesischen Pendler, wie auch ihre ältere Schwester es konsequent vorlebt, will sie dagegen nicht teilen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der oberschlesischen Arbeitsmigranten ist für sie nicht identitätsstiftend, sondern nur vorübergehendes Mittel zum Zweck. Im Gegensatz zu Renata ist die Mehrheit der Befragten jedoch fest in diese transnationale Gemeinschaft eingebunden, zu der die Arbeitsmigranten und ihre nicht-migrierenden Familien (Kinder, Ehefrauen, Eltern usw.) gehören. Diese transnationale Gemeinschaft erstreckt sich auf die nicht-migrierenden Familien und lokalen Gemeinden im Herkunftskontext sowie auf Verwandte und Freunde im Zielkontext. Daraus ergeben sich in verschiedenen Lebensbereichen subjektive Bindungen zum Herkunfts- und Ankunftskontext. Dabei bleibt in dieser Untersuchungsgruppe tendenziell der Herkunftskontext der wichtigere Referenzrahmen, denn dort haben alle Befragten ihre Jugend verbracht und dort spielt sich ihr privates Leben hauptsächlich ab.

Z WISCHENFAZIT Welche Schlussfolgerungen lassen sich nach der Analyse der subjektiven Aspekte in der oberschlesischen Pendelmigration ziehen in Bezug auf die Leitfrage dieser Arbeit? Verorten sich die Migranten auch subjektiv transnational und welche Bedeutung hat dies für ihre Migration? Die Analyse konnte einige Formen der subjektiven transnationalen Verortungen aufzeigen. Dabei stellte sich heraus, dass für die untersuchte spezifische Gruppe von Migranten, die in einer ehemaligen Grenzregion beheimatet sind, die Vergangenheit ein wichtiges Reservoir von Deutungen ist, die verwendet werden, um dem eigenen Handeln und rückwirkend eigenen Biographien einen bestimmten Sinn zuzuschreiben. Neben dem prototypischen Fall eines nur imaginierten (im Sinne Benedict Andersons) und nicht gelebten Transnationalismus konnte gezeigt werden,

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dass sich »historisch-imaginierte« und »gelebte« Formen von Transnationalismus vermischen. Die historischen Erinnerungen spielen im Einzelfall eine verschieden große Rolle, müssen aber bei der Analyse der heutigen Migrationsprozesse stets als Erklärung mitberücksichtigt werden. Andere soziale Kategorien wie Ethnizität oder Klasse spielen ebenso eine wichtige Rolle für die Art, wie sich die Migranten subjektiv im transnationalen Raum verorten. Bezüglich der Ethnizität etwa gibt es widersprüchliche Ergebnisse: Die Akteure selbst messen dieser Kategorie unterschiedlich starke Bedeutung zu; nationale Affinitäten sind zum Teil weniger wichtig als lokale. Für das soziale Gegenüber der Migranten jedoch, insbesondere im Zielkontext, sind Nationalität bzw. Ethnizität teilweise die wichtigsten sozialen Marker – was sich in den alltäglichen Interaktionen deutlich zeigt, in denen die mobilen Lebensweisen und Zugehörigkeiten der Doppelstaatler durch das soziale Umfeld im Zielkontext in Frage gestellt werden. Die Bindungen zu Herkunfts- und Ankunftskontext sind in den meisten Fällen asymmetrisch, der Schwerpunkt liegt dabei meistens im Herkunftskontext. Die Bindungen zum Zielkontext können sich auf den Arbeitsmarkt beschränken, aber auch auf weitere öffentliche und private Räume beziehen. Es hat sich gezeigt, dass sich die Pendelmigration nicht allein mit dem rationalen Nutzen-Kalkül eines homo oeconomicus erklären lässt, wie es etwa die Theorie der New Economics of Labour Migration (z.B. Stark/Fan 2006) will. Die Bedeutung dieses Handlungsantriebs darf sicherlich nicht unterschätzt werden; jedoch zeigt sich in den Alltagspraktiken der Migranten ebenso der normenorienterte homo sociologicus. Gerade die rekonstruierten subjektiven Verortungen innerhalb der sozialen Räume zeigen, über welche soziale Rollen und Zugehörigkeiten sich der Sinn von Praktiken der Migranten erklären lässt. Das Prestige im sozialen Umfeld, das traditionelle »oberschlesische« und das neue »transnationale« Arbeitsethos, das Rollenverständnis als Ernährer, Erzieher, als für die Familie Sorgende – hier überlagert die soziale Normenkonformität das rationale finanzielle Kalkül, mit dem allein man etwa das anstrengende Pendeln und das »Leben auf den Koffern« nicht erklären kann, weil deren Nutzen für den Akteur selbst fraglich ist. Schließlich müssen auch weitere soziologische Handlungsmodelle hingezogen werden, die die anderen Hauptmodelle in den Hintergrund treten lassen bzw. mit ihnen Hand in Hand gehen. Uwe Schimank (2000) führt zwei bisher noch wenig beachtete bzw. wenig herausgearbeitete Handlungsmodelle ein: Den Emotional man und den »Identitätsbehaupter«. Insbesondere beziehungsorientierte Emotionen wie Liebe, Mitgefühl, Neid, Hass können zu Antrieben des sozialen Handelns werden, auch wenn sie in der Regel nicht uneingeschränkt ausgelebt werden, sondern durch soziale Normen oder sogar das rationale Kalkül kanalisiert werden (Schimank 2000: 110ff). Die Emotionen spielen eine bedeutende Rolle bei der Aufrechterhaltung von grenzüberschreitenden Beziehungen (etwa die Kommunikation mit

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den Familienmitgliedern) oder bei den Beziehungen zu Nachbarn, Kollegen – wie viele Aussagen deutlich machen konnten. Der Identitätsbehaupter handelt, um seine persönliche Identität zu behaupten. Gerade in Situationen der Identitätsbedrohung, z.B. durch Stigmatisierung (vgl. Goffman 1967), wird die Erhaltung der eigenen Identität zum Handlungsantrieb; der Umgang der Migranten mit den ethnischen Zuschreibungen in den Medien und Alltagssituationen machte sehr deutlich, wie wichtig dieser »identitätsbehauptende« Aspekt ist. Zusammenfassend: Die subjektiven Verortungen der oberschlesischen Arbeitsmigranten entstehen durch eine Vermischung von historischen Vorstellungen einerseits und der gegenwärtigen Alltagspraxis in Polen und Deutschland andererseits. Die Transnationalisierung der subjektiven Lebenswelten der Migranten – ihrem Wissen, Vorstellungen, Normen, Aspirationen, Gefühlen, Identitäten – hängt mit deren Alltagsleben in zwei nationalen Kontexten zusammen, und ihren jeweiligen individuellen Biographien, Rollen, Zugehörigkeiten und Wertevorstellungen. Die historische (historisch-imaginierter Transnationalismus) und migrationsbedingte (gelebter Transnationalismus) Erweiterung des Alltagslebens der Befragten um den transnationalen Raum hat zur Folge, dass sich die Migranten oft plurilokal verorten – wobei dieser Prozess nicht unbedingt Hand in Hand mit tatsächlichen transnationalen Alltagspraktiken gehen muss: So befinden sich in der vorliegenden Stichprobe Migranten, die im Alltag ein transnationales Leben führen und sich trotzdem mental eher monolokal im Herkunftskontext verorten, und umgekehrt auch Migranten, die nach Polen zurückgekehrt sind, jedoch kognitiv und emotional in einem transnationalen Raum verbleiben.

Schlussfolgerungen und Desiderate

S IND OBERSCHLESISCHE ARBEITSMIGRANTEN T RANSMIGRANTEN ? S CHLUSSFOLGERUNGEN ZUM T RANSNATIONALISMUS -K ONZEPT Im Sinne des theoretischen Begriffs Transnationalität stellt das Beispiel Oberschlesien in vielerlei Hinsicht einen auf den ersten Blick prototypischen Fall dar. Es gibt jedoch einen markanten Unterschied: In vielen Studien zur transnationalen Migration wird beschrieben, wie Migranten Bindungen zum Herkunftskontext aufrechterhalten, während sie ihren Lebensschwerpunkt im Ankunftskontext haben, was unter anderem auf große Entfernungen und/oder illegalen Status zurückzuführen ist.1 Im oberschlesischen Fall ist es umgekehrt – die geringe Distanz zwischen Deutschland und Oberschlesien sowie der uneingeschränkt legale Status ermöglichen es, dass der Lebensschwerpunkt dieser Migranten eher im Herkunftskontext liegt, so dass das empirische Vorliegen von Transnationalität vielmehr im Ankunftskontext zu prüfen ist: Bauen diese Migranten entsprechende Bindungen zum Ankunftskontext auf oder nicht? Die Analyse der Lebenswelten der oberschlesischen Arbeitsmigranten – ihrer Alltagspraxis und subjektiver Verortungen – zeigt, dass sich das Modell der transnationalen Migration auf diesen Fall anwenden lässt; allerdings kann damit nicht die gesamte empirische Realität der Pendelmigration erfasst werden. Vielmehr ist es sinnvoll, die Dynamik der Migration und die Inkorporationsmuster der untersuchten Gruppe mit zwei analytischen Modellen zu beschreiben: der Transmigration und der recurrent migration. Die Modelle der Rückehrmigration und Emigra-

1

Vgl. z.B. Inder in den USA (Morawska 2003a), Phillipinas in Rom und in den USA (Parreñas 2001), Latinas in den USA (Hondagneu-Sotelo 1997), mehrere lateinamerikanische und karibische Fallstudien (Smith/Guarnizo 1998), Ukrainer und Ecuadorianer in Spanien (Leifsen/Tymczuk 2012).

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tion verlieren dabei ihre Gültigkeit nicht – die Sekundärliteratur zeigt, dass Emigration und Rückkehrmigration weiterhin stattfinden und auch ein Teil der in dieser Studie untersuchten recurrent migrants und Transmigranten wandert letztendlich nach Deutschland aus oder kehrt nach Polen zurück. Idealtyp

Emigrant

»klassischer« Rück-

Transmigrant

kehrmigrant

migrant ausgeprägt prakti-

soziale

Monolokaler Be-

Bezüge

zug zum Ankunfts- lokaler Bezug zum An- zierter plurilokaler kontext.

vorübergehend mono-

Recurrent

monolokaler Bezug zum

kunftskontext, Bezug

Bezug zum Her-

Herkunftskon-

zum Herkunftskontext

kunfts- und An-

text,

vorhanden, aber gering

kunftskontext

Bezug zum An-

praktiziert.

kunftskontext schwach ausgeprägt

Typologie in Anlehnung an Pries (2007: 111, 2004b: 10)

Für die Beschreibung des Migrationsverhaltens oberschlesischer Doppelstaatler kommen nun zunächst zwei Idealtypen in Frage – der des Emigranten, der einen monolokalen sozialen Bezug zum Ankunftskontext aufbaut und den Bezug zum Herkunftskontext weitgehend einbüßt; oder der des Transmigranten, der einen plurilokalen Bezug sowohl zum Herkunfts- als auch zum Ankunftskontext etabliert. Hinzu kommt der Idealtyp des »klassischen« Rückkehrmigranten (vgl. Pries 2007: 111) – verkörpert etwa durch einen Gastarbeiter, der zwar wie der Emigrant über längere Zeit auswandert, jedoch eine Absicht zur endgültigen Rückkehr beibehält (vgl. Constant/Massey 2002, Currle 2006, Cerase 1974, Gmelch 1980); dieser Typ behält einen Bezug zum Herkunftskontext bei, auch wenn er vorübergehend »auf Eis gelegt« zu sein scheint. Das hier analysierte Material legt jedoch nahe, dass unter den oberschlesischen Pendelmigranten auch solche Migranten sind, die nur sehr oberflächliche Bindungen an den Ankunftskontext aufbauen – obwohl äußerlich mobil wie ein Transmigrant, entsprechen sie hinsichtlich des Modus der Inkorporation im Ankunftskontext dem Typ eines recurrent migrant. Dieser Typ der Migration – ein temporärer Wanderarbeiter mit Lebensschwerpunkt im Herkunftskontext – ist dabei nicht neu: es finden sich viele empirische Beispiele für diesen Typus, etwa in der historischen Migrationsforschung (Holmes/Quataert 1986, Lucassen 2006), er wurde aber theoretisch nur wenig ausgearbeitet (Ausnahmen Pries 2004b, Gonzalez 1961, Wiest 1971, Piore 1979, Stark 1991, 2007) und die Hinweise auf diesen Typus finden wir in der Literatur zerstreut. Die vorliegende Studie macht deutlich, dass dieser auch in

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vielen anderen Studien beschriebene Migrantentypus als ein theoretisches Modell ernst zu nehmen ist (vgl. Pries 2004b). Die Untersuchung hat gezeigt, dass das in der Migrationstheorie bisher dominierende, ökonomisch ausgerichtete Modell des target worker nur eingeschränkte Erklärungskraft besitzt, da es soziokulturelle Einflussfaktoren, wie symbolische Verortungen oderdynamisch und relational zu erfassende soziale Positionierungen ausblendet – für die monolokale Inkorporation der oberschlesischen target workers sind aber gerade diese von Bedeutung. Der hier vorgeschlagene Typus eines recurrent migrant berücksichtigt diese Einflussfaktoren (z.B. Heimatverbundenheit, teilweise Feindseligkeit gegenüber anderen ethnischen Gruppen (!), vergeschlechtlichte Familienrollen). Mit dem Transnationalismus-Konzept konnten komplexe plurilokale Bindungen und ihr Zusammenspiel rekonstruiert werden (z.B. verhindert die transnationale Arbeitsorganisation oft die lokale Inkorporation im Zielkontext) Anders als beim Typ des recurrent migrant konnten bei den oberschlesischen Transmigranten folgende Indikatoren einer dauerhaften Inkorporation im Zielkontext nachgewiesen werden: überwiegend transnationales soziales Kapital, Normierung einer transnationalen Lebensweise im familiären und beruflichen Milieu, ein grenzüberschreitender Kreislauf von Wissen und Bedeutungen durch primäre interethnische Kontakte, Konsum deutscher Medien auch in Polen usw. Zusammenfassend: Die soziale Praxis und subjektive Verortungen der oberschlesischen Pendelmigranten lassen sich mit zwei theoretischen Idealtypen beschreiben. Wie dargestellt leben und denken die Arbeitsmigranten jeweils mehr pluri- bzw. mehr monolokal. Die objektive und die symbolische Verortung müssen aber keineswegs, wie anfangs angenommen, deckungsgleich dem einen oder dem anderen Modell entsprechen. So verortet sich ein fast idealtypischer recurrent migrant subjektiv in einem »historischen« Deutschland, das so nicht mehr existiert; andere Migranten dagegen verorten sich subjektiv in Oberschlesien, leben aber, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein, ein vielfältiges transnationales Leben par excellence. Selbstverständlich jedoch sind beide Dimensionen miteinander eng verflochten und beeinflussen sich gegenseitig – wenn oberschlesische Bauarbeiter beispielsweise in Deutschland von einem Ort zum anderen wechseln, entwickeln sie keine symbolische lokale Bindung. Und umgekehrt: Wenn einer der Befragten zwar kein aktiver Migrant mehr ist, aber gerade Deutschland für seine Identität einen hohen Stellenwert hat, kann man ihn eventuell als einen »ruhenden« Transmigranten bezeichnen, dessen Lebensprojekt nicht endgültig auf Polen zu beschränken ist. Es bestätigt sich damit die Ansicht, dass sich Transnationalität mit statischen und linearen Analysemodellen nicht erfassen lässt, wie Peggy Levitt konstatiert:

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»… transnational engagements are not fixed packages that remain constant over the lifecycle. Instead, migrants put together a constellation of strategies at different stages of their life and combine these with host-country integration strategies. The resulting configurations produce different mixes of upward and downword mobility in both contexts” (Levitt 2003: 184)

Diesem abstrakten Modell der Transmigration und recurrent migration der oberschlesischen Arbeitsmigranten liegt eine komplexe empirische Realität zugrunde. Diese empirischen Befunde werden hier nun zusammenfassend dargestellt.

R EALTYPOLOGISCHE M IGRATIONSTRATEGIEN : SOZIALE P RAXIS UND IHRE S TRUKTURIERUNG Die Typologie der Migrationsstrategien hat verschiedene Aspekte der oberschlesischen transnationalen Arbeitsmigration deutlich gemacht. Sie zeigt, dass Migration zu einem lebenslangen Projekt werden kann, ohne dass die Migranten endgültig auswandern. Diese Haltung teilen »Eingependelte« und »Offene« (nur Flexible). »Einsteiger« hingegen orientieren sich auf den Herkunftskontext, »Unentschlossene« ebenso auf jeweils einen nationalen Kontext, den Herkunfts- oder Zielkontext. In beiden Fällen handelt es sich jedoch auch um Lebensentwürfe, die sich durchaus auf einen transnationalen sozialen Raum beziehen: Die Einsteiger schließen nicht aus, dass sie auch nach der Rückkehr die Arbeitsmigration nach Bedarf in Anspruch nehmen – genau wie es die Migrationsstrategie der Bedarfspendler vorsieht. Die Unentschlossenen planen zwar das Leben in einem Land, legen sich aber nicht endgültig darauf fest, welches es sein wird. Die plurilokale Lebensplanung und Lebenspraxis zwischen bzw. in Polen und Deutschland/den Niederlanden spricht hier für den transnationalen Typ der Migration. Jedoch ist auch die Strategie der Emigration ebenso wenig obsolet wie die des target earner (Piore 1979), also der Typ des recurrent migrant. Die Typologie von Migrationsstrategien hat Regelmäßigkeiten hinsichtlich der Praxis der Akteure und ihrer strukturellen Einbettung verdeutlicht. Die Migranten wählen zwischen vielfältigen Erwerbsformen und Migrationsstrategien. Die Ausprägung dieser Praktiken wird bestimmt durch verschiedene strukturellere Faktoren: Einerseits sind dies die Elemente des zwischen Deutschland und den Niederlanden bzw. Polen/Oberschlesien bestehenden Migrationssystems: Doppelstaatlichkeit, Arbeitsmarktangebot und -nachfrage, transnationale Migrationsindustrie und Organisationsformen, die Geschichte der Migration und daraus entstandene soziale, ökonomische und kulturelle Verbindungen. Andererseits sind es soziale Strukturen, die hier (unter entsprechender Berücksichtigung der Forschungsliteratur) induktiv aus dem Material herausgearbeitet

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»… transnational engagements are not fixed packages that remain constant over the lifecycle. Instead, migrants put together a constellation of strategies at different stages of their life and combine these with host-country integration strategies. The resulting configurations produce different mixes of upward and downword mobility in both contexts” (Levitt 2003: 184)

Diesem abstrakten Modell der Transmigration und recurrent migration der oberschlesischen Arbeitsmigranten liegt eine komplexe empirische Realität zugrunde. Diese empirischen Befunde werden hier nun zusammenfassend dargestellt.

R EALTYPOLOGISCHE M IGRATIONSTRATEGIEN : SOZIALE P RAXIS UND IHRE S TRUKTURIERUNG Die Typologie der Migrationsstrategien hat verschiedene Aspekte der oberschlesischen transnationalen Arbeitsmigration deutlich gemacht. Sie zeigt, dass Migration zu einem lebenslangen Projekt werden kann, ohne dass die Migranten endgültig auswandern. Diese Haltung teilen »Eingependelte« und »Offene« (nur Flexible). »Einsteiger« hingegen orientieren sich auf den Herkunftskontext, »Unentschlossene« ebenso auf jeweils einen nationalen Kontext, den Herkunfts- oder Zielkontext. In beiden Fällen handelt es sich jedoch auch um Lebensentwürfe, die sich durchaus auf einen transnationalen sozialen Raum beziehen: Die Einsteiger schließen nicht aus, dass sie auch nach der Rückkehr die Arbeitsmigration nach Bedarf in Anspruch nehmen – genau wie es die Migrationsstrategie der Bedarfspendler vorsieht. Die Unentschlossenen planen zwar das Leben in einem Land, legen sich aber nicht endgültig darauf fest, welches es sein wird. Die plurilokale Lebensplanung und Lebenspraxis zwischen bzw. in Polen und Deutschland/den Niederlanden spricht hier für den transnationalen Typ der Migration. Jedoch ist auch die Strategie der Emigration ebenso wenig obsolet wie die des target earner (Piore 1979), also der Typ des recurrent migrant. Die Typologie von Migrationsstrategien hat Regelmäßigkeiten hinsichtlich der Praxis der Akteure und ihrer strukturellen Einbettung verdeutlicht. Die Migranten wählen zwischen vielfältigen Erwerbsformen und Migrationsstrategien. Die Ausprägung dieser Praktiken wird bestimmt durch verschiedene strukturellere Faktoren: Einerseits sind dies die Elemente des zwischen Deutschland und den Niederlanden bzw. Polen/Oberschlesien bestehenden Migrationssystems: Doppelstaatlichkeit, Arbeitsmarktangebot und -nachfrage, transnationale Migrationsindustrie und Organisationsformen, die Geschichte der Migration und daraus entstandene soziale, ökonomische und kulturelle Verbindungen. Andererseits sind es soziale Strukturen, die hier (unter entsprechender Berücksichtigung der Forschungsliteratur) induktiv aus dem Material herausgearbeitet

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wurden und die über Praxis und Positionierung der Migranten entscheiden: die Generation (historisch und demographisch), Geschlecht, Lebenszyklus, familiäre Konstellation, Klasse und Ethnizität. Alle diese Gelegenheitsstrukturen prägen die Alltagspraxis der Akteure und ihren Inkorporationsmodus, der jeweils eher monobzw. eher plurilokal ausfällt.

S INNWELTEN Eine wesentliche Zielsetzung der Arbeit bestand darin, neben dem konkretmateriellen Migrationshandeln auch die subjektiven Sinnzuschreibungen, die »Lebenswelten« der Migranten (im Sinne von Schütz/Luckmann, 2003) zu rekonstruieren, die sich dem Zugang durch quantitative Methoden und insbesondere dem Handlungsmodell des homo oeconomicus weitgehend entziehen: Eine Rolle spielen hier das kollektive Bewusstsein der untersuchten Gruppe (Bedeutungszuschreibungen, Überzeugungen und Topoi) die soziale Dynamik der Migration und ihre Entwicklung zu einer handlungsleitenden Norm, Emotionen und Haltungen wie Liebe und Loyalität gegenüber den Kindern, Eltern, Partnern, aber auch Neid und Solidarität gegenüber den Nachbarn und Bekannten. All diese subjektiven Aspekte – Gefühle und Kognitionen – wirken sich auf raumbezogene Identifikationen und Bindungen aus. So konnte gezeigt werden, unter welchen Umständen, wie und mit welchen Konsequenzen subjektive Verortungen und Identifikationen im transnationalen sozialen Raum entstehen – etwa, welche Faktoren zur Entstehung einer monolokalen oder einer plurilokalen subjektiven Verortung führen. So bewirkt die transnationale Geschichte der Region einerseits die Entwicklung transnationaler kultureller und sozialer Bindungen nach Deutschland (Topoi, Normen, Sprache, soziale Netzwerke usw.); andererseits kann aber gerade dies auch ein Diasporabewusstsein und -praxis (Safran 1991) fördern, das paradoxerweise gerade eine »essentialistische« Ethnisierung/Nationalisierung in Abgrenzung von Polen und Deutschen nach sich zieht – also eine monolokale Orientierung, nicht plurilokale Transnationalisierung. Die Analyse hat schließlich gezeigt, dass die subjektiven Verortungen nicht unbedingt analog zur sozialen bzw. strukturellen Inkorporation verlaufen sondern vielmehr oft quer zu ihnen: Die Migrationsstrategien und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Strukturen einerseits und die subjektiven Verortungen der Migranten andererseits klaffen häufig auseinander. Diese Beobachtung bestätigt theoretische Annahmen aus anderen neuren Theorien zur Integration (wie etwa der »neuer Assimilationismus«, vgl. Alba/Nee 2003), der ebenfalls von nicht-linearen Verläufen der Integration und Identifikation bei Migranten ausgeht.

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wurden und die über Praxis und Positionierung der Migranten entscheiden: die Generation (historisch und demographisch), Geschlecht, Lebenszyklus, familiäre Konstellation, Klasse und Ethnizität. Alle diese Gelegenheitsstrukturen prägen die Alltagspraxis der Akteure und ihren Inkorporationsmodus, der jeweils eher monobzw. eher plurilokal ausfällt.

S INNWELTEN Eine wesentliche Zielsetzung der Arbeit bestand darin, neben dem konkretmateriellen Migrationshandeln auch die subjektiven Sinnzuschreibungen, die »Lebenswelten« der Migranten (im Sinne von Schütz/Luckmann, 2003) zu rekonstruieren, die sich dem Zugang durch quantitative Methoden und insbesondere dem Handlungsmodell des homo oeconomicus weitgehend entziehen: Eine Rolle spielen hier das kollektive Bewusstsein der untersuchten Gruppe (Bedeutungszuschreibungen, Überzeugungen und Topoi) die soziale Dynamik der Migration und ihre Entwicklung zu einer handlungsleitenden Norm, Emotionen und Haltungen wie Liebe und Loyalität gegenüber den Kindern, Eltern, Partnern, aber auch Neid und Solidarität gegenüber den Nachbarn und Bekannten. All diese subjektiven Aspekte – Gefühle und Kognitionen – wirken sich auf raumbezogene Identifikationen und Bindungen aus. So konnte gezeigt werden, unter welchen Umständen, wie und mit welchen Konsequenzen subjektive Verortungen und Identifikationen im transnationalen sozialen Raum entstehen – etwa, welche Faktoren zur Entstehung einer monolokalen oder einer plurilokalen subjektiven Verortung führen. So bewirkt die transnationale Geschichte der Region einerseits die Entwicklung transnationaler kultureller und sozialer Bindungen nach Deutschland (Topoi, Normen, Sprache, soziale Netzwerke usw.); andererseits kann aber gerade dies auch ein Diasporabewusstsein und -praxis (Safran 1991) fördern, das paradoxerweise gerade eine »essentialistische« Ethnisierung/Nationalisierung in Abgrenzung von Polen und Deutschen nach sich zieht – also eine monolokale Orientierung, nicht plurilokale Transnationalisierung. Die Analyse hat schließlich gezeigt, dass die subjektiven Verortungen nicht unbedingt analog zur sozialen bzw. strukturellen Inkorporation verlaufen sondern vielmehr oft quer zu ihnen: Die Migrationsstrategien und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Strukturen einerseits und die subjektiven Verortungen der Migranten andererseits klaffen häufig auseinander. Diese Beobachtung bestätigt theoretische Annahmen aus anderen neuren Theorien zur Integration (wie etwa der »neuer Assimilationismus«, vgl. Alba/Nee 2003), der ebenfalls von nicht-linearen Verläufen der Integration und Identifikation bei Migranten ausgeht.

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D OPPELTE S TAATSANGEHÖRIGKEIT Der Status der doppelten Staatsangehörigkeit bei der untersuchten Gruppe hat zweierlei Auswirkungen für deren Migrationsverhalten: zum einen ermöglicht sie dem Einzelnen die Freiheit – oder aber auch den empfundenen Zwang! –, sein Leben transnational, d.h. in zwei nationalen Gesellschaften zu gestalten. Zum anderen trägt sie wesentlich zur Herausbildung einer hoch formalisierten Migrationsindustrie bei (dazu siehe ausführlicher unten). Nicht alle Oberschlesier, die Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben, beantragen diese auch; und nicht alle, die Doppelstaatler sind oder werden, gehen zum Arbeiten in den Westen. Hinter diesen zunächst wenig spektakulären Feststellungen steckt mehr, als man zunächst vermutet: Zwar handelt es sich bei der Arbeitsmigration – der Natur der Sache entsprechend – stets auch um ökonomisch motivierte Migration. Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass sowohl der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit (bzw. deren »Feststellung«), als auch der letztendlichen Aufnahme der Migration keineswegs nur rationale Entscheidungen eines homo oeconomicus zugrunde liegen: Ein rein rational denkender und nutzenmaximierender Akteur würde möglicherweise eher auswandern bzw. nur in Polen arbeiten. Auf der einen Seite gibt die doppelte Staatsangehörigkeit den Migranten mehr Planungsfreiheit und ermöglicht es ihnen, alle drei Migrationsszenarien – Auswanderung, Nicht-Migration, temporäre Migration – und je nach den Bedürfnisse der eigenen Lebenslage und -phase zu wählen und zu kombinieren. Dabei zeigt sich jedoch auch, dass eine rein »administrative« Inklusion, in diesem Fall ein gegenüber anderen polnischen Staatsbürgern privilegierter Status innerhalb der deutschen Gesellschaft, nicht automatisch eine Inklusion in andere gesellschaftliche Teilsysteme, wie den Bildungs- und Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme, nach sich zieht. Von sozialstruktureller Marginalisierung betroffen sind insbesondere recurrent migrants, die zwar politisch privilegiert sind, aber über wenige im Zielkontext verwertbare Ressourcen verfügen, was sich negativ auf ihre Inklusion auswirkt.

ARBEITSWELT Letztendlich wirft die Studie auch ein Schlaglicht auf die Arbeitswelt: Die fortschreitende Erosion des lebenslangen Normalarbeitsverhältnisses lässt Arbeitsverhältnisse zunehmend episodenhaft bzw. prekär werden. Dies korreliert auffällig mit dem episodenhaften und oftmals erratisch erscheinenden Migrationhandeln von Transmigranten, wobei beides in einem wechselseitigen Kausalzusammenhang steht: Einerseits profitieren sie vom Vorhandensein eines Markts prekärer, d.h. stets unter zeitlichem Vorbehalt stehender Arbeitsverhältnisse; andererseits wirken des-

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D OPPELTE S TAATSANGEHÖRIGKEIT Der Status der doppelten Staatsangehörigkeit bei der untersuchten Gruppe hat zweierlei Auswirkungen für deren Migrationsverhalten: zum einen ermöglicht sie dem Einzelnen die Freiheit – oder aber auch den empfundenen Zwang! –, sein Leben transnational, d.h. in zwei nationalen Gesellschaften zu gestalten. Zum anderen trägt sie wesentlich zur Herausbildung einer hoch formalisierten Migrationsindustrie bei (dazu siehe ausführlicher unten). Nicht alle Oberschlesier, die Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben, beantragen diese auch; und nicht alle, die Doppelstaatler sind oder werden, gehen zum Arbeiten in den Westen. Hinter diesen zunächst wenig spektakulären Feststellungen steckt mehr, als man zunächst vermutet: Zwar handelt es sich bei der Arbeitsmigration – der Natur der Sache entsprechend – stets auch um ökonomisch motivierte Migration. Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass sowohl der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit (bzw. deren »Feststellung«), als auch der letztendlichen Aufnahme der Migration keineswegs nur rationale Entscheidungen eines homo oeconomicus zugrunde liegen: Ein rein rational denkender und nutzenmaximierender Akteur würde möglicherweise eher auswandern bzw. nur in Polen arbeiten. Auf der einen Seite gibt die doppelte Staatsangehörigkeit den Migranten mehr Planungsfreiheit und ermöglicht es ihnen, alle drei Migrationsszenarien – Auswanderung, Nicht-Migration, temporäre Migration – und je nach den Bedürfnisse der eigenen Lebenslage und -phase zu wählen und zu kombinieren. Dabei zeigt sich jedoch auch, dass eine rein »administrative« Inklusion, in diesem Fall ein gegenüber anderen polnischen Staatsbürgern privilegierter Status innerhalb der deutschen Gesellschaft, nicht automatisch eine Inklusion in andere gesellschaftliche Teilsysteme, wie den Bildungs- und Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme, nach sich zieht. Von sozialstruktureller Marginalisierung betroffen sind insbesondere recurrent migrants, die zwar politisch privilegiert sind, aber über wenige im Zielkontext verwertbare Ressourcen verfügen, was sich negativ auf ihre Inklusion auswirkt.

ARBEITSWELT Letztendlich wirft die Studie auch ein Schlaglicht auf die Arbeitswelt: Die fortschreitende Erosion des lebenslangen Normalarbeitsverhältnisses lässt Arbeitsverhältnisse zunehmend episodenhaft bzw. prekär werden. Dies korreliert auffällig mit dem episodenhaften und oftmals erratisch erscheinenden Migrationhandeln von Transmigranten, wobei beides in einem wechselseitigen Kausalzusammenhang steht: Einerseits profitieren sie vom Vorhandensein eines Markts prekärer, d.h. stets unter zeitlichem Vorbehalt stehender Arbeitsverhältnisse; andererseits wirken des-

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sen Bedingungen auch als äußerer Zwang: Sie drücken der erwerbsbiografischen Situation und den Lebens- bzw. Identitätsentwürfen der Arbeitsmigranten einen Stempel auf. Auffällig ist hierbei, dass die oberschlesischen Arbeitsmigranten – obwohl formalrechtlich deutschen Arbeitnehmern gleichgestellt und legal beschäftigt (auch wenn Schwarzarbeit dennoch ein häufiges Phänomen ist) – sich primär auf einem emergenten sekundären Arbeitsmarkt bewegen und kaum in die maßgeblich von Gewerkschaften mitgeprägten, institutionalisierten Beziehungen des primären Arbeitsmarkts involviert sind. Hier zeigt sich eine Rückkehr der Kluft von politisch-formalrechtlichem und sozioökonomischen Status, die Thomas Marshall (1964) skizziert hatte, und die durch die Etablierung industrieller Rechte überbrückt werden sollte.

I NSTITUTIONALISIERUNG UND F ORMALISIERUNG DER M IGRATION Der hohe Grad an Institutionalisierung und Formalisierung der Migration machte die Gruppe der oberschlesischen Doppelstaatler für eine Fallstudie so interessant. Dabei haben sich bestimmte theoretisch bedingte Vorannahmen bestätigt, andere wurden revidiert. So lässt sich kein einfacher Zusammenhang zwischen Formalisierung und Transnationalisierung feststellen, wonach die Formalisierung sich positiv auf die Transnationalisierung auswirke (vgl. Portes u.a. 1999); das Verhältnis ist differenzierter. Einerseits bestätigt diese Studie eine positive Beeinflussung – denn gerade durch den hohen Formalisierungsgrad der Arbeitsmigration stehen den Migranten viele Erwerbsformen offen, zwischen denen sie je nach Lebenslage und situation flexibel wählen können. Diese wirken wiederum auf die Entstehung verschiedener transnationaler Migrationsstrategien zurück, zwischen denen die Akteure je nach Bedarf ebenso wechseln können. Ein extremes Gegenbeispiel hierzu stellt die Situation undokumentierter Migranten dar. Die beiden Gruppen mögen sich in vielen Punkten nicht wesentlich unterscheiden (z.B. Präkarisierung der Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, Integrationsverläufe usw.), in einem Punkt jedoch ist die Diskrepanz besonders hoch: Die Doppelstaatler haben weitaus mehr Handlungsfreiheit und Planbarkeit, die sich deutlich auf ihre Vielfalt der Migrationsstrategien und Migrationstypen (Emigration, Rückkehrmigration, recurrent migration, Transmigration) auswirken. Auf der anderen Seite jedoch stärkt gerade der hohe Formalisierungsgrad auch ein Verhalten, das dem Typus des recurrent migrant entspricht: Denn im Gegensatz zu undokumentierten Arbeitsmigranten, deren Erfolg im Ankunftskontext im hohen Maße von individuellen Bemühungen abhängt, können sich die oberschlesischen Arbeitsmigran-

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sen Bedingungen auch als äußerer Zwang: Sie drücken der erwerbsbiografischen Situation und den Lebens- bzw. Identitätsentwürfen der Arbeitsmigranten einen Stempel auf. Auffällig ist hierbei, dass die oberschlesischen Arbeitsmigranten – obwohl formalrechtlich deutschen Arbeitnehmern gleichgestellt und legal beschäftigt (auch wenn Schwarzarbeit dennoch ein häufiges Phänomen ist) – sich primär auf einem emergenten sekundären Arbeitsmarkt bewegen und kaum in die maßgeblich von Gewerkschaften mitgeprägten, institutionalisierten Beziehungen des primären Arbeitsmarkts involviert sind. Hier zeigt sich eine Rückkehr der Kluft von politisch-formalrechtlichem und sozioökonomischen Status, die Thomas Marshall (1964) skizziert hatte, und die durch die Etablierung industrieller Rechte überbrückt werden sollte.

I NSTITUTIONALISIERUNG UND F ORMALISIERUNG DER M IGRATION Der hohe Grad an Institutionalisierung und Formalisierung der Migration machte die Gruppe der oberschlesischen Doppelstaatler für eine Fallstudie so interessant. Dabei haben sich bestimmte theoretisch bedingte Vorannahmen bestätigt, andere wurden revidiert. So lässt sich kein einfacher Zusammenhang zwischen Formalisierung und Transnationalisierung feststellen, wonach die Formalisierung sich positiv auf die Transnationalisierung auswirke (vgl. Portes u.a. 1999); das Verhältnis ist differenzierter. Einerseits bestätigt diese Studie eine positive Beeinflussung – denn gerade durch den hohen Formalisierungsgrad der Arbeitsmigration stehen den Migranten viele Erwerbsformen offen, zwischen denen sie je nach Lebenslage und situation flexibel wählen können. Diese wirken wiederum auf die Entstehung verschiedener transnationaler Migrationsstrategien zurück, zwischen denen die Akteure je nach Bedarf ebenso wechseln können. Ein extremes Gegenbeispiel hierzu stellt die Situation undokumentierter Migranten dar. Die beiden Gruppen mögen sich in vielen Punkten nicht wesentlich unterscheiden (z.B. Präkarisierung der Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, Integrationsverläufe usw.), in einem Punkt jedoch ist die Diskrepanz besonders hoch: Die Doppelstaatler haben weitaus mehr Handlungsfreiheit und Planbarkeit, die sich deutlich auf ihre Vielfalt der Migrationsstrategien und Migrationstypen (Emigration, Rückkehrmigration, recurrent migration, Transmigration) auswirken. Auf der anderen Seite jedoch stärkt gerade der hohe Formalisierungsgrad auch ein Verhalten, das dem Typus des recurrent migrant entspricht: Denn im Gegensatz zu undokumentierten Arbeitsmigranten, deren Erfolg im Ankunftskontext im hohen Maße von individuellen Bemühungen abhängt, können sich die oberschlesischen Arbeitsmigran-

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ten auf formalisierte Wege verlassen und müssen weniger »unternehmerische Initiative« in eigener Sache zeigen. Gerade die Längsschnittperspektive der Untersuchung hat diesen Zusammenhang verdeutlicht: die Arbeitsmigranten der frühen 1990er Jahre ähnelten stärker aktiven Transmigranten, da sie viel stärker auf sich selbst gestellt waren. Seit der Entstehung einer formellen Infrastruktur ist die individuelle Leistung, bei etwa Wohnungssuche, Arbeitssuche, Behördengänge nicht mehr im gleichen Maße notwendig für den Erfolg. Auch die Arbeitsmigration in die Niederlande, die (mit Ausnahme des Bausektors) stärker organisiert ist als die nach Deutschland, zeigt ein tendenziell umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen der Formalisierung und Transnationalisierung: So entsprechen die Arbeitsmigranten in weniger formalisierten Bereichen paradoxerweise eher dem Typus des Transmigranten, in stärker formalisierten Bereichen dagegen eher dem Typus des recurrent migrants.

H ISTORISCH - IMAGINIERTER UND GELEBTER T RANSNATIONALISMUS Die untersuchte Gruppe der Oberschlesier stellte eine besondere transnationale Migrantengruppe dar – eine ethnische Minderheit, die durch Migration neue Bindungen zum vermeintlichen »Vaterland« aufbaut. Allerdings handelt sich bei der deutschen Minderheit in Polen nicht um eine diaspora-artig isolierte ethnische Minderheit, sondern eine äußerlich vollständig an die polnische Mehrheitsgesellschaft assimilierte bzw. integrierte Gruppe. Die transnationale Bindung zu Deutschland kann dabei einen tradierten, historischen, teilweise folkloristischen Charakter haben kann (der auch teilweise durch deutsche Medien/Vereine gelebt wird), der nicht unbedingt etwas mit realen Erfahrungen im heutigen Deutschland zu tun haben muss – oder aber einen aktuellen, meistens aufgrund der eigenen Arbeitsmigration. Größtenteils vermischen sich diese beiden Arten in der Realität und sind schwer zu unterscheiden; teilweise stehen sie aber auch in krassem Gegensatz, etwa wenn in Polen ein verklärtes historisches Deutschlandbild gepflegt, das »real existierende« moderne Deutschland dagegen ignoriert bzw. abgelehnt wird. Insofern ist die Unterscheidung zwischen historisch-imaginiertem und gelebtem Transnationalismus analytisch sinnvoll; sie ist zudem ein genuin eigenes Phänomen, das sich bei den mittlerweile klassisch gewordenen nordamerikansichen Transnationalismen zumindest in dieser Auffälligkeit nicht findet, auch wenn die amerikanischmexikanische gemeinsame Geschichte durchaus vergleichbare Phänomene der border lands und border people entstehen ließ (vgl. Martinez 1994, 1996, Alvarez 1999).

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ten auf formalisierte Wege verlassen und müssen weniger »unternehmerische Initiative« in eigener Sache zeigen. Gerade die Längsschnittperspektive der Untersuchung hat diesen Zusammenhang verdeutlicht: die Arbeitsmigranten der frühen 1990er Jahre ähnelten stärker aktiven Transmigranten, da sie viel stärker auf sich selbst gestellt waren. Seit der Entstehung einer formellen Infrastruktur ist die individuelle Leistung, bei etwa Wohnungssuche, Arbeitssuche, Behördengänge nicht mehr im gleichen Maße notwendig für den Erfolg. Auch die Arbeitsmigration in die Niederlande, die (mit Ausnahme des Bausektors) stärker organisiert ist als die nach Deutschland, zeigt ein tendenziell umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen der Formalisierung und Transnationalisierung: So entsprechen die Arbeitsmigranten in weniger formalisierten Bereichen paradoxerweise eher dem Typus des Transmigranten, in stärker formalisierten Bereichen dagegen eher dem Typus des recurrent migrants.

H ISTORISCH - IMAGINIERTER UND GELEBTER T RANSNATIONALISMUS Die untersuchte Gruppe der Oberschlesier stellte eine besondere transnationale Migrantengruppe dar – eine ethnische Minderheit, die durch Migration neue Bindungen zum vermeintlichen »Vaterland« aufbaut. Allerdings handelt sich bei der deutschen Minderheit in Polen nicht um eine diaspora-artig isolierte ethnische Minderheit, sondern eine äußerlich vollständig an die polnische Mehrheitsgesellschaft assimilierte bzw. integrierte Gruppe. Die transnationale Bindung zu Deutschland kann dabei einen tradierten, historischen, teilweise folkloristischen Charakter haben kann (der auch teilweise durch deutsche Medien/Vereine gelebt wird), der nicht unbedingt etwas mit realen Erfahrungen im heutigen Deutschland zu tun haben muss – oder aber einen aktuellen, meistens aufgrund der eigenen Arbeitsmigration. Größtenteils vermischen sich diese beiden Arten in der Realität und sind schwer zu unterscheiden; teilweise stehen sie aber auch in krassem Gegensatz, etwa wenn in Polen ein verklärtes historisches Deutschlandbild gepflegt, das »real existierende« moderne Deutschland dagegen ignoriert bzw. abgelehnt wird. Insofern ist die Unterscheidung zwischen historisch-imaginiertem und gelebtem Transnationalismus analytisch sinnvoll; sie ist zudem ein genuin eigenes Phänomen, das sich bei den mittlerweile klassisch gewordenen nordamerikansichen Transnationalismen zumindest in dieser Auffälligkeit nicht findet, auch wenn die amerikanischmexikanische gemeinsame Geschichte durchaus vergleichbare Phänomene der border lands und border people entstehen ließ (vgl. Martinez 1994, 1996, Alvarez 1999).

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AUSBLICK

UND D ESIDERATE FÜR ZUKÜNFTIGE F ORSCHUNGEN Hauptziel der vorliegenden Arbeit war es, den »kanonischen« Beispielen transnationaler Migration in Nordamerika ein spezifisch europäisches Fallbeispiel zur Seite zu stellen – und dabei die Frage zu beantworten, ob sich die nach 1989 einsetzende spezifische Migration von Doppelstaatlern aus Oberschlesiern in entsprechender Weise sinnvoll als »transnational« beschreiben lässt, ohne dabei ein übermäßig gedehntes Verständnis des Begriffs zugrundezulegen. Wie in der Soziologie üblich, haben sich auch bei der Beschäftigung mit dieser Leitfrage wiederum neue Fragen gestellt, deren ausführliche Mit-Erörterung zwar wünschenswert, aber innerhalb des gesetzten thematischen und zeitlichen Rahmens dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere stand hier nicht die Frage nach quantifizierbaren Aspekten des Forschungsgegenstands im Mittelpunkt – die aber gleichwohl relevant wären und daher Gegenstand künftiger separater Untersuchungen sein könnten: etwa die Intensität der grenzüberschreitenden Kommunikation, die Rolle der zunehmend formalisierten Infrastruktur und Organisationen, welche die beschriebene Art von Migration fördern, oder die konkrete Ausgestaltung nationalstaatliche Grenzen überschreitender Beschäftigungsstrukturen. Doch auch eher mit qualitativen Methoden erfassbare Aspekte, die hier nur am Rande behandelt wurden, würden durchaus weitergehende, eigenständige Ausarbeitungen lohnen – etwa eine ethnographische, stärker als dies hier möglich war, auf teilnehmende Beobachtung zurückgreifende Untersuchung des sozialen Milieus: seien es eher arbeits- oder organisationssoziologisch ausgerichtete Beobachtungen des Felds (insbesondere auf Baustellen, in Verkehrsmitteln, an Treffpunkten von Migranten usw.) oder eher familiensoziologisch bis psychologisch orientierte Untersuchungen zu den Auswirkungen dieses konkreten Falls von Migration. Jeder dieser beiden Aspekte eröffnet wiederum weitere interessante Forschungsperspektiven: Wie anhand eines kleineren Abschnitts bereits beschrieben, kann das hier unter der Fragestellung »Transnationalismus« erhobene und interpretierte empirische Material durchaus auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Erosion der alt-bundesrepublikanischen »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und ihrer lange Zeit etablierten Beschäftigungsverhältnisse befragt werden – welche zum Teil von einem binnen-nationalstaatlichen Migrationsverhalten und damit verbundenen Phänomenen (z.B. »Wochenend-Ehen«, zurückbleibende Kinder) begleitet wird, die den hier beschriebenen »transnationalen« Pendants frappierend ähneln. Die Korrelation von sich wandelnden Arbeitsmärkten und gesellschaftlichen Strukturen einerseits und Migration andererseits (innerhalb nationalstaatlicher Grenzen

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als auch über diese hinweg, unabhängig davon, inwieweit man letzteres als »transnational« auffasst), bietet ein äußerst weites Feld für künftige Forschungen. Dasselbe gilt für den familien- bzw. geschlechtersoziologischen Aspekt, der als solcher in der vorliegenden Arbeit ebenfalls nur andeutungsweise zur Sprache kommen konnte. Doch auch diejenigen Themen, die hier im Mittelpunkt des Interesses standen, bieten Perspektiven für weitergehende Untersuchungen. Ein zentraler Aspekt, das zugleich ein gewisses »Alleinstellungsmerkmal« unseres Gegenstands darstellt, war die auffällige Verschränkung von Geschichte und Gegenwart: Eine – jedenfalls aus Sicht der jeweiligen nationalen Zentren – periphere Region, die ab dem späten 19. Jahrhundert in besonderer Weise von der Errichtung nationalstaatlicher container spaces betroffen war, spielt zugleich eine wesentliche Rolle bei der Unterminierung nationalstaatlich eingehegter, individueller wie politischer, Denk- und Handlungsstrukturen. Auch wenn die Ausprägung des vorliegenden Falls eine besondere ist, lassen sich Parallelen zu anderen ehemaligen borderlands und external national homelands (Brubaker 1996: 66 f.), die ebenfalls Gegenstand von (auch komparativen) Untersuchungen werden können, welche aktuelle Migrationsbewegungen in einen historischen Kontext stellen. Zu denken wäre hier etwa an Ost-Ost- und Ost-WestMigrationsbewegungen seit den frühen 1990er Jahren, z.B. zwischen der Ukraine und Polen, der Ukraine und Russland, Ungarn und Österreich, oder auch zwischen den kaukasischen Republiken und Russland. Während der jeweilige Mainstream der Soziologie und Geschichtswissenschaften primär gegenwarts- bzw. vergangenheitsbezogen denkt, bieten sich hier zahlreiche Anknüpfungspunkte für stärker historisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Untersuchungen und auch für geschichtswissenschaftliche Studien, die intensiver nach der Relevanz der Vergangenheit für das Verständnis aktueller und künftiger Entwicklungen fragt (Stichwort oral history). Hier schließt sich, jedenfalls für das Thema dieser Arbeit, unmittelbar ein weiteres Problem an: die beiderseits der deutsch-polnischen Grenze völlig unterschiedliche Relevanz historischer Themen, die der jeweils anderen Gesellschaft kaum bewusst ist – trotz des immer intensiver werdenden Kontakts der Menschen im Alltag. Auch die deutsche und die polnische Soziologie haben sich nach wie vor scheinbar nur wenig zu sagen. Eine gewichtige Rolle spielt dabei zweifellos die Sprachbarriere (auch wenn sie in west-östlicher Richtung erheblich durchlässiger ist als in umgekehrter Richtung), aber auch die sehr unterschiedlichen Lehr-, Denk- und Schreibstile – eine Vorliebe für grand theory oder essayistische Zeitdiagnosen hier, eine Präferenz für kleinteilige, nüchtern-deskriptive Darstellung dort. Welcher dieser Faktoren jeweils Ursache und welcher Wirkung für den relativen Mangel an Interesse für die Literatur der »Gegenseite« ist, ist schwer zu entscheiden. Wenn die vorliegende Arbeit für einige deutsche Leser einen gewissen Anstoß liefern könnte,

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sich allgemein stärker mit der polnischen Gesellschaft und ihren Besonderheiten auseinanderzusetzen, wäre jedenfalls ein weiteres ihrer Ziele erreicht. Darüber hinaus bleibt nicht nur für die empirische Forschung, sondern natürlich auch für die Theoriebildung in der Migrationssoziologie viel zu tun. Insbesondere stellt sich die Frage, ob bzw. welche Rolle der in dieser wie auch in einer Fülle anderer empirischer Studien bereits beschriebene recurrent migrant (oder auch target worker, Diaspora migrant usw.), der nur »gelegentlich« aufbricht und zugleich stark am Herkunftsort verankert bleibt, angesichts tiefgreifender politischer und sozialstruktureller Veränderungen in Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften langfristig in der Theorie finden wird – unabhängig davon, ob er sich tatsächlich in einem transnationalen Sozialraum (oder überhaupt über nationale Grenzen hinweg) bewegt oder nicht.

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Anhang

Ü BERSICHT

ÜBER DIE GEFÜHRTEN I NTERVIEWS

Ada Persönliche Angaben: 34 Jahre, Schneiderin, ledig, lebt im Haushalt mit ihrer Mutter. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 1995 – arbeitet undokumentiert in Deutschland, 1995–2000 – arbeitet vollerwerblich und legal in Deutschland, 2001–2006 – arbeitet saisonal in den Niederlanden, seit 2006 – arbeitet nur in Polen. Jobs: Arbeiterin in Schlachthöfen, Landwirtschaft. Zurzeit in der Warenverteilung tätig (auf Werkvertragsbasis). Typ der Migrationsstrategie: »Flexible«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Oppeln Anna Persönliche Angaben: 43 Jahre, kein Schulabschluss, verheiratet, drei Kinder, lebt zusammen mit ihrem jüngsten Sohn (17) und Ehemann. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 2005 arbeitet sie saisonal in den Niederlanden (in Polen hat sie den Status einer Frührentnerin). Jobs: Arbeiterin in Schlachthöfen, Landwirtschaft. Typ der Migrationsstrategie: »Bedarfspendlerin«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Niederlande.

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Antoni Persönliche Angaben: 65 Jahre, Sportlehrer, verheiratet, zwei Kinder, ein Sohn lebt in Österreich, der andere in Polen. Antoni besitzt nur die polnische Staatsangehörigkeit. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 1980 – wandert aus politischen Gründen nach Österreich aus, 1980-1996 – arbeitet als Sporttrainer in Österreich, seit 1989 – pendelt regelmäßig zu seiner Familie nach Polen, 1994 nimmt er einen minderjährigen Sohn zu sich nach Österreich, 1996–2005 – arbeitet als Arbeiter in einem Betrieb. Typ der Migrationsstrategie: keine Einordnung, da er relativ kurz nach dem Interview in den Ruhestand gehen sollte (in Österreich). Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Polen, Woiwodschaft Schlesien, 2007 informelle Gespräche. Bogdan Persönliche Angaben: 45 Jahre, Fahrer-Mechaniker, verheiratet, drei Kinder, die älteste Tochter arbeitet »quasi-nebenerwerblich« (neben dem Studium) in den Niederlanden; ein Bruder ist in den 80er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 1989 arbeitet er undokumentiert, seit 1991/92 legal in Deutschland, anschließend sieben Monate in Polen und seit 1994 wieder ununterbrochen in Deutschland in einem deutschen Unternehmen (Straßenbau). Typ der Migrationsstrategie: »Dauerpendler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Schlesien. Darek Persönliche Angaben: 24 Jahre, Energieanlagentechniker, ledig (zum Zeitpunkt des Interviews), heiratet 2004 und bekommt 2005 das erste Kind. Seine Eltern sind ebenfalls Arbeitsmigranten, die Großeltern mütterlicherseits sind in den 80er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 1997 Ferienjobs in Deutschland/Niederlanden, seit 2000 ununterbrochen in Deutschland, seit 2003/04 in Österreich. Jobs: Landwirtschaft, Produktionsarbeiter bei BMW, Elektriker, Parkettleger. Typ der Migrationsstrategie: »Unentschlossener«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003, Polen, Woiwodschaft Schlesien, 2006/08 informelle Gespräche.

A NHANG

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Grzegorz Persönliche Angaben: 25 Jahre, Hochschulabschluss (B.A. Bankwesen), verheiratet. Sein Vater arbeitete in den 80er Jahren gelegentlich undokumentiert in Deutschland, sein älterer Bruder pendelte zunächst und wanderte später nach Deutschland aus. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Zunächst Ferienjobs; wanderte während seines Fernstudiums für ein Jahr mit seiner Frau nach Deutschland aus, anschließend Rückkehr nach Polen. Seitdem unregelmäßige Arbeitsaufenthalte in Deutschland und in den Niederlanden. Jobs: LKW-Fahrer, Produktionsarbeiter bei Mercedes und in einer Autozulieferfirma, in der Landwirtschaft und einer Schreinerei. Seit 2007 importiert er Gebrauchtwagen von Deutschland nach Polen. Typ der Migrationsstrategie: »Unentschlossener«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003 Polen, Woiwodschaft Schlesien, 2005/2008 informelle Gespräche. Hartmut Persönliche Angaben: 47 Jahre, Bauingenieur, verheiratet, ein Kind. Der Großteil seiner Familie (u.a. die Mutter) wanderte vor der Wende nach Deutschland aus. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet seit 1986 in Deutschland, zuerst kurz undokumentiert, später als polnischer Staatsbürger mit legalem Aufenthaltstitel und später als deutscher Staatsbürger. Durchgehend in der Baubranche tätig; zwischendurch acht und drei Jahre in Polen (Textilindustrie), später wieder in Deutschland, durchgehend in einem kleinen hessischen Bauunternehmen als Bauingenieur. Seit einem Jahr wieder in Polen im Textilsektor tätig, wobei wochenweise pendeln muss. Die meisten Jobs in leitender Position. Typ der Migrationsstrategie: »Flexibler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005 Polen, Woiwodschaft Oppeln. Heinrich Persönliche Angaben: 51 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Rentner in Polen. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 2000 arbeitet er regelmäßig (saisonal) in den Niederlanden. Diverse Jobs: in der Landwirtschaft, Gartenbauwirtschaft, in einem Betonwerk. Typ der Migrationsstrategie: »Bedarfspendler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003, Polen, Woiwodschaft Oppeln.

398 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN

Jakub (und Ehefrau) Persönliche Angaben: 46 Jahre, verheiratet, vier Kinder. Seine Ehefrau und ein erwachsener Sohn arbeiten ebenfalls vollerwerblich in den Niederlanden, der zweite Sohn arbeitet neben seinem Studium nur während der Ferien dort. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet 1988 einmal kurzfristig in Deutschland; ab 1998 arbeiten zuerst die Ehefrau und dann er selbst saisonal in den Niederlanden. 2001 geben sie ihren landwirtschaftlichen Betrieb in Polen auf und arbeiten seitdem ausschließlich abwechselnd in den Niederlanden. Jobs: Landwirtschaft. Typ der Migrationsstrategie: »Dauerpendler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Oppeln. Die Ehefrau ist während des Interviews anwesend und hat teilweise aktiv daran teilgenommen. Jan Persönliche Angaben: 23 Jahre, Automechaniker, ledig. Seine Freundin (bzw. seit 2008 Ehefrau) und seine ganze Familie (Mutter, Vater und Bruder) arbeiten ebenfalls temporär in Deutschland und in den Niederlanden. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 2000 arbeitet er als Schüler saisonal in den Niederlanden, seit 2001 ununterbrochen in den Niederlanden, seit 2008 zusammen mit seinem Vater in Österreich. Jobs: Landwirtschaft, Bäckerei, Fahrer, Personalunterstützung in einer Agentur. Typ der Migrationsstrategie: »Einsteiger«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Niederlande, 2008 informelle Gespräche. Krystian Persönliche Angaben: 31 Jahre, Telekommunikationstechniker, verheiratet, zwei Kinder. Beide Geschwister sind in den 80er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet vollerwerblich in einer Hütte in Polen, seit mehreren Jahren zusätzlich während des Urlaubs in einem kleinen Fertigungsbetrieb in Deutschland. Typ der Migrationsstrategie: »Bedarfspendler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003 Polen, Woiwodschaft Oppeln.

A NHANG

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Krzysztof Persönliche Angaben: 57 Jahre, Schlosser, verheiratet, zwei Kinder. Beide Söhne wandern nach einer Phase der Pendelmigration nach Deutschland aus; ein Bruder lebt in Deutschland, eine Schwester in Polen. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 1993 arbeitet er nebenerwerblich in Deutschland, seit 1996 vollerwerblich, seit 2002 in Österreich, zwischendurch in der Schweiz. Jobs: u.a. Stuckateur, Gebäudeisolation. Typ der Migrationsstrategie: »Dauerpendler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006 Polen, Woiwodschaft Oppeln. Ludwig Persönliche Angaben: 29 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Elektromechaniker. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 1994 ununterbrochen in Deutschland in einem Unternehmen im Bausektor, zurzeit leitende Position. Typ der Migrationsstrategie: »Einsteiger«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005 Polen, Woiwodschaft Oppeln. Marek Persönliche Angaben: 28 Jahre, Dreher, verheiratet, eine Kind. Seine Frau lebt mit ihm in Deutschland. Seine beiden Geschwister, anfangs ebenfalls Pendelmigranten, leben heute in Deutschland, eine Schwester lebt in Polen. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 1994–1995 arbeitet er nebenerwerblich in Deutschland, 1996–2001 vollerwerblich in Deutschland und gelegentlich in den Niederlanden. 2001 emigriert zusammen mit seiner Frau nach Deutschland. Typ der Migrationsstrategie: keine Zuordnung, da Marek zum Zeitpunkt des Interviews bereits mit seiner Familie nach Deutschland ausgewandert war und bis heute in Deutschland lebt. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003 Polen, Woiwodschaft Schlesien, 2010 informelles Gespräch. Marcin Persönliche Angaben: 28 Jahre, Lehrer, ledig. Sein Bruder lebt seit den 80er Jahren in Deutschland. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Zuerst Jobs als Schüler und Student (Fernstudium), arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews als Lehrer in Polen.

400 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN

Jobs: Landwirtschaft, Bausektor, Produktionsarbeiter bei BMW. Typ der Migrationsstrategie: »Flexibler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003 Polen, Woiwodschaft Schlesien. Mariola Persönliche Angaben: 48 Jahre, Elektrotechnikerin, verheiratet, drei Kinder (Mutter von Jan). Bis auf einen minderjährigen Sohn arbeiten alle Familienmitglieder in Deutschland/Niederlanden. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet von 2000 bis 2005 in Deutschland und in den Niederlanden; zum Zeitpunkt des Interviews hat sie die Arbeit im Westen aus familiären Gründen ausgesetzt (Pflege der Mutter und der Schwiegermutter). Jobs: Landwirtschaft, Fahrerin, Putzen. Typ der Migrationsstrategie: »Flexible«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Oppeln. Ola Persönliche Angaben: 23 Jahre, Einzelhandelskauffrau, ledig (Freundin von Jan). Ihre Mutter und ihr Bruder arbeiten seit mehreren Jahren in den Niederlanden. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 2001 ununterbrochen in den Niederlanden. Jobs: Landwirtschaft, Bäckerei, Gartenwirtschaft. Typ der Migrationsstrategie: »Einsteigerin«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Niederlande. Paweł Persönliche Angaben: 50 Jahre, Maler, verheiratet, drei Kinder; seine Töchter leben in Polen, die Schwiegersöhne arbeiten in Deutschland. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Wandert 1989 nach Deutschland aus (alleine, spätere Familienzusammenführung geplant), pendelt nach der Wende bis 1997 zwischen Deutschland und Polen. Danach arbeitsunfähig und bezieht in Deutschland eine Arbeitsunfähigkeitsrente, hat in Polen einen Bauernhof und vermietet seit kurzem zusätzlich Kleintransporter. Typ der Migrationsstrategie: keine Zuordnung, da zum Zeitpunkt des Interviews bereits im Ruhestand. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Schlesien.

A NHANG

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Peter Persönliche Angaben: 63 Jahre, Zugführer, verheiratet, vier Kinder - alle leben in Deutschland. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 1977 emigriert er nach Deutschland und lebt hier mit seiner Frau und den Kindern bis zur Rente; im Rentenalter kauft er in Polen ein Haus und lässt sich dort nieder, fährt mehrmals im Jahr wegen der besseren Gesundheitsversorgung nach Deutschland. Typ der Migrationsstrategie: keine Zuordnung, da zum Zeitpunkt des Interviews bereits im Ruhestand. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2003, Polen, Woiwodschaft Oppeln. Renata Persönliche Angaben: 26 Jahre, Grundschullehrerin und Kindererzieherin (B.A.), verheiratet, arbeitet zusammen mit ihrem Mann in den Niederlanden, ihre Schwester arbeitet ebefalls in den Niederlanden. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: 1998 arbeit sie zunächst in den Schulferien in den Niederlanden, nach dem Abitur seit 1999 ununterbrochen in den Niederlanden (neben einem Fernstudium in Polen). Jobs: Landwirtschaft, Lageristin, zeitweise Vorarbeiterin. Typ der Migrationsstrategie: »Einsteigerin« Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2006, Polen, Woiwodschaft Oppeln. Sigmund Persönliche Angaben: 47 Jahre, Elektrotechniker, verheiratet, zwei Kinder, ein Bruder lebt in Deutschland. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Seit 2001 arbeitet er ununterbrochen in Deutschland, inzwischen beim zweiten polnischen Bauunternehmen in leitender Funktion. Typ der Migrationsstrategie: »Flexibler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Polen, Woiwodschaft Oppeln. Tomek Persönliche Angaben: 25 Jahre, Automechaniker, in Lebenspartnerschaft, ein Kind. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet seit 1998 zuerst als Schüler, dann nebenberuflich und seit 2003 ununterbrochen in Deutschland. Jobs: Saisonarbeit, Parkettleger in einem Bauunternehmen.

402 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN

Typ der Migrationsstrategie: »Einsteiger«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Woiwodschaft Schlesien. Wojtek Persönliche Angaben: 31 Jahre, Elektromechaniker/Elektroniker, verheiratet, ein Kind. Sein Vater arbeitet ebenfalls in Deutschland, sein Schwager hat sich nach seiner Arbeitsmigration in Deutschland, in Polen selbstständig gemacht. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet seit 1993 ununterbrochen in Deutschland. Jobs: verschiedene Positionen im Baubereich: in Aushilfsjobs, als Zimmermann, Bauplaner. Typ der Migrationsstrategie: »Flexibler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Polen, Woiwodschaft Oppeln.

T RANSKRIPTIONSREGELN ...2)

Inhalt der Aussage ist unverständlich; die Ziffer in der Klammer bezieht sich auf die geschätzte Anzahl der Wörter, die nicht verstanden wurden.

...

Sprechpause

Ja

Betonung

[lacht]

Kommentar der Transkribierenden zu parasprachlichen Merkmalen (z.B. Lachen, Seufzen) und außersprachlichen Merkmalen (Gesten des In-terviewten, Verhalten Dritter) oder Kommentar der Übersetzerin mit zusätzlichen Erklärungen für eine bessere Verständigung der Aussage (Kontextwissen, schwer übersetzbare Begriffe usw.)

Dann können wir…

Fettdruck: Aussagen der Interviewerin

[…]

Auslassungen in der Wiedergabe, vollständige Äußerung im Transkript vorhanden.

402 | P ENDELMIGRATION AUS O BERSCHLESIEN

Typ der Migrationsstrategie: »Einsteiger«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Woiwodschaft Schlesien. Wojtek Persönliche Angaben: 31 Jahre, Elektromechaniker/Elektroniker, verheiratet, ein Kind. Sein Vater arbeitet ebenfalls in Deutschland, sein Schwager hat sich nach seiner Arbeitsmigration in Deutschland, in Polen selbstständig gemacht. Migrationsgeschichte, Erwerbsverlauf: Arbeitet seit 1993 ununterbrochen in Deutschland. Jobs: verschiedene Positionen im Baubereich: in Aushilfsjobs, als Zimmermann, Bauplaner. Typ der Migrationsstrategie: »Flexibler«. Zeitpunkt und Ort des Interviews: 2005, Polen, Woiwodschaft Oppeln.

T RANSKRIPTIONSREGELN ...2)

Inhalt der Aussage ist unverständlich; die Ziffer in der Klammer bezieht sich auf die geschätzte Anzahl der Wörter, die nicht verstanden wurden.

...

Sprechpause

Ja

Betonung

[lacht]

Kommentar der Transkribierenden zu parasprachlichen Merkmalen (z.B. Lachen, Seufzen) und außersprachlichen Merkmalen (Gesten des In-terviewten, Verhalten Dritter) oder Kommentar der Übersetzerin mit zusätzlichen Erklärungen für eine bessere Verständigung der Aussage (Kontextwissen, schwer übersetzbare Begriffe usw.)

Dann können wir…

Fettdruck: Aussagen der Interviewerin

[…]

Auslassungen in der Wiedergabe, vollständige Äußerung im Transkript vorhanden.

Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Juni 2014, 388 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland Juni 2014, ca. 400 Seiten, kart., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen Mai 2014, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2

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Kultur und soziale Praxis Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft

Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien

Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5

2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1

Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa«

Anett Schmitz Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland

2013, 372 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5

Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich Januar 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6

Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2

2013, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2328-4

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4

Frank Sowa Indigene Völker in der Weltgesellschaft Die kulturelle Identität der grönländischen Inuit im Spannungsfeld von Natur und Kultur Mai 2014, ca. 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2678-0

Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht 2013, 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

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